Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.1. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes — Drucksachen 12/5145, 12/5614, 12/5789, 12/5809, 12/6093, 12/6200 —2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes — Drucksache 12/6218 —b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Siegfried Scheffler, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Novellierung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes — Drucksache 12/5797 —c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Schutz von Menschen und der Umwelt — Drucksache 12/5265 —3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs — Drucksachen 12/6099, 12/6227 —b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren — Drucksachen 12/5553, 12/6228 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.Ich weise darauf hin, daß mit Ausnahme der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses die Beratungen ohne Aussprache erst am Freitag nach Beendigung der zweiten Lesung des Haushalts aufgerufen werden.Außerdem mache ich noch auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 190. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. November 1993 überwiesene Gesetzentwurf der Bundesregierung: Gesetz zur Änderung sachenrechtlicher Bestimmungen — Drucksache 12/5992 — soll nachträglich dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden.Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann haben wir es so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes— Drucksachen 12/5145, 12/5614, 12/5789,12/5809, 12/6093, 12/6200 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Paul HoffackerWird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses Drucksache 12/6200? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir setzen die Haushaltsberatungen fort:Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994
— Drucksachen 12/5500, 12/5870 —Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses
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16682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthIch rufe die Punkte I.19. und I.20. auf:I. 19. Einzelplan 09Bundesministerium für Wirtschaft — Drucksachen 12/6009, 12/6030 —Berichterstattung:Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg) Dr. Nils Diederich (Berlin)I. 20. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1994
— Drucksache 12/5842 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/6114 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Peter RamsauerNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht unser Kollege Dr. Nils Diederich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt — dieser plakative Satz wird dem Wirtschaftsminister zugeschrieben.
Egal, ob er ihn wirklich gesagt hat oder nicht, dieser Satz ist jedenfalls ebenso trivial wie falsch.
Der Staat ist in den Wirtschaftskreislauf eingebunden, ist wesentlicher Auftraggeber, ist Nachfrager, ist größter Arbeitgeber. Der Staat, insbesondere der Bund, verteilt in großem Maße Volkseinkommen um. Auch in dem großen Sektor Staat finden also Wirtschaft und Beeinflussung von Wirtschaft statt. Was auch immer die Bundesregierung tut, sie setzt wirtschaftliche Tatsachen.Was wir Sozialdemokraten kritisieren, ist, daß sich die Bundesregierung und ihr verantwortlicher Wirtschaftsminister im Moment eher aus dem systematischen wirtschaftspolitischen Handeln verabschiedet haben. Ein Kommentar des „Handelsblatts" vom 16. November 93 ist sehr bezeichnend mit „À la Brüning" überschrieben.
Ich denke, daß wir uns in diesem Hause in der Analyse der Lage einig sind. Dazu ist ja in der Elefantenrunde viel gesagt worden: Kurz gesagt, die Lage ist gekennzeichnet durch eine tiefgreifende und, wie uns die Sachverständigen sagen — jedenfalls, wasden Arbeitsmarkt betrifft —, auch noch über das nächste Jahr andauernde Rezession einerseits und die strukturellen Probleme der deutschen Einheit andererseits.Ich stelle fest: Die Arbeitslosigkeit ist, jedenfalls aus unserer Sicht, die größte Geißel dieser Gesellschaft. Die strukturelle, wirtschaftliche, soziale, kulturelle Zusammenführung unseres Landes, Ost und West, muß konsequent vollendet werden, und die Sanierung der Staatsfinanzen ist eine dringliche Aufgabe.
Da haben wir auch Gemeinsamkeiten, denke ich. Wir Sozialdemokraten ziehen aus dieser Situation die Konsequenz, einen nationalen Beschäftigungspakt zu fordern,
wobei der fundamentale Unterschied zwischen Ihren Auffassungen, Herr Weng, und unseren darin besteht, daß für uns die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die alleroberste, wirklich die oberste Priorität hat, weil sie eine Bedrohung des sozialen und politischen Konsenses unserer Demokratie darstellt
und weil sie die Grundlage auch für die Sicherung der Staatseinnahmen, also auch der Konsolidierung der Staatsfinanzen, darstellt. Es gibt hier tatsächlich eine Rangigkeit.
Es ist eine Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit eben insbesondere die neuen Bundesländer betrifft.Der Vereinigungsprozeß wird nur in dem Maße erfolgreich sein, in dem wir den Menschen dort Perspektiven vermitteln. Perspektive heißt Integration in die Gesellschaft, und das weiß ich aus Hunderten, aus Tausenden Gesprächen in meinen Sprechstunden vor Ort, im Wahlkreis, und in den gesamten neuen Ländern. Integration in die Gesellschaft heißt die Möglichkeit für jeden, der es will, auf einem Arbeitsplatz in diesem Prozeß mitzuwirken.Die Marktwirtschaft — ich denke, auch da haben wir wieder keine Differenzen, Herr Minister — hat sich immer als effizientes und vielleicht als effizientestes Steuerungssystem der Wirtschaft erwiesen.
Es ist aber ebenso wichtige Erkenntnis, daß der Rahmen für marktwirtschaftliches Handeln durch entschlossene und gezielte Politik gesetzt werden muß. Dafür ist der Wirtschaftsminister da, und dazu muß er dafür sorgen, daß auch der Bundeshaushalt, der ja eine wichtige Rolle im Wirtschaftskreislauf spielt, entsprechend gesteuert und eingesetzt wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16683
Dr. Nils Diederich
Vielleicht darf ich einmal zurückblicken. Auch der Aufbau der Bundesrepublik unter Wirtschaftsminister Erhard ist unter der Überschrift Neoliberalismus dennoch nur so gut gelaufen, wie er laufen konnte, indem eben die Bundesregierung unter der Führung von Herrn Erhard die wirtschaftspolitischen Instrumente auch systematisch eingesetzt hat.Wir sind heute in derselben Situation. Für uns, Herr Minister, senden Sie weder die richtigen Impulse für den Haushalt aus, noch haben Sie bisher die Ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente hinreichend genutzt.
Meine Damen und Herren, der Beschluß der Koalition, bei den Verwaltungsausgaben und bei den Zuweisungen und Zuwendungen pauschal 5 Milliarden DM einzusparen, mit der Sense über den Haushalt zu gehen, macht die Unfähigkeit der Koalition deutlich, sich den Problemen zu stellen und sie konkret zu lösen. Die Mehrheit des Parlaments hat damit auf die Möglichkeit verzichtet, selbst die Akzente zu setzen. Sie hat diese Aufgabe allein dem Finanzminister überlassen, der damit auch konkret Wirtschaftspolitik betreiben wird. Sie hat übrigens das Angebot der Sozialdemokraten im Ausschuß, gemeinsam die notwendigen Einsparungen zu definieren, ausgeschlagen und statt dessen ein Pauschalverfahren gewählt, es dem Finanzminister überlassen, dem Parlament zu sagen, was getan werden soll.
Nebenbei gesagt: Adolf Roth beklagte sich am Dienstag, man könne den Haushalt ja gar nicht so richtig diskutieren, weil man noch nicht wisse, wo der Finanzminister nun zuschlagen werde. Dann kann man nur sagen: Das haben Sie sich selber zuzuschreiben.
Um auf Ihre Verantwortung, Ihren Amtsbereich, zu kommen, Herr Minister: Die ungezielte Kürzung bei den Zuwendungen und Zuschüssen wirkt volkswirtschaftlich negativ. Sie führt unmittelbar zu Arbeitsplatzvernichtung. Sie wirkt prozyklisch. Sie verstärkt Abschwung und Rezession. Denn ein großer Teil der Zuwendungsempfänger — Jugendverbände, Wohlfahrtsverbände, Organisationen, die sich der Fort- und Weiterbildung widmen, die der Kultur dienen, Verbraucherschutzorganisationen usw. — erbringt gesellschaftliche Leistungen, die schon seit langem privatisiert sind. Es sind staatliche, gesellschaftliche oder vorstaatliche Aufgaben, die hier erfüllt werden.Es fehlt bei Ihrem Kürzungsbeschluß der Aspekt der Systematik, nämlich der volkswirtschaftlichen Steuerung. Ich fürchte, daß uns allen gemeinsam das, was Sie beschlossen haben, noch auf die Füße fallen wird. Was wir brauchen, ist eine Politik, die die Voraussetzung für einen sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung in sich trägt und die Grundlage dafür legt. Gerade die Vielzahl kleiner Zuwendungsempfänger stellt wertvolle Arbeitsplätze und Beschäftigungspositionen zur Verfügung, die nunmehr gefährdet sind.Schauen wir uns den Einzelplan 09 — Wirtschaft — an. Von den rund 6,3 Milliarden DM Zuschüssen im Einzelplan des Bundeswirtschaftsministers ist ungefähr die Hälfte überhaupt nicht hinreichend verfügbar. Ich weiß nicht genau, wieviel es ist; aber ich kann einmal ein Beispiel nennen. Die Verpflichtung gegenüber den Nachfolgestaaten der UdSSR, etwa das Wohnungsbauprogramm, umfaßt immerhin 1,9 Milliarden DM. Daran werden wir wohl wenig rütteln können. Wegen der Erfüllung von Verpflichtungen im Rahmen von Regierungsabkommen, etwa Jamburg mit 440 Millionen DM usw., sind wir da nicht flexibel.Wenn also die aus gesetzlichen oder vertraglichen Gründen kaum variablen Ansätze rund die Hälfte der in Gruppe 6 enthaltenen Beträge in unserem Haushalt ausmachen, muß logischerweise bei anderen Bereichen sehr viel kräftiger zugegriffen werden. Daher fordere ich Sie auf, lieber Herr Minister Rexrodt, von dieser Stelle aus zu sagen, wo Sie die Akzente setzen wollen.
Wollen Sie die Beträge für die Verbraucherunterrichtung und Verbrauchervertretung noch weiter kürzen, als sie schon gekürzt worden sind? Oder werden Sie etwa an die Substanz der Förderung für die neuen Länder herangehen? Wollen Sie denn in einer Zeit, in der es darauf ankommt, Arbeitsplätze zu schaffen — —
— Nein, schauen Sie doch einmal unsere Förderungsprogramme an. Lieber Kurt Rossmanith, Sie wissen doch, was in diesem Einzelplan steht. Soll uns doch der Minister sagen, bei welchen konkreten Mittelstandsförderungsprogrammen, etwa in Richtung neue Länder, er kürzen wird.Ich möchte auch davor warnen, etwa an den Wismut-Komplex heranzugehen; denn gerade diese Position dient ja arbeitsplatzschaffenden und arbeitsplatzerhaltenden Maßnahmen ebenso wie der ökologischen Erneuerung für eine arg benachteiligte Region.
Der Sachverständigenrat hat festgestellt, daß der Außenbeitrag der ostdeutschen Wirtschaft noch unbefriedigend ist, selbst wenn er geringfügig gewachsen ist. Wir denken, daß dieser Wachstumspfad zielgerichtet weiter beschritten werden muß. Wir fordern Sie daher auf, Herr Rexrodt, alles zu tun, um den wirtschaftlichen Austausch mit den europäischen Staaten zu erhalten. Wir kennen sehr genau die Problematik der Hermes-Bürgschaften, die eben Bürgschaften und nicht verlorene Zuschüsse sein sollen. Nichtsdestoweniger müssen die Exporte in das alte RGW-Gebiet für eine begrenzte und klar definierte Übergangszeit, die durch die Überwindung der Rezession gekennzeichnet ist, noch weiter gestützt werden.Wir Sozialdemokraten haben übrigens praktikable Vorschläge hierfür vorgelegt. Ich nenne das Stichwort
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Dr. Nils Diederich
Handelsentwicklungsgesellschaften. Wir fordern Sie auf, Herr Rexrodt, zu überprüfen und mit uns zu diskutieren, inwieweit dieses Instrument noch zusätzliche Impulse vermitteln kann.
Nichtsdestoweniger müssen wir alles tun, um auch die neuen und die privatisierten Unternehmen in den neuen Ländern noch stärker in den Markt hineinzubringen. Das heißt internationaler Wettbewerb, d. h. aber auch Wettbewerb auf den westdeutschen Märkten.Ich denke, daß es die Aufgabe des Wirtschaftsministers ist, stärker als bisher diesen Unternehmen über die Durststrecke zu helfen, d. h. ihnen die Möglichkeit zu geben, die Erfahrungen zu sammeln, die an dem hart strukturierten Markt üblich sind.Herr Wirtschaftsminister, wenn ich immer wieder höre, daß es auch heute noch schwierig ist, Produkte aus Ostdeutschland etwa bei den großen Kaufhausketten zu listen, wenn ich höre, daß einzelne Kaufhausketten Produkte aus Ostdeutschland nur regional begrenzt für Ostdeutschland aufnehmen, dann ist das ein Skandal, bei dem der Bundeswirtschaftsminister immer wieder deutliche Worte an die Wirtschaft richten muß und sie bei ihrer Verantwortung packen muß.
— Ich habe sehr wohl Ahnung, Herr Grünbeck; denn ich habe mich sehr ausführlich gerade mit dieser Problematik befaßt.
Die Erhaltung industrieller Kerne ist ein ebenso häufig gebrauchtes wie unklares Modeschlagwort. Falsch ist sicher, wenn dabei lediglich an die Erhaltung bestehender Unternehmen gedacht wird, in der Hoffnung, daß die Konservierung altindustrieller Standorte allein zu neuem Wachstum führen wird. Sicher kann man damit vorübergehend Totalarbeitslosigkeit in bestimmten Regionen verhindern. Es muß aber eine aktive Strukturpolitik mit massiver Neuansiedlung hinzutreten. Nun wird Kurt Rossmanith gleich wieder zwischenrufen: Aufgabe der Länder! Sehr richtig.
Aber da die neuen Länder überhaupt erst am Anfang ihrer Leistungsfähigkeit stehen, ist hier gerade der Bundeswirtschaftsminister gefordert, die reine Privatisierungspolitik der Treuhand durch eine entsprechende Standortförderungspolitik zu ergänzen. Ich denke, hier können wir mehr erwarten, als bisher getan worden ist.Die Standortdiskussion ist in der letzten Zeit intensiv geführt worden. Aber ich denke, sie ist aus unsererSicht mit einer völlig falschen Akzentsetzung geführt worden. Denn immer wieder konzentriert sich die Diskussion ausschließlich auf den Faktor Lohn. Deutschland ist nun einmal ein Hochlohnland. Unsere Exportfähigkeit und damit die wirtschaftliche Existenzfähigkeit kann nicht über Rohstoffe oder Naturschätze gesichert werden, sondern nur durch das Kapital unserer physischen und geistigen Arbeitskraft,
und zwar in einem optimalen Verhältnis zwischen qualifizierten Lohnempfängern und unternehmerischen Einkommensbereichen. Deutschland wird nie ein Billiglohnland werden, selbst wenn wir heute hören, daß bei Volkswagen im Rahmen eines Kompromisses massiver Lohnverzicht geübt wird.Übrigens, Herr Minister, Ihre Äußerung von einem zu schnellen Lohnanstieg in Ostdeutschland halte ich nicht für angebracht. Der Kanzler hat hier gesagt: Es gehören immer zwei dazu, die Verträge unterschreiben.Ich denke, bei diesem Punkt ist die Verantwortung auch der Tarifpartner sehr viel stärker gefragt. Wir sehen gerade in der jetzigen Zeit, daß die Tarifpartner diese Verantwortung übernehmen. Wir sollten hier aber nicht versuchen, einer Seite die Lasten aufzubürden, die die deutsche Einheit und die diese Rezession hervorrufen.
Übrigens hat selbst der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Herr Kopper, inzwischen festgestellt, daß der Begriff Standort zu einer reinen Worthülse verkommen ist. Große Konzerne bauen massiv Arbeitsplätze ab. Das ist nicht eine Frage der hohen Lohnbelastung. Vielmehr liegt das an der Tatsache, daß sich die großen Unternehmen in der deutschen Industrie zu lange auf errungenen Lorbeeren ausgeruht haben
und nunmehr gezwungen sind, zu verschlanken und zu verkürzen. Ich denke, daß wir gerade in dem Punkt auch den Wirtschaftsminister auffordern müssen, hier etwas dagegenzusetzen.
Wir Sozialdemokraten meinen, daß ein nationaler Beschäftigungspakt notwendig ist, um den Aufstieg zu flankieren; denn Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist die zentrale Aufgabe. Wir müssen die Kräfte in unserer Gesellschaft bündeln und auch zusammenführen. Dies wäre ja — Sie haben doch die Instrumente, Herr Wirtschaftsminister — auch Ihre Aufgabe.Ich denke, wir müssen den Menschen eine sichere und klare Perspektive geben. Daß dabei Opfer gebracht werden müssen, ist klar. Daß die Opfer auch gebracht werden, zeigt der Volkswagen-Kompromiß. Wir können als Sozialdemokraten aber nicht akzep-
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Dr. Nils Diederich
tieren, daß diese Opfer den Schwächsten in unserer Gesellschaft allein abverlangt werden;
wir können die Opfer auf dieser Seite nicht akzeptieren, wenn nicht die, die vermögend sind und sich zu allen Zeiten hohe Einkommen haben sichern können, ebenfalls angemessen daran beteiligt werden.Wenn wir also, meine Damen und Herren, die Situation verändern wollen, dann müssen wir dort etwas verändern, wo die Wirtschaft stattfindet, nämlich in der Wirtschaft, aber wir müssen es hier aus unserer Verantwortung als Bundesrepublik Deutschland, als Parlament, als Bundesregierung tun.Wir müssen besser werden durch mehr Qualifikation, durch bessere Ausbildung. Wir müssen in Deutschland innovativer werden durch entsprechende Förderung von Forschung und Spitzentechnologie. Wir müssen unternehmerischer werden durch systematische Mittelstandsförderung — der Kollege Bury wird dazu noch etwas sagen —, durch mehr Existenzgründungen, durch größere Flexibilität und Risikobereitschaft von Unternehmen.
Wir müssen arbeitsfähiger werden, indem wir mehr Menschen für den Arbeitsmarkt fit halten. Wir dürfen sie nicht zum alten Eisen werfen. Wir müssen ihnen die Chance lassen, wieder einzusteigen. Dies gilt insbesondere für Ostdeutschland, wo Millionen Arbeitskräfte im arbeitsfähigen Alter und mit guter Ausbildung sehnsüchtig auf eine neue Beschäftigung warten.Wir müssen schließlich flexibler werden, indem wir weniger Bürokratie und eine schlankere Verwaltung haben. Ich vermute, daß wir uns da wieder annähern, Herr Minister. Wir fordern die Bundesregierung auf, tätig zu werden, statt sich mit Pauschalkürzungen durchzumogeln. Es muß endlich eine systematische Verwaltungsreform in Gang gebracht werden, und gerade Sie, Herr Wirtschaftsminister, müssen einen Beitrag dafür leisten, die Bundesregierung dazu zu treiben, dies in Angriff zu nehmen.Ich denke, daß die Instrumente für eine solche Politik bereitliegen. Sozialdemokraten haben auch immer deutlich gemacht, daß sie bereit sind, an diesem schwierigen Prozeß mitzuwirken.Herr Minister, ich denke, daß die Pauschalkürzungen, die wir jetzt vor uns haben, kontraproduktiv sind im Sinne dieser Forderungen, die ich hier vorgetragen habe. Erst wenn sie unseren Kriterien, die ich eben vorgetragen habe, genügen, können wir Ihrem Haushalt zustimmen. Ich fürchte, ein Sozialliberaler werden Sie nun nie werden.
Wir müssen uns also, denke ich, in einem Jahr einen anderen Koalitionspartner auswählen, wenn wir — was ich unterstelle — den Auftrag zur Regierungsbildung haben.Danke sehr.
Als nächster spricht der Abgeordnete Kurt Rossmanith.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich mich dem Wirtschaftshaushalt zuwende, darf ich Ihnen, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr herzlich zu Ihrem heutigen fünfjährigen Jubiläum als Präsidentin dieses Hohen Hauses gratulieren.
Ich glaube, wir alle sind Ihnen auch dankbar für die faire und souveräne Art, wie Sie dieses Amt in Anspruch genommen haben.So wären wir schon wieder bei der Diskussion über den Haushalt 1994, insbesondere über den Haushalt des Wirtschaftsministeriums. Ich glaube, es kann uns niemand absprechen, daß die Haushaltsberatungen in diesem Jahr von der Koalition geprägt waren und von dem Willen, angesichts der schwierigen Finanzlage, in der wir uns eben befinden — und jeder weiß, daß wir die Einheit nach wie vor vollenden müssen und vollenden wollen —, hier zu einem Sparhaushalt zu gelangen. Ich glaube, daß das, was wir als Haushälter vorgelegt haben, diesen Namen mit Recht verdient.Die neuesten Daten zur Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und die jüngsten Steuerschätzungen haben noch in der Schlußphase der Beratungen im Haushaltsausschuß gravierende Änderungen des Regierungsentwurfs notwendig gemacht, um die Nettokreditaufnahme nicht über die für mich magische Grenze von 70 Milliarden DM ansteigen zu lassen.Die Beratungen haben wieder einmal mit großer Deutlichkeit gezeigt, daß von den Kolleginnen und Kollegen der SPD außer überzogener Kritik eben nichts zu erwarten ist.
Lieber Kollege Diederich, ich hätte mir gewünscht, daß Sie jetzt nicht nur wieder Kritik üben, sondern daß Sie tatsächlich sagen, was Sie denn hätten anders machen wollen, wie der Haushalt anders hätte gestaltet werden sollen.
— Doch, lieber Nils Diederich, Ihnen höre ich doch immer zu, weil ich weiß, daß von Ihnen in der Regel sehr vernünftige Gedanken kommen. Mir ist aber auch klar, daß Sie hier in der Öffentlichkeit dies natürlich etwas differenziert zum Ausdruck bringen müssen, insbesondere weil die Aufstellungssituation ausschlaggebend ist für die Wahl im nächsten Jahr.Wir sind nicht umhingekommen, allein in dem bestehenden Haushaltsentwurf für den Bundesminister der Wirtschaft schon während der Beratungen, d. h. noch vor dem Beschluß der globalen Minderausgabe von 5 Milliarden DM, Kürzungen in einer Größenordnung von rund 600 Millionen DM vorzunehmen. Dies war sicherlich keine leichte Aufgabe, vor allem keine Aufgabe, die uns aus unserem Inter-
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Kurt J. Rossmanithesse heraus und für den Aufgabenbereich als solchen leichtgefallen ist. Das heißt natürlich für manchen Subventionsempfänger, daß jetzt von der Vorstellung Abschied genommen werden muß, daß die öffentlichen Mittel weiterhin so fließen werden wie bisher.Ich glaube, daß dieser Sparhaushalt auch ein Signal für die Bundesverwaltung insgesamt ist, daß das Gebot der Sparsamkeit wieder etwas stärker in den Vordergrund rückt, damit der Rechnungshof nicht immer so viele Bemerkungen anfügen muß. Vielleicht ist das eine oder andere schon von vornherein vermeidbar; zu wünschen wäre dies. Ich glaube, daß nicht jede Dienstreise in der Größenordnung, wie es mitunter geschieht, tatsächlich durchgeführt werden muß, daß nicht jede Beschaffung in der finanziellen Größenordnung, wie es in der Vergangenheit manchmal geschehen ist, getätigt werden muß.Ich glaube, dieser Sparhaushalt, den wir im Haushaltsausschuß vorberaten haben, liegt auf der Linie des jüngsten Gutachtens des Sachverständigenrates. Dieser hat nachdrücklich gefordert, daß die Haushaltskonsolidierung nicht über eine weitere Erhöhung von Steuern und Abgaben erreicht werden sollte, sondern über eine Einschränkung des Ausgabenanstiegs.Auf dieser wirtschafts- und finanzpolitisch vernünftigen Strategie beruhen die Haushaltsbeschlüsse der Koalition, die damit erneut ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat.
— Dann sagen Sie das einmal ganz konkret. Sie, lieber Nils Diederich, hätten die Möglichkeit gehabt, das zu tun. Sie haben diese Chance aber versäumt. Ich kann Ihnen auch sagen, weshalb Sie es versäumt haben: Sie haben keine Substanz, weil wir uns wirklich bemüht haben und dies in der Tat ein Haushalt ist, der die Handlungsfähigkeit der Regierung und der sie tragenden Koalition deutlich unter Beweis stellt.
— Natürlich, ich gebe Ihnen recht, daß der Haushalt 1994 vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gesehen und auch beraten werden muß.Die konjunkturelle Talfahrt scheint nach den vorliegenden Prognosen inzwischen ihren Tiefpunkt erreicht zu haben. Zwar sieht der Sachverständigenrat für das kommende Jahr noch keine Anzeichen für einen deutlichen Aufschwung, zumindest aber hat er den berühmten Silberstreif am Horizont schon ausgemacht.
— Es wird auch nicht besser, wenn Sie noch so dazwischenplärren. Zu dieser vorsichtig optimistischen Einschätzung haben neben der Hoffnung auf eine Erholung der Weltkonjunktur auch die vom Bundestag beschlossenen Konsolidierungs- und Wachstumsgesetze beigetragen, die von der Wirtschaft sehr wohl als vertrauenschaffende Signale verstanden und so aufgenommen worden sind.Die gegenwärtigen Schwierigkeiten — auch das müssen wir sehen — sind nicht allein auf die Konjunkturschwäche zurückzuführen. Hinzu kommen eine ganze Reihe gravierender
struktureller Probleme.Wir alle wissen, daß die deutsche Wirtschaft in einem tiefgreifenden Umbruch steckt. Ihre Stellung im internationalen Wettbewerb hat sich verschlechtert. Für eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen ist der Standort Deutschland zu teuer geworden. In der Zwischenzeit ist uns in unmittelbarer Nachbarschaft, nämlich in den mittel- und osteuropäischen Staaten, eine erhebliche Billiglohnkonkurrenz erwachsen. Wir müssen nicht mehr nach Südostasien gehen, um auf diese Billiglohnkonkurrenz zu treffen, sondern wir haben sie direkt vor der Haustür.Hinzu kommt der Zusammenbruch ganzer Industriezweige in den neuen Bundesländern als Folge der sozialistischen Planwirtschaft und damit Mißwirtschaft in der DDR. Um das auszugleichen, haben wir im Moment so viel zu zahlen. Ich komme noch auf einen ganz wesentlichen Bereich in diesem Zusammenhang zurück.
— Was Sozialisten in 40 Jahren kaputtgemacht haben, kann man nicht in drei Jahren wieder reparieren.
Das sollte gerade Ihnen, die Sie aus einem der neuen Bundesländer kommen, deutlich bewußt sein.
— Lieber Nils Diederich, ich war oft genug in den neuen Bundesländern. Ich habe die Arbeit in meinem eigenen Wahlkreis durchaus vernachlässigt, und die haben auch Verständnis dafür.Was in 40 Jahren die damalige DDR an den Menschen und an der Umwelt in diesem Land verbrochen hat — ich betone: verbrochen! —, ist nicht mit einem einzigen positiven Wort zu charakterisieren. Sie haben die Wismut AG angesprochen. Ich werde nachher auch noch einige Sätze dazu sagen. Halle, Bitterfeld — wir können für die Regionen vom Erzgebirge bis hinauf zur Ostsee sagen, daß so die Situation ist.
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Kurt J. RossmanithWer hier noch behauptet, das stimme nicht und das könne man alles wieder in drei Jahren korrigieren, der weiß nicht, wovon er spricht.
— Ich nehme das gern zur Kenntnis, Nils Diederich.
— Nein, Sie nicht, aber Ihr Kollege, der auch in der ersten Reihe sitzt und aus einem der neuen Bundesländer kommt.Es gibt für das alles natürlich kein Patentrezept. Es soll doch von Ihnen einmal jemand ein Patentrezept anbieten! Sie haben 20 Minuten lang die Möglichkeit dazu gehabt. Es kommen noch zwei Redner nach Ihnen; ich hoffe, daß die ein Patentrezept liefern.
Nur, die ganzen Diskussionen im Ausschuß und in den vergangenen Wirtschaftsdebatten haben gezeigt: Auch Sie können das nicht. Sie haben überhaupt kein Konzept.Wir, die Koalition und die Bundesregierung, haben mit dem Bericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland eine Reihe von Handlungsfeldern aufgezeigt. Wir müssen einfach den Mut haben, diese Felder entsprechend zu besetzen. Das betrifft nicht die Politik allein, sondern es betrifft ganz wesentlich auch die Wirtschaft. Natürlich stimmt der Satz, daß Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet. Dort, wo sich der Staat in der Wirtschaft betätigt, ist auch er in diesem Bereich verhaftet. Gleiches gilt natürlich ganz wesentlich für die Tarifpartner.Als ein Land mit einem hohen Einkommen wie die Bundesrepublik Deutschland müssen wir uns auf die Hochtechnologie konzentrieren.
Das heißt, wir müssen neue Produktionsmethoden einführen. Darauf sind wir angewiesen.
Die Unternehmen müssen sich verstärkt auf intelligente Produkte mit hoher Arbeitsproduktivität konzentrieren. Es führt nämlich schlicht und einfach kein Weg an der ökonomischen Erkenntnis vorbei, daß Einkommen und Sozialleistungen erwirtschaftet werden müssen. Dann erst können sie geleistet werden.
Ich glaube, das hat in der Zwischenzeit auch die SPD einigermaßen begriffen.
Denn ihr stellvertretender Vorsitzender Herr Lafontaine hat kürzlich im Bundestag mit erfreulicher Klarheit festgestellt: „Im Interesse der langfristigen Sicherheit der Arbeitsplätze sollte der Anstieg der Einkommen soweit wie möglich dem Anstieg derProduktivität angenähert werden. " Das Protokoll verzeichnet hier übrigens Beifall bei der SPD. Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dieser Beifall ernstgemeint war
und daß Sie zumindest in dieser Frage ein Stück Einsicht bewiesen haben. Natürlich ist Produktivität nicht alles. Aber ohne Produktivität ist eben alles nichts. Das ist ein Kernsatz, den man sich immer wieder vor Augen halten sollte.Lassen Sie mich kurz zwei Beispiele aufzeigen, die deutlich machen, daß wir trotz der angespannten finanziellen Lage im Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft für moderne Technologien Zeichen gesetzt haben.Das eine betrifft die Nutzung der erneuerbaren Energien. Wir haben, obwohl im Haushalt überhaupt nichts vorgesehen war, 10 Millionen DM in einem eigenen Haushaltstitel eingesetzt. Ich gebe zu: Das ist natürlich sehr wenig. Aber es ist zumindest ein Einstieg. Ich erwarte natürlich, daß es eine Fortsetzung gibt und daß es im nächsten Jahr keinen Ausstieg geben wird.Insbesondere Wind- und Wasserkraft sollen gefördert werden. Erst 4 % unserer Energie beziehen wir aus erneuerbaren Energiequellen. Ich hoffe, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß wir zumindest in dem Punkt, was erneuerbare Energien anbelangt, zu einem Energiekonsens gekommen sind. Ich würde mir natürlich wünschen, daß wir auch, was den gesamten Energiebereich anbelangt — ich denke etwa an die Kernenergie —, zu einem Konsens kommen und Sie sich nicht ständig von Herrn Joschka Fischer aus Wiesbaden majorisieren lassen.Auch die Werftindustrie verwendet modernste Technologie, Hochtechnologie. Sonst hättten wir diesen Zweig überhaupt nicht mehr. Nur ist die internationale Konkurrenzsituation dergestalt, daß alle schiffbaubetreibenden Länder hoch subventionieren. Wir haben deshalb im Haushaltsausschuß — alle miteinander in Übereinstimmung — die Fortführung der Wettbewerbshilfe beschlossen.Ich bin dankbar dafür. Denn ich weiß, die Werftindustrie ist eine unserer Hochtechnologien, die fortgeführt werden muß und die nach wie vor in einer schwierigen Situation steckt. Ich hoffe, daß in drei bis vier Jahren — manche meinen: schon in zwei Jahren —, dann, wenn eine Erneuerung der gesamten Schiffsflotte im internationalen Bereich ansteht, diese Mittel nicht mehr notwendig sind.Ich darf Sie sehr herzlich bitten, Herr Bundesminister Rexrodt, daß Sie alles daransetzen, daß im internationalen Rahmen die Subventionierung aufhört, damit wir in Deutschland die gleichen Wettbewerbschancen haben. Unsere Schiffsbauer wollen kein Geld. Aber sie können dann nicht weiterarbeiten, wenn in den anderen Ländern in einem riesigen Ausmaß weiter subventioniert wird.
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16688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Kurt J. Rossmanith— Kein Geld vom Staat. Geld verdienen will jeder.
Lassen Sie mich ganz zum Schluß noch kurz einen Bereich ansprechen, den ich schon angekündigt hatte: Wismut. Für die Sanierungsmaßnahmen waren 830 Millionen DM eingesetzt. Wir mußten um 80 Millionen DM auf 750 Millionen DM kürzen. Das ist auch uns Haushältern alles andere als leichtgefallen. Wir haben es nicht gerne getan. Aber es lag nicht an uns, sondern es lag schlicht und einfach daran, daß die beiden Staatsregierungen in Thüringen und in Sachsen bisher nicht in der Lage waren, die strahlenschutz- und bergbaurechtlichen Genehmigungen entsprechend zu erteilen.
Deshalb habe ich die herzliche Bitte an diese beiden Regierungen, alles daranzusetzen, damit diese Genehmigungen endlich erteilt werden.
Ich habe mir mit einigen Kollegen die Situation bei Wismut in einer mehrtägigen Reise von Thüringen bis nach Sachsen angesehen. Ich kann sagen, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Wismut wirklich alles daransetzen, hochmotiviert sind und hervorragende Arbeit leisten, für die ich ihnen sehr herzlich danken möchte. Es ist keine leichte Arbeit. Sie tun es dort für die Natur. Sie tun es dort vor allem für die Menschen, die in dieser geschundenen Region leben müssen.
Herr Rossmanith, Ihre Redezeit ist beendet.
Ich weiß, Frau Präsidentin. Ich komme schon zum Schlußsatz,
obwohl ich noch einiges zu sagen hätte und sagen müßte.
Ich hoffe, daß ich damit aufgezeigt habe,
daß wir uns nicht nur Mühe gegeben haben, sondern daß wir auch einen Haushaltsvorschlag aus dem Haushaltsausschuß an das Parlament gegeben haben, der wirklich nicht nur die Handlungsfähigkeit belegt, sondern der auch zeigt, daß es mit unserem wirtschaftlichen Programm wieder aufwärts geht. Deshalb kann ich nur um die allgemeine Zustimmung bitten.
Ich möchte aber auch noch einen Dank aussprechen an die sehr kooperative Mitarbeit mit dem Bundesministerium für Wirtschaft. Ich darf Ihnen, Herr Bundesminister Rexrodt, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich danken. Ich darf auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzministeriums herzlich danken, Herrn Staatssekretär Echternach und Herrn Bundesminister Waigel und natürlich last but not least auch den Kollegen Mitberichterstattern, Dr. Wolfgang Weng, Nils Diederich und Helmut Wieczorek.
Als nächster spricht Dr. Wolfgang Weng.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundeswirtschaftsministers hat eine so gemischte Struktur, daß an seiner Veränderung Wirtschaftspolitik nicht festgemacht werden kann. Wir wollen heute aber über Wirtschaftspolitik debattieren.Viele der Ausgaben in dem Haushalt stehen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Die Beseitigung der Umweltschäden in der früheren DDR im Zusammenhang mit der Uranförderung — der Kollege Rossmanith hat darauf hingewiesen — wird hier ebenso finanziert wie eine großvolumige Beratungshilfe für die Sowjetunion, die Abwicklung alter Rohstoffabkommen der DDR mit der Sowjetunion und sogar das Wohnungsbauprogramm für die aus den neuen Bundesländern abziehenden Soldaten der früheren Sowjetunion. Dies alles, meine Damen und Herren, wissen wir. Wir müssen es finanzieren. Wir wollen es auch als Konsequenz der deutschen Einheit finanzieren. Wir leisten dies gerne. Aber dies ist nicht unsere aktive Wirtschaftspolitik, die wir hier und heute darstellen wollen.Die F.D.P.-Fraktion hat bei der finanziellen Unterstützung in die Wirtschaft hinein ihren Schwerpunkt immer auf die Mittelstandsförderung gelegt.
Die Tatsache, daß wir jetzt bei schwierigerer öffentlicher Finanzlage Kürzungen von Geldern im Westen für diesen Bereich auf der anderen Seite dafür einsetzen, daß wir eine massive Förderung des Ausbaus des Mittelstandes in den neuen Bundesländern leisten, wird von uns ausdrücklich für richtig gehalten.
Die dortige Wirtschaft kann sich nur dann vernünftig entwickeln und die notwendige Vielzahl und Vielfalt von Arbeitsplätzen bereitstellen, wenn sich ein gesunder Mittelstand weiter aufbaut. Dies geschieht nicht durch Großsubventionen wie bei der Steinkohle oder den Werften. Deswegen machen wir von der F.D.P. auch weiter Druck auf diese Subventionsbereiche gegen den geschlossenen Widerstand der SPD. Manchmal ernten wir hier auch beim Koalitionspartner nicht begeisterte Zustimmung.
Wo wir Mehrheiten dafür finden, gestalten wir Subventionen degressiv. Wir nehmen auch die bevor-
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Dr. Wolfgang Weng
zugten Bundesländer im Westen stärker in die Pflicht.
Was wir hier im Bereich der Werftsubventionen beschlossen haben, die zwei Drittel Bundesförderung in der Vergangenheit Zug um Zug auf ein Drittel abzubauen, sollte für die Steinkohlesubventionen zum Vorbild werden.
Wir wollen Arbeitsplätze der Zukunft fördern. Die Magnetschnellbahn Transrapid erhält hierbei fast einen symbolischen Charakter.
Spitzentechnologie hat auch der SPD-Fraktionsvorsitzende, Herr Klose, gestern gefordert. Aber wo es ernst wird, halten sich die Sozialdemokraten seither immer zurück oder haben sich schnell aus der Verantwortung verabschiedet.
Erinnern Sie sich daran, meine Damen und Herren, für den Transrapid gab es schon vor der Wiedervereinigung eine Referenzstrecke, und zwar in Nordrhein-Westfalen. Zwischen Essen und Düsseldorf oder Köln sollte hier ein Versuch gemacht werden, diese moderne neue Technologie vorzuführen. Der erste leise Widerstand von selbsternannten Umweltschützern hat dafür gesorgt, daß die mit absoluter Mehrheit ausgestattete Landesregierung Rau den Plan sofort versenkt hat und nicht bereit war, hier in die Planfeststellung zu gehen. Mindestens fünf Jahre sind hierdurch verloren worden.
Die F.D.P. ist bereit, auch eine Gesetzesregelung für eine Trassierung dieser neuen Technologie mitzutragen, in Anlehnung an die Gesetze, die wir ja in den neuen Bundesländern für neue Verkehrswege auf den Weg gebracht haben,
wenn hierdurch Planungszeiträume zu reduzieren sind. Wir sind bereit, hier als Gesetzgeber zu handeln.Die Frage, ob eine neue Technologie am Schluß klappt, kann am Anfang niemand sicher beantworten. Das Zögern der handelnden Politik hängt ja auch daran, daß die gescheiterten Großprojekte bei der Kernenergie noch in zu guter Erinnerung sind. Aber denken Sie zurück: Diejenigen, die damals die Entscheidungen getroffen haben, waren ja der Überzeugung, einen richtigen Weg zu gehen. Daß es dann nicht geklappt hat, ist bitter, muß aber im Bereich neuer Technologien als Risiko hingenommen werden. Wenn wir nichts versuchen, dann klappt sicher nichts.
Wenn die erste Eisenbahnlinie — der „Adler" zwischen Nürnberg und Fürth — seinerzeit nicht funktioniert hätte, wäre die Eisenbahn heute einevergessene Technologie. Aber es hat geklappt, und trotz mancher Mängel bei der Bahn verfügen wir in der Bundesrepublik Deutschland heute über ein hervorragend ausgebautes Eisenbahnnetz. So muß eine Signalwirkung aussehen.Die F.D.P.-Fraktion ist für Arbeitsplätze. Die Mangelverwaltung à la VW-Werk mag für diesen Einzelbetrieb in der jetzigen besonderen Situation eine erträgliche Überbrückung bedeuten. Wir haben ja heute morgen die Ergebnisse gehört. Gut ist sicher auch, daß die Gewerkschaft von ihrer Position „Voller Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzungen" endlich heruntergegangen ist.
Aber ich sage Ihnen auch: Wenn die guten Autos so preiswert wären, daß sie auf den Wettbewerbsmärkten, vor allem beim Export, besser standhalten könnten, und wenn dadurch die Produktion ausgelastet wäre, wäre dies die wesentlich bessere Lösung. Unser Ziel muß Vollbeschäftigung der Leistungsträger sein; denn ohne wirtschaftliches Wachstum, ohne diese Vollbeschäftigung, werden wir auch die Haushaltsprobleme der Bundesrepublik nicht lösen.
Neue Marktchancen, neue Arbeitsplätze auch durch Deregulierung: Nach der Einführung des Dienstleistungsabends war es um den Ladenschluß ruhig geworden. Man wollte Erfahrungen sammeln. Die Union hat jetzt neu thematisiert. Wir haben mit Überraschung gehört, daß der Generalsekretär Hintze eine völlige Abschaffung des Ladenschlusses gefordert hat.
Dies entspricht zwar auch unserem Parteiprogramm. Aber in der praktischen Politik bewährt sich schrittweises Vorgehen. Wir halten deshalb die vorliegende Bundesratsinitiative, die ja auch von SPD-Ländern getragen wird — deswegen sollten Sie hier nicht das Wehklagen anfangen —, für einen guten weiteren Schritt.
Herr Dr. Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?
Ja, eine einzige Zwischenfrage gestatte ich. Bei der Kürze der Redezeit redet man ja gern im Zusammenhang. Herr Kollege Hinsken, bitte sehr!
Vielen Dank, Herr Kollege Weng. — Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie mir beipflichten, wenn ich feststelle, daß der Dienstleistungsabend als Rohrkrepierer zu bezeichnen ist, weil sich nur 10 % daran halten,
und zweitens, daß die wöchentlichen Öffnungszeitender Läden sowieso auf 68,5 Stunden ausgelegt sindund das normalerweise genügen müßte, jedem die
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Ernst HinskenMöglichkeit zu geben, dort einkaufen zu können, wo er meint, das bekommen zu können, was er braucht.
Ich kenne, Herr Kollege Hinsken, diese sehr statische Denkweise. Der Dienstleistungsabend hat nicht alle Hoffnungen erfüllt, die wir in ihn gesetzt haben. Aber der Dienstleistungsabend war ja nicht nur für die Anbieterseite, sondern auch für die Verbraucherseite gedacht.
Sie können ja nicht so tun, als ob er da keinen Effekt hätte. Die Dinge sind ja in anderer Weise in Bewegung. Wenn Sie sich ansehen, was heute im Bereich der Tankstellen stattfindet und was auch die Rechtsprechung inzwischen im Bereich der Tankstellen ermöglicht, dann sehen Sie doch, daß ein außerordentlicher Bedarf da ist.
Ich sage noch einmal: Die vorliegende Bundesratsinitiative scheint uns ein vernünftiger weiterer Schritt zu sein. Hierüber sollen wir offen diskutieren.
Sie beinhaltet nämlich, daß Betriebe ohne fremde Angestellte, mittelständische Betriebe, Herr Kollege Hinsken, in einem größeren Zeitraum geöffnet werden dürfen, nicht müssen. Der Rahmen wird gegeben.
Eine solche Regelung bietet neue Chancen für den Mittelstand, Marktnischen zu finden und den Verbrauchem neue Angebote zu machen.
— „Der" Mittelstand, gnädige Frau, ist zu definieren. Es gibt innerhalb des gewerblichen Mittelstandes natürlich unterschiedliche Auffassungen.
Aber ich sage ja: Die Bundesratsinitiative, die von Ihnen mitgetragen wird, hat eine Abwägung zwischen Verbraucherinteressen und Interessen der Wirtschaft und des Mittelstandes vor Augen.
Herr Dr. Weng, der Abgeordnete Hinsken möchte noch einmal fragen.
Es tut mir leid, Frau Präsidentin; aber ich habe der Zuhörerschaft, die ja heute etwas größer ist als die, die hier im Raum versammelt ist — sie ist auch hier im Raum erfreulich groß —, noch einiges anderes im Kontext mitzuteilen.
Nach der rechtlichen Sanktionierung eines erweiterten Tankstellenverkaufs wäre eine solche Maßnahme richtig. Niemand soll ja gezwungen werden offenzuhalten; aber dies in Zeiten tun zu können, in denen der Konsument Bedarf hat, ist eine verbraucherfreundliche und damit eine sinnvolle Chance, die den Arbeitsmarkt entlastet. Auch daran muß ja gedacht werden.
Bei der Wirtschaftspolitik muß auch stärker über Exporthemmnisse debattiert werden. Wir meinen, daß es einen zumindest europäischen Konsens bezüglich der sogenannten Dual-use-Problematik geben muß. Es kann ja wohl nicht angehen, daß deutsche Werkzeugmaschinen einschneidenden Exporthemmnissen unterliegen, während Mitanbieter aus der Europäischen Gemeinschaft praktisch identische Maschinen problemlos liefern dürfen.
Die Offensive der USA kann hier Beispiel sein.
In schwieriger wirtschaftlicher Lage muß auch mit Freunden deutlicher geredet werden. 30 000 koreanische Automobile, die im Jahr in Deutschland vermarktet werden, und 300 in der Gegenrichtung, dies ist, meine Damen und Herren, nicht nur eine Konsequenz der Preise. Wenn es stimmt, daß dort Käufer ausländischer Kraftfahrzeuge umgehend von der Steuerfahndung überzogen werden, dann braucht es ein ernstes Gespräch.
Bei unserem großen Wirtschaftspartner Japan gilt bezüglich der Importbeschränkungen unterschiedlichster Art das gleiche. Auch Japan muß seine Märkte öffnen. Ich sage dies um so mehr mit Blick darauf, daß wir in der Konsequenz des Zusammenbruchs des Sowjet-Imperiums außerordentliche Leistungen nach Rußland und nach den anderen Nachfolgestaaten gebracht haben — Leistungen, die uns auch haushaltsmäßig stark belasten und uns in Zukunft ebenfalls belasten werden — und daß sich die Japaner mit vorgeschobenen politischen Argumenten total zurückgehalten haben. Dieser Unterschied im Eintreten für die Rettung, die Sanierung und den Aufbau in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion muß ebenfalls Berücksichtigung finden.
In der jetzigen Phase der deutschen Wirtschaft ist dringend größere Beweglichkeit angesagt. Wir wollen und können kein Billiglohnland werden. Aber die direkte Konkurrenz mit Billiglohnländern im Osten erfordert neue Antworten. Von der SPD haben wir in dieser Beziehung gar keine oder alte Antworten gehört. Hier auf die Saurier der Gewerkschaftsbürokratie zu hoffen wäre ein totaler Fehler.
Herr Dr. Weng, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, Frau Präsidentin. Ich möchte jetzt vollständig im Zusammenhang sprechen.Die F.D.P. setzt viel stärker auf betriebliche Entscheidungen und ist der Auffassung, daß in viel
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Dr. Wolfgang Weng
größerem Maße die Betriebsräte im Interesse der Arbeitsplätze ihrer Firmen mitgestalten müssen. In den großen und — ich sage das ausdrücklich — mitbestimmten Betrieben ist man heutzutage mit außerordentlicher Geschwindigkeit dabei und bereit, riesige Zahlen von Menschen in die Arbeitslosigkeit zu entlassen bzw. Arbeitsplätze abzubauen. Wir wissen, daß hinter diesen Zahlen menschliche Schicksale stehen, und wir wollen dies nicht hinnehmen.
Betriebliche Vereinbarungen würden in viel größerem Umfang Arbeitsplätze erhalten, als dies der an der Spitze der Leistungsfähigkeit orientierte Einheitstarif in der augenblicklichen Situation der Bundesrepublik tun kann.
Weg von den Funktionären, hin zu den Praktikern! Das sorgt für Besserung.
Wirtschaftsminister Rexrodt hat alle möglichen Konzepte der Verbesserung der Standortsituation dargestellt.
Er hat unsere Unterstützung; er verdient die des Koalitionspartners. Aber auch die Opposition wird wegen ihrer Bundesratsmehrheit für gesetzgeberische Maßnahmen benötigt und wird hier mitwirken müssen.Die Worte Privatisierung und Deregulierung klingen noch ein wenig fremd, wenn sie von der SPD-Seite verwendet werden. Man sieht ja bei der Bahn- und Postreform, wie schwer sich die Sozialdemokraten tun, von der Vertretung reiner Gruppeninteressen wegzukommen.
Auch die immer noch anstehende Lufthansa-Privatisierung ist hierfür ein trauriges Beispiel. Aber die erstarrten Strukturen müssen aufgebrochen werden, wenn die Zukunft gewonnen werden soll und wenn die nötigen Arbeitsplätze in der Produktion entstehen sollen, die dann die wirtschaftliche Basis für einen breiter werdenden Dienstleistungsbereich bieten.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die anderen Fraktionen dieses Hauses auf, sich an der Initiative für neue Arbeitsplätze zu beteiligen. Der Haushalt des Wirtschaftsministers gibt hierfür richtige Signale.Wir werden diesem Haushalt zustimmen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Jeder Bürger, der in Deutschland arbeiten möchte, muß die Möglichkeit dazu haben", sagte erst vorgestern der Staatssekretär Prof. Johann Eekhoff aus dem Bundeswirtschaftsministerium auf dem ersten Berliner Wirtschaftssymposium.Es wäre fürwahr die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Bundesregierung und allen voran des Bundeswirtschaftsministeriums, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, daß diese Forderung mit Leben erfüllt wird. Betrachtet man aber die Ergebnisse der bisherigen Arbeit und — was vielleicht noch viel wichtiger ist — die Konzepte, wie dieses Ziel verwirklicht werden soll, so ist nicht viel Faßbares vorhanden.Selbst wenn die Talsohle der Wirtschaftsentwicklung durchschritten sein sollte, wenn auch nur zaghaft ein Aufschwung zu erwarten ist, wird es sich nicht auf den Arbeitsmarkt auswirken. Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsrahmenbedingungen müssen sich endlich tatsächlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Sicherung von Arbeitsplätzen zuwenden.Auch 1994 müssen mit dem vorliegenden Haushalt immense Summen zur sozialen Absicherung der Arbeitslosigkeit ausgegeben werden. 110 Milliarden DM beträgt der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. Er löst keines der wirtschaftlichen Grundprobleme, obwohl er für die betroffenen Menschen enorm wichtig ist, um nicht in das totale Aus zu fallen.Immer weniger Menschen und auch immer weniger Unternehmen beteiligen sich an der Finanzierung von immer größeren sozialen Anforderungen. Ein Überfluß an Arbeitsangebot, an Schöpfertum und Kreativität menschlicher Arbeit bleibt in immer größerem Umfang ungenutzt. Statt dessen wird Kapital subventioniert, gefördert und immer schneller und besser umgeschlagen.Ein prinzipielles Umdenken in der Wirtschaftspolitik ist nicht mehr von der Tagesordnung zu nehmen, will man die gesellschaftliche Entwicklung voranbringen. Das betrifft nicht nur das menschliche Arbeitsvermögen, sondern auch und vor allem ökologische Grenzen des Wachstums.Wenn heute bereits darüber diskutiert wird, daß mit der Beendigung der gegenwärtigen Krise die Sockelarbeitslosigkeit wahrscheinlich bei 10 % stehenbleiben wird, so ist es allerhöchste Zeit, sowohl kurzfristig als auch langfristig eine Wende der Politik herbeizuführen. Der Haushalt 1994 des Einzelplanes 09 zeigt zumindest aus unserer Sicht wenig Ansätze, diesem Anspruch wirklich zu genügen.Es geht mir heute nicht — dafür reicht die Zeit nicht — um prinzipiell neue Ansätze. Scheinbar einfache Probleme, vor allem für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern, harren nach wie vor einer Lösung und behindern eher, als daß sie sie fördern.Ich will mich im folgenden auf drei Einzelbeispiele und Fragen konzentrieren. Es sind erstens die Eigentumsregelung, die für uns nach wie vor ungeklärt oder ungenügend gelöst ist, zweitens die Ausrichtung der Fördermittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen und
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Dr. Fritz Schumann
drittens der Wildwuchs bei der Erstellung der Gewerbegebiete.Ich komme zunächst zur ersten Problematik. Jeder von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlebt es bei Besuchen und Beratungen vor Ort in den neuen Ländern selber: Viele Vorhaben in den neuen Ländern, Arbeitsplätze zu schaffen und Betriebe zu sanieren, scheitern oder verzögern sich weiter — wobei die Verzögerung das Wesentlichere ist — durch die Kompliziertheit der Abarbeitung der bestehenden Eigentumsregelungen.Ich möchte hier nur die Beispiele, die unlängst im Treuhandausschuß diskutiert wurden, erwähnen: Hoch- und Ausbau Mittelelbe GmbH in Magdeburg und die Maschinen- und Anlagenbau Grimma GmbH. Das sind ganz aktuelle Beispiele. Selbst wenn man intensivste Arbeit in der Treuhand, den Grundbuch-, Kataster- und Vermögensämtern unterstellt, bleiben die Eigentumsregelungen weiter ein Investitionshemmnis und verhindern somit das Entstehen wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.Auch den bestehenden landwirtschaftlichen Betrieben werden durch ungenügende und vor allem durch die nicht langfristig planbare Bereitstellung von Boden die Investitions- und Produktionsmöglichkeiten in erheblichem Umfang beschnitten.Andererseits beschäftigt sich ein großer Teil des Verwaltungsapparates und auch des BMWi ganz intensiv damit, wie der Boden an Alteigentümer übertragen werden kann oder Entschädigungen dafür gezahlt werden. Welch unerwarteter Zuwachs an Vermögen! Für die Alteigentümer stellt die deutsche Vereinigung einen Vermögensanspruch dar, zumindest was den Zeitpunkt betrifft. Das ist ja auch von allen zugegeben worden.Es muß doch angesichts der herrschenden Massenarbeitslosigkeit die Frage erlaubt sein, ob solchen Ansprüchen unbedingt heute entsprochen werden muß oder ob man sich nicht erst um Arbeitsplätze sowie um Grund und Boden für Investitionen, z. B. insbesondere für den Wohnungsbau, kümmern sollte. Sollten das Parlament und die Bundesregierung nicht zuerst den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet sein, die im Zusammenhang mit der Vereinigung ihren Arbeitsplatz verloren haben und keinen neuen finden, obwohl sie arbeiten wollen?Nun wird immer gesagt, das eine, die Übertragung, hänge mit dem anderen, der Schaffung von Arbeitsplätzen, zusammen. Das ist sicher generell überhaupt nicht zu bestreiten. Nur ist das in der Praxis, wie Sie alle wissen, nicht so einfach. Die Eigentumsansprüche sind im konkreten Fall so kompliziert, daß die Bürgerinnen und Bürger noch lange warten müssen, bis auch für sie ein Arbeitsplatz da ist.Genauso sieht es z. B. beim Wohnungsbau aus. Die Regelung der Eigentumsfragen sollte den Wohnungsbau fördern. Das ist aber bis jetzt überhaupt noch nicht in Gang gekommen. In den 80er Jahren wurden in der DDR durchschnittlich 110 000 Wohnungen und Eigenheime in jedem Jahr neu gebaut bzw. errichtet — vielleicht nicht von der Qualität, wie es heute verlangt wird.1992 waren es laut Bautätigkeitsstatistik 11 500 Wohnungen — also gut 10 %. In den drei Jahren der deutschen Einheit ist der ungedeckte Wohnungsbedarf in den neuen Ländern um mindestens 250 000 Wohnungen angestiegen — welch ein Potential an Arbeitsmöglichkeiten für viele, nicht nur aus der Baubranche, weil Wohnungsbau ein ganzes Umfeld von Gewerbe mobilisieren kann. Wenn auch jetzt für 1994/95 eine deutliche Steigerung des Wohnungsneubaus vorhergesagt wird, stellt doch die Regelung der Eigentumsfragen weiterhin ein wesentliches Hemmnis dar.Ich fordere ein Umdenken in dieser Frage. Die Schaffung von Arbeitsplätzen muß in dieser Lage, bei der bestehenden Massenarbeitslosigkeit, Priorität vor allen anderen Fragen erhalten. Alles, was auf eine Wertschöpfung in den neuen Ländern gerichtet ist, muß bedingungslos unterstützt und darf nicht behindert werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach der Möglichkeit, zu arbeiten und Werte zu schaffen, Vorrang einzuräumen.Vielleicht sollte man in aller Ruhe und ohne Emotionen über folgende Fragen nachdenken: Wenn von der DDR nichts als Schulden übriggeblieben sind, muß man dann nicht auch die im Einigungsvertrag verankerte Rückgabe und Entschädigung an Alteigentümer überdenken? Müßte nicht das zur Verfügung Stehende in erster Linie für das Allgemeinwohl und den Bundeshaushalt genutzt werden?Zum zweiten Problem: der Investitionsförderung. Unsere Überlegung ist: Es muß noch besser gelingen, die Investitionsförderung an die Zahl der Arbeitsplätze zu binden, die mit der Investition wettbewerbsfähig werden.In den Förderregeln der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" ist die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen als Fördervoraussetzung explizit festgelegt. Bei der Förderung der Gewerbegebiete — ich komme noch einmal darauf zurück — zeigt sich aber, daß es da durchaus Lücken und Fehlplanungen gibt.Fakt ist meines Erachtens, daß die Bindung der Förderung an die Höhe der Investitionen Fehlentwicklungen begünstigt. Wenn ich für Investitionen in Höhe von 2,5 Millionen DM rund 1 Million DM Fördermittel bekomme, dann ist das • sicher sehr erfreulich für den, der sie erhält. Wenn aber mit dieser Investition zum Schluß zwar Arbeitsplätze geschaffen werden, die wettbewerbsfähig sind, auf der anderen Seite aber an einer anderen Stelle die doppelte Anzahl von Arbeitsplätzen abgeschafft wird, dann muß man sich überlegen, ob diese Förderung wirklich das erreicht, was mit ihr angestrebt wurde.
— Davon habe ich schon sehr viel gehört, Herr Hinsken. Ich weiß um den Wettbewerb. Aber Sie müssen vielleicht einmal darüber nachdenken, wie man das Problem von Menschen löst, die arbeiten wollen, aber keinen Arbeitsplatz finden. Darüber sollten Sie einmal ernsthaft nachdenken. Dann wür-
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Dr. Fritz Schumann
den Sie vielleicht zu anderen Auffassungen kommen.Wirkliche Innovationen, Forschung und Entwicklung, Risiko und auch Marktzugang wurden und werden in den neuen Ländern — und nicht nur da — meines Erachtens völlig unzureichend gefördert. Ein ehemals riesiges Potential an industriegebundenen Forschungseinrichtungen im Osten ist personell auf ein Fünftel geschrumpft. Zugegeben: Vielleicht waren nicht alle notwendig. Aber ein Fünftel bzw. 20 % sind sicher entschieden zuwenig. Die besten Kräfte sind zum Teil weg. Sie sind nicht nur in die alten Bundesländer gegangen, sondern oft sogar ins Ausland. Die Förderung von Humankapital — wie man heute so schön sagt — entspricht weder den Anforderungen noch den Möglichkeiten.Zum dritten Problemkreis — eng mit dem zweiten verbunden —, den Gewerbeparks: Im Raum Halle/ Leipzig wird nach Firmeneinschätzungen das Fünfbis Fünfzigfache von dem erschlossen, was an Gewerbeflächen notwendig wäre. Kommunen streiten sich vor dem Hintergrund der zu erwartenden Steuereinnahmen vor Gericht — ob ein Gewerbepark eröffnet werden kann oder nicht. Ist damit eine sinnvolle Nutzung der Fördermittel gewährleistet? Öffentliche Gelder fließen auch in Planungen, die niemals Arbeitsplätze schaffen, einmal ganz abgesehen davon, daß die meisten Planungen und auch Ausführungen bei Gewerbegebieten und Gewerbeparks nicht von ortsansässigen Büros und Betrieben ausgeführt wurden und das Geld, das dafür zur Verfügung gestellt wurde, Steuereinnahmen, im Prinzip im Kreislauf wieder zurückgelaufen ist. Gleichzeitig führen die Gewerbeflächen im Umland dazu, daß in Magdeburg und in vielen anderen Städten das Handwerk aus den Städten herausgeht und auf die grüne Wiese abwandert.Fakt ist, daß mit der Ballung von Handelseinrichtungen in gewaltigen Zentren außerhalb der Städte auf der grünen Wiese in den neuen Ländern eine Entwicklung vollzogen wird, die sich in den alten Ländern schon als nicht mehr tragfähig erwiesen hat. Denselben Fehler wiederholen wir hier. Wir fordern dies sogar noch.Fakt ist auch, daß in Sachsen-Anhalt bei der Förderung der Gewerbegebiete die Schaffung von Arbeitsplätzen weder Gegenstand des Antrags auf Förderung noch des Zuwendungsbescheides ist. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, die sichern, daß die Fördermittel sinnvoll genutzt werden und damit wirklich Arbeitsplätze entstehen.In erster Linie muß es darum gehen, in den neuen Ländern wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und Werte zu schaffen. Damit könnte dann auch ein beherrschbarer Gesamthaushalt gestaltet werden.Ich bedanke mich.
Als nächster spricht der Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Menschen erwarten von uns Antworten, Antworten auf die Frage: Was tut ihr, die Politiker, damit ich meinen Arbeitsplatz behalten kann? Was tut ihr, damit ich, der ich keinen Arbeitsplatz habe, bald wieder einen sicheren Arbeitsplatz habe? Diese Fragen sind sehr berechtigt, und wir sind gehalten, Antworten darauf zu geben, auch mit diesem Haushalt. Ich finde, dieser Haushalt ist gut strukturiert. Ich möchte mich eingangs bei denen, die an ihm mitgewirkt haben, sehr herzlich bedanken. Ich bedanke mich ganz besonders bei den Berichterstattern, bei Ihnen, Herr Rossmanith, bei Ihnen, Herr Wieczorek, Herr Diederich und Herr Weng.
Der Haushalt ist wichtig und setzt gute Akzente, aber er gibt selbstverständlich nicht allein und erschöpfend die Antwort auf die Frage: Was können wir tun, um die Arbeitslosigkeit in unserem Lande zurückzuführen? Die Antwort muß neben den Politikern auch von Arbeitgebern und Gewerkschaften gegeben werden, sie muß von allen gesellschaftlichen Gruppierungen gegeben werden.Meine Damen und Herren, die Koalition hat ein klares Konzept
zur Rückführung und zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Wir sind überzeugt, daß es ein besseres Konzept als Ihres ist. Es ist nämlich ein realistisches Konzept, und es ist ein ehrliches Konzept.
Es ist konsequenter, und es ist nicht auf Populismus ausgelegt. Deshalb wird es wirksamer sein als Ihre Konzepte, wenn es denn überhaupt welche sind.Ich möchte das begründen. Wir müssen, wenn wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, zunächst einmal auf ihre Ursachen schauen.
Wenn wir ehrlich sind und das politische Wortgeklingel weglassen, sind Sie und wir bei der Ursachenanalyse eigentlich gar nicht allzuweit auseinander. Fest steht — das wird auch von Ihnen immer gesagt —, daß unsere technische und technologische Spitzenstellung nicht mehr unangefochten ist, daß da manches bröckelt. Es kommen immer mehr Länder auf die Märkte, die das, was wir können, nahezu genausogut können. Sie können es nur billiger, und sie können es damit zu niedrigeren Preisen. Das ist eine Herausforderung, wie wir sie in der Vergangenheit in dieser Form nicht hatten.Es findet eine Globalisierung der Märkte statt. Das wird nicht nur in klugen Berichten der Wirtschaftsforschungsinstitute festgestellt, sondern es ist eine Tatsache jeden Tag im Wirtschaftsleben, daß Unternehmen Arbeitsplätze nach Asien, nach Mittelamerika oder auch vor die Haustür, nach Ost- und Mittelosteuropa, verlagern. Das ist eine weitere Herausforderung.Ein weiteres Problem ist, daß die Arbeit zu teuer geworden ist. Die Arbeit wird nicht mehr zu den Preisen nachgefragt, die sie bezahlbar macht. Wir haben in Deutschland, im Osten und im Westen, jede Menge Arbeit. Die Arbeit ist aber zu teuer, und wir
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16694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtkönnen sie nicht mehr bezahlen. Deshalb gehen viele Menschen in die Arbeitslosigkeit.
Wir haben, wenn wir bei den Ursachen bleiben, weitere Probleme. Wir alle wissen, daß wir mit den Folgen einer tiefen Rezession fertigwerden müssen, und wir müssen die Lasten — nein, besser: die Investitionen — in die deutsche Einheit schultern,
die sich amortisieren werden, aber die uns heute mit vielen Problemen konfrontieren.Wir haben gesagt, meine Damen und Herren, was dagegen zu tim ist. Dies ist in unserem Standortpapier niedergelegt. Was da niedergelegt ist, ist natürlich nicht genug, sondern wir müssen es jetzt umsetzen — gegen Widerstände, zuweilen auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen, insbesondere aber gegen Widerstände auf Grund anderer Mehrheiten, beispielsweise im Bundesrat. Wir werden nicht nachlassen, diese richtigen Positionen — zum Teil noch in dieser Legislaturperiode, zu anderen wichtigen Teilen in der nächsten Legislaturperiode — umzusetzen. Das erwarten die Menschen von uns. Wir dürfen als Politiker — und da gucke ich in alle Richtungen auch dieses Hohen Hauses — nicht nur diskutieren, wir dürfen uns nicht nur streiten, sondern wir müssen endlich zusammenkommen und Entscheidungen treffen.
Dazu brauchen wir auch Sie!
Sie, die Opposition, meine Damen und Herren, geben vor, ein eigenes, ein besseres Programm zu haben, und Sie werfen uns Fehler und Unterlassungen vor. Nun schaue ich mir einmal Ihr Programm an, die wichtigsten Thesen Ihres „Programms", wenn man es so bezeichnen darf.
— Nein, ich tue es mal.Da wird zuerst vom ökologischen Umbau der Wirtschaft gesprochen. Da wird die technologische Erneuerung Deutschlands, der Unternehmen gefordert. Da wird Industriepolitik, da werden industriepolitische Aktivitäten angemahnt.
— Ich zitiere, ich komme noch auf die Wertung, Herr Weng.Da wird ein Beschäftigungspakt von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften für mehr Arbeit gewünscht, und da wird eine gerechte Verteilung der Arbeit angemahnt. Da wird eine konsequente Konsolidierung des Haushalts bei Beachtung der sozialen Aspekte angemahnt, und daneben werden Beschäftigungsprogramme in wichtigen technischen Wachstumsfeldern gewünscht.
— Nicht zu früh! — Und als Krönung des Ganzen fordert dann Herr Scharping — Zitat — „das verweigerte Vorbild der Eliten" ein.Das ist das, was Sie als Programm in den Raum stellen. Ich weiß gar nicht, ob es sich lohnt, darauf einzugehen. Wenn ich das jetzt tue und das eine oder andere kritisch hinterleuchte, dann tue ich das gar nicht böse, weil ich glaube, daß einige von Ihnen wirklich meinen, daß sie da etwas hätten, was ein Patentrezept sei. Dabei ist das gar kein alternatives Programm. Das sind keine Rezepte, das sind Binsenwahrheiten, die Sie da vortragen. Das sind Sprechblasen, die Sie da vortragen.
Lassen Sie mich das auch begründen: Da ist das Stichwort vom ökologischen Umbau der Marktwirtschaft. Ja, wer wollte nicht den ökologischen Umbau unserer Wirtschaft? Wer würde nicht sehen, daß mit Umweltschutz und mit Umweltsicherung weltweit neue Märkte erobert werden können, daß das ein interessanter Wirtschaftsfaktor ist? Wer auch auf unserer Seite wollte das nicht? Nur, wir sind dafür, daß der Markt dies entwickelt und daß für den Umweltschutz marktwirtschaftliche Instrumente wie Preismechanismen und anderes eingesetzt werden. Dann werden wir bald mehr Umweltschutz haben als heute.Wer wollte nicht — und darauf stellen Sie ab — die Einführung ökologischer Elemente in unser Steuersystem? Alle Parteien, so wie sie hier sitzen, sagen: Wir wollen die CO2-Energiesteuer, wir wollen sie im europäischen Kontext, und wir wollen sie bei Entlastung an anderer Stelle im Steuersystem. Was, meine Damen und Herren von der Opposition, ist daran denn neu? Was ist das Rezept, was ist die Rezeptur, die wir nicht alle verfolgen wollten, wenn Sie vom ökologischen Umbau der Marktwirtschaft sprechen? Eine Binsenwahrheit, eine Tatsache, die wir alle verfolgen und alle wollen.
— Das machen wir ja auch.Der zweite Punkt: Da wird von der technologischen Erneuerung der deutschen Wirtschaft gesprochen. Wir müssen feststellen, daß es in der Wirtschaft und auch anderswo eine Reihe von Versäumnissen gegeben hat. Der Bundeskanzler hat gestern davon gesprochen, daß wir die Forschungsausgaben nur mäßig erhöhen und erhöhen können. Ich wünschte mir da mehr.Meine Damen und Herren, Sie verkürzen die Problematik in einer Art und Weise, die nicht zulässig ist, wenn Sie darauf abstellen, daß Forschung und Entwicklung nur eine Frage des Geldes seien. Tatsache ist doch, daß wir in unserem Lande die Skepsis bekämpfen müssen, die gegenüber der Technik aufgekommen ist. Die Technik muß von den Menschen akzeptiert werden.
Sie dürfen sich nicht hinstellen und wichtige technologische Entwicklungen verhindern, indem Sie die Verabschiedung des Gentechnikgesetzes verzögern, indem Sie eine wichtige Technologie, bei der wir auch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16695
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtin der Sicherheitstechnik Spitze sind, dadurch unmöglich machen, daß Sie aus dem Energiekonsens ausscheren.Herr Scharping fordert moderne Verkehrstechnologien. Wenn es darum geht, in irgendeinem Bundesland eine Trasse für einen Zug zu genehmigen, dann sind es die SPD-regierten Länder und Gemeinden, die dieses verhindern.
Herr Minister Rexrodt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordeten Philipp?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Bitte.
Ich möchte zum Stichwort Technikakzeptanz einige Gedanken äußern.
Eine Frage!
Ist die mangelnde Technikakzeptanz nicht darauf zurückzuführen, daß Fehlentwickungen der Technik nicht analysiert wurden und z. B. die chemische Industrie, die sehr viel Unheil angerichtet hat, kein Schuldbekenntnis — ähnlich wie die evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg — abgelegt hat? Man muß in sich gehen, man muß Analysen betreiben und dann vor die Öffentlichkeit treten. Ich sehe darin eine Ursache für die mangelnde Technikakzeptanz.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Technik muß selbstverständlich — wie vieles in unserer Gesellschaft — hinterfragt werden, auch kritisch hinterfragt werden. Dagegen wehrt sich doch niemand. Es geht nur darum, daß man die pauschale Technikkritik, die Verteufelung bestimmter Techniken und Technologien nicht ertragen kann, weil dies an die Lebensgrundlagen der Wirtschaft und damit unseres Landes geht.
Sie haben die Chemieindustrie angesprochen. Wir müssen selbstverständlich Gesetze und Verordnungen erlassen, um die Sicherheit in der Chemieindustrie und anderswo zu garantieren. Wenn man Unfälle und Störfälle, so beklagenswert sie sind, dazu benutzt, um pauschal gegen die Chemieindustrie vorzugehen, schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Sie können vielleicht noch aus der Kerntechnologie aussteigen, aber nicht aus der Chemieindustrie, wenn dies auch manche möchten. Dort werden nämlich große Teile unseres Sozialprodukts erwirtschaftet. Wir können nicht die Lebensgrundlagen unseres Volkes in Frage stellen, weil manchen Leuten manches aus irgendwelchen Gründen nicht paßt.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schwanhold?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, ich möchte in meinen Ausführungen fortfahren.Ich will mich nun mit der Forderung der SPD nach einer Industriepolitik auseinandersetzen. Industriepolitik wird von der SPD vielfach so verstanden, daß Vertreter von Gewerkschaften, Wirtschaft und Staat zusammenkommen und darüber befunden wird: Diesen Wirtschaftszweig entwickeln wir, jenen entwikkeln wir nicht, jenen führen wir zurück. — Eine solche Industriepolitik kann es nicht geben. Sie führt letztlich zur „Subventionitis" und zum Konservieren bestimmter Wirtschaftszweige. So etwas muß der Markt entscheiden und niemand anders.
— Nun hören Sie mal zu!
Wenn es darum geht, einen Dialog zwischen Wirtschaft, Staat und Gewerkschaften zu führen, dann bin ich immer dabei. Es geht nur nicht, daß wir diesen Dialog führen mit dem Ziel, die Verantwortlichkeiten für bestimmte Entscheidungen zu verwischen. Das kann nicht in Frage kommen. Das ist aber Ihre klassische Vorstellung vom alles regelnden Staat, von einer Industriepolitik, wie ich sie nicht will.
Ein weiterer Punkt ist der Beschäftigungspakt — das liegt ganz auf dieser Linie —, wo man zusammenkommen und regeln will, wo die Allgewalt des Staates in den Vordergrund gerückt werden soll. Das wollen wir nicht.Dann gibt es Ihre Forderung nach der gerechten Verteilung der Arbeit. Meine Damen und Herren, wir haben jede Menge Arbeit. Wir müssen die Bedingungen dafür schaffen, daß die Arbeit wieder nachgefragt wird, daß sie bezahlbar ist, und nichts anderes.
Dabei kann man durchaus über Flexibilisierung sprechen. Wenn man dies tut — ich komme darauf noch zurück —, muß man selbstverständlich auch die Frage des Lohnausgleichs aufwerfen. Es geht nicht an, daß man weniger arbeitet und dasselbe Geld bekommt. Damit machen wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen kaputt.
Meine Damen und Herren, Herr Scharping fordert das „verweigerte Vorbild der Eliten" ein.
Das hört sich gut an. Wir wollen ja alle — und wir sind überzeugt davon —, daß Eliten Vorbild sind. Die Menschen verstehen das so, und das ist auch einzufordern.
Wenn man aber das, was er hier vorträgt — er tut es ja im Zusammenhang mit der Finanzierung unserer Aufgaben —, hinterfragt, dann meint er im Grunde nichts anderes, als daß die Leistungsträger, die er in
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16696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtdiesem Fall Eliten nennt, zu höheren Abgaben herangezogen werden sollen. Die Steuern sollen erhöht werden. Diejenigen, die gut verdienen, die investieren können, sollen mehr abgeben und dies, obwohl Deutschland ein Land ist, das mit Abgaben und Steuern in einer Weise belastet ist, die unerträglich ist, so daß unsere Wirtschaft darunter leidet. Das meint also dieses Schlagwort.
Wir dürfen die Leistungsträger nicht höher besteuern. Wir müssen die Steuern senken. Das Gegenteil dessen ist angesagt, was von Ihnen als Konzept zur Lösung der wirtschaftlichen Probleme verkauft wird. Sie haben kein Konzept.
Wenn man das hinterfragt und abklopft, meine Damen und Herren, dann stellt man fest: Das sind Sprechblasen, nicht mehr und nicht weniger.
Dagegensteht, was wir in der Wirtschaftspolitik erreichen wollen,
und zwar gegen Widerstände von allen Seiten, gerade auch von Ihrer Seite. — Meine Damen und Herren, Millionen Arbeitslose sind dadurch entstanden, daß man der Marktwirtschaft nicht die Entfaltungsspielräume gegeben hat, die sie braucht, dadurch, daß Regulierungen, Bürokratie und Dirigismus in Gemeinden und Ländern immer wieder lähmen, dadurch, daß die Administration nicht funktioniert. Dieser Staat ist durch eine Überbürokratie, durch Gesetze und Verordnungen, die zum großen Teil von Ihnen gemacht worden sind, lahmgelegt worden.
Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, daß auch von unserer Seite Fehler gemacht worden sind,
auch in den letzten Jahren. Aber wenn es darum geht, diese Fehler zu beseitigen und das Übel an der Wurzel anzugehen, müssen wir zusammenstehen. Und da verweigern Sie sich, meine Damen und Herren, in den Gemeinden und Ländern am meisten, aber auch im Bundesrat. Das ist das Bedauerliche.
Unser System stellt darauf ab, daß wir Steuern senken. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode in einem Konzept die Eckwerte dafür vorlegen. Wir wollen die Steuerquote, die Abgabenquote nach unten bringen. Wir wollen Subventionen degressiv auslegen und zeitlich befristen.Wir haben einen Versuch, einen ersten Einstieg beispielsweise bei der Kohle gemacht. Wo kam der Protest her? Von Ihrer Seite — und dies nur, weil wir davon abgegangen sind, 35 Millionen t Verstromung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zuzusagen, koste es, was es wolle. Der Protest kam von Ihnen, als es darum ging, die Subventionen zurückzuführen.Wir wollen im Sozialsystem Korrekturen anbringen, übrigens in Übereinstimmung mit Ihnen. Das gilt für die Arbeitslosenversicherung, in der die Beiträge sinken müssen, weil bestimmte Aufgaben auf die Allgemeinheit übertragen werden sollen.Über Deregulierung habe ich schon gesprochen, ebenso über Verfahrensvereinfachung zur Erleichterung der Tätigkeit des Mittelstandes. Die Administration muß schneller und besser arbeiten. Das geht — leider — in Gemeinden und Ländern nicht ohne Sie.Sehen wir uns den Privatisierungsbereich an. Warum kommt denn die Postreform nicht voran, bei der es um die Sicherung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen geht? Sie kommt nicht voran, weil sich die Gewerkschaft weigert, vom öffentlich-rechtlichen Denken abzugehen, das seit Jahrzehnten in diesem Bereich verwurzelt ist.
Bei der Bahnreform satteln Sie drauf, wo Sie nur können, Sie und andere. Und bei Technik und Technologie, bei Bildung und Wissenschaft lassen Sie sich von Vorstellungen und Zielen leiten, die nicht dazu angetan sind, die Effizienz zu erhöhen und auch unserem Arbeitsmarkt Entlastung zu bringen.
Beim Arbeitsmarkt kommt es in entscheidendem Maße darauf an, daß sich die Tarifpolitik neu orientiert. Im Tarifbereich — und da beziehe ich die öffentliche Hand und damit auch uns durchaus ein — ist in den letzten zehn Jahren vieles schiefgelaufen. Ich sage das gar nicht im Sinne einer Schuldzuweisung, sondern im Sinne einer nüchternen Bestandsaufnahme.Wir müssen im Tarifbereich die Tarife am Arbeitsmarkt neu orientieren — im Sinne einer stärkeren Differenzierung nach Branchen, nach Regionen und nach einzelnen Betrieben.
Wir müssen neu differenzieren in dem Sinne, daß wir niedrigwertige Arbeit auch niedrig bezahlen. Wenn man einen solchen Vorschlag macht, wird man sofort gescholten, daß man denen, die wenig haben, nun auch noch nehmen will.
— Nein, „niedrigwertige Arbeit" , keine Arbeit, die hohe Qualifikation voraussetzt.
Das ist es.Ich will Ihnen die Antwort sagen. Warum sind denn in Amerika in den 80er Jahren Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen worden, im Dienstleistungsbereich beispielsweise? — Weil die Löhne und Gehälter
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16697
Bundesminister Dr. Günter Rexrodtin diesem Bereich relativ niedrig angesetzt sind. Die Arbeit wird in diesem Bereich in Amerika noch nachgefragt, bei uns sind diese Bereiche zu hoch bezahlt. Und wenn man so etwas sagt — ich sage es noch einmal —, dann ist man wieder sozial kalt; dabei geht es einem darum, daß die Menschen, die diese Arbeit verrichten können, in Arbeit und Brot kommen und daß sie nicht der Sozialhilfe anheimfallen. Das ist das, was gewünscht wird.
Das ist nicht sozial kalt; das ist arbeitsmarktpolitisch verantwortlich. Außerdem gibt es bei Ihnen immer mehr, die genauso denken. Dies muß also gemacht werden.Auch müssen wir das Lohnabstandsgebot wahren, damit diejenigen, die arbeiten, mehr haben als diejenigen, die weniger arbeiten.
Und wir müssen die Arbeitszeit beweglicher gestalten: Jahresarbeitszeit, Lebensarbeitszeit, Wochenarbeitszeit. Das müssen wir machen, und da ist erstmals eine Diskussion in Gang gekommen, die Aussicht auf Erfolg bietet.Wir müssen — meine Damen und Herren, das sage ich mit allem Nachdruck — den Haushalt auch als Arbeitgeber entdecken. Wir müssen unser Steuerrecht und unsere Sozialvorschriften so umgestalten, daß Schwarzarbeit zurückgeführt wird und daß Hunderttausende — ich würde sagen: Millionen — von Menschen in den privaten Haushalten eine ordentliche Arbeit finden, daß sie Steuern zahlen, daß sie sozialversichert sind und daß die Schwarzarbeit zurückgeführt wird.
Das müssen wir tun.
Die Arbeitsvermittlung muß privat organisiert werden. Wenn man das sagt, dann kommt die Bundesanstalt und sagt: Wir, die Bundesanstalt, müssen dann nur diejenigen betreuen, die schwervermittelbar sind, und die Privaten betreuen die, die leicht vermittelbar sind.
Da sage ich einmal: Die Bundesanstalt sollte froh sein über jeden, den andere vermitteln.
Die Bundesanstalt hat Sorge dafür zu tragen, daß andere Arbeit finden, nicht, daß sie Arbeit hat. Das ist das, worauf es ankommt.
— Diese Wahrheiten muß man sagen, auch wenn Sie protestieren. Das ist so. Diejenigen bei Ihnen, die nachdenken, wissen das. Die Stimmen werden ja immer lauter. Wir liegen ja gar nicht auseinander,auch wenn Sie hier einen Verbalprotest einlegen, offensichtlich zum Fenster hinaus.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil das gestern angeklungen ist, noch ein paar Worte zu unserer Arbeit und zu dem sagen, was im Osten Deutschlands geleistet wird. Wir können uns nicht mehr nur auf das Erbe zurückziehen — das gebe ich ohne weiteres zu —, sondern wir müssen uns darauf konzentrieren, daß unsere Maßnahmen und das viele Geld, das dorthin transferiert wird, auch gut ankommen und daß der Prozeß, der eingesetzt hat, beschleunigt wird. Wir haben in diesem Jahr dort mehr als 6 % Wachstum, im nächsten mehr als 7 % — auf niedrigem Niveau. Wir werden die Rezession überwinden und den Aufschwung im Osten beschleunigen.
Dieses Land ist kein Land, das man als einen schlechten Standort bezeichnen kann.
Es ist ein Standort, der nach wie vor Stärken und Vorzüge hat. Diese müssen wir herausstellen, auch international. Wenn wir an der einen oder anderen Stelle Sorge und Probleme haben, dann müssen wir sie diskutieren, draußen und hier.
Aber wir werden es schaffen, wenn wir, statt uns gegenseitig zu behaken, zusammenwirken.
Wir, aber auch Sie von der Opposition sind gefragt. Die Menschen erwarten, daß Sie nicht nur protestieren, sondern mitentscheiden.Schönen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Uwe Jens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, mich nicht auf die Ebene zu begeben, die heute vom Bundeswirtschaftsminister Rexrodt eingenommen wurde.
Ich finde es wirklich nicht der Lage angemessen, mit derartigen Platitüden zu arbeiten, mit Ablenkungen, mit Verunglimpfungen verschiedenster Art.
Was Sie eben über die Bundesanstalt für Arbeit gesagt haben — daß sie nur da sei, um selbst beschäf-
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Dr. Uwe Jenstigt zu werden —, das ist unerträglich, Herr Wirtschaftsminister,
und das wird auch noch Folgen haben. Auf diese Art und Weise können Sie mit den Leuten, die sich tagtäglich um Arbeitsplätze bemühen, wirklich nicht umgehen. Das geht nicht.
Am Anfang haben Sie gesagt — ich zitiere —:Die Regierung hat ein klares Konzept zur Rückführung der Arbeitszeit.In der Tat: Ein klares Konzept zur Rückführung der Arbeitszeit hat diese Regierung.
Allein in einem Jahr ist die Anzahl der Arbeitslosen um 1 Million Menschen gestiegen und die Anzahl der Beschäftigten um 1 Million gesunken. Wenn das mit dieser Regierung so weiter geht, dann haben wir demnächst nur noch Leute, die keine Arbeit mehr haben.
Dann haben wir nur noch Arbeitslose. Es ist, nachdem, was Herr Rexrodt hier geboten hat, wirklich dringend an der Zeit, ihn abzulösen.
Ich habe immer darauf gewartet: Was sagt er denn nun? Wie will er denn nun wirklich dafür sorgen, daß die 6 Millionen Menschen, die in diesem Lande einen Arbeitsplatz suchen, aber keinen finden, in kurzer Frist in Brot und Arbeit kommen? Aber nichts, nichts habe ich von dieser Regierung gehört.
Die Rezepte, die Sie vorgetragen haben, sind uralt. Mit diesen Rezepten — das sollten Sie wirklich begreifen — werden Sie das Problem, das uns unter den Nägeln brennt, niemals lösen.
— Ich sage ja: Wir begrüßen ausdrücklich, daß sich bei VW die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber auf die Viertagewoche geeinigt haben — das ist ein Schritt nach vorne — bei einem Lohnverzicht um 10 %.
Sie haben auf diese Art und Weise verhindert, daß30 000 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassenworden sind. Insofern sage ich: Das ist ein positives Signal.
Es geht offenbar auch ohne Rausschmeißen von Arbeitnehmern ab, wenn man nur will.
Der verhängnisvolle Circulus vitiosus, der zur Zeit stattfindet, von Rexrodt unterstützt, nämlich „Schmeißt die Leute doch raus; baut eure Kosten ab",
muß endlich durchbrochen werden, meine Damen und Herren.
Tagtäglich lesen Sie in den Zeitungen, daß wieder Tausende, Zehntausende entlassen werden müssen. Tagtäglich lesen Sie das in den Zeitungen. Einige Wirtschaftsverbände fordern gerade dazu auf, daß weitere Entlassungen durchgeführt werden.
Wann wird endlich dagegen einmal Stellung seitens dieser Regierung bezogen?
— Ja, man kann sich ja auch aufregen. Man kann sich über diesen Menschen wirklich aufregen. Ich hoffe, er hat noch ein Jahr Frist, und dann ist es aus mit ihm. Das hoffe ich natürlich sehr.
Ich möchte noch einmal sagen: Was sich dieser Wirtschaftsminister auch auf europäischer Ebene erlaubt hat, ist völlig unerträglich. Er ist dafür, daß EKO-Stahl 800 Millionen DM an Subventionen bekommt; auch wir sind für EKO-Stahl. Aber er will offenbar akzeptieren, daß nach Italien und nach Spanien noch einmal 14 Milliarden DM an Subventionen fließen, und nimmt damit in Kauf, daß privatwirtschaftliche Unternehmen in Duisburg und in Dortmund möglicherweise über die Wupper gehen. Das ist wirklich unerträglich, und das muß man kritisieren, wo immer das nur geht. So geht es nicht.
Wenn er dauernd von Kohle redet, dann muß ich ihm sagen — seien Sie doch einmal ein bißchen fair, wenigstens mit sich selbst —: Diese Regierung hat im November 1991 einen Kompromiß geschlossen. Danach sollten 50 Millionen t Kohle bis zum Jahre 2 005 gefördert werden. Das ist nicht die Ewigkeit, aber das war ein vernünftiger Kompromiß. Aber kaum ist dieser Mann dran, wird der Kompromiß wieder in Frage gestellt, und das, was Sie einmal versprochen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16699
Dr. Uwe Jenshaben, wird nicht mehr gehalten. Das macht diese Regierung unglaubwürdig. Das geht so nicht weiter.
Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken? — Ja.
Herr Kollege Professor Jens, haben Sie denn das Standortpapier, das die Regierung jüngst aufgelegt hat, schon einmal genau gelesen? Waren Sie bereit, auch zuzuhören, was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, nämlich wie er die Probleme lösen möchte? Und als letztes: Pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß dieses VierTage-Modell bei VW unter keinen Umständen allgemein auf die Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu übertragen ist? Ansonsten gehen wir vor die Hunde, und das möchten wir nicht.
Ich will dem Kollegen, da ich ihn sehr schätze und gerne mag, auch kurz und bündig antworten. Ich habe dieses Papier gelesen, aber es ist nicht wirklich lesenswert.
Es fehlt nämlich eine vernünftige Analyse in diesem Papier; sie müßte eigentlich noch nachgereicht werden.
Ich pflichte Ihnen bei, Herr Hinsken: Das Modell, das bei VW etabliert worden ist, ist vernünftig, ist richtig. Aber es ist natürlich nicht auf alle Bereiche zu übertragen. Das ist gar keine Frage.
Das, was die Regierung sich erlaubt — ich habe es am Anfang schon gesagt; auch eben habe ich es wieder gehört —, ist ein großes Ablenkungsmanöver. Da will doch dieser Herr Rexrodt in der Tat das Ladenschlußgesetz wieder novellieren. Da will er möglicherweise das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb liberalisieren. Da will er das Rabattgesetz abschaffen. Das sind aus meiner Sicht alles Palliativmittel, die in der Tat ein großes Ablenkungsmanöver dokumentieren. Auf diese Art und Weise werden überhaupt keine Arbeitsplätze in dieser Republik geschaffen, sage ich Ihnen.
Aber eins muß natürlich klar sein: Wir reden heute über den Haushalt. Ich sage Ihnen: Wenn es uns nicht gelingt, daß diese tiefgreifende Rezession endlich überwunden wird, dann haben wir keine zusätzlichen Steuereinnahmen. Dann werden wir die Konsolidierung der Staatsfinanzen niemals erreichen.
Also, gehen wir an die Arbeit und versuchen endlich, das erste Problem anzupacken, das wir haben: Das ist die Überwindung der schwerwiegenden Rezession, in der die deutsche Volkswirtschaft steckt.
Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Albowitz?
Bitte sehr, weil Sie so eine nette Frau sind.
Vielen Dank, Herr Kollege; ich bin Ihnen außerordentlich dankbar.
Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen oder mir zu bestätigen, daß die Novellierung des Ladenschlußgesetzes aus dem Berliner Senat über den Bundesrat von der Berliner sozialdemokratischen Senatorin an uns herangetragen worden ist und daß wir uns in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren damit auseinandersetzen müssen.
Der Herr Rexrodt will das ganze Ladenschlußgesetz kippen. Der Entwurf des Berliner Senats sieht vor, daß diejenigen, die keine Arbeitnehmer beschäftigen, so lange aufhaben dürfen, wie sie wollen. Das ist also etwas grundlegend anderes. Aber ich gebe Ihnen zu, daß dieser Entwurf auch mit sozialdemokratischen Stimmen eingebracht worden ist; das ist völlig richtig, gar nicht zu bezweifeln. Aber ihr müßt euch mal gegenseitig unterhalten, ob ihr da den richtigen Weg habt.
Fast jeden Tag bekommt der Bürger, glaube ich, mindestens dreimal verschiedene Meinungen von diesem Bundeswirtschaftsminister Rexrodt in den Medien mitgeteilt.
— Ja, ganz zweifellos, präsent ist der amtierende Wirtschaftsminister. Wer wollte das bezweifeln. Aber dennoch wird laut Umfragen sein Ansehen in der Öffentlichkeit leider immer schlechter.Ich sage Ihnen: Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande haben es satt, immer nur Ankündigungen und Versprechungen zu hören. Sie wollen endlich konkret wissen, auf welche Art diese Bundesregierung die Arbeitslosigkeit ein für allemal beseitigt. Darum geht es!
Ich vermute stark, meine Damen und Herren, im nächsten Jahr werden die Investitionen der privaten Wirtschaft wieder etwas ansteigen — gar keine Frage, und das ist auch gut so. Die Lagerbestände sind geräumt, es ist ja schließlich auch Wahljahr. Und auch das Bruttosozialprodukt mag ja nach Aussagen der Sachverständigen um 0,5 % steigen. In diesem Jahr ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit um 2 % gesunken.Die Zahl der Arbeitslosen wird allerdings im nächsten Jahr nicht abgebaut, sondern wird weiterhin kräftig zunehmen. Gerade das ist für uns Sozialdemokraten eine unerträgliche Entwicklung und eine besondere Herausforderung.
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16700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Uwe JensDer Chor, angestimmt von Herrn Rexrodt und einigen Unternehmern — einigen, sage ich, nicht allen —, beschwört die Kostenkrise. Da stecke die deutsche Wirtschaft drin, die Kosten seien viel zu hoch.
Die Löhne sind in der Tat nominal in den Jahren 1990, 1991 und 1992 um etwa 5 bis 6 % — nominal, wohlgemerkt — gestiegen, aber die Preise sind in diesen Jahren auch immer wieder um 3 bis 4 % gestiegen.Also, ich verlasse mich mehr auf die CDU, die ein bißchen mehr Sachverstand hat: Sie müßten doch eigentlich begreifen, daß man z. B. erstens Löhne nicht isoliert von den Preisen sehen kann. Wollen diejenigen, die dauernd die Kostenkrise beschwören, wirklich die Löhne absenken und das Preisniveau auf der alten Höhe belassen? Das ergibt doch wirklich keinen Sinn.Zweitens. Die Verteuerung unserer Waren im Ausland hat wenig mit Lohndruck — auch das sollten Sie nachlesen: wenig mit Lohndruck —, sondern vor allem mit der Aufwertung der D-Mark, mit der Veränderung der Wechselkurse zu tun.
Das hat sogar vor kurzem der Chefvolkswirt von Gesamtmetall, also einem Arbeitgeberverband, festgestellt. Vielleicht könnten Sie dem wenigstens folgen. Der Anstieg der Lohnstückkosten im internationalen Vergleich geht also vor allem auf die Veränderung der Wechselkurse zurück. Das kann man doch wirklich nicht bezweifeln, meine Damen und Herren.
Und die Lohnstückkosten — das ist ein Problem — sind natürlich auch gestiegen, weil die Ausbringung der deutschen Volkswirtschaft deutlich zurückgegangen ist. In dem Moment, wo die Kapazitäten, die wir haben, wieder besser ausgelastet sind, sinken automatisch die Lohnstückkosten. Das ist nun mal immer so im konjunkturellen Verlauf. Und von einem außerordentlichen Lohnpush, von einem außerordentlichen Lohnstoß in den Jahren 1991 und 1992 kann man angesichts von Tariflohnsteigerungen von 5,7 bzw. 6 % bei 4 % Preissteigerung wirklich nicht sprechen.Bringen Sie also nicht immer das Argument von der Kostenkrise. Es ist nur partiell richtig, nicht überall. Machen Sie endlich eine vernünftige Analyse unserer wirtschaftlichen Probleme, damit Sie dann auch vernünftig agieren und eine entsprechende Politik betreiben können.
Das Jammern, meine Damen und Herren, ist offenbar des Deutschen Lust geworden, angestimmt insbesondere von Herrn Rexrodt. Aber bevor einige Verbände und Unternehmer immer lauter jammern, müßten sie, glaube ich, vor allem auch in ihrem Hause, in ihrem eigenen Hause für Ordnung sorgen.
Zwei Drittel der Probleme, der langfristigen Strukturprobleme, mit denen wir zu kämpfen haben, sind vor allem in den Unternehmen — und ich füge hinzu: in den großen Unternehmen — selbst verursacht.Man sollte noch etwas zu den Lohnnebenkosten sagen, die wir auch gerne senken möchten; gar keine Frage. Aber sorgen Sie doch bitte dafür, daß zumindest die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung von der politischen Last entlastet wird, jedes Jahr etwa 50 Milliarden DM von West nach Ost zu transferieren.
Wenn wir das hinbekämen, dann könnten wir in der Tat die Lohnnebenkosten deutlich senken. Und da sind Sie aufgefordert, Herr Rexrodt. Wo bleibt da Ihre Antwort?
Entscheidend ist in der Tat, meine Damen und Herren, daß wir Innovationen zustande bringen — ein schrecklicher Ausdruck. Veränderungen, neue Produkte brauchen wir. Glauben Sie mir: Durch Lohnsenkungen kriegen wir Innovationen wirklich nicht zustande. Durch Lohnsenkungen werden im allgemeinen nur die alten Produkte möglicherweise ein bißchen billiger produziert. Durch Lohnsenkungen aber werden keine neuen Innovationen geschaffen.
Möglicherweise wird durch Lohnsenkungen sogar ein wenig von dem Innovationsdruck, den wir dringend brauchen, weggenommen. Der entscheidende Druck, zu Innovationen zu kommen, wird dadurch abgeschwächt.Was wir also brauchen, ist verstärkter Innovations-druck, meine Damen und Herren. Vor allem brauchen wir einen scharfen Wettbewerb nicht zwischen Staaten, sondern zwischen Unternehmen. Wir brauchen außerdem eine gezielte Innovationspolitik. Notwendig wäre z. B., daß die Bundesregierung von ihrem überkommenen statischen Neoliberalismus Abschied nimmt und sich mit dynamischem Denken und mit dynamischen Überlegungen befaßt. Nicht Friedman, sondern Schumpeter sollte von Herrn Rexrodt gelesen werden. Aber der Wirtschaftsminister kann solche Probleme offenbar nicht lösen — das ist meine Meinung —; er ist eben extrem ideologisch verklemmt. Dann besteht nur eine Möglichkeit: Er muß weg.
Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Der Herr hat schon einmal gefragt. Ich möchte nicht mehr.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16701
Dr. Uwe JensWir meinen dagegen, daß es jetzt entscheidend darauf ankommt, an die Wachstumskräfte in der Region zu denken und diese zu mobilisieren. Notwendig wäre z. B., in den Arbeitsamtsbereichen alle relevanten Kräfte der Wirtschaft an einen runden Tisch der kollektiven Vernunft zu holen. Herauszufinden ist: Wo gibt es die sogenannten hellen Köpfe, von denen Karl Schiller immer sprach? Hier müßte angesetzt werden. Dazu aber ist es erforderlich, daß wir nicht nur Verantwortung in die Regionen verlagern, sondern auch entsprechende Finanzmittel in die Arbeitsmarktregionen transferieren, damit diese hellen Köpfe in den Regionen unterstützt werden können.Wir Sozialdemokraten haben zur dritten Lesung einen Entschließungsantrag eingebracht. Er verdeutlicht, was wir in der schweren Wirtschafts- und Beschäftigungskrise für dringend erforderlich halten. Wir brauchen u. a. eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik — ich konnte das nicht ausführlich darlegen, bin aber gerne bereit, Ihnen dies privatissime noch einmal zu erläutern, Herr Rexrodt. Wir brauchen eine stringente Politik zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir brauchen ganz zweifellos den ökologischen Umbau. Wir brauchen ebenfalls eine neue Verkehrs- und Wohnungsbaupolitik. Dies alles kann man ausführlicher im wirtschaftspolitischen Leitantrag der SPD vom Parteitag in Wiesbaden nachlesen.Es ist an der Zeit, daß die Weichen in der Wirtschaftspolitik neu gestellt werden. Mit ständigen Ablenkungsmanövern oder öffentlichen Streitereien, wie Sie, Herr Rexrodt, sie heute wieder geboten haben, sind die brennenden Probleme unserer Zeit niemals zu lösen.Schönen Dank.
Als nächster spricht der Kollege Johannes Nitsch.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Professor Jens, zu Ihrer Rede nur soviel: auch keine neuen Vorschläge zur Lösung der Probleme, aber sehr große Verbreitung von Mißmut in bezug auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Der vierte Haushalt im geeinten Deutschland wird unter dem Zwang zum Sparen verabschiedet. In Ostdeutschland sind in den drei Jahren seit der Einheit große Leistungen gemeinsam von Ost- und Westdeutschen erbracht worden.
Leider wird nicht oder kaum ins Bewußtsein gebracht,daß der Umbau einer zerrütteten sozialistischen Planwirtschaft mit all ihren Zerstörungen in Umwelt- und Infrastruktur in eine Soziale Marktwirtschaft erfolgt ist, ohne daß die Menschen in wirtschaftliche Not geraten sind.
Das ist eine Leistung, auf die alle in Deutschland stolz sein können.Warum steht dieses Ergebnis eigentlich nicht mehr im Vordergrund unserer Debatten?
Dann gäbe es doch sicher schneller Übereinstimmungen hinsichtlich der Forderungen des Sparens, der Höhe der Nettokreditverschuldung
und all der schwindelerregenden Quoten dieses Haushaltes.Die Westdeutschen wollen hören, daß die Transferleistungen in der Zukunft dazu beitragen werden, daß die Wertschöpfung in Deutschland erheblich steigt und damit ein Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland geleistet wird. Die Ostdeutschen wollen hören, daß die Umstellungsleistungen in ihrem gesamten Lebensbereich anerkannt werden.
Nach Befragungen des Allensbacher Instituts beklagen mehr Westdeutsche als Ostdeutsche den Verlust der Zukunftsorientierung nach der Wiedervereinigung. Liegt das nicht auch an den Debatten in diesem Haus, dessen eine Hälfte die Leistung, die alle erbracht haben, einfach nicht anerkennen will und nur Mißmut verbreitet?
Mißmut verbreiten scheint mir geradezu die Wahlkampfparole der Opposition zu sein. Mit Mißmut hofft man am ehesten, die Regierung zu treffen; denn ein eigenes Konzept, aus den konjunkturellen und strukturellen Schwierigkeiten herauszukommen, fehlt. Wir hören das bei jedem Redner.Von der Zukunft viel erwarten, zupacken und verändern, neue Wege ausprobieren — das ist das Markenzeichen der neuen Bundesländer. Bundeskanzler Helmut Kohl hat in China mit Nachdruck für die neuen Länder geworben. Wir haben hochmotivierte und gut ausgebildete Facharbeiter, und es gibt in unseren Ländern keine Technikfeindlichkeit der Menschen. Dieser Standortvorteil sollte in der Welt noch mehr bekanntgemacht werden.
Von den Aufträgen, die aus China mitgebracht wurden, werden unsere Waggonbauer, U-Bahn-Hersteller und Werkzeugmaschinenhersteller ihren Anteil bekommen.Einige Beispiele für die gute Entwicklung in den neuen Bundesländern: Erstens. Der Auftragseingang
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16702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Johannes Nitschin Ostdeutschlands Maschinenbau war zuletzt nicht mehr schlechter als in Westdeutschland. In der EG kommt der ostdeutsche Maschinenbau sogar auf hohe Plusraten. Vom Januar bis September dieses Jahres erhöhte sich der Auftragseingang aus den EG-Ländern im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahres um 110 %. Die Produktivitätslücke in ebendiesem Maschinenbau ist auf der Basis des Ist-Lohnes auf 15 % zurückgegangen.Zweitens. Die Wachstumsraten in den neuen Bundesländern von real 7 % sind doch in Europa einmalig und äußerst beachtlich. Das zeigt sich auch in so unbestechlichen Dingen wie den steigenden Steuereinnahmen. Die Revision der Steuerschätzung nach oben — und dann noch in einer Größenordnung von 3,1 Milliarden DM — spricht für sich.Drittens. Die großen Veränderungen, die in nicht ganz drei Jahren im Osten vor sich gegangen sind, zeigen auch Auszüge aus dem Brief eines Hamburgers, den ich vor einigen Wochen bekommen habe. Er hatte in Dresden die Verantwortung für ein Unternehmen mit Zukunftstechnologien übernommen. Er schreibt:Im Januar des Jahres 1991 kam ich mit meiner Frau, einem Koffer und großen Erwartungen, aber auch mit Skepsis nach Dresden. Die Probleme türmten sich zunächst zu einem fast unüberwindlichen Berg auf. Freunde und Bekannte gab es nicht, Telefonieren erforderte viel Geduld und Ausdauer, das Equipment war vorsintflutlich. Die Straßen waren fürchterlich, die Schlote qualmten mit den Trabis um die Wette, gute Restaurants wurden weiterhin unter dem Ladentisch gehandelt, und bezahlbare Unterkünfte waren wie ein Sechser im Lotto.
Aber die Menschen! Sie wogen all das auf; sie waren herzlich, hilfsbereit und willig, den Schritt von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft kreativ mitzugestalten.Wie so oft erkenne auch ich erst im Rückblick, welche gewaltigen Umwälzungen und Veränderungen sich bereits ergeben haben: Telefonieren ist kein Problem mehr, gute Hotels und Restaurants schießen allerorten aus dem Boden, das Equipment ist moderner als in den alten Bundesländern, die Trabis sind fast von der Straße verschwunden, die Straßen werden überall ausgebaut.
Doch die positivsten Veränderungen erfolgten in den Menschen; sie sind selbstsicher und selbständig geworden. Die meisten haben die Fesseln des Sozialismus abgeworfen und genießen die Freiheit in vielfältiger Form.
Dies miterleben zu dürfen und ein wenig mitgestaltet zu haben hat mir große Freude bereitet undmich für die anfänglichen Unannehmlichkeiten mehr als entschädigt.Rückblickend kann ich sagen: Es war meine schönste Zeit während meiner Berufstätigkeit und eine unschätzbare Bereicherung meiner Lebenserfahrung.
— Er ist wieder in Hamburg, weil er die Anstrengungen gesundheitlich hat bezahlen müssen.Meine Damen und meine Herren, trotz aller positiven Entwicklungen und Signale bleibt die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern die größte politische Herausforderung. Niemand übersieht dabei, daß auch in der alten Bundesrepublik eine zunehmend schwierige Arbeitsmarktsituation zu verzeichnen ist. Arbeitslosigkeit hat in Deutschland eine neue Dimension. War sie bisher die bittere und völlig neue Erfahrung für viele Menschen, insbesondere für Frauen, in den neuen Ländern, so ist sie heute ein politischer Schatten über ganz Deutschland. Bischofferode ist Schweinfurt näher gerückt.Die politische Hauptaufgabe heißt deshalb, die Voraussetzungen für wettbewerbsfähige und zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Ein wichtiger Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist deshalb die Produkterneuerung im Osten. Wenn in einem Drittel des deutschen Territoriums nur 4,2 % aller Industriegüter hergestellt werden, dann spiegelt schon allein diese Zahl die Notwendigkeit wider, eine innovativ ausgerichtete und leistungsfähige Industrieforschung zu erhalten. Zwei Dinge müssen hier ineinandergreifen — damit wende ich mich an Sie, Herr Minister —:Erstens. Die wirtschaftsnahe Forschung muß über mittelfristige Zeiträume verläßlich gefördert werden. Das Programm der marktorientierten Industrieforschung muß bis 1997 weitergeführt werden und darf nicht bereits 1995 auslaufen. Das Programm der Förderung neuer Produkte und Verfahren in kleineren und mittleren Unternehmen muß wieder auf den ursprünglichen Umfang von 50 Millionen DM gebracht werden. Die Reduzierung um 10 Millionen DM ist schwer zu akzeptieren. Denn gerade in den neuen Bundesländern entstehen fast täglich Neugründungen kleiner innovativer Unternehmen — zum Teil in Garagen —, die Maßstäbe für die Kreativität in ganz Deutschland setzen.Zweitens. Um das Verwurzeln der neuen Industrien zu fördern, ist eine zeitlich befristete, degressiv gestaltete Wertschöpfungspräferenz ein geeignetes Mittel. Das ist eine der wichtigsten wirtschaftspolitischen Forderungen. Sie ist das geeignete Mittel, den dringend erforderlichen Nachteilsausgleich in einfacher und praktikabler Weise umzusetzen. Sie ist zugleich ein effektives Instrument der Absatzförderung.Ich erinnere daran, daß der BDI schon im vergangenen Jahr unterstrichen hat, daß weder die Investitionsförderung allein noch Tarifkorrekturen in der Lohngestaltung die Trendwende herbeiführen können. Der BDI plädierte für die Schaffung einer befristeten Präferenzzone. Denn es komme auf „Aufträge
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Johannes Nitschjetzt" an, „die ein wenig mehr Zeit zur Kapitalbildung und Umstrukturierung ermöglichen".Herr Minister, wir hatten in dieser Frage bereits ein längeres Gespräch. Sie zählten sich mit zu den Erfindern dieser Wertschöpfungspräferenz. Die Argumente, die Sie dagegen vorgetragen haben, sind nicht überzeugend. Die Zustimmung der EG läßt sich sicherlich erreichen. Es ist auch noch nicht zuviel Zeit vergangen, um ein solches Instrument in Gang zu bringen.Ich meine, es gibt in der Bundesrepublik seit langem Erfahrungen im Bereich des Nachteilsausgleichs für bestimmte Regionen. Damit sind auch die Risiken und die differenzierten Wirkungen solcher Instrumente bekannt.
Herr Nitsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Ja, wenn es mir nicht angerechnet wird, Frau Präsidentin.
Nein, es wird Ihnen nicht angerechnet.
Herr Nitsch, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Koalition eine Wertschöpfungspräferenz für die neuen Bundesländer durchsetzen wird?
Wir haben dieses Instrument seit langem in der Diskussion und auch im Gespräch.
Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die Bundesregierung in dieser Richtung nachdenken wird
— und auch Entscheidungen treffen wird. Zuerst geht es im Kopf los, dann werden Entscheidungen getroffen.
— Ich habe nicht über die Partei gesprochen, sondern ich spreche für mich als ein Abgeordneter aus den neuen Bundesländern.
Ich vertrete hier auch die Interessen, die wir für unsere Industrie durchzusetzen haben.
Meine Damen und Herren, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem jüngsten Jahresgutachten der Bundesrepublik attestiert, daß die Grundlinien der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung für den Aufbau Ost richtig sind. Dazu gehörten insbesondere die Erneuerung der Wirtschaftsstruktur durch die Privatisierungsanstrengungen, der massive Ausbau der Infrastruktur, die Beseitigung von Investitionshemmnissen, die Investitionsförderung und auch die Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik. Der Sachverständigenrat hat hinzugefügt, daß diese Grundlinie einer wachstums- und beschäftigungsorientierten Politik geduldig und konsequent weiter verfolgt werden muß. Dem kann ich nur zustimmen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur drei Jahre nach dem Trugschluß der Bundesregierung, daß die Wirtschaftseinbindung Ostdeutschlands nach der Einführung der D-Mark wie geschmiert und von selbst läuft, ist die Politik der großen Worte und der fehlenden Ideen kleinlaut geworden. Ein klares Konzept, Herr Rexrodt, steht vielleicht auf Ihrem Weihnachtswunschzettel. In der Praxis steht ein Fragezeichen. Das einzige, was an Ihrer Politik relativ schnell klargeworden ist, ist, daß die Steigerung von Sprechblasen offenbar Schaumschlagen ist. Das beherrschen Sie allerdings sehr gut.
Trotz leichter Anzeichen von Besserung befindet sich die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor in einer tiefen Transformationskrise. Die kurzen Anpaßzeiten von drei bis fünf Jahren, von denen Wirtschaftsminister Haussmann und Bundeskanzler Kohl 1990 sprachen, sind im Traumbuch der Selbsttäuschungsrekorde gelandet. Übereinstimmend rechnen Experten heute damit, daß die Produktivitätsunterschiede erst weit im nächsten Jahrtausend ausgeglichen sind.Mit der Bedienung der ostdeutschen Märkte und der Besetzung von Schlüsselpositionen kam die westdeutsche Industrie den Ansätzen eines eigenständigen industriellen Neuaufbaus im Osten in den meisten Fällen zuvor. Immer dort, wo ostdeutsche Betriebe nach mühsamen Überlegungen ein Sanierungskonzept vorlegten, war der westdeutsche Konkurrent bereits da und hatte die besseren Karten in der Treuhand. Auch ausländische Investoren, die heute händeringend gesucht werden, kamen in dieser entscheidenden Phase nicht zum Zuge.Heute, im vierten Jahr nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands, gibt es deshalb nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern deren zwei: einen westlichen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz
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16704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Werner Schulzmancher positiver Entwicklung weiter im industriellen Niedergang befindet.Die Bundesregierung hat die Auswirkung der zyklischen Krise der Weltkonjunktur sträflich falsch eingesetzt. Der staatlich finanzierte Vereinigungsboom konnte die Weltrezession nur eine Weile draußen halten. Dann kam sie um so heftiger. Sie traf auf gewinnverwöhnte Unternehmen und ein geistig träges Management. Sie traf auf einen Staat, der sich durch maßlose Verschuldung selbst die Mittel für eine antizyklische Konjunkturpolitik genommen hat.Langfristig noch weit dramatischer ist die ökologische Strukturkrise. Hier ist das Versagen der Bundesregierung von verhängnisvoller Auswirkung. Ihre Umweltpolitik — Herr Rexrodt hat ein Beispiel dafür geliefert — ist reine Rhetorik. Nachhaltiges ökologisches Wirtschaften wird wieder als Luxus, als unbezahlbar, als Zusatzaufgabe für bessere Zeiten, als Sahnehäubchen auf die volle Tasse angesehen. Sie verschieben das natürlich auf Europa und sagen, das sei eine Aufgabe, die global gelöst werden müsse, anstatt nationale Vorleistungen zu bringen.Doch wer die Wahrheit über Ökologie sagen will, der muß heute betonen, daß es keinen Tag zu verschenken gibt. Die ökologische Strukturreform ist unser Ausweg, und zwar jetzt auch wirtschaftlich. Nur wer heute die Fragen von morgen ansatzweise stellt und löst, hat morgen die Produkte und Verfahren mit weltweiter Nachfrage. Dies schafft auch zukunftssichere Arbeitsplätze und nutzt vor allem die Ressource, die wir am meisten besitzen: unsere menschliche Arbeitskraft. Letztlich wird die Qualität des vorhandenen Humankapitals über die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit eines Produktionsstandortes entscheiden.Der Staat muß eingreifen, urn die arbeitsmarktpolitischen Folgen des Strukturwandels zu mildern, nicht durch Subventionen für nicht mehr wettbewerbsfähige Industrien, sondern durch zielgerichtete Investitionen in Ausbildung und Umschulung. Wie es damit aussieht, zeigt der eingeschrumpfte Bildungsetat. Auch hier irrt sich der Kanzler gewaltig, wenn er — wie in seiner gestrigen Rede — behauptet, daß wir mehr Studenten als Lehrlinge hätten. Richtig ist: Fast doppelt so viele junge Menschen entscheiden sich für eine Berufsausbildung anstatt für ein Hochschulstudium. Wer Lehrlinge gegen Studenten aufrechnet, zeigt, daß er nichts begriffen hat.
Wir brauchen beide Ausbildungswege, um als Intelligenzstandort eine Entwicklungschance zu behalten.Die alten Rezepte taugen immer weniger. Das zeigt sich. Weder die Welt noch die Wirtschaft — wie Rathenau einst glaubte —, sondern die Weltwirtschaft bestimmt heute das Schicksal Deutschlands, genauer gesagt Europas. Heute ist neues Denken auch in Westeuropa gefragt.Der Aufschwung Ost findet in Fernost statt. Dort setzt sich unser Kanzler mit dem ihm eigenen Gewicht persönlich für chinesische Aufträge an deutsche Großunternehmen ein. Daß zur staatlichen Exportsubventionierung womöglich deutsche Entwicklungshilfemittel mißbraucht werden, ist beileibe nicht der einzige Schönheitsfehler dieses Deals.
Mit NAFTA und APEC bildet sich — auch als Antwort auf den EG-Binnenmarkt, den mancher nicht zu Unrecht als Festung begreift — im amerikanischen und pazifischen Raum ein Wirtschaftsgebäude heraus, das die größten Welthandelsräume, die dynamischsten Volkswirtschaften unter einem Dach vereint und die Brüsseler Zinnen weit überragt.In Europa sind mit dem politischen und wirtschaftlichen Umbruch ebenfalls neue Verhältnisse entstanden. Die traditionellen Märkte Ostdeutschlands sind vorerst weggebrochen. Dafür sind direkt vor der deutschen und westeuropäischen Haustür Niedriglohnländer erwachsen, in die wir Arbeitsplätze exportieren. Wenn wir die Integration der Reformstaaten Osteuropas in die EG und den europäischen Wirtschaftsraum voranbringen wollen, dann dürfen wir, selbst wenn wir es könnten, diesen Prozeß nicht unterdrücken. Das Teilen ist eben keine rein nationale Veranstaltung.Die traditionelle Antwort auf dieses Dilemma befriedigt immer weniger. Man kann durchaus Zweifel haben, ob die forcierte Produktionsauslagerung in Niedriglohnländer tatsächlich zur heimischen Beschäftigung beiträgt, ob die Strategie immer weiter erhöhter internationaler Wettbewerbsfähigkeit eigentlich trägt — und, wenn ja, zu welchem ökologischen und sozialen Preis.Mit der immer direkteren Einbeziehung in und Abhängigkeit von globalen Entwicklungen schwinden die Einflußmöglichkeiten einzelstaatlicher politischer Steuerung. Deshalb ist es so überaus unbefriedigend, was momentan im GATT verhandelt wird. Zumindest müßte doch parallel über die Möglichkeiten internationaler Regulierung im Welthandel die Beschränkung des Handels mit Waffen, mit in Kinderarbeit hergestellten Produkten, von internationalem Umweltdumping und dergleichen bedacht werden. Doch diese Fragen bleiben offenbar einer späteren Reparatur- und Krisenrunde vorbehalten.
Der Spielraum für die Politik wird so immer enger, aber die Problemlösungskapazität, die Phantasie und die Bereitschaft der Regierungen, neue Lösungen zu suchen, halten mit dem Problemdruck nicht Schritt. Die Bundesregierung geht seit Jahren mit zweckoptimistischen Wachstumsannahmen in die Öffentlichkeit und in die Haushaltsberatungen, mit Annahmen, die von der Wirklichkeit regelmäßig widerlegt werden. Zuletzt war es der Sachverständigenrat, der die Wunschprognosen der Bundesregierung zurechtgerückt und die Hoffnungen auf ein Ende der Rezession in spätere Zeiten verschoben hat. Unbegreiflich, wie sich Minister Rexrodt durch dieses Gutachten bestätigt fühlen kann! Vermutlich wurde ihm ein anderes vorgelesen, oder die mehrfach ausgestrahlte Silvesteransprache des Bundeskanzlers eingespielt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16705
Werner SchulzNicht nur in der Bewertung der konjunkturellen Situation, auch in der Beurteilung der Standortfrage setzt der Sachverständigenrat andere Akzente. Er sieht den Standort Deutschland keineswegs akut gefährdet, schon gar nicht durch zu hohe Löhne. Allenfalls die Wechselkursentwicklung und vor allem die Innovationsschwäche in der Wirtschaft bereiten ihm Sorgen. Diese Innovationsschwäche ist jedoch nicht nur — aber auch — die Folge einer völlig konzeptionslosen Forschungs- und Technologiepolitik,
die industrielle High-Tech-Ruinen schafft, statt wirklich zukunftsträchigen Entwicklungen auf die Beine zu helfen.Die Bundesregierung sucht dagegen die Lösung der Probleme in Deregulierung, Sozialabbau und Umweltabbau. Doch mit der Kostensenkungspolitik durch den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hilft die Regierung der innovationsmüden Wirtschaft nicht auf die Beine. Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Orientierung, ohne Unterstützung des Staates werden die Unternehmen weder den ökologischen Umbau bewältigen noch die Erhaltung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erreichen.Ökologische Innovation setzt klare, verläßliche ökologische Politik voraus. Doch daran mangelt es. Vertane Möglichkeiten bleiben aber vertan. Eine Politik des wirtschaftlichen Neuaufbaus im Osten, des ökologischen Umbaus und damit der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Ost und West ist heute angesichts sinkender Staatseinnahmen und der ausgereizten Verschuldung der öffentlichen Haushalte weitaus schwieriger zu realisieren als noch vor einigen Jahren. Um so größere Bedeutung besitzt ein strukturell wirksames Konzept für eine Wirtschaftspolitik, die die Überlebenschancen der noch vorhandenen industriellen Substanz in Ostdeutschland, soweit irgend möglich, wahrt und darüber hinaus den sich ohnehin vollziehenden Strukturwandel der Wirtschaft ökologisch und sozial gestaltet. Auch wenn das Steuer herumgeworfen wird — das ist überfällig —, wird der wirtschaftliche Gesundungsprozeß mühsam, von Rückschlägen begleitet und langwierig sein.Eines ist indessen gewiß: Der Bundeskanzler hat sich wieder einmal verrechnet, so wie bei der Aufstellung des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt. Wie Sie wissen, hat sich Herr Steffen Heitmann zurückgezogen. Offenbar hat nichts Bestand, was der Bundeskanzler gestern noch verteidigt hat.
Das wirtschaftliche Jammertal ist tiefer und breiter als vermutet; die Rezession macht ihm nicht die Freude, rechtzeitig vor Beginn des Wahlkampfes das Feld zu räumen. Das Wunschthema des Bundeskanzlers, innere Sicherheit, wird nicht auf der Hitliste stehen. Er selbst und seine gescheiterte Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik werden ins Rampenlicht rükken.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Hans Martin Bury.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Dinosaurier gerade eine Renaissance erleben, Wirtschaftspolitiker à la Rexrodt haben offensichtlich wenig politische Überlebenschancen.
So wie die Dinosaurier unfähig waren, sich veränderten Umweltbedingungen anzupassen, versucht auch die Bundesregierung vergeblich, mit Rezepten der Vergangenheit die Probleme der Gegenwart zu meistern und sie verspielt dabei unsere Zukunft.
Der Bundeswirtschaftsminister legt ein sogenanntes Standortpapier vor, in dem unsere Situation in düsterem Schwarz-Blau-Gelb gemalt wird. Die Analyse ist nicht nur einseitig, sie greift auch zu kurz, und sie ist in doppelter Hinsicht verantwortungslos. Zum einen stellt uns die Bundesregierung — um ein treffendes Bild des „Handelsblatts" zu gebrauchen — dar wie eine Metzgerei, aus deren Laden täglich der Familienkrach dröhnt: Unser Meister kann nichts, unsere Gesellen sind faul und schmutzig, unsere Wurst ist verdorben,
unsere Öffnungszeiten sind zu kurz, und alles in allem sind wir auch noch viel zu teuer. Welcher Kunde würde diesen Laden dann noch betreten? fragt zu Recht das „Handelsblatt".
— Ich zitiere das „Handelsblatt", Herr Kollege.Zum zweiten verwischt die Bundesregierung die Verantwortung, die gerade sie selbst für die unbestrittenen Fehlentwicklungen trägt. Die F.D.P. stellt seit 21 Jahren die Bundeswirtschaftsminister und beläßt es bei Sprüchen wie „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt" und bei Schuldzuweisungen an andere. Kaschiert wird die eigene fatale Untätigkeit mit plakativen Worthülsen wie „Asien-Offensive", „Bildungsgipfel". Was steckt dahinter? Nicht mehr als hinter den Kulissen einer Westernstadt.Risikokapital bleibt in Deutschland Mangelware. Eigenkapitalhilfe für Existenzgründer gibt es im Westen überhaupt nicht mehr, und die ERP-Programme genügen voraussichtlich zum letzten Mal den Anforderungen.Forschung und Technologie, Bildung und Wissenschaft werden vernachlässigt, Mittel der Exportförderung für kleine und mittlere Unternehmen gekürzt, an
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16706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Hans Martin BuryStelle entschlossenen Handelns startet die Bundesregierung eine Offensive im Beschönigen.
Die Innovationskrise in Deutschland ist nicht nur ein Strukturproblem der Wirtschaft, sondern auch Ergebnis der Erstarrung der Bundesregierung.
Davon können auch hektische Ablenkungsmanöver mit geradezu grotesken Forderungen, wie etwa der nach Abschaffung des Ladenschlusses, nicht ablenken. Als ob es an zu kurzen Öffnungszeiten läge, daß die Menschen ihr Geld im angeblichen Freizeitpark Deutschland nicht ausgeben! So wie Sie Politik machen, müßten eigentlich selbst Bundesminister genug Zeit zum Einkaufen haben.Was wir wirklich brauchen, ist eine grundlegende Zukunftsorientierung, gerade in der Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine aktive Förderung des Strukturwandels, der insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen getragen wird. Dazu gehört ein ausreichendes Angebot von Risikokapital.Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß meine Anregung vom letzten Jahr, die Kreditgrenzen im ERP-Programm anzuheben, aufgegriffen wurde. Wir werden dem ERP-Wirtschaftsplan 1994 auch zustimmen. Wir warnen aber schon heute vor den verheerenden Folgen der geplanten Reduzierung in den Folgejahren.Mit ERP-Mitteln wurden nach Angaben der Bundesregierung allein in den neuen Ländern 1,3 Millionen Arbeitsplätze neu geschaffen und 1,2 Millionen bestehende gesichert. Bei einem durchschnittlichen Förderbetrag von gerade einmal 95 DM pro Arbeitsplatz und Jahr ist leicht zu erkennen, daß diese Programme nicht nur hocheffiziente Instrumente zur Förderung von Investitionen darstellen. Es zeigt sich exemplarisch, daß es allemal besser und billiger ist, Arbeitsplätze zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit.
Darüber hinaus müssen auch Ausgaben für Bildung, Forschung und Technologie nicht als verlorenes Geld, sondern als Zukunftsinvestition in den Wirtschaftsstandort Deutschland begriffen werden. Doch da hapert es gewaltig. Die Staatsausgaben für das öffentliche Bildungswesen betragen in Deutschland gerade einmal 4 % des Bruttoinlandsproduktes. Damit rangieren wir an drittletzter Stelle der OECD- Länder.Auch bei der öffentlichen Förderung von Forschung und Entwicklung sieht es traurig aus. Mit Personalkostenzuschüssen für den F+E-Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, wie wir sie zu Zeiten der sozialdemokratischen Bundesregierung hatten, könnten auch in den alten Ländern deren Innovationsfähigkeit gestärkt und die Chancen für Naturwissenschaftler und Ingenieure verbessert werden.In den neuen Ländern wäre es längst überfällig, Produktivitätsrückstände durch staatliche Lohnkostenzuschüsse auszugleichen, statt Unternehmen in den Konkurs und Arbeitnehmer auf die Straße zuschicken. Das, Herr Nitsch, wäre ein wesentlich effizienteres Instrument als die von Ihnen vorgetragene Mehrwertsteuerpräferenz, aber nicht einmal die können Sie in der eigenen Koalition durchsetzen.
Der Standort Deutschland würde auch dadurch gestärkt, daß wir deutsche Unternehmen dabei unterstützen, auf ausländischen Märkten Fuß zu fassen. Dazu gehört z. B. die Einrichtung von Service- und Handelshäusern für mittelständische Unternehmen in Südostasien. Solche konkreten Maßnahmen bringen mehr als ein am grauen Tisch zusammenpuzzeltes Asienpapier.Mit den von uns vorgeschlagenen Handelsentwicklungsgesellschaften könnten wir nicht nur den osteuropäischen Markt langfristig erschließen, sondern auch kurzfristig Beschäftigung in den neuen Ländern sichern.Dabei muß klar sein — hierin sind wir uns einig —: Um nicht zu weiteren Dauersubventionen zu kommen, sollen Subventionen zukünftig generell von vornherein befristet und, wo möglich und sinnvoll, degressiv gestaltet werden. Wir sind uns darin einig, wir müssen es nur tun.Außerdem wollen wir verdeckte Subventionen abbauen, indem wir externe Kosten internalisieren. Das bedeutet insbesondere, daß sich die gesellschaftlichen Folgekosten umweltschädlichen Verhaltens in den Preisen und damit in den privaten Kostenrechnungen niederschlagen müssen.Mit einer ökologischen Steuerreform lösen wir einen gewaltigen Modernisierungsschub unserer Volkswirtschaft aus und setzen mit marktwirtschaftlichen Instrumenten einen enormen Innovationsprozeß in Gang. Wir sichern und schaffen Arbeitsplätze, Zukunftsmärkte und Lebensgrundlagen.
— Nein, das heißt — Herr Hinsken, wenn Sie unser Konzept lesen —, daß wir aufkommensneutral Energie und umweltschädliches Verhalten verteuern und Arbeit steuerlich entlasten.
Mit ihrer verhängnisvollen Politik des „weiter so" verspielt die Bundesregierung und die sie tragende Koalition unsere Zukunft.
Wir brauchen jetzt einen „new deal",
eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine neue Bundesregierung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es liegen noch zwei Wortmel-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16707
Vizepräsident Helmuth Beckerdungen vor. Wir werden noch etwa 20 Minuten debattieren.Anschließend unterbrechen wir die Sitzung, weil die CDU/CSU-Fraktion zu einer Sitzung zusammentritt, so daß der Einzelplan 11, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, erst um 13 Uhr aufgerufen wird, so die Sitzung dann fortgesetzt wird.
Nun hat das Wort unser Kollege Dr. Kurt Faltlhauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während wir hier debattierten, hat uns die Meldung bewegt, daß der sächsische Justizminister Steffen Heitmann seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten zurückgezogen hat.
Nun hat Herr Kollege Schulz, der vor mir gesprochen hat, dies mit einer gewissen Freude zur Kenntnis genommen. Herr Schulz, ich weiß nicht, wieso Sie als Kollege aus den neuen Bundesländern diesen Vorgang beifällig kommentieren können.
Ich glaube nicht, daß dieser Vorgang das Zusammenwachsen der alten und neuen Länder intensivieren wird. Ich denke, es ist ein trauriger Vorgang. Herr Heitmann ist sicher auch Opfer einer gnadenlosen Kampagne geworden.
Wir werden dies gerade aus dem Blickwinkel der neuen Bundesländer nicht unbedingt mit großem Beifall kommentieren können.
Herr Kollege Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schulz?
Bitte.
Bitte, Kollege Schulz.
Herr Faltlhauser, würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, daß Sie vielleicht in Ihrer emsigen Beratung, die dieser Vorfall in Ihrer Fraktion ausgelöst hat, mir nicht in dem Maße zugehört haben, um das verstanden haben zu können, nämlich daß ich mich nicht über die Eignung und über die Reputation von Herrn Heitmann geäußert habe — ich vertrete hier eine ähnliche Meinung wie Bärbel Bohley, die gesagt hat, daß da auch eine ziemliche Kampagne gelaufen ist —
und daß ich an der Eignung von Herrn Heftmann als Justizminister nicht zweifle, wohl aber an der Eignung als Bundespräsident? Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich mich darüber nicht geäußert habe, sondern daß ich beklagt habe, daß der Kanzler das, was er gestern noch verteidigt hat, heute offenbar nicht mehr zu halten imstande ist?
Herr Kollege Schulz, sollte ich Sie mißinterpretiert haben, tut mir das leid. Aber ich hätte dann doch erwartet, Herr Kollege Schulz, daß Sie sich in den vergangenen Wochen und Monaten in ähnlich deutlicher Weise wie Frau Bohley hinter Herrn Heitmann als Kandidaten aus den neuen Bundesländern gestellt hätten.
Meine Damen und Herren, in einer meiner Versammlungen in der vorletzten Woche ist in der Diskussion eine sehr engagierte ältere Dame aufgestanden und hat etwa folgendes gesagt: Jetzt haben wir eine derartig schlechte Konjunkturlage, eine steigende Zahl von Arbeitslosen, und ihr in Bonn da droben, ihr streitet euch zwischen Koalition und Opposition. Dann sagte sie auf bayerisch: Setzts euch z'samm! Machts was!
Ich kann nur sagen: Die Frau hat aus ihrer Sicht recht. Angesichts der schwierigen Probleme, die wir verantwortlich von Bonn aus mitbewältigen können, wäre es in hohem Maße angebracht, daß Gemeinsamkeit zwischen den demokratischen Kräften auf beiden Seiten dieses Hauses hergestellt würde.Aber wahr ist auch, daß das Gefühl der Bevölkerung nach der notwendigen Gemeinsamkeit nicht überdecken kann, daß es erhebliche Unterschiede — vor allem in der Therapie, bei den Rezepten — zwischen diesen beiden Seiten, zwischen Regierung und Opposition gibt.
Wir würden der Bevölkerung und unserer demokratischen Ordnung keinen Gefallen tun, würden wir diese Unterschiede verwischen.Aber eines ist unzweifelhaft: Angesichts der realen Mitverantwortung der Opposition über den Bundesrat sollten sich beide Seiten auch verstärkt bereits in diesem Hause darauf besinnen, wo Kompromißlinien möglich sind. Konsens brauchen wir nicht nur bei der Energiepolitik. Ich meine, Konsens brauchen wir auch für eine Strategie des Aufbruchs und der Arbeitsplätze.Ich habe aber in den Beiträgen, in den meisten wenigstens, die ich heute am Vormittag hier gehört habe, keinerlei Willen zu einem Konsens auf Ihrer Seite festgestellt, sondern nur irgendwelche Schuldzuweisungen und Polemiken.
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16708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Kurt FaltlhauserEinig sind wir wohl in der Feststellung, daß es gegenwärtig zwei Grundprobleme gibt: zum einen das Problem der zu geringen privaten und öffentlichen Investitionen, insbesondere auch im Westen dieses Landes, und zweitens das Problem der teilweisen Entkoppelung von Wachstum und Arbeitsmarkt. Lassen Sie mich zunächst zum Problem der Investitionsblockade etwas sagen.Ein entscheidender Punkt für die Chance, daß in unserem Land wieder verstärkt investiert wird und damit wieder verstärkt Arbeitsplätze aufgebaut werden, ist das Kostenniveau. Sind wir in dieser Frage auf einem Weg der Gemeinsamkeit in diesem Haus?
Herr Jens hat einige Ausführungen zu den Lohnkosten und zu den Lohnnebenkosten gemacht.Liebe Kollegen, auf Ihrem Parteitag in Wiesbaden haben Sie ein umfangreiches Papier zu Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Auf Seite 3 dieses Papiers heißt es:Die Qualität des Standortes Deutschland ist . . . nicht in erster Linie abhängig von den Lohnkosten und den Kosten der sozialen Sicherungssysteme, sondern vor allem von Forschung und Entwicklung, ... von der Qualifikation der Beschäftigten, ... von der Sicherung und dem Ausbau der Infrastrukturen . . .
Ich halte diese Feststellung, meine Damen und Herren von der Opposition, für eine Fehlanalyse.
Hier ist schon vom Grund her keine Gemeinsamkeit da. Natürlich sind Investitionen auch von der Qualifikation der Beschäftigten, von Forschung und Entwicklung, vom Management und von zukunftsorientierten Produkten abhängig. Das alles steht nachlesbar in dem — wie ich ausdrücklich noch einmal betonen will — ganz erstaunlich guten Bericht der Bundesregierung über den Standort Bundesrepublik Deutschland.
Er ist besser als alle Papiere, die von Instituten und Wissenschaftlern bisher vorgelegt wurden.In erster Linie sind es aber tatsächlich die Lohnkosten und die Lohnnebenkosten, die zur Investitionsflucht aus unserem Land geführt haben. Das haben wir in einer Aktuellen Stunde, die wir vor 14 Tagen in diesem Raum hatten, an einem Beispiel sehen können. Da ging es um die DASA-Werke in Lemwerder und Neuaubing. Das war eine Auseinandersetzung, bei der ich mit Freude die späte Liebe der SPD zu Franz Josef Strauß und seinen Errungenschaften um den Airbus feststellen konnte. Mir ist damals aufgefallen, daß die Fundamentalkritiker der Wehrtechnik bei dieser Debatte vorsichtshalber im Restaurantgeblieben sind, um an der Diskussion nicht teilnehmen zu müssen.
Aber genau der Fall Lemwerder ist u. a. ein Problem des Lohnniveaus. Im Ort Lemwerder gibt es genauso wie im Werk Neuaubing der DASA eine hohe Qualifikation der Beschäftigten.
Diese Qualifikation ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Wartung der zivilen Großflugzeuge in Deutschland in keiner Weise mehr wettbewerbsfähig ist, weil diese Wartung eben extrem lohnintensiv ist.
Herr Kollege Faltlhauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?
Selbstverständlich. Dann muß sie nicht ständig dazwischenrufen. Fragen Sie!
Herr Faltlhauser, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eines der wesentlichen Beschäftigungsprobleme der DASA etwas mit dem Ausfall öffentlicher Rüstungsnachfrage zu tun hat und nicht so sehr ein Problem der Wartungskosten ist?
Zweitens. Sind Sie, wenn Sie aus Parteitagsbeschlüssen der SPD in Wiesbaden zitieren, auch bereit, die Absätze zu Ende zu zitieren, in denen nämlich steht, entscheidend seien nicht so sehr die Lohnkosten, sondern entscheidend sei die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit die Fähigkeit, neue Produkte auf den Weltmärkten zu plazieren?
Frau Kollegin, zur zweiten Frage zuerst. Ich habe wörtlich zitiert. Da heißt es in Abwägung der vielen Komponenten, die auf die Investitionen einwirken, eben ausdrücklich, daß die Lohnnebenkosten und die Lohnkosten nicht entscheidend sind. Dann wird ein ganzer Rattenschwanz von anderen Komponenten angeführt, die ohne Zweifel — das habe ich nicht bestritten — auch bedeutsam sind. Aber der Vorrang der Kostenproblematik und hier der Lohnkosten- und der Lohnnebenkostenproblematik wird in diesem Papier ausdrücklich bestritten. Ausdrücklich sage ich hier noch einmal — und ich glaube, auch für meine Fraktion —, daß dies eine fundamentale Fehlanalyse ist, und hier müssen Sie sich einfach noch einmal bewegen.
Zum zweiten: Der erste Teil Ihrer Frage war, daß auch entsprechende Aufträge ausgeblieben sind. Ich werde in meiner Rede noch darauf eingehen. Dies ist richtig, aber gerade der Standort Lemwerder zeigt, daß auch das hohe Kostenniveau von spezialisiertesten Arbeitnehmern dazu beiträgt, daß diese Arbeit ins Ausland verlagert wird. Das heißt, daß unser Standortvorteil, den dieses Land immer gehabt hat,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16709
Dr. Kurt Faltlhausernämlich hohe Qualifikation und gute Berufsausbildung, nicht mehr ausreicht, um den Wettbewerb mit den übrigen Ländern zu bestehen, weil diese in ihrer Qualifikation nachgezogen haben, aber auf einem niedrigeren Lohnniveau verblieben sind.Sie müssen also mit der Relativierung des Problems des Lohnkostenniveaus aufhören. Sie können — und das ist auch ein Teil der Antwort an Sie, Frau Kollegin — die hohe Verantwortung der Tarifpartner für die Arbeitsplätze nicht wegdefinieren.Nun gibt es in manchen Köpfen das heimliche Patentrezept, daß man die mangelnde Kostendisziplin in unserem Lande durch eine wettbewerbsstärkende Abwertung der D-Mark wettmachen könnte. Das, meine lieben Kollegen, wäre Gift für unsere gegenwärtige Situation. Zum einen gibt es keine Abwertung zum Nulltarif. Die Abwertung würde die Inflationstendenzen in unserem Land stärken, vor allem aber würde eine derartige Manipulation der Währungssituation Fehlentwicklungen zudecken und unternehmerische Versäumnisse weiter kaschieren.
In den 80er Jahren ist das Preisniveau unserer EWS-Partner um fast 60 % gestiegen, wir unsererseits haben jedoch nur um 42 % aufgewertet. Diese Diskrepanz zwischen der Preissteigerung der Partner und unserer niedrigeren Aufwertung brachte uns eine heimliche Abwertung, die vielen Unternehmen, ja ganzen Branchen eine Export- und Wettbewerbsstärke suggerierte, die sie bereits verloren hatten. Die heutigen Strukturprobleme in unserer Wirtschaft sind auch von falschen Wechselkursrelationen mitverursacht. Sie haben Schlafwagenmentalität gefördert, und wir sollten deshalb diesen falschen Weg nicht weiter oder erneut beschreiten.
Wir sollten diesen Rezepten eindeutig ein Nein entgegensetzen.
Lassen Sie mich in aller Kürze noch eine Bemerkung zu dem Kostenbestandteil Steuern machen: Wir haben im Standortsicherungsgesetz die Körperschaftsteuer ab 1. Januar 1994 auf 45 % herabgesetzt. Ich erinnere daran, daß wir einmal 56 % hatten. Das ist noch nicht so lange her. 11 %-Punkte herunter — das ist ein deutliches Signal für die Förderung der Investitionen, für den Standort Bundesrepublik Deutschland. Das sagen auch die Experten in Ihren Reihen, nur leider nicht in diesem Raum, sondern draußen in der Lobby hinter vorgehaltener Hand.Nun sagen Sie in Ihrem Parteitagspapier, Seite 4:Wir wollen in Ost und West arbeitsplatzschaffende Investitionen fördern und Arbeitsplätze sichern. Um dies solide ... zu finanzieren, müssen auch steuerliche Privilegien für private Spitzeneinkommen und große Vermögen abgebaut werden.Das klingt so nach diesem Kindergartengerede von Herrn Kronawitter. Sind denn tatsächlich die großen Geldvermögen noch in unserem Land? Sie sind es leider überwiegend nicht mehr, heute bereits nicht mehr,
weil zu hohe Steuersätze und leider auch die uns vom Bundesverfassungsgericht aufgezwungene Zinsbesteuerung sie ins steuerfreie oder steuerniedrige Ausland vertrieben haben. Und diesen Fluchttrend verstärken Sie durch derartige leichtfertige programmatische Ankündigungen natürlich noch zusätzlich. Wir brauchen aber gerade in der gegenwärtigen Situation die Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts, und vor allem brauchen wir jene, die in der Lage sind, hier in diesem Land zu investieren.
Für diese Investitionen müssen wir die Steuern eben eher senken als sie anheben.Noch zwei weitere Bemerkungen zu den Investitionen, und das ist gewissermaßen auch eine Replik an Sie, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk: Ich meine, daß wir die Investitionen von seiten des Bundes stärken können, wenn wir die langfristige Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit öffentlicher Auftragsvergabe sichern. Wenn sogar Regierungsprogramme wie Tornado und Eurofighter unter den Unberechenbarkeiten des deutschen Außenwirtschaftsrechts leiden, brüskieren wir zum einen unsere Bündnispartner und zerstören zum anderen die Kooperationsfähigkeit der deutschen Industrie. Wir können nicht auf der einen Seite etwa von der DASA dringend verlangen, Arbeitsplätze zu erhalten, wenn wir auf der anderen Seite für komplexe Technologien nicht langfristige Perspektiven herbeiführen und wenn wir sogar durch unsere Exportbestimmungen die Hersteller von wehrtechnischen Gütern systematisch gegenüber anderen Konkurrenten benachteiligen. Das müssen wir schnell beenden.
Da besteht Handlungsbedarf.
Zweitens. Wir müssen auch beachten, daß durch Auftragsvergaben im Inland, hier bei uns, unsere Exportfähigkeit verbessert werden kann. Wenn wir z. B. die verbesserte Armierung für den Leopard 2 mit einer Größenordnung der Beschaffungsmittel in Höhe von ungefähr 324 Millionen DM nicht leisten würden, würde das den Export nach Schweden in Höhe von 1,2 Milliarden DM und den Export in die Niederlande in der Größenordnung von 600 Millionen DM unmöglich machen. Das entfiele dann. Dadurch würden Arbeitsplätze vernichtet.Wir werden den Transrapid nur dann ins Ausland verkaufen können, wenn wir in Deutschland eine Referenzstrecke nicht nur planen und begutachten und bereden, sondern realisieren.
Vor zehn Tagen konnten wir in der „FrankfurterAllgemeinen Zeitung" lesen, daß die Amerikanerihrerseits jetzt mit aller Kraft eine Magnetschwebe-
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16710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Kurt Faltlhauserbahn im eigenen Land bauen wollen, um — so ausdrücklich die Begründung — durch die eigene Referenzstrecke den technologischen Vorsprung der Deutschen und der Japaner wettmachen zu können.Ich meine, wir können es uns nicht leisten, auf einem Gebiet, auf dem wir einen großen technologischen Vorsprung haben, die Anwendung und die wirtschaftliche Umsetzung wiederum zu verschlaf en.Da meine Redezeit erkennbar gekürzt wurde, bleibt mir am Schluß nur noch Zeit für eine Anmerkung zur Entkoppelung des Arbeitsmarkts vom Wachstum. Wir müssen ohne Ideologie über die Arbeitsvermittlung nachdenken. Ich glaube, daß die bisherigen Vorschläge zur privaten Arbeitsvermittlung unzureichend sind. Ich stelle ausdrücklich in Frage, ob es ausreicht, daß allein die Umsetzung der Zumutbarkeitsverordnung verbessert werden soll. Ich bin der Meinung, daß zwingend die Formulierungen in der Zumutbarkeitsverordnung geändert werden müssen, und zwar schnell. Da sollten wir herangehen.Leider kann ich meine weiteren Anmerkungen nicht mehr vortragen. Eine Schlußbemerkung: Ich meine sehr ernsthaft, daß wir gerade im Bereich zwischen Wachstum einerseits und den alten, abgestandenen Möglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit andererseits eine neue Möglichkeit suchen sollten, den immer höher werdenden Sockel an Arbeitslosigkeit durch gezielte Maßnahmen abzubauen. Hier scheint mir am ehesten die Möglichkeit des Konsenses mit der SPD gegeben zu sein. Aber die SPD muß zunächst einmal von ihren Grundsatzpositionen ideologischer Art herunter.
Herr Kollege Faltlhauser, Sie haben jetzt Ihre ursprüngliche Redezeit eingehalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzter Redner in der Debatte zum Einzelplan 9 — Wirtschaft — ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die unselige Standortdebatte vernebelt mehr, als sie klärt. Ich wiederhole: Objektive Daten über Standortnachteile der deutschen Wirtschaft in Deutschland gibt es nicht oder kaum. Unter anderem der Ingenieurs-Digest, der der ostdeutschen Kammer der Technik nahesteht, hat mehrfach belegt, daß der Standort Deutschland nach wie vor innovationsgünstig ist. Das Problem ist eher die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. Sie hat mit ihrer Plan- und Konzeptionslosigkeit bei und nach der wirtschaftlichen und sozialen Wiedervereinigung erheblich zur Heftigkeit der derzeitigen Wirtschaftskrise und zur explosiven Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit beigetragen.Statt aber nun endlich angesichts von fast 4 Millionen registrierten Arbeitslosen und angesichts von 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen ein umfassendes Konzept aktiver Beschäftigungspolitik vorzulegen und diese mit einer systematischen technologischen und sozialen Innovationspolitik zu verknüpfen, drischt diese Bundesregierung auf die Löhne ein,setzt allein auf die Kräfte des freien Marktes, hofft auf neue Wachstumsschübe und spart bei den innovationswichtigen Etats für Forschung und Technologie sowie Bildung und Wissenschaft. Widersprüchlicher, konzeptionsloser geht es kaum mehr.Die Bundesregierung übersieht jedoch folgendes: In den meisten Wirtschaftszweigen — das sage ich ausdrücklich auch an die Adresse meines Vorredners —, insbesondere in den exportintensiven Industriezweigen, sind die Lohn- und Lohnnebenkosten inzwischen ein geradezu nachrangiger Faktor. Hauptproblem der Betriebe sind heute die kapital- und technologiebedingten Fixkosten, die kalkulatorischen Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse, Reparatur- und Instandhaltungskosten usw. für Maschinen und maschinelle Anlagen, für Betriebs- und Geschäftsausstattungen, für Bauten, Verkehrs- und Lagereinrichtungen usw. usf. Jeder Arbeitsplatz kostet heute im volkswirtschaftlichen Durchschnitt bereits fast 250 000 DM.Die Fixkosten sind deshalb gerade an modernen Arbeitsplätzen schon weitaus höher als die Personalkosten. Die hohen und weiter wachsenden Kosten für neue Arbeitsplätze, die ich damit angesprochen habe, belegen zugleich: Soviel Wirtschaftswachstum, wie notwendig wäre, um 3, 4, 5 oder gar 7 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, kann es gar nicht geben. Gäbe es dieses Wachstum aber, wäre die Umwelt wohl völlig im Eimer.Im übrigen gibt es so etwas wie den tendenziellen Fall der realen Wachstumsrate. Damit müssen Sie sich einmal vertraut machen. Nach 4,4 % in den sechziger Jahren und 2,7 % in den siebziger Jahren ist das jährliche durchschnittliche reale Wachstum in den achtziger Jahren auf 2,1 % gefallen. Es ist nicht zu erwarten, daß diese reale Wachstumsrate in der Zukunft merklich ansteigen wird.Die Konsequenzen muß man sehr deutlich sehen. Konsequenzen müssen sein: Ansetzen bei den Hauptkostenfaktoren, z. B. durch Förderung von Konzepten schlanker Produktion und Verwaltung; weitere Arbeitszeitverkürzung; systematische Förderung und systematischer Schutz des ja bestehenden zweiten Arbeitsmarktes sowie eine wirksame branchenorientierte und regional orientierte Industriepolitik. Die staatliche Wirtschaftspolitik wird hierbei nicht weniger, sondern mehr leisten als bisher.Insbesondere muß eine intelligente, sensible und transparente Industriepolitik her. Wirtschaft, Gewerkschaften, Staat, Verbraucher- und Umweltschutzverbände müssen konsensfähige Vorstellungen darüber entwickeln und aushandeln, welche Art von Produkten und welche Art von Verfahren für welche Art von Leben wir haben wollen.Die Ökonomie und auch die wirtschaftlich Mächtigen müssen sich damit vertraut machen, daß sie eine eher dienende als dominierende Funktion haben. Arbeitszeitverkürzungen, durch die Bereitschaft der Gewerkschaften inzwischen auch mit Einkommensverzichten möglich, sind und werden weiterhin das wichtigste Mittel zur Schaffung von mehr Arbeitsmöglichkeiten für arbeitslose Menschen sein.
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Dr. Ulrich BriefsÖkologisch und sozial sinnvolle Beschäftigungsbereiche, nur zum geringen Teil in kapitalintensiven High-Tech-Bereichen schaffbar, sind mit entsprechenden öffentlich organisierten Programmen zu entwickeln. Unter anderem hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, in der ich seit ihrer Gründung mitarbeite, hierzu seit langem eine ganze Reihe konkreter Vorschläge mit sehr präzisen Finanzierungskonzepten vorgelegt.Notwendig für die Abkehr von der konzeptionslosen Politik des Gewährenlassens — die Standortschelte, wie wir sie hier vom Bundesminister gehört haben, vor allem an den Beschäftigten und den Gewerkschaften, soll doch nur von den Versäumnissen dieser Bundesregierung ablenken — ist das Bewahren und nicht das Aufgeben von Gestaltungsmöglichkeiten. Derartige Gestaltungsmöglichkeiten will aber diese Koalition z. B. gerade bei den Postunternehmen aufgeben, die für die Infrastrukturentwicklung und auch für die Bedingungen an immer mehr Arbeitsplätzen im Anwendungsbereich moderner Informations- und Kommunikationstechniken eine große Bedeutung haben. Diese Politik ist auch unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage verfehlt und kontraproduktiv.Wie wichtig industriepolitische Ansätze sind, zeigt aber auch eine andere Betrachtung. Seit 1990 sind in Deutschland mehr als 900 Milliarden DM in Ausrüstungen investiert worden. Noch einmal soviel ist in Bauten investiert worden, zusammen also fast 2 Billionen, 2 000 Milliarden DM!Der Wiedervereinigungsboom hat uns die höchsten Wachstumsraten bei Ausrüstungen seit Anfang der siebziger Jahre beschert. Ein großer Teil des Produktionsapparates hätte also allein in diesen fast vier Jahren seit der Wirtschafts- und Währungsunion überholt, erneuert, durchrationalisiert und modernisiert werden können. Doch die Wirtschaft hat offensichtlich auf Mengenkonjunktur und nicht auf zukunftsträchtige, innovative Produkte und Verfahrensentwicklungen gesetzt. Der rasche, kurzfristige Profit ging ihr vor.Entstanden bzw. ausgebaut worden sind die Oberkapazitäten, die heute, nach dem Auslaufen des Wiedervereinigungsbooms, dazu führen, daß die Fixkosten, jene entscheidende Kostengröße, auf die Betriebe drücken. Das ist, wenn es ihn gibt, der wahre Kern der Kostenkrise. Diese verfahrene Situation mit ihren unsozialen Folgen insbesondere belegt wiederum: Die Politik des Gewährenlassens, des Nichtstuns, der Ablenkungsmanöver, der industriepolitischen Abstinenz dieser Bundesregierung, dieser Koalition muß nach den Wahlen 1994 ein Ende haben. Dafür muß, denke ich, jetzt alles getan werden.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 09 — Bundesministerium für Wirtschaft — in der
Ausschußfassung. Wer stimmt für diesen Einzelplan?
— Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der
Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Vermögens für das Jahr 1994, Drucksachen 12/5842 und 12/6114. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei vier Stimmenthaltungen ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Lesung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Stimmenthaltungen? — Gegenprobe! — Bei ebenfalls vier Stimmenthaltungen ist dieser Gesetzentwurf in dritter Lesung angenommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich unterbreche jetzt die Sitzung bis 13 Uhr. Wir setzen dann die Beratungen mit dem Einzelplan 11 — Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung — fort.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Ich darf die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen. Wir setzen die Haushaltsberatungen fort. Ich rufe auf:
Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 12/6011, 12/6030 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
Dr. Gero Pfennig
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Gibt es dazu einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Karl Diller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister! Nach Lage der Dinge beraten wir heute zum letztenmal einen Haushalt des Ministers Norbert Blüm.
Ihre Amtszeit geht zu Ende. In einem Jahr wird Ihr Bild neben denen Ihrer Vorgänger im Ministerium hängen.
Was wird, verehrter Kollege Strube, der Betrachter seines Fotos mit diesem Foto verbinden? Bei Minister Walter Arendt von der SPD — ich sagte das bereits
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16712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Karl Dillereinmal — ist das klar: Ausbau der Mitbestimmung, Betriebsverfassungsgesetz, Rentenreform 1972 — lauter positive Dinge; bei Minister Hans Katzer von der CDU übrigens auch: arbeitsrechtliche Lohnfortzahlung, Arbeitsförderungsgesetz.Norbert Blüm aber wird uns als Anti-Katzer, als Mann der traurigen Rekorde in Erinnerung bleiben. Statt Minister für Arbeit und Sozialordnung zu sein, wurde er zum Minister der Arbeitslosigkeit und der sozialen Unordnung.
Sein erster trauriger Rekord: Elf Jahre Minister Blüm sind elf Jahre, in denen die Zahl der Menschen in Armut in diesem Lande steil anstieg. Das neueste Statistische Jahrbuch belegt, daß wir Ende 1991, also nach neun Jahren seiner Amtsführung, 86 % mehr Menschen hatten, die zur Führung eines menschenwürdigen Lebens Hilfe zum Lebensunterhalt vom Sozialamt bekommen mußten.
Das war Ende 1991, bezogen auf den Westen damals. Jeder 23. Westbürger mußte Hilfe zum Leben vom Sozialamt beziehen.Heute sind das Hunderttausende mehr, Herr Minister. Ihre Politik, das, was Sie kürzlich mit dem „Konsonantengesetz", wie ich es bezeichne, dem 1. und dem 2. SKWPG, beschlossen haben, wird dafür sorgen, daß ab 1. Januar 1994 weitere 270 000 arbeitslose Menschen plus deren Familienangehörige, mithin etwa 500 000 bis eine Million Menschen, unter die finanzielle Grenze zur Führung eines menschenwürdigen Lebens abrutschen und ergänzende Hilfe vom Sozialamt brauchen.
Herr Kollege Diller, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geißler gestatten?
Bitte sehr.
Herr Kollege, da man, wenn man die Arbeitslosenzahlen vergleicht, fairerweise zunächst einmal die Arbeitslosenzahlen in Westdeutschland zugrunde legen muß: Wie würden Sie eigentlich die Ministerin Fuchs und den Minister Ehrenberg bezeichnen, unter deren Ägide im Vergleich zu heute 80 000 Arbeitslose mehr in Westdeutschland vorhanden waren? Was sind das nach Ihrer Meinung für Minister gewesen?
Sehr verehrter Herr Geißler, zunächst einmal muß ich feststellen: Ich habe überhaupt noch nicht über die Zahl der Arbeitslosen gesprochen; darauf will ich gleich zurückkommen. Ich habe über das gesprochen, was Sie irgendwann einmal als die neue Armut in Deutschland bezeichnet haben, über die Zahl derjenigen Bürger, die zum Sozialamt gehen müssen. Ich habe darauf hingewiesen, daß mit Ihrer Zustimmung, Herr Geißler — das nehme ich wenigstens an; vielleicht gehören auch Sie zu den 60, die eine abweichende Meinung geäußert haben —,
ab 1. Januar 1994 nach Angabe dieses Ministers 270 000 Arbeitslose mehr zum Sozialamt gehen müssen. Wenn Sie die Familienangehörigen dazurechnen, werden es 500 000 bis 1 Million Menschen sein, die Sie durch Ihre Politik zum Sozialamt schicken. Das ist ein trauriger Rekord dieses Ministers.
Norbert Blüm, der Anti-Katzer, habe ich gesagt. Was zu Zeiten der Großen Koalition aus der Erfahrung der Rezession 1966/1967 entstand, würdigte das Bundesverfassungsgericht einmal so — ich zitiere —:Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 ... ist im wesentlichen durch den Übergang zu einer Arbeitsmarktpolitik bestimmt, die Arbeitslosigkeit im Interesse des Arbeitnehmers wie auch der Volkswirtschaft nach Möglichkeit verhindern soll.Der Verfasser des Beitrages zur deutschen Sozialgeschichte in dem Buch „Es begann in Berlin" — Herausgeber ist übrigens kurioserweise Norbert Blüm — zitiert aus der Gesetzesbegründung:Die neue Aufgabenstellung wird dahin umschrieben, daß die Wandlungen in der Wirtschaft, technischer Fortschritt und Automation in erheblich stärkerem Maße als bisher wirkungsvolle Maßnahmen zur Verhütung der Arbeitslosigkeit erfordern: Der Arbeitnehmer müsse für den veränderten Ablauf des Arbeitslebens besser gesichert werden. Dies sei vor allem durch eine Stärkung seiner beruflichen Mobilität zu erreichen. Daher seien insbesondere Umschulung, berufliche Aufstiegs- und Leistungsförderung sowie Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitslosigkeit von besonderer Bedeutung.Das war die Begründung, das AFG einmal zu schaffen.Unter Blüms Verantwortung wurde das AFG rechtlich zertrümmert, wurden seine Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik zur beliebigen Verfügungsmasse der Haushaltspolitiker der Union und der F.D.P. degradiert. Denn sie beschlossen mit ihrer Mehrheit — ich zitiere —:Der Bundesminister für Arbeit wird aufgefordert, den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit für 1994 nur zu genehmigen, wenn alle nicht zwingend festgelegten Ausgaben, vor allem im Bereich ABM und FuU, so bemessen sind, daß der veranschlagte Zuschuß aus dem Bundeshaushalt von maximal 18 Milliarden DM ausreicht.Was heißt das im Klartext? Das heißt: Die Haushälter der Union und der F.D.P. verlangen, daß für jeden zusätzlichen Arbeitslosen im nächsten Jahr ein möglicher Neueintritt in Fortbildung und Umschulung, ein möglicher Neueintritt in ABM gestrichen wird.Zweiter trauriger Rekord: Es ist wahr; auch in früheren Rezessionszeiten wurden soziale Leistungen zurückgenommen. Das Ausmaß aber und das Tempo, in dem unter Blüm Sozialabbau betrieben wird, übertrifft bei weitem alles Vorangegangene.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16713
Karl DillerIch erinnere nur an die massiven Kürzungen durch die 10. AFG-Novelle und das geradezu Abräumen sozialer Leistungen vor wenigen Wochen durch das 1. und 2. SKWPG, das vom Zertrümmern des AFG bis zum Streichen des Schlechtwettergeldes und der bisherigen Sozialplanmöglichkeiten beispielsweise in der Stahlindustrie reicht.Elf Jahre Blüm sind deshalb aus der Sicht der Arbeitnehmer elf Jahre Sozialabbau, sind elf Jahre nicht eingelöster Versprechen. Er hatte einmal versprochen, binnen einem Jahr eine Million Arbeitslose weniger zu schaffen.
Elf Jahre Umverteilung zu Lasten der kleinen Leute, elf Jahre große Sprüche — wer hatte da von dem Jahrhundertwerk Gesundheitsreform geschwätzt und eine Bauchlandung erfahren? — und enttäuschte Hoffnungen.Gelegentlich versucht sich die Koalition mit dem Hinweis zu verteidigen, das Sozialbudget betrage doch 1 000 Milliarden DM; da sei eine Kürzung von 10 Milliarden DM oder mehr sozusagen eine vernachlässigbare Größenordnung.Meine Damen und Herren, dieser Vergleich ist schlicht unverschämt; denn das Sozialbudget umfaßt als größter Brocken mit 291 Milliarden DM die Kassen der Rentenversicherer, mit 210 Milliarden DM die Kassen der Krankenversicherer, mit 111 Milliarden DM die Arbeitsförderung und wird mithin zu weit mehr als der Hälfte aus Beiträgen der Menschen finanziert. Es ist damit Eigentum der Versicherten. Wenn die Koalition dies als Bezugsgröße für ihre Kürzungen nimmt, setzt sie sich leichtfertig zumindest dem Verdacht aus, daß sie auch an die Renten gehen will.
Dritter trauriger Rekord: Dank Blüm werden die Arbeitnehmer ab nächstem Jahr Beiträge an die Rentenversicherungen in Rekordhöhe zahlen müssen. Ich habe vor einem Jahr an diesem Pult hier warnend auf die drohende Entwicklung hingewiesen. Sie ist selbstverständlich nicht natürlich entstanden, nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch von der Regierung herbeigeführt worden. Die relativ gute Kassenlage der Rentenversicherer hatte nämlich die Bundesregierung zum Anlaß genommen, die Rentenkassen zugunsten der Arbeitslosenversicherung anzuzapfen.
Die Operation kostete die Rentenversicherer 22 Milliarden DM. Dieses Geld fehlt jetzt und macht den Riesensprung beim Beitragssatz notwendig. Wenn die Bundesregierung über die Höhe der Lohnnebenkosten jammert, sollte sie ihren Teil der Schuld daran nicht vergessen!
Vierter trauriger Rekord: Blüm verlangt von den Arbeitenden den höchsten Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung und gewährt ihnen im Fall des Falles dafür die schlechtesten Leistungen seit vielen Jahrzehnten. Wer diese politisch verursachten Lohnnebenkosten auf die Höhe früherer Beitragssätze absenken will, Herr Blüm, muß unseren Vorschlag umsetzen. Die Aufbauleistung im Osten muß allen in der Gesellschaft und nicht nur im wesentlichen den Beitragszahlern angelastet werden.Fünfter trauriger Rekord: Der vorliegende Entwurf des Haushaltes der Bundesanstalt geht noch von den alten Eckwerten aus: 2,6 Millionen Arbeitslose im Westen, 1,1 Millionen im Osten. Noch nie hatten wir, Herr Geißler, solche Zahlen. Die Sachverständigen rechnen sogar mit 4 Millionen. Die 300 000 zusätzlich werden Mehrausgaben von 8 bis 9 Milliarden DM verursachen, und damit wird der Zuschußbedarf an die Bundesanstalt nicht bei 11, auch nicht bei den jetzt etatisierten 18, sondern bei einer Größenordnung wie in diesem Jahr liegen, nämlich bei 25 Milliarden DM.Die Koalition hat zwei Sicherungen eingebaut, die sie vor der Bundestagswahl vor der Blamage bewahren sollen, einen Nachtrag vorlegen zu müssen.Da ist zum einen die erwähnte Auflage, sozusagen für jeden zusätzlichen Arbeitslosen eine ABM-Stelle, eine Fortbildungs- und Umschulungsstelle zu streichen. Zum anderen gibt es eine versteckte Kreditaufnahmemöglichkeit von bis zu 8 Milliarden DM. Sie ist ausgewiesen als Betriebsmittelkredit für kurzfristige — kurzfristige! — Liquiditätsengpässe, also geschaffen, um beispielsweise eine monatliche Ausgabenspitze aufzufangen.Dafür reichen nach bisherigen Erfahrungen 2 bis 3 Milliarden DM. Wer wie die Koalition sogar von vorgesehenen 5 auf 8 Milliarden DM erhöht, hätte ehrlicherweise diese 3 Milliarden DM gleich beim Zuschuß drauflegen müssen, denn er signalisiert nichts anderes, als daß die vorgesehenen 18 Milliarden DM nicht ausreichen werden.
Sechster trauriger Rekord: Nach der Rekordzahl von 685 000 Langzeitarbeitslosen im September 1988 konnte durch aktive Fördermaßnahmen und die bessere Konjunktur ihre Zahl im Westen deutlich vermindert werden. Seit 1991 steigt sie wieder. Eingerechnet die Langzeitarbeitslosen im Osten dürften es im September 1992 erschreckende 784 000 gewesen sein.Höchste Zeit also, durch aktives Gegensteuern den Trend zu brechen; denn Langzeitarbeitslosigkeit, Herr Minister, hat häufig zerrüttete Ehen, Überschuldung der Familien und das Abgleiten in Suchtkrankheiten zur Folge — menschliches Leid einerseits, hohe gesellschaftliche Folgekosten andererseits. Jede Mark, im Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit investiert, wird also anderswo mindestens eingespart.Ihre bisher bereitgestellten Bundesmittel wären im übrigen wesentlich erfolgreicher gewesen, hätten Sie die Maßnahmenträger nicht durch das kuriose Auf und Ab der Mitteleinsätze in den einzelnen Jahren und durch die befristete Laufzeit der Programme allzusehr abgeschreckt und verärgert.Nun muß ich an dieser Stelle die Mitberichterstatter, namentlich den Kollegen Strube, den Kollegen Dr. Pfennig und die Frau Albowitz, loben. Sie stimmten nämlich meinem Antrag, die Lohnkostenzu-
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16714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Karl Dillerschüsse an Arbeitgeber zur Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen wieder auf die Höhe dieses Jahres aufzustocken, zu und waren bereit, das Programm um ein Jahr zu verlängern.
Ich hätte Ihnen gerne ein Dankeschön ausgesprochen,
aber ich muß das Lob sofort relativieren, denn ob die Mittel bereitstehen, muß ich leider mit einem großen Fragezeichen versehen.
Ich hoffe, wir ziehen alle an einem Strang, daß es so kommen wird. Dieser Titel aber ist ein Titel der Hauptgruppe 6. Nach Abschluß aller Beratungen zog die Koalition ein Papier aus der Tasche, mit dem sie sich selbst als Gestalter des Haushaltes aufgab. Es beinhaltet die globale Minderausgabe. 5 Milliarden DM soll der Finanzminister im Haushalt streichen. Dazu werden 10 % der Mittel in den Obergruppen 51 bis 55 und der Hauptgruppe 6 gesperrt.Warum eigentlich 5 Milliarden DM? Der Betrag ist nicht rational erklärbar, sondern eine politisch motivierte optische Zahl, um bei der geplanten Nettoneuverschuldung unter die 70-Milliarden-DM-Grenze zu kommen.
Eine globale Minderausgabe in dieser Dimension in allerletzter Beratungsminute auszusprechen und ihre Durchführung dem Bundesfinanzminister zu überlassen, offenbart die Uneinigkeit und die Feigheit der Koalition, die Streichungen klar auszuweisen und sich anschließend der Kritik der Betroffenen zu stellen.
Die vielen Beratungswochen von August bis in den November hinein sind völlig sinnlos, überläßt man am Schluß dem Bundesfinanzminister die Gestaltung des Haushalts, meine Damen und Herren.
Ich habe Minister Waigel im Ausschuß gefragt, wo er die anteiligen Milliarden im BMA-Haushalt streichen will. Seine Antwort war, daß er es sich noch bis Dezember überlege.Nun will ich Ihnen einmal die Möglichkeiten aufzeigen: Die Obergruppen 51 bis 54 umfassen die Ausgaben für Geschäftsbedarf, Telefon, Porto, Mieten und Pachten, elektronische Datenverarbeitung, Öffentlichkeitsarbeit.
— Sehr richtig, Kollege.Außer bei dem Propagandatitel — unser Antrag, 13 Millionen DM zu streichen, wurde leider zuvor abgelehnt — ist in diesen Bereichen kaum etwas zu holen.
Herr Kollege, es bestand der Wunsch des Kollegen Weng nach einer Zwischenfrage.
Ja, bitte sehr.
Es ist leider schon einen Moment her, Herr Kollege Diller. Geben Sie mir recht, daß wir mit der Beratung über diese globale Minderausgabe und in der Konsequenz mit der Beschlußfassung erst begonnen haben, als sich auf Grund der kurzfristig bekannt gewordenen Ergebnisse der Steuerschätzung und der zusätzlichen Notwendigkeiten wegen der Arbeitslosigkeit für die Bundesanstalt für Arbeit aus dem Bundeshaushalt eine neue Situation ergeben hat, und erinnern Sie sich, daß Sie selber — nicht Sie persönlich, aber Ihre Gruppe — gesagt haben, im Grundsatz seien Sie zu einer Kürzung in dieser Größenordnung bereit, womit Sie diese Zahl akzeptiert haben? Sie wollten nur keine globale Kürzung, was aber in der Konsequenz bedeutet hätte, mit den Beratungen zeitlich praktisch neu anfangen zu müssen und das geordnete Haushaltsverfahren in Frage zu stellen.
Herr Kollege Dr. Weng, zunächst einmal darf ich Sie bitten, sich von den Berichterstattern, Kollege Strube, Frau Albowitz aus Ihrer Fraktion, dem Kollegen Dr. Pfennig, darüber informieren zu lassen — ich dachte, die Kollegen hätten Ihnen das weitergegeben —, daß wir uns schon beim Berichterstattergespräch im Ministerium, also zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Haushaltsplanberatung, alle einig waren, einschließlich der Bundesanstalt und der Ministerien—politische Spitze! —, daß als Zuschuß an die Bundesanstalt die vorgesehenen 11 Milliarden DM im Bundeshaushalt bei weitem nicht ausreichen. Schon damals wurde als dringend notwendiger Zusatzbetrag die Zahl von 6 bis 7 Milliarden DM genannt. Die Berichterstatter waren sich schon zu dem damaligen Zeitpunkt einig, dieses Geld zur Verfügung zu stellen. Ich kann nur mit Erstaunen registrieren, daß sich das in Ihrer Gruppe nicht herumgesprochen hat.Zum zweiten Teil Ihrer Frage.
Wir haben Ihnen in der Tat angeboten — nachdem Sie am Vormittag eine Krisensitzung hatten und dann am Nachmittag den Vorschlag der globalen Minderausgabe machten —, daß wir über alle Kürzungsmöglichkeiten reden und das Ziel ansteuern, Posten in einer solchen Größenordnung herauszustreichen. Ich habe Ihnen sofort vorgeschlagen, wo man in einer Größenordnung von 250 Millionen DM streichen könnte. Man könnte dies erreichen, indem man die Mittel für Propaganda dieser Regierung halbiert. Das haben Sie direkt abgelehnt.
Und da wundern Sie sich noch? Sie haben das Angebot, mit uns zu reden, abgelehnt. Deswegen wird derVorwurf völlig zu Recht erhoben, daß Sie die Gestaltung des Haushalts — der dem Parlament zugewiesen
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Karl Dillerwar, der in der Obhut des Parlamentes war — aufgegeben haben. Sie haben die Gestaltung Herrn Echternach und dem Finanzminister übereignet.
Das nenne ich Feigheit der Koalition.Meine sehr verehrten Damen und Herren, um eine globale Minderausgabe in dieser Dimension zu erwirtschaften, bleibt im Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung eigentlich nur noch die Hauptgruppe 6. Ich will Ihnen sagen, was sie umfaßt: Sie umfaßt Zuwendungen für den Behindertensport, unsere Beiträge für internationale Organisationen, die Anpassungshilfe für Kohle und Stahl, die Betreuungsmaßnahmen für ausländische Arbeitnehmer, jeweils in Milliardenhöhe die Zuwendungen für die Kriegsopferversorgung, die Soldatenversorgung, die Kriegsopferfürsorgeleistungen, die Arbeitslosenhilfe, den Zuschuß an die Bundesanstalt, die Zuschüsse an die Rentenversicherungen der Arbeiter, die Rentenversicherungen der Angestellten, der Knappschaft, der Behinderten sowie jeweils Hunderte von Millionen DM für das Vorruhestandsgeld, das Altersübergangsgeld, die eben erwähnten Langzeitarbeitslosenprogramme und die Spätaussiedler.Will die Koalition angesichts dieser Liste wirklich gesetzliche Leistungen sperren und kürzen? Will die Koalition aus bestehenden Verträgen aussteigen? Bleibt ihr am Schluß nur der Ausweg — den sie sich mit der Formulierung geschaffen hat —, sonstige Titel des Haushalts heranzuziehen, als da wären die für Personal und Investitionen? Letzteres würde einen relativ noch stärkeren Verstoß gegen Art. 115 des Grundgesetzes darstellen, der die Kreditaufnahme höchstens in Höhe der Investitionen erlaubt, als dies ohnehin schon der Fall ist.Was die Koalition mit ihrem Fünf-Milliarden-Ding bewirkt, ist Ungewißheit — nicht nur in den Ministerien, sondern bei Behinderten und Arbeitslosen, bei Spätaussiedlern und Rentnern, Forschern und Mitarbeitern nachgeordneter Einrichtungen. In dieser Rezession, Herr Kollege Weng, den politischen Gestaltungswillen aufzugeben, die wochenlange Verunsicherung von Millionen Menschen in Kauf zu nehmen, zeigt, daß die Koalition politisch am Ende ist.
Am Ende ist auch die Bundesanstalt für Arbeit, und zwar in bezug auf die Belastbarkeit ihres Personals. Wenn Hunderttausende Leistungsfälle mehr zu bearbeiten sind, wenn die Politik zu Recht eine entschiedene Mißbrauchsbekämpfung verlangt, dann darf die Koalition den Wunsch der Bundesanstalt auf Verschiebung von Stellenstreichungen nicht hämisch mit dem Hinweis kommentieren, die Bundesanstalt könne den Personalbedarf durch Umsetzungen aus den Abteilungen für ABM und FuU decken; denn da sei ja ohnehin nichts mehr los.
Am Ende sind auch Caritas und Arbeiterwohlfahrt mit ihren Möglichkeiten, sich der ausländischen Arbeitnehmer anzunehmen und sie zu integrieren. Die Ausländerfeindlichkeit zu beklagen ist das eine. Wenn aber die Koalition nicht einmal bereit ist, die Betreuungsmittel, die wir in diesem Jahr haben, real auch im nächsten Jahr zur Verfügung zu stellen, entlarvt sie sich selber als Sonntagsredner.Am Ende ist schließlich auch Norbert Blüm. Nachdem der Wirtschaftsminister in seinem Ressort mit politischen Vorschlägen wilderte, versucht er es seinerseits mit Vorschlägen für das Wirtschaftsressort. Dafür beschimpfte ihn zu Recht das „Handelsblatt" mit den Worten:Wie wäre es, wenn jeder Minister einmal im eigenen Feld mit dem Pflügen beginnt, statt die Regierung zunehmend zum Papiertiger zu degradieren?In der Tat: Die Regierung ist am Ende. Es ist Zeit für den politischen Wechsel.
Als nächster hat der Kollege Hans-Gerd Strube das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sozialpolitik ist immer auf dem Weg.
Sie ist niemals fertig. Unser Sozialstaat auferlegt uns einen dauerhaften Gestaltungsauftrag.
— Bei euch war das ein bißchen anders. Ihr wart 1982 tatsächlich fertig. Ich bin der Meinung, Sozialpolitik ist niemals fertig. Aber ihr wart damals schon ziemlich weit.
Der Sozialstaat ist einem permanenten Änderungsprozeß unterworfen. Immer wieder gilt es, auf neue Fragen und neue gesellschaftliche Herausforderungen neue Antworten und Lösungen zu finden. Immer wieder gilt es auch, überkommene Besitzstände zu hinterfragen. Stets auf neue müssen die öffentlichen Sozialausgaben auf den Prüfstand der Erforderlichkeit gestellt und öffentliche Leistungen gerade in konjunkturell angespannten Zeiten auf das vertretbare Maß konzentriert werden. Prioritäten zu setzen erfordert Mut. Denn es kann Erwartungen enttäuschen, Widerspruch provozieren. Manche Mittel müssen eingespart werden, weil sie inzwischen an anderer Stelle viel dringender gebraucht werden.Auch wenn der geballte Einsatz von Lobbyisten und Interessenverbänden dem entgegenzustehen scheint, darf der Sozialstaat seine Prioritäten nicht nach der Lautstärke der Forderungen setzen.
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Hans-Gerd StrubeAuch wer kein Sprachrohr einzusetzen hat, muß sich der Solidarität des Sozialstaats gewiß sein können.
Eine Sozialpolitik des Immer-Mehr ist ideenlos, meine Damen und Herren.
Ein ständiges Draufsatteln, ohne dabei an Korrekturen von Fehlentwicklungen zu denken, würde unweigerlich die Tragfähigkeit unseres sozialen Netzes überspannen.
Es ist eine Binsenweisheit, und doch scheint sie mancher zu verdrängen: Nur ein leistungsfähiger Staat kann die Mittel erwirtschaften, die er für seine vielfältigen sozialen Ausgaben einsetzen will.
Der Sozialstaat kann nicht mehr verteilen, als zur Verfügung steht.Wenn wir in diesem Hause in zahlreichen Fragen auch unterschiedlicher Ansicht sind, appelliere ich dennoch an einen sozialstaatlichen Grundkonsens. Der effektive und effiziente Sozialstaat muß stets zur Korrektur und zum Verzicht bereit und fähig sein, um den Herausforderungen insgesamt gewachsen zu sein. Diese Verantwortung vor dem Ganzen, welche alles andere als kaltschnäuziger Sozialabbau ist, haben wir auch in den vergangenen Jahren praktiziert. Das Wort vom Umbau des Sozialstaates ist nicht neu, Gott sei Dank. Denn vor welch riesigen Problemen, vor welchen Konsequenzen stünden wir heute, wenn nicht auch der Sozialbereich wesentliche Beiträge zur Konsolidierung geleistet hätte?Wie war es 1982? Explodierende Haushalte, die Vernichtung von einer Million Arbeitsplätzen seit Beginn des Jahrzehnts, riesige Defizite in der Sozialversicherung. Der Sozialstaat, meine Damen und Herren, war damals im Begriff, sich zu überfordern, seine Wurzeln zu kappen, seine Quellen zu verschütten. Heute gilt es wieder, den Blick zu schärfen für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Wieder gilt es, Verkrustungen aufzubrechen und umzuschichten. Unsere Pflicht ist, durch Um- statt Abbau die wirtschaftliche Belebung zu fördern, durch Konsolidierung Wachstumsgrundlagen zu legen.
Wir haben erfolgreich umstrukturiert. Mit Mut zum Unpopulären wurde gespart und gleichzeitig gestaltet. Millionen neuer Arbeitsplätze waren die Folge. Ich erinnere an die Haushaltsbegleitgesetze 1983/84, wo wir unter anderem durch die stufenweise Einführung der Krankenversicherungsbeteiligung der Rentner dauerhafte Entlastungen in den Rentenkassen geschaffen haben. Die jährliche Einsparung lag allein 1992 bei insgesamt 21 Milliarden DM.
Nach einer außerordentlichen zehnjährigen Wachstumsphase stellt uns jetzt eine Rezession mit all ihrenKonsequenzen für Arbeitsmarkt und Beschäftigung, für Lohnentwicklung und die Situation der sozialen Sicherungssysteme vor neue Herausforderungen. Wir müssen unseren Wirtschaftsstandort stabilisieren. Wir müssen die Preisentwicklung dämpfen und Kaufkraftverluste vermeiden. Meine Damen und Herren, es ist doch die Inflation, unter welcher gerade die sogenannten kleinen Leute am meisten zu leiden haben. Ohne Sparen keine Schuldenvermeidung. Mehr Schulden hieße aber mehr Arbeitsplatzverluste. Arbeitsplätze wiederum sind es, die unser soziales System finanzieren und erhalten. Unsere Zielrichtung heißt daher, die Finanzierbarkeit zukunftsgerichteter Arbeitsplätze zu sichern.
Mit dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm haben wir den richtigen Weg eingeschlagen.
Ohne unsere Sparmaßnahmen schnellte das Haushaltsdefizit in den beiden nächsten Jahren auf über 90 Milliarden DM hoch. Dies wäre nicht nur wirtschafts- und finanzpolitisch unverantwortbar, es wäre auch verfassungsrechtlich unzulässig. 90 Milliarden DM — dies entspräche einem Viertel der Steuereinnahmen überhaupt.Die Abgabequote ist mit 44 % ausgereizt. Die Mehrbelastung der Bürger mit Steuern und Sozialabgaben liegt bis 1995 bei jährlich 116 Milliarden DM. Mit dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm haben wir bei einem Entlastungsvolumen von 21 Milliarden DM, welches in den Folgejahren auf 28 Milliarden DM jährlich ansteigt, ein sozial ausgewogenes und in sich schlüssiges Konzept auf den Weg gebracht.Eine Modellrechnung der Bundesregierung dokumentiert, wie ausgewogen die Belastungen der Sparprogramme verteilt sind. Die finanziellen Lasten der deutschen Einheit für das Jahr 1995 liegen bei 81,3 Milliarden DM. Hierin sind die meisten Maßnahmen des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms ebenso wie des Föderalen Konsolidierungsprogramms einbezogen. Die Bezieher höherer Einkommen sind danach durchweg stärker belastet als kleinere und mittlere Einkommen.Trotz aller Sparmaßnahmen bleibt der Haushalt für Arbeit und Sozialordnung mit Abstand der größte Einzeletat. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf von 121,8 Milliarden DM steigt der Einzelplan 11 nunmehr auf ein Volumen von 130,4 Milliarden DM. Das ist ein Zuwachs von 10,5 Milliarden DM bzw. 8,8 % gegenüber dem BMA-Haushalt von 1993. Der Anteil am Gesamthaushalt liegt bei 27,1 %.Doch auch in anderen Einzelplänen sind wichtige Sozialausgaben enthalten. Das hohe Niveau der sozialen Sicherung wird auch in den Gesamtsozialausgaben sichtbar. Sie steigen auf 176,9 Milliarden DM an. In 12 Jahren hat sich der Einzelplan 11 damit mehr als verdoppelt, von 59,1 Milliarden DM in 1982
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16717
Hans-Gerd Strubeauf die eben genannten 130,4 Milliarden DM. Dies ist ein Zuwachs um 120,6 %.
Dies dokumentiert den herausgehobenen Stellenwert, welchen die soziale Sicherung in der Politik der Bundesregierung einnimmt.
Jede dritte Mark wird für Sozialleistungen ausgegeben.Mit insgesamt 39,6 Milliarden DM weist der Einzelplan 11 für die Arbeitsmarktpolitik des kommenden Jahres 900 Millionen DM mehr auf als in 1993. Der Bundeszuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit steigt gegenüber den ursprünglichen Berechnungen um 7 Milliarden DM auf insgesamt 18 Milliarden DM an.
Die Bundesregierung kommt damit bei wirtschaftlich schwieriger Zeit und einer angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt ihrer gesetzlichen Einstandspflicht nach.
Den stärksten Ausgabenblock im Einzelplan 11 bilden die Bundeszuschüsse zu den Renten. Sie steigen in der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten von 49,9 Milliarden DM auf 58,8 Milliarden DM an,
in der Knappschaft steigen sie von 13,5 Milliarden DM auf 13,6 Milliarden DM.Insgesamt belaufen sich die Bundesausgaben für die Rentenversicherung somit auf 75,2 Milliarden DM. Der Zuwachs um 9,3 Milliarden DM gegenüber 1993 ist eine Folge unseres dynamischen Rentensystems. Die Bundeszuschüsse gewährleisten, daß die demographischen Belastungsveränderungen bei der Rentenversicherung ausgewogen auf Beitragszahler, Rentner und Bund verteilt werden. Jede Mark Bundeszuschuß dokumentiert die Sicherheit der Renten, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger rückhaltlos verlassen können, trotz mancher Kritik und Unkerei, die immer wieder einmal aus wenig berufenem Mund zu vernehmen ist.
Bei der Rente zählt Verläßlichkeit, meine Damen und Herren. Die Koalition steht zu ihrem Wort: Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird an der Rente nicht gekürzt,
die Rentner nehmen weiter am Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung teil.
Das erreichte Nettorentenniveau bleibt stabil. Dies istdie Frucht von Rentenreform und Rentenüberleitungsgesetz, wie wir es ja in großem und übergreifendem Konsens für die ganze Bundesrepublik Deutschland beschlossen haben.
Bei allen Einsparungen im Sozialbereich —ich sage es noch einmal: Die Rente war, ist und bleibt tabu.Abschließend möchte ich mich bei den Beamten des Bundesarbeitsministeriums, besonders aber bei Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister Dr. Blüm, herzlich für die gute, konstruktive Zusammenarbeit bedanken.
Meine Damen und Herren, da dies meine letzte Etatrede zum Einzelplan 11 war, möchte ich Gelegenheit nehmen, mich auch bei meiner Kollegin und meinen Kollegen Berichterstattern zu bedanken. Ich habe diesen Einzelplan fast zehn Jahre als Haushälter begleitet. Herzlichen Dank, liebe Ina Albowitz, lieber Gero Pfennig und lieber Karl Diller. Ich glaube, wir waren ein ganz gutes Team, und wenn wir in aller Bescheidenheit von uns vielleicht sagen können, daß wir etwas mitgeholfen haben, den Sozialstaat weiterzuführen, dann ist das schon eine ganze Menge.Ich verabschiede mich und rufe Ihnen zu:
— „Macht weiter so" ist zuwenig.
Ich wollte eigentlich biblisch sagen, Rudi: Vieles hätte ich euch noch zu sagen, aber das versteht ihr heute noch nicht.
Als nächster hat der Kollege Dr. Werner Hoyer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz, den der Kollege Strube wahrscheinlich wohl noch gerne gesagt hätte, wäre der, daß es mit dem „Weiter so, Deutschland" nicht mehr getan ist, sondern daß wir auch in dem Bereich, um den es heute geht, in den Aufbruch gehen müssen.
Lassen Sie mich mit einem Wort zur Pflege beginnen. Um es klipp und klar zu sagen: Wir wollen die Pflegeversicherung, weil unsere Gesellschaft ein verdammt drängendes Pflegeproblem hat.
— Wir kommen nachher darauf zurück, ob Sie sie eigentlich auch wollen und in welcher Form.Aber weil wir mehr Arbeitsplätze und nicht weniger haben wollen, wollen wir verhindern, daß die Pflegeversicherung Arbeit noch teurer macht und weitere
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16718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Werner HoyerArbeitsplätze zerstört. Nichts anderes verbirgt sich ja hinter dem scheußlichen Wort „Kompensation".
Weil wir wollen, daß die Pflegeversicherung nicht geradezu Anreize dazu schafft, alte Menschen früher in Heime zu geben als erforderlich, wollen wir den Vorrang der häuslichen Pflege.
Und weil wir nicht wollen, daß die Pflegeversicherung noch mehr Umverteilung produziert, über den in jedem Versicherungsgedanken steckenden Risikoausgleich hinaus, wollen wir, daß die Pflegeversicherung auch bei der Beitragsbemessungsgrenze der Krankenversicherung folgt und nicht der Rentenversicherung. Das ist keine technische Frage, sondern eine sehr substantielle und ordnungspolitische Frage.
Denn bei der Kranken- und der Pflegeversicherung sind eben die Beiträge einkommensabhängig und die Leistungen einkommensunabhängig; bei der Rentenversicherung sind die Beiträge einkommensabhängig und die Leistungen eben wiederum beitragsabhängig.
Wer nicht auf kaltem Wege die Einheitsversicherung will und wer besonders den Mittelstand nicht zusätzlich bluten lassen will, darf das nicht durcheinanderwerfen.
Ich bin ganz sicher, daß die Koalitionspartner auch insofern zu ihrem Kompromiß vom Juni 1992 stehen, der uns damals nicht ganz leichtgefallen ist — um das sehr deutlich zu sagen —, aber in dem wir doch einiges durchgesetzt haben, was nun umgesetzt werden muß.
Die sozialdemokratischen Kollegen müssen sich fragen, wann sie eigentlich endlich den Weg frei machen für eine verantwortbare Pflegeversicherung und — nebenbei bemerkt — auch für eine erhebliche Entlastung der Kommunen, die unter der gegenwärtigen Lage im besonderen leiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze schaffen und sichern bleibt für die F.D.P. die wichtigste soziale Aufgabe. Umverteilung ist eben nicht das Problem Nr. 1 bei beschleunigtem Strukturwandel und tiefer Rezession. Wenn weit über 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in Deutschland fehlen, dann heißt soziale Verantwortung in allererster Linie Arbeitsplätze schaffen.
Wir jedenfalls können uns nicht mit einem noch so intelligenten System der Verwaltung von Arbeitslosigkeit bzw. der Umverteilung von Arbeit zufriedengeben. Das ist keine Lösung, sondern eine Resignation vor dem Problem.
Es fehlt ja auch beim wirtschaftspolitischen Beschluß der SPD von Wiesbaden nicht die Einsicht, daß mehr als genug Arbeit in Deutschland zu leisten ist: für mehr soziale Sicherheit, für mehr Umweltvorsorge, für einen besseren Lebensstandort Deutschland. Ich kann insofern Herrn Scharping nur zustimmen. Dieser Lebensstandort Deutschland muß eben ein starker, ein innovativer Wirtschaftsstandort Deutschland sein.In den wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, die wir schaffen und sichern müssen, liegt auch der wichtigste Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, der wichtigste Beitrag für verläßliche soziale Sicherung, der wichtigste Beitrag für eine Entlastung der Bürger von Steuern und Abgaben.Herr Minister Blüm, ich wünschte Ihnen, daß es gelingen wird, uns in den nächsten Jahren in die Lage zu versetzen, daß Sie mit einem geringeren Haushalt auskommen können. Einen so großen Haushalt, wie Sie ihn gegenwärtig zu verantworten haben, verantwortet man ja nicht nur aus reiner Freude, angesichts der Probleme, die sich hinter solchen Haushaltszahlen verbergen.
Schnelle Erfolge im Jahre 1994, Frau Kollegin Weyel, wird niemand erwarten, der realistisch ist, weil keiner Patentrezepte hat. Ich denke, wer ehrlich ist, wird auch nicht vollmundig schnelle Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit versprechen.
Aber ernsthaftes Bemühen um konsequentes und beharrliches Wegräumen der Hindernisse, die den Weg zur Schaffung neuer Arbeitsplätze versperren, — das Versprechen geben wir Liberalen aus Überzeugung und mit Entschlossenheit ab.
Wir stecken natürlich in der tiefsten Rezession der Nachkriegszeit, nicht nur in Deutschland. Diese Rezession trifft uns voll in der schwierigen Umstellung auf einen gewaltig verschärften internationalen Wettbewerb und einen beschleunigten technologischen Wandel, nachdem über sieben fette Jahre für die Umstellung auf neue Strukturen nicht hinreichend genutzt worden sind. Hier, denke ich, sollte sich jeder in seinem Verantwortungsbereich an die eigene Nase fassen: Politik, Unternehmen und Gewerkschaften.Wer in den fetten Jahren des Wachstums nicht die Zeit für die Umstellung auf eine neue Welt im Wandel nutzt, der darf sich nicht darüber wundern, daß er damit auch die Rezession mit vorbereitet. Dann fällt die Umstellung noch viel schwerer; dann müssen noch viel mehr soziale Härten abgefedert werden.Abfederung ist natürlich erforderlich, auch durch ABM. Frau Albowitz wird zur Bundesanstalt ausführ-
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Dr. Werner Hoyerlich sprechen. Ich belasse es bei einer Bemerkung: Der zweite Arbeitsmarkt darf eben nicht den ersten zerstören, denn sonst verschärfen wir das Problem, anstatt es zu lindern.
Wir brauchen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit einfach mehr Anreize, reguläre Erwerbsarbeit aufzunehmen. Das bedeutet nicht nur, daß man das Lohnabstandsgebot strikt einhalten muß. Das bedeutet auch, daß wir unseren Dschungel unterschiedlichster Besteuerungen und einer Vielzahl steuerfinanzierter Sozialleistungen mit rund 40 Stellen für etwa 90 unterschiedliche Leistungen lichten müssen.Dieses Neben- und Gegeneinander wirkt heute schon deswegen sozial ungerecht, weil es vor allem für die sozial Schwächsten erfahrungsgemäß besonders undurchdringlich ist und darüber hinaus Mißbrauch Tür und Tor öffnet.
In diesem System erscheint geradezu derjenige als dumm, der reguläre Erwerbsarbeit aufnimmt und damit zugleich Beiträge zur sozialen Sicherung leistet, statt sie nur in Anspruch zu nehmen. Ich weiß, daß das nur für einen sehr kleinen Teil der betroffenen Bevölkerung zutreffen mag, weil viele andere gerne Leistungen erbringen würden und es auf Grund der Situation am Arbeitsmarkt nicht können. Aber auch diesen Teil des Problems am Arbeitsmarkt müssen wir ins Auge fassen.Die Liberalen haben ein Konzept zur Vereinfachung des deutschen Steuer- und Transfersystems vorgelegt. In einer „Steuer- und Transferordnung aus einem Guß" sollen Einkommensbesteuerung und steuerfinanzierte Sozialleistungen schrittweise zusammengeführt werden. Ich freue mich, daß wir jetzt auch mehr und mehr von der Union Unterstützung für solche Ideen bekommen.In diesem sogenannten Bürgergeld-System lohnt sich mehr Erwerbsarbeit, weil u. a. Erwerbseinkommen nur bis zu 50 % angerechnet werden sollen. Jeder, der Erwerbsarbeit aufnimmt, steht sich dann besser, als wenn er heute auf Sozialhilfe allein angewiesen ist.Heute hingegen ist doch, wenn wir ehrlich sind, der Grenzsteuersatz bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit prohibitiv hoch. Das wollen wir ändern. Erwerbsarbeit muß sich auch bei den unteren Einkommensgruppen wieder stärker lohnen. Ordnungspolitisch überlegen ist es immer, das Übel an der Wurzel zu packen, statt mit geringer Aussicht auf Erfolg dem Mißbrauch mit staatlichen Kontrolleuren hinterherzuhetzen.
Der Sachverständigenrat mahnt zu Recht entschlossenes Handeln und die Stärkung der Antriebskräfte durch Abbau von Regulierungen und Starrheiten an, die heute wettbewerbsfähige Arbeitsplätze verhindern oder über Gebühr belasten.Die individuellen betrieblichen Anforderungen und die individuellen Wünsche der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung werden dann bestimmen, woim einzelnen kürzere oder gegebenenfalls längere Arbeitszeiten der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen dienen. Dies ist z. B. in vielen Bereichen der Forschung zu beobachten und auch weiter verstärkt zu erwarten. In vielen Bereichen der Datenverarbeitung international operierender deutscher Unternehmen ist es heute schon beobachtbar.Nach meiner Auffassung sollte es auch sehr viel mehr im Handel gelten. Herr Minister Blüm, sagen Sie endlich ja zur Liberalisierung des Ladenschlusses! Bekommen Sie doch nicht gleich Angst vor der eigenen Courage, wenn mit der vielbeschworenen Deregulierung endlich Ernst gemacht wird!
Aber auch im öffentlichen Dienst gilt es, flexibler zu sein. Hier werden bei Arbeitszeitverkürzungen und leeren Kassen angesichts natürlich nicht möglicher Stellenausweitungen, z. B. in den Bauämtern, Arbeitsplätze und Wohnungen durch verzögerte Genehmigungen verhindert, wenn wir uns nicht endlich der Hilfe privater Ingenieurbüros, also privater Initiative insgesamt bedienen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen viel mehr Beweglichkeit und Bereitschaft zum Aufbruch in unserem Lande. Unbeweglichkeit täuscht Menschen, ist unsozial und gefährdet ganze Regionen. Jeder muß sich die Frage gefallen lassen, wie ernst er es damit meint, wenn er Standortstärke, gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze in Zukunftsindustrien predigt, aber die Umstellung auf neue Produkte, auf neue Technologien verweigert.
Arbeitsplätze schaffen oder durch Unbeweglichkeit die Zukunft des Lebensstandorts Deutschland verschlafen? Abrutschen auf Nr. 17 der Hitliste der Industrienationen in zehn Jahren? Wollen wir uns, wollen Sie sich damit zufriedengeben?
Als nächstes spricht die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sieben Menschen sind in den letzten Tagen erfroren — von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Es waren Obdachlose, die nicht nur Opfer des verfrühten Wintereinbruchs in Deutschland geworden sind. Nein, schlimmer noch, sie sind auch Opfer der sozialen Kälte in diesem Land und einer Politik, die Armut und soziale Not als nicht existent erklärt.Ich finde, es ist eine Schande, was wir uns in diesem reichen Land leisten. Die Selbstzufriedenheit, mit der wieder einmal darauf verwiesen wird, daß für soziale Leistungen der größte Brocken im Haushalt vorgesehen ist, macht mich wirklich betroffen.Jede und jeder hier weiß doch, daß fast 90 % des Etats für Arbeit und Sozialordnung für gesetzlich geregelte Pflichtleistungen aufgewandt werden muß
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Petra Blassund die Spielräume, auf brisante Entwicklungen zu reagieren bzw. die Ursachen sozialer Miseren zu bekämpfen, gleich Null sind. Auch wenn der Einzelplan 11 mit seinen 121 Milliarden DM so verabschiedet wird, wie er ist, wird in diesem Land weiter gefroren, gebettelt und am Rande der Armutsschwelle gelebt;
denn gerade aus sozialpolitischer Sicht ist der vorliegende Haushaltsentwurf für 1994 nicht losgelöst zu betrachten von den Gesetzen, mit denen im Vorfeld der Haushaltsberatungen die Weichen für die Entwicklung des Sozialstaats Bundesrepublik gestellt wurden. Mit dem Föderalen Konsolidierungsprogramm vom Juli 1993 und dem 1. und 2. SKPWG im Oktober 1993 wurden Beschlüsse gefaßt, deren soziale Auswirkungen verheerend sein werden: Noch größere soziale Unsicherheit, finanzielle Sorgen und Zukunftsangst werden befördert. Statt gegen die Massenarbeitslosigkeit richten sich diese Spargesetze zuallerst gegen Arbeitslose.Aber gerade die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist eine der entscheidenden Ursachen dafür, daß das System der sozialen Sicherung aus den Fugen und zugleich die Haushaltsdebatte hier zur Farce gerät; denn es ist doch jetzt schon klar, daß wir wieder einen enormen Nachtragshaushalt haben werden, weil einfach die Plandaten unseriös sind.Wir haben es gegenwärtig mit der Problemkombination zu tun, daß die Aufgaben in der Arbeitsmarktpolitik und die dafür notwendigen Finanzen anwachsen, während gleichzeitig die Beitragseinnahmen bei den Sozialversicherungen rückläufig sind. In einer Situation mit mehr als 6 Millionen Menschen ohne ein reguläres Beschäftigungsverhältnis sinken die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zwangsläufig gravierend.Andererseits sind gerade in solchen Zeiten mehr Aufwendungen für Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, aber vor allem auch für Beschäftigungsmaßnahmen der Bundesanstalt notwendig. Allein von Juni 1992 bis Mai 1993 ist der Bedarf an Arbeitslosengeld um 1 Milliarde DM auf 3,3 Milliarden DM pro Monat angestiegen. Insgesamt lag die Höhe von Lohnersatzleistungen im Juli 1993 bei etwa 9 Milliarden DM ohne Kosten für Arbeitslosenhilfe.Allein für Unterhalts- und Kurzarbeitergeld gab die Bundesanstalt davon im selben Monat etwa 1,6 Milliarden DM aus. Folglich ist der Zuschußbedarf an die Bundesanstalt in den letzten Jahren stetig angestiegen. Reichten 1991 noch 2,4 Milliarden DM, mußten mit dem Nachtragshaushalt 1993 schon 18 Milliarden DM aufgebracht werden.Diese Tendenz wird sich 1994 verstärkt fortsetzen, weil die Arbeitslosenzahlen eher noch steigen werden, aber auch weil die Entscheidungen der Bundesregierung kontraproduktiv wirken. Zwar sollen die in den Spargesetzen vorgesehenen massiven Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen den Bundeshaushalt konsolidieren, vor allem aber den Etat der Bundesanstalt um 9,4 Milliarden DM entlasten. Dennochrechnet die Bundesanstalt selbst erneut mit einem Defizit von knapp 22 Milliarden DM für 1994.Nach Aussagen ihres Präsidenten Jagoda sind dabei noch nicht Prognosen zukünftiger Entwicklungen einbezogen, etwa die angekündigten Massenentlassungen in den industriellen Kernbereichen Automobilindustrie, Stahl, Maschinenbau und Kohle.Deshalb ist es ja wenigstens halbwegs ehrlich, daß im Haushaltsausschuß der Zuschußbedarf an die Bundesanstalt für 1994 von ursprünglich 11 Milliarden DM auf 18 Milliarden DM festgelegt wurde.
Die darüber hinaus vorgesehenen 8 Milliarden DM als kurzfristige Liquiditätshilfe können bei realistischer Betrachtung wohl heute schon getrost als verlorener Zuschuß verbucht werden.Ich teile den Bericht des Haushaltsausschusses insoweit, als dort festgestellt wird, daß der Haushalt der Bundesanstalt mit großen Schätzrisiken verbunden ist und jede Veränderung der Arbeitslosenzahlen Einbrüche im Finanzgerüst nach sich zieht. Nicht zustimmen kann ich allerdings der dort getroffenen Einschätzung, daß die eingestellten Ansätze die bisher absehbaren Risiken berücksichtigen. Wenn schon zwischen erster und dritter Lesung des Haushalts, also in zwei Monaten, ein Mehrbedarf bei der Bundesanstalt von 7 Milliarden DM festgestellt werden muß, dann frage ich: Mit welchen Unbekannten müssen wir wohl noch rechnen?Ein weiteres Problem sind die bereitgestellten Mittel für die Arbeitslosenhilfe. Zwar liegt der Ansatz mit 12,9 Milliarden DM noch über dem von 1993, obwohl Sie die Höhe gesenkt und die Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzt haben. Allein das läßt tiefe Einblicke in die Entwicklung von Langzeitarbeitslosigkeit zu. Aber Sie bekämpfen Langzeitarbeitslosigkeit nicht dadurch, daß Sie die Betroffenen nach zwei Jahren in die Sozialhilfe aussteuern. Wirkungsvolle Beschäftigungsprogramme gegen Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit müßten entwickelt werden. Doch nehmen sich die dafür eingestellten Mittel mehr als bescheiden aus: ganze 0,4 % des Sozialetats.Hinzu kommt, daß mit den veränderten Bedingungen für den Arbeitslosenhilfebezug die Finanznot der öffentlichen Hand nicht im Ansatz beseitigt, sondern lediglich ein fundamentaler Finanzschwindel in Gang gesetzt wird, indem sich die Bundesregierung auf Kosten der Kommunen sanieren will. Die drastischen Kürzungen beim Arbeitslosengeld und anderen Transferleistungen sowie die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre werden den Sozialhilfebedarf sprunghaft erhöhen und die Kommunen bis an die Grenze des Verkraftbaren belasten.Bei der prognostizierten Steigerung der Arbeitslosenzahlen werden zudem die Versicherungseinnahmen weiter sinken und auch dort höheren Zuschußbedarf notwendig machen. So entsteht eine soziale Abwärtsschraube, der nur gegenzusteuern ist durch die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit. Dafür — so der Haushaltsausschuß — gebe es keine Patentrezepte. Er begrüßte allerdings die „in jüngster Zeit
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Petra Blässunternommenen Anstrengungen, auch unkonventionelle Wege zur Lösung der Krise, wie z. B. die Viertagewoche, zu gehen".Gleichzeitig kritisiert der Haushaltsausschuß einvernehmlich die Tarifvertragsparteien, die die gesetzlichen Möglichkeiten bisher nicht konsequent genutzt hätten. Das empfinde ich schon als ein starkes Stück: Wer kämpft eigentlich in diesem Land seit Jahren für die Arbeitszeitverkürzung und die 35-StundenWoche, während Sie als Bundesregierung noch bis gestern die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, Urlaubskürzung, Verlängerung der Lebensarbeitszeit und dergleichen kontraproduktive Forderungen erhoben haben?Ich bin sehr für unkonventionelle Lösungswege, und dafür halte ich die Viertagewoche für einen Schritt in die richtige Richtung. Ich kann mir aber auch Modelle vorstellen, wie Qualifizierungs- und erweitere Freistellungszeiten für Erziehung, wie Sabbatjahr oder die Ausweitung freiwilliger tarif- und arbeitsrechtlich abgesicherter Teilzeitarbeit. Hier scheine ich nicht allzuweit von Herrn Blüm zu liegen, der auch über eine höhere Attraktivität für Teilzeitarbeitende nachdenkt und sie immerhin im Falle von Arbeitslosigkeit durch ein nach der Volizeitarbeit berechnetes Arbeitslosengeld sichern will. Ich wäre froh, es würde ernsthaft an solchen Konzepten weitergearbeitet.
Über die finanziellen Belastungen, insbesondere für die unteren Lohngruppen, muß dabei allerdings sehr viel differenzierter nachgedacht werden, als es gegenwärtig die Repräsentanten der Arbeitgeberverbände tun. Ihnen fällt eben nichts anderes ein, als die abhängig Beschäftigten einseitig und allein zu belasten. Da können sie leider noch immer auf die mehrheitliche Zustimmung in diesem Hause rechnen.Meine Damen und Herren, an dieser unsozialen Politik, die Armut vorantreibt und die Verteilungsungerechtigkeit weiter verschärft, wollen wir uns nicht beteiligen. Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den Einzelplan 11 ab.
Als nächster hat
nun der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf den Zwischenruf eben habe ich gewartet. Ich würde Ihnen vorschlagen, daß ich Ihnen ein paar intelligente Zwischenrufe aufschreibe, die Sie dann abwechselnd vortragen können, damit Sie nicht immer denselben gebrauchen müssen.
Bundesregierung und Koalitionsfraktionen werden nicht müde, das Budget für den Einzelplan Arbeit und Soziales als den mit Abstand wichtigsten Posten im Bundeshaushalt anzupreisen. Ich habe meine Zweifel,ob diese Behauptung angesichts der tatsächlichen Bundesschuld der Wahrheit entspricht. Auf jeden Fall feiert der Arbeitsminister das Volumen für den Haushalt seines Hauses mit der ihm eigenen sympathischen Übertreibungskunst als einen politischen Erfolg.Diesen Erfolg kann ich beim besten Willen nicht erkennen; denn 1993 sind in Deutschland über 3,5 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos registriert. Seit dem Jahre 1982, in dem die Blüm/KohlRegierung antrat, sind die offiziellen Arbeitslosenzahlen für Westdeutschland um rund 25 % gestiegen. Diese Fakten sind nun wirklich nicht mit dem beliebten Hinweis auf 40 Jahre Mißwirtschaft in der DDR zu begründen. Nein, sie sind ausschließlich die Folge aus zwölf Jahren Mißwirtschaft in dieser christdemokratisch-liberalen Koalition.Diese Bundesregierung ist geradezu zum Synonym geworden für den andauernden Abbau sozialer Schutzrechte und sozialer Standards, für Deregulierung einerseits, aber leider zu oft am falschen Platz, und für eine rigide Bürokratisierung und Strangulierung der Wirtschaft andererseits, vor allem aber für die unsolidarische Umverteilung der gesellschaftlichen Lasten von den wirtschaftlich Starken zu den Schwachen.Viel ist nicht geblieben von der geistig-moralischen Wende, mit der die Regierungsparteien seinerzeit Wahlkampf gemacht haben. Das habe ich auch im Osten mitbekommen. Ihre Politik ist, bei Licht besehen, ein geistig-moralischer Flop. Anstatt die Arbeitslosigkeit energisch und nachhaltig zu bekämpfen, werden die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger rücksichtslos um ihre Existenzsicherung gebracht, und oft scheint die Bundesregierung taub und blind zu sein für die sozialen Folgelasten ihrer Maßnahmen. Ihre fiskalpolitische Kurzatmigkeit ist chronisch und wird irgendwann einmal zum Erstickungstod führen. Durch die Kürzungen im sozialen Bereich werden verantwortungslos Hypotheken auf die Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens aufgenommen. Die Zeche werden unsere Kinder und Kindeskinder zu zahlen haben. Ob das Leiden überhaupt noch zu heilen ist, ist ungewiß.Besonders fatal sind die mehrfachen und gravierenden Kürzungen bei den sozialen Regelleistungen für Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger sowie für Asylbewerber und Flüchtlinge. Ausgerechnet die Schwächsten im Land plündert die Bundesregierung aus, die Schwächsten, für die jede fehlende Mark spürbar ist und immer einen Verlust an Lebensqualität bedeutet.Ungeachtet dieser folgenschweren Einschnitte weist der Etat der Bundesanstalt für Arbeit für das laufende Jahr 1993 noch eine Finanzlücke von annähernd 30 Milliarden DM auf. Das ist kein Wunder. Die Pfennige der Armen werden auch in Zukunft nicht ausreichen, um die Haushaltslöcher zu stopfen. Ohne die Bereitschaft und notfalls auch den Zwang für die Besserverdienenden, etwas von ihrem Überfluß abzugeben, werden sich die Finanzprobleme nicht lösen lassen, die durch die Wohlstandsmentalität in der Altbundesrepublik und natürlich auch — das bestrei-
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Konrad Weiß
tet ja niemand — durch die deutsche Einheit entstanden sind.Wir müssen unsere Gesellschaft nicht nur ökologisch, sondern vor allem auch ökonomisch umbauen und endlich solche Rahmenbedingungen schaffen, durch die die Sozialpflicht des Eigentums unabweisbar wird.Sie werden sich erinnern, meine Damen und Herren, daß im Vorjahr der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit ein massives Veto gegen den Etatentwurf des Arbeitsministers eingelegt hatte. Noch im Dezember 1992 protestierten die Expertinnen und Experten aus Nürnberg nachdrücklich, weil die Zahlen, die dem Entwurf der Bundesregierung zugrunde lagen, trotz der geplanten 10. AFG-Novelle absolut geschönt und unrealistisch waren. Unbeeindruckt von diesen Warnungen, setzte der Bundesarbeitsminister schließlich seine Auffassung von Wirklichkeit durch. Die inzwischen vorliegenden Ergebnisse können niemanden überraschen. Sie bestätigen die damaligen Warnungen aus Nürnberg.Jetzt wird über den neuen Haushalt der Bundesanstalt gestritten. Wiederum ist die Bundesregierung offensichtlich gewillt, den Herausforderungen an eine aktive Arbeitsmarktpolitik auszuweichen. Wieder wird der noch immer steigende Bedarf an Maßnahmen zur Arbeitsförderung pauschal heruntergeredet, wieder sind milliardenschwere Haushaltslöcher vorprogrammiert.Wenn die Bundesregierung ihren bisherigen Reflexen treu bleibt, wird sie auch darauf zutiefst überrascht und wie vom Mond gefallen reagieren. Sie verfügt über unsere sozialen Sicherungssysteme selbstherrlich wie über einen privaten Notgroschen. Aber das kann doch nicht sein. Die Sozialversicherungen sind kein Verfügungsfonds für unvorhergesehene Ausgaben des Finanzministers. Diese verantwortungslose Politik der Bundesregierung gefährdet die Zukunft der Sozialversicherung jedenfalls mehr als die zu erwartende ungünstige demographische Entwicklung.Schon seit Jahren zweigt die Bundesregierung aus den Sozialkassen klammheimlich Milliardenbeträge zur Finanzierung der deutschen Einheit ab. Besonders verwerflich ist die Plünderung der Arbeitslosenversicherung. Nach vorsichtigen Schätzungen macht das bereits atemberaubende 58 Milliarden DM aus. Die Belastungen, die den Beitragszahlern auf diesem kalten Wege auferlegt wurden, machen mindestens zwei Prozentpunkte vom heutigen Sozialversicherungsbeitrag aus — ein Manko, das auf die Selbstbedienungsmentalität der Bundesregierung zurückzuführen ist.Dies ist vor dem Hintergrund der Standortdebatte, die fast völlig auf die Arbeitskosten verengt ist, eine überaus peinliche Erkenntnis. Wie wollen Sie das, meine Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, einem mittelständischen Unternehmer oder einem Handwerksmeister plausibel machen?Noch ziehen Sie sich halbwegs aus der Affäre, indem Sie Ihren Lieblingspopanz „Sozialschmarotzer" in immer neuem Gewande präsentieren. Leiderist die gefährliche Botschaft im Lande vernommen worden, wie entsprechende Umfragen belegen. Viele Leute ärgern sich mittlerweile über den behaupteten gewaltigen Mißbrauch von sozialen Regelleistungen, den Sie ihnen eingeredet haben, und fordern ein energisches Durchgreifen des Staates. Die Bundesregierung antwortet mit immer neuen repressiven Vorschlägen, bis hin zur Pflichtarbeit. In der DDR — ich darf Sie daran erinnern — war es strafwürdig, nicht zur Arbeit zu gehen. Wollen Sie sich daran wirklich ein Beispiel nehmen?Das Muster, nach dem Sie vorgehen, kommt mir fatal bekannt vor. Die künstliche Empörung über einen angeblich massenhaften Mißbrauch des Asylrechts war der Auftakt zur Abschaffung dieses Grundrechts. Soll den sozialen Grundrechten dasselbe Schicksal beschieden sein?Nein, Repressalien gegen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sind keine Antwort auf die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Probleme in Deutschland, die uns umtreiben.Der Standort Deutschland wird nicht dadurch attraktiver, daß demnächst vielleicht Akademiker für einige Monate zwangsweise bei Arbeits- und Ernteeinsätzen helfen müssen.
Auch die verschärfte Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger sichert Arbeitsplätze nicht, sondern gefährdet vielmehr vorhandene, z. B. solche von Arbeitern im öffentlichen Dienst.Ich habe — um auf Ihren Zwischenruf einzugehen — in der DDR natürlich solche Ernteeinsätze mitmachen müssen. Aber das hat die DDR auch nicht gerettet. Die Ernteeinsätze von Akademikern hier in der Bundesrepublik bringen keinen Pfennig in den Haushalt. Das kann doch nicht die Lösung sein.Die wirklichen Potentiale für die Sicherung und Förderung der Beschäftigung sollen dagegen auch künftig brachliegen. Die Bundesregierung verneint kategorisch die beträchtlichen Chancen, die in einer vernünftigen Politik der Arbeitszeitverkürzung liegen. Statt auf eine gerechte Verteilung der Arbeit setzt sie auf Arbeitsverdichtung und längere Arbeitszeiten.Für die zukunftweisenden Perspektiven eines intelligenten ökonomischen und ökologischen Umbaus und die außerordentlichen Chancen, die darin für den Standort Deutschland liegen könnten, ist die Bundesregierung erst recht blind und taub.Erlauben Sie mir bitte noch eine persönliche Bemerkung. Ich bin auch der Auffassung, daß durch eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.
Natürlich muß man das mit einem Überstundenverbot verbinden. Ich bin zu Gesprächen darüber bereit.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16723
Nun spricht der Kollege Dr. Heiner Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will eine Vorbemerkung machen wegen gestern. Der SPD-Parteivorsitzende hat den Eindruck erweckt, als würde die Christlich-Demokratische Union mit besonderer Freude die Einsparungen und die notwendigen Maßnahmen begleiten. Ich will Ihnen folgendes sagen: Bei aller Notwendigkeit des Sparens hat in der Christlich-Demokratischen Union niemand solche Worte über die Lippen gebracht, wie sie die Sozialdemokraten beispielsweise in den Jahren 1981 und 1982 im Hinblick auf notwendige Einsparungen gebraucht haben: tief ins Fleisch schneiden, bei den Arbeitnehmern abkassieren. Das möchte ich einmal sagen.
Das gehört alles noch zur Vorbemerkung. Ich möchte nach dem, was Sie alles in bezug auf Sozialabbau auch an die Adresse von Norbert Blüm gesagt haben — ich weiß es noch, ich war damals Generalsekretär —, gern einmal wissen, wie Sie eigentlich die Tatsache beurteilen, daß Sie in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung im gesamten Sozialbereich — Arbeitsförderung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Ausbildungsförderung, Familie — 94 Milliarden DM gestrichen und gleichzeitig die Beiträge um 37 Milliarden DM erhöht haben?
Lassen Sie bitte diese Spielereien bleiben! Sie haben damals Ihre Gründe gehabt; aber Sie haben es gemacht, und zwar ohne die Notwendigkeiten, die durch die deutsche Einheit auf uns zugekommen sind, sondern deswegen, weil Sie die falschen Programme aufgelegt hatten.
Auch das Kindergeld haben wir nicht gestrichen, wie Sie es damals getan haben.
— Oder gekürzt. Ich will das der Vollständigkeit halber nennen.Dann möchte ich noch einer Legende vorbeugen. Jeden von uns muß das Ansteigen der Zahl der Sozialhilfeempfänger bedrücken. Gestern wurde die Behauptung aufgestellt, wir hätten eine Million Obdachlose. Ich kann es fast nicht glauben; ich glaube es nicht. Das muß zu hoch gegriffen sein. Doch gleichgültig: Das sind Zahlen, die niemanden erfreuen können. Wir sollten miteinander über das Richtige debattieren. Laßt uns einmal darüber reden — Herr Echternach ist da —, ob nicht das eine oder andere schneller gehen könnte.Ständig wird die Behauptung aufgestellt — ich weiß es aus meinem Wahlkreis —, daß freistehende Wohnungen von Franzosen und Amerikanern einfach nicht an die Gemeinden verkauft werden. Vielleicht sollte die Frage, zu welchem Preis das geschieht, sowohl von der Bundesregierung, von der Bundesvermögensverwaltung wie auch von den Gemeindenmehr im Interesse der Wohnungsuchenden entschieden werden.
Ich bin wegen des Begriffs „neue Armut" angesprochen worden. Es ist richtig, ich habe im Jahre 1975 diesen Begriff in die Debatte eingeführt. Die Problematik hat sich nicht wesentlich verändert.
Aber wenn wir ehrlich miteinander sind, geht es heute nicht um die Höhe der Sozialhilfe. Ich brauche nicht Frau Fuchs und andere zu zitieren, die sich damals gegen meine Argumente gewehrt haben.
Es geht weniger um die Höhe der Sozialhilfe; denn auch bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sind die Realeinkommen — Frau Fuchs, das wissen Sie ganz genau — gestiegen. Auch der Sozialhilfempfänger kann mit dem Geld, das er bekommt — die Kürzungen schon mit eingerechnet —, heute mehr anfangen als vor zehn Jahren. Die Realeinkommen sind auch unter Abzug der Preissteigerung, einschließlich der Miete, für diese Menschen gestiegen. Das ist nicht das Problem.Das Problem besteht bis auf den heutigen Tag darin — und diese Problematik hat sich nicht verschoben —, daß viele gar nicht zu ihrem Recht kommen, ihre Rechte nicht in Anspruch nehmen. Es ist das, was man verschämte Altersarmut nennt, daß Menschen sich genieren. Da will ich Ihnen recht geben. Es hat uns auch in der Arbeitsgruppe der Fraktion beschäftigt, daß wir jetzt möglicherweise die folgende Situation haben: Bei Arbeitern, Arbeitnehmern, Familienvätern werden, wenn ihnen gekündigt worden ist, nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe, sobald sie bei der Sozialhilfe landen, ihre Ersparnisse oder die Einkommen der Kinder in Regreß genommen.Das ist ein echtes Problem. Wir sollten einmal darüber reden, inwieweit man die Regreßfragen bei der Sozialhilfe neu ordnen muß. Das ist meine persönliche Meinung, und es ist nicht mit der Fraktion abgesprochen. Aber das müssen wir in dem Zusammenhang miteinander bereden.
Ich will, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch noch etwas anderes klarstellen. Ich finde, diese Polemik, das, was Sie da zu Norbert Blüm gesagt haben, führt doch zu überhaupt nichts. Sie können doch nicht hergehen und die Bundesrepublik Deutschland als soziale Wüste darstellen. Wir haben nach wie vor, die Kürzungen mit einbezogen, das mit Abstand beste Sozialsystem aller Industrieländer der Welt.
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Dr. Heiner GeißlerWenn wir etwas anderes sagen, dann machen wir den Leuten unnötig Angst, und Sie wissen ganz genau, welche Auswirkungen es hat, wenn man die Menschen verängstigt. Ich brauche das im einzelnen nicht weiter aufzuzählen.Fast 50 % der Mittel der Bundesanstalt für Arbeit werden für die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben, und diese Mittel haben dafür gesorgt, nicht wahr, daß 1,4 Millionen heute eben nicht als Arbeitslose auf dem Arbeitsmarkt sind, sondern durch die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen von Norbert Blüm eben Arbeit haben.Die Bezugszeitdauer — das wissen Sie doch — für das Arbeitslosengeld haben wir nicht verkürzt, sondern sie ist auf 24 Monate,
auf 32 Monate verlängert worden. Ich will nicht schildern, wie das damals bei Ihnen war, weil das zu gar nichts führt.Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Freistellung der Eltern bei Krankheit eines Kindes unter zwölf Jahren bis zu 20 Tagen — bei Ihnen war es acht Jahre und fünf Tage —, Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht, das Betreuungsgesetz, Verbesserung der Frauenrenten, Einstieg in die Pflegeversicherung — Sie sollten einmal dafür sorgen, daß wir die Pflegeversicherung verabschieden und daß Sie sie nicht behindern —,
Höherbewertung der ersten Pflichtversicherungsjahre für Frauen, eigenständige soziale Sicherung der Bäuerinnen, Rentenüberleitungsgesetz und vieles andere mehr — das ist das, was der Arbeitsminister in schwierigen Zeiten, in Zeiten des Umbruchs und der Aufgaben der deutschen Einheit bewältigen mußte.
Sie wissen doch selber: Ihr stellvertretender Vorsitzender Oskar Lafontaine, über den man ja viel sagen kann, hat sich mit den Erleuchtungen, die er ja nun wirklich gehabt hat, was die Wirtschaftspolitik anbelangt, ja nur schwer durchsetzen können. Ich darf es wortwörtlich wiederholen. Er hat es dreimal gesagt auf dem Parteitag, dreimal, daß nur massive Eingriffe in konsumtive Ausgaben — ich wiederhole: massive Eingriffe in konsumtive Ausgaben — notwendig sind. Das hat er dreimal in seiner Rede gehabt,
und man kann natürlich den größten Etat aus Einsparungen nicht ausnehmen; das weiß jedermann. Ich sage noch einmal, die Realeinkommen sind dadurch nicht tangiert worden.Ihr Vorsitzender hat gesagt, man muß sich aufregen. Das ist richtig. Da darf man nicht teilnahmslos vorbeigehen an konkreten Schicksalen. Ich habe gerade ein paar Punkte genannt.Aber worüber man sich wirklich aufregen kann, und das eben in einem reichen Land, das sich ein wirklich effizientes Sozialsystem leisten kann und es auch finanziert, ist etwas ganz anderes, nämlich das Vergessen der wirklichen Armut, daß eine Milliarde Menschen auf dieser Erde pro Tag vom Gegenwert eines Dollars leben müssen, daß 2,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten haben, 2 Milliarden wirklich obdachlos sind, und das, was Sie im Report im „Spiegel" über die Kinder heute lesen können.Ich rege mich darüber auf, daß in Kolumbien Kinder in Kohlebergwerken arbeiten müssen, für 9 DM die Woche, und daß die EG — ich bin ein überzeugter Europäer, das weiß jedermann — von diesen Kohlearbeiterkindern, von diesen Bergwerken 11,3 Millionen Tonnen billige Steinkohle importiert, ist einfach eine Schande.
Darüber sollten wir uns mit aufregen, damit die Relation wieder richtiger wird, was Armut anbelangt und was die soziale Problematik betrifft.Ich habe noch zwei Minuten. Zum Arbeitsmarkt: Wir müssen, meine sehr verehrten Damen und Herren, uns auch darüber im klaren sein. Wir haben jedenfalls nach jeder Rezession eine höhere Sockelarbeitslosigkeit bekommen, seit den siebziger Jahren. Wir haben jetzt mit den neuen Ländern 10 % Arbeitslose. Ist das eine Zwangsläufigkeit oder nicht?Da würde ich sagen, wenn aus dem einen Zehntel ein Fünftel wird, 20 %, und ein Fünftel keine Arbeit hat, obwohl die arbeiten wollen — vier Fünftel können arbeiten, und die anderen müssen möglicherweise, auch wenn es ein Drittel zu zwei Dritteln wird, von den staatlich organisierten Almosen leben —, dann müssen wir feststellen, daß eine solche Gesellschaft krank wird. Sie wird psychisch krank, und eine solche Gesellschaft verliert ihre Seele und wird zur Beute radikaler Kräfte.Natürlich ist es auf der einen Seite richtig, daß das Ziel der Sozialen Marktwirtschaft produktive, bezahlbare Arbeitsplätze sein muß. Aber auf der anderen Seite haben wir Millionen zum Teil gut ausgebildeter Menschen, die nicht arbeiten können. Die notwendige Arbeit bleibt liegen. Deswegen muß man sich in einer solchen Situation auch die Frage stellen, ob wir nicht Neues denken müssen. Das ist absolut richtig. Aber die Frage, ob wir nicht für eine Übergangszeit die vorhandene Arbeit besser teilen müssen, scheint mir berechtigt zu sein.
Angesichts der Größenordnung dieses existentiellen Problemes müssen Bund, Länder und die Tarifpartner noch einmal über das, was Sie unter Beschäftigungspakt verstanden haben — das ist auch meine Meinung —, miteinander reden.
Konzentrieren wir uns auf sechs Themen.Zunächst zur Arbeitszeitverkürzung. Wir haben auf dem Parteitag in Stuttgart beschlossen, daß wir nicht gegen Arbeitszeitverkürzung sind. Wir haben uns
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Dr. Heiner Geißlerimmer nur gegen Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich gewehrt; denn so geht das nicht.
Wir haben dort die Bedingungen genau festgelegt.Ich nenne weiter eine Offensive für die Teilzeitarbeit, das Beschäftigungsförderungsgesetz, die Verlängerung der Betriebszeiten, neue Wege in der Lohnpolitik, Investivlohn — das sind Dinge, die endlich realisiert werden müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man kann nicht abwarten, bis alles wissenschaftlich bis aufs letzte abgeklärt ist. Kant hat einmal gesagt: Die Notwendigkeit, zu entscheiden, reicht weiter als die Möglichkeit, zu erkennen. Man muß rasch handeln. Aber etwas scheint mir für die kommende Zeit klar zu sein — das haben schon die alten griechischen Philosophen gewußt —: Es kommt in den nächsten Monaten und Jahren wahrscheinlich nicht auf die Vermehrung der Habe an, sondern auf die Verringerung der Wünsche.
Als nächster spricht der Kollege Ottmar Schreiner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will drei Bemerkungen zum Kollegen Geißler machen. Es macht wahrscheinlich wenig Sinn, in dieser Debatte darüber zu diskutieren, ob die materielle Ausgestaltung der Sozialhilfe angemessen ist. Aber eines der zentralen Probleme ist, daß wir von 1982 bis 1991 rund eine Verdoppelung der Zahl der Sozialhilfeempfänger erleben mußten, nämlich auf insgesamt rund drei Millionen Menschen.
— Davon ein erheblicher Teil unter 20.
Die eigentliche Frage ist, wie sich Menschen vorkommen müssen, wenn sie sozialhilfeabhängig werden, was das z. B. für einen 23jährigen arbeitslosen Jugendlichen für sein Selbstwertgefühl und für seine gesellschaftliche Anerkennung bedeutet, wenn er sozialhilfeabhängig wird, wie sich ein 60jähriger Industriearbeitnehmer vorkommen muß, der 40 Jahre hart gearbeitet hat und pflegebedürftig und dadurch Sozialhilfeempfänger wird,
wie sich eine Frau fühlen muß, die 40 Jahre hart gearbeitet, Kinder großgezogen und Pflegebedürftige gepflegt hat und im Alter sozialhilfeabhängig wird. Das sind doch die eigentlichen Fragen, um die es geht und die beantwortet werden müssen.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eimer?
Alles im Eimer. Bitte schön.
Das ist eine billige Bemerkung gewesen, Herr Kollege. — Herr Kollege Schreiner, Sie haben von der Verdoppelung der Zahl der Sozialhilfeempfänger gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß die Sozialhilfe schneller gestiegen ist als das Arbeitseinkommen, und ist Ihnen bewußt, daß, je mehr wir die Sozialhilfe anheben, desto größer die Zahl der Sozialhilfeempfänger wird, allein von der Konstruktion des Sozialhilfegesetzes her, daß also die Zahlen, die Sie gerade genannt haben, nichts über die Armut in Deutschland aussagen?
Die Sozialhilfe ist ganz geringfügig, minimal stärker gestiegen als etwa die Löhne oder als die Lohnersatzleistungen.
Wenn die Sozialhilfe irgendeinen Sinn haben soll, dann muß sie unabhängig davon sein, denn die Sozialhilfe soll ja das Existenzminimum garantieren. Das liegt allein in der Definition der Sozialhilfe, daß sie sich möglicherweise anders entwickelt als andere Bezugsgrößen. Im übrigen haben Sie bislang immer behauptet, die Löhne seien zu stark gestiegen, die Arbeitskosten seien zu hoch usw.
Sie drehen sich die Argumente, wie es Ihnen gerade paßt.Das reicht jetzt, Frau Präsidentin, vielleicht nachher noch einmal.
— Sie dürfen mir alles zuschicken, was Sie in Ihrem Büro haben.Der zweite Punkt: Der Kollege Geißler hat die SPD aufgefordert, die notwendigen Vereinbarungen, die Kompromisse zur Pflege nicht weiter zu behindern. Das ist exakt die Umkehrung der wirklichen Verhältnisse.Die SPD-Bundestagsfraktion hat zwei Jahre lang dem Bundesarbeitsministerium Verhandlungen, Gespräche über eine gemeinsame Pflegelösung angeboten. Noch vor sechs Wochen kam es zu einer solchen Übereinkunft. Einen Tag, bevor die Verhandlungen beginnen sollten, hat die Koalition aus fadenscheinigen Gründen die Verhandlungen abgesagt. Wir sind jetzt wieder in Verhandlungen. Ich werde nachher im Laufe meines Beitrages noch einige Sätze zur Pflege sagen.Die SPD-Fraktion hat ein großes Interesse an einem vertretbaren Kompromiß. Es ist hohe Zeit zur Absicherung des Pflegerisikos. Aber ich sage Ihnen auch: Die SPD-Fraktion ist von Ihnen nicht erpreßbar.
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16726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Ottmar SchreinerWir sind bereit zu einem tragfähigen Kompromiß. Wir sind aber nicht bereit, nach dem Motto zu handeln: Vogel, friß oder stirb.
Es muß zu einem wirklich vertretbaren Kompromiß kommen.Dritte Position: Der Kollege Geißler hat Oskar Lafontaine auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden zitiert. Oskar Lafontaine hat in der Tat gesagt: Es kommt darauf an, bislang konsumtiv verwandte Ausgaben investiv umzulenken. Das ist völlig richtig. Das fordern wir hier von seiten der Arbeits- und Sozialpolitiker seit Jahren.Beispiel: Wenn Sie wesentlich mehr Mittel, die bislang zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit gebraucht werden, also konsumtiv verwandt werden, zur Förderung von Arbeit vor allen Dingen zur Verbesserung der Infrastruktur, der ökologischen Infrastruktur, der sozialen Infrastruktur, bereitstellen würden, dann hätten Sie in der Tat eine Umlenkung konsumtiver Mittel in den investiven Bereich.
Das ist unstreitig; das müßte sogar Ihnen einleuchten.Meine Damen und Herren, wir haben zwei Gefährdungsbereiche, von denen die Arbeits- und Sozialpolitik betroffen ist und die unsere Gesellschaft von Grund auf zu verändern drohen. Wir haben eine klammheimliche Systemveränderung.Der erste große Problembereich ist die soziale Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist der Kitt, ist ein Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält. Je stärker die Gesellschaft auseinanderfällt, um so größer sind die Gefahren für die politische und demokratische Stabilität unseres Gemeinwesens.Meine These ist: Die Koalitionsparteien und -fraktionen haben die deutsche Einheit zu einer gigantischen Umverteilung zu Lasten der sozial Schwächeren und der kleineren Einkommen mißbraucht, die zum Himmel stinkt.
Diese Umverteilungspolitik der letzten Jahre wurde von den konservativen Ideologen der Regierungsfraktionen entlang von zwei ständig variierten Leitmotiven begleitet und vorbereitet. Das erste Leitmotiv war auch heute mehrfach zu hören, u. a. vom Kollegen Hoyer: Der Sozialstaat kippt um in einen Wohlfahrtsstaat, bietet keinerlei Anreize mehr zur Leistung, zur Arbeit. Die Leute ruhen in den Hängematten. Das ist die erste These.
Selbst der Kollege Strube ist anfällig geworden mitseiner Formulierung: Es muß Schluß sein mit einerSozialpolitik des „immer mehr". Ich komme darauf zurück.Das zweite Leitmotiv der Koalitionsfraktionen lautet: Die Arbeitskosten sind zu hoch, die Löhne sind zu hoch, die Lohnzusatzkosten sind zu hoch. Deshalb ist der Standort Deutschland, deshalb ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährdet. Das sind die beiden zentralen Leitmotive der konservativen Ideologen.
— Wenn Sie einmal die Klappe halten würden und zuhören würden, könnten Sie reicher aus dieser Veranstaltung herausgehen.
Nun zum ersten Leitmotiv: Der Sozialstaat droht in einen Wohlfahrtsstaat umzukippen; es muß Schluß sein mit einer Sozialpolitik des „immer mehr". Sie können in jeder Broschüre nachlesen, daß das genaue Gegenteil seit mehr als zehn Jahren der Fall ist. Ein Indiz dafür ist die sogenannte Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt.
— Frau Präsidentin, die Dame lärmt hier neben mir unglaublich herum; das geht wirklich nicht.
Darf ich jetzt einmal um Ruhe bitten! Es ist sicherlich so, daß die Frau Kollegin hier ihre Empörung über Ihren Tonfall etwas laut geäußert hat. Aber das liegt vielleicht auch ein bißchen daran, mit welcher Lautstärke und in welcher Art Sie hier mit dem Parlament sprechen. Insoweit kann ich jetzt im Moment auch gleich sagen, daß es zwar nicht für einen Ordnungsruf reicht, falls Sie den provozieren wollten, daß aber das Wort „Klappe" nicht der Art entspricht, wie wir uns hier miteinander unterhalten sollten.
Wir sollten ja einen einigermaßen vernünftigen Ton miteinander pflegen, und wenn Sie ein bißchen leiser sprechen würden, dann würden die Kollegen vielleicht auch nicht so laut zwischenrufen, und dann hätten wir hier einen einigermaßen vernünftigen Tonfall.
Frau Präsidentin, schönen Dank für die mehr oder weniger hilfreichen Belehrun-
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Ottmar Schreinergen. Die eigene Lautstärke ist immer auch ein Reflex auf den Klamauk hier vorn in den Rängen.
Das ist in der Tat ein Problem von Ursache und Wirkung. Nun gut, wenn diese Damen und Herren etwas friedlicher gesinnt sind, machen wir es etwas leiser.Also die These: Es muß Schluß sein mit einer Sozialpolitik des „immer mehr" . Indiz — ich habe es gesagt — ist die Sozialleistungsquote, der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt. Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt betrug 1982 32 %, bezogen auf Westdeutschland, heute beträgt er, ebenfalls bezogen auf Westdeutschland, 28 %. Von einem überbordenden Sozialstaat kann überhaupt keine Rede sein!Wir haben eine völlig andere Zahl — und das ist das eigentliche Problem — für Ostdeutschland. Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt, also der Sozialleistungsquote, in Ostdeutschland: 70 %. 70 %!
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel gestatten? — Ja.
Herr Kollege Schreiner, nur damit ich Sie richtig verstehe: Dienen Ihre Ausführungen der Untermalung der These, daß die Höhe einer Sozialquote etwas über die Güte der Sozialpolitik aussagt, also im Sinn von „Viel hilft viel, eine hohe Sozialleistungsquote ist besser als eine niedrige"? Damit würden Sie zugeben, daß eine hohe Arbeitslosigkeit mit hohen Leistungen der Arbeitslosenversicherung eine hohe Sozialpolitik ist.
Es ist ohne Zweifel richtig, daß die Höhe der Sozialleistungsquote wenig über die Qualität des Sozialstaates besagt.Richtig ist zweitens, daß bei steigender Arbeitslosigkeit in der Regel die Sozialleistungsquote steigt.Richtig ist drittens aber auch, daß in Deutschland bei dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit die Sozialleistungsquote fällt. Das heißt, Sie haben eine ganze Reihe von sozialen Sicherungssystemen regelrecht ausgeplündert und die Leute in die neue Armut hineingetrieben. Auch das ist eben richtig.
Und viertens müssen Sie überlegen, was alles in der Sozialleistungsquote drin ist und worüber man diskutieren könnte. In der Sozialleistungsquote sind beispielsweise auch die Steuerverzichte des Staates aus sozialen Gründen enthalten. Da fällt mir das Ehegattensplitting mit einem Volumen von rund 40 Milliarden DM ein. Wir zahlen weit weniger Kindergeld als Ehegattensplitting: rund 15 Milliarden DM. Das Kindergeld hat eine klare Bezugsgröße, nämlich dasVorhandensein von Kindern. Das Ehegattensplitting hat nur eine einzige Bezugsgröße: Je mehr jemand verdient, um so mehr wird ihm vom Staat über Steuerverzichte hinterhergeworfen. Das ist nicht sozial, sondern unsozial.
Über diese Aspekte der Sozialleistungsquote könnten wir uns gründlich unterhalten, wenn Sie wollen.
Ich habe auf die Sozialleistungsquote von 70 % in Ostdeutschland hingewiesen. Das ist die direkte Folge des massenhaften Zusammenbruches der Beschäftigungsverhältnisse in Ostdeutschland. Wir haben nahezu die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse, gemessen am Stand 1989, dort verloren. Und das ist nicht nur Konsequenz des Sozialismus; das ist auch Konsequenz einer grundlegend falschen Politik dieser Koalition.
Ich will Ihnen dazu nur wenige Stichworte liefern, bezogen auf die fehlenden Investitionen in Ostdeutschland, einige wenige Stichworte: Rückgabe vor Entschädigung, undurchschaubares Gestrüpp von über 200 Fördertöpfen, fehlende Kontrolle zweckentsprechender Verwendung bewilligter Investitionen, Unzahl von verschiedenen nicht aufeinander abgestimmten Förderrichtlinien, extrem komplizierte Genehmigungsverfahren. All dies erschwert gerade mittelständischen Unternehmungen eine verantwortliche und überschaubare investive Tätigkeit. Diese Ursache neben vielen anderen hat die Koalition selbst gesetzt und zu verantworten.
Wenn ich also sage: 70 %, dann ist die spannende Anschlußfrage: Wer ist zuständig für die Finanzierung der Gestaltungskosten der deutschen Einheit? Hat die erste Zuständigkeit die Bundesanstalt für Arbeit, oder sind es die deutschen Rentenversicherungsträger? Oder sind zuallererst die Bundesregierung und der Bundeshaushalt für die Finanzierung der Gestaltungskosten der deutschen Einheit zuständig?
Meine Damen und Herren, wir haben das seit vielen Jahren vertreten. Dies ist eine Angelegenheit nicht in erster Linie der Beitragszahler der sozialen Sicherungssysteme, sondern der gesamten Gesellschaft und damit der Summe aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.Alle Vorschläge der SPD sind in den letzten Jahren in den Wind geschlagen worden. Das ging 1990 mit der Aussage los: Im Westen wird niemand auf etwas verzichten müssen. Dies setzte sich im Jahre 1992 fort, als der Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer wider besseres Wissen nicht verlängert worden ist und damit neue Finanzlöcher auftauchten. Es setzt sich bis zur Stunde fort: über die völlig einseitige Finanzierung der deutschen Einheit über die Beitragszahler der sozialen Sicherungssysteme; das sind im Jahre 1993 rund 50 Milliarden DM oder, in anderen Zahlen, knapp 4 % des Bruttolohns.
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16728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Ottmar SchreinerDie gleichen Leute also, die hier versammelt sind und seit Jahr und Tag über die hohen Arbeitskosten klagen, haben völlig systemwidrig die Arbeitskosten mit den Gestaltungskosten der deutschen Einheit belastet.
Meine Damen und Herren, der Präsident des Verbandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschland, Herr Walter Hirrlinger, hat vor wenigen Tagen erklärt:Die deutsche Einheit wird derzeit wesentlich über die Beiträge für die Sozialversicherungen bezahlt, also auf dem Rücken der Rentner, Arbeitslosen und Beschäftigten. Selbständige, Beamte und Politiker bezahlen hingegen keine müde Mark für die Einheit. Gerecht wäre es, wenn die Einheit über Steuern finanziert werden würde. Dann könnte der Beitragssatz für die verschiedenen Sozialversicherungen um bis zu 3,5 % gesenkt werden, auch die geplante Beitragsanhebung bei der Rente von 17,5 % auf 19,2 % wäre verzichtbar. Ein solcher Schritt würde automatisch auch den Rentnern zugute kommen.Das heißt im Klartext, um auch das noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die Hauptfinanciers der deutschen Einheit sind nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Beiträge in die Sicherungssysteme zahlen, sondern auch die Rentnerinnen und Rentner über den im Prinzip mehr als vernünftigen Ankoppelungsmechanismus: Die Rentenerhöhung folgt der Lohnerhöhung.Die Finanzmisere der Bundesanstalt für Arbeit war, bei Lichte gesehen, von der Bundesregierung durch diese grundsätzlich falsche Politik vorprogrammiert. Statt nunmehr umzusteuern, wurde in den letzten Monaten die soziale Schieflage bei der Finanzierung der Gestaltungskosten der deutschen Einheit dramatisch verstärkt: Abschaffung des Schlechtwettergeldes, Kürzung des Arbeitslosengeldes, Kürzung der Arbeitslosenhilfe, zeitliche Begrenzung der Arbeitslosenhilfe, Einfrieren der Sozialhilfe usw. usf. Das heißt, mit all diesen Maßnahmen haben Sie ein Doppeltes bezweckt, zumindest aber erreicht: Sie haben die Entwicklung der Arbeitslosigkeit beschleunigt und gleichzeitig die Arbeitslosen über Leistungskürzungen bestraft.
Das nenne ich: die soziale Schieflage der deutschen Einheit massiv verstärken.Dann wird hier über das Abstandsgebot geredet. Ich kann nur sagen: von der Wirklichkeit weit entfernt Herr Hoyer, Sie müssen gerade telefonieren. Ich nenne Ihnen die Zahlen: Der Arbeitslosenhilfeempfänger in Ostdeutschland hat im Schnitt 720 DM. Sagen Sie mir mal, wie Sie im Monat von 720 DM bei westlichen Preisen leben können. Der Arbeitslosenhilfeempfänger in Westdeutschland hat im Schnitt 950 DM.
Ich möchte gerne einmal den Generalsekretär der F.D.P. sehen, der mit diesem Geld vier Wochen über die Runden kommt. Danach würden Sie nicht mehr über das Abstandsgebot philosophieren.
Herr Hoyer, dann haben Sie gesagt, die aktive Arbeitsmarktpolitik dürfe die reguläre Arbeit nicht verdrängen. Ich kann nur sagen — tut mir leid —: von Tuten und Blasen keine Ahnung!Sie haben Ende 1993 in Westdeutschland noch ganze 15 000 AB-Maßnahmen. Allein in der Stadt Dortmund haben wir gegenwärtig 43 000 Arbeitslose. Kennen Sie die Zahlen nicht? Vor welchem Hintergrund stellen Sie sich hier hin und diffamieren die Arbeitslosen?
Der langjährige Oberbürgermeister der Stadt München, der verehrte Kollege Kronawitter, hat vor wenigen Tagen sein Fazit gezogen, das ich voll teile.
— Lieber Kollege Fuchtel, wenn der Bundesarbeitsminister im nächsten Jahr arbeitslos wird, dann hat er Gelegenheit, im Schwarzwald als Saisonarbeiter bei der Heuernte eingesetzt zu werden. Das ist ja einer seiner Vorschläge, um die Probleme zu lösen.
Der Bundesarbeitsminister wandelt durch das Gelände wie ein Topert.
Der Kollege Kronawitter hat Ihre Finanzierungslinie wie folgt zusammengefaßt:Die kleinen Leute werden vom Bundeskanzler über den sozial eiskalten Theo Waigel wie Weihnachtsgänse ausgenommen. Niedrigverdiener, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger werden in die Armut, an den Rand der Gesellschaft, oft auch an den Rand der persönlichen Verzweiflung getrieben. Die Spitzenverdiener und die großen Vermögensbesitzer bleiben praktisch ungerupft.Das ist präzise der Sachverhalt.Herr Geißler hat zur Entlastung der Koalitionspolitik die Armut in der Dritten Welt angeführt und gesagt, es gebe Regionen, in denen Menschen mit einem Dollar am Tag überleben und leben müssen.
Dieser Vergleich ist nicht statthaft; denn die armenMenschen in unserer Republik müssen sich an dem
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Ottmar SchreinerReichtum unserer Gesellschaft messen und nicht an den Armen in der Dritten Welt.
So einfach ist das.Ich sage Ihnen jetzt noch einige Sätze zum Reichtum unserer Gesellschaft.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Baumeister?
Wenn sie nicht so laut ist: Ja.
Herr Kollege Schreiner, im Normalfall pflege ich mich etwas gemäßigter zu unterhalten als Sie. Aber das lassen wir nun einmal dahingestellt.
Ich werde hier ja nicht für Unterhaltung bezahlt.
Herr Kollege Schreiner, können Sie mir sagen, ab welcher Grenze des Jahresbruttogehalts Sie die Spitzenverdiener einordnen?
Ich gebe Ihnen die Antwort im Rahmen der Vorschläge, die wir auf dem Wiesbadener Parteitag u. a. beschlossen haben. Sie können sich aber zur Antwort gerne setzen.
— Wir haben bei der Ergänzungsabgabe pausenlos die Summe von 140 000 DM brutto diskutiert. Wir haben Ihnen pausenlos Vorschläge dazu gemacht. Ich sage Ihnen jetzt, wie unser Finanzierungsvorschlag aussieht.
Sie können sich gerne setzen.
Dann haben Sie es dabei etwas bequemer.
— Sie können sich setzen. Es dauert länger.
— Ich wollte es Ihnen nur angenehm machen, damit Sie die Antwort, die Sie sicherlich begeistern wird, in Ruhe zur Kenntnis nehmen können. Bitte schön, setzen Sie sich doch.Die SPD hat vor wenigen Tagen auf dem Wiesbadener Parteitag im Rahmen ihres Wirtschaftspolitischen Leitantrags folgendes beschlossen — ich zitiere —:Mit einer stärkeren Besteuerung hoher Privateinkommen und großer Vermögen
wollen wir Investitionen in neue Arbeitsplätze finanzieren. Dadurch wird auch die von der jetzigen Bundesregierung geschaffene soziale Schieflage abgebaut.Nun erzähle ich Ihnen ein paar Sätze zur Vermögensverteilung in dieser Republik,
damit Sie die Alternative begreifen: Von 1970 bis 1992 hat sich das Privatvermögen in Westdeutschland von 1 538 auf 9 492 Milliarden DM versechsfacht. Die reichsten 1 % der Haushalte verfügen über 23 % dieses riesigen Vermögens. Die oberen 10 % der Haushalte vereinigen 50 % des Gesamtvermögens. Die untere Hälfte der Haushalte, also 50 % unserer westdeutschen Gesellschaft, besitzt nur 2,5 % des gesamten Privatvermögens. Es handelt sich hauptsächlich um jene 50 %, die in der Regel keinen Grundbesitz haben.
Also: Statt die deutsche Einheit über die Arbeitskosten zu finanzieren, hätten Sie sie über eine entsprechende Vermögensabgabe, zumindest aber gleichwertig über eine parallele Vermögensabgabe bewältigen können. Damit hätten Sie die Finanzierung der Einheit und Krisenbewältigung zugleich geschafft.Ich persönlich habe große Sympathien für den Vorschlag von Oberbürgermeister Kronawitter.
— Ja, das ist jetzt die Antwort auf die Frage.
— Hören Sie sich den Vorschlag einmal in Ruhe an: Die 10 % der besonders Vermögenden müssen mit einem 15 %igen Solidarbeitrag belastet werden. Von ihrem Vermögen in Höhe von rund 4 000 Milliarden DM sind etwa 600 Milliarden DM aufzubringen, und zwar in zehn Jahresraten von jährlich 60 Milliarden DM; dies entspricht 1,5 % dieses Vermögens.
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16730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Ottmar SchreinerGemessen an den erheblichen Einbußen des Realeinkommens der Lohn- und Gehaltsempfänger, der Sozialhilfeempfänger, der Arbeitslosenhilfeempfänger, der Arbeitslosengeldempfänger ist dies wohl mehr als zumutbar.
Nun bitte ich die nachfolgenden Koalitionsredner, insbesondere den Bundesarbeitsminister Blüm, zu diesem Vorschlag Stellung zu nehmen.
Zum zweiten. Es wird seit langer Zeit über die hohen Arbeitskosten gejammert. Ich sage ihnen hier nur als Datum: Die volkswirtschaftliche Lohnquote, also der Anteil der Einkommen aus lohnabhängiger Arbeit, hat sich in Westdeutschland von 77 % in 1982 auf 71 % in 1992 verschlechtert. Das ist ein Ausdruck gewaltiger Vermögensumverteilung in Westdeutschland.
Für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gibt es andere Faktoren, die weitaus bedeutender sind als die Entwicklung der Arbeitskosten. Ich nenne zwei.Erstens. Die Aufwertung der D-Mark um 10 % entspricht einer Lohnsteigerung um mehr als 30 %. Der Kollege Helmut Wieczorek hat vorgestern beim Beginn der Haushaltsberatungen dazu gesagt:Für die exportorientierte Wirtschaft wurden deshalb sehr viel mehr Probleme durch die Währungspolitik verursacht, als jemals Gewerkschaften mit Lohnabschlüssen hätten verursachen können.Zweiter Gesichtspunkt. Die Lohnstückkostenentwicklung nach oben seit 1991 hängt wesentlich mit der Unterauslastung der Betriebe zusammen: in der Regel 70 %. Je niedriger die Auslastung ist, um so höher sind die Lohnstückkosten, und um so schwieriger ist die Wettbewerbslage. Die Auslastungsprobleme resultieren ihrerseits zumindest teilweise aus der von dieser Bundesregierung massiv geschwächten Nachfrage der Bezieher kleinerer Einkommmen.
Ein letzter Gesichtspunkt. Wenn die Arbeitskosten wirklich der wesentliche Gesichtspunkt wären: Wer hindert diese Bundesregierung und die mit ihr einherlaufenden Koalitionsfraktionen daran, morgen früh die von Ihnen gesetzte Erhöhung der Arbeitskosten — 50 Milliarden DM zur Finanzierung der deutschen Einheit — aus den Systemen der sozialen Sicherung herauszunehmen und anders, gerechter zu finanzieren? Das könnten Sie morgen früh machen, wenn der ganze Klamauk, den Sie in dieser Frage veranstalten, auch nur halbwegs ernstzunehmen wäre.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Baumeister?
Die Dame ist nicht zu erschüttern. Bitte schön.
Herr Kollege Schreiner, ich mache noch einen Versuch in der Hoffnung, von Ihnen eine konkrete Antwort zu erhalten. Auf die letzte Frage habe ich keine erhalten.
Herr Kollege Schreiner, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland auch Klein- und Mittelbetriebe gibt, die mit dem Export relativ wenig zu tun haben? Würden Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, daß gerade Handwerksbetriebe in der Bundesrepublik Deutschland — hier spreche ich aus eigener Erfahrung — sehr personalintensiv sind und daß sie ganz extrem unter den Lohn- und den Lohnnebenkosten zu leiden haben?
Das nehme ich alles zur Kenntnis. Nun will ich Ihnen meine Antwort geben. Damit kann ich gleichzeitig den Kollegen Hoyer befriedigen, der eine weitere Irrlehre in die Welt gesetzt hatte. Der Kollege Hoyer hat gesagt: Die Ausgestaltung der Beitragsbemessungsgrenze bei der Pflegeversicherung darf nicht dazu führen, daß die mittelständischen Betriebe gefährdet werden. Sie stellen wieder alles auf den Kopf. Gerade aus den mittelständischen Betrieben kommt die Forderung nach einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze nicht nur in der Pflege-, sondern auch in der Krankenversicherung, weil in aller Regel — Ausnahmen sind erlaubt — in der exportorientierten Großwirtschaft die Löhne weitaus höher sind als in vielen mittelständischen Betrieben. Je niedriger ich die Beitragsbemessungsgrenze ansetze, um so größer ist der arbeitgeberinterne Umverteilungseffekt zu Lasten der mittelständischen Betriebe.Reicht das, oder wollen Sie weitere Auskünfte haben? Das können wir nachher draußen vor dem Saal veranstalten. — Gut; es reicht.
Ich will zusammenfassen, meine Damen und Herren. Der Gefährdungsbereich soziale Gerechtigkeit ist bei dieser Koalition in denkbar schlechten Händen. Sie treten die soziale Gerechtigkeit seit Jahren mit Füßen. Sie setzen die Ursachen für die Gefährdung des sozialen Friedens, für steigende Kriminalität, für steigende Gewaltbereitschaft und für die bedenkliche Hinwendung vieler vor allen Dingen junger Menschen zu radikalen politischen Cliquen wesentlich mit.Den zweiten Gefährdungsbereich, die Massenarbeitslosigkeit, kann ich auf Grund der offenkundig abgelaufenen Redezeit nicht mehr behandeln. Deshalb bleibt vor allen Dingen dem Bundesarbeitsminister einiges erspart.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16731
Ottmar SchreinerIch will mit dem Satz schließen: Diese Regierung ist verbraucht. Das Land hat diese Regierung nicht verdient. Wir brauchen eine neue, kraftvolle, phantasievolle, soziale Gerechtigkeit gestaltende Bundesregierung.Schönen Dank für Ihren Lärm.
Nun erhalten zu einer Kurzintervention als erster der Kollege Dr. Walter Hitschler und anschließend der Kollege Fuchtel das Wort.
Frau Präsidentin! Die unqualifizierten Tiraden des Kollegen Schreiner haben mich zu dieser Kurzintervention veranlaßt,
und zwar deshalb, weil er hier ein Bild von einer neuen Armut gezeichnet hat, das mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat.
Statt mich mit Durchschnittszahlen des Statistischen Bundesamtes zu befassen, habe ich mich bei meiner Heimatgemeinde umgehört, was eine sozialhilfeberechtigte Familie im Monat bekommt. Ich gebe zu, es handelt sich um eine sozialhilfeberechtigte Familie mit drei minderjährigen Kindern. Ich darf eben, Herr Kollege Schreiner, nicht nur die Hilfe zum Lebensunterhalt rechnen, sondern muß all das einbeziehen, was die Kommune in bar im Laufe eines Jahres für eine sozialhilfeberechtigte Familie aufzubringen hat, beispielsweise an pauschaliertem Wohngeld — es werden die gesamten Wohnkosten übernommen —, Weihnachtsbeihilfen, Erziehungsbeihilfen usw. Alles zusammengerechnet hat es in meiner Heimatgemeinde einen Monatsbetrag von 3 364 DM netto ergeben.
Wenn Sie angesichts solcher Verhältnisse sagen, das Abstandsgebot im Hinblick auf die erwerbstätige Bevölkerung sei nicht mehr gewährleistet, wissen Sie offensichtlich nicht mehr, was Erwerbstätige in unserer Republik zu verdienen pflegen.
Ich muß ferner hinzufügen: Wer angesichts solcher Verhältnisse ein solches Bild der Armut skizziert, wie Sie das getan haben, der will in unserer Bevölkerung ganz bewußt desinformieren. Ich bitte Sie auch, zu berücksichtigen, Herr Kollege Schreiner, daß wir inzwischen in den neuen Bundesländern bei der Sozialhilfe bei einem Prozentsatz von 95 % unserer Sozialhilfesätze angelangt sind, während die Erwerbseinkommen noch zwischen 60 und 80 % der Beträge in den alten Ländern schwanken. Auch in diesen Fällen ist das Abstandsgebot zwischen Sozialtransfer und Erwerbseinkommen in der Wirklichkeit ganz einfach nicht mehr gegeben.
Zu einer zweiten Kurzintervention spricht der Kollege Fuchtel und zu
einer dritten der Kollege Reimann. Dann machen wir Schluß mit den Kurzinterventionen.
Herr Kollege Fuchtel.
Herr Kollege Schreiner, Sie haben heute wieder einen Beitrag zu einer Neiddiskussion in diesem Land gegeben,
was wir absolut nicht gebrauchen können. Wir sollten uns doch gegenseitig nicht unsere Bemühungen absprechen, für die Zukunft wieder bessere Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Ich möchte für die Koalition nochmals betonen, daß das Sparen kein Selbstzweck ist, sondern zum Ziel hat, daß wir wieder auf die Füße kommen und daß wir wieder wirtschaftlich Erfolg haben können,
weil dies unseren Menschen am meisten nützt, auch denen, für die Sie sich einsetzen wollen.
Dann möchte ich ganz konkret die Frage stellen: Ab wann sollen die zusätzlichen Belastungen gelten? Ab welchem Monatseinkommen? Der Herr Scharping ist gestern an das Pult getreten und hat hier etwas von 200 DM Mehrbelastung ab 2 000 DM Einkommensteuer im Monat erzählt. Aber ich möchte Sie heute einmal festnageln und möchte definitiv wissen, ein wie hohes Monatseinkommen die Grundlage für Ihre Berechnungen ist, damit wir hier einmal Klarheit haben, was Sie wollen und ob dies überhaupt realistisch ist. Ich denke, Ihre Vorschläge sind Luftbuchungen, die uns nicht weiterführen; sonst hätten Sie sie schon längst konkretisiert.
Herr Kollege Reimann, ich darf darauf hinweisen, daß Sie sich nach unserer Geschäftsordnung auf den Redner Ottmar Schreiner beziehen müssen und jetzt nicht eine Stellungnahme zu Kurzinterventionen vorheriger Kurzintervenierer geben dürfen.
Recht schönen Dank, Frau Präsidentin. Ich beziehe mich auf diesen Beitrag. Es paßt in diesen Beitrag aber auch hinein, daß die Debatte um die Sozialhilfe, die auch Bestandteil der Rede war, nicht mit den Argumenten der Republikaner hier in diesem Saale fortgesetzt werden sollte.
Die Rechnung der 3 300 Mark ist nämlich genau das von den REPs Verschickte, ohne daß man zuzugeben bereit ist, was davon an Miete bezahlt wird und was letztendlich zum Lebensunterhalt für die fünfköpfige Familie übrigbleibt. Da muß man dem Kollegen Schreiner recht geben: Da muß man etwas differenziert herangehen.Meine zweite Bemerkung ist: Wenn in der Rede vom Kollegen Schreiner von den Reallöhnen die Rede war, dann nehmen Sie bitte auch einmal zur Kenntnis, daß sich unter dieser Bundesregierung die Reallohneinkommen der Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren um 10 % erhöht haben und die Einkommen der
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Manfred ReimannUnternehmer, der Selbständigen und aus Vermögen um über 120 %.
Wer dann hier von den Konservativen behaupten will, daß diese 10%ige Reallohnerhöhung eine spürbare Lebensverbesserung gebracht habe, der redet in der Tat an der Sache vorbei.Insofern muß man dem Kollegen Schreiner Unterstützung zuteil werden lassen, was seine Betrachtung der Zahlen und die realpolitische Annahme der wirklichen Armut in der Bundesrepublik Deutschland— ich bin auch gern bereit, mit Ihnen darüber zu diskutieren — betrifft.
Nun hat der Kollege Schreiner den Wunsch geäußert, nach unserer Geschäftsordnung, auf die Kurzinterventionen zu entgegnen.
Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, Kollege Reimann: Das war genau das, was eine Kurzintervention eigentlich nicht sein soll, nämlich eine Stellungnahme zur Rede des vorhergehenden Redners. — Nein, Sie sind nicht noch einmal dran.
Der Kollege Schreiner hat das Wort.
Frau Präsidentin, ich halte mich streng an die Regeln. Ich will hier zwei Fragen beantworten.
Der Kollege Fuchtel
hat nach den Größenordnungen gefragt, ab welcher Einkommensgrenze — —
— Jetzt sind die schon wieder — —
Herr Kollege Schreiner, Sie haben jetzt gerade den Namen des Kollegen Fuchtel verballhornt, wahrscheinlich unabsichtlich.
— Ich gehe einmal davon aus, weil das nämlich ansonsten ein bißchen kindisch wäre.
Damit haben Sie diese Reaktionen hervorgerufen. Ich möchte Ihnen nur die Verhaltensweisen hier erklären.
Der Kollege Fuchtel hat also gefragt, ab welcher Einkommenshöhe die SPD zusätzliches Geld abverlangen wird. Soweit ich die Beschlußlage meiner Partei kenne — das gilt zumindest für die Forderung nach einer sogenannten Ergänzungsabgabe, also nach zusätzlichen Steuerbelastungen ab einer bestimmten Einkommensgröße —, gilt:
bei Alleinstehenden von 60 000 DM aufwärts und bei Verheirateten von 120 000 DM aufwärts.
Das waren die genauen Grenzen. Die Grenzen sind vergleichsweise im Mittelfeld, damit da wirklich Masse zusammenkommt und nicht nur ein paar Tropfen.
Aber das ist erst einmal jenseits der eben vorgeführten Betrachtungen über die Möglichkeiten, über eine Vermögensabgabe notwendiges Geld zur Finanzierung der Gestaltungskosten der deutschen Einheit beizubringen.
Zum Kollegen Hitschler: Man muß bei diesen Zahlen wirklich sehr aufpassen. Es ist nach meiner Kenntnis zutreffend, daß es bei einem Sozialhilfeempfänger-Ehepaar mit drei oder mehr Kindern Gesamteinkommensgrößen gibt, die sich mit den untersten Lohneinkommen berühren. Die Antwort kann aber nicht sein, den bei den Sozialhilfeempfängern
germaßen funktionierenden Kinderlastenausgleich auch noch zu kürzen. Die Kinder haben es in diesen Familien wahrlich schwer genug. Die Antwort kann vielmehr nur sein, den äußerst mangelhaften Familienlastenausgleich bei den Familien mit Lohnbezügen und Kindern wesentlich besser zu gestalten, als er gegenwärtig gestaltet ist.
Das ist doch das Problem. Dazu hat die SPD zahllose Vorschläge gemacht.
— Reden Sie einmal mit den Familienverbänden, reden Sie doch einmal — Sie sind doch leidenschaftlicher Bibelsammler — mit der katholischen Kirche oder der evangelischen Kirche. Die Forderungen der SPD-Fraktion, seit Jahren hier vorgetragen, einen Teil des Ehegattensplittings dazu zu verwenden, das Kindergeld deutlich aufzustocken, würde den Familienlastenausgleich wesentlich erträglicher machen, als er gegenwärtig ist.
Herr Kollege Schreiner, — —
Da sollten Sie in diese Richtung diskutieren und nicht in die ganz falsche Richtung galoppieren.
Danke schön für die Großmut, Frau Präsidentin.
Und nun erteile ich das Wort der Frau Kollegin Ina Albowitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, das war jetzt eine ganz schön lebhafte Debatte.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16733
Ina Albowitz— Das Mikrofon bediene ich jetzt nicht, Herr Kollege Feilcke. Ich hoffe, das macht die Technik hinter mir. Aber nachdem der Kollege Schreiner uns alle etwas strapaziert hat, rede ich jetzt etwas leiser. Dann müssen alle etwas mehr zuhören. Vielleicht geht das dann.
Ich wollte den Kollegen Schreiner eigentlich vor dem Kollegen Reimann in Schutz nehmen. Er hat natürlich keine republikanischen Thesen hier verkündet, sondern eher Klassenkampfparolen aus dem vergangenen Jahrhundert.
Aber er hat natürlich auch ein paar ernste Fragen gestellt.Im übrigen, Herr Kollege Schreiner, wenn Sie mir die folgende Anmerkung noch gestatten: Ich hatte streckenweise bei Ihrer Rede den Eindruck, Sie befänden sich noch in der pubertären Phase. Sie waren außerordentlich rüpelhaft. Das würde ich zumindest sagen, wenn Sie zu meinen Kindern gehörten. Ich finde, so sollten wir hier nicht miteinander umgehen.
Da ich mir keinen Ordnungsruf einhandeln will, habe ich gesagt: Ich würde das sagen, wenn Sie zu meinen Kindern gehörten.
— Ja, das weiß ich. Sie können es vertragen; Sie teilen ja auch aus.Sie haben aber mehrere interessante Fragen gestellt. Ich denke, auf sie sollte man kurz eingehen.
Sie haben in Frage gestellt, daß die Löhne zu hoch sind, daß die Lohnnebenkosten zu hoch sind, daß die Sozialhilfe zu hoch ist — alle die Dinge, die die Debattenredner vor mir angesprochen haben. Alle diese Faktoren zusammen sind zu hoch, Herr Kollege. Könnten wir uns darauf verständigen? Wir haben in den letzten Jahren in dieser Republik über unsere Verhältnisse gelebt, und deswegen sind wir heute in einer außerordentlich schwierigen Situation.
Sie haben gefragt, um hier eine Klassenkampfparole hineinzubringen: Wer bezahlt eigentlich die Einheit Deutschlands?
— Natürlich, genau wir, und zwar wir alle, die Bürger dieser Bundesrepublik. Sie können sie nicht trennen in Steuerzahler, Rentner und Beitragszahler. Jeder an seinem Platz und jeder an seiner Stelle trägt zur Finanzierung der Einheit Deutschlands bei.
Sie haben einen weiteren Punkt angesprochen und die mangelnde Ausstattung bei ABM beklagt. HerrKollege, die Koalition hat in diesem Jahr ein Sonderprogramm in Höhe von 2 Milliarden DM für AB aufgelegt; das wissen Sie. Es gab darin eine Zweckbindung derart, daß die Mittel, die bis zum Herbst diesen Jahres in den neuen Bundesländern nicht ausgegeben werden konnten, in die westlichen, die alten Bundesländer zurückfließen sollten. 200 Millionen DM sind zurückgekommen. Offensichtlich sind die alten Bundesländer — auch Nordrhein-Westfalen, weil Sie soeben Dortmund als Beispiel brachten — nicht in der Lage, jene 200 Millionen DM umzusetzen.
Es gibt in der Bundesrepublik eine Wahnsinnskampagne, mit der die Arbeitsämter Leute auffordern, sich zu melden. Ja, mein Gott noch mal, ist das die Qualifikationsoffensive, die damit eingeleitet werden soll? Das kann doch nicht wahr sein!
— Herr Kollege, wahrscheinlich mehr als Sie, aber das machen wir untereinander ab. Das müssen wir nicht hier tun. Das ist auch nicht der Stil, in dem wir eine Debatte führen sollten. Ich möchte mich ungern auf Ihr Niveau begeben.
130 Milliarden DM für den Sozialhaushalt, meine Damen und Herren — das ist mehr als der gesamte Bundeshaushalt der Regierung Brandt in ihrem letzten Regierungsjahr. Trotz dieser gewaltigen Summe, mit der wir heute den Einzelplan 11 abschließen, Herr Bundesarbeitsminister, mußten wir in diesem Jahr Leistungseinschnitte vornehmen, um das Ganze nicht zu gefährden. Daß die Bürgerinnen und Bürger natürlich wissen wollen, warum sie gerade auch im Sozialbereich Einschnitte erfahren müssen, ist verständlich. Ein Grund hierfür sind die allgemeine Situation auf dem Arbeitsmarkt und die Prognosen für 1994. Schönfärberei ist nicht mehr angesagt, längst haben die rezessionsbedingten Anpassungen und Umstrukturierungen auch den Arbeitsmarkt im Westen erfaßt. Wir wissen das alle.Die Arbeitslosenquote in den alten Bundesländern erhöhte sich binnen Jahresfrist von 6 % auf 7,6 %; das sind gut eine halbe Million mehr Arbeitslose als im Oktober 1992. Bei den Arbeitsämtern in den neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins erhöhte sich die Quote gegenüber Oktober 1992 von 14,4 % auf 15,3 %. Meine Damen und Herren, dazu kommt, daß in den neuen Bundesländern speziell Frauen — das macht mich besonders traurig — vom Anstieg der Arbeitslosigkeit betroffen sind und daß darüber hinaus bundesweit die Länge der Arbeitslosigkeit, ein Faktor, der für die Betroffenen besonders zermürbend ist, deutlich zugenommen hat. Ich bin dem Kollegen Diller dankbar, daß er auch auf die Ausweitung des Programms — die Mittel dafür haben wir gemeinsam in den Haushalt eingestellt — hingewiesen hat. Ich denke, wir müssen auf diesem Weg, um dem Problem-
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16734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Ina Albowitzkreis gerecht zu werden, weiter Lösungen finden. Ich bin gern bereit dazu.Meine Damen und Herren, wurde noch Mitte des Jahres mit einem Anspringen der Konjunktur im Jahre 1994 gerechnet, so steht heute fest, daß die Zahl der Arbeitslosen bundesweit ansteigen wird. Als Reaktion darauf hat der Haushaltsausschuß in seiner „Bereinigungssitzung" die Mittel für Arbeitslosenhilfe um 1 Milliarde DM auf 12,135 Milliarden DM angehoben. Trotz allem konnte auch der Sozialhaushalt von Kürzungen nicht verschont bleiben. Denn das von den Koalitionsfraktionen im Oktober in diesem Hause beschlossene Sparpaket in einer Höhe von schon rund 21 Milliarden DM hat sich, was das Sparvolumen betrifft — Herr Kollege Diller, Sie haben das damals außerordentlich kritisiert, als ich das gesagt habe —, als nicht ausreichend erwiesen.Einer der Gründe, warum in den nächsten Wochen noch zusätzlich 5 Milliarden DM eingespart werden müssen, ist der Anstieg der Zahl der Arbeitslosen und der dafür notwendige Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit. Betrachtet man die Zuschußerhöhung des Bundes um über 7 Milliarden DM, dann ist es schon ein starkes Stück, meine Damen und Herren, wenn die stellvertretende DGB-Vorsitzende, Frau Dr. EngelenKefer, trotz und in Kenntnis der entsprechenden Beschlüsse des Haushaltsausschusses verlautbaren läßt, der Ausschuß boykottiere die sozial verantwortbaren Beschlüsse von Vorstand und Verwaltungsrat der Bundesanstalt. — Das Gegenteil ist der Fall!
— Ja, genau.In die „Feststellung des Haushalts der Bundesanstalt" hat die Selbstverwaltungskörperschaft erhebliche Mittel zu Lasten des Bundes eingestellt und dies in trauter Gemeinsamkeit — ich kritisiere das ausdrücklich — von Arbeitgebern und Arbeitnehmern beschlossen.
Es ist einfach, sich auf fremde Rechnung neue Kleider zu kaufen.
Konnte die Bundesanstalt für Arbeit 1985 noch einen Haushaltsüberschuß von 2,3 Milliarden DM aufweisen, so wird von der Bundesanstalt für das Jahr 1994 ein Defizit von insgesamt 24,7 Milliarden DM eingestellt. Dieses Defizit muß der Bund aus Steuermitteln abdecken. Daher muß die Frage gestattet sein, wie es dazu kommen konnte.Vor dem Hintergrund dieses Fehlbetrags hat der Haushaltsausschuß mit den Stimmen der Koalition einen gesetzlichen Automatismus — jetzt wäre ich vor allen Dingen den Kollegen der Opposition dankbar, wenn sie zuhören würden —, der Betriebsmitteldarlehen mit Ablauf des Haushaltsjahres automatisch in nicht rückzahlbare Zuschüsse verwandelte, aus dem Haushalt gestrichen — nicht zuletzt deshalb, um die Ausgabenmentalität der Bundesanstalt in die richtigen Bahnen zu lenken.Das jetzt noch zusätzlich zu den Zuschüssen eingestellte Liquiditätsdarlehen von 8 Milliarden DM deckt Schwankungsfehlbeträge und zwingt die Bundesanstalt zu klarer Haushaltsführung. Außerdem muß sie uns Bericht erstatten.
Es geht mir aber nicht um Schuldzuweisungen jedweder Art. Die bringen uns in der Sache — und da sollten wir uns in diesem Hause einig sein — nicht weiter. Nach dem Motto jedoch „Schneidet endlich alte Zöpfe ab!" ist es längst Zeit, die Struktur der Arbeitsverwaltung insgesamt einer genauen Wirtschaftlichkeitsprüfung zu unterziehen.
Der Haushaltsausschuß hat daher den Bundesrechnungshof aufgefordert, das neue Personalbemessungssystem der Bundesanstalt für die Abteilungen Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung und den Bereich Statistik, zunächst nur mit Geltung für die alten Lander, zu prüfen. Er hat darüber hinaus die Bemessung der Personalausgaben für die Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1994 vom Berichtergebnis des Rechnungshofes abhängig gemacht.Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofs" sind in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: Es ist von Verbesserungsmöglichkeiten, vom Klärungs- und Ergänzungsbedarf und — da horcht der Haushälter auf — dem Vorhandensein von Rationalisierungsreserven die Rede. Ich lese den Bericht so, daß eine qualitative Verbesserung der Arbeit der Bundesanstalt gerade in den Bereichen Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung angemahnt wird. Das ist genau das, was wir schon längst gefordert haben.Ich halte es für unvertretbar, daß in Anbetracht der vielen Menschen, die heute ohne Arbeit sind, die Bundesanstalt zwei Drittel der Zeit für die Arbeitslosenbetreuung und nur ein Drittel für die so wesentliche Arbeitsvermittlung aufwendet.
Hier müssen Strukturveränderungen dringend in Angriff genommen werden. Ich möchte den Präsidenten der Bundesanstalt auffordern, eine umfassende Organisationsüberprüfung durchzuführen. Der Modellversuch zur privaten Arbeitsvermittlung ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Herr Arbeitsminister, ich höre, daß Sie von Gewerkschaftsvertretern in Dortmund wegen des Standortes schon attackiert werden. Lassen Sie sich nicht irritieren, wir sind bei Ihnen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon ein Stück überschritten.
Ich weiß, Herr Präsident. — Ich möchte noch einen Schlußsatz sagen: Die Kontrolle der qualitativen Arbeitsverbesserung innerhalb der
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Ina AlbowitzBundesanstalt muß eine gemeinsame Aufgabe aller Fraktionen dieses Hauses sein. Ich finde, daran sollten wir ohne Polemik mitarbeiten.Vielen Dank.
Als nächster hat der Kollege Dr. Gero Pfennig das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine grundsätzliche Vorbemerkung machen und dann auch etwas zur Bundesanstalt für Arbeit sagen.
Zum Beitrag des Kollegen Schreiner möchte ich anmerken: Daß die Arbeitslosigkeit in den Staaten der Europäischen Union einen so hohen Stand erreicht hat, daß die Kommission der Europäischen Union die Schaffung von 15 Millionen neuen Arbeitsplätzen bis zum Jahre 2000 für vordringlich hält, wissen Sie. Die Mitgliedstaaten haben es aber abgelehnt, das als Leitlinie für ihre Wirtschaftspolitik verankern zu lassen, weil sie mit der Kommission darum streiten, wie die Arbeitsplätze geschaffen werden können. Trotzdem bleibt die Feststellung richtig, daß so viele Arbeitsplätze fehlen und geschaffen werden müssen.
Strittig ist der Weg zur Schaffung der neuen Arbeitsplätze gewesen. Unstrittig, Herr Kollege Schreiner, zwischen den Mitgliedstaaten ist gewesen, daß nicht die Regierungen verpflichtet werden können, sich selbst für neue Arbeitsplätze zu engagieren. Schon gar nicht wurde der Vorschlag des Kommissionspräsidenten Delors akzeptiert, für kredit- und/oder staatlich finanzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme 30 Milliarden ECU auszugeben.
Ich finde, das müßte die SPD in Deutschland auch einmal zur Kenntnis nehmen; denn unter den Regierungen der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union sind ja auch solche, die von der Sozialistischen Internationale gestellt werden. Auch die sind gegen den Kommissions-Vorschlag gewesen. Ich finde, es bringt überhaupt nichts, wenn die SPD unverdrossen versucht, uns in Deutschland derartige Arbeitsbeschaffungsprogramme als Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit zu verkaufen, verpackt in dem Begriff „Aufbau eines zweiten Arbeitsmarktes".
Meines Erachtens müßten Sie schon so ehrlich sein und sagen: Dahinter steckt nichts weiter als die traditionelle SPD-Forderung nach höheren Ausgaben, höheren Steuern und höheren Schulden — mit der voraussehbaren Folge, daß reguläre Arbeitsplätze verschwinden und neue reguläre Arbeitsplätze gar nicht erst entstehen können.
— Herr Kollege Schreiner, ich habe Ihnen vorhin, ohne Sie durch Zwischenrufe zu unterbrechen, genau zugehört. Ich hatte den Eindruck: Wenn Sie hier verlangen, die Bezahlung von Leistungen aus dem Bundeshaushalt selbst vorzunehmen, statt aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit, dann verlangen Sie das doch nicht deswegen, weil Sie die Beiträge
für die Bundesanstalt für Arbeit senken wollen, sondern weil Sie Spielraum für neue, staatlich finanzierte Beschäftigungsprogramme finden wollen.
Das heißt, Sie drücken uns durch das, was Sie hier vorschlagen, doppelte Kosten auf. Darüber sollte man schon ehrlich diskutieren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Wenn es nicht auf meine Zeit geht, bitte.
— Das geht nicht auf meine Nerven, Frau Kollegin, bestimmt nicht!
Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß die von mir in dem Beitrag soeben erneut erhobene Forderung von den Ministern Blüm und Rexrodt dem Grunde nach in der ersten Lesung des Bundeshaushalts im September dieses Jahres ebenfalls gestellt worden ist, und zwar mit der Begründung, hier handele es sich um systemwidrige Belastungen der sozialen Sicherungssysteme. Herr Blüm und Herr Rexrodt sind ausnahmsweise einmal in diesem Doppelgespann meine Kronzeugen. Stimmt Sie das freudig?
Herr Kollege Schreiner, Ihnen ist sicherlich genauso wie mir bekannt, daß nicht zwei Minister der Bundesregierung darüber zu entscheiden haben, wo welche Ausgaben getätigt werden, sondern daß dies immer noch dieses Haus hier macht. Das ist das Recht des Parlaments. Wenn dieses Haus Ausgaben an einer bestimmten Stelle einstellt, dann bleiben sie da auch.
Ich möchte fortfahren in dem, was ich soeben gesagt habe. Ich denke, über die Politik von CDU, CSU und F.D.P., die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft so zu gestalten, daß verbesserte internationale Konkurrenzfähigkeit auch zu mehr Arbeitsplätzen führt, besteht innerhalb der Europäischen Union absolut Übereinstimmung zwischen allen Regierungen der Mitgliedstaaten — egal, wer die Regierung und wer die Opposition stellt. Deswegen sollten wir auch in Deutschland damit fortfahren. Aufgabe der Wirtschafts-, Geld- und Lohnpolitik ist es, die Rahmenbedingungen herzustellen. Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik ist es, das Ziel zu unterstützen, für soziale Folgen von Arbeitslosigkeit Ausgleich zu schaffen oder der Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Aber Hauptziel muß doch immer die Heranführung an reguläre Arbeitsplätze bleiben.
Wir werden in Deutschland 1994 nach den Prognosen 3,7 Millionen Arbeitslose haben. 2 Millionen
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16736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Gero PfennigMenschen haben wir 1992 durch Arbeitsmarktpolitik vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. 1993 wird die Zahl eine ähnliche Größenordnung haben; 1994 liegt sie dank der 18 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt erneut in dieser Größenordnung. Es stehen 1994 insgesamt über 50 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik bereit, vorwiegend bei der Bundesanstalt für Arbeit, aber nicht nur dort.Gleichzeitig hat der Haushaltsausschuß in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit und der Selbstverwaltung große Anstrengungen unternommen, den Zuschußbedarf aus dem Bundeshaushalt besser zu kontrollieren und eine sparsamere und zielgerichtetere Verwendung aller Mittel zu fördern. Die Bundesanstalt hat inzwischen akzeptiert, daß sie wie alle anderen Bundesbehörden mit dem vom Bundestag bewilligten Geld im Rahmen ihres von der Bundesregierung genehmigten Haushalts auskommen muß und nicht zu Lasten des Bundeshaushalts vorgegebene Ansätze nach Belieben überschreiten darf. Damit ist das Prinzip der parlamentarischen Verantwortlichkeit wiederhergestellt, das im vorigen Jahr von der Bundesanstalt durchbrochen wurde.Es ist dem Präsidenten Jagoda in kürzester Zeit gelungen, eine größere Eigenverantwortlichkeit der Arbeitsämter herzustellen. Sie dient der flexiblen Reaktion auf den sich ständig verändernden Arbeitsmarkt, verhilft zu kontinuierlicher Mittelbewirtschaftung und Kontrolle der Ausgaben. Ich gehe deshalb davon aus, daß die von der Bundesanstalt erarbeiteten Haushaltsansätze für 1994 auch tatsächlich zutreffend sind und wir vor überraschenden Nachforderungen keine Angst zu haben brauchen. Ich hoffe, es wird sich so bewahrheiten.
Im übrigen darf ich Ihnen sagen, daß der Haushaltsausschuß davon überzeugt ist, daß angesichts eines Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit von über 100 Milliarden DM und eines Mitarbeiterstabes von fast 100 000 Bediensteten noch einiges Einsparpotential in der Verwaltung der Bundesanstalt selbst vorhanden ist.Die Kollegin Albowitz hat schon darauf hingewiesen, daß das Personalkonzept bei der Bundesanstalt neu zu gestalten ist. Es ist der Bundesanstalt aufgegeben, ihre 100 000 Bediensteten so zu gruppieren, daß in den neuen Bundesländern die notwendige Zahl von Bediensteten zur Verfügung steht. Überflüssige sächliche Verwaltungsausgaben hat die Bundesanstalt bereits selbst gestrichen. Üppige Neubauprogramme sind vom Haushaltsausschuß gekürzt worden. Der Neubau von Verwaltungsbauten wird zukünftig prinzipiell nur noch in den neuen Bundesländern möglich sein. Insgesamt soll sich die Bundesanstalt nicht mehr benötigte Bundesbauten zunutze machen.Die dadurch erreichten Einsparungen bei der Anstalt selbst und ihrer Verwaltung gehen in Milliardenhöhe. Dennoch werden für die neuen Bundesländer notwendige Investitionen vorgenommen. Ich halte dies für ein gutes Beispiel für eine Politik des Sparens und Gestaltens. Abgesehen von diesen Verbesserungen in der Arbeitsverwaltung selbst bleibt es fürmeine Begriffe Aufgabe des Bundestages, weitere Verbesserungen in der Arbeitsmarktpolitik herbeizuführen.Die Erfolge der Bundesanstalt in der Mißbrauchsbekämpfung können nicht darüber hinwegtäuschen, daß in manchen Bereichen zwar nicht mißbräuchlich Leistungen bezogen werden, aber völlig überflüssig Leistungen erbracht werden, weil Beschäftigungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. Das hat beispielsweise der sehr langsame Abfluß der Mittel aus dem 2-Milliarden-DM-Sonder-ABM-Programm des Bundes 1993 gezeigt. Darüber hinaus dürfte aber allen in diesem Hause bekannt sein, daß es genug Arbeitslose gibt, die gewillt sind, Teilzeitarbeit anzunehmen, dies aber aus Furcht vor geringerem Arbeitslosengeld bei eventuell erneuter Arbeitslosigkeit nicht tun. Ich meine, wir müssen hier gemeinsam neue Wege finden, um diese Sperre bei der Arbeitsaufnahme zu überwinden.
Darin sind wir doch wohl alle einig.Ich wünschte mir auch, daß wir alle gemeinsam bereit sind, die Arbeitsmarktpolitik daraufhin zu überprüfen, ob sie wirklich die Ausschöpfung aller Beschäftigungsmöglichkeiten zuläßt. Dabei, finde ich, ist es durchaus angebracht, von einigen speziellen Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern auszugehen. Ich finde es durchaus bemerkenswert, wenn beispielsweise der Geschäftsführer der Trägergesellschaft Schiffbau in Rostock seine Erfolge bei der Schaffung regulärer Arbeitsplätze als modellhaft auch für westdeutsche Krisenbranchen vorweist. Darüber sollte man nicht lächeln. Wir sollten vielmehr diese Erfahrungen aufnehmen und gemeinsam nach neuen Wegen in der Arbeitsmarktpolitik suchen. Ich glaube, daß im Endergebnis dadurch für die Förderung neuer Arbeitsplätze mehr geschieht als durch ständige Erhöhung der Geldmittel für die Bundesanstalt für Arbeit zur Durchführung traditioneller Arbeitsmarktpolitik.
Ich erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede beginnen mit dem Dank an all diejenigen, die am Zustandekommen dieses Haushalts mitgewirkt haben,
in erster Linie die Steuerzahler,
die Beitragszahler und die Berichterstatter, Frau Albowitz,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16737
Bundesminister Dr. Norbert BlümHerr Pfennig und Herr Diller, auch wenn er mich beschimpft hat.
— Ach, Herr Diller, die Gedenkreden, die Sie auf mich gehalten haben, habe ich alle schon überlebt.
Aber ich wollte ganz besonders meinem Freund und Kollegen Hans-Gerd Strube heute Dank sagen für zehn Jahre Einbringung des Einzelhaushalts 11 hier in den Bundestag. Er hat heute mit etwas Wehmut seine letzte Einbringungsrede gehalten. Das waren zehn Jahre solide Arbeit, zehn Jahre mit hoher Verantwortung, Augenmaß und Sinn für Proportionen. Herzlichen Dank!
— Ja, er kandidiert nicht mehr für den Bundestag.Nun, meine Damen und Herren, ich bin gefragt worden — obwohl ich diese Vergleiche gar nicht so mag, es hilft ja nichts für die Zukunft —, wie das in den Glanzzeiten 1982 war und wie das heute ist. Meine Damen und Herren, wenn der Sozialstaat 1990 in dem Zustand gewesen wäre wie 1982, hätten wir die deutsche Einheit gar nicht geschafft. Wir hätten in den Sozialkassen gar kein Geld dafür gehabt.
Wir mußten die Rentenanpassung verschieben. Sie haben in die Rentenkassen gegriffen! Das ist mir in zwölf Jahren nicht eingefallen. Sie haben den Bundeszuschuß gekürzt! Der Rentenklau spielt sich heute auf wie der Vorarbeiter der Wach- und Schließgesellschaft!
Und, lieber Kollege Schreiner, die größte Leistung — —
— Ich habe nicht in die Rentenkasse gegriffen. Dreimal dürfen Sie raten, wer in die Rentenkasse gegriffen hat. Der letzte Finanzminister, der in die Rentenkasse gegriffen hat
— nicht Rexmann! Machen Sie nicht Ihre Spiele, Herr Schreier, bleiben Sie bei der Sache! —, war der sozialdemokratische Finanzminister. Aber lassen Sie das!Der größte Erfolg dieser zwölf Jahre war die deutsche Einheit. Das war die größte Leistung des Sozialstaates seit Bismarck. Daß wir innerhalb weniger Wochen in der Lage waren, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung mit dem Idealismus und dem Engagement Tausender von Mitstreitern und Mitarbeitern aufzubauen, das ist die größte Leistung des Sozialstaates, von diesem Bundestag und dieser Koalition begleitet.
Frau Babel — die Schlußrede gibt mir immer Gelegenheit, auch auf viele wichtige Diskussionsbeiträge einzugehen — hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht: Die Höhe der Sozialausgaben sagt überhaupt nichts über ihre Qualität. In der Tat wäre sonst — wie Frau Babel sagt — Arbeitslosigkeit ein Beitrag zur Erhöhung der Sozialstaatsqualität.Drehen wir jetzt aber den Spieß wieder um: So wie Sie es darstellen, als hätten wir den Sozialstaat kurz und klein geschlagen, kann es allein deshalb nicht stimmen, weil jede dritte Mark dieses Haushalts für Soziales ausgegeben wird. Meine Damen und Herren— auch in der Öffentlichkeit —, nennen Sie mir einen Staat der Welt, der so viel für Soziales investiert! Ich würde Ihnen einen Teil meiner Redezeit zur Verfügung stellen, wenn Sie das könnten. Sie brauchen sich nicht anzustrengen, stürzen Sie sich nicht in Unkosten— es gibt ihn nicht, wenn man Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung hinzufügt.Der Sozialstaat wird jedoch nicht aus himmlischen Quellen finanziert. Er wird immer aus der Arbeit derjenigen finanziert, die jetzt arbeiten. Deshalb muß man doch jede Mark zweimal umdrehen, bevor man sie einmal ausgibt. Und je weniger arbeiten, um so höher steigen die Sozialausgaben. Aber je höher die Sozialausgaben sind, um so weniger arbeiten. Das ist der Teufelskreis. Diesen Teufelskreis versuchen wir mit diesem Sparprogramm zu durchbrechen. Schulden treiben Zinsen hoch, verringern die Investionen und vergrößern die Arbeitslosigkeit. Weniger Investitionen bedeuten weniger Arbeitsplätze. Wir sparen also für die Arbeitslosen. Das ist die erste Feststellung.Schulden treiben die Preise hoch. Deshalb sparen wir für Rentner, Sozialhilfeempfänger, kinderreiche Familien, Lohn- und Gehaltsempfänger. Das ist die zweite Feststellung.Meine Damen und Herren, die Kürzung beim Arbeitslosengeld macht weniger aus als die realen Einkommensverluste durch Preissteigerungen. Wenn wir die Preissteigerungen zurückdrängen, verhindern wir — um Ihr Lieblingswort zu gebrauchen — Lohnraub. Inflation ist Lohnraub. Unser Sparprogramm bedeutet Kampf dem Lohnraub; in der Tat. Durch die Inflation wurden immer die kleinen Leute betrogen.Jetzt will ich einmal die SPD zu den Schulden zitieren; seien Sie ganz gespannt. Auf dem Parteitag in Wiesbaden, der ja nicht 100 Jahre zurückliegt, sondern erst vor kurzem stattfand, wurde beschlossen: Haushalt entschlossen sanieren. — Das wurde kräftig beschlossen und beklatscht. Kurz nach diesem Beschluß heißt es: „Die Sparbemühungen der Bundesregierung sind die Neuauflage der Sparbemühungen des Reichskanzlers Brüning: Sie sind Kaputtsparen." Beide Male gab es Beifall.Diese Doppelstrategie ist sehr nützlich. Morgens verkünden die SPD-Grußredner beim Deutschen Industrie- und Handelstag: Sparen ist gut, es muß noch mehr gespart werden. Nachmittags beim DGB sagen sie: Sparen ist Kaputtsparen, ist Brüning. — Sie müssen nur achtgeben, daß Sie Ihre Grußreden nicht verwechseln. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben,
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16738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Norbert Blümwenn Sie nachmittags beim DGB das vorlesen, was Sie vormittags bei den Unternehmern gesagt haben!
Sie bieten für jeden etwas nach dem Motto: Was ihr wollt. Da geht es nach dem Prinzip: Mit dem Standort wechselt der Standpunkt, je nachdem, wo man redet.Sie müssen sich für oder gegen das Sparen entscheiden. Man kann nicht gleichzeitig in zwei Richtungen fahren. Ein solches Auto ist jedenfalls noch nicht erfunden. Selbst der Sozialismus hat es nicht zustande gebracht. Das ist der Versuch von Geisterfahrerei in der Zerreißprobe.
— Ich bewege mich auf Ihrem Niveau. Ich möchte Ihnen klarmachen, daß man nicht zugleich vorwärts und rückwärts fahren kann. Sie können nicht einerseits mehr Sparen verlangen und andererseits das Sparen attackieren.
— Das soll Ihnen weh tun, weil das eine Hilfe ist, zur Wahrheit zu finden.
Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen muß jeden umtreiben. Das betrachtet doch niemand als Erfolgsmeldung. Der Bundeszuschuß beläuft sich auf 18 Milliarden DM. Und da will jemand sagen, wir ließen die Arbeitslosen im Stich?Im übrigen: Der Bundeszuschuß wird durch die Steuerzahler finanziert.
Damit tragen die Höherverdienenden proportional mehr zur Abdeckung dieses Defizits bei, als hätte man eine Arbeitsmarktabgabe, die im übrigen noch nicht einmal ein Drittel des Bundeszuschusses von 18 Milliarden DM einbringt.
Herr Bundesminister, der Kollege Krause möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Minister, Sie sprechen wie viele andere Ihrer Vorredner auch von 4 Millionen Arbeitslosen. Sie können uns sicher sagen, wieviel Menschen exakt von der Bundesanstalt für Arbeit finanziert werden.
Das wollte ich gerade hinzufügen; insofern ist mir Ihre Vorlage sehr willkommen. Die allgemeine Arbeitsmarktpolitik entlastet den Arbeitsmarkt um 2 Millionen Arbeitnehmer. Hätten wir diese Arbeitsmarktpolitik nicht, hätten wir 2 Millionen Arbeitslose mehr. Sie sehen, daß unsere Arbeitsmarktpolitik in der Tat ein Rettungsboot ist. Aber sie ist nicht das Linienschiff. Wir sollten uns im Rettungsboot nicht heimlich einrichten.54 Milliarden DM werden für die Arbeitsmarktpolitik ausgegeben. Herr Diller hat die angeblich glanzvolle Vergangenheit angesprochen, als hätte es 1982 unter der SPD-Führung die rote Morgensonne gegeben, als gäbe es jetzt nur den schwarzen Abendhimmel unter Blüm. Ich kann Ihnen nur sagen — ich sage es ausdrücklich in Prozenten —: 1982 bezogen sich 13 % der Ausgaben der Bundesanstalt auf die Arbeitsmarktpolitik, heute sind es 23 %. In Zahlen ausgedrückt: Damals waren es 4,3 Milliarden DM, heute sind es rund 25 Milliarden DM.Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind gut; besser ist jedoch ein normaler Arbeitsplatz. Fortbildung und Umschulung sind gut; besser ist jedoch die Weiterbildung im Betrieb. Mit fast 10 Milliarden DM finanzieren wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, und noch einmal 1,5 Milliarden DM werden für § 249h AFG zur Verfügung gestellt. Und damit keine falschen Zahlen auftauchen: Es sind 60 000 AB-Maßnahmen im Westen und 210 000 im Osten. 15 Milliarden DM für Fortbildung und Umschulung, davon 280 000 Maßnahmen im Westen und 290 000 im Osten.Ich will dazu sagen, damit es mit meinem verehrten Kollegen Pfennig kein Mißverständnis gibt — wir machen das ja immer in großer Offenheit —: Ich bin in der Tat der Meinung, daß Fortbildung und Umschulung — das ist keine Frage von heute auf morgen — nicht von den Beitragszahlern, sondern vom Steuerzahler finanziert werden sollte. Die akademische Bildung ist seit eh und je vom Steuerzahler finanziert worden. Wieso zahlen die Arbeitnehmer ihre Fortbildung mit Beiträgen?Ich nehme immer als Beispiel: Wenn der Werkzeugmacher Norbert Blüm zum Bauzeichner umschult, bezahlt das der Beitragszahler. Wenn der Akademiker Norbert Blüm ein Zweitstudium beginnt, bezahlt es der Steuerzahler. Erkläre das, wer will!
— Sie brauchen keine Angst zu haben, ich schule im Moment nicht um; ich wollte das nur als theoretisches Beispiel bringen. Ich will noch lange in meinem Amt bleiben.
Das macht doch gar keinen Sinn. Bildung ist Bildung.Hier gäbe es in der Tat eine Entlastung bei den Lohnnebenkosten.
— Ich spreche über meinen Haushalt, und zwar auch mit den Perspektiven. Ich nenne nicht nur Zahlen, ich möchte diese Haushaltsdebatte auch mit Perspektiven verbinden. Das ist doch unsere gemeinsame Aufgabe.
Ich habe auch die Haushaltspolitiker nie als Erbsenzähler verstanden, sondern immer als Vertreter einer Politik, die die Weichen für Perspektiven, für Entwicklungen stellen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16739
Bundesminister Dr. Norbert BlümIch will auch davor warnen, den zweiten Arbeitsmarkt zu einem Billigarbeitsmarkt umzufunktionieren.
Herr Bundesminister, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage zu?
Gern. Bitte schön.
Es war gerade sehr interessant, Herr Minister Blüm, zu hören, wie Sie sich die zukünftige Gestaltung der Finanzierung von Bildung und Weiterbildung vorstellen. Wer soll denn dann nach Ihrer Meinung die Aufstiegsförderung vom Gesellen zum Meister bezahlen: der Mensch selbst, der Steuerzahler oder wie bisher die Bundesanstalt?
Hier gilt das gleiche Prinzip wie in der akademischen Bildung: Wenn es da BAföG gibt vom Staat, dann auch für den Meister. Dabei könnte ich mir durchaus vorstellen, daß man in beiden Systemen mehr zu Darlehen übergeht, weil ich glaube, daß diejenigen, die Aufstiegsbildung erfahren, bei höheren Einkommen später dem Staat zurückzahlen sollten, was er ihnen an Hilfe gewährt hat.
— Weil wir in der Tat sparen müssen und nicht alles bezahlen können. Aber es bleibt dabei, daß 15 Milliarden DM eine Rekordsumme sind.
Ich will kurz und ergreifend sagen, daß ich akademische und berufliche Bildung als die zwei Seiten einer Medaille sehe. Ich habe immer etwas dagegen gehabt, daß die Universitätsbildung höher als die handwerkliche Bildung gewertet wird. Das fängt bei der staatlichen Bewertung an.
Frau Kollegin Weiler, wollten Sie eine weitere Zwischenfrage stellen?
Ja.
Herr Minister Blüm, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten es auf Darlehen umstellen. Aber es ist doch ein Widerspruch, wenn Sie jetzt die Darlehen streichen, die bisher ermöglicht haben, daß Gesellen ihren Meister machen.
Ja, richtig.
Wenn Sie mit dem Sparen anfangen, dann doch etwas gerechter und nicht, wie in diesem Falle — das ist ja unser Vorwurf —, bei den Gesellen.
Wissen Sie, Frau Weiler, es ist so: Wo immer Sparen als Generalüberschrift steht, gibt es Beifall bei allen. Ich kenne aber überhaupt keinen konkreten Sparvorschlag, der nicht von einer Gruppe attackiert wird. Insofern habe ich es aufgegeben, Sparen mit Beifall zu verbinden. Sparen ist auch eine
Mutprobe. Das Notwendige muß auch gegen Widerstände gemacht werden.
Jetzt möchte der Kollege Reimann gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Minister, ich begleite Sie jetzt elf Jahre in Ihrer Funktion als Minister und habe öfter in diesem Plenum mit Ihnen gestritten, insbesondere über die Änderungen und Novellierungen des AFG. Es waren die Sozialdemokraten, die Sie in diesen elf Jahren ständig angehalten haben, dafür zu sorgen, daß versicherungsfremde Leistungen, wie beispielsweise die Sprachförderung für Aussiedler, Qualifizierungsmaßnahmen und dergleichen mehr, aus diesem Gesetz herausgenommen werden.
Ich weiß schon, was Sie sagen wollen; deshalb kann ich Ihnen die Antwort geben, Herr Kollege Reimann. Wir kennen uns so gut — —
Das auf den Steuerzahler abzuwälzen, haben Sie immer abgelehnt. Woher kommt jetzt Ihre Einsicht?
Herr Kollege Reimann, ich wollte Ihnen diese kleine Niederlage ersparen. Deshalb wollte ich Ihnen in die Arme fallen.Erstens. Die Sprachförderung haben wir tatsächlich in den Bundeshaushalt übernommen. Ihre Frage ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit.Zweitens. Das Nachholen des Hauptschulabschlusses ist eine klassische Fremdleistung; denn sie gehört zur allgemeinen Schulpolitik. Gegen die Herausnahme aus dem AFG, die wir durchgesetzt haben, haben sich die sozialdemokratisch regierten Länder mit großer Kraft gewehrt.Sehen Sie, wir wären besser bei dem alten Brauch geblieben: Wenn Sie Fragen haben, dann stellen Sie sie nicht hier im Bundestag, sondern wir machen es draußen in alter Kollegialität.
— Auch im zehnten Jahr haben die Sozialdemokraten dieser Verlagerung widerstanden,
gegen diese Herausnahme des Hauptschulabschlusses aus dem AFG Widerstand geleistet.Ich wollte noch ein paar allgemeine Bemerkungen machen. Eine allgemeine Bemerkung bezieht sich darauf, daß ich die Gelegenheit dieser Haushaltsdebatte auch nutzen möchte, vor einem vermeintlichen Patentrezept der Beschäftigungspolitik zu warnen. Ich nehme mit großem Unbehagen wahr, daß immer mehr Arbeitsmarktprobleme zu Lasten der älteren Arbeitnehmer gelöst werden. Ich war für Vorruhestand, ich war für Altersübergangsgeld, aber ich stelle jetzt plötzlich fest: In dem, was einmal als Notlösung
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16740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Norbert Blümgedacht war, richtet sich die Gesellschaft langsam häuslich ein. Die älteren Arbeitnehmer werden nicht mehr gebraucht. Deshalb müssen wir diesen Weg versperren, weil er sonst zur Gewohnheit wird, weil wir sonst das Alter abwerten. Das wäre in der Tat ein kultureller Verlust.
Für mich ist der Beschäftigungsort Nr. 1 das Unternehmen. Das ist ja auch die Lehre aus dem Zusammenbruch. Die staatliche Kommandowirtschaft hat nirgendwo funktioniert. Wieso wir ausgerechnet, wenn sie zusammenbricht, wieder nach diesen Mustern Ausschau halten sollen, die doch die Misere mit heraufbeschworen haben, verstehe ich nicht. Wir beseitigen doch gerade die Trümmer der Planwirtschaft in den neuen Ländern. Sollen wir denn die Trümmer der Planwirtschaft in den neuen Ländern mit den Methoden beseitigen, die diese Misere herbeigeführt haben? Das wäre doch geradezu Geisterfahrerei Nr. 2.
Wir brauchen Initiativen, Innovationen, Investitionen. Ich setze dabei sehr stark auf die kleinen und mittleren Betriebe. Die größten Arbeitsplatzverluste der letzten zehn Jahre hier im Westen sind Arbeitsplatzverluste bei den Großbetrieben, und die größten Arbeitsplatzgewinne liegen bei den kleinen Betrieben. Der größte Schub für den Arbeitsmarkt, wie er sich in den neuen Bundesländern anbahnt, liegt im Mittelstand; jetzt 137 000 Handwerksbetriebe mit 870 000 Beschäftigten. Das sind 60 000 Betriebe mehr und 450 000 Beschäftigte mehr als in der alten DDR.Was wir brauchen, ist geradezu ein Frühjahr für Produktinnovationen. Wir können nicht einfach nur die alten Klamotten weiterproduzieren. Diese Produktinnovationen kann der Staat nicht bewerkstelligen, aber er muß die Bremsen wegnehmen. Deshalb finde ich das Gentechnikgesetz meines Kollegen Seehofer — —
Meine Damen und Herren, man muß die Wahrheit verkünden, selbst wenn man unter Räuber gefallen ist.
Lassen Sie mich zum Arbeitsmarkt zurückkehren.
Ich kann Ihnen, Herr Minister, dieses Mikrophon leider nicht zur Verfügung stellen. Vor ein paar Minuten bekam ich die Nachricht, daß die Steuerungszentrale außerstande ist, die Saalmikrophone zuzuschalten.
Ganz offensichtlich ist bei dem Versuch, dies in Ordnung zu bringen, jetzt das Mikrophon am Rednerpult ausgefallen.
Mein Mikrophon ist im Augenblick offensichtlich das einzige, das funktioniert.
Ich kann dieses Mikrophon aber nicht dem Redner zur Verfügung stellen.
Unsere Anlage scheint wieder einmal — ich finde das ganz besonders bedauerlich, daß gerade ich hier an diesem Pult sitze — auszufallen.
Ich schlage vor, daß wir die Sitzung unterbrechen.
Ich kann, meine Damen und Herren, versuchen, die Technik zu überwinden, und ohne Mikrophon zu sprechen.
Zur Arbeitszeit: Ich halte die Verkrampfung auf die Frage „Wie lang ist die individuelle Arbeitszeit?" eher für eine Ablenkung. Die Preisfrage ist, wie wir es schaffen, Maschinenlaufzeiten von individuellen Arbeitszeiten zu trennen und dadurch Produktivitätsgewinne zu schaffen. Dafür brauchen wir individuellere Arbeitszeitformen als heute.
Wir brauchen geradezu einen Durchbruch für die Teilzeitarbeit, und zwar nicht nur in der naiven Form der Tagesteilung, sondern der Teilung über Wochen, über Monate und über Jahre.Ich habe es nie verstanden — ich wiederhole das hier —, wieso die Maurer im Winter, wenn sie sich die Knochen blaufrieren, dieselbe Wochenarbeitszeit haben wie im Sommer. Warum versöhnen wir nicht stärker die Arbeitszeit der Betriebe mit dem Lebensrhythmus der Menschen?
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Bundesminister Dr. Norbert BlümWarum hat ein 60jähriger dieselbe Arbeitszeit wie ein 20jähriger? Warum hat man zu Zeiten der Erziehung dieselbe Wochenarbeitszeit wie in Zeiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Diese Gesellschaft leidet an Kreativitätsmangel und Verkalkung.
Japan hat bei den Lohnkosten gegenüber der Bundesrepublik einen Vorteil von 40 %. Davon sind nur ein Drittel die eigentlichen Lohnkosten. In Wirklichkeit verschenken wir durch eine veraltete, im Kolonnendenken organisierte Arbeitszeit und durch eine alte Befehlsstruktur in den Betrieben große Produktivitätsgewinne. Wir brauchen nicht nur neue Produkte, wir brauchen auch eine neue, intelligentere, sozialere Arbeitsorganisation.
Herr Bundesminister, es ist nicht mehr eine Frage Ihrer Stimme, sondern inzwischen eine Frage der abgelaufenen Redezeit.
Ich habe noch so viel Stoff, daß Sie gar keine Zeit haben, alles anzuhören, was richtig ist und was im Sinne der Arbeitslosen gemacht werden muß.
Diese Regierung jedenfalls wird für die Arbeitslosen Politik machen. Wir wollen Arbeit für alle. Ich lade Sie ein, nicht zu meckern, nicht zu jammern und nicht zu beschreiben, sondern mit uns Lösungen der Probleme zu erarbeiten. Beschreiber haben wir genug, Beschreier auch; Bearbeiter brauchen wir.
Ich schlage Ihnen vor, meine Damen und Herren, wir stimmen noch über diesen Einzelplan ab.
Ich bekomme die Nachricht, daß für das Inordnungbringen der Lautsprecher- und Mikrophonanlage etwa eine halbe Stunde benötigt werden wird — so Gott will.
Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 11, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt für den Einzelplan 11? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 11 ist angenommen.
Ich unterbreche die Sitzung für 30 Minuten.
Wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort. Ich muß Sie aber darauf hinweisen, daß wir das unter technisch etwas eingeschränkten Umständen tun. Das heißt, daß Zwischenfragen nur von den stehenden Saalmikrophonen aus gestellt werden können, und selbst da wäre ich mir nicht ganz sicher.
— Ja.
Ich rufe auf:
Einzelplan 15
Bundesministerium für Gesundheit — Drucksachen 12/6015, 12/6030 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Roland Sauer
Uta Titze-Stecher
Dr. Wolfgang Weng
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Kollegin Uta Titze-Stecher das Wort.
Nein, nein, Rudi, das ist die Technik, und zwar die andere.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr hat es Rudi Walther getroffen.
— Erst Theo Waigel, dann dich, Rudi. Diesmal trifft es einen Abgeordneten zu Fuß, nämlich mich. Mir wurde gesagt: Solange das Mikrophon funktioniert, leise sprechen, wenn es nicht mehr funktioniert, laut sprechen. Ich traue mir beides zu, weil ich eine sonderschulerprobte Stimme habe.
— Das habe ich nicht gesagt, Kollege Rudi Walther.Haushaltsdebatten, zumindest aber die Beiträge der Mitglieder des Haushaltsausschusses, zeichnen sich im allgemeinen durch den diskreten Charme von Sachverstand, Nüchternheit und Unaufgeregtheit aus.
Diesmal ist alles anders, nicht nur heute, auch an den vergangenen Tagen. In dem mir überschaubaren Zeitraum — das sind die letzten drei Jahre — hat es noch nie soviel Polemik und Unsachlichkeit gegeben, meine Damen und Herren von der Koalition, wie von Ihrer Seite in Richtung SPD.Nun geht es um Milliarden, viele Milliarden, je nach Einzelplan, und ich verstehe auch, Herr Kollege Hoffacker, daß es dabei Emotionen gibt. Schließlich ist ja jede haushaltspolitische Entscheidung für die, die sie betrifft, relevant, in positiver oder negativer Hinsicht. Wenn Sie jedoch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sich Ihrer haushaltspolitischen Entscheidungen so sicher wären, wie Sie tun, warum dann die Aufgeregtheiten und Ausfälle gegenüber der Opposition? Der Haushalt trägt doch Ihre Hand-
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16742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Uta Titze-Stecherschrift, nicht unsere. Sie verantworten ihn doch, nicht wir.
Vielleicht äußert sich aber in der Haushaltsdebatte diesmal etwas, was Ihr Verhalten in den letzten Tagen und an diesem Tag erklären kann, nämlich der Frust darüber, daß Sie mit Ihrer Zustimmung zu der globalen Minderausgabe Ihrer eigenen Entmündigung als Parlamentarier zugestimmt haben.
Dann allerdings sind wir die falsche Adresse. Der Adressat muß dann der Finanzminister sein, der Ihnen — und uns natürlich auch — diese schallende Ohrfeige versetzt hat.Da setzen sich die Berichterstatter zusammen, ringen ernsthaft um die Eckpunkte des jeweiligen Haushalts, sparen auch, zum großen Teil sogar einvernehmlich — wir verstehen ja auch etwas vom Sparen; ein großes Kompliment an meine beiden Kollegen in dieser Berichterstatterrunde, Herrn Weng und Herrn Sauer, mit denen ich die meisten Einsparungen gemeinsam vollzogen habe —, ja, und dann kommt eine solche haushalterische Keule wie die globale Minderausgabe. Ich frage Sie: Wissen Sie eigentlich, was Sie damit anrichten? Die Haushaltsberatungen im Haushaltsausschuß, aber nicht nur die, auch die Berichterstatterrunde, werden damit im nachhinein zur schlichten Farce erklärt.
Es ist ja nicht so, daß die SPD den Zwang zum Sparen und zur Haushaltskonsolidierung nicht einsehen oder akzeptieren würde. Auch wir würden sparen müssen, zweifelsohne. Nur würden wir anders sparen, vor allem woanders, und uns schon gar nicht durch das Instrument der globalen Minderausgabe das originäre Recht des Parlaments auf Haushaltsgestaltung, und zwar — hören Sie genau zu — bis ins Detail, aus der Hand schlagen lassen.
— Das hatten wir schon öfter in der vergangenen Woche, Kollege Jungmann; es wird aber nichts nützen, die anderen trommeln ihre Leute zusammen, und dann sind wir wieder in der Minderheit.
Wir sind Realisten und keine Utopisten, Herr Kollege Jungmann; wir warten auf das nächste Jahr. Dann werden es die Wahlen schon bringen.
Im Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit werden laut Regierungsentwurf die Ausgaben für 1994 um 213 Millionen DM auf rund 851 Millionen DM sinken, werden also um diesenBetrag gesenkt. Nun könnte man ja daraus folgern: Ei, da wird gespart, es ist eine schöne Sache. Man muß aber ganz genau hinschauen. Einmal wird bei den Mitteln für die allgemeinen Bewilligungen erheblich abgespeckt und dort bei einer Titelgruppe, bei der es mir bereits in der Vergangenheit hart angekommen ist und gegen deren Kürzung ich immer Einspruch erhoben habe, nämlich bei der Titelgruppe Aids-Bekämpfung. Konkret bleiben von den 50,5 Millionen DM, die wir in diesem Jahr alles in allem zur Verfügung hatten, im nächsten Jahr nur noch 31 Millionen DM übrig.Hinzu kommen Einsparungen, die ich als kosmetische Einsparungen, praktisch als ,,Pseudo-Einsparungen'', bezeichnen möchte. Die Leistungen des Bundes für Aufwendungen nach dem Mutterschutzgesetz sinken nämlich von 215 Millionen in diesem Jahr auf nur noch rund 10 Millionen im nächsten Jahr. Ich weiß, was jetzt von Ihnen, Herr Hoffacker, kommen würde, wenn Sie es sagen dürften: Ja, aber die Leistungen für die Betroffenen bleiben.
— Sie nicken, Herr Hoffacker. Nur, was Sie da tun, ist eine haushaltspolitische und ordnungspolitische Schweinerei.
Ich muß es so bezeichnen. Wissen Sie, warum? Wenn sich der zuständige Arbeitsminister Blüm hier hinstellt und ständig von der Kassenbelastung redet — —
Frau Kollegin, hier sind die Sitten in letzter Zeit etwas strenger geworden.
Ich habe niemanden beleidigt. Ich habe niemanden persönlich gemeint, Herr Präsident.
Einen Moment, meine Damen und Herren. Ich will nur sagen: Hier sind die Sitten in letzter Zeit etwas strenger geworden, und wir gehen mit dem parlamentarischen Vokabular etwas behutsamer um. Ich fände es gut, wenn Sie diesen Ausdruck etwas relativieren könnten.
Eine ordnungspolitische und haushaltspolitische Mogelei. Wissen Sie, warum? Sie wissen das selbst genau. Der Herr Minister weiß, daß ein Bestandteil des von allen Parteien getragenen Lahnsteiner Kompromisses zum Gesundheits-Strukturgesetz war, die Beitragsstabilität in der gesetzlichen Krankenkasse auf sozialverträglichem Niveau zu gewährleisten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16743
Uta Titze-StecherGenau das, was Sie, Herr Minister, jetzt allerdings mit der Verschiebung der Aufwendungszuschüsse aus dem Bundeshaushalt an die sozialen Kassen tun, ist ein eindeutiger Bruch der zuvor getroffenen Vereinbarungen. In einer Phase, in der die sozialen Krankenversicherungen gerade erste Schritte in Richtung einer finanziellen Konsolidierung machen, bürden Sie den Kassen gleichzeitig Lasten in Millionenhöhe auf— Herr Hoffacker, Sie haben genickt —, ohne daß dadurch die Leistungen für die Versicherten verbessert würden.
Das meine ich mit „haushaltspolitischer Mogelei". Es hat nichts mit Haushaltsklarheit zu tun, sondern schon eher mit der Taktik des Verschiebebahnhofs, die Sie sehr oft anwenden. Der Bund entledigt sich hier originärer Aufgaben zu Lasten der Krankenkassen.
— Ich kann sehr schlecht hören, weil ich befürchten muß, das Mikrophon fällt aus, Herr Kollege Sauer. — Diese Ausrede hat bisher noch keiner gebrauchen können; ich nehme sie in Anspruch.Eine Bemerkung am Rande: Die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition betonen ja immer sehr vollmundig ihre Familienfreundlichkeit.
Bei einer solchen Maßnahme entlarvt sich das, ebenso das Gejammere über die hohen Lohnnebenkosten. Dann sollten Sie eben nicht das machen, was Sie in diesem Fall getan haben, sie nämlich zu erhöhen, indem Sie die Versicherungssysteme mit kassenfremden Leistungen strapazieren.Zurück zur globalen Minderausgabe: Meine konkrete Frage an Sie, Herr Seehofer, lautet: Wo genau kann in diesem kleinen Einzelplan 15, Gesundheit, gespart werden?
— Ja, ich bin ja nicht verantwortlich. Diese Frage müssen Sie mir beantworten.Nun gibt es ja gesetzliche Verpflichtungen, aus denen können Sie natürlich raus, vorausgesetzt, Gesetze werden zuvor geändert. Das dauert, wie Sie wissen, und ist unbequem. Sie könnten auch Zusagen brechen. Ich hoffe, daß Sie sich dabei nicht gerade an Brandenburg vergreifen. Sie wissen, die Beratungshilfe für die Umstrukturierung der Polikliniken in Gesundheitszentren —
— bleibt. Ich bedanke mich. Sie haben das ja auch vor aller Öffentlichkeit, vor Zeugen zugesagt.Leichter ist es für Sie allemal, im Bewilligungsteil zu sparen, also bei den Zuwendungsempfängern. Das ist uns Haushältern klar. Nur, da haben wir auch schon in der Titelgruppe 12 enorm abgespeckt.Ich frage mich, wo dann: bei den gesundheitlichen Modellmaßnahmen, bei der Forschung zur Erkennung und Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten, bei den Maßnahmen auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung oder vielleicht bei der Verbesserung der Situation chronisch Kranker, bei den Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs oder wieder einmal bei der Aids-Bekämpfung? Das sind für mich alles wichtige und gleichgewichtige gesundheitspolitische Aufgaben.Ich denke, es darf nicht dazu kommen, daß Kranke gegen Kranke ausgespielt werden,
etwa nach dem Motto: Dem Stärkeren wird gegeben, und die betroffene Gruppe mit der größten Lobby hinter sich und mit dem lautesten Protestgeschrei wird am meisten geschont. Das darf nicht die Maxime Ihrer Einsparungen sein.Ich bin davon überzeugt, daß es auch im Einzelplan 15 Luft gibt, wenn man ehrlich an die Sache herangeht. Mir fallen dabei spontan Ausgaben für Kongresse und Ausgaben für die Datenverarbeitung ein, die sinnlos sind, wenn Sie nicht gleichzeitig auch Personalausgaben etatisieren.
— Staatssekretäre hat er ja nicht so viele.Mir fallen Ausgaben für Baumaßnahmen ein, die man — siehe die Bundesanstalt für Arbeit — abspekken, strecken und aufgeben kann. So manche Vorhaben ließen sich unter diesem Aspekt strecken. Und, Herr Minister, das, was bei Ihnen oft so leicht als Beratung klassifiziert wird, das ist oft das Geld nicht wert, weil es unnötig und ineffizient ist. Ich kann Ihnen da aus dem Nähkästchen erzählen.
— Wann? Da müssen Sie mir Zeit anbieten.
Auch im Einzelplan 15 sind Mittel für Aufgaben eingestellt, für die der Bund überhaupt nicht zuständig ist. Da freut es mich, vorhin von Herrn Blüm gehört zu haben, daß Akademiker für ihre Fortbildung selber zahlen sollten, und zwar auf Darlehensbasis. Wenn ich das höre, dann frage ich mich, warum in diesem Einzelplan beispielsweise die Förderung von Fortbildungsmaßnahmen für Ärzte nach der Approbation aus Steuermitteln bezahlt wird.
— Ja, ja. Qualitätsssicherung ist alles.Fazit: Sie könnten sparen, und das würden wir auch gemeinsam machen, jedoch vermutlich nicht an den Stellen, an denen Sie es tun werden. Die Chance, das in Ruhe zu überlegen, und zwar im Rahmen der Berichterstatterrunde und der anschließenden Haushaltsausschußrunde, wurde in unverantwortlicher Weise durch den Beschluß der globalen Minderausgabe verspielt.
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16744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Uta Titze-StecherIch komme zu einer Entscheidung der jüngsten Zeit, die auch in bezug auf zu erwartende Sparmaßnahmen genannt werden muß. Auf Drängen der SPD — wie Sie alle wissen — hat der Haushaltsausschuß einstimmig, was ich sehr begrüße, Mittel für die humanitäre Soforthilfe für die Opfer der Behandlung mit HIV- kontaminierten Blutprodukten in Höhe von 20 Millionen DM beschlossen, zwar nicht im Einzelplan 60, wie von der SPD bevorzugt — Sie wissen auch warum; da wäre es unangreifbar und von der Sparmaßnahme nicht so betroffen —, aber ich höre ja, der Minister will an diese 20 Millionen DM unter keinen Umständen herangehen. Sie bleiben.Sie alle haben sich dabei bewegt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, und zwar von den ursprünglich anvisierten 2 Millionen DM für die Sache hin auf 20 Millionen DM.In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Menschen Dank sagen, deren Namen hier im Haushalt nicht genannt werden, weil sie nicht Mitglieder des Haushaltsausschusses sind. Ich möchte ausdrücklich den beiden Gesundheitspolitikern Horst Schmidbauer und Paul Hoffacker danken,
die schließlich durch ihr Engagement den Minister und die Haushälter, die doch etwas auf Sparsamkeit bedacht sein müssen, überzeugt haben. Aber die 20 Millionen reichen nicht, sie reichen hinten und vorne nicht. Denn mit der Etatisierung sind neue Probleme entstanden, und zwar mit Ihrem Beschluß, das im Einzelplan 15 zu etatisieren.Eine Bemerkung zum Fonds, und zwar zur Höhe des Fonds. Der Bund, also der Steuerzahler, muß zunächst drei Jahre lang — —
— Ja, von was finanziert sich denn der Bund? Doch nicht von dem, was Sie heimlich im Keller drucken lassen könnten!
Der Bund will zunächst drei Jahre lang jährlich 20 Millionen DM für den Hilfsfonds zur Verfügung stellen. Auf meinen Antrag hin hat der Haushaltsausschuß einstimmig beschlossen, die Pharmaindustrie und die Versicherungswirtschaft aufzufordern, vergleichbare Beträge zum Fonds dazuzusteuern. In Zahlen denken wir: Wenn wir ein Drittel geben — also 20 Millionen DM der Bund —, dann sind die beiden anderen genannten mit ebenfalls je 20 Millionen DM dabei. Dann hätten wir 60 Millionen DM zur Verfügung.Dies ist deswegen notwendig, weil angesichts der schon heute bekannten 2 300 berechtigten Menschen und einer unbekannten Zahl weiterer potentieller Berechtigter — z. B. Infizierte durch Blutgerinnungsmittel oder Immunglobuline — dem Fonds sehr schnell die Luft ausgehen wird — das weiß der Minister selbst am besten —, abgesehen davon, daß nirgendwo anders die Anwendung des Verursacherprinzips wohl angemessener wäre als gerade in diesem Falle.
Wenn wir in den USA wären — da wäre dieses Thema ganz anders hochgezogen und behandelt worden.
— Die werden jetzt gleich klatschen. Jetzt kommt die Information, die vielleicht gefehlt hat, um zu klatschen.Als Konsequenz aus der Conterganaffäre haben die Versicherungen seit Ende der 70er Jahre — ich glaube, seit 1978 — einen Pharmapool far Arzneischadensfälle gebildet. Jahr für Jahr kassiert der Pharmapool 45 Millionen DM an Prämien. Jahr für Jahr! 75 % davon sind in steuerfreien Rücklagen angelegt.Dies alles sind keine Informationen von mir persönlich, sondern in den Ausführungen des Bundeskartellamtes nachzulesen. Das Bundeskartellamt schätzt die Einlage im Moment auf etwa 300 Millionen DM. Dennoch glauben diese Leute, sie könnten sich mit 50 Millionen DM, die sie bisher für die aidsinfizierten Bluter gezahlt haben — da ging es nur um die Bluter —, aus ihrer Verpflichtung herausstehlen. Deshalb ist es ja wohl nicht unbillig, angesichts dieser Finanzmenge die Versicherungswirtschaft daran zu erinnern, wozu das Geld eigentlich gedacht ist.Die Pharmaindustrie verhält sich noch schlechter. Sie hat gerade einmal 2 Millionen DM für den Fonds zusammengekratzt — für mich eine beschämende Summe angesichts der Tatsache, daß diese Firmen im Jahr round about 1 Milliarde DM am Geschäft mit dem Blut verdienen.Ich hoffe, Herr Minister, Sie gehen mit der gleichen Energie an die Verhandlungen mit diesen beiden Genannten wie an die Auflösung des BGA heran.
Unseren Segen haben Sie dazu, und zwar den gemeinsamen, den einstimmigen Segen des Haushaltsausschusses.Ich will ja nicht von der Zerschlagung des BGA reden. Ich liebe diese militaristische Ausdrucksweise nicht. Auf das BGA und Ihre Vorstellungen komme ich dann noch zurück; denn ich halte es heute mit Herrn Blüm, der sagte: Wir wissen ja nicht, wann die nächste Haushaltsdebatte sein wird, wann wir wieder das Vergnügen haben werden im nächsten Jahr. Wir haben deshalb vor, mehr über Perspektiven zu sprechen, als Erbsenzählerei zu betreiben, was man uns sonst gemeinhin nachsagt.Nun zum zweiten Problem, das mit der Etatisierung der 20 Millionen DM im Einzelplan 15 zusammenhängt. Ich habe da die Befürchtung — Sie könnten sie in Ihrer anschließenden Antwort zerstreuen, Herr Minister —, daß die 20 Millionen DM, die jetzt etatisiert sind, als Einsparung vielleicht im nächsten oder übernächsten Jahr ausgerechnet aus der Titelgruppe 12 geholt werden, aus dem Topf der Aidsbekämpfung, mit dem freundlichen Hinweis: Nun seid
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16745
Uta Titze-Stecherdoch einmal ruhig, wir haben ja gerade 20 Millionen DM draufgepackt.Davor kann ich nur warnen; denn solch ein Vorgehen würde in unseren Augen die Kranken spalten, und zwar in solche, für die die Hilfe des Staates zu Recht eingefordert und angeboten wird, weil sie Opfer von kriminellen Machenschaften mit verseuchtem Blut und Blutprodukten geworden sind, und in solche, die selbstverantwortlich für ihr Leiden sind.Wieviel Zeit habe ich noch, Herr Präsident?
Sie haben noch eine Minute.
Das darf doch nicht wahr sein. Ehrlich?
Heiterkeit)
Dann muß ich aber ganz schnell werden.
Ich denke, Sie gestatten mir als Haushälterin, Herr Minister, ein abschließendes Wort der Kritik zu Ihrem jüngsten Vorschlag — das muß einfach sein —, zu den geplanten gesetzlichen, quasi Reihenuntersuchungen, den obligatorischen Aidstests bei Blutentnahmen.
Ich denke, das bringt in der Sache nichts. Wissen Sie, warum? Weil Sie nicht auf Verdacht testen, sondern pauschal — also sowohl den 18jährigen Schüler als auch die 80jährige Oma.
Ich frage mich, was das politisch und gesundheitlich bringen soll, und warne Sie vor den finanziellen Kosten dieser pauschalen Reihentestung. Alleine die Krankenkassen meinen, daß ein Betrag von 400 Millionen DM jährlich anzusetzen ist. Mit diesem Vorschlag sind Sie ohne Rücksichten auf haushälterische Bedenken vorgeprescht. Da könnten Sie einsparen.
Ich denke, daß es sinnvoller wäre, die Vorschläge des SPD-Antrags aufzunehmen, die lauten:
Erstens die Schaffung einer nationalen Eigenversorgung mit Blut und Blutplasma — das haben wir formuliert. Selbst das Europaparlament geht inzwischen davon aus, daß angesichts des Skandals um aidsverseuchte Blutkonserven eine europäische Behörde für Blutsicherheit notwendig wäre.
Zweitens in diesem Zusammenhang die Novellierung des Arzneimittelgesetzes, woran Sie, soviel ich weiß, im Moment arbeiten.
Ein aktuelles Wort zum BGA. Sie sind der Vorgesetzte einer Riesenbehörde mit etwas über 3 000 Mitarbeitern. Mich wundcht ein Wort — wie soll ich es sagen? — zu denen gert, daß in der ganzen Zeit der Skandalchronik niefallen ist, die ihre Arbeit Tag für Tag anständig erledigen.
Den Menschen, die mich als Parlamentarierin anschreiben und fragen „Was haben wir denn getan?", möchte ich sagen: Man könnte mit Kritik an das Ministerium daran erinnern, daß es verschiedene Gutachten gibt, die auf dem Tisch liegen. Das war alles vor Ihrer Zeit, Herr Seehofer, Sie sind hier nicht
persönlich gemeint. Aber insgesamt war doch bekannt, daß das BGA Schwachstellen hat, die ich als Berichterstatterin im Rechnungsprüfungsausschuß, zuständig für den Einzelplan 15 , nur zu genau kenne.
Wenn ich die unendliche Geschichte der Berichterstattung gerade zu diesem Institut nachlese, angefangen bei Frau Christa Vennegerts, dann wundert es mich, daß bis heute nichts geschehen ist. Ich setze in diesem Punkt auf Ihre Energie, Herr Minister.
Ich kann aus den Gründen, die eben formuliert wurden — ich habe jetzt keine Redezeit mehr —, nur noch sagen: Die SPD lehnt diesen Einzelplan, obwohl sie partiell mit einigen Entscheidungen zufrieden ist, ab, weil er Ihre Handschrift und nicht unsere trägt. Wir müssen eben ein Jahr warten, bis wir zustimmen können.
Ich erteile als nächstem dem Kollegen Roland Sauer das Wort. Herr Kollege Sauer — das sage ich auch an die Adresse der nächsten Redner —, da die Uhr am Rednerpult nicht funktioniert, richten Sie vielleicht gelegentlich einen Blick auf die Uhr da oben. Dann können Sie sich selbst ein bißchen mit orientieren. Ich rufe Ihnen dann aber von hinten zu, wie weit Sie sind.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wunder der Technik haben uns heute hier eingeholt, wenn man hier nun selbst die Zeit ablesen muß.Liebe Kollegin Titze, wir haben bei den Berichterstatter-Gesprächen so gut zusammengearbeitet, haben so gut gespart und diesen HIV-Fonds gebildet. Wenn wir nicht mitgemacht hätten und wenn wir das nicht so wesentlich erhöht hätten, dann könnte man heute nicht von einem Erfolg sprechen. Nun kommen Sie mit den Vokabeln „Schweinerei" usw. Ich glaube, das ist unseren Beratungen nicht ganz angemessen.
— Zurückgenommen, okay. Flegeleien hieß es dann.
— Mogeleien. Auch dies, glaube ich, ist nicht angemessen.Lassen Sie mich ein Wort vorneweg zu Ihrem sogenannten Verschiebebahnhof sagen. Die Leistungen beim Mutterschaftsgeld werden durch die wegfallende Erstattung nicht geschmälert. Dies muß man klar betonen. Die Krankenkassen übernehmen dies. Ich habe schon bei der ersten Lesung gesagt: Durch die positiven Auswirkungen des Gesundheits-Strukturgesetzes wird es so sein, daß sich die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung deswegen nicht erhöhen werden. Ich meine, man kann diesen Wegfall der Erstattung durchaus akzeptieren.
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16746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Roland Sauer
Die diesjährigen Haushaltsberatungen des Einzelplans 15 wurden von der erschreckenden Aidsaffäre überschattet. Das Schicksal der betroffenen Menschen, die durch Blut und Blutprodukte infiziert wurden, stand im Vordergrund unserer Überlegungen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden: Hier geht es letztlich um kriminelle Machenschaften einiger skrupelloser Pharmaunternehmen, die ohne Nachsicht zur Verantwortung gezogen werden müssen.
Zwei Lehren haben wir zusammen mit unserem Bundesgesundheitsminister aus diesem Aidsskandal gezogen: Zum ersten muß der von uns vorgeschlagene Untersuchungsausschuß Licht und Transparenz in die bedauerlichen Vorgänge bringen und schonungslos die Affäre aufklären, und zum zweiten haben wir im Haushaltsausschuß eine schnelle und unbürokratische humanitäre Soforthilfe für die Betroffenen beschlossen. Dabei übernimmt der Bund bei dem auf drei Jahre befristeten Fonds mit 20 Millionen DM den Löwenanteil.Dies kann sicher so nicht bleiben. So beteiligen sich z. B. die Länder lediglich mit 3 Millionen DM an diesem humanitären Hilfsfonds. Gerade angesichts der Arzneimittelaufsicht der Lander — ich denke hier besonders auch an das Land Rheinland-Pfalz mit dem Beispiel UB Plasma — kann dieser Beitrag der Länder nicht hingenommen werden, er ist viel zu gering.Geradezu verantwortungslos ist die Haltung der Pharmaindustrie, die mit Kleckerbeträgen ihrer großen Verantwortung gerecht zu werden glaubt. Zusagen von nur 2 Millionen DM sind nicht hinzunehmen.
Es ist auch skandalös, daß sich die Pharmaversicherungsgesellschaften bisher geweigert haben, sich überhaupt an diesem humanitären Hilfsfonds zu beteiligen. Dieser Hilfsfonds soll ja ohne Anerkennung einer Rechtspflicht — das ist ganz wichtig — eingerichtet werden. Bis wir hier zu einer einvernehmlichen Lösung kommen, bleiben 19,5 Millionen DM des Fonds gesperrt. Damit wird sich hoffentlich der Druck der Öffentlichkeit auf die Pharmaunternehmen und die Versicherungsgesellschaften erhöhen. Mit 500 000 DM sollen aber die Vorarbeiten für diesen Hilfsfonds praktisch anlaufen können, damit die Betroffenen auch wirklich ab dem 1. Januar 1994 diese Hilfe bekommen.Es kann auch nicht akzeptiert werden — ich sage dies mit gleichem Nachdruck —, daß sich das Deutsche Rote Kreuz an dieser Hilfsaktion nicht beteiligt. Sicher, das DRK hat sich an der nationalen AidsStiftung mit einer Summe beteiligt, aber als größter Blutspender kann es sich nicht achselzuckend zurückziehen.
Die finanzielle Absicherung der derzeit 1 800 durch Blut und Blutprodukte infizierten Menschen kann nur durch ein gemeinsames Handeln erfolgen. Hier geht es aber, urn das auch nochmals klar zu sagen, nicht umSchuldzuweisungen, sondern hier geht es um eine schnelle Hilfe für die betroffenen Menschen. Wir haben deswegen — das darf ich lobend sagen — im Haushaltsausschuß einen Antrag der Kollegin Titze angenommen, in dem wir die Bundesregierung nochmals auffordern, erneut nachdrücklich mit allen Beteiligten zu verhandeln, um höhere Zuschüsse zu erreichen.Noch ein Wort zur Opposition: Sie haben zum Teil Falschmeldungen produziert, indem Sie behaupteten, diese 20 Millionen DM für den Hilfsfonds würden bei den Mitteln für die Aidsbekämpfung abgezogen werden. Dies ist eine bösartige Unterstellung, da die Mittel der Aidsbekämpfung im Entwurf mit 31 Millionen DM festgeschrieben waren und auch heute noch voll mit 31 Millionen DM enthalten sind.Eine weitere wichtige Lehre, die wir aus den Vorgängen um Haemoplas und Co. ziehen: Nie wieder dürfen mit Aids-Viren verseuchte Blutprodukte weiterverbreitet oder gar verabreicht werden.Bundesminister Seehofer hat die Aidsaffäre mutig und entschlossen angegangen.
Er hat vor allem nichts vertuscht, und er hat so zur Klärung und Transparenz der Vorgänge beigetragen.Die Kritik der Ärzteschaft ist daher völlig verfehlt. Sie will sich damit aus ihrer Verantwortung stehlen. Der dem Minister gemachte Vorwurf, er habe eine HIV-Show abgezogen und den Aidsskandal erst zu einem solchen gemacht, indem er ihn künstlich aufgebauscht habe, ist geradezu lächerlich.Blut und Blutprodukte müssen künftig staatlich kontrolliert und überwacht werden. Von der Idee, die Blutversorgung ganz in staatliche Hände zu legen, halte ich allerdings nicht viel. Das Beispiel Frankreich sollte uns hier eine Lehre sein. Wir müssen zweigleisig fahren, einerseits mittels Versorgung durch Private und andererseits mittels gesteigerter Kontrolle durch den Staat.Darüber hinaus sind Spontankontrollen in Blutspendeeinrichtungen ebenso zu überlegen wie unangemeldete Überprüfungen von Firmen durch Länderbehörden. Hier kann man sich am Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika orientieren. Bei der Herstellung von Blutprodukten sind wir ja bis zu 60 % auf ausländische Importe, vor allem aus den USA, angewiesen. Wir müssen uns überlegen, wie wir den Bürgern gerade dort einen umfassenden Schutz zukommen lassen können.Die Arbeit des Untersuchungsausschusses wird in diesem Zusammenhang sicherlich noch Hinweise zutage fördern, die deutlich machen, wie und wo wir die Kontrolle der Herstellerfirmen intensivieren müssen. Vorhandene Sicherheitslücken müssen bei Bund und Ländern geschlossen werden. Der Fall von UB Plasma und anderen darf sich in der Zukunft nicht wiederholen. Ab dem 1. Juli 1994 werden deshalb die Vorschriften über die staatliche Chargenprüfung auch auf große Teile der Blutzubereitung ausgedehnt. Zwar werden die Prüfungen in den Händen der Hersteller-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16747
Roland Sauer
firmen verbleiben, doch werden wir die Kontrollmaßnahmen verschärfen.Hinzu kommt die Neufassung der Quarantäneregelung. Um Fehldiagnosen durch das vielzitierte diagnostische Fenster vorzubeugen, müssen lagerfähige Präparate einer Doppelprüfung unterzogen werden.Dies alles sind erste Schritte, die für die Zukunft die Versorgung mit Blutprodukten sichern sollen. Doch es kann noch mehr getan werden. Gefragt sind die Verbände. Ich denke hier an erster Stelle an die Ärzteschaft. Es sollte möglich sein, durch eine Oberprüfung des Therapiestandards sowohl die Verwendung als auch die Verschreibung von Blut und Blutprodukten zu reduzieren. Hier gilt es, das medizinisch erforderliche Mittelmaß zu finden, ähnlich wie wir es auch bei der Arzneimittelversorgung geschafft haben.Lassen Sie mich noch zur zweiten für die Sicherheit von Bluttransfusionen wichtigen Aufgabe der Ärzteschaft kommen. Damit meine ich die Spenderauswahl. Der Ansatzpunkt muß die sorgfältige Untersuchung des Spendewilligen sein. Der Vorschlag des Gesundheitsministers, einen Aidstest einzuführen, zielt keineswegs darauf hin, die Spender zu verprellen oder sie von vornherein in Mißkredit bringen zu wollen; denn damit ist doch keine namentliche Meldepflicht oder gar ein Zwangstest verbunden. Ich bin froh, daß der Präsident der Bundesärztekammer diesen Aidstest gestern als richtig und gut bezeichnet hat und sich zumindest in dieser Beziehung der Meinung des Bundesgesundheitsministers anschließt.
Wir sollten uns darüber im klaren sein: Es ist der Hilfsbereitschaft der vielen freiwilligen Spender zu verdanken, wenn Unfallopfer oder Bluter überhaupt noch mit den für sie lebenswichtigen Präparaten versorgt werden können.
Trotzdem möchte ich betonen: Risikogruppen haben bei der Blutspende nichts zu suchen. Dafür ist dies eine zu ernste man kann fast sagen: todernste — Angelegenheit, gerade weil die Antikörper bei einer Infektion nicht sofort anschlagen.Ich appelliere an alle, den Blutspendedienst nicht in Mißkredit zu bringen, nur um sich an ihm zu bereichern. Die Ärzte sind daher zu scharfen Kontrollen aufgerufen. Diese liegen schließlich im Interesse aller Beteiligten.
Lassen Sie mich ein Wort zu den versicherungstechnischen Aspekten im Falle einer HIV-Ansteckung sagen. Hier sind noch einige Fragen offen, was Fahrlässigkeitsprobleme und Beweislast angeht. In einem Musterprozeß sollten sich diese Fragen klären lassen.Angesichts der Verweigerungshaltung der Versicherungen, sich bei der Einrichtung des Hilfsfonds in angemessener Weise zu beteiligen, ist die Absicht vonHorst Seehofer zu begrüßen, HIV-Infizierte juristisch und finanziell bei einem solchen Musterprozeß zu unterstützen.Ich halte es im Interesse der Geschädigten für ebenso richtig, das deutsche Haftungsrecht neu zu formen und umzugestalten.
Der letzte Aspekt der Sicherung von Blutpräparaten bezieht sich auf die Eigenblutspende. Wenn Operationen im Vorfeld absehbar sind, müssen die Ärzte viel eher an ihre Patienten herantreten, um sie über die Möglichkeit der Eigenblutspende zu informieren.Wenn wir all dies in der Zukunft umsetzen, können wir uns wieder auf die Sicherheit der Blutversorgung verlassen.Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Umgestaltung des Bundesgesundheitsamtes sagen.
Ihre Redezeit ist beendet.
Zwei Minuten noch. — Danke schön.Der Bundesgesundheitsminister hat in einem mutigen Schritt die Absicht geäußert, das Bundesgesundheitsamt 1994 aufzulösen und die ihm zugehörigen Institute neu zu strukturieren. Wir begrüßen diese rasche und energische Entscheidung und sagen schon heute eine zügige Beratung des Gesetzentwurfes im nächsten Jahr zu.Es geht hier nicht darum, bewährte Institutionen zu zerschlagen, liebe Kollegin Titze, und Wissenschaftler von hohem Renommee zu entlassen. Diese Maßnahmen dienen vielmehr dazu, die Kontrolle dieser Einrichtungen durch das Ministerium sicherzustellen. Wir werden angesichts der prekären Finanzlage bei den Überlegungen allerdings nicht umhinkommen, neben den fachwissenschaftlichen Aspekten auch die haushaltsrelevanten Gesichtspunkte zu beachten. Die Arbeitsabläufe von Instituten müssen rationalisiert, deren Effektivität gesteigert und Kosten eingespart werden. Es ist zu prüfen, ob der Umfang der Verwaltung reduziert werden kann. Entlassungen — ich sage dies — können dabei kein Tabu sein. Auflösung und Umstrukturierung dürfen zu keinen Mehrausgaben führen.
Das Ziel heißt, mit einer strafferen Struktur eine effizientere Arbeit zu leisten. Statt der bislang sechs Institute und einer großen Anzahl von zentral geleiteten Dienststellen sollten wir die Zahl auf vier neue Institute reduzieren. Von diesen sollten drei dem Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums und eins, nämlich das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, dem des Bundesumweltministeriums zugeordnet sein. Durch diese Zusammenlegung von Instituten wird dem Gedanken der Rationalisierung Rechnung getragen. Die künftigen Bundesinstitute dürfen in ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit aber nicht angetastet werden. Deren interne Vorgänge und Forschungsvorha-
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ben müssen künftig jedoch transparenter und kontrollierbarer gestaltet werden.
Die Zeit ist um.
Hierzu ist die intensivere Fach- und Dienstaufsicht der beiden Ministerien erforderlich.
Einen letzten Satz: Der Haushalt des Gesundheitsministeriums ist ein Sparhaushalt. Während der Haushaltsberatungen haben wir nochmals einvernehmlich 8 Millionen DM eingespart.
Dennoch setzt dieser Haushalt wichtige Akzente. Ich nenne hier drei wichtige Punkte.
Bitte keine mehr! Die Zeit ist ein gutes Stück überschritten. Nur noch einen Satz.
Genau, das ist der letzte Satz: Die Forschungsvorhaben gegen neue Infektionskrankheiten, die Förderung der medizinischen Qualitätssicherung und die Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie, die in besonderem Maße den Menschen in den neuen Ländern zugute kommen.
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein oberflächlicher Blick auf das Haushaltsvolumen des Bundesministeriums für Gesundheit könnte zu der Befürchtung Anlaß geben, die Bundesregierung widme der Gesundheit weniger Aufmerksamkeit. Selbstverständlich würde ich mir als Gesundheitspolitiker wünschen, daß dem Ministerium mehr Mittel zur Verfügung stünden. Aber Politik ist immer nur die Kunst des Machbaren, und die Machbarkeit bewegt sich derzeit nun einmal — nicht nur im Bereich der Gesundheitspolitik — im Rahmen der Gesamtsituation der Finanzen.Dennoch ist es unter diesen Voraussetzungen gelungen, einen ausgewogenen Finanzrahmen für das Bundesministerium für Gesundheit aufzustellen, mit dem auch weiterhin Akzente gesetzt werden können. Das, denke ich, ist vor allem wichtig. Ich möchte dies ausdrücklich betonen: Dieser Plan des Gesundheitsministeriums findet die Zustimmung der F.D.P.-Fraktion.In einem freiheitlichen Gesundheitswesen wie dem unseren zählt es nicht zu den Aufgaben des Staates, Gesundheit von oben zu oktroyieren, sondern es gilt, Eigenverantwortung und Vorsorge zu fördern und darüber hinaus eine Aufsichtsfunktion zu erfüllen.
Mit den im Haushalt vorgesehenen Mitteln wird dies,so denke ich jedenfalls, im kommenden Jahr gelingen.Der Staat besitzt zudem eine Fürsorgepflicht gegen-über seinen Bürgern, auch und insbesondere im Bereich der Gesundheit. Damit komme ich zu einem Thema, das in einer gesundheitspolitischen Debatte im Herbst des Jahres 1993 nicht ausgespart bleiben kann.Es ist ebenso begrüßenswert wie vor dem Hintergrund der allgemeinen Finanzsituation beachtlich, daß innerhalb kurzer Zeit ein Fonds zur Soforthilfe für die Opfer aus der Behandlung mit HIV-kontaminierten Blutprodukten in den Haushalt des Gesundheitsministeriums eingestellt wurde. Der einstimmige Beschluß des Haushaltsausschusses, den Blutern und Transfusionsopfern noch vor einer endgültigen Regelung, deren Ausgestaltung Aufgabe des kürzlich eingerichteten Untersuchungsausschusses sein wird, rasche Hilfe zuteil werden zu lassen, sollte an dieser Stelle Anlaß sein, auch die Beteiligung der Bundesländer, der Pharmaunternehmen und der Versicherungswirtschaft an diesem humanitären Fonds anzumahnen.
Das Bundesgesundheitsministerium hat seit Bekanntwerden der Ereignisse im Zusammenhang mit den HIV-verseuchten Blutprodukten bewiesen, wie wichtig es ist, Vorgänge, die die Gesundheit der Menschen direkt betreffen, aufzudecken. Ich betone dies auch deshalb, um klarzumachen, wie unangemessen die zum Teil diffamierenden Angriffe hinsichtlich der Vorgehensweise des Ministers Seehofer in der Vergangenheit waren.
Die Geschehnisse der zurückliegenden Wochen müssen uneingeschränkt aufgeklärt und alle wirksamen Möglichkeiten zur Vorbeugung genutzt werden, damit eine größtmögliche Sicherheit bei der medizinischen Behandlung mit Blut oder Blutprodukten wiederhergestellt wird, ohne dabei allerdings in kurzfristigen Aktionismus zu verfallen.Im Rahmen eines zu entwickelnden Gesamtkonzeptes ist eine der Aufgaben des Gesetzgebers die Novelle des Arzneimittelgesetzes. Blut und Blutprodukte müssen in ihrer Behandlung den Impfstoffen und Seren gleichgestellt sein. In diesem Zusammenhang muß geprüft werden, inwieweit die Kompetenzen der zuständigen Behörden erweitert, Kontrollmöglichkeiten bei den Herstellern der Präparate ermöglicht und in welchem Maße die Eigenblutversorgung Deutschlands unter nichtkommerziellen Bedingungen erreicht werden kann.Ziel aller Anstrengungen muß letztendlich sein, durch den weitestgehenden Ausschluß möglicher Risiken das Vertrauen in die oftmals lebensrettende und lebensverlängernde Behandlung mit Blut und Blutprodukten zurückzuerlangen.
Sollte es darüber hinaus notwendig sein, zusätzliche Mittel für Aufklärungsmaßnahmen aufzuwenden, wird die F.D.P. dies ausdrücklich unterstützen, und
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Dr. Bruno Menzelsicherlich sollten wir bei allen Überlegungen, die wir anstellen, uns in Deutschland insgesamt umsehen und schauen, wie denn in den einzelnen Ländern die Vorbeugungsmaßnahmen, die hier eben von meinem Vorredner eingefordert worden sind — nämlich die ärztliche Untersuchung, nämlich die Spenderauswahl, nämlich die Sicherheit im Transfusionwesen —, denn eigentlich organisiert sind, und selbstverständlich ist es so, daß jeder Spender auf HIV getestet wird. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Blutspende überhaupt, und darüber hinaus wollen wir ja, daß der Spender ein zweites Mal getestet wird, damit eben das diagnostische Fenster, das hier angesprochen wurde, geschlossen wird.Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen sagen, es gibt schon Länder in Deutschland, die sehr sorgfältig mit diesen Dingen umgehen, und daran sollten wir uns orientieren. Ich denke nur an das Bundesland, aus dem ich selbst komme.
Wir haben eine DRK-Blutspendezentrale in meiner Heimatstadt. Aus dieser Blutspendezentrale ist noch nicht eine einzige Infektion bekanntgeworden, und so möge es in Zukunft auch bleiben, und dafür wollen wir Sorge tragen.
Es sind aber nicht nur die Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Verseuchung der Blutprodukte, die die gesundheitspolitische Diskussion in diesem Jahr geprägt haben. Vor gut zwölf Monaten haben wir im Deutschen Bundestag über das Gesundheitsstrukturgesetz debattiert. Es ist gelungen, die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung zu konsolidieren, wenngleich die eigentliche Bewährungsprobe dieses zweiten Schrittes der Gesundheitsreform, eine wirkliche Neuorientierung hin zu einem auf Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität basierenden Gesundheitswesen, noch aussteht.Die Umsetzung des Strukturgesetzes hat verdeutlicht, daß die Menschen bereit sind, diesen Weg mitzugehen. Wir alle wissen, daß die Bereitschaft, höhere Ausgaben für die Gesundheit zu akzeptieren, in den letzten Jahren gewachsen ist. Es sind also weniger die Ausgaben für die Gesundheit insgesamt als vielmehr die stetig steigenden Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung bei gleichzeitiger gewisser Schrumpfung des Leistungskatalogs, die dringenden Handlungsbedarf erzeugen.Es wird in Zukunft immer mehr darauf ankommen, daß der einzelne weitestgehend darüber bestimmen kann, wieviel Geld er für welche Gesundheitsleistungen aufwendet. In der nächsten Reformstufe müssen wir deshalb ein viel größeres Maß an individueller Entscheidungsfreiheit ermöglichen.Unbestritten gibt es einen Teil der Bevölkerung, der schutzbedürftig ist, ganz besonders bei einem solch sensiblen Gut wie der Gesundheit. Für diesen Personenkreis muß eine vernünftige Absicherung der medizinisch notwendigen und zweckmäßigen Leistungen erfolgen. Ebenso unbestritten ist aber auch die Tatsache, daß nicht alle der heute in der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten — das sind ca. 75 % - als absolut schutzbedürftig anzusehen sind.Wir werden im nächsten Reformschritt darauf drängen, daß der besondere Schutz nur denjenigen zugute kommt, die aus eigenen Mitteln keine ausreichende private Vorsorge betreiben können. Für die anderen müssen größere Variationsmöglichkeiten, z. B. über Zusatzversicherungen, eingeräumt werden.
Tarife mit und ohne naturheilkundlichen Verfahren, mit und ohne Luxusversorgung bei Zahnersatz ganz nach den individuellen Bedürfnissen, das muß eines unserer Ziele sein. Eine von Staats wegen verordnete optimale medizinische Versorgung für jeden einzelnen kann es nicht geben. Warum also soll der Begriff der Eigenverantwortung nicht auch für die private Gesundheitsvorsorge eine steigende Bedeutung erlangen?
Eine andere, eher mittelbare Konsequenz des Gesundheits-Strukturgesetzes ist die wachsende Dialogbereitschaft der Ärzteschaft im Hinblick auf die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens. Nach anfänglichen Turbulenzen während des Gesetzgebungsverfahrens und nach Inkrafttreten des Strukturgesetzes scheinen somit nun die Voraussetzungen für einen konstruktiven und zukunftsorientierten Dialog zwischen Politik und praktisch Handelnden vorhanden zu sein. Dies ist auch dringend geboten; denn nur durch gemeinsames Wirken sind die vor uns liegenden Gesundheitsaufgaben in der Zukunft zu bewältigen.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch der Einzelplan 15 dieses Haushalts ist Teil des von der Bundesregierung eingeschlagenen radikalen Umverteilungskurses. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen: Das zeigt sich zuerst und am deutlichsten an der Streichung der bisher vom Bund an die Krankenkassen gezahlten Mutterschaftsgeldpauschale in Höhe von 205 Millionen DM. Immerhin führt das zu massivsten Kürzungen eines Teilhaushaltes überhaupt, und zwar in einer Größenordnung von 20 %. Mit anderen Worten: Der Staat zieht sich an einer weiteren Stelle aus seiner Verantwortung für das Funktionieren des Sozialstaatssystems zurück.Das allein wäre schon Grund genug, diesen Teilhaushalt abzulehnen; denn damit wird erneut ein Schritt in eine sozial und gesellschaftspolitisch grundsätzlich falsche Richtung getan — und das ganz unabhängig davon, daß die betroffenen Frauen das
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Dr. Ursula FischerMutterschaftsgeld weiter ausgezahlt bekommen, nunmehr allein von der Krankenkasse, und daß die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung dadurch im Moment nur unwesentlich belastet werden. Es bleibt richtig: Leistungen wie das Mutterschaftsgeld haben eigentlich nichts mit der Krankenversicherung zu tun. Sie gehören im Grundsatz aus Steuermitteln getragen und nicht von den Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenversicherung, wie selbst der Minister in der ersten Lesung eingeräumt hat.Das alles ist Teil eines verheerenden Weges, auf dem die Gefahr besteht, daß die Bundesregierung dieses Land geradewegs ins sozial- und gesellschaftspolitische Chaos steuert. Ich bin nach der Rede von Herrn Menzel davon noch stärker überzeugt.Im Falle des Gesundheitswesens werden den Menschen als nächstes tiefgreifende Einschränkungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung und noch viel stärkere Selbstbeteiligungen als bisher offeriert — und all das dann als vermeintlich einziger Ausweg aus einer angeblichen Unbezahlbarkeit sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung.Aber auch schon heute haben es Regierung und Koalition in ihrer Sozial- und Gesundheitspolitik dahin gebracht, daß es nur noch um Budgetierungen, Streichungen oder, wie im vorliegenden Fall, um Verschiebungen von Kosten von einem Etat auf den anderen geht. Das gleiche findet übrigens auch dann statt, wenn, wie gegenwärtig in Berlin und anderenorts praktiziert, das steuerfinanzierte öffentliche Gesundheitswesen weiter zugunsten von Leistungsanbietern reduziert wird, die letztlich ebenfalls über die Krankenversicherungen vergütet werden müssen.Immerhin werden dabei solche wichtigen Säulen des öffentlichen Gesundheitsdienstes wie kinder- und jugendärztlicher Dienst, sozialmedizinische Beratungsstellen, das Impfsystem und die staatliche Hygieneaufsicht weiter geschwächt und beseitigt. Nichts anderes als eine solche Finanzierungsverschiebung ist es schließlich, wenn die Länder Schritt für Schritt ihre finanzielle Verantwortung für die Krankenhausfinanzierung abgeben. Auch hier werden den Beitragszahlern plötzlich Lasten für neue Aufgaben aufgebürdet, die eigentlich gesamtstaatliche Aufgaben sind und bleiben sollten.Eine ganz andere Situation ergibt sich dagegen bei den dringlich notwendigen Entschädigungen für die Opfer HIV-infizierter Blutprodukte. Hier, wo in der Tat Versicherungen zahlen müßten, nämlich die Rückversicherer der Pharmaindustrie, müssen nun primär Bund und Länder im Namen des Steuerzahlers aktiv werden.Damit ich nicht mißverstanden werde: Natürlich begrüße ich die Einrichtung eines staatlichen Fonds für HIV-Opfer und die Tatsache, daß entgegen dem ursprünglichen Ansatz nun 20 Millionen DM gezahlt werden sollen.So anerkennenswert das auch ist, so sehr teile ich allerdings die von Uta Titze-Stecher geäußerte Befürchtung, daß die Etatisierung dieser Summe im Einzelplan 15 und noch dazu im Titel Aidsbekämpfung schlimme Folgen für die Höhe der Mittel habenkann, die künftig für diesen ursprünglichen Zweck der eigentlichen Aidsproblematik noch zur Verfügung gestellt werden.
— Das ist nachweisbar.
Im übrigen darf es ja wohl nicht dabei bleiben: Wenn es der Pharmaindustrie um ihre Rechte und um ihren Herr-im-Hause-Standpunkt geht, dann hält sie den Staat ohnmächtig und auf gebührende Distanz. Wenn es aber um dringlichste Hilfen für Arzneimittelgeschädigte geht, dann darf der Staat vorangehen und sich möglicherweise sogar allein der Verantwortung stellen.Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich fragen: Haben Sie einmal wirklich die Nachfolgekosten für diese ganze Problematik ausgerechnet? Wie werden Sie sie ausgleichen? Denn hier geht es nicht um Millionen, es geht sogar um Milliarden, und das wird von der gesetzlichen Krankenversicherung, also von uns allen, bezahlt. Das sehe ich nicht ein.Noch ein Wort zur Aidsbeämpfung: Bekanntlich ist dieses in keiner Weise bewältigte Feld bereits im vorliegenden Haushalt von erheblichen Kürzungen betroffen. Wenigstens das werden Sie nicht abstreiten. Wie Vertreter der Aidsstiftungen aber erst vor kurzem erneut mitgeteilt haben, verschlechtert sich die soziale Lage von Menschen mit HIV-Infektionen und Aidserkrankungen gegenwärtig in dramatischer Weise.
Frau Dr. Fischer, ich muß Sie jetzt bitten, sozusagen Ihre Phantasie spielen zu lassen und sich vorzustellen, daß da unten das rote Licht anfängt zu leuchten; denn ich bin nicht in der Lage, Ihnen dieses Zeichen zu geben.
Ich finde es sehr belastend, muß ich sagen. Wenn man hier redet, nur fünf Minuten Zeit hat und dann noch ständig auf solche Gegebenheiten achten muß, wird einem das Reden fast ganz unmöglich gemacht.
Ich habe ja volles Verständnis dafür. Ich wünschte mir, Ihnen dieses Signal optisch geben zu können; aber ich kann es nicht ändern. Die Zeit ändert sich aber nicht durch dieses Verfahren.
Fahren Sie einmal fort, bitte!
Meine Damen und Herren, das einzige, was neu aufgenommen wurde, sind die Zuschüsse zur Forschung auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten. Dem ist zuzustimmen, da auf diesem Gefährdungsfeld in der Tat ganz neue Herausforderungen entstehen können. Ich gebe allerdings zu bedenken, daß diese Förderung wieder einmal nicht mehr ist als der Tropfen auf dem heißen Stein.Am Schluß möchte ich nur noch ganz kurz ein anderes Problemfeld ansprechen: Wer eine hochqualifizierte medizinische Versorgung auch künftig bezahlbar halten will, der muß bereits heute für neue Strukturen und andere Denk- und Verhaltensweisen
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Dr. Ursula Fischerplädieren. Wo bleiben denn die Modellprojekte, meine Damen und Herren, wo es um neue kooperative Formen der Arbeit im ambulanten Bereich, aber natürlich auch um Krankenhausfinanzierung, um fach- und berufsübergreifende Versorgung geht?In der Ärzteschaft ist dazu immerhin eine bemerkenswerte Diskussion angelaufen.
Frau Dr. Fischer, ich muß jetzt ernsthaft auf die Zeit aufmerksam machen. Ich muß das einmal begründen, damit Sie das auch verstehen: Nach der jetzigen Geschäftslage endet das Plenum heute nacht nach 0.30 Uhr.
Ich bin davon besonders betroffen.
Eben; dann haben Sie sicher sehr viel Verständnis dafür. Bitte schön.
Selbstverständlich habe ich für das, was in diesem Parlament passiert, Verständnis; hierfür allerdings nicht.
Ich fordere von der Regierung an dieser Stelle, daß sie in der Forschung innovative Modellprojekte aufnimmt, die zur Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, zu ganz anderen Formen führen. Wenn sie das tun würde, dann wäre auch das Gesundheitswesen bezahlbar.
Die PDS/Linke Liste kann diesem Haushalt auf keinen Fall zustimmen.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Gesundheit Seehofer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben fast übereinstimmend in diesem Deutschen Bundestag vor gut einem Jahr ein Gesundheits-Strukturgesetz verabschiedet, das den allermeisten Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen massive Sparopfer abverlangt.Ich denke, wenn man Apothekern, Pharmaherstellern, Ärzten, Zahnärzten und zum Teil auch Patienten Sparopfer abverlangt, müssen ein Parlament und ein Ressortminister auch bereit sein, im eigenen Ressort zu sparen. Deshalb trage ich diesen Sparhaushalt vollinhaltlich mit. Ich denke, wir sollten nicht nur von Dritten und anderen das Sparen verlangen, sondern auch von dem Zuständigkeitsbereich, den wir selbst zu vertreten haben.
Dieses Mittragen fällt mir um so leichter, weil ich glaube, daß die wichtigsten gesundheitspolitischen Akzente sehr wohl auch weiterhin gesetzt werden können. Das gilt insbesondere auch für Aids, das nach meiner Auffassung die größte Herausforderung ist, vor der wir heute im Gesundheitswesen stehen.Aids ist nicht heilbar. HIV ist eine Infektionskrankheit, die von den Übertragungswegen her praktisch jeden treffen kann. Es gibt keinen Impfschutz gegenHIV; wir erwarten ihn in absehbarer Zeit auch nicht. Jeder Infizierte erkrankt früher oder später an Aids, und die Latenzzeit zwischen Infektion und Ausbruch von Aids kann bis zu 15 Jahren betragen.Die Summe dieser Merkmale macht Aids zur gefährlichsten Infektionskrankheit unserer Zeit. Diese gefährliche Mischung gibt es bei keiner anderen Krankheit. Deswegen, meine Damen und Herren, kann das Vorsichtsprinzip bei der Blutübertragung und Blutbehandlung nicht ernst genug genommen werden; denn der drohende Schaden wäre gewaltig, wenn wir dieses Vorsichtsprinzip nicht beachten.Wir brauchen auch in der Zukunft maximale Sicherheit. Jedes noch so kleine Risiko, das vermeidbar ist, muß vermieden werden. Wegen der langen Latenzzeit brauchen wir Frühwarnsysteme mit möglichst vollständigen Informationen über die Ausbreitung der Infektion und ihre Wege.Das Erschrecken über die hohe Zahl der infizierten Hämophilen in den 80er Jahren, als der HIV-Test schließlich zur Verfügung stand, sollte uns eine Warnung sein. Damals, bis 1985, gab es keinen Test. Wir haben ihn heute, und ich denke, wir sollten ihn deshalb heute auch nutzen.Deshalb habe ich in diesen Tagen zwei Dinge veranlaßt bzw. vorgeschlagen, nämlich im Hinblick auf die Vergangenheit einen Aufruf an die Bevölkerung: Wer unsicher ist, ob er in der Vergangenheit einem Infektionsrisiko durch Blut oder Blutprodukte ausgesetzt war, sollte sich von seinem Arzt beraten lassen. Und wenn danach noch Zweifel bestehen, ob eine Infektion stattgefunden haben könnte, rate ich auch heute zu einem HIV-Test. Meine Damen und Herren, dieser Test, der von Ärzten oder den örtlichen Gesundheitsämtern durchgeführt wird, schafft am schnellsten Sicherheit und Gewißheit.
Der Test wird beim Gesundheitsamt unentgeltlich durchgeführt. Die Kosten für einen Test beim niedergelassenen Arzt oder im Krankenhaus übernehmen für Versicherte die Krankenkassen.Meine Damen und Herren, ich habe in diesen Tagen auch vorgeschlagen, bei ohnehin anfallenden Blutuntersuchungen in Krankenhaus, Arztpraxen und Labors dieses Blut, das ja sowieso vom Arzt oder einem Labor auf alle möglichen Erkrankungen untersucht werden kann, künftig auch einem Aidstest zu unterziehen. Meine Damen und Herren, wie sollen wir denn eigentlich einem Blutspender künftig im Zusammenhang mit der Eigenversorgung in der Bundesrepublik Deutschland klarmachen, daß er als Blutspender einmal oder künftig möglicherweise sogar zweimal auf HIV-Antikörper getestet werden soll, wenn wir auf der anderen Seite ohnehin notwendige Blutuntersuchungen dann diffamieren, wenn ein HIV- Antikörpertest damit verbunden werden soll?
Wenn wir auf der einen Seite sagen, daß die Menschen zur Blutspende gehen sollen, und wir ihnen zumuten, daß sie getestet werden, künftig möglicherweise ein zweites Mal getestet werden, dann werden
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Bundesminister Horst Seehoferwir in der Öffentlichkeit nicht herüberbringen können, wie wir die Selbstversorgung in der Bundesrepublik Deutschland sicherstellen wollen, wenn wir gleichzeitig bei anderen Patienten oder Versicherten den HIV-Test diffamieren.Ich bin wirklich dafür, daß wir völlig emotionsfrei darüber diskutieren, ob es nicht Sinn macht, ohnehin anfallende Blutuntersuchungen künftig mit einem HIV-Test zu verbinden, wobei natürlich der Patient Herr des Verfahrens bleibt. Wenn der Patient diesen Test ablehnt, muß das auch künftig in seiner Hoheit liegen.
Meine Damen und Herren, wir sollten einmal mit der typisch deutschen Gründlichkeit aufhören, daß wir bei jedem neuen Vorschlag zuallererst die Frage stellen: Wie können wir die Verwirklichung des Vorschlags verhindern? Wir sollten vielmehr zuerst die Frage stellen: Wie können wir den Vorschlag verwirklichen?
Deshalb sage ich erstens: Der Patient bleibt Herr des Verfahrens. Wenn er widerspricht, kann dieser Test nicht durchgeführt werden, was auch bei jeder anderen medizinischen Behandlung gilt.Ein Zweites, meine Damen und Herren: Wie bei allen Diagnose-, Hygiene- und Therapiestandards wird es natürlich auch hier künftig in der Hand der Ärzte liegen, Tests auszuschließen, die objektiv keinen Erkenntnisgewinn bringen oder wenig Sinn machen. Wenn also heute der Vorsitzende des Mar-burger Bundes fragt: Was macht dieser Vorschlag bei einem 80- oder 90jährigen für einen Sinn?, so sage ich, daß es in der Hand der Ärzte liegt, durch Therapieoder Diagnoserichtlinien festzulegen, daß man solche Fälle ausnimmt. Das sollen sie machen.
Meine Damen und Herren, Kollege Menzel, wenn ein Patient auf der Intensivstation liegt, der fünf- oder sechsmal in der Woche Blut entnommen bekommt, so hat Horst Seehofer natürlich niemals vorgeschlagen, daß dann jedesmal ein HIV-Test durchgeführt werden soll. Das macht natürlich wenig Sinn.
Einen solchen Unsinn schlägt nicht einmal ein Angehöriger des friedliebenden Standes der Bayern vor.
Nein, meine Damen und Herren, da muß die Erstuntersuchung genügen. Genauso legen wir im gesamten Medizinbereich fest, daß Mehrfachuntersuchungen vermieden werden sollen. Die Ärzte sollen eine Richtlinie erlassen, wonach die erste Untersuchung genügt und diese im Krankenhaus nicht wiederholt werden soll.Von diesen 3 % der Problemfälle her aber dürfen wir doch nicht die Sinnhaftigkeit für die restlichen 97 % der Fälle in Frage stellen.
— Ich bin schon wieder ruhig.Meine Damen und Herren, es ärgert mich manchmal, wenn wir immer nur nach dem Haar in der Suppe, nicht nach der Qualität der Suppe fragen. Das ist nämlich die große Frage.
Ich bleibe dabei, daß wir die Möglichkeiten des Tests stärker nutzen sollten. Das hat nichts mit einer Veränderung der Aids-Politik zu tun. Es bleibt bei der Hilfe, der Information, der Prävention. Es bleibt dabei, daß wir niemanden ausgrenzen oder diskriminieren wollen. Es bleibt ebenfalls dabei, daß die Ergebnisse einer Laboruntersuchung anonymisiert bleiben. — Dabei bleibt es.
Herr Minister, dies veranlaßt den Abgeordneten Dr. Menzel, eine Zwischenfrage zu stellen, vorausgesetzt, Sie stimmen zu. — Bitte schön, Herr Menzel.
Herr Minister, Sie haben mich direkt angesprochen. Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie der Meinung sind, ich hätte verlangt, daß sich jemand, der auf der Intensivstation liegt, sechsmal einem HIV-Test unterzieht?
Nein. Lieber Kollege Dr. Menzel, die von Ihnen gemeinsam mit Dr. Thomae herausgegebene Pressemitteilung zu diesem Thema beinhaltete keine 100 %ige Zustimmung zu meinem Vorschlag, sondern nur eine 70 %ige. Ich wollte die Restzweifel, die 30 %, auch noch ausräumen und Ihnen ermöglichen, daß Sie mir zu 100 % zustimmen können.
Ich betone hier noch einmal — zum wiederholten Mal von diesem Pult aus —: Im übrigen wird es wegen der Sicherheit des Bluts und der Blutprodukte keine Veränderung der Aidspolitik innerhalb der Bundesregierung und der Koalition geben. Das versichere ich hier noch einmal. Es muß aber doch unser gemeinsamer Wille sein, angesichts dieser langen Latenzzeiten nicht erst dann zu reagieren, wenn eine Gefährdung der Gesundheit zur Gewißheit geworden ist, sondern wenn diese Gefährdung der Gesundheit durch Blutbehandlung möglich oder sogar wahrscheinlich ist. Darauf müssen wir uns doch verständigen.
Meine Damen und Herren, die Testergebnisse, die wir heute bekommen, gehen wegen der langen Latenzzeit zum Teil noch auf Blutbehandlungen vor dem Jahre 1985 zurück. Deshalb werden wir manches aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre oder der Gegenwart ohne eine breitere Anlage der Tests vielleicht erst um die Jahrhundertwende zur Kenntnis bekommen. Unser gemeinsames Bestreben sollte sein, daß sich diese Katastrophe der 80er Jahre, wo mehr als 2 000 Menschen durch Blutbehandlungen
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Bundesminister Horst Seehoferinfiziert wurden, in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wiederholen kann.
Deshalb sind wir nachhaltig dabei und veranstalten keine Show, keine Panikmache und keine Hysterie.Meine Damen und Herren, ja, es gab gewisse Irritationen zwischen Teilen der deutschen Ärzteschaft und dem Bundesgesundheitsminister in der Frage: Ist der Bundesgesundheitsminister hier richtig vorgegangen?Ich darf Sie darüber unterrichten, weil das, wie vieles, was harmonisch abläuft, in der Öffentlichkeit nicht ausreichend übergekommen ist. Ich habe am 23. November 1993, also am Wochenanfang, mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, und dem Vorsitzenden des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, die gegenwärtige Situation bei HIV und Aids im Zusammenhang mit Blutbehandlung besprochen. Das Ergebnis des Gesprächs war: Es besteht Übereinstimmung, daß zur Sicherheit der Behandlung mit Blut und Blutprodukten für die Zukunft Handlungsbedarf besteht. Das wird also auch von der Ärzteschaft bejaht. Für die Zukunft wird der Vorwurf der „HIV-Show" nicht aufrechterhalten.
Damit ist aus meiner Sicht wieder eine belastungsfreie Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer und dem Vorsitzenden des Marburger Bundes möglich. Ich bin dankbar, daß — nach einigem Hickhack über Tage hinweg — von beiden dieses Format aufgebracht wurde.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas zum Handlungsbedarf und zu den Vorwürfen der Panikmache und der Veranstaltung einer Show im Prinzip sagen. Erstens. Es gibt heute, nachdem dieses Thema einige Wochen in der Diskussion war, bei niemandem mehr Zweifel daran, daß in bestimmten Fällen ein Test durchgeführt werden sollte, insbesondere wenn man in den 80er Jahren mit Blut oder Blutprodukten behandelt wurde.Zweitens. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die in Frage stehenden Blutprodukte von den bekannten Firmen zurückgerufen werden mußten und noch einmal nachgetestet werden mußten. Niemand derer, die sich kritisch zu meinem Vorschlag geäußert haben, wäre bereit, diese Blutprodukte bei sich selbst anwenden zu lassen.
Es ist eine seltsame Diskussion: Der Bevölkerung möchte man das zumuten, aber selbst würde man eine Behandlung mit diesen Blutprodukten niemals durchführen lassen.Drittens. Keiner, der sich an der Diskussion beteiligt, hat nicht die Erkenntnis, daß wir sowohl die Einhaltung des Sicherheitsstandards als auch dieFortentwicklung des Sicherheitsstandards mit zusätzlichen Instrumenten ausstatten müssen.Wenn alle Beteiligten, einschließlich der Ärzteschaft, übereinstimmend der Auffassung sind, daß der Test notwendig, daß der Rückruf notwendig, daß die Fortentwicklung des Sicherheitsstandards notwendig ist, dann kann das Handeln der Koalition und des Gesundheitsministers, auch mit partieller Unterstützung der Opposition, nur richtig gewesen sein. Sonst könnte man nicht zu diesem Ergebnis kommen.
Ich bleibe gegenüber dem Parlament auch bei meinem Vorschlag, das Bundesgesundheitsamt als einheitliche Behörde aufzulösen. Ich werde dem Parlament dazu in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen. Ich habe auch bei der letzten Bundestagsdebatte von diesem Pult aus gesagt, daß die ganz überwiegende Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundesgesundheitsamt qualifiziert und motiviert ist.
Nur, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Organisationsstruktur dieser Mammutbehörde, für sich genommen, geeignet ist, zu Mängeln zu führen. Diese Mängel erlebe ich Tag für Tag. Sie sind nicht auf die motivierten und qualifizierten Mitarbeiter zurückzuführen, sondern auf die unheimliche Hierarchie, die dort herrscht.Bei allem Lob für große Teile des Bundesgesundheitsamtes dürfen wir es nicht durchgehen lassen, daß wichtigste gesundheitspolitische Anliegen von einzelnen Mitarbeitern nicht sorgfältig und nicht mit der notwendigen Sensibilität betrachtet werden.
Wir bleiben dabei: Ich werde dem Parlament noch in diesem Jahr den Vorschlag unterbreiten. Wir wollen aus diesem großen, schwerfälligen Tanker kleinere Schnellboote machen und damit auch in Deutschland das Prinzip verwirklichen, das wir so gerne von der Europäischen Gemeinschaft fordern, nämlich das Prinzip der Subsidiarität: Man soll einer größeren Behörde keine Aufgaben übertragen, die eine kleinere genausogut erledigen kann.
Herr Präsident, meine letzte Bemerkung — im Hinblick auf die Zeit — betrifft die Hilfe im Bundeshaushalt für die Opfer der 80er Jahre. Meine Damen und Herren, ich neige nicht leicht zum Pathos, aber ich muß sagen: Was hier vorgeführt wurde, und zwar parteiübergreifend, ist ein Beispiel für praktizierte Nächstenliebe. Ich dachte nicht, daß wir als politische Parteien dazu noch in der Lage sind.
Es sieht nicht so aus, als ob dieses Signal der Mitmenschlichkeit, das mit der Bereitstellung dieser 20 Millionen DM einheitlich vom Deutschen Bundestag ausgegangen ist, beim Deutschen Roten Kreuz, bei den Pharmaherstellern, bei der Versicherungswirtschaft ausreichende Wirkungen hinterlassen
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Bundesminister Horst Seehoferhätte. Ich fahre anschließend zur Gesundheitsministerkonferenz nach Hamburg und hoffe, daß die Bundesländer hier endgültig ihre Zustimmung für die 3 Millionen DM geben.
Der Bundeskanzler hat sich heute noch einmal an die Versicherungswirtschaft gewandt. Ich habe gestern mit dem Deutschen Roten Kreuz gesprochen und bekomme nächste Woche eine Antwort. Bei der Pharmaindustrie scheint es unheimlich schwer zu werden, mehr als die 2 Millionen DM zu bekommen. Ich strebe an, in der letzten Sitzungswoche in den Haushaltsausschuß zu kommen, um über das Ergebnis zu berichten. Ich würde dann darum bitten, daß die 19,5 Millionen DM entsperrt werden, damit wir im Januar die Hilfen für die Opfer ausbezahlen können.
Ich betone noch einmal: Das ist eine Soforthilfe, weil wir den Opfern nicht zumuten wollen, daß auf ihrem Rücken ein weiterer monatelanger Streit oder eine juristische Auseinandersetzung stattfindet. Ich bin jedoch nach allem, was ich aus dem Untersuchungsausschuß höre, zuversichtlich, daß die Soforthilfe möglicherweise in wenigen Monaten durch die endgültige strukturelle Hilfslösung abgelöst werden kann. Ich bin jedenfalls zuversichtlich. Aber wir sollten jetzt nicht unter Hinweis auf die strukturelle Hilfe die Soforthilfe auf die lange Bank schieben. Darum geht es mir.
Herr Minister, meine und Ihre Uhr gehen gleich.
Ich habe vor 120 Sekunden diese Ankündigung gemacht. Ich habe noch 10 Sekunden und wollte mich abschließend für die sehr sachliche Atmosphäre, wie ich sie bei diesem Haushalt im Haushaltsausschuß erlebt habe, bedanken, insbesondere beim Kollegen Sauer, beim Kollegen Weng und bei der Frau Kollegin TitzeStecher. Ich denke, das war ein angenehmes Beispiel, wie man trotz Sparens parteiübergreifend vernünftige Gesundheitspolitik betreiben kann.
Um so leichter fällt es nun mehr, zur Abstimmung zu kommen, und zwar über den Einzelplan 15, Bundesministerium für Gesundheit, in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 15? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Der Abgeordnete Jungmann hat sich enthalten. Damit ist der Einzelplan 15 angenommen.
Ich rufe den nächsten Einzelplan auf:
Einzelplan 17
Bundesministerium für Frauen und Jugend — Drucksachen 12/6017, 12/6030 —
Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke
Ina Albowitz
Dr. Konstanze Wegner
Frau Dr. Konstanze Wegner ist die erste Rednerin. Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat von Frau Merkel aus ihrer Haushaltsrede zur ersten Lesung:Der Haushalt des Jahres 1994 ist Ausdruck unserer politischen Zielsetzung:... Stabilität bei den Ausgaben ... mit sozial gerechtem Handeln zu verbinden.An diesem selbstgesteckten Ziel muß das Ministerium nun seine Frauen- und Jugendpolitik messen lassen. Ich meine, die Frauenpolitik des Ministeriums ist durch einen Widerspruch zwischen Worten und Taten gekennzeichnet. Es stimmen zwar alle hier im Parlament überein, daß Frauen in unserer Gesellschaft noch massiv benachteiligt sind und daß hier großer Handlungsbedarf besteht. Wenn ich aber Revue passieren lasse, Frau Merkel, was konkret gelaufen ist, dann komme ich zu dem Eindruck, daß im Mittelpunkt Ihrer Frauenpolitik der Kampf gegen die Quote steht.Das beginnt schon mit den Interpretationsmanövern, die vorwiegend die Herren bei der CDU/CSU an dem Sätzchen der Verfassungskommission vorgenommen haben, womit der Art. 3 etwas aufgebessert werden soll: Auf keinen Fall darf das je die Grundlage für die Anwendung der Quote sein.Der Kampf gegen die Quote setzt sich auch in Ihrem Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes fort, dem gerade dadurch jeder Biß genommen wird.
Ich glaube, die Quote ist so etwas wie ein Trauma für diese Regierung. Selbst in der von der Bundesregierung mit Millionen Kosten herausgegebenen Werbepostille — der Abgeordnete Walther weiß, wovon ich spreche — „Journal für Deutschland", das laut Regierungsprecher Vogel die Bürger über alle Bereiche der Politik informieren soll, taucht das Zwangsthema Quote auf. So wird in dieser Postille unter anderem die Parlamentarische Staatssekretärin Yzer mit einem hübschen Farbfoto vorgestellt mit folgendem Begleittext:
— Habe ich nicht bestritten, Herr Kollege. Ich zitiere —:Cornelia Yzer. Rechtsanwältin. Selbstbewußt. Ledig. Mag Blumen, am liebsten kübelweise. Ißt gern italienisch. Beklagt nicht die Lage der Frauen. Versucht, ihnen Chancengerechtigkeit
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16755
Dr. Konstanze Wegnerstatt Quotenhuberei zu verschaffen. Nach dem Motto: Ihre 85jährige Großmutter sei für sie die emanzipierteste Frau, die sie kennt. Die habe das Wort nie im Munde geführt.
— Das bezahlen wir alle, die Steuerzahler. Also, ich will zur Ehre von Frau Yzer annehmen, daß sie diesen Schwachsinn nicht selbst zu Papier gebracht hat, sondern irgendein Schreiberling aus dem Bundespresseamt.
Aber ich kann nur sagen, zur Selbstbeweihräucherung besteht in ihrer Fraktion gar kein Anlaß. Sie haben mit 13,8 % bei weitem den niedrigsten Frauenanteil aller Fraktionen. Ich weiß auch, daß die CDU-Basis ganz anders über die Quote denkt als ihre Vertreter im Ministerium.Ich habe eine Notiz im „Reutlinger Generalanzeiger" vom 23. Oktober gefunden und dem entnehme ich folgende Zustandsbeschreibung. Nach der Überschrift:Landes-CDU bewegt sich langsam in Richtung Frauenquoteheißt es:Nicht nur hinter vorgehaltener Hand loben vor allem Junge-Union-Frauen das Beispiel der SPD in dieser Frage. Die Sozialdemokraten hatten vor nicht weniger als sieben Jahren eine Quotendiskussion geführt und mit entsprechenden Beschlüssen beendet. Seither gibt es in der SPD einen Trend, von dem wir nicht einmal träumen können, urteilt eine CDU-Stadträtin.Schluß damit! Ich will Ihnen nur sagen: Auch bei den Sozialdemokraten war es nicht leicht, sie durchzusetzen. Sie ist auch kein Allheilmittel, nur eine Krücke auf Zeit, aber auch Sie werden nicht darum herumkommen, sie einzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Realität im Deutschland des Jahres 93 ist für Frauen vielfach bedrückend. Dazu hat die Politik dieser Koalition leider wesentlich beigetragen.
Der Hickhack um die Interpretation des Verfassungsgerichtsurteils zum § 218 geht weiter und wird vornehmlich auf dem Rücken betroffener Frauen ausgetragen. Die von Ihnen verabschiedeten Spargesetze mit den Kürzungen bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und im Zivildienst treffen auch und gerade die Frauen.Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, meine Damen und Herren, der doch die zentrale Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellen soll, bleibt vielerorts uneingelöst und damit eine Phrase. Hier tragen auch die Länder Mitverantwortung, die beim Solidarpakt und bei derNeuregelung des Bund-Länder-Finanzausgleichs recht gut weggekommen sind
und von denen einige ihre Kommunen bei der Umsetzung durchaus mehr unterstützen könnten.
Die Debatte um den Rechtsanspruch zeigt zugleich exemplarisch, wie problematisch es ist, wenn der Bund kostenträchtige Gesetze für andere Gebietskörperschaften erläßt, ohne daß zuvor seine eigene Beteiligung bzw. die Kostenverteilung überhaupt geregelt ist.
— Ich erkläre es Ihnen gerne noch einmal privat. Mir läuft sonst die Zeit weg.
Der sogenannte Frauentitel bringt mit seinen mageren 25 Millionen DM und seinem Sammelsurium sicher gutgemeinter Projekte auch keine Lösung der dargestellten Probleme. Ich glaube, er eignet sich nicht einmal als Feigenblatt für eine Frauenpolitik, der leider jeder Mut zu grundsätzlichen Reformen fehlt.
Ich komme zur Jugendpolitik. Die Mittel für den Bundesjugendplan werden in diesem endgültigen Haushalt leider nicht um 8 Millionen DM angehoben, wie Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freudig verkündet hat, sondern in Wahrheit drastisch gekürzt.
Die Koalition im Haushaltsausschuß hat sich entgegen dem Wunsch ihrer eigenen Fachpolitiker und entgegen dem Wunsch der Jugendverbände geweigert, den gestrichenen Haushaltsvermerk über die Rücklaufmittel wieder einzuführen, und entzieht dem Bundesjugendplan damit jährlich etwa 8 Millionen DM.Die zuletzt verhängte globale Minderausgabe von 5 Milliarden DM und die entsprechende Haushaltssperre bedeutet nun für die Zuwendungsempfänger eine weitere Kürzung von rund 10 %. Das heißt, daß die Verbände, die ohnehin in den letzten Jahren auf Grund der mangelnden Anpassung des Bundesjugendplans immer mehr Eigenmittel aufbringen mußten, nun in große Schwierigkeiten kommen.Angesichts der schwierigen sozialen Lage vieler Jugendlicher und angesichts der Neigung zu Fremdenhaß und Gewalt bedeuten diese Kürzungen Sparen am falschen Platz.
Ich möchte ganz dringend an Sie appellieren, den Bundesjugendplan von dieser Kürzung auszunehmen, meine Damen und Herren.
Für die Jugendarbeit generell, besonders aber in Ostdeutschland, sind Berechenbarkeit und eine langfristige Perspektive der Förderung wichtiger als kurz-
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16756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Konstanze Wegnerfristige hochdotierte Programme. Das gilt vor allem für den Teil 3 des sogenannten AFT-Programms. Und qualifizierte Mitarbeiter in der Jugendarbeit kann man nicht über ABM gewinnen, sondern nur, wenn man ihnen eine Perspektive für langfristige berufliche Arbeit bietet. Leider hat die Koalition unsere entsprechenden Umschichtungsanträge abgelehnt.Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Komplex Otto-Benecke-Stiftung — GfBA, der mich in den letzten zwei Jahren als Dauerskandal mehr beschäftigt hat, als mir als Berichterstatterin lieb gewesen wäre. Auch das Ministerium hat in dieser Zeit viel Mühe auf die Bereinigung dieser Affäre investiert. Das möchte ich ausdrücklich anerkennen. Was aber weiter als Aufgabe verbleibt, ist die Prüfung der straf- und zivilrechtlichen Verantwortlichkeit in der ehemaligen GfBA, der OBS und im Ministerium selbst.
Die Herren Beitz und Grellert handelten nämlich nicht allein, sondern sie haben in einem Umfeld gehandelt, das ihre Machenschaften durch Beteiligung, wohlwollende Duldung und fehlende Kontrolle erst ermöglichte. Hier herrscht unseres Erachtens noch erheblicher Aufklärungsbedarf, den wir weiter einfordern werden.Festzuhalten bleibt außerdem, daß abgesehen vom geschädigten Steuerzahler die Beschäftigten der ehemaligen GfBA die Hauptleidtragenden dieser Affäre sind.Anschließend möchte ich mich einem Komplex zuwenden, der mich im Verlauf dieser Beratungen am meisten beschäftigt und auch geärgert hat. Das sind die Kürzungen im Zivildienst. Frau Merkel schrieb im Oktober dieses Jahres in der Zeitschrift „Der Zivildienst" — ich zitiere —:Der Zivildienst hat sich bewährt. Der Dienst der jungen Männer erfährt eine hohe gesellschaftliche Anerkennung. Sie prägen die Qualität unseres sozialen Systems ganz erheblich mit. Aus vielen Bereichen der sozialen Versorgung alter, kranker und behinderter Menschen sind Zivildienstleistende kaum noch wegzudenken.Wie wahr! Umso überraschender, daß die gleiche Ministerin dann eine Kürzung vorschlug, wonach rund 60 % aller Beschäftigungsstellen keine Geldleistungen mehr erhalten und sich irgendwie anderswo refinanzieren sollten.Da dieser Plan auf erheblichen Widerstand der betroffenen Wohlfahrtsverbände stieß, entschloß man sich zur zweiten Kürzungsvariante, wonach nun das Rasenmäherprinzip zum Einsatz gelangt. Bei Erstattung der Geldbezüge wird nämlich generell um 25 % gekürzt. Dazu werden — und das finde ich besonders kleinkariert — den Zivis vom täglichen Zuschuß für die Abnutzung ihrer Kleidung noch 45 Pfennig pro Tag gestrichen.
Diese Kürzungen sind rechtlich problematisch. Denn der Zivildienst ist Teil der Wehrpflicht, und deshalb muß der Bund auch die Kosten dafür tragen.
Sie sind auch finanzpolitische Augenwischerei, denn hier geht es nicht um echte Einsparungen,
sondern lediglich um den bekannten Verschiebebahnhof zu Lasten der Kommunen, d. h. der Sozialhilfe. Und sie sind schließlich
— Jungmann, sei still! —
sozialpolitisch unverantwortlich, weil sie einen drastischen Einbruch bei der von Frau Merkel laut Zitat hochgelobten Versorgung mit Zivi-Plätzen nach sich ziehen werden. Diese Lücken bei der Betreuung, vor allem im ambulanten Bereich, müssen Sie verantworten. Sie gehen zu Lasten der Schwächsten in unserer Gesellschaft.Es geht ja ein Gerücht um in Bonn: Die Haushälter würden behaupten — der Bischof von Hildesheim hat uns das gesagt —, daß der Urheber dieser Kürzungen ja gar nicht im Bundesministerium für Frauen und Jugend zu suchen ist, sondern an höchster Stelle der CDU/CSU-Fraktion, beim Fraktionsvorsitzenden Schäuble selbst. Dieser hat sich über die angeblich zu teuren Zivis geärgert und jetzt dort ein Einsparpotential geortet. Wie dem auch sei: Die politische Verantwortung für diese Kürzungen trägt das zuständige Ministerium.Zuletzt gestatten Sie mir noch ein Wort zu den Personalproblemen des Bundesamtes für den Zivildienst. In diesem Haushalt wäre die zweite Rate der auf Grund der Umorganisation des Bundesamtes notwendigen 151 Stellen fällig gewesen. Es war angesichts der miserablen Haushaltslage zu erwarten, daß es keine zweite Rate im vollen Umfang von über 80 Stellen geben würde. Unakzeptabel ist jedoch, daß Sie überhaupt keine neuen Stellen bewilligt und statt dessen den Titel für Aushilfskräfte aufgestockt haben. Schon jetzt sind ein Drittel aller Beschäftigten beim Bundesamt Aushilfskräfte mit Zeitverträgen.
Ich sage Ihnen: Die Qualität der Arbeit des Amtes leidet darunter, und die Politikverdrossenheit gerade bei jungen Leuten nimmt dadurch zu.
Die Regierung liebt den Zivildienst nicht; sie behandelt ihn seit Jahren so, als ginge es dabei um eine vorübergehende Aufgabe. Dabei gibt es in diesem Jahr 135 000 Zivildienstleistende, und wir werden bestimmt auf lange Sicht eine sich auf einem hohen Niveau einpendelnde Zahl haben, d. h. über 100 000. Frau Merkel hat ja den Zivildienst über den grünen Klee gelobt. Ich denke, dann muß sie auch für die Gleichbehandlung des Zivildienstes mit dem Wehrdienst eintreten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16757
Dr. Konstanze Wegnerund die Arbeitsfähigkeit des ihr unterstellten Amtes wahren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, auch in diesem Bereich findet sich ein Widerspruch zwischen den Worten und den Taten des Ministeriums. Dieser Widerspruch charakterisiert die Politik der Koalition insgesamt und auch die des Bundesministeriums für Frauen und Jugend.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Susanne Jaffke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kenne den „Reutlinger Generalanzeiger" nicht; man möge mir es nachsehen. Ich komme aus dem äußersten Nordosten Deutschlands. Vielleicht darf ich soviel sagen: Es ist sicherlich nicht möglich, irgendwo so pauschal über die CDU zu schimpfen. Von den Abgeordneten des neuen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern — wir haben ja nur neun Wahlkreise; wir sind ein Raum ohne Volk; wir haben nicht so viele Einwohner — sind acht direkt gewählt, davon drei Damen. Auch sie sind direkt gewählt. Ich denke schon, das ist eine beachtliche Quote ohne „Quote".
Abgesehen davon stellen wir natürlich sofort zwei Minister, einer davon weiblich. Auch dabei kann man nicht unbedingt von einer schlechten Quotierung sprechen. Ich gehe einfach einmal davon aus: Da hat eigentlich der Sachverstand den Ausschlag gegeben; ansonsten wäre das sicherlich nicht zu machen gewesen.Man kann sich auch in unserer Landesregierung umschauen. Auch da regieren reichlich Damen, und zwar gar nicht schlecht, obwohl wir ja das alles zum ersten Mal machen.
— Es war ein bißchen pauschal. Ich denke, wir sollten nicht derart pauschal übereinander herfallen.Zum vierten Mal mache ich Haushaltsberatungen mit. Ich gebe ja zu: Ich bin immer noch ein Laie, ein Lernender in dieser Bundesrepublik Deutschland. Ich habe mich ja vorher 18 Jahre lang mit Großtieren im ländlichen Raum beschäftigt.
Manchmal habe ich doch den Eindruck — Sie gestatten, daß ich das sage —, daß sich das Arbeitsumfeld wenig verändert hat.
Aber vielleicht kann ich auch sagen: Ich habe schonvorher ein klein wenig Parlamentsluft geschnuppert,denn ich durfte dem Haushaltsausschuß, diesemerlauchten Gremium, schon im Übergangsparlament angehören. Das war eine sehr interessante und lehrreiche Zeit.
Vielleicht ist es auch ganz wichtig, daß wir uns einmal ein wenig daran erinnern, was wir in diesen vier Jahren geleistet haben. Wir sind damals mit viel Enthusiasmus an die Dinge herangegangen, ohne zu wissen, was auf uns zukommt.Heute — gestatten Sie mir als Bürger aus den neuen Bundesländern, daß ich Ihnen allen das sage — habe ich oft das Gefühl, alle sind zum sogenannten Tagesgeschäft übergegangen. Man pflegt seinen Lokalegoismus und wahrt seinen Besitzstand. Daran hält man fest. Neue Dinge und neue Wege möchte man nur ungern beschreiten. Denn die müßte man vielleicht zu Hause auch irgendwie begründen.
Ich bin der Meinung, daß diese Polemik weder in Frauen- noch in Jugendpolitik hineingehört.
Die allgemeine Situation in unserem Lande ist von Dienstag bis heute in den großen Debatten und in den großen Redebeiträgen von den geübten Politikern eigentlich gut beleuchtet worden. Es scheint wie immer, daß Frauen von der Umstrukturierung in diesem Lande und vor allen Dingen in den neuen Bundesländern besonders betroffen sind.Warum sage ich eigentlich „es scheint" ? Ich denke, auch hier sollte man wieder differenzieren. Es gibt unterschiedliche Erfahrungen, es gibt unterschiedliche Statistiken, und es gibt unterschiedliche Situationen. Es gibt Statistiken, die interpretieren die Lage der Frauen als verheerend und bezeichnen die Frauen als Verliererinnen der deutschen Einheit. Es gibt Statistiken, die sagen aus: Noch nie waren Frauen so innovativ, haben sich so toll auf den Weg gemacht und konnten sich endlich einmal so entfalten wie nach der deutschen Einheit.
Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Interpretationen. Ich gehe davon aus, daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt. Sie ist auch regional sehr unterschiedlich.Ich komme aus dem Teil Deutschlands, in dem es 70 % Arbeitslosigkeit gibt, direkte und indirekte. Vor allen Dingen sind die Frauen betroffen. Das ist sehr bitter. Aber auch im Sozialismus hatten die Frauen wenig Chancen. Die Frauen in meiner Heimat waren die Handarbeitskräfte auf dem Acker. Sie haben kaputte Knochen, sie haben kaputte Bandscheiben, und sie sind fix und fertig. Dennoch sind sie diejenigen, die wieder nicht auf die Maschinen kommen. Dort beherrschen jetzt wieder die Männer das Feld. Hier sollten wir uns verbünden und etwas tun, damit auch Frauen mit Technikverstand überall die gleichen Chancen haben.
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16758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Susanne JaffkeEs gibt viele Äußerungen bezüglich des Einkommens. Mein Sohn lernt jetzt hier in Bonn auf dem Gymnasium im Politikunterricht, daß die Einkommen der Frauen hier bei vergleichbarer Arbeit nicht denen der Männer entsprechen. Das ist nicht in Ordnung. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, wenn irgendwo von Politikern auch noch darüber diskutiert wird, daß bei vergleichbarer Arbeit die Löhne in Ost und West nicht vergleichbar ansteigen sollten. Wie wollen wir Frauen das Berufsleben erleichtern, wie wollen wir sie in Teilzeitarbeit bekommen, wenn wir nicht einem Teil der Familie eine hundertprozentige Einkommenschance geben? Ich finde es politisch verwerflich, wenn so diskutiert wird. Das hat in unserem Teil Deutschlands, der strukturell doch noch ein bißchen anders ist, keine Sympathien ausgelöst.Wir bekommen Frauen nur sehr schwer in Teilzeitjobs, auch wenn sie sie annehmen möchten. Sie sind schlecht bezahlt. In der heutigen unsicheren Zeit sagt sich jeder: Wenn ich einen Teilzeitjob annehme, vielleicht mit 600 oder 700 DM brutto, und er ist nicht von Dauer, so daß ich dann in die Arbeitslosigkeit gehen muß, wie schnell bin ich dann im sozialen Abseits!Diese Dinge müssen wir in Deutschland insgesamt lösen. Wir müssen sie mit der Standortdiskussion lösen. Wir sollten aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben. Dann können wir den Frauen helfen. Ich finde es schön, daß wir das so machen, aber dann sollten wir uns auch nicht verschließen, wenn es darum geht, den Energiekonsens, eventuell das Standortsicherungs- und das Gentechnikgesetz sowie neue Technologien durchzusetzen.
— Das schafft Arbeitsplätze für Frauen. Sehen Sie mal, die Ministerin für Frauen und Jugend ist eine ausgebildete Physikerin.
Die kann bestimmt in solchen Bereichen arbeiten. Davon gehe ich aus.
Wir haben viele gut ausgebildete Frauen mit Hochschulabschluß — auch in den neuen Bundesländern —, die bereit sind, in neue Arbeiten, in wissenschaftliche Arbeiten einzutreten und im wahrsten Sinne des Wortes — wie es so schön heißt — ihren Mann zu stehen.
— Ja, auch ich habe mit Gentechnik gearbeitet. Kein Mensch hat mich danach gefragt. Ich habe es gern gemacht, und es war sehr interessant.Warum bekommen wir aber z. B. auch im ländlichen Raum ABM oder die Förderung nach § 249h nicht voll besetzt? Die Frauen, die im ländlichen Raum wohnen, sind weniger mobil als die Frauen im städtischen Raum. Sie haben zum Teil keinen Führerschein. Weggebrochen ist natürlich das Einsammeln derArbeitskräfte, wie es zu Zeiten der LPG betrieben wurde. Heute muß jeder sehen, wie er an seinen Arbeitsplatz kommt.Aber ich denke, das sind Probleme, die der Bundeshaushalt der Bundesministerin für Frauen und Jugend allein nicht lösen kann. Da sollten wir etwas ressortübergreifender weiterdenken. Der Bundeshaushalt wird diesbezüglich seine Projektarbeit weiterführen. Er wird die Probleme beschreiben und erfassen, und wir sollten dann die richtigen Schlußfolgerungen daraus ziehen.Im Rahmen der von uns insgesamt durchgeführten Konsolidierungspolitik blieb natürlich auch der Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend nicht von Einsparungen verschont. Ich habe darauf auch schon in der Einbringungsrede hingewiesen. Ich denke, mit Vernunft und guten Ideen — da möchte ich mich von der Einbringungsrede her wiederholen — kann man auch damit noch gute Projekte und innovative Dinge auf den Weg bringen.Zu den Einsparungen innerhalb der Titelgruppe 01. Vorhin war ein bißchen das Thema: Der Bundesjugendplan wird zu sehr abgeschmolzen. Aus dem Bundesjugendplan sind 3 Millionen DM herausgelöst worden für das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Das hat eine Aufstockung in einem bilateralen Vertrag erfahren und wird mit 4 Millionen DM im Bundeshaushalt festgeschrieben.
Dennoch hat der Bundesjugendplan insgesamt finanziell einen Aufwuchs erfahren. Er lag, so habe ich mich informieren lassen — 1989 war ich noch nicht in der Bundesrepublik Bundesbürger —, 1989 wohl bei 129 Millionen DM. Er hat jetzt stattliche 225 Millionen DM. Das ist für die kritischen Zeiten des Haushalts, denke ich, schon ein ganz erklecklicher Aufwuchs.
Nun ist auch die Problematik Zivildienst angesprochen. Gestatten Sie mir bitte eine persönliche Bemerkung. Ich war schon einigermaßen verwirrt, als Mensch mit DDR-Erfahrung — wo Jugendliche wenig oder überhaupt nicht einen Zivildienst in Anspruch nehmen konnten, sondern zur Nationalen Volksarmee verpflichtet wurden und da mit 90 Mark Wehrsold ausgestattet waren und mit 350 Mark, alles Mark der DDR, nach Hause gingen — feststellen zu müssen, daß es hier in diesem Staat eine sehr stattliche Ausstattung für junge Leute gegeben hat. Ich glaube, bei gutem Willen und gutem Verständnis kann man auch mit den jetzigen Entlassungsgeldern und mit den jetzigen Wehrsoldbezügen monatlich recht ordentlich auskommen.Mein Sohn dient gerade bei der Bundeswehr in Eggesin, dem Standort der drei Meere — Kiefernmeer, Sandmeer, gar nichts mehr —, liebevoll so in meiner Heimat genannt; eben dort, wo fast gar nichts mehr ist. Ich denke, mit einem bißchen guten Willen kann man auch damit noch Jugendliche begeistern, Zivildienst zu leisten, und die freien Träger auch noch animieren, mit den 4 DM Abschmelzung im Tagessatz noch eine gute Zivildienstarbeit zu leisten. Ich bin sehr optimi-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16759
Susanne Jaffkestisch, daß sich die Aufwandszuschüsse, dieser gefundene Kompromiß, als tragfähig erweisen werden.Ich denke, auch die neuen Förderrichtlinien für den Bundesjugendplan werden vor allen Dingen den Empfängerorganisationen vor Ort in den Kommunen eine wesentliche Erleichterung bringen. Darüber, daß da vieles aufgebröselt werden muß, daß alte und verkalkte Strukturen aufgelöst werden müssen, sind wir uns einig mit der Kollegin Wegner. Denn man hat oft das Gefühl, das Geld bleibt irgendwo in den Verbandsstrukturen hängen, und am Jahresende sind die paar tausend DM, die ein kleiner freier Träger irgendwo in der Kommune sehr sinnbringend anwenden wollte, nicht bei ihm unten gelandet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit war auch ich manchmal der Meinung, daß es vielleicht nicht so ganz sinnvoll ist, ein Ministerium extra für Frauen und Jugend zu haben. Ich habe meine Meinung geändert. Ich habe nämlich nachhaltig den Eindruck, daß man mit einem recht überschaubaren Ministerium viele Dinge im Detail lösen kann. Da kann ich es nicht verstehen, daß jetzt auf Ihrem Parteitag — mehrheitlich von Männern, nehme ich an — beschlossen wurde, daß man Frauenpolitik irgendwo wieder zusammenwerfen will in ein Sammelsurium-Ministerium, das man dann von der Wertigkeit und der Wichtigkeit her ein bißchen unterbuttert. Ich bin glattweg dagegen. Ich hoffe, Sie, liebe Kolleginnen von der SPD, werden sich wehren. Geben Sie Ihren Männern da nicht die Überhand!
Frau Abgeordnete Jaffke, dankenswerterweise verhalten Sie sich geschäftsordnungsmäßig korrekt: Sie sprechen frei. Also fällt es Ihnen auch nicht allzu schwer, nunmehr Ihre Rede zu beenden, denn die Zeit ist überschritten.
Ich werde zum Schluß kommen. Herr Präsident, ich wollte mich vor allen Dingen noch bei der Kollegin Wegner bedanken. Es ist sicherlich richtig und auch dem geschuldet, daß es ein kleines und überschaubares Ministerium geworden ist, daß Sie mit einer Akribie die Aufklärung dieser Geldverschiebungen von OBS und GFBA — ich wußte mein Lebtag nicht, daß es so etwas gibt; ich hoffe, Sie sehen mir das nach — betrieben hat. Das Ministerium hatte einen Haufen Arbeit. Ich danke der Ministerin, ich danke der Parlamentarischen Staatssekretärin, ich danke dem Staatssekretär. Sie geben diesen Dank bitte auch an Ihre fleißigen Mitarbeiter weiter!
Ich danke gleichermaßen für das Verständnis und für die ruhige und fleißige Arbeit, die z. B. die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften macht. Sie hat es verdient, ein neues Arbeitsumfeld zu bekommen, damit sie aus ihren engen Räumen ausziehen kann.
Ich danke auch den Mitarbeitern im BAZ und Herrn Hackler für die geleistete Arbeit und für das große Verständnis, auch wenn sich nicht immer alle Personalwünsche so erfüllen lassen, wie man sie sich erträumt.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Uta Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Frau Ministerin Merkel wird sich im einzelnen sicherlich mit den Modellvorhaben ihres Haushaltes auseinandersetzen, die gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen gerichtet sind. Ich kann deshalb meine Ausführungen etwas allgemeiner halten.Wir beschäftigen uns in diesem Haushalt mit der Lebenssituation von Frauen und Jugendlichen im gesamten Deutschland. Wie wir heute nachmittag gehört haben, ist die Analyse bei allen Fraktionen des Deutschen Bundestages eindeutig. Die weltweite Rezession fordert ihre Opfer auch in Deutschland. Die zunehmenden Verteilungskämpfe, der Wettbewerb um die Arbeits- und Ausbildungsplätze berühren Frauen und Jugendliche in einem nicht gekannten Ausmaß. Die Folgen hieraus sind um sich greifende Unruhe, die Bevölkerung ist aufgerüttelt, die Menschen werden unsicher. Nichts ist mehr so, wie es war. Die Zeiten haben sich geändert. Vorbei sind die Zuwächse an Einkommen und bezahlter Freizeit, an die sich viele von uns offensichtlich schon sehr gewöhnt hatten und die sie für selbstverständlich gehalten haben.Nun zwingt eine Krisenlage immer zum Beleuchten des Zustandes und auch dazu, die Lage zu analysieren. Sie zwingt zum Nachdenken und auch zum Überprüfen der bislang angewandten Konzepte und Instrumente.Es ist schon gesagt worden: Manche Menschen sehen ihre Besitzstände gefährdet, andere fühlen sich ausgegrenzt von der Teilhabe an entlohnter Beschäftigung, und für viele fehlt eine Zukunftsperspektive. Vieles, liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir Sozialpolitiker schon längst als änderungsbedürftig erkannt, aber als nicht änderbar hingenommen haben, müssen wir in diesen Zeiten regeln. Es kann keine Ausrede mehr geben für Untätigkeit, z. B. dagegenstehende Ideologien, zu fest gefahrene Strukturen oder zu große Machtblöcke. Gerade wir Sozialpolitiker sind gefordert, diese Strukturen aufzubrechen.Von dem Wegfall an Arbeitsplätzen, von dem Verlust ihrer Beschäftigung sind die Frauen im Osten Deutschlands besonders betroffen. Die Frauen beklagen zu Recht ihren Verlust an finanzieller Selbständigkeit, und sie fühlen sich auch in ihrem Selbstwert herabgesetzt, wie wir als F.D.P.-Fraktion es bei einer Anhörung im Osten Deutschlands selbst festgestellt haben. Wir verlassen uns hier nicht auf Statistiken.
Ohne eine berufliche Perspektive zu sein und zähneknirschend von dem Geld derer zu leben, die Arbeit haben, beglückt niemanden. Auf einen arbeitslosen Mann treffen im Durchschnitt im Osten Deutschlands zwei erwerbslose Frauen. Wie konnte es dazu kom-
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16760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Uta Würfelmen, daß doppelt so viele Frauen ihre Arbeit verloren wie Männer?Wir Frauen müssen uns mit den Ursachen auseinandersetzen und für die Zukunft vorbauen. Frauen dürfen nicht länger die Verliererinnen sein. Wenn es ein Menschenrecht ist, durch Berufstätigkeit für sich selbst und sein Kind sorgen zu können, dann gilt das auch für Frauen und erst recht für Mütter.
Es kann nicht mehr so weitergehen, daß Arbeitgeber nur deshalb auf Frauensachverstand verzichten, weil sie das Risiko der Mutterschaft für den Betrieb fürchten.
Wir brauchen hier eine andere Weichenstellung, um die Finanzierung der Kosten des betrieblichen Ausfalls einer Mutter anders abzufangen als bisher.
Liebe Frau Merkel, ich halte die geplante Studie über das Abfragen des Einstellungsverhaltens von Arbeitgebern und deren Einschätzung hinsichtlich der Beschäftigung junger Frauen, die Kinder bekommen können, im Grunde genommen für hinausgeworfenes Geld. Sie wollen prüfen, ob es Vorbehalte von Arbeitgebern bei der Einstellung von Frauen gibt, die Kinder kriegen können. Frau Merkel, es gibt diese Vorbehalte, und es gibt sie in weitem Umfang. Die Frauen sind allein deshalb benachteiligt, weil sie Kinder bekommen können.
Wir können es doch nicht länger leugnen: Die Frauen im Westen werden an der Ausübung eines Berufs dadurch gehindert, daß Kinderbetreuungseinrichtungen nicht in dem Umfang geschaffen worden sind, wie sie gebraucht wurden.
Und das ist eine sehr subtile Maßnahme, um Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten.Dies betrifft übrigens alle Berufssparten, die Arbeiterin genauso wie die Akademikerin, die sich von ihrem Gehalt einen Vollarbeitsplatz für eine Kinderfrau im Hause nicht leisten kann. Was wir also dringend brauchen, sind die Anerkennung des Haushalts als Betrieb mit allen steuerlichen Folgen
und mehr Kinderkrippen- und Kindergartenplätze.Ich möchte an dieser Stelle all diejenigen warnen, die mit dem Gedanken spielen, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auf diesem Gebiet nicht nachzukommen. Die Kinderkrippen- und Kindergartenplätze müssen durch die Kommunen bis zum 1. Januar 1996 geschaffen worden sein!
Die Versäumnisse der Vergangenheit dürfen nicht länger fortgeschrieben werden, und Bundespolitikerinnen und -politiker können hier nicht alles leisten. Deswegen fordere ich jede Mutter und jeden Vater auf, zu prüfen, wie die Rahmenbedingungen an ihrem Wohnort für sie aussehen und welche Prioritäten die Kommunen setzen. Sie müssen sich schon fragen: Werden die Mütter und Väter von ihren Kommunen entsprechend unterstützt, oder gilt das Interesse mehr der Sanierung der Altstadt und dem Straßenrückbau?Die Länder sind für das Erziehungswesen verantwortlich. Die Länderpolitiker — wir haben es dankenswerterweise von Ihnen, Frau Wegner, schon gehört — haben bei den Finanzverhandlungen mit dem Bund für einen erheblichen Zuschlag bei der Umsatzsteuer gesorgt. Es gibt überhaupt keine Ausrede mehr. Die Unterstützungsmaßnahmen für Mütter und Familien müssen endlich geschaffen werden, und die Versäumnisse aus der Vergangenheit dürfen nicht länger fortgeschrieben werden.
Seit sieben Jahren, meine Damen und Herren, beschäftigt uns das Thema ungewollte Schwangerschaften und deren Verhinderung. Ich kann Ihnen eines sagen: Ich für meinen Teil nehme nicht länger hin, daß ungewollt schwangere Frauen ausgerechnet in der Mehrzahl von denen zur Fortsetzung der Schwangerschaft bedrängt werden, die nach der Geburt des Kindes nicht bereit sind, die benötigte Hilfe und Unterstützung zu leisten.
Wie entlarvend ist es doch, sich durch Worte zum Lebensschutz für das Ungeborene zu bekennen, den wir alle wollen, und dem geborenen Leben, d. h. der Mutter und dem Kind, dann nicht durch Taten zu helfen.
Dies führt mich zu einem weiteren Problembereich. Seit Jahren bemühen wir uns alle um mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit für Mütter und Familien. Dennoch: Die Erziehungsleistung — darüber sind wir uns alle hier im Hause im klaren — muß besser honoriert werden. Die Zeit ist reif für grundlegende neue Weichenstellungen. Kollege Hoyer hat vor wenigen Stunden die Funktion des Bürgergeldes hier dargestellt, das für mehr Gerechtigkeit sorgen wird. Dennoch kann es hierbei nicht bleiben. Wir müssen zu einer anderen Prioritätensetzung kommen. Das geht auch bei leeren Kassen. Es ist eine Frage der Umverteilung.Die Förderung von Kindern ist keine Privatangelegenheit der Familien; denn die gesamte Gesellschaft profitiert von ihnen. Für mich ist erschütternd, daß wir in der Vergangenheit eher geneigt waren, einen teuren Reparaturbetrieb zur Behebung gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu finanzieren, anstatt durch eine großzügige Unterstützung der Familien und Mütter gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu verhindern. Wir waren in der Vergangenheit viel zu zurückhaltend. Wir haben immer gesagt: Familien
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16761
Uta Würfeldürfen nicht benachteiligt werden. Nein, meine Damen und Herren, Familien müssen bevorzugt werden.
Die Jugendlichen, die heute randalieren, die Rauschgift nehmen, die unter Vollrausch die Telefonzellen demolieren oder zu Hunderttausenden die Lehre abbrechen, die Jugendlichen, die klauen und Gewalt ausüben, sind nicht vom Himmel gefallen. Sie haben Eltern, zumindest haben sie Mütter. Sie hatten und haben auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie hatten und haben auch Nachbarn. Das heißt, sie hatten Menschen um sich, die ihnen Vorbilder hätten sein können, die ihnen Orientierung hätten bieten müssen und die ihnen die Werte hätten vermitteln können, die ihre Erziehung sichergestellt hätten.
Frau Kollegin, ich muß darauf aufmerksam machen: Eigentlich müßte jetzt das rote Licht blinken.
Darf ich es noch ein bißchen blinken lassen?
Offensichtlich hat es an dieser Erziehung gefehlt. Statt dessen dreht sich die Spirale des schlechten Benehmens, der Rücksichtlosigkeit und der Gewalt in unserer Gesellschaft immer schneller. Nur in einer konzertierten Aktion wird es möglich sein, der Kräfte Herr zu werden, die unsere Gesellschaft aushöhlen. Gewaltsame Aneignung fremden Eigentums, gewaltsames Eindringen in fremde Wohnungen, Gewalt gegen staatliches, d. h. gesamtgesellschaftliches Eigentum sind keine Kavaliersdelikte. Ächten wir mehr die Gewalt, als wir es in der Vergangenheit getan haben!
Investieren wir in unsere Familien und ihre Erziehungsfähigkeit, investieren wir in die Ausbildung unserer Kinder, in die Lehrer, in die Schulen, in die Hochschulen! Diese Zukunftsinvestition wird uns allen guttun.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es einen Wettbewerb um den zynischsten Slogan des Jahres gäbe, hätte 1993 das Motto des DGB „Frau geht vor" alle Chancen zu einem Sieg. In der Tat: Frau geht vor, und zwar bei Arbeitslosigkeit und Stellenabbau, bei geringfügiger Beschäftigung und niedrigen Löhnen, bei kleinen Renten und den Armutsstatistiken, bei der Bewältigung unbezahlter Familienarbeit und als Adressatin männerdominierter Entscheidungen über Sexualität und Gebärfähigkeit.Wie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe hat sich bei den Frauen die Angleichung des Ostniveaus an das schlechtere Westniveau in rasanter Geschwindigkeit vollzogen.Mit der Neuauflage der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung wird ihnen erneut die Rolle in Haushalt und Familie mit allen negativen Folgen für eine eigenständige ökonomische Absicherung zugewiesen. Ich verweise nur darauf, daß die Hälfte aller Renterinnen in den alten Bundesländern weniger als 500 DM Rente erhalten, also als arm gelten müssen, und 20 % aller alleinerziehenden Frauen von der Sozialhilfe leben. Entsprechend wirkt sich auch der gegenwärtig begonnene Abbau des Sozialstaates mit Kürzungen bei Lohnersatzleistungen, Sozialhilfe und Erziehungsgeld auf Frauen besonders gravierend aus.Von gleicher Teilhabe der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen kann nach wie vor nicht die Rede sein. Die Vorstandsetagen, Aufsichtsräte und auch die Zusammensetzung des Bundestages sind dafür ebenso beredte Beispiele wie die männerweit verbreitete Angst vor der Quote.Ein männerdominiertes Verfassungsgericht hat das Grundrecht der Frau auf Würde und Selbstbestimmung zur Manövriermasse moralisierender Beliebigkeit verkommen lassen und die Ostfrauen nach mehr als 20 Jahren relativer Selbstbestimmung per staatlichem Gewaltmonopol mit Gebärzwang belegt.Gewalt gegen Frauen und Mädchen nimmt unübersehbar zu. Allein in diesem Jahr forderte der Frauenhaß mehrere hundert Todesopfer. Stündlich werden in der Bundesrepublik Frauen mißhandelt, vergewaltigt und gedemütigt. Darauf will ich am heutigen internationalen Tag gegen die Gewalt an Frauen nachdrücklich hinweisen und darüber informieren, daß terre des femmes heute in Köln und München Protestaktionen veranstalten.Dies alles ist Realität für Frauen in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde. Dabei habe ich bisher nur von den hier als Staatsbürgerinnen lebenden Frauen gesprochen und nicht von den vor Krieg, Hunger, Folter und sexueller Gewalt zu uns geflohenen Frauen, deren Lage noch sehr viel schlechter ist.Was aber tut die Bundesregierung, um die offensichtliche Geschlechterapartheid im eigenen Land wirksam zu bekämpfen? Schließlich ist sie laut Grundgesetz verpflichtet, Defizite bei der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu beseitigen. Vollmundige Versprechungen sind seit Jahren immer wieder zu hören. Anders sieht es schon aus, wenn den Worten Taten folgen sollen, die finanziert werden müssen. Da gibt es dann „finanzielle Zwänge, die es nicht erlauben", „Defizite im Haushalt" und „einen Schuldenberg, der abzutragen ist".Wir erleben gerade wieder, wie bei der Frage der Finanzierung des Anspruchs auf einen Kindergartenplatz das ganze Register der Ausreden gezogen wird. Auch da sind die Betroffenen die Frauen, die Kinder zur Welt bringen, ohne daß die erforderlichen Rahmenbedingungen dafür verbessert werden.
249 Abgeordnete dieses Hauses konnten die Mehrheitsentscheidung des Bundestages zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs nicht aushalten und gingen zum Bundesverfassungsgericht. Dieses hat
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16762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Petra Blässentschieden und als einen wichtigen Bestandteil — Frau Würfel hat darauf aufmerksam gemacht — seiner Verfassungsinterpretation dem Gesetzgeber die Schaffung der Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern auferlegt. Dieselben Abgeordneten, die Karlsruhe angerufen haben, fühlen sich nun bei der Kürzung der Sozialleistungen plötzlich nicht mehr an den Richterspruch gebunden.
Meine Damen und Herren, in der gegenwärtigen Situation wäre ein völlig anderer Haushaltsansatz erforderlich, um der Dimension des Problems adäquate Mittel zur Verfügung zu stellen, ein Haushaltsansatz, in dem Frauenförderung und Beseitigung der Benachteiligung von Frauen nicht ressortgebunden den Frauen selbst zugeschoben werden, sondern der in allen Einzelplänen Voraussetzung für die Zuweisung von Mitteln wäre.Aber selbst wenn ich die Logik des jetzigen Haushaltsansatzes zugrunde lege, kann ich nur Ungereimtheiten entdecken. In einer Situation, in der die Benachteiligung von Frauen selbst nach Ansicht des Arbeitgeberverbandes ständig größer wird, müßten nach den Gesetzmäßigkeiten der Logik eigentlich die vorhandenen Mittel so eingesetzt werden, daß dieser steigenden Ungerechtigkeit gegengesteuert würde. Im Klartext: Die in den einzelnen Haushalten geplanten Mittel müßten daraufhin überprüft werden, ob sie in ihrer Mehrzahl vor allem Frauen direkt oder zumindest mittelbar zugute kommen. Der Haushalt Frauen und Jugend müßte in spürbaren Größenordnungen aufgestockt werden.Was aber geschieht statt dessen? Damit der Bereich des Ministers für Arbeit und Sozialordnung um 1,7 % gesteigert werden kann — eine von vornherein unzureichende Summe beim Ausmaß der sozialen Probleme hierzulande —, soll der Bereich des Ministeriums für Frauen und Jugend um 9,1 % reduziert werden. Dabei stehen ihm mit 2,645 Milliarden DM ohnehin nur die geringfügigen Mittel einer Alibiinstitution zu. Die reduzierten Mittel kommen dann in der bisher schon bekannten Gerechtigkeit Frauen und Männern zugute. Den ohnehin benachteiligten Frauen wird also zugemutet, den Sozialabbau etwas abzufedern, weil die Bundesregierung nicht in der Lage und nicht willens ist, die notwendige generelle Umstrukturierung des sozialen Sicherungssystems in die Wege zu leiten.Der Haushaltsentwurf zum Einzelplan 17 ist in Wirklichkeit eine Bankrotterklärung der Bundesregierung —
Ihre Redezeit ist beendet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
— das ist der letzte Satz — auf dem Gebiet der Gleichstellung der Geschlechter. Daran ändern 100 000 DM weniger oder mehr auch nichts mehr.
Deshalb wird die PDS/Linke Liste dem Entwurf nicht zustimmen.
Ich erteile nunmehr der Ministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so — die Frauen- und Jugendpolitik findet in der realen Welt der Bundesrepublik Deutschland von 1993 statt, und das bedeutet, daß sie sich auch in die gesamtfinanzielle Situation einpassen muß; denn für den Erfolg von Frauen- und Jugendpolitik ist Voraussetzung, daß es eine solide und vernünftige Finanzpolitik in diesem Lande gibt.
Deshalb werden auch wir uns auf das Machbare konzentrieren.Für mich bedeutet das in bezug auf die Frauenpolitik, daß Frauen verbesserte Teilhabe an den Ressourcen dieser Gesellschaft haben,
und sie haben in der tatsächlichen Welt noch keine gleichberechtigte Teilhabe, und deshalb haben wir uns ja glücklicherweise auch parteiübergreifend auf eine Änderung des Art. 3 unserer Verfassung einigen können.Aber, liebe Frau Wegner, ich muß Ihnen eines sagen: Für mich bedeutet Frauenpolitik, daß wir die Realität nicht außer acht lassen und praxisnah arbeiten,
d. h nicht lebensfremden und ideologiebestimmten Idealen nacheilen; und dazu gehört für mich die Quote. Das muß ich Ihnen leider sagen.
Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen sagen, daß wir uns um einen gesellschaftlichen Konsens im Hinblick auf das Gleichberechtigungsgesetz kümmern. Sie von der SPD haben mir nach der Anhörung empfohlen, dieses Gesetz zurückzuziehen.Daher muß ich Sie fragen: Wie halten Sie es mit einer wirklichen Verbesserung der Situation von Frauen, wenn Sie auch das, was machbar, was im Konsens tragbar ist, nicht wollen, sondern es verhindern?
Sie haben es in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft, ein Gleichberechtigungsgesetz durchzusetzen, und ich möchte vermuten, auch das, was Sie uns jetzt vorgelegt haben, würde, wenn Sie Regierungsverantwortung trügen, niemals Gesetzeskraft erlangen,
weil es realitätsfern ist und weil es mit der wahren wirtschaftlichen Situation dieses Landes nichts zu tun hat.
Weiter frage ich Sie, warum Sie es verhindern wollen, daß dieses Gesetz eine neue Qualität im
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16763
Bundesministerin Dr. Angela MerkelVerhältnis von Frauen und Männern im öffentlichen Bereich, im Bereich des Bundes begründet, warum Sie verhindern wollen, daß mehr Frauen in die Gremien kommen, die im Einflußbereich des Bundes sind und von denen er beraten wird, warum Sie es verhindern wollen, daß sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zum erstenmal auch gesetzlich sanktioniert wird.Ich bitte Sie noch einmal, daß Sie sich konstruktiver an diesen Beratungen beteiligen und hier nicht einfach von Zurückziehen und Kapitulieren sprechen.
Frau Ministerin, da ist die Bitte nach Beantwortung einer Zwischenfrage. Sind Sie prinzipiell bereit? Bitte sehr.
Ja, ich bin prinzipiell und auch im konkreten Falle bereit.
Frau Ministerin, darf ich Sie folgendes fragen?
Wir hatten ja eine Anhörung zu unseren beiden Entwürfen. Würden Sie mir erstens nicht bestätigen, daß die Anhörung ergeben hat, daß Ihre Gesetzentwürfe vollkommen unzureichend sind, in der Durchsetzung dadurch nicht erfolgreich sind, und daß zweitens die Quotierung aus unserem Gesetzentwurf als ein erfolgreiches Mittel angesehen wurde und daß drittens Ihr Gesetz selbst im öffentlichen Dienst nur ganz wenig erreicht?
Würden Sie mir das so als Ergebnis dieser Anhörung bestätigen können?
Das würde ich Ihnen als Ergebnis dieser Anhörung so einfach nicht bestätigen können, auch wenn ich nicht ausschließen will, daß es solche Stimmen bei der Anhörung gab, auf der ja durchaus auch Sympathisanten Ihres Gesetzentwurfs vertreten waren.Ich darf Ihnen leider keine Frage stellen, sonst würde ich Sie fragen: Würden Sie mir bestätigen, daß weiten Teilen der Wirtschaft auch mein Gesetz zu weit geht und daß Demokratie daraus besteht, daß man einen Konsens findet und mehrheitsfähige Entwürfe macht?
Nun würde ich gerne zu meinem zentralen Thema kommen, zu dem, was auch in der Arbeit meines Ressorts sehr wichtig ist, zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zu der Frage, in welchem Maße hier Frauenpolitik einen Beitrag leisten kann.Hier geht es aus meiner Sicht nicht um die Quote, sondern darum, daß Frauenförderung in der Wirtschafts- und Strukturpolitik verankert wird. Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir uns als Frauenpolitikerinnen damit befassen, wie sich die Lebensentwürfe von Frauen geändert haben und wie wir die Lebenswelt der Frauen, ihren Wunsch nach einer Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser mit den Rahmenbedingungen unserer Arbeitswelt in Einklang bringen können.Es gehört für mich schon zu den bedauerlichen Entwicklungen, daß über Flexibilisierung der Arbeitszeit erst dann gesprochen wird, wenn es wirtschaftlich schlecht geht, aber nicht dann, wenn es aus familienpolitischen Gründen notwendig wäre.
Aber ich denke, es gehört auch dazu, daß wir jetzt das frauenpolitisch Machbare und Sinnvolle tun,
die Chancen ergreifen und zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie kommen. Die Chancen dafür stehen gut. Im übrigen gibt es auch eine Reihe von Modellen aus der Frauenpolitik, die hier durchaus mehr Beachtung finden könnten.Wir haben einen sehr konkreten Schritt im Hinblick auf eine bessere Verankerung der Frauenpolitik in die Wirtschafts- und Strukturpolitik mit unserer ,,Konzertierten Aktion Frauenerwerbstätigkeit" gemacht. Ich möchte dem Bundeswirtschaftsminister, dem Bundesarbeitsminister und der Bundesanstalt für Arbeit danken, daß sie zusammen mit dem Deutschen Frauenrat, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden an einem Tisch ganz deutlich gemacht haben, wer welche Beiträge leisten kann, um der Arbeitslosigkeit in wirklich besserer Weise zu begegnen.Was die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen anbelangt, Frau Wegner: Es ist so, daß ich sehr realitätsnah immerhin mit dafür gesorgt habe, daß in § 2 des Arbeitsförderungsgesetzes steht, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit an den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beteiligt werden sollen. Das ist ein Beitrag für Frauen und keine allgemeine, starr definierte Quote.
Wir versuchen in verschiedenen Modellprojekten Beiträge zu leisten, insbesondere in den neuen Bundesländern, um in ländlichen Bereichen neue Arbeitsplätze zu schaffen und um Frauen verstärkt in Führungspositionen der Wirtschaft zu bringen. Denn das war sowohl in der DDR als auch in der alten Bundesrepublik nicht in ausreichendem Maße möglich. Deshalb halte ich es für ein ganz wesentliches Thema, Frauen in Entscheidungspositionen hineinzubringen.
Auch ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz auf den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingehen. Ich muß Ihnen sagen, Frau Wegner — lesen Sie das im Bundesratsprotokoll nach —: Im Bundesrat ist von den SPD-Ländern einhellig erklärt worden, daß sie dann, wenn der Umsatzsteueranteil für die Länder verbessert wird, bereit und fähig sind, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz umzusetzen.
Jetzt ist es so, daß, ausgehend von NordrheinWestfalen — hier habe ich ganz andere Töne gehört —, gesagt wird, daß dies nun leider nicht zu
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16764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesministerin Dr. Angela Merkelschaffen sei. Wir sind uns ganz einig darin, daß hinsichtlich der Bereitstellung von Kindergartenplätzen Probleme auf dem Rücken von Eltern ausgetragen werden, weil angeblich andere Dinge immer größere Priorität haben. Das darf und kann nicht sein.
Wir werden uns im nächsten Jahr auch ganz intensiv mit Fragen der internationalen Frauenpolitik beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle nur die Weltfrauenkonferenz der UNO im Jahre 1995 in Peking und die Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union nennen, während der wir versuchen wollen, mehr Gleichberechtigungspolitik im europäischen Maßstab durchzusetzen.Wir werden uns im Jugendbereich im nächsten Jahr weiter mit dem Thema der Gewalt unter Jugendlichen und der Gewalt in unserer Gesellschaft zu befassen haben. Ich bin sehr froh, daß es uns gelungen ist, eine Studie von zwei Trierer Wissenschaftlern, eine Analyse über die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt in unserer Gesellschaft vorzulegen. Diese Studie macht deutlich, wie wichtig es ist, eine sehr differenzierte Diskussion zu führen, worum ich Sie alle bitten möchte. Die Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht, wie sehr häufig leichthin behauptet wird, gestiegen. Im Gegenteil: In den 80er Jahren ist, bezogen auf die Gastarbeiter, ein deutlicher Rückgang an Fremdenfeindlichkeit feststellbar. Gestiegen ist die Bereitschaft, Gewalt in der Auseinandersetzung um eigene Interessen anzuwenden. Das Gemisch aus Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft sollte uns alle außerordentlich beschäftigen.Ich muß Ihnen an dieser Stelle sagen: Es muß uns gelingen, von diesem Bundestag aus das Signal zu senden, daß Gewalt kein probates Mittel in der Auseinandersetzung bei Interessenkonflikten ist.
Wir werden mit dem Bundesjugendplan versuchen, die jungen Menschen — auch hier sind wir sehr realitätsnah — tatsächlich zu erreichen.Es ist hier an verschiedener Stelle Kritik geäußert worden. Ich möchte sagen, daß der Bundesjugendplan insgesamt ein bewährtes Instrument ist. Es ist aber immer wieder notwendig, den Entwicklungen der Zeit auch hier Rechnung zu tragen.Wir haben deshalb ausgiebig mit dem Bundesjugendkuratorium über eine Neufassung von Richtlinien gesprochen. Wir wollen erreichen, daß die Jugendlichen, die wir heute noch nicht in ausreichendem Maße erreichen und auch modellhaft nicht fördern, besser berücksichtigt werden. Ich nenne insbesondere Jugendliche mit geringerem Bildungs- und Berufsabschluß. Ich nenne auch ausländische Jugendliche und auch Mädchen.Wir werden das AFT-Programm, das Programm zum Aufbau freier Träger, auch 1994 fortsetzen können, allerdings in einem beschränkteren Umfang.Weiterhin werden wir das Programm gegen Aggression und Gewalt fortsetzen.
Liebe Frau Wegner, ich bitte Sie, auch das einzusehen, was mir in der allgemeinen Diskussion oft fehlt: Die Arbeit mit gewaltorientierten Jugendlichen ist nicht ohne Risiko. Dabei wird es auch immer wieder Mißerfolge geben. Wenn wir im Bemühen um die Integration von Menschen nicht bereit sind, diese Mißerfolge hinzunehmen, dann haben wir von vornherein aufgegeben. Deshalb bitte ich Sie hier um Unterstützung.
— Ich predige nicht in die falsche Richtung. Ich habe sehr wohl die Diskussionen über eine mögliche Aufstockung dieses Titels in Erinnerung. Ich weiß, wovon ich spreche, Frau Wegner.
— Ich entschuldige mich. Ich bitte Sie um weitere Unterstützung.
Die Vertiefung der internationalen Beziehungen im Jugendbereich, vor allem zu den westeuropäischen Staaten, zur Türkei, zu Israel und zu den USA, ist für uns ein weiterer Schwerpunkt. Wir werden versuchen, die Arbeit im Deutsch-Polnischen Jugendwerk zu intensivieren. Die Finanzausstattung ist hier noch nicht ausreichend; hier brauchen wir noch Verbesserungen. Wir werden weitere Kontakte mit den mittel- und osteuropäischen Staaten pflegen.
Ich möchte noch auf den Zivildienst zu sprechen kommen. Uns ist es in den Haushaltsberatungen gelungen — Frau Wegner, davon haben Sie nicht gesprochen —, in einer guten und vernünftigen Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden das zunächst vorgesehene Sparvolumen im Zivildienst deutlich zu verringern. Dennoch sind Einsparungen unumgänglich.Wenn Sie die 45 Pf Bekleidungszuschuß angesprochen haben, müssen Sie dazusagen, daß es sich um einen Ausgleich für die Abnutzung von Freizeitkleidung handelt, daß hier also die Einschnitte doch wohl wirklich sozialverträglich sind.Ich weiß, was die Zivildienstleistenden zu tun haben, was sie für unsere Gesellschaft bedeuten. Aber ich weiß auch, daß es in unserem Lande die Wehrpflicht gibt und daß deshalb vor allen Dingen die Wehrgerechtigkeit durchgesetzt werden muß. Deshalb wirken wir auf eine Gleichbehandlung von Zivildienstleistenden und Wehrdienstleistenden hin. Aber daß es natürlich immer gravierende Unterschiede zwischen Zivildienst und Wehrdienst geben
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16765
Bundesministerin Dr. Angela Merkelwird, das wissen Sie, und das wissen wir alle gemeinsam.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu der allgemeinen Diskussion über eine allgemeine Dienstpflicht sagen. Ich persönlich bin der Meinung, daß die allgemeine Dienstpflicht nicht die richtige Antwort auf Herausforderungen in unserer Gesellschaft ist
und daß wir deshalb beim Wehrdienst und beim Zivildienst bleiben sollten. Ansonsten sollten wir das freiwillige soziale Jahr und das freiwillige ökologische Jahr als Angebote für interessierte junge Menschen weiter fördern.Herzlichen Dank.
— Darf ich noch einen Satz sagen?
Ja, Sie haben noch Zeit. Sie brauchen sich nicht zu beeilen.
Den allerwichtigsten Satz habe ich vergessen: Ich möchte mich ganz herzlich bei den Mitgliedern des Haushaltsausschusses bedanken, die für unseren Einzelplan verantwortlich sind, bei Frau Susanne Jaffke, Frau Ina Albowitz und Frau Wegner. Wir haben bei allen Unterschieden vernünftig im Sinne von Jugendlichen und Frauen in dieser Gesellschaft zusammengearbeitet.
— Wo da die Männer bleiben, das weiß ich nicht.
Aber auch da gab es manchen, der uns in kritischen Abstimmungen unterstützt hat.
Ich gehe davon aus, daß die Männer wenigstens bei der Abstimmung jetzt mitmachen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 17, Bundesministerium für Frauen und Jugend, in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 17? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Einzelplan 17 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nunmehr den Einzelplan 18 auf: Einzelplan 18
Bundesministerium für Familie und Senioren — Drucksachen 12/6018, 12/6030 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Wolfgang Weng Dr. Konstanze Wegner
Frau Dr. Konstanze Wegner kann wie beim Einzelplan 17 die Debatte eröffnen, wenn das Haus damit einverstanden ist, daß wir eine Stunde Debattenzeit vereinbaren. — Das ist offensichtlich der Fall.
Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort.
Vielen Dank. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt des Ministeriums für Familie und Senioren steht auch im Zeichen der Sparpolitik. Es war erfreulicherweise durch das gute Einvernehmen unter den Berichterstatterinnen und Berichterstattern dennoch möglich, einige positive Zeichen zu setzen, die allerdings jetzt, das muß man sagen, durch die globale Minderausgabe wieder gefährdet erscheinen.
So ist es uns einvernehmlich gelungen, z. B. den gekürzten Titel über die Förderung der Behinderten um rund 200 000 DM auf insgesamt 3 Millionen DM aufzustocken. Das ist zwar angesichts des Bedarfs sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es ermöglicht zumindest, die Förderung etwas auszuweiten.Mein Eindruck ist, daß die Behinderten im Ministerium im Gegensatz zu den Familien und zu den Älteren keine Lobby haben und lediglich als Randgruppe angesehen werden. Angesichts der Probleme, die Behinderte gerade haben, denke ich, man sollte versuchen, zu überlegen, ob nicht so etwas wie eine Schwerpunktförderung in diesem Ministerium geschehen könnte. Ich weiß, daß das schwierig ist, aber ich weiß auch, daß z. B. der Verweis auf den Haushalt des Blüm-Ministeriums, wo erhebliche Mittel für Behinderte etatisiert sind, uns nicht weiterhilft, weil es hier ausschließlich um Mittel für die berufliche Eingliederung geht.Positiv zu werten ist auch, daß es gelungen ist, wenigstens eine gewisse Planungssicherheit für die Wohlfahrtsverbände bei der Betreuung von Aussiedlern und Flüchtlingen zu erreichen. Wir konnten zwar nicht von der geplanten Kürzung Abstand nehmen, weil wir keine Deckung hatten, aber mein Vorschlag wurde akzeptiert, mittelfristig zumindest auf die vorgesehene weitere Absenkung zu verzichten. Dem hat die Ministerin zugestimmt, und das steht auch im Protokoll. Und ich hoffe, daß sich auch eine sozialdemokratisch geführte Regierung, die wir ja 1994 haben werden, daran hält.
— Man muß immer optimistisch sein. Wenn einer das noch verhindern kann, ist es nur die SPD selbst.
Erfreulicherweise ist es auch gelungen, den sogenannten Wuermeling — das ist die Bahnermäßigung für Kinderreiche — zu erhalten. Dieser Wuermeling verbleibt zunächst im Haushalt des Verkehrsministeriums, und wenn die Bahnreform dann hoffentlich mal abgeschlossen ist, wird man sich neu Gedanken machen, wo man ihn etatisiert.
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16766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Konstanze WegnerEinvernehmlich haben wir auch die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit im Jahr der Familie etwas gekürzt, weil wir der Meinung waren, daß gerade in einem Superwahljahr Zurückhaltung angebracht ist. Außerdem muß man sagen, daß das Haus mit Mitteln für Öffentlichkeitsarbeit und Fachinformationen gut ausgestattet ist.Das waren so die angenehmen Teile. Ich komme jetzt zu den etwas unbefriedigenderen Teilen. Da haben wir nach wie vor das Problem des Familienlastenausgleichs. Man muß immer wieder daran erinnern, daß erst einmal Steuergerechtigkeit hergestellt werden muß. Erst dann kann ein Familienlastenausgleich überhaupt beginnen. Von einer annähernd befriedigenden Lösung in beiden Bereichen sind wir ganz weit entfernt. Das derzeitige Existenzminimum von 517 DM ist viel zu niedrig. Da sind sich alle Familienorganisationen durch die Bank einig. Es müßte mindestens 650 bis 700 DM betragen.Die Familienverbände weisen ebenfalls zu Recht darauf hin, daß die Familien noch mehr als durch die vorgesehenen Kürzungen beim Kinder- oder Erziehungsgeld durch die in diesem komischen — ich sage: — Konsonantengesetz eingebauten Kettenwirkungen betroffen sind. Die Deckelung, nämlich das Einfrieren der Sozialhilfe führt ja nicht nur zur Belastung der Betroffenen. Vielmehr wird es, weil sie durch das Verfassungsgericht an das Existenzminimum gebunden ist, auch keine Erhöhung des Kindergeldes und der Freibeträge geben.Sie kennen unser Modell eines gleichen Kindergelds für alle von 250 DM mit einem Zuschlag in Höhe von 100 DM ab dem vierten Kind. Wir glauben zwar, daß es wesentlich gerechter ist als das Modell, das Sie von der Koalition fahren. Man muß aber ehrlich sagen, daß auch dies nicht annähernd ausreichend ist, um einen echten Familienlastenausgleich zu gewährleisten. „Die Stimme der Familie" — das ist die Zeitschrift des Familienbunds der Deutschen Katholiken, also kein SPD-Kampfblatt — bezeichnet die Familienpolitik der Parteien resignierend als „Hülsenfrüchte" und sagt:Es verbleibt wieder einmal das Bundesverfassungsgericht als Hoffnungsträger für Familien.
Man muß sagen, daß heute Familien mit Kindern, vor allem jene, wo nur ein Elternteil Erwerbsarbeit leistet und sich der andere Teil um die Erziehung der Kinder kümmert, die Benachteiligten, man kann sagen: die Dummen in unserer Gesellschaft sind.
— Im Ehegattensplitting sind noch Mäuse drin. Daran sollten Sie mal gehen. Das aber trauen Sie sich nicht.
Kinderreichtum und Alleinerziehung bilden heute die größten Risiken, in Armut zu geraten. Das ist in der EG so; das ist auch in unserem Land so. Ich muß sagen:Das ist eine Schande für ein so reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland!
Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, daß Politik und Familienverbände sich einmal zusammensetzen und über neue Wege nachdenken, die Situation von Familien grundlegend zu verbessern. Hier gibt es Ansätze. Ich verweise z. B. auf das, was der Sozialrechtler Jürgen Borchert dazu gesagt hat.
— Nein, es handelt sich nicht um Ihren Minister. Der beschäftigt sich vorwiegend, wie schon gesagt wurde, mit der Schweinepest und ähnlichem. Es handelt sich vielmehr um den Sozialrechtler Jürgen Borchert, den auch die SPD gut lesen sollte; denn das ist auch für sie lesenswert.Ebenfalls verweise ich auf das, was mein Kollege Michael Habermann in der ersten Lesung gesagt hat.
Erstaunt hat mich die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Ministerin die Deckelung bzw. das Einfrieren der Sozialhilfe befürwortet hat.
Wer heute glaubt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bei 517 DM Sozialhilfesatz sei noch ein großes Einsparpotential vorhanden, der muß die Bodenhaftung total verloren haben.
Auch das Argument des Lohnabstandsgebots zählt hier nicht. Wenn dies in manchen Fällen nicht gewahrt sein sollte, liegt das nicht an zu hohen Sozialhilfesätzen, sondern an der Tatsache, daß es in Deutschland immer noch Berufe gibt, wo einfach zu wenig verdient wird.
Diese Kürzung und Deckelung, die Sie durchgesetzt haben, ist sozial- und konjunkturpolitisch gleichermaßen unsinnig; denn sie wird die Armut in Deutschland vergrößern und die Nachfrage absinken lassen.Unverfroren im Verfahren und inhaltlich problematisch war auch die Art, wie die Koalition im Haushaltsausschuß die Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger durchgedrückt hat. Ohne Vorberatung im zuständigen Fachausschuß, ohne daß es auf der Tagesordnung stand, ohne begleitende fachliche Begründung und Diskussion wurde dies in der Bereinigungssitzung einfach auf den Tisch geknallt. Ich denke, eine Entscheidung von solcher Tragweite, die auch unter Experten außerordentlich umstritten ist, hätte in der Tat vorher in einer Anhörung breit diskutiert werden müssen.
Was Sie da betreiben, ist populistischer Aktionismus und hilft den betroffenen Kommunen überhaupt nicht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16767
Dr. Konstanze WegnerDiese nämlich brauchen echte neue Arbeitsplätze und nicht solche Scheinmanöver.
Ich komme zur Altenpolitik. Angesichts der demographischen Entwicklung hat sich der Altersbegriff grundlegend gewandelt. Alter kann heute vier bis fünf Jahrzehnte dauern, also länger als die Zeit des Arbeitslebens. Das heißt, daß sich unter dem Etikett „Alter" Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befinden.
Wir sprechen also von jungen Alten — lieber Rudi, dazu gehörst du —,
von mittleren Alten und von alten Alten. Es stellt sich die Frage: Was haben sie für Bedürfnisse?
Rudi, ich gucke auch dich an!
— Herr Präsident, bitte bewahren Sie mich einmal vor überzogenem Beifall meiner eigenen Fraktion! Das nimmt mir nämlich die Zeit weg.
Also: Die jungen Alten brauchen z. B. Weiterbildungseinrichtungen
und Möglichkeiten zur Nutzung ihres beruflichen und sonstigen Sachverstands.
Was brauchen die älteren und die wirklich alten Alten? Die älteren Alten — dazu werden wir hoffentlich alle einmal gehören — wollen vor allem altengerechte Wohnungen, sie wollen den Ausbau ambulanter und teilstationärer Dienste, sie wollen eine Pflegeversicherung, die das Abrutschen in die Sozialhilfe wirklich verhindert, und sie wollen — das kommt immer viel zu kurz — das Nachdenken über die Chance eines humanen und liebevoll begleiteten Sterbens.
Dieses Thema wird in unserer Gesellschaft absolut verdrängt.Angesichts der Fülle von Aufgaben, die sich stellen, war es, so denke ich, eine zukunftsweisende Entscheidung, in diesem Ministerium eine eigene Abteilung für Altersfragen einzurichten. Die Frage ist natürlich, welche Antwort der Bundeshaushalt insgesamt — und gerade dieses Ministerium — auf die Problemstellungen gibt. Dazu sage ich: Ein Gesamtkonzept kann ich nicht erkennen. Ich erkenne einzelne Projekte, von denen manche durchaus vernünftig sind. Aber ich erkenne keine große Linie.Eine Pflegeversicherung als Volksversicherung z. B., die das Abgleiten in die Sozialhilfe wirklich verhindert, hat die F.D.P. bisher erfolgreich konterkariert.Die vom Frauen- und Jugendministerium vorgeschlagene Kürzung beim Zivildienst läuft dem Konzept des Ausbaus einer ambulanten Versorgung, das diese Regierung, auch ihre Sozialpolitiker, zu Recht propagiert, total entgegen.
Verdrängt wird auch der von mir angesprochene Gedanke eines humanen Sterbens, das als Teil des Lebens begriffen werden sollte. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Anfrage der SPD-Fraktion zum Thema Hospiz, in der sehr wichtige Anstöße enthalten sind.Bei den Seniorenbüros — das ist eines der Projekte — stellt sich für mich die Frage, wie es weitergehen wird. Werden sie angesichts leerer Kassen von den Kommunen weitergeführt werden, wenn die Modellphase beendet ist? Ich bin da skeptisch. Auch hier fragt sich, ob das Ministerium ein Konzept hat.
Überfällig und begrüßenswert ist, daß die große Zahl der bei uns lebenden älteren Ausländer und ihre Bedürfnisse jetzt mehr ins Blickfeld tritt. Erfreulich ist auch, daß es einvernehmlich gelungen ist, die institutionelle Förderung des Zentrums für Altersfragen in Heidelberg zu sichern. Ich sehe hier Frau Lehr. Sie wird sich sicherlich gefreut haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ältere Menschen sind keine Randgruppe; sie sind im Begriff, die größte Gruppe der Gesellschaft zu werden. Sie werden die Politik künftig wesentlich stärker bestimmen, als es bisher der Fall war. Deshalb, so glaube ich, ist die Politik auf allen Ebenen gefordert, die Rahmenbedingungen für humanes Altwerden zu sichern. Das erreicht man nicht durch Werbeplakate mit dem Bild von Frau Rönsch, sondern dafür brauchen wir ein tragfähiges Konzept, das auch finanzierbar ist. Wir brauchen auch etwas mehr Phantasie und Kreativität als bisher.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Irmgard Karwatzki.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Vorbemerkung machen: Ich habe mich sehr gefreut
— die lobe ich gleich —, daß die Kollegen aus derKoalition der Kollegin Würfel soviel Beifall gespendethaben, als sie uns ihre Forderungen zur Familienpoli-
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16768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Irmgard Karwatzkitik zur Kenntnis gab. Wir sitzen beide in einem Boot und klagen das gemeinsam ein, Frau Würfel. Ja?
Als Abgeordnete, die ich mich seit vielen Jahren einer zukunftsorientierten Familien- und Seniorenpolitik engagiert verpflichtet weiß, habe ich als Berichterstatterin für den Einzelplan 18 den Entwurf für das Haushaltsjahr 1994 besonders sorgfältig daraufhin durchgesehen, inwieweit die Einsparauflagen noch mit einer familiengerechten Politik vereinbar sind. Ich verhehle nicht, daß es mir zuweilen schwergefallen ist, auch dort Kürzungen vorzunehmen, wo ich mir eher eine Aufstockung gewünscht hätte.
Dennoch bin ich der Meinung, daß wir alles in allem ein respektables Ergebnis vorzeigen können, wie Konstanze Wegner eben schon ausgeführt hat. Der Haushalt des Einzelplans 18 weist gegenüber dem Jahr 1993 ein — ich meine: niedriges — Kürzungspotential von 5 % aus.Meine Damen und Herren, es wird oft unterstellt, egal, wer gerade regiert, daß in Wahljahren soziale Wohltaten verteilt werden.
Dieser Gefahr sind wir nicht erlegen, im Gegenteil. Wir sind verantwortungsbewußt. Die so selbstverständlich gewordenen Besitzstände der Verteilungsgesellschaft stehen auf dem Prüfstand. Dennoch wollen wir das, was wir in den letzten Jahren in der Familien-, Senioren- und Wohlfahrtspolitik auf den Weg gebracht haben und sich bewährt hat, erhalten und weiter ausbauen, aber auch korrigieren, wo wir Defizite erkennen. Das bedeutet beileibe nicht, daß sich die Politik des Sozialstaates in immer höheren Leistungsangeboten erschöpfen müßte. Sozialpolitik hat zwar viel mit Finanzpolitik zu tun, aber nicht nur.So haben wir uns an moderate Haushaltskürzungen herangearbeitet. In Zeiten der knappen Kassen muß an die Sparbereitschaft aller, nicht nur an die des Staates, appelliert werden. Daß der soziale Rechtsstaat die besserverdienenden Bürger an den sozialen Wohltaten nicht im gleichen Maße teilhaben läßt wie die einkommenschwächeren Bürger, sollte eine Selbstverständlichkeit sein und ist es bei uns. Deshalb basieren die von uns eingebrachten Einsparvorschläge weitgehend auf strukturellen Veränderungen, die sich an der sozialen Ausgewogenheit orientieren und einen Kompromiß zwischen dem finanzierbar Nötigen und dem finanzierbar Möglichen darstellen.
— Es geht nicht darum, lieber Kollege Diller, den sozial Schwächeren etwas wegzunehmen, die auf die soziale Sicherung durch unseren Staat vertrauen dürfen, sondern Sozialleistungen bei denjenigen abzubauen, die der staatlichen Zuwendung kraft ihres Einkommens nicht bedürfen.
Damit komme ich zum zentralen Punkt.
— Das ist richtig. Das habe ich in meiner letzten Haushaltsrede sehr differenziert dargelegt. — Das zahlenmäßig zu Buche schlagende Einsparvolumen im Einzelplan 18 wird beim Kindergeld erbracht, weil es der größte Ausgabeposten in diesem Einzelplan ist.Die Maßnahmen im einzelnen greifen weder an die Substanz der bewährten Kindergeldregelung, noch wird hier auf Kosten der sozial Benachteiligten gespart. Es geht um die oberen Einkommensgruppen, bei denen das Kindergeld für das dritte Kind und weitere Kinder auf einen Sockelbetrag von 70 DM festgeschrieben wird.Mit der Einziehung von Einkommensgrenzen wird sicherlich ein Stück mehr Gerechtigkeit in der Familienförderung erreicht. Die vorgesehenen Freibeträge betragen bei Verheirateten 100 000 DM und bei Ledigen 75 000 DM netto, was einem Bruttoeinkommen von 140 000 DM bzw. 110 000 DM entspricht. Hinzu kommt ein weiterer Freibetrag von 9200 DM ab dem vierten Kind.Auch das Erziehungsgeld wird unter Zugrundelegung der gleichen Freibeträge bereits ab dem ersten Monat einkommensabhängig gewährt. Die weiteren Maßnahmen wie die stärkere Berücksichtigung des eigenen Einkommens von Kindern in der Ausbildung, der Ausschluß des Verzichts auf einen Teil der Ausbildungsvergütung sowie die Beschränkung des Kindergeldanspruchs auf Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung haben, tragen ebenso dazu bei, Ungleichgewichte im sozialen Gefüge zu bereinigen.Meine Damen und Herren, mit großer Sorge beobachte ich in den neuen Bundesländern die stark zurückgegangene Zahl der Geburten. Sie ist seit dem Jahre 1989 um die Hälfte gesunken. Dafür ist nicht der Kanzler verantwortlich, damit das hier klar ist.
Im Zweifelsfall kommen solche Zurufe.Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Im Vordergrund stehen sicherlich die seit der Wiedervereinigung veränderten Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung, aber auch die Sorge um den Arbeitsplatz. Die jungen Frauen wollen ihre Wettbewerbschancen in der Arbeitswelt nutzen. Ein Kind könnte sie dabei möglicherweise behindern oder stören. Deshalb erachte ich es auch als besonders vordringlich, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Familie und Beruf auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Ganz wichtig ist hierfür unter anderem der ab dem 1. Januar 1996 gesetzlich verankerte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder ab dem dritten Lebensjahr.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16769
Irmgard KarwatzkiAngesichts der allgemeinen Haushaltsdefizite werden zunehmend die Stimmen lauter, die die Finanzierung der Kindergartenplätze und damit den Rechtsanspruch in Frage stellen wollen. Ich warne davor. Kinder sind unsere Zukunft. Hier darf kein Wechsel ausgestellt werden, dessen Einlösung auf den SanktNimmerleins-Tag fällt.
Haushaltskürzungen sind nie populär. Aber daß uns kaltblütige Kürzungen von seiten der Opposition vorgeworfen werden
— du hast das nicht gemacht, du hast das sehr moderat gemacht; aber wir haben auch die Haushaltsreden bei der Einführung zu berücksichtigen —, weil wir z. B. die Zuschüsse für die Wohlfahrtsverbände einfrieren, die Mittel für die Selbsthilfeorganisationen beschneiden oder die Mittel für die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" kürzen mußten, kann nicht unwidersprochen so stehenbleiben.Richtig ist, daß die Zuschüsse für die Wohlfahrtsverbände mit 42 Millionen DM genauso hoch wie im Haushaltsjahr 1993 ausfallen — du hast dankenswerterweise darauf hingewiesen, Konstanze.
Aber bei den so dringend notwendigen Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen ist doch jeder disponible Haushaltsansatz des Vorjahres, der nicht dem Rotstift geopfert werden muß, bereits ein haushaltsmäßiges Zugeständnis und zugleich die Bestätigung, daß die Aufgaben, die die freien Wohlfahrtsverbände im staatlichen Interesse wahrnehmen, hohe Priorität genießen.
— Das kommt so dünn an. Früher, als wir zusammen im Wasserwerk waren, war es heimeliger. Da verstanden wir uns eigentlich immer. So geht vieles unter.Bereits seit vielen Jahren ist es mir — und das darf ich durchaus einmal so sagen — ein besonders wichtiges Anliegen, immer wieder auf die wertvolle Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände aufmerksam zu machen. Sie genießt einen hohen Stellenwert, nicht nur in sozialer, sondern auch in volkswirtschaftlicher Sicht. Und dabei sollten auch die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfer nicht unerwähnt bleiben, die ohne Entgelt ihre Aufgabe darin sehen, die Sorgen und Nöte ihrer Mitmenschen zu lindern. Ihnen gilt unser besonderer Dank.
Aber auch hier bedarf es weitgehend organisatorischer Strukturen bzw. der notwendigen Infrastruktur, die wiederum die Wohlfahrtsverbände zur Verfügung stellen, um eine sinnvolle Bündelung dieses Arbeitskräftepotentials zu erreichen und entsprechend zu nutzen. Diese Leistungen gehen in keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein, liefern, statistisch gesehen, keinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt.Und trotzdem ist ihre Arbeit so immens wichtig, weil sie vor Ort in der Nähe der Hilfesuchenden als Ansprechpartner präsent sind und aus ihrer Kenntnis der lokalen Gegebenheiten oft bessere Lösungen finden, als staatliche Institutionen es vermögen.Es sind das soziale Umfeld und das soziale Engagement, die zur Befriedigung unserer Gesellschaft beitragen. Nicht nur Hilfe empfangen, sondern auch Hilfe geben können kann auf beiden Seiten Genugtuung, ja Freude auslösen. Die ehrenamtliche Tätigkeit der sozial engagierten Bürgerinnen und Bürger ist außerordentlich hoch zu bewerten. Wir müssen uns alle dafür einsetzen und noch mehr dafür werben, diesen Kreis zu erweitern. Deshalb betone ich noch einmal: Sozialpolitik ist eben nicht nur Finanzpolitik. Unser aller persönliches Engagement ist gefragt. Auch ist es eine alte Weisheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß leere Kassen Kreativität produzieren können.
— Wir wissen, wo wir die herholen.
Wir werden das in großer Ruhe und Gelassenheit auf den Weg geben. Dann erfährst auch du, lieber Kollege Diller, wie wir das machen.Für die Förderung zentraler Maßnahmen und Organisationen der Selbsthilfe stehen im Jahr 1994 2,2 Millionen DM zur Verfügung. Von diesem Betrag gehen rund 2 Millionen DM in die neuen Bundesländer. Seit 1991 läuft in den neuen Bundesländern ein Modellprojekt „Förderung der sozialen Selbsthilfe" mit einem vorgesehenen Bundeszuschuß von insgesamt 10 Millionen DM. Das Ende des Projekts ist für Juni 1996 terminiert. Es sollen 17 Selbsthilfe-, Kontakt- und Unterstützungsstellen gefördert werden.Der Selbsthilfegedanke und seine Umsetzung in die soziale Realität war und ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik. In den alten Bundesländern gibt es ca. 50 000 aktive Selbsthilfegruppen mit über 150 Kontaktstellen. Schon diese Zahlen verdeutlichen, wieviel Gewicht wir der institutionalisierten Selbsthilfe beimessen und warum wir die Förderung in den neuen Bundesländern als so vordringlich erachten, daß wir fast den gesamten Haushaltsansatz dafür verwenden. Eine moderate Ansatzkürzung haben wir lediglich deshalb vornehmen können, weil Verpflichtungen aus Vorjahren rückläufig sind.Die Förderung der Familienarbeit ist nach wie vor zentrales Thema unserer Politik. Sie steht auch weltweit auf der Tagesordnung. Für das Jahr 1994 hat die UNO das „Internationale Jahr der Familie" ausgerufen. Es soll der Schärfung des Bewußtseins für die Belange und Leistungen der Familie in Gesellschaft und Staat dienen.
— Wir glauben das, und wir wünschen Ihre Unterstützung.Die Familienpolitik umfaßt ein breites Spektrum. Sie beginnt mit dem Schutz des ungeborenen Lebens
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16770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Irmgard Karwatzkiund endet mit der Pflege und Versorgung des alten, hilfsbedürftigen Menschen.
Der schnelle Wandel der Gesellschaft verändert auch die Rahmenbedingungen und Wertvorstellungen der Menschen. Die Politik ist gefordert, Veränderungen, ihre Richtungen und ihre Ursachen aufzuzeigen. Wir sind deshalb offen für neue Entwicklungen, auch für veränderte Lebensformen von Familien, und versuchen, insbesondere im Rahmen der Familienforschung mit Hilfe von Modellprojekten Antworten auf neue Herausforderungen zu finden.Die Mittel für die Familienarbeit sind deshalb nur unwesentlich gekürzt worden. Rechnet man allerdings die Ausgaben für das „Internationale Jahr der Familie" hinzu, überschreiten sie die Vorjahresansätze.Ich merke, daß der Präsident hinter mir schon nervös wird. Ich komme zum Schluß.
Frau Kollegin, da Sie hier das vertraulich-kollegiale „du" in der Anrede der Kollegen eingeführt haben: Liebe Irmgard, du hast deine Redezeit schon überschritten.
Ich habe ja gemerkt, daß da hinten Nervositäten waren. Ich komme zum Schluß.
Ich möchte mich herzlich bedanken bei den Mitarbeitern des Ministeriums, bei der Leitung des Hauses und natürlich bei der lieben Mitberichterstatterin Konstanze Wegner, dem Mitberichterstatter Wolfgang Weng — er ist leider nicht mehr anwesend —
und bei allen Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses.
Ich danke für die Zwischenrufe.
Ich erteile dem Kollegen Norbert Eimer das Wort.
Ja, Sie müssen öfter hier sein.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Rede zu diesem Haushalt fällt einem Familienpolitiker schwer. Wie wir gerade von Frau Karwatzki gehört haben, geht es den Kollegen und Kolleginnen der Union auch nicht viel besser.Es ist kein Haushalt der Freude. Es ist ein Haushalt der bitteren Notwendigkeiten.
Die Zustimmung zu diesem Haushalt fällt deswegen etwas leichter, weil es eine Alternative dazu nicht gibt. Denn das, was als Alternativen dazu angeboten wird, wäre noch sehr viel problematischer.So sagt die SPD immer wieder, dieses sei sozial ungerecht. Unter „sozial gerecht" würde die SPD wahrscheinlich verstehen, daß wir den Unternehmen Geld wegnehmen und für soziale Bereiche, also konsumtiv, ausgeben. Der Finanzminister, meine Damen und Herren, brachte in der ersten Lesung das Beispiel vom Saatgut, das wir nicht verfrühstücken dürfen. Ich will dieses Beispiel aufnehmen und mit der Sozialpolitik vergleichen.In einer Zeit geringer Erträge muß man mehr Felder bestellen, mehr anbauen, um mehr Ertrag zu haben. Das heißt, man braucht mehr Saatgut. Man braucht mehr Geräte zum Bestellen des Bodens und zum Ernten. Man muß vom Ertrag, also von der Ernte, mehr absparen, um sich die Geräte zulegen zu können. Oder anders ausgedrückt: Man muß den Gürtel enger schnallen. Umgesetzt in die Sozialpolitik heißt dies: Ob es uns gefällt oder ob es uns nicht gefällt, wir müssen auch in sozialen Dingen sparen.Die SPD macht es umgekehrt: Damit die Wirtschaft in Schwung kommt, möchte sie mehr Geld ausgeben und mehr konsumieren.
— Ich brauche mir ja nur anzuhören, was Ihre Redner hier gesagt haben. Die haben das ja immer wieder eindrucksvoll bestätigt. — Sie will weniger Getreide in Gerätschaften umtauschen, sie will weniger Saatgut für die nächste Periode sparen, damit der Lebensstandard heute einigermaßen gehalten wird.Meine Damen und Herren, ich wollte eigentlich lieber Kritik an dem heutigen System des Familienlastenausgleichs üben, und diese Kritik ist meiner Meinung nach nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig, wenn man die Systematik des Familienlastenausgleichs heute betrachtet. Ich habe in den letzten Reden an dieser Kritik nicht gespart. Ich habe heute nachgegraben und festgestellt, daß ich bereits im März 1985 diese Kritik geübt, eine Vielzahl der Leistungen aufgezählt und die Unübersichtlichkeit unseres heutigen Systems dargestellt habe. Vor zwei Wochen habe ich auf die Verfassungswidrigkeit der gewählten Einkommensgrenzen hingewiesen, die vorhin gerade wieder gelobt worden sind.
Ich will die Kritik nicht wiederholen; man kann sie nachlesen. Aber ich glaube, wir sollten heute in die Zukunft schauen und danach trachten, neue Systeme aufzuzeigen.Der Finanzminister hat bereits darauf hingewiesen, daß wir in Zukunft, nach diesem Sparkurs, wieder mehr für die Familien tun müssen. Die F.D.P. ist der Meinung, daß dies nicht genügt. Wir müssen uns ebenfalls der Systematik des Familienlastenausgleichs annehmen. Unser Vorschlag dazu ist bekannt und kann in dem Wort „Bürgergeld" zusammengefaßt werden. In der Öffentlichkeit mehren sich die Stirn-
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Norbert Eimer
men, daß dieses Konzept weiterverfolgt werden soll. Es gibt genügend Stimmen in der Union oder z. B. im Verband Junger Unternehmer, die dieses System mit uns weiterentwickeln wollen. So wollen wir mit diesem System ca. 90 verschiedene Transferleistungen aus 40 verschiedenen Töpfen ersetzen, die Verwaltung vereinfachen und das ganze System für den Bürger durchschaubarer, verständlicher und gerechter gestalten.
Herr Kollege Eimer, darf ich sie eine Sekunde unterbrechen?
Ja.
Ich muß zur Erklärung unserer gutbesetzten Besuchertribüne sagen: Der Vorgang, der sich hier soeben abgespielt hat, hat nichts mit dem Nikolaus zu tun; es handelt sich um den parlamentarischen Geschäftsführer Oswald, der seine Kollegen zu später Stunde mit einem kleinen Bonbon versorgt.
Bitte, Herr Kollege Eimer, fahren Sie fort!
Ich hoffe, daß ich später auch ein solches Bonbon bekomme.
Wir wollen also, liebe Kollegen, das System vereinfachen und wollen verhindern, daß das, was heute sehr oft passiert, die sogenannte Brutto-NettoUmkehrung, nicht mehr stattfindet, d. h., daß jemand, der brutto mehr verdient, netto weniger hat. Ich habe den Eindruck, daß wir, wie gesagt, mittlerweile von vielen Seiten Unterstützung bekommen. Dieses System ist ja im Moment unter den verschiedensten Begriffen wie „Bürgergeld", „Bürgersteuer", „Negativsteuer" bekannt. Gemeint ist immer das gleiche: der Umbau unseres Systems zu einem gerechteren und einfacheren System.
Die Gemeinsamkeit in dieser Koalition besteht nicht nur im Handeln bei der Notwendigkeit dieses Haushalts, sondern wird gerade auch deutlich, wenn ich auf die Zukunftsaufgaben blicke. Ich habe den Eindruck, daß die Gemeinsamkeiten eher größer werden als geringer. Ich meine, die SPD macht einen Fehler, wenn sie die Kritik, die ich in den letzten Reden an unserem System geäußert habe, als eine Kritik an dieser Koalition ansieht. Im Gegenteil: Ich sehe in dieser Koalition den Wunsch und das Bestreben, zu besseren familienpolitischen Systemen zu kommen, als wir sie heute haben. Wir Liberale haben die Vision von einer neuen Systematik dieses Sozialsystems. Ich bin überzeugt, wir können es auch gemeinsam mit der Union verwirklichen.
Da die Debatte über den Haushalt immer auch eine Generaldebatte ist, will ich einen Bereich ansprechen, der viele Betroffene sehr anspricht, und zwar meine ich die Reform des Kindschaftsrechts. Vielen Betroffenen geht es viel zu langsam. Sie meinen, daß die Ungerechtigkeiten endlich beseitigt werden müssen. Wir alle wissen aber auch, wie ungeheuer kompliziert die Neugestaltung des Kindschaftsrechts ist. Ich glaube, es werden davon einige tausend Paragraphen tangiert werden. Ich bin aber zuversichtlich, daß wir es schaffen können, zumal ich den Eindruck habe, daß es in diesem Parlament mittlerweile keine ernsthaften Stimmen mehr dagegen gibt. Die SPD hat auch einen Antrag dazu eingebracht. Wir sind auf einem guten Weg.
Ich will diese Haushaltsrede zu dem Appell nutzen, daß wir uns alle in die Pflicht nehmen, auf diesem Gebiet weiterzukommen und das Kindschaftsrecht in der nächsten Legislaturperiode zum Abschluß zu bringen. Wir haben schon in dieser Legislaturperiode in einer Reihe von Gesetzen einige Bereiche vorgezogen und konnten sie verabschieden. Besonders dankbar muß ich vermerken, daß dies in diesem Haus in großer Einmütigkeit geschehen konnte. Ich meine, wir haben alles ganz gut auf den Weg gebracht. Das wird nicht mehr umkehrbar sein.
Ich will mit dem Hinweis schließen - und damit zum Haushalt zurückkommen —: Die F.D.P. wird diesem Haushalt zustimmen, obwohl dies für Familienpolitiker kein Haushalt der Freude ist, sondern nur ein Haushalt der Notwendigkeiten.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Szenario ist jedes Jahr das gleiche. Erste Lesung Haushalt 1994: Die Koalition und Frau Ministerin begründen die Größe der erneut vollbrachten Leistung. Alles Sachlich-Kritische, das von der Opposition dazu ausgeführt wird, läßt die Koalition über sich ergehen — kommentiert mit überheblichen Zwischenrufen. In den Beratungen der Ausschüssse dominiert der Fraktionszwang, über die Beschlußfassung ist somit schon vor Beginn der Beratung entschieden. In der zweiten Lesung wird vollmundig und blumig noch einmal „Nabelschau" seitens der Regierungskoalition betrieben. Auf alle Fälle werden keine Änderungen zum Positiven zugelassen.
Das gilt für den Haushalt insgesamt, für jeden Einzelhaushalt, also auch für den Haushalt Familie und Senioren. Dieser Logik folgend, müßte ich eigentlich sagen: Nichts Neues, ich gebe meine Rede von der ersten Lesung am 9. September zu Protokoll.
Ich glaube, diese Art von Demokratie rechtfertigt dies vielfach, aber ich tue das trotz Ihres gönnerhaften Beifalls, den ich natürlich vorausgeahnt habe, nicht, sondern nutze meine Redezeit; denn ich glaube, dazu bin ich den „Haushaltsopfern" gegenüber verpflichtet. Die erwarten hier ein anderes Verhalten.
Herr Kollege Weng, wir können zwar unter den erschwerten Umständen von den stehenden Saalmikrophonen aus Zwischenfragen
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16772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Vizepräsident Hans Kleinstellen, aber es kompliziert das etwas empfindlich gewordene System.
Bitte fahren Sie fort.
Danke schön. — Deshalb will ich hier noch einmal sagen: Es gibt hier etliche populistische Worthülsen, die den ach so heilen Sozialstaat beschwören. Ich möchte hier, um das nicht als Behauptung stehenzulassen, einige Zitate kurz aneinanderreihen.
Der Kanzler sagt in seiner Regierungserklärung: „Es bleibt die vornehmste Pflicht, die Familie zu stärken." Frau Ministerin Rönsch sagt: „Mit unserer Familienpolitik werden wir in Gesellschaft und Staat Bedingungen schaffen, die eine Entscheidung für ein Leben mit Kindern und mit älteren Menschen erleichtern. " Weiter sagt sie: „Die Angleichung der Lebensverhältnisse ist weiterhin in Ost und West eine vordringliche Aufgabe. "
— Ja, das sind schöne Worthülsen. Wir würden uns freuen, wenn Sie sie umsetzen würden.
In der ersten Lesung wurden von der Regierung bestimmte Sicherungen eingebaut, die den gravierenden Widerspruch zwischen der tatsächlichen Politik und diesen Worthülsen verwischen sollen.
Auch dazu einige Zitate. Frau Rönsch erklärte: Alles wird gar nicht so schlimm. Eigentlich ist es doch überhaupt nicht schlimm, was gespart werden muß. Ich zitiere: „Der Zwang zum Sparen hat auch vor dem Familienetat nicht haltgemacht" — welch akrobatische Leistung angesichts der realen Vorgänge. Aber weiter: „Es ist nicht nur gelungen, unabwendbare Einsparungen sozialverträglich zu gestalten, vielmehr wurde sogar die Familienförderung insgesamt ein Stück gerechter. "
Ich möchte nur sagen: Auch wenn es von Ihrem Standpunkt aus unabwendbare Einsparungen sind, so ist das nicht die Meinung des gesamten Parlaments und sicher nicht die Meinung der Bevölkerung.
Nach Ihrer Meinung ist es gelungen, die notwendigen Einsparungen ohne generelle Einschnitte in das Leistungssystem vorzunehmen. Ich glaube, aus dieser Logik heraus können nur störrische und uneinsichtige Familien, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen, Asylbewerber und Asylbewerberinnen oder geduldete Ausländer, Seniorinnen und Senioren und Pflegebedürftige keine Dankbarkeit empfinden.
Die Wahrheit ist doch anders. Es gibt natürlich in einzelnen Positionen nach der ersten Lesung bestimmte Veränderungen nach oben und unten, etwa bei Dienstreisen und dem Informationsprogramm „Zukunft der Familie". Aber auch hierbei ist die weitere Reduzierung der Mittel für Familienpolitik um eine weitere Million durchgesetzt worden.
Noch einmal muß vor allem gesagt werden, daß dieser Teilhaushalt im Zusammenhang mit dem sogenannten Solidarpakt, dem Standortsicherungsgesetz
und dem Sparprogramm gesehen werden muß. Dies bedeutet einen unerhörten Anschlag auf die Lebenshaltung der abhängig Beschäftigten, wird familienfeindlich und kinderunfreundlich. Wie anders sollen die Wirkungen von Kürzungen in der Sozialhilfe, das überproportionale Zur-Kasse-Bitten von Personen mit Kindern, das Absenken der Mittel für die Organisationen der Selbsthilfe, das Reduzieren der Einlagen in die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" sein?
Es bleibt auch dabei, daß die Vorteile aus dem Ehegattensplitting, die den Empfängern von höheren Einkommen unbestritten zugute kommen, zu Steuerausfällen von 40 Milliarden DM führen.
Wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung auf der Grundlage der Sparmaßnahmen, die hier bereits in den Haushaltsbegleitgesetzen verabschiedet wurden, mit einem Konsumrückgang im nächsten Jahr von 33 Milliarden DM rechnet, so ist klar, daß das ein Rückgang bei Menschen ist, die sowieso ihr gesamtes Einkommen zur Lebenssicherung unmittelbar ausgeben müssen, die eben nicht sparen können. Das trifft Kinder, die nichts dafür können, ob ihre Eltern Sozialhilfe empfangen oder ob sie arbeiten.
So — man muß kein Prophet sein — werden die Aussagen aus dem Armutsbericht des Deutschen Caritasverbandes progressiv fortgeschrieben werden können. Die Geburtenzahl in Deutschland wird weiter sinken. Die Armutsgruppe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wird weiter ansteigen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident.
Es ist bezeichnend, daß Sie sich hier in diesem Hohen Hause wehren, wenigstens die reale Lage — z. B. im Kinderbericht — zu erfassen. Deshalb: Dieser Politik, festgeschrieben in diesem Haushalt, werden wir als PDS/Linke Liste nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wie der gesamte Haushalt des Jahres 1994 ist natürlich auch der Einzelplan 18 des Ministeriums für Familie und Senioren geprägt von Sparsamkeit.
Ich denke, es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, den Bürgerinnen und Bürgern dies deutlich zu sagen.
Ich bedanke mich nachdrücklich bei den Berichterstattern der Koalitionsfraktionen und der SPD.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16773
Bundesministerin Hannelore RönschDenn, Frau Dr. Wegner, auch Ihre Ausführungen waren moderat. Auch Sie haben die Notwendigkeit des Sparens erkannt, wobei Sie aber auch deutlich gemacht haben, daß wir bei diesem Haushalt noch so gerade davongekommen sind. Wir haben die Mittel für Leistungen — oft schweren Herzens — umgeschichtet und brauchten so diejenigen, die uns anvertraut sind, nicht über Gebühr zu belasten.Ich meine, daß wir gerade in Zeiten des knappen Geldes und der schwierigen wirtschaftlichen Situation auch den Familien und den älteren Menschen gegenüber ehrlich bleiben müssen. Wir müssen ihnen aber auch deutlich machen, welche Leistungen ihnen zustehen. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Sagen Sie Ihrem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, der gestern von dieser Stelle aus unrichtige Zahlen genannt hat,
er möge bitte den Männern und Frauen, den Familien, denen er die Wahrheit versprochen hat, auch die richtigen Zahlen nennen.Ich will den Ministerpräsidenten nicht zitieren, Herr Präsident, sondern lediglich sinngemäß das wiedergeben, was er gestern gesagt hat. Er sagte, man dürfe keine politischen Floskeln gebrauchen;
jedenfalls könne sich der Familienvater, der mit 1 700 bis 1 800 DM im Monat seine Familie mit zwei Kindern ernähren müsse, in unserer Familienpolitik nicht wiederfinden.Ich denke, daß Sie, die Sozialpolitiker, die Familienpolitiker der SPD-Fraktion, Ihren Ministerpräsidenten sofort aufgeklärt haben,
wie die Zahlen tatsächlich sind. Er konnte sie vielleicht nicht kennen aber ich halte es für fahrlässig, wenn man solche Zahlen — daß ein Familienvater in der Bundesrepublik Deutschland mit zwei Kindern nur 1 700 DM im Monat zur Verfügung habe — wiedergibt. Ich meine, wir müssen darüber informieren, welche Möglichkeiten es über die Sozialhilfe hinaus für einen solchen Familienvater gibt.
Sehr geehrte Frau Dr. Wegner, auch Sie haben heute nur den Eckregelsatz in der Sozialhilfe angesprochen. Auch Sie haben gesagt: Wie kann jemand von 518 DM leben? Auch Sie wissen es besser. Es sind nicht nur die 518 DM, sondern es kommt das Wohngeld dazu, es kommt die einmalige Zulage dazu.Ich will Ihnen ganz einfach von dieser Stelle aus die Zahlen nennen, damit sie in der Öffentlichkeit sind, damit die Familien über ihre Ansprüche voll informiert sind, damit ein Familienvater mit zwei Kindern weiß, welchen Sozialhilfebedarf die Familie hat, nämlich die durchschnittlichen Eckregelsätze: 514 DM, die Mutter 411 DM, jedes Kind 330 DM — das sind 1 585 DM. Die einmaligen Leistungen betragen 286 DM, dann kommt der durchschnittliche Betrag fürMiete und Heizkosten hinzu. Das sind insgesamt rund 2 694 DM. Das ist der Sozialhilfebedarf für eine Familie mit zwei Kindern.
— Selbstverständlich brauchen die das. Allerdings stimmt dann die Zahl, die der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz gestern hier genannt hat, 1 700 bis 1 800 DM, nicht. Das möchte ich richtigstellen.
Gerade wenn die Zeiten schwierig sind und die Kassen leer sind, müssen wir denen, denen wir helfen wollen, richtige Informationen geben. Ich will nicht, daß wir auf dem Rücken von Familien Politik machen. Ich bitte Sie, informieren Sie Ihren Ministerpräsidenten, damit er die Zahlen, die er gestern hier verwandt hat, nicht mehr benutzt.
— Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Wegner, ich habe den Zwischenruf nicht mitbekommen.
— Mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz hat seinerzeit eine von der CDU geführte Regierung begonnen.
Er hatte gar keine andere Wahl, als diesen Anspruch umzusetzen. Ich würde mir wünschen, daß die anderen sozialdemokratischen Länder, die im Bundesrat im vergangenen Jahr so vollmundig diesen Rechtsanspruch gefordert haben, dem Beispiel von RheinlandPfalz folgen.
Helfen Sie mit, überzeugen Sie Ihre Ministerpräsidenten, ganz besonders den von Nordrhein-Westfalen, dann sind wir uns einig. Ich denke schon, daß es möglich ist.Ich bin in den letzten Wochen dafür geprügelt worden, daß ich eine bestimmte Äußerung getan habe.
— Nein, so schlimm war es nicht, es kamen ein paar Briefe von Bürgermeistern. — Ich habe gesagt, daß man bei der Stadtgestaltung und auch beim Straßenbau ein wenig zurückhaltender sein sollte.
Das wiederhole ich von dieser Stelle. Das gilt für alle Bürgermeister, egal, von welcher Fraktion sie gestellt werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Familien haben Zukunft. Männer und Frauen wollen Familien gründen; die Familie hat einen zentralen Rang in ihrer Lebensplanung. Es ist ganz erstaunlich: 56 % der
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16774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesministerin Hannelore Rönschjungen Männer und Frauen wollen zwei Kinder, aber nur 26 % haben dann auch zwei Kinder. Das zeigt uns, daß wir mit der Familienunterstützung, dem Familienlastenausgleich auch in der Zukunft fortfahren müssen.Kinder sind die wichtigste Zukunftsvoraussetzung unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir alles tun, um den Eltern die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Gerade heute aber nehmen die Familien mit Kindern im Vergleich zu kinderlosen erhebliche materielle Einschränkungen in Kauf. Daher muß die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit auch in der Zukunft, auch in einer Zeit knappen Geldes für uns eine herausragende politische Herausforderung sein.Ich empfinde es als ganz besonders schmerzlich, daß auch im Bundeshaushalt 1994 im Bereich des Kindergeldes und des Erziehungsgeldes Einsparungen vorgenommen werden mußten. Dies war in der Höhe von 1 Milliarde DM unvermeidlich. Die Kürzungen greifen bei denjenigen, bei denen das Einkommen eine bestimmte Höhe übersteigt: bei Familien 100 000 DM und bei Alleinerziehenden 75 000 DM. Wir haben den Kindergeldanspruch damit stärker als bisher an der tatsächlichen Belastungssituation der Eltern ausgerichtet. Ich muß allerdings sagen, daß ich eine gewisse Erleichterung darüber verspüre, daß ungerechte generelle Kürzungen verhindert werden konnten; denn pauschale Kürzungen bei Kindergeld oder bei Erziehungsgeld wären für uns alle sicher sehr bitter.Wir müssen den Familienlastenausgleich auch in der Zukunft fortentwickeln; wir sollten uns im nächsten Jahr intensiv damit beschäftigen. Dann, Kollege Eimer, wird es die unterschiedlichsten Vorstellungen geben, wie man den Familienlastenausgleich weiter fortführen kann. Insbesondere müssen wir uns der noch zu lösenden Aufgabe stellen, daß das Existenzminimum von Kindern im Steuerrecht in voller Höhe freigestellt wird. Ich glaube, das ist die zentrale Aufgabe, der wir uns im nächsten Jahr zuwenden müssen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, das nächste Jahr wird das Internationale Jahr der Familie sein. Ich bin sehr froh, daß der „Familienreport 1994" der Nationalkommission jetzt vorgelegt wurde. Wir haben in diesem Familienreport sehr viele Herausforderungen für die Zukunft. Familienpolitik wird nach diesem Katalog neu gestaltet. Ich freue mich darüber, daß wir mit allen Gruppierungen in der Gesellschaft zusammenarbeiten und darüber diskutieren konnten.Männer und Frauen wollen Familie und Beruf miteinander vereinbaren. Auch das wird eine zentrale Aufgabe in der Zukunft sein. Wir werden für Frauen und Männer die Arbeitswelt anders gestalten müssen. Im vergangenen Monat haben wir im Ministerium für Familie und Senioren einen Bundeswettbewerb ausgelobt. Es war ganz erstaunlich, zu sehen, wie Handel, Banken, Handwerk und Industrie schon sehr umfangreich kreativ Modelle entwickelt haben und wie in die Unternehmensphilosophie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf schon eingeflossen ist. Ich kann auch von dieser Stelle aus nur dazu ermuntern, daßnoch viel mehr Unternehmen Arbeitszeiten flexibilisieren.Ich will an dieser Stelle ganz bewußt sagen, daß wir die Kommunen bei der Bereitstellung von Kindergartenplätzen nicht alleinlassen wollen. Auch die Unternehmen sind aufgefordert, Kinderbetreuungseinrichtungen anzubieten und damit möglich zu machen, daß junge Männer und junge Frauen berufstätig sein, aber gleichzeitig auch den Wunsch nach Familie verwirklichen können.
Ich habe hier dauernd die Frage gehört, wo die 5 Milliarden DM eingespart worden sind. Ich komme noch dazu, Herr Kollege, Ihnen zu sagen, wo auch ich in meinem Haushalt — leider — Opfer bringen muß.
Bei den Sozialhilfeempfängern haben wir, Frau Kollegin, seinerzeit auf Wunsch der Bundesländer und auch auf Anregung der kommunalen Spitzenverbände z. B. über die gemeinnützige Arbeit in der Sozialhilfe neu nachgedacht.
Ich bin sehr neugierig, wie sich die SPD-geführten Länder im Bundesrat verhalten werden, wenn das Ganze zur Abstimmung steht.Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich noch kurz auf einige Punkte der Seniorenpolitik eingehen. Es ist heute hier schon über die demographische Entwicklung gesprochen worden. Da mittlerweile der Vorsitzende des Haushaltsausschusses wieder hier ist,
möchte ich ihm ein kleines Geschenk machen, indem ich Ihnen die Zahlen nenne, wie sich in bezug auf die Männer die demographische Entwicklung darstellen wird.
Die heute 60jährigen haben noch gut 20 Jahre vor sich. Lieber Herr Kollege Walther, ich habe es neulich schon einem anderen Kollegen gesagt: Auch Sie werden irgendwann zu der Klientel gehören, die ich betreue, und darauf freue ich mich.
— Da wäre ich mir nicht so sicher. Da Sie Ihr Alter noch ein Stückchen hinausschieben wollen, werden wir das schon gemeinsam hinbekommen.
— Das ist eine Sache, die mich nicht schreckt.Sie haben vorhin gefragt: Was haben wir denn den älteren und alten Menschen anzubieten? Ich bin sehr
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16775
Bundesministerin Hannelore Rönschglücklich darüber, daß wir im Bundesaltenplan 1994 noch einmal 3,5 Millionen DM draufsatteln konnten. Wir konnten die Summe von 10 Millionen DM auf jetzt 13,5 Millionen DM erhöhen. Irgendwann kommt auch Ihnen der Bundesaltenplan zugute.Mit unserem Modellprojekt Seniorenbüro sind wir quer durch alle Fraktionen offensichtlich auf einem guten Weg; denn sehr viele Kolleginnen und Kollegen haben sich an mich gewandt und für ihr Umfeld, ihren Wahlkreis ein Seniorenbüro gewünscht. Es sind bereits 32 Seniorenbüros eingerichtet. 1994 werden es 54 sein. Dort besteht die Möglichkeit, daß ältere und alte Menschen persönliche Einsatzfelder finden, daß sie sich selbst einbringen, aber auch Leistungen selbst nachfragen können.In diesen Tagen wird noch einmal die Kommission zusammentreten, die die Lösungen im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung diskutiert. Ich hoffe und wünsche für die uns anvertrauten alten und pflegebedürftigen Menschen und für diejenigen, die sie pflegen, daß diese Kommission endlich zu einem Ergebnis kommt.
Ich meine, daß wir es uns nicht länger leisten dürfen, die Pflegebedürftigen und diejenigen Frauen und Männer, die die Pflegearbeit leisten — es sind zum größten Teil die Frauen —, noch weiter zu vertrösten und auf deren Rücken unsere politischen Diskussionen zu führen.
Bewegen Sie sich, finden Sie eine Möglichkeit für die Kompensation!Mir wird gerade gesagt, daß ich nur noch eine Minute Redezeit habe. Herr Präsident, hier am Rednerpult leuchtet aber nicht das rote Licht. Ich habe nicht mitbekommen, daß die Lampe überhaupt nicht funktioniert.
Ich möchte gern auch auf die Frage zurückkommen, wo denn die 5 Milliarden DM eingespart werden. In unserem Haushalt wird das möglicherweise bei den Wohlfahrtsverbänden der Fall sein. Das tut mir bitter weh, weil wir quer durch die Fraktionen die Arbeit der Wohlfahrtsverbände kennen und ausgesprochen schätzen und immer wieder unterstützt haben. Die Wohlfahrtsverbände haben in unserem gegliederten System so viele wichtige Aufgaben. Es ist mein Wunsch gewesen, daß diese Mittel von der Sperre ausgenommen werden.Trotz der Schwierigkeiten werden wir weiterarbeiten müssen. Wir werden die Lebensbedingungen von Familien, Kindern und älteren Menschen in unserem Lande zum Besseren gestalten. Ich wünsche mir, dieWohlfahrtsverbände von der Sperre ausnehmen zu können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der mir verbleibenden Redezeit möchte ich mit allem Nachdruck den Berichterstatterinnen und dem Berichterstatter — Frau Dr. Wegner, Frau Karwatzki und Herrn Dr. Weng —, aber auch dem Ausschuß insgesamt sehr herzlich danken für die sehr verständnisvolle Zusammenarbeit. Das ist nicht immer eine Selbstverständlichkeit.Der Haushaltsausschuß hat die Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Familie und Senioren in den vergangenen Wochen und Monaten anerkannt. Dafür möchte ich meinen ganz besonders herzlichen Dank aussprechen. Wir waren nämlich in der vergangenen Zeit zu sehr vielen gesetzlichen Änderungen und auch zu neuen Gesetzen gezwungen. Dafür, daß diese Leistungen anerkannt wurden, bedanke ich mich.Ich darf mich auch dafür bedanken, daß die Beratungen im Haushaltsausschuß, aber auch die Gespräche mit den Berichterstattern in einem guten Klima stattgefunden haben. Ich würde mir auch gerade in dem vor uns liegenden Jahr wünschen, daß solche Gespräche in der Zukunft öfter möglich sind.
Meine Damen und Herren, ich muß, glaube ich, den Kolleginnen und Kollegen, die den Vorgang in ihren Büros oder sonstwo nicht mitbekommen haben, und auch den Ministerinnen und Ministern, denen ihre Mitarbeiter das nicht berichtet haben, erklären, daß hier seit einigen Stunden die normale Lautsprecheranlage wieder einmal nicht funktioniert. Wir benutzen also die Notanlage.
— Hebt euch eure humorigen Bemerkungen für später auf!Das bedeutet, daß die Lichter hier nicht aufleuchten, und das bedeutet auch, daß keine Zeit angegeben wird. Das heißt also, ich rufe dem Redner dann immer von hinten zu „Sie haben noch eine oder zwei Minuten Zeit", damit er sich ein bißchen darauf einstellen kann.
— Herr Weng, Sie waren auch schon origineller.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 18 — Bundesministerium für Familie und Senioren — in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 18? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 18 ist angenommen.Ich rufe auf:Einzelplan 12Bundesministerium für Verkehr— Drucksachen 12/6012, 12/6030 —
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16776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Vizepräsident Hans KleinBerichterstattung:Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried BohlsenWerner ZywietzNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen.
— Ich habe keine Ordnungsgewalt über die Regierungsbank.
Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserem Kollegen Ernst Waltemathe.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die üblichen Rituale bei Haushaltsberatungen habe ich mich schon des öfteren im Bundestag in ironischer Weise ausgelassen. Im letzten Jahr habe ich das etwas ausführlicher getan. Sie wissen aber alle schon längst, daß Debatten zum Haushalt Höhepunkte parlamentarischer Rhetorik sind mit vielen Zahlen, die kein Mensch begreift, mit Platitüden und dem immer wiederkehrenden Rollenspiel, wonach die Opposition sagt, daß die Regierung nichts taugt, und daraufhin die Koalitionsabgeordneten mit Empörung solche Vorwürfe zurückweisen und allen Ernstes behaupten wollen, eine bessere Regierung könnten sie sich gar nicht vorstellen
— siehst du, man bekommt Beifall auch von der Regierungsseite — und es gebe keine Alternative. Das kennen wir alles. Ich schlage erneut vor, daß wir uns diese seit 1949 eingeübte Veranstaltungsart schenken.
Schließlich ist es ja schon ein Höhepunkt, wenn hier nacheinander als Berichterstatter des Haushaltsausschusses zum Verkehrsetat drei Abgeordnete das Wort ergreifen, die dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören werden und auf deren Formulierkunst unsere Nachfolger und sogar das ganze Hohe Haus in ordentlichen Haushaltsdebatten leider werden verzichten müssen.
— Sie sehen also: Ich habe das Wort ergriffen, und nun sind Sie es auch.
Aber nun werde ich wieder ganz Ernst,
und ich fange wider jegliche Gewohnheit mit Artigkeiten an — bei den Kollegen Bohlsen und Zywietz und bei Herrn Bundesminister Wissmann, aber vor allen Dingen, Herr Minister, auch bei Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bundesverkehrsministerium möchte ich mich herzlich für die jederzeit kollegiale und gute Zusammenarbeit bedanken. Das Haushaltsreferat hat uns wie üblich stets die Informationen geliefert, die wir für unsere Knetarbeit an einem 53-Milliarden-Etat zu leisten hatten.Außerdem will ich auch — ganz gegen die üblichen Rituale — nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?" schon gleich zu Anfang, bevor ich zu meinen kritischen Äußerungen komme, Herrn Minister Wissmann danken, daß er dafür gesorgt hat, daß mit den USA ein neues Luftverkehrsabkommen abgeschlossen worden ist,
das, wie wir alle hoffen, die Wettbewerbslage der Lufthansa auch in diesem Bereich verbessern wird.Ich selbst bin zusammen mit dem F.D.P.-Kollegen Manfred Richter in der zweiten Juliwoche in Washington gewesen, um — und zwar einheitlich von Regierungsseite und Oppositionsseite — dem Verkehrsminister der USA zu signalisieren und dem Verhandlungsleiter des State Department klipp und klar darzulegen, daß wir in den diesjährigen Haushaltsberatungen unserer Bundesregierung als Parlament anempfehlen würden, das Luftverkehrsabkommen von 1955 zu kündigen, wenn es nicht gelänge, die Verhandlungen, die ins Stocken geraten waren, zu einem Abschluß zu bringen.Sie, Herr Minister Wissmann, haben diese ins Stokken geratenen Verhandlungen mit der US-Seite hartnäckig zu einem Ergebnis geführt, das zufriedenstellend ist und jedenfalls mehr Fairneß in die Luftfahrtbeziehungen zwischen den USA und Deutschland bringt.
Und ein Zweites: Nachdem ich feststelle, daß wir sicherlich auch gemeinsam hoffen, daß sich die Deutsche Lufthansa, deren Mehrheitsanteilseigner nun einmal die Bundesrepublik Deutschland — sprich: der deutsche Steuerzahler — ist, wieder zu einem Unternehmen entwickelt, das in schwarze Zahlen kommt und somit keine größeren Haushaltsrisiken mehr aufwerfen wird, will ich als Artigkeit, die für mich keineswegs eine Pflichtübung darstellt, die Feststellung treffen, daß Herr Wissmann dafür gesorgt hat, daß sich die Bundesregierung bei den schwierigen Verhandlungen mit den Bundesländern und mit der Opposition, also mit uns, bewegt hat und nunmehr eine Bahnreform zustande kommt, die, wie ich hoffe, breite Zustimmung finden wird.
Das große Haushaltsrisiko Bahn ist nach wie vor aus dem Verkehrsetat abzulesen. Die Übernahme von Bahnschulden und Altlasten beseitigt nicht sämtliche Risiken, aber hilft für die Zukunft, die rasante Talfahrt in einen Finanzkollaps zu beenden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16777
Ernst WaltematheIch stelle fest, daß der Bund bei der Finanzierung der Regionalisierung des schienengebundenen Personennahverkehrs den Ländern weit entgegengekommen ist.
Ich hoffe, daß das Kamingespräch — ich nehme an, daß es jetzt stattfindet — zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Bundesländer eine endgültige Einigung bringt und die Vereinbarung vom 12. November 1993 bestätigen wird.
Ich hoffe, Herr Minister Wissmann, in Ihrem Interesse, daß Ihnen diese oppositionelle Lobrede nicht für das bevorstehende Jahr, in welchem Sie der noch amtierenden Regierung angehören werden, schaden wird, aber ich wollte vorweg mit diesen Artigkeiten beginnen.
Nun aber zum Verkehrsetat 1994. Es handelt sich, meine Damen und Herren, um den zweitgrößten operativen Einzelplan nach dem für Soziales. Ich habe die Bundesschuld weggelassen; das ist ja kein operativer Plan. Mit 53,8 Milliarden DM liegt er jetzt höher als der Verteidigungsetat. Er macht ungefähr ein Neuntel des gesamten Staatsbudgets 1994 aus.Diese Feststellungen sind zweifellos richtig und entsprechen der Wahrheit. Sie täuschen gleichwohl über die tatsächliche Verfügungsmasse hinweg. So ist z. B. der investive Anteil innerhalb des Verkehrsetats von 58 % auf 49 % abgesunken.
Der Verkehrshaushalt bleibt zwar der Einzelplan mit dem höchsten Investitionsanteil, aber der Zuwachs der Ausgabenmittel um rund 10 Milliarden DM gegenüber dem jetzt laufenden Haushalt 1993 beruht eben nicht auf konjunkturfördernden Investitionen, sondern ist ausschließlich auf die haushaltsmäßigen Konsequenzen im Zusammenhang mit der Bahnreform zurückzuführen.Die Bahnreform und die Bahnfinanzierung schlagen nämlich allein mit 32,3 Milliarden DM zu Buche. Von diesen 32,3 Milliarden DM dienen der Übernahme der Schulden und der Personalaltlasten 11,8 Milliarden DM. Die neuzugründende Bahn AG erhält zur Abgeltung von betriebswirtschaftlich nicht einzufahrenden sogenannten Gemeinwirtschaftskosten 10,4 Milliarden DM entsprechend dem europäischen Recht.
Für Investitionen bleiben dann „nur" 10,1 Milliarden DM, von denen 3,6 Milliarden DM für den technisch bedingten Rückstand der ehemaligen Reichsbahn eingesetzt werden müssen. Das heißt nun im Klartext, daß nur ein knappes Fünftel von den32,3 Milliarden DM, nämlich lediglich 6,4 Milliarden DM, für reine Investitionen in den Fahrweg bereitstehen werden.
Nun ertappe ich mich dabei, in haushälterischer Manier einen Zahlensalat vorzutragen. Aber in diesem Fall läßt sich das nicht ganz vermeiden. Es geht nämlich um den Vergleich von Größenordnungen. Der Straßenbauplan weist selbst nach Kürzungen und einer wahrscheinlichen Inanspruchnahme zur Erwirtschaftung der globalen Minderausgabe voraussichtlich 10,5 Milliarden DM auf, von denen bis zu 8,8 Milliarden DM Investitionen in Neu- und Ausbau von Fernstraßen darstellen. Es ist also falsch, Herr Minister Wissmann, wenn Sie in der ersten Lesung zum Bundeshaushalt meinten, feststellen zu können, daß die Prioritäten zwischen Schienenweg und Straße zugunsten des ersteren neu gesetzt würden.
Nach wie vor dominiert bei den Investitionen der Straßenbau.
Auch hinsichtlich der Lärmsanierung an bestehenden Verkehrswegen ist die Straße im Haushalt berücksichtigt, der Schienenverkehr aber nicht. Unser erneuter Versuch, auf Grund zahlreicher vom Bundestag akzeptierter und zur Berücksichtigung vorgesehener Petitionen lärmgeplagter Bürger an Schienenwegen wenigstens einen ganz bescheidenen ersten Zuschußbedarf von 200 Millionen DM bei den Dotierungen für die neue Bahn AG zu berücksichtigen, wurde von der Koalition mit dem Hinweis abgelehnt: Da man eigentlich Milliardenbeträge brauche, die man aber nicht habe, wolle man lieber gar nichts tun.
Wenn diese Argumentation, meine Damen und Herren, richtig wäre, dann dürfte der Deutsche Bundestag gar keinen Bundesverkehrswegeplan verabschieden.
Ich habe vorhin festgestellt, daß der Straßenbau bei den Investitionen nach wie vor dominiert. Ich weiß selbstverständlich längst, daß ich von meiner Fraktion großen Beifall bekomme, wenn ich fordere, bei den Investitionsmaßnahmen endlich zugunsten des Schienenweges im Haushalt umzuschichten, und zwar zu Lasten des Straßenbauetats.
Ich weiß auch, daß anschließend die einzelnen Kolleginnen und Kollegen ankommen und sagen: Aber meine Straße und meine Ortsumgehung müssen noch finanziert werden.
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16778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Ernst WaltematheSehen Sie: So ist das Leben.
Meine Damen und Herren, der vor der Sommerpause verabschiedete Bundesverkehrswegeplan ist das größte Märchenbuch, das wir uns leisten. Jeder weiß, daß die als vordringlicher Bedarf eingestuften Projekte noch nicht einmal zur Hälfte finanziert werden können. Das Märchenbuch Bundesverkehrswegeplan hat Koalitionsabgeordnete zu Märchenerzählern degradiert, die dem staunenden Wahlvolk in ihrem Wahlkreis weismachen wollen, ihre Straße sei im vordringlichen Bedarf und werde also gebaut. Das wird sich in mehr als der Hälfte aller Fälle als Lüge herausstellen.
Mit Wahrheit, Klarheit und finanzpolitischer Zuverlässigkeit hat das nichts zu tun.
Kaum waren Sie, Herr Bundesminister, in das Amt des Bundesverkehrsministers gewechselt, sah sich Ihr Haus sogar gezwungen, die Länderverkehrsminister im Westen per Erlaß darüber zu informieren, daß keine einzige Maßnahme neu begonnen werden dürfe, da aus dem Straßenbauhaushalt 1,3 Milliarden DM in die neuen Länder umgeschichtet würden.
Nun gibt es ein weiteres, die Wahrheit verschleierndes Stichwort, sozusagen einen Zaubertrick: Privatfinanzierung. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Sechs Projekte sollen nach dem sogenannten Konzessionsmodell privat finanziert werden. Das ist schön für die Maßnahmen, die auch von mir in ihrer Notwendigkeit gar nicht bestritten werden. Sie kommen eben schon jetzt und brauchen nicht auf schwierige Straßenbauhaushalte zu warten.Aber mit Privatfinanzierung hat das eigentlich wenig zu tun. In Wahrheit handelt es sich darum, daß Private den Bau vorfinanzieren und der Bund dann bei Fertigstellung hinsichtlich der Raten für das Abstottern der aufgewendeten Kosten über den Straßenbauetat zur Kasse gebeten wird.
— Herr Kollege Fischer, ich spiele hier nie das Spielchen — Sie wissen ja, ich bin KüstengangMensch — zwischen Bremen und Hamburg; das machen wir draußen. Aber in den sechs Projekten ist die Elbtunnelröhre drin. Da ist nichts von Bremen enthalten.
— In den sechs Projekten, habe ich gesagt.
Eine echte private Finanzierung würde nur funktionieren, wenn Private eine Straße bauen und betreiben und über „road pricing", d. h. auf gut deutsch, Straßenbenutzungsgebühren, einen Ertrag ihrer privaten Investitionen erwarten könnten.Ich stelle fest: Künftige Haushalte sind schon jetzt mit 2,7 Milliarden DM für die Abfinanzierung der genannten sechs Projekte vorbelastet.
Nach dem Willen des Haushaltsausschusses und wahrscheinlich dieses Hauses — wir haben ja noch nicht abgestimmt — sollen weitere acht Projekte, davon fünf Ortsumgehungen, hinzukommen, für die ebenfalls Verpflichtungsermächtigungen eingestelli werden müssen.Diese sogenannten privat finanzierten Projekte verschieben also in Wahrheit andere im Verkehrswegeplan als vordringlich eingestufte Maßnahmen nach hinten.
Neben Straße und Schiene gibt es besonders energiesparende und umweltschonende Verkehrsträger. Für ein außenhandelsorientiertes Land tun See- und Küstenschiffahrt sowie auch die Binnenschiffahrt not. Dazu kann ich Ihnen, Herr Minister Wissmann, mehrere Feststellungen leider nicht ersparen.Erstens. Außer dem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17 gibt es kaum ausreichende Investitionsmittel für den Ausbau der Binnenwasserwege.
Die Gesamtinvestitionssumme von rund 1 Milliarde DM aus dem Einzelplan 12 für die Bundeswasserstraßen macht offensichtlich, daß die Wasserstraße der vergessene Verkehrsträger bleibt.Im Zusammenhang mit den Bundeswasserstraßen möchte ich eine zusätzliche Bemerkung machen: Die Zufahrten der Seehäfen an Ost- und Nordsee müssen in ökologisch verantwortlicher Weise so gestaltet werden, daß Fahrwassertiefen für Schiffe der nächsten Generation ausreichend sind. Entsprechende Umweltverträglichkeitsprüfungen vorausgesetzt, ist der Bund gefordert, für die notwendige Ausgestaltung der Fahrrinnen Sorge zu tragen. Wir haben uns bemüht, die Finanzierungsvoraussetzungen dafür zu schaffen.Das bezieht sich neben Rostock auch auf die dringend erforderlichen Unterhaltungsbaggereien für den Tiefseehafen Wilhelmshaven. Gerade die Menschen an der Küste sind daran interessiert, das ökonomische Standbein beispielsweise von Ölanlandungen mit dem größtmöglichen Schutz vor Tankerunfällen zu verknüpfen.
Um Ökologie und Ökonomie geht es auch bei der Bundeswasserstraße Ems und dem Werftstandort Papenburg. Der Haushaltsausschuß hat einvernehmlich Mittel zur Herstellung einer ausreichenden Was-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16779
Ernst Waltemathesertiefe für die Überführung georderter Schiffsneubauten zur Nordsee in den Haushalt eingestellt. Dabei ist aber auch darauf hingewiesen worden, daß es sowohl ökonomisch bzw. fiskalisch als auch umweltpolitisch Grenzen der Machbarkeit gibt.
Im Klartext: Die Breite und Tiefe einer Wasserstraße bestimmen, welche Schiffsgrößen in Auftrag gegeben werden können. Das heißt, weder haushaltspolitisch noch ökologisch können die Voraussetzungen umgedreht werden.Was will ich damit sagen? Der Staat ist eben nicht verpflichtet, Eingriffe in die Umwelt und Eingriffe in die Staatskasse dann zuzulassen, wenn ein Unternehmen Aufträge annimmt, die zu groß dimensioniert sind.
Deshalb gehen wir davon aus, daß wir mit der jetzigen Veranschlagung der Finanzmittel für die Ems das Ende der Fahnenstange erreicht haben. Wir haben gleichzeitig aber auch alles getan, um für einen erfreulicherweise sehr konkurrenzfähigen und modernen Schiffbaubetrieb und seine Sicherung ausreichende Infrastrukturbedingungen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die See- und Küstenschiffahrt wird hinsichtlich der von ihr nicht verschuldeten Wettbewerbsnachteile auf dem internationalen Schiffahrtsmarkt stiefmütterlich behandelt. Die Rahmenbedingungen sind nicht verläßlich. Weil der Bundesfinanzminister mehrfache Aufforderungen aus allen Fraktionen dieses Hauses seit dem Jahre 1991, auf steuerlichem Gebiet gesetzesinitiativ zu werden, in den Wind geschlagen hat, konnte der zunehmende Ausflaggungstrend nur mühselig durch den Beschluß des Bundestages gestoppt werden, weiterhin Finanzbeiträge, also direkte Betriebskostensubventionen, zu gewähren.Die zum Haushalt 1993 von den Berichterstattern des Haushaltsausschusses vorgeschlagene Verpflichtungsermächtigung auf das Haushaltsjahr 1994 in Höhe von 100 Millionen DM findet sich deshalb als Baransatz im Einzelplan 12 wieder. Es wäre aber jetzt erforderlich gewesen, erneut eine Verpflichtungsermächtigung auf das Jahr 1995 aufzunehmen, was die Berichterstatter ursprünglich auch einvernehmlich vorgeschlagen hatten, und zwar insbesondere im Hinblick darauf, daß der Bundeshaushalt 1995 vor Mitte 1995 parlamentarisch nicht beraten sein wird.
Nachdem sich die Koalition für die Aufnahme der Verpflichtungsermächtigung nicht bereit gefunden hat, muß man kein Hellseher sein, um zu wissen, daß eine nationale Schiffahrtspolitik nicht mehr stattfinden und die Flucht in Billigregister in großem Ausmaß stattfinden wird.Meine Damen und Herren, der Bundestag und der Bundesrat haben mit dem Tarifaufhebungsgesetz EG- Recht in nationales Recht umgesetzt. Als guter Europäer stehe ich dazu. Gleichwohl mahnen die Binnenschiffer völlig zu Recht, daß sie gleiche Wettbewerbsbedingungen vorfinden wie ihre Kollegen aus den Niederlanden, aus Belgien und Frankreich. Hier ist offensichtlich erneut der Grundsatz verletzt, daß Liberalisierung auch Harmonisierung voraussetzt. Die Binnenschiffahrt kann nicht für sich einen Naturschutzpark verlangen, aber die Bundesregierung kann auch nicht tatenlos zusehen, wenn trotz des EG-Rechts andere Staaten ihren Binnenschiffern solche Naturschutzparks einrichten und unliebsame ausländische Konkurrenz von ihren Märkten fernhalten.
Hier sind Sie gefordert.Ein gleiches Problem haben wir jetzt übrigens auch im Straßengüterverkehr, wo sich der Ausflaggungstrend auch nicht vermeiden lassen wird.Herr Minister Wissmann, ich fordere Sie überhaupt nicht auf, Ihre Fahne in den Wind zu hängen, den die Opposition manchmal so erzeugt,
aber Sie müssen sehr wohl Flagge zeigen für die deutsche Flagge. Maritime Interessen und auch die Konkurrenzfähigkeit unserer Binnenschiffahrt sind nationale Aufgaben. Entscheidungen mit dem Rücken zu den Wasserwegen verletzen unsere Interessen als Industriestandort und als Außenhandelsnation.
Meine Damen und Herren, es wäre jetzt ein Vortrag fällig — den ich nicht mehr halten werde — über das, was die SPD-Bundestagsfraktion Ihrer Verkehrspolitik entgegenzusetzen hat. Glauben Sie mir, es wäre viel besser. Da Ihre Verkehrspolitik schlechter ist, sehen wir uns leider gezwungen, den Haushalt abzulehnen.
Herr Kollege Wilfried Bohlsen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
— Das will ich bestätigen. Aber wir sind ja auch — das will ich dem Kollegen Diller bestätigen — in großen Zügen der Verkehrspolitik im Haushaltsausschuß in wesentlichen Punkten recht einig gewesen.
— Ich komme noch darauf. Wenn Sie den Etat dann doch leider ablehnen, liegt es nicht an mir. Das sind dann vielmehr die Widersprüche bei sich selbst.Der Etat des Bundesministers für Verkehr mit dem Volumen von 53,8 Milliarden DM ist immerhin der
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16780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Wilfried Bohlsendrittgrößte Einzeletat, den wir zu verabschieden haben, und er beinhaltet immerhin Investitionen mit einem Volumen von 26 Milliarden DM. Mit diesem Investitionsvolumen leistet der Bund einen erheblichen Beitrag für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Er bietet gute Möglichkeiten zur Ankurbelung der Wirtschaft und fördert gerade im Verkehrsbereich das Zusammenwachsen der alten und neuen Bundesländer.Da wir durch den Vorredner schon gut über die Zahlen informiert worden sind, lassen Sie mich zu einem wichtigen Anliegen des Einzelplans 12, zur Strukturreform der Eisenbahn, noch einiges sagen. Hier ist es nach fünfmonatigen Verhandlungen mit den Ländern gelungen, im Verhandlungsergebnis erheblich voranzukommen. Auch heute findet das in Gesprächen zwischen den Ministerpräsidenten wieder seinen Niederschlag.Der Bundesregierung und insbesondere Ihnen, Herr Bundesverkehrsminister Wissmann, möchte ich herzlichen Dank sagen für die enormen Bemühungen, die Sie geleistet haben, und auch für die viele Zeit, die Sie gerade in den letzten Wochen und Monaten aufgewandt haben, um die Strukturreform der Bundesbahn voranzubringen.
Ein wesentlicher Verhandlungspunkt, meine Damen und Herren, war bis zuletzt die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs und ihre Finanzierung. Bei den Verhandlungen zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder am 12. November 1993 wurde eine Lösung gefunden, wodurch die Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr ab dem 1. Januar 1995 vom Bund auf die Länder übergehen kann und die Bahnreform zum 1. Januar 1994 verwirklicht werden kann.Als wir im Haushaltsausschuß über diesen Komplex beraten mußten, haben wir bei den betreffenden Bahnkapiteln qualifizierte Sperren einbringen müssen, da zu diesem Zeitpunkt eine Einigung zwischen dem Bund und den Ländern noch ausstand. Wenn die Länder nunmehr ihr Einverständnis signalisieren, können wir im Haushaltsausschuß die entsprechenden Entsperrungen vornehmen. Das setzt natürlich voraus, daß an dem gefundenen Kompromiß auch festgehalten wird. Ansonsten laufen wir Gefahr, daß die Bahnreform scheitert.Die Einzelheiten der Bahnstrukturreform sollen Anfang Dezember im Parlament erörtert und als Gesetzespaket verabschiedet werden. Insofern kann ich mir hier besondere Bemerkungen zu den Einzelpunkten ersparen.Mit der Bahnreform soll die Rentabilität erheblich verbessert werden. Aus dieser Sicht müssen wir noch einmal die Einspareffekte prüfen; zumindest macht der Bundesrechnungshof noch einige kritische Anmerkungen zu dem Zahlenwerk.An dieser Stelle will ich deutlich machen, daß es im Verkehrsbereich Bahnen einen dringenden Handlungsbedarf gibt; denn wir als Haushälter wären aufDauer sonst nicht mehr Herr des Geschehens in der finanzpolitischen Entwicklung.Gestatten Sie mir, daß ich auf Ausschußberatungen eingehe, die eine Veränderung in den bisherigen Haushaltsansätzen beinhalten. Großer Diskussionspunkt war die Weiterführung des Wuermeling-Passes. Für 1994 haben die deutschen Bahnen die Weiterführung als freiwillige Leistung übernommen. Über die Fortführung nach 1994 wird das Bundesministerium für Familie und Senioren entsprechende Verhandlungen mit der Deutschen Bahn AG führen.Ein zweiter wichtiger Punkt bei uns war die Verkehrserziehung. Im Regierungsentwurf hatten wir hierfür für das kommende Jahr 15 Millionen DM angesetzt. Wir wußten aber, daß hier dringende Arbeiten auch in ehrenamtlicher Weise zu leisten sind. Deswegen war es unser Bemühen, diesen Ansatz zu erhöhen. Ich bin den Haushältern dankbar, daß wir uns durchsetzen konnten und daß wir den Regierungsansatz von 15 Millionen DM um 10 Millionen DM auf 25 Millionen DM erhöht haben. Das war insofern ein Kraftakt, als wir innerhalb unseres Einzelplans Deckung finden mußten. Dieses aber ist gelungen.
Der Kollege Waltemathe hat schon auf die Problematik der deutschen Handelsflotte hingewiesen. Für 1994 haben wir einen gesunden Ansatz von 100 Millionen DM. Sorge aber bereitet natürlich auch unserer Fraktion der Fortgang in den Folgejahren. Insofern möchte ich dieses, Herr Bundesverkehrsminister, noch einmal zum Anlaß nehmen, die Bundesregierung zu bitten, hier noch einige Schularbeiten zu machen. Es geht ja — das ist unser politisches Ziel — um den Erhalt einer angemessenen deutschen Handelsflotte unter deutscher Flagge.Es sind mehrfach steuerliche Maßnahmen wie z. B. die Entlastung von der Gewerbesteuer und die Befreiung von der betrieblichen Vermögensteuer angesprochen worden. Wenn dies geschieht, können wir auf Zuschüsse verzichten. Wenn das aber nicht politisch umgesetzt wird, dann müssen wir uns über die Haushaltsjahre 1995 und 1996 Gedanken machen, damit wir wieder den Einsatz von Mitteln ermöglichen.Der Kollege Waltemathe hat die Konzessionsmodelle im Straßenbau angesprochen. Die Zahl der Maßnahmen im Straßenverkehr haben wir von sechs auf zwölf erhöht. Dazu gehört dann auch noch ein weiteres Modell im Schienenverkehr. Ich glaube, daß wir mit der Aufstockung auf zwölf Modelle einen regional besseren Ausgleich gefunden haben, der für uns doch recht wichtig ist.
Dadurch verbessern wir auch den Zeitfaktor erheblich und bekommen andererseits im vordringlichen Bedarf Luft für andere Ortsumgehungen und andere dringend benötigte Teilmaßnahmen. Insofern freue ich mich, daß es uns gelungen ist — Kollege Waltemathe, das wurde einvernehmlich im Haushaltsausschuß beschlossen —, die Anzahl der Konzessionsmodelle zu
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Wilfried Bohlsenerhöhen. Das will ich an dieser Stelle noch einmal vermerken.
Die Emsvertiefung ist angesprochen worden. Auch hier war es ein schwieriger Kraftakt, den Regierungsentwurf um Barmittel in Höhe von 20 Millionen DM und 5 Millionen DM bei den Verpflichtungsermächtigungen für das Folgejahr zu erhöhen. Auch hier mußte Deckung im selben Einzelplan erbracht werden. Das war nicht einfach; das war ein schwieriger Akt, der aber nunmehr gelungen ist. Damit tragen wir in besonderem Maße zum Erhalt des Werftenstandortes Papenburg bei.
— Das ist wahr, verehrter Herr Gries. Aber da wir alle wissen, welche Bedeutung Flugzeugindustrie und Werftenstandorte für uns haben, wissen wir auch, welch hohen Beschäftigungsgrad dieser ganze Bereich hat.
Ich will einen anderen Punkt ansprechen. Es kam in unserem einzigen Tiefwasserhafen, den wir in der Bundesrepublik haben — das ist der Hafen Wilhelmshaven —, erstmals vor, daß ein tiefgehender Öltanker zurückgeschickt werden mußte, weil tiefes Fahrwasser nicht gegeben war. Wir sahen dringenden Handlungsbedarf. Ich freue mich, daß wir für die Vertiefung der Jade einvernehmlich 10 Millionen DM einbringen konnten. Denn wenn wir es uns leisten, daß Schiffe zurückgeschickt werden, stärken wir doch die Häfen des Auslandes. Dies können wir uns nicht leisten. Wenn wir Raffinerien haben, die funktionieren, dann müssen wir auch dazu beitragen, daß es entsprechend tiefes Fahrwasser gibt. Dies ist gelungen.
Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zur Stärkung des Seeverkehrs sagen. Die Kollegen Waltemathe und Zywietz waren zusammen mit mir vor einem Jahr zu Gesprächen im schwedischen Verkehrsministerium.
Wir hatten Gelegenheit, die Absicht der Schweden zu beleuchten, in die EG einzutreten. Durch den Beitritt wird sich der Güterverkehr erheblich vermehren. Das Nadelöhr Hamburg läßt im Straßenverkehr nicht mehr viel Luft für Erweiterungen. Deswegen war es unser Bemühen, gegebenenfalls die Möglichkeiten des Seeweges zu prüfen. Ich freue mich, Herr Minister, daß es in dieser Woche zum Abschluß eines Forschungsauftrages für ein Gutachten kommen wird, in dem untersucht wird, wie sich die Verkehre entwickeln und wie es zu einer Verkehrsverbindung auf dem Seewege zwischen Göteborg und den deutschen Nordseehäfen kommen könnte. Das Gutachten hat zum Thema: „Welchen Beitrag kann der Seeweg von Göteborg nach Westeuropa über deutsche Nordseehäfen zurEntlastung des Landweges leisten?" Wir sollten das Ergebnis abwarten. Man rechnet damit, daß es uns Ende März zur Verfügung stehen wird.Bevor ich zu den Schlußbemerkungen komme, will ich Ihnen, Herr Minister, herzlichen Dank für Ihren Erfolg bei den Luftverkehrsverhandlungen mit den USA sagen.
Herr Kollege, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? — Diese drehbaren Stühle hier verführen natürlich dazu, eine Art Clubatmosphäre in einzelnen Teilen des Saales herzustellen.
Ich wäre aber dankbar, wenn alle Kollegen die Minimalregeln der Höflichkeit gegenüber dem Redner einhalten würden.
— Die anderen verstehen es.
Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege.
Herr Minister, Dank also für Ihre Erfolge bei den Luftverkehrsverhandlungen mit den USA und Dank für Ihre Verhandlungen und für Ihre Erfolge auf EG-Ebene bei der Harmonisierung der Straßenbenutzungsgebühr. Auch hier sind Sie ein Stück weitergekommen.Wir möchten Ihnen, Herr Minister, bei den Schlußverhandlungen mit den Ländern zur Bahnreform den Rücken stärken.
Ich meine, wir sollen hier noch einmal sagen:
Das vom Bund vorgelegte Angebot kann nicht verbessert werden. Insofern bitten wir die Länder, nun auch bei dem einzulenken, was sie als Verhandlungsergebnis vorgelegt haben.Es gab eine gute Zusammenarbeit mit den Beamten des Haushaltsreferats. Dafür möchte ich mich bedanken. Ich freue mich auch über das angenehme Miteinander mit den Kollegen Berichterstattern, das viel harmonischer ist, als es hier zum Ausdruck kommt. Ich freue mich auch, daß es ein so gutes Zusammenarbeiten mit der Arbeitsgruppe Verkehr gab.Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen vorschlagen, der vorliegenden Fassung zuzustimmen. Der Verkehrsetat paßt sich in das Konzept der Haushaltskonsolidierung ein und ist mit einem hohen Anteil an Investitionen beschäftigungspolitisch von besonderer Bedeutung. Er trägt dem Ziel des Zusammenwachsens von Ost und West Rechnung.
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Wilfried BohlsenDer Verkehrsetat schafft die Voraussetzungen zur Durchführung der Bahnstrukturreform, die längerfristig wiederum zur Konsolidierung des Haushalts beitragen wird. Daher empfehle ich Ihnen die Annahme dieses Etats.
Herr Kollege Kalb, ich habe Ihre Meldung zu einer Zwischenfrage nicht deshalb heruntergespielt, weil ich den Redner nicht unterbrechen wollte. Wir können vielmehr im Moment ausschließlich die stehenden Mikrophone im Hintergrund des Saals benutzen. Sie müßten also hinaufgehen. Da das System auf Notbetrieb geschaltet ist, besteht die Gefahr, daß es ganz zusammenbricht, wenn wir es zu kompliziert machen.
Da ich das ungern erneut unter meiner Präsidentschaft hätte,
schlage ich vor, daß wir versuchen, ohne Zwischenfragen oder nur mit solchen, die man rufen kann, auszukommen.
Ich erteile dem Kollegen Werner Zywietz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der unkonventionellen Ausstandsrede des Kollegen Ernst Waltemathe und angesichts Ihrer Bemerkung, Herr Präsident, Zwischenfragen aus technischen Gründen nicht zuzulassen, lege ich mein vorbereitetes Manuskript beiseite und will es mit ein paar Anmerkungen zum Einzelplan 12, zum Bereich Verkehr, einmal so versuchen.Der Kollege Ernst Waltemathe hat neben launigen Bemerkungen diesen Plan zutreffend charakterisiert. Er hat darauf hingewiesen, daß es mittlerweile ein wirklicher Aufsteigeretat geworden ist. Mit seinem Volumen von 53 Milliarden DM ist er an die zweite Stelle gerückt, zugegebenermaßen durch die Obernahme von besonderen Leistungen für die Bahnreform. Ich möchte hinzufügen, daß dieser Einzelplan seine Bedeutung auch darin hat, daß er für die Mobilität der Bürger und für eine prosperierende Wirtschaft sehr fundamentale Voraussetzungen liefert.Ich meine, daß er durch den Ausbau der Infrastruktur im Straßen-, im Schienen- und im Luftverkehrsbereich sowie bei den Wasserstraßen zumindest atmosphärisch auch eine gute Voraussetzung schafft, gutes Verkehrsgerät zu produzieren, das man möglichst in alle Welt exportieren kann. Mir ist aufgefallen, daß gute Straßen zum Bau von guten Autos motivieren. Ordentliche See- und Binnenwasserstraßen sind ein Anreiz, vernünftige Schiffe zu bauen, nicht nur für das heimische Publikum. Ich denke auch, daß ein attraktiver Flughafen wie beispielsweise München dazu anreizt, gute Flugzeuge zu bauen oder zumindest gute Flugzeuge der Airlines anzuziehen und damit ökonomische Stimulanzen zu geben. Gleiches gilt sicherlich auch für einen guten Schienenausbau. Dazu paßt kein rumpelnder Zug, sondern nur ein anständiger ICE.Auch über den Transrapid könnte man in diesem Zusammenhang sprechen.Kurzum: Ich glaube schon, daß sich der Ausbau der Infrastruktur, der sich in diesem Haushaltsplan mit 53 Milliarden DM widerspiegelt, auch für die Verkehrsprodukte motivierend und hilfreich auswirkt.Ich möchte Ihren Blick noch auf einen anderen Aspekt lenken. Er ist aus F.D.P.-Sicht mehr als die Haushalte in den Jahren zuvor ein Haushalt mit besonderer Weichenstellung zu mehr Privatisierung. Das Hauptstichwort ist zweifelsohne die Bahnreform, die hier schon angesprochen worden ist. Damit erfüllt sich aus liberaler Sicht fast so etwas wie ein bestimmter Privatisierungstraum. Ich kann mich an die vielen Reden von hier anwesenden Kollegen und auch vom Kollegen Kohn erinnern, der immer wieder versucht hat, eine Bahnreform auf den Weg zu bringen. Ich meine, daß diese verdienstvollen Anstrengungen hier nicht ganz verschwiegen werden sollten. Ich finde es auch gut, daß — soweit ich im Bilde bin — die SPD-Bundestagsfraktion offensichtlich dieser Bahnreform zustimmt. Das ist wohl das Entscheidende.Nicht ganz so glücklich kann man eigentlich über die Nachkartversuche einiger Bundesländer verschiedener politischer Couleur sein. Ich glaube, das ist nicht in Ordnung. Die Bundesländer haben sich bei anderen Sparbemühungen aus meiner Sicht eigentlich ganz gut bedient.
Sie sollten hier bei der Zustimmung zur Bahnreform, so wie sie ausgehandelt worden ist, Vernunft und Realismus walten lassen.
Ein Nachkarten an dieser Stelle ist überhaupt nicht sinnvoll.Wenn wir allerdings die Reform der Bahn, d. h. die Aufteilung der Bahn in drei Aktiengesellschaften vor Augen haben, dann ist es aus meiner Sicht mehr nötig, als aus der Behörde Bahn drei Unternehmen zu machen. In Zukunft müssen sich auch die Einstellung und die Vorgehensweise ändern.
Nur eine Etikettenänderung, die zu mehr und besser bezahlten Vorständen und vielleicht leitenden Angestellten führt, mag denen ja vergönnt sein; nötig ist allerdings für die Sanierung ein Stück mehr, damit in Zukunft nicht wieder öffentliche Mittel gebraucht werden, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Nötig ist guter Service. Nötig ist ein stärkeres Marktverhalten, ist Rationalisierung, ist ein klares Ausrichten an Leistungskriterien in den zukünftigen Aktiengesellschaften, wenn denn die Operation ihr Ziel erreichen soll.Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Bahn ist schon von den Vorrednern gesprochen worden. Mit Blick auf die knappe Zeit — ich glaube, ich habe nur sieben oder acht Minuten — — —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16783
Jetzt nur noch eine!
Noch eine? — Herr Präsident, hier leuchtet aber gar keine rote Lampe auf. Bei dieser riesigen Technik, muß ich sagen, hat mich das in der Tat irritiert.
Herr Kollege, ich hatte mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß dieses Licht nicht leuchtet. Als ich das gesagt habe, waren Sie schon im Saal.
Also, für alle, die es nicht mitbekommen haben: Die Anlage ist nicht in Ordnung. Das Licht leuchtet nicht, die Uhr geht nicht, auch die Mikrophone an den Plätzen gehen nicht.
Herr Präsident, aber vielleicht gibt es für mich angesichts des Mißverständnisses mildernde Umstände. Ich bemühe mich, Ihnen immer sehr aufmerksam zuzuhören, aber das war mir offensichtlich entgangen.
Ja, also noch eine Minute.
Dann wird manches nicht gesagt werden. Ich hoffe, darüber freut sich niemand. Ich habe mir hier vernünftige Notizen gemacht.
Zum Straßenbau aus unserer Sicht nur einige Dinge im Stakkato: Der Verkehrswegeplan ist kein Märchenbuch. Er ist schon eine sinnvolle Angelegenheit, aber wir müssen zugeben, daß er unterfinanziert ist und daß eine Prioritätenüberprüfung vonnöten ist. Ich möchte in aller Klarheit sagen: Die Großprojekte der deutschen Einheit werden wie geplant durchgezogen, und sie werden durch die Finanzenge keinen Schaden nehmen.
Ich möchte all denen aus den Ländern, die gerne Kritik üben und es als permanente Entschuldigung nutzen, daß beim Bund die Straßenbaumittel vielleicht zu gering sind, sagen, daß sie lieber darauf achten sollten, daß sie baureife Pläne haben. Man hört schon, daß manch einer in den Ländern das mangelnde Geld beklagt und gar keine baureifen Pläne hat.
Hier wollen wir doch keine billigen Entschuldigungen in den Raum stelllen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, daß wir sehr zufrieden sind, daß wir den Einstieg hinsichtlich der Privatisierung auch im Straßenbaubereich machen. Die Zeit erlaubt nicht, das auszuformen, aber es geht nicht um Schenkungsaktionen. Das was vorgesehen ist, wird, wenn es richtig gehandhabt
wird, eine deutliche Verbesserung sein. Es wird nämlich die private Schneise sowohl für die Durchführung als auch für die Vorfinanzierung erweitern, und das ist allemal gut.
Die Projekte, die wir ausgesucht haben, sind auch gut. Der Kollege Waltemathe sollte eigentlich zufrieden sein, denn der Weser-Tunnel, den er vorhin so schamhaft verschwiegen hat, ist, wie ich gehört habe, auch dabei.
Den gleichen Duktus der Privatisierungsschneise haben wir auch — —
Herr Kollege Zywietz, Sie sind jetzt zwei Minuten über Ihre Zeit.
Herr Präsident, ich weiß Ihre Güte zu schätzen und will Sie nicht überstrapazieren.
Bitte noch ein Satz.
Ich möchte sagen, daß der gleiche Grundgedanke der Privatisierung auch in der Luftfahrt Raum gefunden hat. Die Flugsicherung ist privatisiert. An Flughäfen neuerer Art wollen wir uns nicht beteiligen, sondern uns eher zurückziehen. Eine Kapitalerhöhung bei der Lufthansa wird es auch nicht geben.
Damit möchte ich meine kurzen Anmerkungen beenden und sagen, daß die F.D.P. diesem Etat zustimmt und daß der Minister, nachdem er sich so schnell eingearbeitet hat, eine glückliche Hand haben möge, die Projekte in diesem Sinne umzusetzen.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wissmann, ich schätze, von mir werden Sie keine Artigkeiten erwarten. Da werde ich sie mir gleich schenken.
Meine Damen und Herren, nach einer Umfrage fühlen sich mehr als 60 % aller Kinder durch den zunehmenden Verkehr gefährdet. 57 % wünschen sich einen sicheren Schulweg. Die Zahlen getöteter oder verletzter Kinder im Straßenverkehr zeigen, daß diese Ängste nicht unbegründet sind.Aber Sie machen weiter wie bisher. Ich lese jedenfalls aus diesem Verkehrshaushalt kein anderes Fazit heraus. Kein Wort von Verkehrsvermeidungsstrategien, von Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs oder Verlagerung von Transporten auf die
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Dr. Dagmar EnkelmannSchiene! Demagogisch wird die Aufstockung der Gesamtsumme des Etats mit der Bahnreform begründet. Dabei ist von einer wirklichen Reform weit und breit nichts zu sehen. Wir werden in der nächsten Woche noch ausführlich darüber sprechen können.
— Das machen wir nächste Woche.Die zusätzlichen Mittel dienen hauptsächlich der Entschuldung der Bahn.
Auf der Prioritätenliste steht nach wie vor der Straßenbau an vorderster Stelle. Das, was dringend nötig wäre, eine Aufstockung der Gemeindeverkehrsfinanzierung, die Stärkung der Selbstverwaltung der Kommunen in diesem Bereich, die vorrangige Förderung von Technologieentwicklung und Forschung bei den Bahnen sucht man im Haushalt 1994 vergeblich. Von einer verkehrspolitischen Umkehr bzw. Neuorientierung kann keine Rede sein. Die von Minister Wissmann euphorisch als Revolution gefeierte private Finanzierung von Straßen ist eine Konterrevolution in Sachen zukünftiger Verschuldung des Bundes, die dann — sicher mit leichtem Zeitverzug — auf die Bürgerinnen und Bürger abgewälzt wird.Die Gruppe PDS/Linke Liste wird diesen Einzelplan ablehnen. Bereits vor Monaten haben wir hier ein integriertes, ökologisch orientiertes Gesamtverkehrskonzept eingefordert und einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Daß dieser für Sie nicht annehmbar war, hatte in diesem Fall weniger damit zu tun, daß der Antrag von der PDS/Linke Liste kam. Ihre Ablehnung beruht auf der Unfähigkeit, weiter als bis zur nächsten Wahl zu denken.Sie nehmen die erschreckenden Prognosen für die Verkehrsentwicklung bis zum Jahre 2010 in Kauf, ohne auch nur im Ansatz daraus Konsequenzen für eigenes politisches Handeln zu entwickeln. Das, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, ist Ignoranz gegenüber der Wissenschaft, und das kennen wir aus DDR-Zeiten nur zu gut. Das Ende vom Lied kennen wir alle.Eine verkehrspolitische Neuorientierung muß dort ansetzen, wo Verkehr entsteht. Sie muß Fragen beantworten wie: Warum werden Transporte zunehmend auf die Straße verlagert? So wurden z. B. Produkte der Brikettfabrik Sonne in Großräschen bis 1990 zu fast 100 % auf der Schiene transportiert. Heute sind es gerade einmal 40 bis 50 %.Warum werden Waren des täglichen Bedarfs über Hunderte von Kilometern aus den alten in die neuen Bundesländer gekarrt?
Hier entsteht nicht nur zusätzlicher unsinniger Verkehr; gleichzeitig werden regionale Wirtschaftskreisläufe im Osten zerstört und Arbeitsplätze massenhaft vernichtet.Warum entstehen verkehrserzeugende Gewerbegebiete, Baumärkte, Supermärkte etc. auf der grünen Wiese außerhalb der Ortschaften?Warum verliert der ÖPNV durch Verteuerung, Streckenausdünnung bzw. Stillegung an Attraktivität für die Bürgerinnen und Bürger?Warum ist das Lager auf der Straße, die sogenannte Just-in-time-Produktion, trotz Staus, verlängerter Fahrzeiten etc. immer noch kostengünstiger als das Lager im Unternehmen?Die Liste der Fragen ließe sich beliebig fortsetzen.
Meine Erfahrungen aus Diskussionsrunden hier im Westen, aber auch im Kommunalwahlkampf in Brandenburg besagen, daß diese Fragen die Bürgerinnen und Bürger sehr wohl bewegen und daß sie mit den Antworten, die sie aus Bonn darauf bekommen, sehr unzufrieden sind.Großes Unverständnis herrscht bei vielen Leuten auch über solche Prestigeobjekte wie den Ausbau von Elbe, Havel, Oder und Spree. Warum sollen denn aber Flüsse und Kanäle in Brandenburg, die heute gerade einmal zu 30 % ausgelastet sind, auf Euroschiffgröße getrimmt werden? Milliarden werden in ökologisch und ökonomisch sinnlose Projekte gepumpt, und für die dringend notwendige Ortsumgehung z. B. von Bernau fehlt das Geld. Machen Sie das den Bürgerinnen und Bürgern einmal begreiflich!Meine Damen und Herren, ich möchte meine Rede beenden mit dem Ausschnitt aus einem Gedicht des diesjährigen deutschen Preisträgers des Europäischen Umweltpreises, Herrn Kurt Kretschmann aus Bad Freienwalde, der sich zum Thema Kanalausbau wie folgt geäußert hat:Totengräber der FlußlandschaftWas soll das Geschwafelüber Elbe, Oder, Spree und Havel! Danach sind sie allemalzu krumm, zu flach und zu schmal. Doch darf man den Leuten vertrauen, die Flüsse nach den Schiffen bauen? Da stirbt die Natur,es nutzt kein Klagen,wir müssen unsere Meinung sagen.Ein entschiedenes NEIN zu diesem Wahn! Steckt die Milliarden in die Eisenbahn. Mehr Achtung, mehr Ehrfurchtvor Strömen und Seen . . .Ja, Achtung vor der Natur — genau das lassen Sie vermissen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts dieser großen Harmonie wagt man ja gar nicht mehr, so richtig draufzuhauen. Das Grobe hat Frau Enkelmann jetzt schon besorgt. Ich denke, es sollte vielleicht angesichts der lockeren Atmosphäre — keiner wagt ja, laut zu sprechen, weil
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16785
Dr. Klaus-Dieter Feigejeder Angst davor hat, daß wieder alle Mikrophone ausfallen — darüber nachgedacht werden, ob in unserem Haushalt auch Aufträge für die Firma Siemens dabei sind, die die Verkehrsleittechnik oder so etwas in Gang setzen soll. Man sollte einmal darüber nachdenken, ob man die Aufträge noch an diese Firma vergeben kann.
Angesichts dieser großen Koalition ist es für mich als Nichthaushälter ein bißchen schwierig. Ich möchte also heute gar nicht groß auf Zahlen eingehen. Ich habe es mir vielleicht einfach gemacht und greife einmal ein Beispiel dessen heraus, was gebaut werden soll, und zeige Ihnen, auf wie typische Weise dort diese Politik gemacht wird.Angesichts der Arbeit in den Fachausschüssen zu diesem Haushalt muß ich sagen, daß ich bei der Diskussion des Bundesverkehrswegeplanes vor wenigen Wochen die Hoffnung schon fast aufgegeben habe, daß sich der Block — so sage ich es einmal — der Koalitionsdisziplin auch nur um einen Millimeter verschieben läßt. Ich hatte schon beinahe auch heute bei dieser Debatte der eitlen Harmonie Sorge, daß es sich überhaupt nicht mehr lohnt, über Änderungen oder Wünsche zu sprechen.
Nun hat aber der Bundeskanzler selbst in der gestrigen Debatte z. B. den Herrn Heitmann so sehr verteidigt, daß man meinen könnte, eher würde er zurücktreten, als daß er Heitmann fallenläßt. Nun ist das aber auch alles wieder Schnee von gestern, oder besser: von heute früh. Ich muß vielleicht in Erinnerung rufen: Andererseits hat der Bundeskanzler gestern als einziges Maßnahmeprojekt der Serie „Deutsche Einheit" die A 20, die Ostseeautobahn, hervorgehoben und verteidigt.
Da ihm offenbar zur Zeit alles, was er ankündigt und verteidigt, in die Hose geht, habe ich die Hoffnung bezüglich des Planes der A 20 nicht aufgegeben und möchte dies heute als Beispiel nehmen und Ihre Politik ein bißchen, auch im Spiegel dieses Haushalts, herausheben.So haben z. B. die Berichterstatter zu diesem Projekt vor wenigen Tagen eine Vor-Ort-Reise nach Wismar gemacht, um sich in einer betroffenen Region einmal über die Auswirkungen unserer haushaltspolitischen Entscheidungen ein Bild zu machen. Es ist schon makaber, daß die Anreise eines Teils der Kollegen nach Wismar mit dem Hubschrauber erfolgte. Das geschah mit dem Argument, daß man auf den Autobahnen wegen der vielen Staus vielleicht nicht rechtzeitig nach Wismar käme.
Das ist symptomatisch für viele dieser Planungsvorbereitungen. Denn was uns vor Ort an Wahrheitsfindung angeboten wurde, war schon ziemlich bezeichnend. Es wurde allen Ernstes behauptet, daß eine Verbandsbeteiligung z. B., die ja bei uns demokratisch vorgeschrieben ist, in einer Dauer von ganzen 14 Tagen ausreichend ist, um eine wirklich sachliche und fachliche Beurteilung, so wie sie das Gesetz vorschreibt, zu ermöglichen. Damit sind nicht etwa nur die 800 Seiten gemeint, die all meinen Kollegen vorliegen
— wir müssen ja wahrscheinlich in zwei Wochen gründlich darüber sprechen —, sondern es waren mehrere dicke, dicke Ordner, die dort durchzuarbeiten waren. Das ist also die „Gewissenhaftigkeit", mit der wir solch einen Plan vorbereiten.Es traten dann die Vertreter der betroffenen Kommunen auf, auch die der Stadt Wismar, und forderten eine Entlastung von dem Durchgangsverkehr in der Stadt Wismar. Das kann ich natürlich verstehen. Daß es aber gleich eine Autobahn sein muß, die man als Entlastungsstrecke haben will, ist dann schon weniger verständlich. Man tut ja manchmal so — das war auch in dieser Beratung zu hören —, als hätten wir das Geld wirklich im Überfluß. In der Beratung zum Haushalt sind nämlich gerade die Projekte, die Umgehungsstraßen und damit eine Entlastung bringen sollen — so borniert bin ich nicht, daß ich nicht wüßte, daß wir sie auch in den neuen Ländern brauchen —, abgelehnt worden, weil das Geld nicht mehr da war.Auf die Frage nach der Wirtschaftsverträglichkeit der A 20 bekommt man dann zu hören, insbesondere von den Einwohnern von Wismar, daß sie eigentlich die Nord-Süd-Anbindung brauchen, also gar nicht diese Autobahn. Sie wollen die Nord-Süd-Anbindung; die ist für Wismar viel wichtiger. Wenn Sie dann noch weiter nach Osten kommen, nach MecklenburgVorpommern, — —
— Nein, ich will Ihnen einfach nur die Argumentation wie einen Spiegel hinhalten.In Mecklenburg-Vorpommern wird gesagt: Wir sind als Rostocker froh, daß wir die Nord-Süd-Anbindung haben. Die A 20, die uns die Warenströme bis nach Stettin bringen wird, ist für uns verhängnisvoll. Die Stadt Rostock und die Hafenbetriebe werden Arbeitsplätze verlieren, weil in Stettin — diese Fahrtstrecke ist dann kein Problem mehr — genau das eintreten wird, daß unsere Häfen mit Dumpingpreisen geschädigt werden.Damit kann ich mich als Mecklenburg-Vorpommer nicht abfinden. Das wird noch viel komplizierter werden. Denn ich sehe auch schon die Schlagzeilen, die dann heißen: Dumpingpreise der polnischen Hafenbetriebe fressen unsere Arbeitsplätze. Die Autobahn wird also nicht nur Arbeitsplätze kosten, sie wird meines Erachtens leider auch Fremdenhaß schüren helfen.
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Dr. Klaus-Dieter Feige— Das ist doch heute so. Schauen Sie sich doch bitte alle Ursachen an, sie liegen ausdrücklich im wirtschaftlichen Bereich.Nun gut, sagt manch einer, die Autobahn bringt uns natürlich auch Vorteile und Arbeitsplätze. Ich werde das heute sicher wieder hören. Es müßte Ihnen jedoch spätestens seit den 30er Jahren klar sein, daß das damals schon ein Flop war und nicht hingehauen hat.Man könnte behaupten, vielleicht entwickeln sich in der Region neue Arbeitsplätze. Aber selbst dort gibt es keine Belege, die nachweisen, daß dies für unser Bundesland einen wirtschaftlichen Vorteil bringt. Ich weiß, daß wir Verkehr und Infrastruktur in diesem Bereich brauchen. Aber ich bin inzwischen als Umweltpolitiker ein viel besserer — und ich sage: auch ideologiefreier — Rechner geworden und glaube, daß gerade deshalb das Prüfen und das Vorlegen von Alternativen mit dem gleichen Effekt viel, viel billiger hätte vonstatten gehen können.Was ich bedaure — und das habe ich vor Ort gehört, und zwar immer wieder und sehr deutlich: Ihr habt es uns versprochen, nun müßt Ihr auch bauen — ist, daß es ein reines Prestigeobjekt ist. Frau Enkelmann hat schon gesagt, daß nur in diesen Vierjahrestakten, von Wahl zu Wahl gedacht wird.Ich muß Ihnen sagen: Ich liebe mein Bundesland. Ich möchte, daß die Menschen dort bleiben und Arbeit finden und daß sie die Arbeit dort behalten.
Herr Feige, Sie sind schon über die Zeit.
Mit diesem Satz wollte ich schließen.
Weil ich mein Land mag, möchte ich Sie bitten, genau in diesem Falle, beim Projekt der A 20, noch einmal nachzudenken und deutliche Korrekturen anzusetzen.
Nun muß ich fragen: Würden Sie jemandem, der Ihnen einen solchen Plan vorlegt, ein Auto abkaufen? Sie wären sehr vorsichtig. Würden Sie ihm gar einen Haushaltsplan abnehmen? Da ich vermute, daß alle anderen Projekte mit der gleichen Gründlichkeit und Demokratie — oder Nichtdemokratie — geplant wurden, muß ich Ihnen sagen, können wir diesen Haushalt nicht unterstützen.
Ich erteile dem Bundesminister für Verkehr, unserem Kollegen Matthias Wissmann, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich empfinde die Tonlage dieser Debatte auch deswegen als erfreulich, weil ich glaube, wir werden am Ende — das gilt auch für andere Politikfelder, aber es gilt vor allem für die Verkehrspolitik — nicht an der Schärfe unserer Reden gemessen, sondern daran, ob wir in einer verkehrspolitischen Situation, in der die Bürger spüren, wie schwierig sie zunehmend wird, weil sie imStau stecken, weil sie die Zuwachsraten sehen, mit Taten oder mit Rhetorik reagieren.
Ich sehe hier — ich sage das ausdrücklich auch für den Kollegen Waltemathe —, daß wir bei allen Unterschieden, die natürlich bleiben und die wir nicht kosmetisch wegretuschieren, das gemeinsame Bestreben haben, in der Verkehrspolitik Taten zu setzen, um damit Glaubwürdigkeit für die Politik zurückzugewinnen.So gesehen waren die letzten Monate auch dank der Arbeit meines Vorgängers von Handlungen gekennzeichnet, die zum Teil weitreichende Wirkungen haben. Sie sind von den Kollegen erwähnt worden.Wir haben nach jahrelangen Verhandlungen in Europa endlich, wenn auch zunächst mit einem bescheidenen Beitrag, die LKW-Vignette durchgesetzt. Ich werde das Abkommen nächste Woche paraphieren können.
Wir haben nach jahrelangen Verhandlungen — viereinhalb Jahre ist darüber gestritten worden, und ich will die Beiträge der Kollegen aus allen Fraktionen dazu ausdrücklich hervorheben — endlich ein Ergebnis bei den deutsch-amerikanischen Luftverkehrsverhandlungen erreicht, das nicht nur den amerikanischen Gesellschaften Rechte auf deutschem, sondern auch den deutschen Gesellschaften gleichgewichtige Rechte auf amerikanischem Boden gibt, und das damit der Lufthansa die Zusammenarbeit mit United Airlines ermöglicht und damit eine strategische Kooperation, die auch die Voraussetzung dafür ist, daß die Lufthansa wirklich eine Privatisierungsperspektive bekommt.
Insofern ist dies ein wichtiger Fortschritt in einem Unternehmen, wo Mitarbeiter und Management gewaltige Anpassungsleistungen in diesen Jahren erbringen.Wir haben drittens nach den schwierigen Verhandlungen, die Sie alle kennen, Dank der Mitarbeit vieler, endlich auch für Westdeutschland die notwendige Planungsvereinfachung erreicht. Das Planungsvereinfachungsgesetz kann in Kraft treten; denn, meine Damen und Herren, wenn ich bei einer Streckeneröffnung — es wird Ihnen ähnlich gehen —, bei einer S-Bahnstrecke Stuttgart-Stuttgart/Flughafen, erlebe, daß mir gesagt wird: Die erste Idee zu dem Projekt kam aus dem Jahre 1968; der erste Zug fährt dann schließlich im Frühjahr 1993, dann sage ich: Das sind Zeiten für Planung und Bau wie in einem Industriemuseum, aber nicht wie in einem modernen Industriestaat.
Das mußte und das wird sich ändern.
Wir sind schließlich viertens dabei, gemeinsam die Bahnreform durchzusetzen. Sie ist, das schrieb mir in diesen Tagen als Antwort auf den Brief zum 90. Geburtstag der frühere Präsident der Bundesbahn, Professor Oftering, eigentlich seit 30 Jahren überfällig.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16787
Herr Bundesminister, der Kollege Urbaniak findet es richtig — trotz aller Hinweise, daß wir das System jetzt nicht beschweren wollen —, eine Frage zu stellen. Gestatten Sie das?
Aber selbstverständlich.
Herr Minister, der Präsident hat aber gesagt: Von hier aus geht es, und man würde das System nicht belasten.
Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß es Vorgänge bei dem Bau von S-Bahnen gibt, die bis heute noch nicht realisiert sind und deren Ideen oder Vertragsentwürfe bereits im Jahre 1965 zum Abschluß gebracht worden sind?
Herr Urbaniak, natürlich sind mir solche Fälle bekannt. Mir sind auch Fälle, nicht zuletzt aus Ihrer Region, bekannt, wo noch 1988 der regionale Verkehrsverbund die Notwendigkeit bestimmter Strekken ausdrücklich bestritten hat. Trotzdem sage ich: Das Bundesverkehrsministerium ist jederzeit bereit, immer wieder den Sinn und die Wirtschaftlichkeit solcher Strecken zu untersuchen, aber wir werden uns natürlich nicht über regional Verantwortliche hinwegsetzen, sondern mit ihnen zusammen vernünftige S-Bahnkonzepte entwickeln, und das liegt sicher auch in Ihrem Interesse.
Aber lassen Sie mich, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu dem Thema Bahnreform zurückkehren. Hier haben wir gemeinsam in den letzten Monaten — seit fünf Monaten wird verhandelt — ein Konzept so weit getrieben, daß wir sagen können: Alle großen Fraktionen des Bundestages wollen die Bahnreform, wollen die Befreiung von der Behördenstruktur, wollen die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs, wollen die Entschuldung von Bundesbahn und Reichsbahn, wollen die Öffnung des Schienennetzes für Dritte.Meine Damen und Herren, ich finde, es schadet den großen Gruppierungen dieses Hauses nicht, sondern es nützt ihrem Ansehen, wenn sie für eine große gemeinsame Reform auch gemeinsam eintreten und sie nicht in der Diskussion zerreden lassen.
Natürlich werden wir erst in der nächsten Woche — ich hoffe, dann endgültig — das grüne Licht einer Zweidrittelmehrheit der Länder haben und dann vertieft diskutieren. Aber ich darf schon heute all denen, die an dieser Arbeit mitgeholfen haben, sagen: Allen Fraktionen will ich ausdrücklich danken — gerade auch den Sprechern Dirk Fischer und Ekkehard Gries. Aber ich nenne auch ausdrücklich — obwohl dies im Bundestag nicht so üblich ist — Klaus Daubertshäuser,der mit Kompetenz und mit Entschiedenheit dieses Projekt in seiner Fraktion vertreten hat.
Ich finde, es gehört nicht zur Courtoisie, sondern zum selbstverständlichen Respekt unter Kollegen, daß man so etwas auch einmal öffentlich in einer Haushaltsdebatte sagt.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich nenne die vielen anderen, die als Berichterstatter mitwirken. Ich bin dafür ausdrücklich dankbar. Ich danke auch den Berichterstattern des Haushaltsausschusses, Herrn Waltemathe, Herrn Kollegen Bohlsen, Herrn Kollegen Zywietz für diese sachliche Art, in der sie an den Haushalt herangehen.Trotzdem, Herr Kollege Waltemathe, muß ich Ihnen sagen: Sie irren sich in einem Punkt, wenn Sie nämlich behaupten, wir würden in diesem Haushalt eine falsche Prioritätensetzung vornehmen. Vom gesamten Investitionsvolumen sind 1994 rund 10 Milliarden DM für die Bahn und 8,7 Milliarden DM für die Fernstraßen sowie rund 1 Milliarde für die Wasserstraßen vorgesehen. Ich glaube, das Gewicht stimmt ökonomisch und ökologisch.
Die Balance, meine ich, müssen wir gemeinsam immer wieder finden.Wenn Sie zu Recht die Frage nach der Entwicklung der Binnenwasserstraßen stellen,
dann sage ich: In dem im Sommer verabschiedeten ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan für die nächsten 20 Jahre geben wir 47 % für die Schiene, 46 % für die Straße und rund 7 % für die Binnenwasserstraßen aus, mehr als je zuvor in der Nachkriegsgeschichte.
Ich will diese Linie auch ausdrücklich weiterverfolgen. Ich will sie weiterverfolgen unter Wahrung aller ökologischen Aspekte, die auch beim Binnenwasserstraßenbau zu beachten sind.Wir haben uns jetzt mit der Bayerischen Staatsregierung darüber verständigt, daß wir bei dem notwendigen Ausbau der Donau, um Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu erschließen, alle Methoden, auch die Ogris-Methode, einer ernsthaften Untersuchung unterziehen werden, bevor wir im Raumordnungsverfahren weitergehen und es zum Abschluß bringen. Bei uns gibt es keine Betonkopfmentalität, aber es gibt sehr wohl das Vertreten notwendiger Ausbauziele gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit. Denn wir bewältigen die Verkehrsströme der Zukunft nicht ohne den Mut,
uns auch für notwendige große Verkehrsvorhaben hinzustellen.Herr Kollege Dr. Feige, auch wenn es Ihnen nicht gefällt — ich respektiere natürlich Ihre andere Meinung —, sage ich nach einer sorgfältigen Abwägung auch mit Betroffenen aus der Region ausdrücklich: Wir
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16788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Matthias Wissmannkönnen es uns nicht erlauben, ein von seiner geographischen Lage her so an den Rand der Republik gedrücktes wichtiges Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern weiterhin nicht verkehrspolitisch zu erschließen,
sondern wir müssen alles daran setzen, daß auch Straßenanbindungen, also auch die A 20, möglich werden, um dieser Region auch eine wirtschaftliche Perspektive zu geben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das merke ich, seit ich Bundesverkehrsminister bin, natürlich noch mehr als vorher, als ich mich zwar mit Verkehrspolitik beschäftigt habe, sie aber nicht im einzigen Vordergrund meiner täglichen Parlamentsarbeit stand. Wir haben in der Verkehrspolitik mehr als in anderen Bereichen — vielleicht nicht zwischen den großen Fraktionen und in der Koalition, aber sonst in der Öffentlichkeit — manchmal stärker als sonstwo mit ideologischen Vorurteilen zu tun. Da gibt es den einen oder anderen Autofanatiker, der sich nicht vorstellen kann, daß es auch im Interesse des Autofahrens ist, wenn man Verkehr auf die Schiene verlagert, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver macht, den Schienenpersonennahverkehr ausbaut, die Bahn modernisiert und damit die Schiene stärkt.Da gibt es aber auch den einen oder anderen
in einer Ökonische, der sich nicht vorstellen kann, daß man in einem modernen Industrieland, in dem jeder sechste Arbeitsplatz vom Automobil abhängig ist, eine autofeindliche Politik nicht verantworten kann.
Ich glaube, die Aufgabe des Verkehrsministers ist es nicht, irgendeiner dieser Gruppen nach dem Munde zu reden, sondern sich zwischen solchen extremen Anschauungen und Vorurteilen die Gasse zu bahnen zu einer klaren, auf die Zukunft ausgerichteten und nicht von Reden, sondern von Taten geprägten Verkehrspolitik.
Genau das ist mein Ziel.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das schließt auch die Notwendigkeit ein, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Ich glaube, das geht uns allen so. Vertrauen bei den Bürgern gewinnen wir nicht zurück, wenn wir jedem sagen, was er gerne hören will. Vertrauen bei den Bürgern gewinnen wir zurück, wenn wir ihnen auch die unangenehmen Wahrheiten nicht ersparen. Und wer etwa den Ausbau der Verkehrswege in Ostdeutschland stärken will, die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit trotz knapperer Kassen durchsetzen will — und ich glaube, das wollen wir letztlich gemeinsam —, der kommt nicht darum herum, einige Straßenprojekte in Westdeutschland, so wünschenswert sie sind, im Bau später beginnen zu lassen, als ursprünglich vorgesehen.Meine Damen und Herren, das hört niemand gern, ich weiß das sehr wohl. Aber als wir zu der Mittelkürzung von 1,2 Milliarden DM gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung gezwungen waren — kein Wunsch des Verkehrsministers, aber eine finanzpolitische Notwendigkeit! —, haben wir die klare Entscheidung getroffen: keine Kürzungen in Ostdeutschland, Fortfahren der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit!
Ich glaube, diese Entscheidung war gesamtstaatlich, gesamtwirtschaftlich und verkehrspolitisch richtig. Deswegen die bittere Wahrheit als Folge, daß wir zwar in Westdeutschland selbstverständlich weiter Straßenbau betreiben, aber daß wir manches später beginnen müssen, als wir es gern hätten beginnen wollen. Ich glaube, das werden letztlich auch die Bürger akzeptieren.Meine Damen und Herren, mir kommt es in der Verkehrspolitik aber darauf an, daß wir den Blick über den Tag hinaus wenden, daß wir erkennen, daß wir im Grunde genommen in der Verkehrspolitik drei Steuerungsinstrumente als Optionen haben: Gebote und Verbote, den Weg über den Preis als Signal, um Menschen zu einem ökologisch und ökonomisch vernünftigen Handeln zu bringen, und den Einsatz moderner Verkehrstechnologien.Ich sage ganz eindeutig: Wo immer ich kann, werde ich den Weg der Gebote und Verbote vermeiden. Das heißt aber auch, daß wir den Preis als Signal zur Verkehrssteuerung, auch zu einer begrenzten Verteuerung des Straßenverkehrs, nutzen müssen, was wir mit der Mineralölsteuererhöhung, die keiner von uns gern durchsetzt, tun, und daß wir moderne Verkehrstechnologien zur Verkehrsverlagerung besser als bisher in den Dienst einer Zukunftsstrategie stellen wollen.Deswegen haben wir in diesen Monaten als erstes europäisches Verkehrsministerium ein Konzept zum Einsatz moderner Verkehrstechnologien, zur Telematik, erarbeitet. Wir wollen dafür in den nächsten zwei Jahrzehnten rund 6 Milliarden DM einsetzen. Denn, meine Damen und Herren, wenn 40 % des Großstadtverkehrs parkplatzsuchender Verkehr sind, wenn 30 % des Güterverkehrs Leerverkehr sind, dann muß es uns darum gehen, mit dem Einsatz von Information und Technologie solch unnötigen Verkehr zu verringern und zu vermeiden
und damit besser als bisher Verkehrsprobleme der Zukunft zu lösen.Ich möchte allen danken, den Berichterstattern, den Sprechern, nicht zuletzt auch den tüchtigen Beamten des Bundesverkehrsministeriums, die uns in einer solchen Zeit harter Arbeit massiv unterstützt haben.
Ich glaube, heute haben wir in der Öffentlichkeit ein breiteres Bewußtsein für eine Verkehrspolitik, die nicht den vordergründigen Beifall sucht, sondern die die Kraft zu den notwendigen Entscheidungen hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16789
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 12 — Bundesministerium für Verkehr — in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 12? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Einzelplan 12 ist angenommen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, so sehr ich im einzelnen Ihren Weggang bedauere, bitte ich Sie doch, ihn schnell zu vollziehen; denn ich möchte gern den nächsten Einzelplan aufrufen:
Einzelplan 13
Bundesministerium für Post und Telekommunikation
— Drucksachen 12/6013, 12/6030 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe Werner Zywietz
Rudi Walther
Ich sehe keinen der Berichterstatter.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Arne Börnsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 13 gibt hinsichtlich der nackten Haushaltszahlen in der Regel nicht allzuviel her. Ich will mich auch nicht auf Zahlen beziehen, sondern auf einen Titel des Einzelplans 13, nämlich die Bundesdruckerei.Die Bundesdruckerei soll zu einer GmbH umgewandelt werden. Das halten auch wir für richtig. Ich möchte Sie, Herr Bundesminister, aber herzlich bitten, diesen Start der Bundesdruckerei in der neuen Rechtsform nicht mit betriebsbedingten Kündigungen zu belasten, sondern Sie bitten, alles zu tun, damit der notwendige Personalabbau sozialverträglich durchgeführt werden kann und nicht zu Lasten der betroffenen Kollegen geht.
Meine Damen und Herren, es wäre sehr attraktiv und auch verführerisch, heute abend über die Postreform II zu sprechen, aber ich möchte die letzten Besprechungen und Gespräche dazu nicht stören. Ich will der Hoffnung Ausdruck geben, daß wir hier — bei einer funktionierenden Lautsprecheranlage — im Januar die Einbringung der entsprechenden Gesetze diskutieren können. Dann werden wir uns auch über die Inhalte auseinandersetzen können. Ich möchte heute nur am Rande dazu Stellung nehmen und auf die Einzelheiten verständlicherweise nicht eingehen.Der Blick auf Unzulänglichkeiten, die im betrieblichen Ablauf der Bundespostunternehmen festzustellen sind, muß — auch wenn es nichts mit der Reform zu tun hat — hier doch zur Sprache kommen.Ich möchte einige Beispiele nennen, meine Damen und Herren, die ich schon beim letztenmal teilweiseangesprochen habe, aber nun noch einmal aufgreifen möchte.Wir haben unter den Kollegen in Erfahrung bringen können — es haben uns viele Briefe erreicht —, daß die Schließung der Postämter bei sehr vielen Bürgern und Kollegen außerordentlich großen Ärger verursacht hat. Ich will nicht noch einmal auf das Thema eingehen; denn darüber habe ich bereits gesprochen. Ich möchte aber den Eindruck wiedergeben, den viele Bürger haben. Viele Bürger setzen die zu erwartende Postreform II mit einer Privatisierung gleich und befürchten, daß sie mit der Einschränkung von Dienstleistungen einhergeht.
Insofern bestätige ich das, was ich auch beim letztenmal sagte. Das Postunternehmen hat sich in der Beziehung einen Bärendienst erwiesen. Es hätte anders, sensibler, mit den Interessen der Bürger umgegangen werden sollen.Ähnliches gilt für das Briefkonzept, welches zum 1. April 1993 eingeführt wurde. Auch hierbei waren mangelnde Aufklärung und mangelnde Berücksichtigung von Kundeninteressen zu beklagen. Beim Bürger war der Eindruck entstanden, daß ein Monopolunternehmen seine Preise erhöht.
Dies war dem Unternehmen abträglich.Ein Hinweis zur Reklamation von Telefonrechnungen; es sind immerhin 430 000 im Jahr. Wir haben den Eindruck, daß das Unternehmen Telekom bei der Einrichtung objektiver Gebührenzähler doch etwas schwerfällig vorgeht. Ich sage aber auch, daß die Einführung — dafür werden wir auch selber sorgen müssen — eines Einzelgebührennachweises überfällig ist.Nächster kurzer Unterpunkt ist die Breitbandverkabelung. Mit der Entscheidung von 1982 für die Kupferverkabelung, meine Damen und Herren, ist eine Technologiebremse eingeführt worden. In der Spätphase der Koax-Technik wurde mit massiven Investitionen in dieses Geschäft eingestiegen — mit dem Ergebnis enormer Verluste bis heute, aber auch mit dem Ergebnis, daß für die notwendigen technischen Innovationen, auf die wir heute angewiesen sind, nicht das notwendige Kapital zur Verfügung steht. Insbesondere gilt dies für die Glasfasertechnik und die Optoelektronik.Meine Damen und Herren, in den neuen Bundesländern ist die Telekom eine Zusammenarbeit mit US-Unternehmen eingegangen. Grundsätzlich ist eine solche internationale Zusammenarbeit zu begrüßen. Es muß aber nach meiner Ansicht gerade, wenn es sich um Zukunftstechnologien handelt, geprüft werden, ob diese Unternehmen denn auch in Deutschland Wertschöpfung verursachen oder ob wir mit einer solchen Auftragsvergabe durch die Telekom die Wettbewerbsfähigkeit der US-Industrie stärken und unsere eigene belasten.Bedenklich, meine Damen und Herren, ist der Ausbildungsstopp bei der Telekom, insbesondere
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16790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Arne Börnsen
beim Kommunikationselektroniker. Dafür mag es einige Gründe geben; aber angesichts der aktuellen Situation am Arbeits- und Ausbildungsmarkt halte ich eine solche Entscheidung, auch wenn sie auf nur ein Jahr befristet gefällt wird, für nicht zuträglich und für nicht akzeptabel. Wir werden dies im Ausschuß entsprechend beraten und behalten uns weitere Schritte vor.Pikant ist, daß die Postbank — um auch diesen Bereich zu nennen — über das Angebot von Investmentfonds versucht, Kunden in Luxemburg zu gewinnen, die von der Waigelschen Zinsabschlagsteuer aus Deutschland vertrieben wurden. Das ist ein ganz pikantes Aperçu auf dem Wege der Postbank zur Privatisierung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Hauptpunkt kommen. Die Diskussion in Deutschland konzentriert sich seit nunmehr zweieinhalb Jahren auf die Postreform II, und man muß nach diesem Zeitraum zumindest kritisch feststellen, daß diese Diskussion oftmals vergangenheitsbezogen und rückwärtsgewandt ist und daß damit verbunden die Gefahr besteht, daß Zukunftschancen verloren gehen.In Deutschland ist es manchmal recht schwer, sich auch in der Politik darüber klar zu werden und andere zu der Erkenntnis zu bringen, daß die Telekommunikation der Markt der Zukunft ist. Der Umsatz in der Europäischen Union betrug im Telekommunikationsmarkt 1990 180 Milliarden DM und wird von der Europäischen Kommission für 2010 auf 650 Milliarden DM geschätzt — eine Steigerung von 180 Milliarden auf 650 Milliarden DM.Die Beschäftigtenzahl ist zwar nicht wesentlich angestiegen, aber im Gegensatz zu anderen Bereichen, wo die Beschäftigtenzahlen erheblich zurückgegangen sind, hat man hier immer noch eine Steigerung von 1,8 Millionen auf 1,9 Millionen Beschäftigte.Gerade nach dem Einzelplan, den wir vorher diskutiert haben, möchte ich wiederum daran erinnern, daß auch von der EG-Kommission behauptet wird, im Jahre 2000 werde die Telekommunikationsindustrie die Bedeutung erlangen, die heute die Automobilindustrie hat. Da ist es auch eine Forderung an uns selbst, angesichts der heutigen Krise in der Automobilindustrie alles zu tun, um zu verhindern, daß eine ähnliche Entwicklung bei der Telekommunikationsindustrie in Deutschland eintritt.Im Gegenteil, wir sind aufgefordert, gerade angesichts der Situation am Arbeitsmarkt die Beschäftigungschancen, die mit neuen Technologien im Bereich der Telekommunikation verbunden sind, tatsächlich zu nutzen. Wir müssen dabei feststellen, daß die Technologieentwicklung besonders in diesem Bereich von einer dramatischen Geschwindigkeit ist.Ich erinnere Sie daran: Als Präsident Reagan zum zweitenmal gewählt wurde — es war im Jahr 1984 —, war der PC, der Personal Computer, am Arbeitsplatznahezu unbekannt. Heute gehört er sogar bei Abgeordneten zur Selbstverständlichkeit. Und das will etwas heißen. Vier Jahre später, als Präsident Bush gewählt wurde, stritten wir uns hier im Hause um die Einführung des Wettbewerbs beim Mobilfunk. Wir lagen damals falsch, das will ich gar nicht bestreiten; denn heute, fünf oder sechs Jahre später, muß man feststellen, daß dieser Markt, der Mobilfunkmarkt, boomt und die Zuwachsraten auch in der Zukunft noch enorm sein werden, wenn wir die Marktdurchdringung in Deutschland beispielsweise mit der in England oder in Schweden vergleichen.Wenn ich eben diese selbstkritische Bemerkung machte, möchte ich auch fragen: Wo sind eigentlich die deutschen Anbieter von Mobilfunkgeräten? Wo sind die eigentlich? Wir haben im wesentlichen drei Firmen, die den Markt unter sich aufteilen. Das sind Motorola, eine Firma, die immerhin noch eine Produktion in Flensburg hat, Nokia und Ericson. Wo sind die deutschen Anbieter?Es ergibt sich die Frage — nachher komme ich noch einmal auf Schweden zu sprechen —: Wie ist eigentlich das Verständnis von Industriepolitik? So, wie der Wirtschaftsminister es heute dargestellt hat, ist es bestimmt nicht. Man muß analysieren, wo sich Märkte entwickeln, wo sich neue Produktionsnischen eröffnen und wo man die Industrie entsprechend drängen kann, tätig zu werden. Das ist in Schweden mit Ericson geschehen, und diese Initiativen vermissen wir hier in Deutschland. Das verstehen wir u. a. unter Industriepolitik.
Meine Damen und Herren, Mobilfunk ist ein Punkt aus der Gegenwart; die Zukunft läuft unter dem Motto „Multimediale Kommunikation". Ich weiß, jetzt eröffne ich ein Feld, welches nicht gerade attraktiv ist, aber ich tue es gerade deswegen, weil ich meine, daß dort so gewaltige Chancen liegen; darüber muß auch hier im Parlament einmal gesprochen werden.Nach einer Pressemeldung der Telekom vom 1. Juli 1993 möchte ich wie folgt zitieren:Der weltweiten Bedeutung der Multimedia-Kommunikation trägt auch die Telekom verstärkt Rechnung. Im französischen La Napoule hob das Bonner Telekommunikationsunternehmen aus diesem Grund zusammen mit BT,— British Telecom —France Telecom, Northern Telecom, IBM Cooperation, Intel Corporation und Telstra Corporation Ltd. die „Multimedia Communication Community of Interest aus der Taufe.Es ist wieder die breite Beteiligung deutscher Industrieunternehmen festzustellen.Was ist Multimedia? — Man versteht darunter die Anwendungen, die es ermöglichen, Texte, Bilder, Grafiken und Bewegtbilder auf einem PC-Bildschirm zu betrachten und in einen Dialog mit anderen Anbietern einzutreten.Multimedia ist ein unscharfer Begriff, der nach den entsprechenden Diensten aufgeschlüsselt werden muß. Aber bereits diese wenigen Merkmale deuten
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darauf hin, daß sich die Wirtschaftsabläufe und das Informationskonsumverhalten der Menschen ändert und somit neue Bedarfsfelder kreiert werden, vorhandene Prozesse wesentlich effizienter gestaltet werden und neue Firmen und Branchen entstehen werden, also die geeigneten Voraussetzungen vorliegen, die derzeitige Stagnation durch Wirtschaftswachstum in den richtigen und zukunftsorientierten Branchen zu überwinden.Bei der Frage, meine Damen und Herren, ob das Noch-Staatsunternehmen, die Telekom, diese Entwicklung ausreichend berücksichtigt, ist ein eindeutiges Ja gerechtfertigt. 1988 hat dieses Unternehmen begonnen — mit einer Gesellschaft, die in Berlin gegründet wurde, der De Te Berkom —, entsprechende Forschungen vorzunehmen, die heute bis zu einem Demonstrationsprojekt, also bis zur Anwendungsreife gediehen sind, nämlich dem ATM-Breitbandprojekt Hamburg-Berlin-Bonn mit dem Ziel einer multimedialen Kommunikationsverbindung zwischen Bonn und Berlin.Fazit also: Die Telekom ist auf diese Entwicklung des Marktes bestens vorbereitet. Zwischenschritte werden genutzt, z. B. im Bereich der arbeitsplatzbezogenen Videokommunikation, und es gibt Anzeichen für die technische Entwicklung, die für die Zukunft die Versorgung mit Geräten wie z. B. einem PC sicherstellt, der mit magneto-optischen Disketten arbeitet und eine wesentlich größere Speicherfähigkeit hat. Die Optoelektronik ermöglicht zudem den Bau eines Glasfasernetzes nicht nur für überregionale Verbindungen, sondern auch bis an das Haus des privaten Verbrauchers.Mögliche Anwendungsgebiete in der Zukunft, meine Damen und Herren, das ist die viel entscheidendere Frage als die Frage danach, wie denn die technische Situation sich darstellt. Langfristig werden Bildkommunikationsanwendungen in Multimedialösungen einmünden, nämlich den Fernzugriff zu Informationsdatenbanken. Es entstehen selbständige Informationsmärkte mit eigenständigen Dienstleistungszentren; es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit von Arbeitsteams an unterschiedlichen Orten; es entstehen neue Kooperationsmodelle zwischen Kunden und Lieferanten von der Projektierung bis zur Bestellabwicklung, und die Entwicklungszyklen bei komplexen Produkten wie z. B. dem Automobil lassen sich wesentlich reduzieren. In der Telemedizin werden Röntgenbilder von der Praxis zum Spezialisten übertragen und gemeinsam analysiert, und im privaten Bereich werden TV-Programme nicht nur konsumiert, sondern gezielt „on demand" abgerufen, wobei ich nun allerdings nicht dem Fehler verfallen will und auch den Interpreten bitte, diesem Fehler nicht zu verfallen, als sei die multimediale Kommunikation im wesentlichen auf das Fernsehverhalten zu reduzieren. Das ist tatsächlich ein ganz schmaler Randbereich; auch wenn der Zusammenschluß in Amerika vielleicht andere Vermutungen zuläßt, bin ich davon überzeugt.Die Frage ist nun, meine Damen und Herren: Gelingt es uns, neue Märkte und neue Beschäftigungspotentiale zu erschließen?Dabei sei es einmal gestattet, die Phantasie ein bißchen walten zu lassen. Ich glaube, daß mit der multimedialen Kommunikation das Bildungswesen revolutioniert werden kann, die Lehrer-SchülerBeziehung sich auf die direkte Förderung einzelner Schüler konzentriert — auch Studenten, nicht nur Schiller selbstverständlich —, während in der Oberstufe vielleicht beginnend, aber mehr noch im berufsbildenden Schulwesen, an Universitäten und im berufsbegleitenden Qualifizierungssystem die PC- gestützte Kommunikation mit Informationssystemen und mit Dritten innerhalb von Arbeitsgruppen Normalität wird.Ich glaube, daß im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der Altersfürsorge bei der Vorsorge- und Betreuungsfunktion der Mensch nicht etwa durch Technik ersetzt wird, sondern der Einsatz des Menschen sehr viel effizienter gestaltet werden kann.Man kann über diese Risiken und Chancen streiten. Aber man muß sich mit ihnen auseinandersetzen, um die meines Erachtens nach wahrscheinliche Entwicklung politisch zu beeinflussen, z. B. durch Organisation eines öffentlichen Dialogs, um die möglichen Risiken herauszuarbeiten. Aber wir dürfen dies nicht erst übermorgen, sondern müssen es heute tun; denn die Anwendung dieser Technologien kann sehr viel schneller möglich sein, als wir uns das vorstellen. Diese Technologien dürfen uns in der Politik nicht zur Reaktion verführen, sondern wir müssen agieren, auch bei der Gestaltung dieser Technologien.Meine Damen und Herren, einen solchen fast technokratischen Vortrag bei einer Haushaltsdebatte zu halten, mögen einige von Ihnen als Zumutung empfinden.
— Da hörte ich auch noch „Richtig! " . Ich bin trotzdem selbstbewußt genug zu sagen: Das ist nicht der Kern.Im Gegenteil: Die Entwicklung der nächsten fünf bis sieben Jahre kann, wenn wir rückblickend betrachten, wie lange es mit der Einführung des PC gedauert hat, so entscheidend sein, daß tatsächlich heute gehandelt werden muß. Elf Jahre konservativer Regierungszeit haben den Standort Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verlieren lassen, und viele Menschen haben im Zuge dieser Entwicklung ihren Arbeitsplatz verloren.
Die industriepolitischen Weichen, die Anfang der 80er Jahre gestellt bzw. vernachlässigt wurden, haben diese Entwicklung mit gestärkt.
Die industriepolitischen Weichen, die heute gestellt werden, entscheiden über die Arbeitsplätze und über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie im Jahre 2000.
Bei allem Verständnis für die Inanspruchnahme desPostministers durch die zweite Postreform — bis auf
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die asymmetrische Regulierung der Telekom und die Liberalisierung des Marktes im Vorgriff auf EG- Entscheidungen herrscht dort im Hause meistens Funkstille — meine ich doch, daß sich der Postminister mit diesem Thema stärker auseinandersetzen sollte, um einen öffentlichen Dialog mit anzustoßen, einen Dialog, der die Industrie in dem vorhin erwähnten Zusammenhang zwingt, sich damit auseinanderzusetzen sowie Märkte zu analysieren und zu entwikkeln.Gleiches gilt für das BMFT, in dem zwar die Informations- und Kommunikationstechnologien ein Arbeitsfeld sind, von dem wir aber nichts über den weiteren Schritt hin zur Anwendung hören. Ich würde den Forschungsminister gerne einmal fragen; aber ich weiß seinen Namen nicht.
— Laßt mich hier doch mal ein paar Scherze machen. Ich dachte, der Lautsprecher überträgt das gar nicht; aber das war doch der Fall.Schließlich das Wirtschaftsministerium. Nach meiner Auffassung, meine Damen und Herren, ist Industriepolitik eine Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers mit dem Ziel, deutsche Unternehmen an der Fertigung moderner Produkte teilhaben zu lassen, so wie es die schwedische Regierung, wie vorhin kurz skizziert, im Falle Ericson erfolgreich unternahm.Es ist zu fragen, ob dies alles genügend forciert wird, auch wenn es noch keine ausreichend konkreten Zukunftsszenarien, wie ich sie ansprach, gibt. Ich möchte zum Abschluß ein konkretes Projekt nennen, welches uns, weil wir einen Startvorteil haben, die Chance gibt, einen Markt zu erschließen und zu besetzen, nämlich den Kommunikationsverbund zwischen Bonn und Berlin.Bisher wird nach herkömmlichem Denken verfahren: Konzentration der Bonner Ministerien an einem Ort in Berlin. Kommunikation findet durch Aktentransport statt. Der PC wird bestenfalls als Schreibautomat benutzt. Die Alternative ist der Aufbau eines multimedialen Kommunikationsverbundes zwischen den Leitungsfunktionen und Stäben der Ministerien in Berlin mit Verwaltungseinheiten in Bonn, eine dezentrale Anordnung der Ministerien und Ämter in Berlin, eine Vernetzung der Häuser in Berlin und Bonn und ein Kommunikationsverbund zwischen beiden Städten auf einer quasi Datenautobahn. Dies ist keine Zukunftsmusik, sondern ein konkretes Projekt der Telekom, ihrer De Te Berkom in Berlin. Hier kann Anwendung demonstriert werden, kann ein Startvorteil für die deutsche Dienste- und Industrielandschaft erarbeitet werden.Ich fürchte, daß in der Praxis der Umsetzung dieses Projektes immer noch schwerfällige Bürokratie und kleinliches Feilschen um die Frage — ich überspitze das —: Kann's auch eine Leitung weniger sein? im Vordergrund steht.Das Aushandeln eines Zukunftsprojektes in geschlossenen Amtsstuben ist nicht die richtige Grundlage. Vielmehr muß hier ein Projekt auch von der politischen Seite forciert werden,
damit die Gestaltung, die in Berlin neue Chancen eröffnet und auch ein effizienteres Arbeiten ermöglicht, durch entsprechende industriepolitische Begleitung und Entwicklungen hier in Deutschland realisiert werden kann.Notwendig wäre eine permanente Begleitung durch den Postminister, durch den Wirtschaftsminister, sogar durch das Kanzleramt.Meine Damen und Herren, die Zeit ist abgelaufen — aber nur für diese Rede. Ich fürchte, daß die Bedeutung dieses Themas noch nicht genügend erkannt worden ist, daß man es noch nicht an die entsprechende Stelle nach oben auf die Tagesordnung gesetzt hat.Ich würde mich freuen, wenn ich das durch diesen Beitrag vielleicht etwas forciert habe. Ich würde mich noch mehr freuen, wenn die Bundesregierung dieses Thema mehr forcieren würde.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Timm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß die deutschen Postunternehmen nicht nur in einem gewaltigen Umstrukturierungsprozeß, sondern auch vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte stehen und daß wir dabei helfen müssen, ist, glaube ich, allgemeine Erkenntnis.Das, was der Kollege Börnsen zum Schluß gesagt hat, stimmt mich schon beinahe optimistisch. Bloß, immer, wenn wir bisher gedacht haben, wir hätten eine Kuh vom Eis, war jemand wieder da, der eine neue aufs Eis geführt hat. In diesem Rahmen bewegen wir uns leider immer noch. Ich komme noch darauf zurück.Im Zeitalter der Information und Kommunikation, die gerade in dieser Zeit durch das Aufbrechen politischer Machtblöcke einen besonderen Auftrieb und eine besondere Liberalisierung erlangt haben, ist, glaube ich, die Frage, was mit unseren Postunternehmen in der Zukunft geschieht, eine ganz eminente.Unsere Postunternehmen müssen sich ihren Platz im neuen Spiel der Marktkräfte und der Herausforderung an Innovation und Technologisierung unverzüglich erarbeiten. Sie müssen den neuen Anforderungen beim Wettbewerb in der Bundesrepublik, in Europa und in der Welt gerecht werden. Sie müssen sich in die Lage versetzen, selber Normen zu setzen, um in diesem Wettbewerb zu bestehen.Die enorme Wiederaufbauleistung der Postunternehmen in den neuen Bundesländern, die Anwendung neuester Technologien und die Einführung neuer Organisationsformen wirken sich — das, glaube ich, kann man sagen — durchaus auch jetzt schon positiv aus.
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Jürgen TimmDer erreichte Investitionsschub in ganz Deutschland z. B. durch die Einrichtung neuer Dienstleistungszentren ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.
Ich stimme Herrn Börnsen zu: Wenn auch die bundesdeutsche Industrie eine solche neue Richtung im gleichen Sinne einschlagen würde, wäre das sehr gut.
Sicherlich waren nicht alle Entscheidungen in der Vergangenheit richtig, aber die jetzt getätigten Maßnahmen zeigen deutlich, wie groß der Nachholbedarf aus den letzten Jahrzehnten wirklich war.Um das Thema Bundesdruckerei aufzugreifen: Wie wohl hätte es uns getan, wenn wir hier schon viel früher zu einer Privatisierung gekommen wären! Ich glaube, wir hätten manches, was sich jetzt entwickelt hat, dadurch verhindern können.Die Postunternehmen waren dabei, ihren Anschluß an die nachbarlichen Konkurrenten zu verlieren. Bei der bevorstehenden europaweiten Liberalisierung im Bereich der Post- und Telekommunikation ist das eigentlich ein schrecklicher Gedanke.Ich möchte deswegen die Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Postunternehmen beim Wiederaufbau und der zukunftsweisenden Modernisierung in relativ kurzer Zeit besonders hoch einschätzen. Die jetzt eingesetzten Mittel sind richtig eingesetzt, reichen aber noch nicht aus. Deshalb müssen neue Finanzmittel erschlossen werden.Genauso müssen verbesserte Betriebsstrukturen eingeführt werden. Dann kommt es eben zwangsläufig dazu, daß sich der Service in der Fläche auch anpassen muß.
Das vorgelegte Konzept zur Neuorganisation z. B. der Poststellen ist unvermeidlich, genauso wie die Automation zu weniger Personalbedarf führen wird. Wir erwarten allerdings und fordern hier auch sinnvolle und verträgliche Durchführung, die aber trotzdem dem betriebswirtschaftlichen Aspekt und auch den Erfordernissen der Unternehmen gerecht werden muß.Mich bedrückt es auch, daß gerade im Bereich der Ausbildung erhebliche Probleme auftauchen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Postunternehmen in den vergangenen Jahren auch aus politischen Gründen und aus, wie ich meine, allgemein gewolltem Verständnis heraus über ihren Bedarf ausgebildet haben. Jetzt haben wir ein Problem. Man sieht, man wird immer wieder von den Ereignissen eingeholt.Es ist richtig und vernünftig, trotz alledem, daß sich die Politik hier nicht als der bessere Entscheidungsfinder aufspielt. Die Politik ist nicht der beste Unternehmer.Der nächste Schritt in eine neue Zukunft der Postunternehmen muß jetzt unmittelbar folgen. Der Fall der Monopole, die Liberalisierung des Marktes, diehohe Bereitschaft der europäischen und internationalen Konkurrenz, sich ihren Platz in der Wachstumsbranche „Dienstleistung" zu erkämpfen, zwingen dazu, unsere Unternehmen aus der staatlichen Gängelung herauszulösen.Wenn sie nicht bald in die Lage versetzt werden, unter gleichen, ich meine sogar möglichst unter besseren Bedingungen zu arbeiten wie ihre Konkurrenten, dann haben sie keine Zukunftschance.Wer immer von uns heute politische Verantwortung in diesem Bereich trägt, muß sich darüber im klaren sein, daß jede Verzögerung, jede noch so geschickt gestrickte Mitwirkung des Staates bei unternehmerischer Leitung der hoffentlich bald installierten Aktiengesellschaften eine derartige Beeinflussung des operativen Geschäfts bedeutet, die sich nur nachteilig auf die neuen Unternehmensstrukturen auswirken kann.Meines Erachtens muß es völlig ausreichen, allen späteren Wettbewerbern — natürlich auch den deutschen Postunternehmen — die gleichen Bedingungen zur Einhaltung einer flächendeckenden Infrastruktur aufzuerlegen.Wir sind bei unseren Entscheidungen alle gemeinsam verpflichtet, den Weg in eine vernünftige Zukunft der Unternehmen zu ebnen und zu gehen, schnell, ohne parteipolitische Bedingungen, ohne Bremsklötze falsch verstandener Einflußvorbehalte.Unsere Verhandlungen zur Postreform II sind noch im Gange, haben sich allerdings bisher vornehmlich um den organisationspolitischen Teil bewegt. Ich denke, das muß jetzt auch schnell ein Ende haben; denn wenn wir das gemeinsame Ziel erreichen wollen, im Januar hier schon Gesetzesberatungen zu betreiben, dann müssen wir uns in der nächsten Zeit unbedingt über den ordnungspolitischen Bereich unterhalten, müssen dort für die Entscheidungen den Rahmen genauso abstecken.Es ist überall nachzulesen und zu erfahren, daß sich die Konkurrenten bereits sammeln. Es sieht fast so aus, als wenn hier schon Marktaufteilungsstrategien verfolgt werden.
Wenn wir politisch versagen, dann wird das „Fell" der deutschen Postunternehmen in absehbarer Zeit von anderen aufgeteilt.
Ich denke, so darf das nicht kommen.
Ich halte unsere Postunternehmen für stark genug, sich jeder Wettbewerbssituation zu stellen, wenn wir sie nur lassen.Ein Wort zu dem, was der Kollege Börnsen über die sogenannte konservative Regierungszeit sagte. Kollege Börnsen, ich frage: Was ist denn mit der heutigen
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Jürgen Timmsozialdemokratischen Regierungsvision in dieser Frage?
Ich denke, daß für die Postunternehmen das Jahr 1994 das letzte Haushaltsjahr nach alter Struktur sein muß. 1995 wird sich ohnehin etwas ändern, z. B. bei der Steuerpflicht. Es ist deshalb notwendig, daß wir noch 1994 mit der Gesetzgebung soweit kommen, daß die Aktiengesellschaften der Postunternehmen errichtet werden können und daß sie im Sinne einer vernünftigen unternehmerischen,
gleichzeitig durch die Verfassung geforderten und abgedeckten Infrastruktur arbeiten können. Das dient den Bürgern, das dient den Benutzern unserer Postunternehmen, das dient vor allem aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Postunternehmen, und das dient unserem Staat.
Denn eines ist klar — auch wenn Sie immer dazwischenrufen, Herr Kollege —: Wir können uns nicht erlauben, für die Postunternehmen eine ähnliche Situation heraufzubeschwören, wie das über die Jahrzehnte mit der Deutschen Bundesbahn geschehen ist.Die Unternehmen sind in einem Wachstumsmarkt tätig. Sie sind ausreichend solvent und ausreichend gut ausgerüstet, um im Wettbewerb zu bestehen und die Finanzmittel, die sie brauchen, um Innovationen und Investitionen zu betreiben, durch ihre eigene Aktivität zu erwirtschaften. Das müssen wir erreichen, das ist unsere Aufgabe. Davon ist niemand in diesem Hause ausgenommen.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Elmar Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Kollege Börnsen hat mich nun endgültig von der Postreform überzeugt. Ich versuche im Gegenzug, auch seine lichten Reihen von dieser Maßnahme zu überzeugen. Wenn ich die Abgeordneten abzähle, kann ich nur sagen: O Häuflein klein, verzage nicht! — Wir werden es aber versuchen.Meine Damen und Herren, man muß in der Geschichte der Deutschen Bundespost weit zurückschauen, um eine solche Fülle fundamentaler Veränderungen und Ereignisse in einem so kurzen Zeitraum zu finden, wie wir sie in den vergangenen drei Jahren dieser Legislaturperiode erlebt haben.Das zentrale politische Ereignis war das Zusammenfügen der beiden Postunternehmen in den alten und neuen Bundesländern mit ihren ungeheuren organisatorischen Veränderungen. Man kann heute, nach dreieinhalb Jahren Aufbauarbeit, sagen: Diese große Herausforderung hat die Post bestanden. AllenBeteiligten ist dafür Anerkennung und Dank von politischer Seite auszusprechen.
Meine Damen und Herren, der Haushalt für das Postministerium ist einer der kleinsten Haushalte, die in diesen Tagen vom Deutschen Bundestag beraten und verabschiedet werden. Dabei darf natürlich nicht verschwiegen werden, daß sich hinter diesem Haushalt die politische Verantwortung für drei Unternehmen verbirgt, die mit einem Geschäftsvolumen von 160 Milliarden DM einen erheblichen Wirtschaftsfaktor in der Bundesrepublik Deutschland darstellen.Die ganz schwierige finanzielle Situation des Bundeshaushalts und die Notwendigkeit des Sparens konnte natürlich auch vor dem Haushaltsplan 13 nicht haltmachen: Die Personalausgaben wurden gesenkt, die Verwaltungsausgaben gekürzt, die Zuweisungen an internationale Organisationen wurden reduziert, und die Investitionen wurden ebenfalls vermindert. Das Haushaltssoll, das im vergangenen Jahr 549 Millionen DM betrug, wurde im Haushalt 1994 um nahezu 17 % gekürzt. Das ist ein gewaltiger Solidaritätsbeitrag, den das Postministerium gegenüber anderen Haushalten, vor allem dem des Sozialministeriums, leistet.Respekt und Anerkennung deshalb für Sie, Herr Minister Bötsch,
daß Sie dennoch mit dieser Ihrer Mannschaft gerade jetzt in vielen Extrastunden wirklich hervorragende Arbeit leisten.Zu diesem Haushalt der Solidarität kommt, daß der Bundesfinanzminister 122 Millionen DM mehr an Ablieferung von der Telekom in seine Kasse erhalten hat. Es darf hier noch einmal festgehalten werden, daß der Bund auch in diesem Jahr, wie schon im vergangenen Jahr, auf Ablieferungen aus dem Beitrittsgebiet verzichtet.Die Zeichen stehen dennoch auf Sturm. Die Telekom soll in diesem Jahr 800 Millionen DM an Verlustausgleich für Postdienst und Postbank bezahlen. Dadurch wird dieses Unternehmen, das seit der Wiedervereinigung mehr als 10 Milliarden DM jährlich in den neuen Bundesländern investiert hat, zum erstenmal in die roten Zahlen geraten.Diese veränderte Situation sollte jeder Abgeordnete und jeder Bürger vor Augen haben, der in den vergangenen Wochen kritisiert hat, daß die Deutsche Bundespost/Postdienst nicht mehr jede Poststelle aufrechterhalten kann. Da die Bürger Schalterdienstleistungen allein in den letzten drei Jahren rund ein Drittel weniger in Anspruch genommen haben, muß ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen handeln. Wenn Unternehmen, wenn Kommunen ihre Leistungen vom Wünschenswerten auf das Erforderliche reduzieren, dann muß das auch für die gelbe Post gelten.Subventionen — das wissen wir aus anderen Bereichen leidvoll — haben einen Gewöhnungseffekt und verleiten zur Trägheit. Um so erfreulicher ist es, daß wir feststellen dürfen: Alle drei Unternehmen sind dabei, Konzepte umzusetzen, die langfristig die Wett-
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bewerbsfähigkeit und die Sicherheit der Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter gewährleisten:Die gelbe Post ist dabei, ihr Frachtkonzept und ihr Briefkonzept mit Milliardeninvestitionen auf die Zukunft auszurichten, um künftig im wachsenden Wettbewerb bestehen zu können. Die Postbank nutzt ihren engen gesetzlichen Rahmen mit neuen Produkten, um im scharfen Wettbewerb der Finanzdienstleistungen überleben zu können. Wie stranguliert dieses Unternehmen ist, zeigt der Prozeß vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, in dem neun Großbanken dieser Postbank sogar verbieten möchten, den Postgirokunden einen dreimonatigen Überziehungskredit zu gewähren. Von der Telekom, die ihren Infrastrukturauftrag in den neuen Bundesländern mit insgesamt 60 Milliarden DM verwirklichen wird, habe ich schon gesprochen.Meine Damen und Herren, dies alles zeigt: Die deutschen Postunternehmen sind im Vergleich zu ihren Wettbewerbern in einem liberalisierten Markt erschwerten Bedingungen unterworfen. Politische Einflußnahme, eingeschränkte unternehmerische Freiheit und fehlende Möglichkeiten sind heute gravierende Hemmnisse auf dem Weg zu einer leistungsfähigen Marktstrategie.Meine Damen und Herren, Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Das demokratische System, zu dem unser Staat sich bekennt, beruht auf der Überzeugung, daß man den Menschen die Wahrheit sagen kann". Genau das will ich tun: Wenn wir nichts unternehmen, droht den Postunternehmen in wirtschaftlicher Hinsicht — ich wiederhole das, was der Kollege Timm gesagt hat — das gleiche Schicksal wie Bundesbahn und Reichsbahn; sie würden zum Sanierungsfall.Eine Verbesserung der Situation kann deshalb nach unserer Ansicht und nach Ansicht eigentlich aller am Wirtschaftsleben Beteiligten nur über eine Privatisierung erfolgen, die über den Gang zur Aktiengesellschaft die Möglichkeit eröffnet, den Unternehmen Geld am Kapitalmarkt zu beschaffen. Gerade die Telekom ist sonst nicht in der Lage, die im zukünftigen Wettbewerb um die Telekommunikationsmärkte erforderlichen Investitionen aufzubringen.
Wichtig ist, daß auch die Rahmenbedingungen so gestaltet sein müssen, daß die Unternehmen auch börsenfähig sind.
— Wenn ihr soviel klatscht, komme ich mit meiner Zeit nicht hin. Ich wollte sagen, was ich mir heute morgen zurechtgelegt habe.
Der Verteilungskampf auf dem internationalen Telekommunikationsmarkt wird in diesen Tagen ausgefochten. Nahezu jeden Tag können wir nachlesen, daß weltweit Fusionen und Kooperationen eingegangen werden. Auch der letzte Reformgegner in denReihen der Deutschen Postgewerkschaft muß doch aufgeschreckt worden sein, als er vor wenigen Wochen lesen konnte, daß die US-Telefongesellschaft Bell Atlantic für die gigantische Summe von 52 Milliarden DM den größten Kabelfernsehanbieter Amerikas übernommen hat.
— Ob das so gut ist, weiß ich nicht.
Alle Experten sagen voraus, daß von den 150 bedeutsamen Telekommunikationsunternehmen der Welt am Ende dieses Jahrzehnts noch acht bis zehn übrigbleiben werden.Die Deutsche Postgewerkschaft wendet viel Energie auf, um ihre eigene Zukunft zu sichern. Sie sollte endlich ihre ganze Kraft darauf verwenden, die Zukunft ihrer Mitglieder und damit die der Mitarbeiter der Postunternehmen zu sichern.
Viele Probleme bei uns, viele Aufgeregtheiten, die Orientierungslosigkeit scheinen mir mit dem zusammenzuhängen, was Hermann Lübbe die Probleme der Anpassung an die schnellen Veränderungen in allen Bereichen genannt hat. Viele Menschen und viele Interessenvertreter verstehen die schnellen Veränderungen um uns herum nicht mehr. Sie möchten am liebsten alles so lassen, wie es ist, weil es bisher doch so gutgegangen ist.In Frankreich hat man in jüngster Zeit überlegt, ob man nicht durch technische Störsender die Zahl der Satellitenfemsehprogramme aus dem Ausland begrenzen sollte. Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe ist es, den deutschen Telekommunikationssystemen die Grenzen zu öffnen, und nicht, Grenzen aufzubauen.
Jeder sollte wissen, daß die Deutsche Bundespost/ Telekom dieses Potential für sich und für die deutsche Industrie nur dann weiter wird verstärken können, wenn das Unternehmen seine Aktivitäten konsequent auf die Auslandsmärkte ausdehnen kann.
Wer diese Chance verhindern will, der macht sich mitschuldig, daß wir vom weltweit größten Zuwachsmarkt ausgeschlossen werden. Er macht sich an einem Verlust von Arbeitsplätzen in einer Größenordnung mitschuldig, die um ein Vielfaches höher liegen wird als bei einem schnellen, konsequenten Ausrichten auf diese Zukunftsmärkte.Noch ein Wort zu den Monopolen, an denen einige so eisern festhalten wollen: Schon heute spielen die klassischen Argumente der Regulierungstheorie gegen Netzwettbewerbe kaum noch eine Rolle. Betrachten Sie nur die Mobilfunkkommunikation, wo in kürzester Zeit drei neue Netze aufgebaut bzw. betrieben werden: D 1, D 2 und E 1 neben dem bereits installierten C-Netz. Außerdem verfügen die Bundesbahn, die Energieversorgungsunternehmen und private Breitbandkabelnetzbetreiber über weitver-
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zweigte Kommunikationsnetze mit direktem Zugang zu den Haushalten. Digitale Standards bieten die Möglichkeit, lokale Funknetze mit kleinen Funkzellen aufzubauen. Damit können 100 000 Nutzer pro Quadratkilometer an eine ideale Zuliefererinfrastruktur für Mobilfunknetze angebunden werden. Werden GSM- bzw. PCN-Telefone mit dieser Technik kombiniert, kann die stationäre Infrastruktur des alteingesessenen Netzbetreibers tatsächlich auch ohne Monopol umgangen werden. Der Telekom steht also ein funktionstüchtiger Wettbewerb im Ortsnetz bevor. — Soweit die Gefahren für das Ortsnetz.Nun zu den Fernnetzen. Hier ist das Umgehen der Monopole schon heute Wirklichkeit. Englische und amerikanische „global player" nutzen die Möglichkeit, Mietleitungen von der Telekom anzuheuern. Deutsche Kunden werden über eine Auslandsvermittlung weitergeleitet, und das Ganze zu einem Preis, der 20 % bis 30 % unter den Telefongebühren der deutschen Telekom liegt. Das sind alarmierende Zeichen.Meine Damen und Herren, Politik heißt nicht verhindern, sondern gestalten. Angesichts der technisch rasanten Entwicklung, die ich bruchstückhaft aufgezeigt habe, ist es unverständlich, daß die Deutsche Postgewerkschaft, Herr van Haaren und Teile der SPD bis heute versuchen, die Postreform II zu verhindern.
Herrn van Haaren und seinen Mitverhinderern in der SPD möchte ich eine alte Weisheit aus meinem Kaufmannsberuf mit auf den Weg geben: Wer nicht mit der Zeit geht, geht selbst mit der Zeit.
Der Bundeskanzler und der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende — darauf komme ich jetzt zurück — haben gestern in ihren Reden ausdrücklich denen gedankt — auch in der SPD —, die uns mit dem nötigen Verantwortungsbewußtsein auf unserem Weg des Mutes und der Kreativität bei der Postreform II unterstützen. Das sind wichtige Teile der SPD. Das sind alle Bundesländer, unabhängig von ihrem politischen Standort. Das sind viele Mitarbeiter und die Vorstände der drei Postunternehmen. Gerade in diesen Zeiten muß sich die Politik vom Prinzip Verantwortung leiten lassen.Reste der SPD — diejenigen, die die Postreform II verhindern wollen — und die Deutsche Postgewerkschaft fordere ich auf, über den eigenen Schatten zu springen.
Im Erkennen dessen, was not tut, liegt die Herausforderung und in der Bereitschaft zur Veränderung und im mutigen Handeln die gemeinsame Chance zur Gestaltung der Zukunft. Wir und Sie werden an unseren Taten gemessen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Debatte hier verfolge, klingt es so, als ob die Privatisierung Monopole aufbrechen würde. Ich lache mich tot, wenn Sie im selben Satz sagen,
— nicht ganz tot; den Gefallen tue ich Ihnen nicht —, daß am Ende nur acht bis zehn neue Monopole übrigbleiben. Sagen Sie mir doch bitte einmal: Worin besteht der Unterschied zwischen einem staatlichen Monopol und einem privaten Monopol? — Ausschließlich darin, daß bei einem privaten Monopol die Profite an amerikanische, japanische oder deutsche Milliardäre gehen und nicht an den Staatshaushalt.
Die angespannte Debatte zum Haushalt 1994 — ich sage wohlgemerkt: die angespannte Debatte, nicht: die Debatte zum angespannten Haushalt — in diesem Hause macht deutlicher denn je, daß nicht nur einzelne Haushaltsposten zum Gegenstand der Auseinandersetzung werden, sondern die Regierungspolitik als Ganzes auf den Prüfstand kommt.Bedenkt man die permanente Infragestellung und Veränderung vieler vorgelegter Planposten sowie das andauernde Hin- und Herrechnen, wodurch der Gesamthaushalt auch nicht besser wird, so hat man wahrlich keinen Anlaß für Lobgesänge. Ihnen allerdings scheint es anders zu gehen. Das kenne ich aus DDR-Zeiten. Da war das auch immer so: Die Regierungsleute haben sich selbst beweihräuchert.Der von der gegenwärtigen Bundesregierung verfolgte unsoziale Spar- und Privatisierungskurs wird auch im Einzelplan 13 deutlich sichtbar.
— Leider war das nicht der Fall, was ich sehr bedauere. Das war einer der großen Fehler dieses Staates.
Ist es schon ein geniales Kunststück oder nur ein fauler Zaubertrick, Haushaltsmittel in beträchtlichen Größenordnungen für Post und Telekommunikation zu verplanen, wenn zugleich klar ist — gemäß Ihrem erklärten politischen Willen —, daß sich die Bundeszuständigkeit in den kommenden Jahren nur noch auf deren noch nicht privatisierte Teile bzw. Bereiche beschränken wird? Einsparungen bei vielen Einzelposten, die vom Haushaltsausschuß empfohlen werden, stehen verhältnismäßig große Verpflichtungsermächtigungen des Bundes für die nächsten Jahre gegenüber. Ich verstehe das so, daß damit zunächst einmal schwerpunktmäßig die Telekommunikation für potentielle und natürlich potente Käufer möglichst schnell attraktiv gemacht werden soll, damit die bevorstehende Privatisierung gegen alle Widerstände der Gewerkschaften, von Teilen der SPD und selbst-
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Dr. Ilja Seifertverständlich der PDS bald vollzogen werden kann. Prognosen über einen boomenden europa- und zunehmend weltweiten Telekommunikationsmarkt mit vielversprechenden Gewinnen sind ja kein Geheimnis und heute auch wieder in den höchsten Tönen gelobt worden.Wir von der PDS/Linke Liste halten diese Politik des Ausverkaufs, die auf kommunaler Ebene ihre Entsprechung in der Privatisierung kommunaler Einrichtungen und Betriebe findet, im Grundsatz für verhängnisvoll und unverantwortlich. Selbst wenn der teilweise oder gar vollständige Verkauf von Telekommunikation und Post zunächst einmal größere Geldsummen einbringt — die aller Wahrscheinlichkeit nach sofort benutzt werden, um den löcherigen Haushalt zu sanieren —,
so geht doch damit dem Bund nur eine potentielle ständige Einnahmequelle verloren. Herr Waigel müßte der heftigste Verteidiger der Bundespost sein.
— Wenn es eine Verlustquelle ist, verstehe ich nicht, daß die Privaten Schlange stehen und es erwerben wollen.Statt durch kluge — ich möchte fast sagen: von staatsmännischer Weitsicht getragene — politische Entscheidungen, Post und Telekommunikation zu einer effektiven Springquelle für Staatseinnahmen zu machen, wird seitens der Regierung die Privatisierungsvariante gewählt. Das ist das einzige, was Ihnen noch einfällt.Mir fällt es übrigens schwer, hier in der Haushaltsdebatte ausschließlich über Geld zu reden. Ich würde viel lieber über die Leute reden, die davon betroffen sind, daß die Poststellen immer weiter entfernt sind. Da wir hier aber über Geld reden, werde auch ich das tun.Gewinnversprechende Einrichtungen wie die Telekommunikation privaten Betreibern zu verkaufen verschlimmert doch entgegen allen Erwartungen die Kalamität, in der sich die Regierung befindet. Denn sie trägt ja weiter auch die finanzielle Verantwortung für die bei ihr verbleibenden, für sich genommen also unwirtschaftlichen Dienstleistungsbetriebe, die sich eben nicht rechnen.Das bedeutet doch schlicht und einfach, daß die Einnahmen spärlicher fließen, während sich die erforderlichen Ausgaben nicht verringern lassen bzw. weiter steigen. Eine Besserung des Haushalts bedeutet das auf keinen Fall. Als Alternative bliebe nur eine Neuorganisation von Postleistungen und -diensten mit unsozialen Wirkungen vor allem für die Kleinkunden.
Herr Seifert, Ihre Redezeit ist beendet.
Frau Präsidentin, ich danke für den Hinweis. Es ist sehr schwierig, wenn die Uhr hier nicht läuft.
Deswegen sage ich es Ihnen.
Dann darf ich den letzten Satz sagen.
Ja, bitte.
Ich bin leider - -
— Das machen Sie mit großer Perfektion. Ich will das nicht alles nachmachen.
Wir können diesem Haushalt natürlich nicht zustimmen, weil er nicht den Erfordernissen einer soliden Haushaltspolitik entspricht. Außerdem wird die Postreform II verhängnisvolle Folgen haben. Ich fürchte, daß Sie das wieder mit einer Brachialgewalt durchpeitschen, die den betroffenen Menschen — denen, die dort arbeiten, und denen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen — nur zum Schaden gereichen wird.
Ich danke trotzdem für die Aufmerksamkeit und für die freundlichen Zwischenrufe.
Als letzter in dieser Debatte spricht Herr Bundesminister Bötsch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Abschluß der Beratungen des Einzelplans 13 einige kurze Ausführungen machen.Die besonders schwierige Lage des Bundeshaushalts wurde bereits in dem mit dem Bundesfinanzministerium festgelegten Regierungsentwurf berücksichtigt. Das Haushaltssoll wurde gegenüber 1993 um zunächst 16,1 % auf 469 Millionen DM vermindert. Im Berichterstattergespräch ist die Höhe der Ausgaben bei einer großen Zahl von Titeln um weitere 4,5 Millionen DM auf 464 Millionen DM gesenkt worden, so daß die Kürzung jetzt insgesamt 16,5 % beträgt.Nachdem jetzt noch eine globale Minderausgabe von 5 Milliarden DM im Haushalt erwirtschaftet werden soll, sind wir inzwischen bei 452 Millionen DM angekommen. Das heißt: Im Haushalt des Bundesministers für Post und Telekommunikation ist eine Senkung der Ausgaben um insgesamt 19,1 % zu verzeichnen.Sie werden verstehen, daß dies natürlich den Geschäftsablauf beeinträchtigen kann — jedenfalls kann —, denn das ist mit Sicherheit nur mit einem erheblich verstärkten Kostenbewußtsein und einer sehr genauen Ausgabenplanung zu bewältigen. Das ist nicht ganz leicht, insbesondere in einer Zeit, in der mein Ministerium das überaus wichtige Projekt der Postreform II, die hier ja schon verschiedentlich
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16798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Wolfgang Bötschangesprochen wurde, vorzubereiten hat. Wenn wir im Januar die erste Lesung durchführen, ist ja die Arbeit noch nicht getan, sondern dann gibt es eine Menge Arbeit, um die Umwandlung der Postunternehmen überhaupt erst durchzuführen.Ich sage das auch all denjenigen, die in der Vergangenheit — ich sage das ganz vorsichtig — vorschnell mit Stellenkürzungen und ähnlichem zur Stelle waren und aus der Ausgliederung der Postunternehmen Postbank, Telekom und Postdienst meines Erachtens teilweise sehr voreilige Folgerungen gezogen haben.Wenn ich die Postreform II erwähne, will ich jetzt natürlich keine umfassende Darstellung des derzeitigen Diskussionsstands geben.
— Das kann man doch alles in der Zeitung lesen, täglich.Wir sind nach der kürzlich durchgeführten Klausurtagung, glaube ich, auf einem guten Wege.
Die Notwendigkeit der Reform brauche ich in diesem Hause sicherlich nicht mehr besonders zu betonen, insbesondere weil ich davon ausgehe, daß wir uns jetzt, zu dieser Stunde, ja im Kreise ausschließlich von Fachleuten aufhalten.Meine Damen und Herren, internationaler Wettbewerbsdruck, Liberalisierung im Rahmen der Europäischen Union — das sind Stichworte, die der Kollege Müller erwähnt hat und die ich nur noch einmal in Erinnerung bringen will. Nach dem gegenwärtigen Stand habe ich den Eindruck, obwohl immer wieder eine neue Kuh auftaucht —
— manchmal werden etwas kleinere Tiere auf das Eis geführt, Kollege Timm; aber immerhin, ich stimme Ihnen zu —: Wir sind einem politischen Konsens jedenfalls nahe. Wir brauchen ja diesen Konsens, weil wir, wenn wir die Postreform II bewältigen wollen, eine Zweidrittelmehrheit in diesem Hause zur Verfassungsänderung benötigen.
Ich möchte auch noch einmal an die Sozialdemokraten appellieren, sich der Reform nicht zu versagen. Alle, die in der Öffentlichkeit sagen, der Postminister müßte da jetzt einmal richtig heran, er müßte Führung zeigen und die Sache vorwärts bringen, er zögere zu lange, lade ich gern einmal ein, an den Verhandlungen teilzunehmen. Eine Zweidrittelmehrheit zustande zu bringen — das wissen auch andere — ist eine durchaus sportliche Angelegenheit — darauf will ich hinweisen —,
und zwar deshalb, weil man dazu natürlich nicht nur die größte Oppositionspartei hier im Bundestag braucht, sondern weil ja auch noch die Länder mit von der Partie sind.
Ich hatte am letzten Freitag das Vergnügen, die Freude, die Ehre — wie immer man das formulieren will —, bei der Konferenz der Wirtschaftsminister der Länder als Gast zugegen zu sein. Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren, sagen: Das ist keineswegs eine Veranstaltung, in der es herüber und hinüber um Parteipolitik geht. Dort geht es, um ein Wort aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einmal etwas abzuwandeln, nach der Devise „Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur noch Länder. "
— Kollege Baum, ich möchte das noch ein wenig präzisieren: Es geht um die Privatisierung der Postunternehmen. Wir wollen aus der Deutschen Bundespost nicht eine Post Deutscher Lander machen. Das machen wir natürlich nicht.
— Wenn mir mein Landesgruppenvorsitzender dabei zustimmt, dann kann ich ja beruhigt der weiteren Entwicklung entgegensehen.Meine Damen und Herren, selbstverständlich haben die Länder großes Interesse daran, daß der Infrastrukturauftrag auch in Zukunft gesichert wird. Das ist unser gemeinsames Interesse. Kollege Börnsen hat eingangs einige Punkte angesprochen.Ich hoffe nur, daß es jetzt keine Verzögerung im weiteren Verfahren gibt. Ich will nicht all das wiederholen, was über die Notwendigkeit dieser Maßnahmen gesagt worden ist.Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen machen zu der Aufbauleistung, die gerade die Unternehmen der Deutschen Bundespost in den neuen Bundesländern erbracht haben, weil auch dies angeklungen ist. Ohne die Flexibilität, die die Telekom hier gezeigt hat, allerdings auch nicht ohne die Möglichkeit, private Großunternehmer zu verpflichten, schlüsselfertige Anlagen zu errichten, wäre die schnelle Verbindung und Angleichung der Telekommunikationsinfrastruktur in den neuen Bundesländern nicht möglich gewesen.
Die Sanierung und Modernisierung des alten DDR- Netzes wurde von Politik und Wirtschaft zu Recht gefordert, und die Telekom hat darauf mit entsprechenden Maßnahmen reagiert. Nicht alles, was in den letzten Tagen von angeblich sachkundiger Seite geäußert wurde, war auch wirklich sachkundig, wenn man das Tempo und die Aufgabe in der richtigen Relation sieht.Immerhin wurden seit 1990 28 Millionen DM in den neuen Bundesländern investiert und mehr als 2,2 Millionen Anschlüsse, davon rund 700 000 in dem diskutierten Turn-key-Verfahren, zusätzlich geschaltet. Im Ausland wird das allüberall als eine große Leistung angesehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16799
Bundesminister Dr. Wolfgang BötschIch glaube, wir sollten auch den Damen und Herren, die das bei uns geleistet haben, hier die Anerkennung nicht versagen.
Die Telekom hat damit ihr Versprechen eingehalten, in den neuen Bundesländern eines der modernsten Telekommunikationsnetze der Welt zu installieren. Wenn wir bis Ende des Jahres 1996 den Plan vollendet haben, 60 Milliarden DM investiert zu haben, dann ist das Ziel erreicht.Wenn hier einige Projekte — ich habe das geschildert — wegen des Tempos, das notwendig war, ohne Ausschreibung vergeben wurden, dann halte ich die Vorwürfe, wie sie hier geäußert wurden, für unberechtigt und falsch.Natürlich gibt es Bürgerinnen und Bürger gerade in den neuen Bundesländern — ich habe seit Beginn meiner Amtszeit dort zehn Besuche an verschiedenen Stellen getätigt —, die einem sagen: Halt, ich habe auch noch kein Telefon, könnten Sie mir vielleicht helfen? Die Leistung insgesamt jedoch wird anerkannt. Die Bürger wissen diese Leistung besser zu würdigen als manche Fernsehmagazine, die hinterher sowieso alles besser wissen.
Ich möchte abschließend den Kolleginnen und Kollegen, die insbesondere im Postausschuß die Arbeit des Ministeriums begleiten, und den Berichterstattern im Haushaltsausschuß, dem Kollegen Kolbe und dem Kollegen Zywietz, danken. Der Postminister fühlt sich in besonderer Weise geehrt, daß die Opposition als Mitberichterstatter den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, den Kollegen Walther, benannt hat.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 13 — Bundesministerium für Post- und Telekommunikation — in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 13? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 13 mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 16
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksachen 12/6016, 12/6030 —
Berichterstattung: Abgeordnete Hans Georg Wagner
Michael von Schmude
Dr. Sigrid Hoth
Zum Einzelplan 16 liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/6208 sowie ein Änderungsantrag der Abgeordneten Wilhelm Schmidt , Helmut Wieczorek (Duisburg), Hans Georg Wagner und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 12/6207 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Einverstanden? — Das ist der Fall.
Der Kollege Hans Georg Wagner eröffnet die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen Thema etwas sage, möchte ich ein paar Bemerkungen machen.Ich weiß, daß an Abenden wie diesem zu einer gewissen Zeit immer hektische Betriebsamkeit Raum greift. Die Versuche mehren sich, daß man die Reden zu Protokoll gibt. Die Verabschiedung des Staatshaushalts ist eine originäre Aufgabe des Parlaments. Deshalb finde ich es falsch, Reden zu Protokoll zu geben, obwohl die Möglichkeit zur Diskussion gegeben ist.Ich erinnere daran, daß das Europäische Parlament, von uns sehr stark unterstützt, darum kämpft, das Haushaltsrecht zu bekommen. Deshalb bin ich eigentlich etwas enttäuscht, nicht nur über die geringe Anzahl der Anwesenden, sondern auch über diejenigen, die sicherlich draußen fasziniert an den Fernsehgeräten zuschauen.
— Ich sage doch, daß das Haushaltsrecht ein originäres Recht des Parlaments ist.
— Das haben Sie nicht begriffen. Ich weiß: Ihr Parlamentsverständnis ist ein anderes. Meines ist halt ein demokratisches — im Gegensatz zu Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich könnte ja sagen: Ich grüße alle, die fasziniert am Fernseher sitzen und zuhören. Da werden auch eine Menge sitzen, Herr Kollege Rüttgers. Dieser Zwischenruf war so dumm, wie er hier auch angekommen ist.
— Er war so dumm, wie er hier angekommen ist, so wie sich Ihre Zwischenrufe oftmals durch eine besondere „Qualität" auszeichnen.Meine Damen und Herren, vor einigen Tagen ging die Meldung durch die Presse, wonach sich der deutsche Umweltminister um die Leitung der Kommission für nachhaltige Entwicklung der UNO bewerben werde. Wir erinnern uns: Die Kommission wurde zur Umsetzung der Beschlüsse der UN- Umweltkonferenz im vergangenen Jahr in Rio de Janeiro gegründet.In einer Erklärung des Ministeriums hieß es, daß die Kommission Garant dafür sein müsse, daß der in Rio eingeleitete Prozeß für wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung weltweit dynamisch fortentwickelt werde.Ich muß gestehen, daß diese Meldung bei mir einige Verwunderung ausgelöst hat, hatte ich doch bei der ersten Lesung des Bundeshaushalts im September
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16800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Hans Georg Wagnerdieses Jahres aufzulisten versucht, was aus den vom Bundeskanzler und vom Umweltminister in Rio gemachten Zusagen und Versprechungen geworden ist.
Die Bilanz, die seinerzeit von Nichtregierungsorganisationen, von Umweltverbänden, vom Kollegen Feige vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und von einer Heerschar von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion gezogen wurde, war eine niederschmetternde. Nicht eine einzige Zusage ist auch nur in Ansätzen einer Lösung nähergebracht worden.Meine Damen und Herren, wer sich in Rio als internationaler umweltpolitischer Moralist aufspielt, muß es sich gefallen lassen, daß man sehr genau unter die Lupe nimmt, was die Umsetzung im eigenen Lande angeht.
Vor dem Hintergrund der derzeitigen deutschen Umweltpolitik kann man bezüglich der Bewerbung um den Kommissionsvorsitz nur den Kopf schütteln vor so viel Arroganz und Selbstüberschätzung.Ich teile die weitverbreitete Meinung, daß der Bundesumweltminister sich lediglich für die Abteilung „Versprechen und Verkündigen" zuständig fühlt, eine Erfolgskontrolle allerdings fürchtet wie der Teufel das Weihwasser; denn ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er es nicht merken soll, wenn niemand daran denkt, seine Versprechen in die Wirklichkeit umzusetzen.Meine Damen und Herren, ich habe im September unter heftigem Widerspruch der Koalitionsparteien behauptet, daß der Umweltminister der eigentliche Verlierer des Haushalts 1994 sei.
Nun liegt der endgültige Beweis vor Ihnen. Die zunächst von der Regierung und danach von den Koalitionsparteien übernommene Kürzung der Umweltforschungsgelder um fast 25 % oder ein Viertel gegenüber dem Haushalt 1992, d. h. um 10 Millionen DM gegenüber den Ist-Ausgaben, bedeutet das Aus für die Umweltforschung und damit für die Entwicklung von Techniken, die unsere weltweite Führung in der Umwelttechnik auf Dauer absichert und dem Wirtschaftsstandort Deutschland zur Sicherung hochqualifizierter Arbeitsplätze sowie zur Chance, Exportweltmeister in der Umwelttechnik zu bleiben, verhilft.Wie makaber, meine Damen und Herren, muß sich diese Aussage ausnehmen, wenn man liest, was heute morgen der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Bertram Wieczorek,
in Frankfurt gesagt hat. Er hat die „Weiterführung der anspruchsvollen Umweltpolitik der Bundesregierung" als eine Zukunftsinvestition in den Standort Deutschland gewertet.Genau das ist es, meine Damen und Herren. Nur, Herr Töpfer, der Haushalt zeigt gerade das umgekehrte Bild: Ihre Gelder werden genau in diesem Bereich gekürzt. Da können Sie zwar sagen „guter Mann", aber er und auch Sie haben nicht dafür gesorgt, daß das wiederhergestellt wird, was 1992 an IstAusgaben vorhanden war.
Wer sich so wenig um seinen Haushalt kümmert, der kann doch nicht erwarten, daß die Koalition mit ihm wie mit jemandem umgeht, den man einen liebgewonnenen Freund nennt.
— Das ist ein netter Zug von Ihnen, so daß man sich nicht ganz herumdrehen muß, um mit Ihnen sprechen zu können. Üblicherweise sollte es auch so festgelegt werden, daß die Minister, die angesprochen werden, hier vorne sitzen. Das ist schon richtig. Ich danke Ihnen, daß Sie das machen, Herr Minister Töpfer. Aber das ändert nichts daran, daß die Forschungsmittel in Ihrem Haushalt erheblich gekürzt worden sind.Bekanntlich ist die Umweltpolitik, meine Damen und Herren, eine Zukunftstechnologie. Das ganze Gerede der Koalition vom gefährdeten Wirtschaftsstandort Deutschland erweist sich im Umweltbereich als Luftblase.Um Ihnen die praktischen Auswirkungen Ihrer Sparwut in diesem Bereich zu verdeutlichen: Das Umweltbundesamt sah sich 1993 nicht in der Lage, neue Umweltforschungsaufträge zu erteilen, weil die Folgefinanzierung nicht gesichert war.Es kommt noch schlimmer: Die erneute Kürzung durch die Koalition bedeutet das Aus für die zukunftsträchtige Umweltforschung, die heute notwendiger denn je ist; denn nur modernste Techniken sind unsere Chance.Wer so dilettantisch mit dem Wirtschaftsstandort Deutschland umgeht, darf sich nicht wundern, daß unsere weltweite Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr gerät;
oder die Gefährdung wird bewußt in Kauf genommen, um etwa den sozialen Kahlschlag zu rechtfertigen.Wie diese Koalition mit dem Umweltminister umgeht, wie gering zugleich sein Durchsetzungsvermögen ist, belegt ein Vorgang, der in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher ohne Beispiel ist. Ich meine die Umsetzung des Errichtungsgesetzes für das Bundesamt für Strahlenschutz mit gesetzlich fixiertem Standort in Salzgitter. Ich halte es schlichtweg für einen Skandal, wie man hier mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Amtes, mit der Stadt und dem Kreis Salzgitter umgeht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16801
Hans Georg Wagner— Dann ist es das Land Niedersachsen; das bleibt sich wohl gleich.Die Standortfestlegung von Bundesbehörden kann doch nicht zum Würfelspiel der Koalition werden. Die SPD wird dies verhindern.
Damit ist der eigentliche koalitionsinterne Skandal noch nicht angesprochen, meine Damen und Herren. Ich meine die Tatsache, daß der Bundesumweltminister noch nicht einmal gefragt oder informiert wurde. Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben, daß der betroffene Bundesminister uninformiert gehalten wurde und daß er im Haushaltsausschuß gleichzeitig mit der Opposition von der Änderung der Zweckbestimmung erfuhr.Heute pfeift die Koalition ihre Haushälter wieder zurück. — Sie haben den Antrag vor sich liegen —; auch das ist ein ungewöhnlicher Vorgang.Ich weiß natürlich, wie die neueste Entwicklung ist. Nachdem ruchbar wurde, was die Koalition mit dem Standort Salzgitter vorhatte, haben der Kollege Wilhelm Schmidt und andere eine große Aufführung inszeniert mit dem Ergebnis, daß die Koalition jetzt sagt: Gut, Standort bleibt Salzgitter; aber Geld wird nicht eingestellt, wofür man in diesem Jahr Verständnis haben kann. Es ist nun so, daß Salzgitter Standort bleiben soll.Möglicherweise wird der Kollege von Schmude noch sagen, es sei sein großer Kampf gewesen und er hätte erreicht, daß die Stadt Salzgitter dem Bund jetzt das Grundstück schenkt, nachdem er vorher den Minister im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages so an die Wand fahren ließ. Das kann durchaus möglich sein.
Ich sage: Wir haben den Antrag gestellt, den alten Zustand wiederherzustellen. Ich finde es auch richtig, daß dann darüber abgestimmt wird und man nachher sieht, wer tatsächlich für Salzgitter und damit den ursprünglichen Standort stimmt.Meine Damen und Herren, es ist mehr als dringend geboten, die Lösung der Frage anzugehen, wie man die Massenarbeitslosigkeit möglichst schnell beseitigt. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist dabei vollkommen klar, daß die ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaft die Chance dazu darstellt. Dabei spielt die Verbindung zwischen dem Kampf gegen die globalen und ökologischen Gefahren und der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit die wichtigste Rolle. Die Überschrift über dieses Kapitel ist klar: Der Faktor Arbeit muß entlastet und der umweltschädliche Energie- und Materialverbrauch stärker belastet werden.
Denn die Erfahrung der Vergangenheit lehrt: Plötzlich kommen die richtigen Preissignale, die notwendigen produktiven Investitionen, die Marktwirtschaft reagiert mit neuen Produkten, die umweltverträglicher sind sowie Energie und Rohstoffe sparen. Damit könnte sich unsere Wirtschaft weltweit, vor allem — wie gestern auch vom Kanzler gefordert — inSüdostasien, Zukunftsmärkte erschließen und bei uns zu Hause Millionen krisensichere Arbeitsplätze schaffen, meine Damen und Herren.
Doch zur Durchsetzung dieser Strategie fehlt der jetzigen Koalition die Kraft. Dies belegen die Fakten.
— Der Kollege hat das ganz große Glück, daß ich gern das sagen möchte, was ich mir aufgeschrieben habe, sonst würde ich ihn vorführen und ihm beibringen, wie man mit einem Schreier dieser Art umgeht. Zur Umweltpolitik haben Sie nichts beizutragen, zum Schreien im Parlament ein ganz erhebliches Maß.
Das muß ich Ihnen gern bestätigen.
Knapp 80 Milliarden DM Einnahmen aus allen Energiesteuern und -abgaben entsprechen nur 11 % des bundesdeutschen Steueraufkommens. Dieser Anteil ist seit 20 Jahren stabil geblieben. Der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer stieg von 1972 bis 1992 von 36,9 % auf 40 %, derjenige der Mehrwertsteuer verzeichnet im gleichen Zeitraum ebenfalls einen Anstieg von 23,8 % auf etwa 28 %. Obwohl zwischen 1988 und 1992 das Aufkommen aus der Mineralölsteuer verdoppelt wurde, nämlich von 27 Milliarden auf 54 Milliarden DM, lag der Preisindex für Kraftstoffe 1992 noch unter dem des Jahres 1985. Sinkende Weltmarktpreise für Rohöl sind dafür verantwortlich.Die heutigen Preise, meine Damen und Herren, berücksichtigen in keiner Weise die durch Energieumwandlung und Verkehr hervorgerufenen gesellschaftlichen Kosten. Die Einbeziehung der Folgekosten in die Energiepreise, etwa in einer allgemeinen Energiesteuer, führt zur Verringerung der Schäden und zur Nutzung des technischen Fortschritts. Schockartige Sprünge müssen wir dabei vermeiden. Die Energiesteuer wird für die Entlastung des Faktors Arbeit wie auch für ökologisch wichtige Investionen verwendet werden. Die Investitionsfelder liegen auf der Hand: Klima- und Umweltschutz, Energieeinsparungen, Erhöhung des Energie- und Materialeinsatzes erneuerbarer Energien, öffentlicher Personennahverkehr.Meine Damen und Herren, eine Möglichkeit liegt sicherlich in dem Versuch, einen energiepolitischen Konsens zu finden. Konsens, Herr Minister Töpfer, kann nicht bedeuten, daß die eine Seite die andere erpreßt.
So haben Sie es mit uns versucht!
Daß der Bundesumweltminister sich nicht zu schade ist, dieses hochsensible Thema zum Gegenstand parteipolitisch motivierter Überlegungen zu machen, ist eine traurige Angelegenheit.
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16802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Hans Georg WagnerGerade ihm, der wie ich aus einem kohleproduzierenden Land kommt, aus dem Saarland, kann einfach nicht verziehen werden, daß er vor kurzem dem Bundeskanzler geschrieben hat — ich zitiere den genauen Wortlaut —:Sollte die SPD allerdings einem Konsens in der Kernenergie nicht zustimmen, müßte der Vorschlag zur Kohle sowohl dem Zeitpunkt als auch dem Inhalt nach überdacht werden.
Herr Minister, deshalb sind die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom Dienstag dieser Woche nichts anderes als die Geiselnahme des deutschen Steinkohlebergbaus. Sie wollen den Sicherheitspfeiler unserer Energieversorgung planmäßig zerstören!
Ich weiß, daß nun ein Riesengeschrei anhebt, nicht wegen dieser Aussage, sondern weil Sie sagen: Aha, die CO2-Belastung durch die deutsche Steinkohle, durch die Steinkohle generell! — In der Tat entfällt auf die Steinkohle ein Anteil von fast einem Viertel der globalen CO2-Belastung, allerdings trotz weltweit steigenden Steinkohlenbedarfs mit fallender Tendenz, weil umweltfreundliche, CO2-vermindernde Kraftwerkstechniken weltweit eingesetzt werden. Doch wo bleibt eigentlich die Diskussion über das Mineralöl und seinen 50prozentigen Anteil an der weltweiten CO2-Verschmutzung?
Die Koalition erweist sich als unfähig, den Menschen die Wahrheit zu sagen. Die größte Gefahr für unsere Luftqualität geht vom Verbrauch des Mineralöls aus. Deshalb ist eine Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs im Pkw auf etwa 5 Liter auf 100 km die wirksamste CO2-Reduzierung.
Ich rate den „Nieten in Nadelstreifen" — wie unsere Industriemanager wegen der von ihnen verschlafenen technologischen Entwicklung teilweise wohl zu Recht genannt werden — dringend, sich dieser Tatsachen bewußt zu werden. Wenn ich manche Entwicklungen des Jahres 1993 sehe, dann frage ich mich wirklich, wo diese Leute ihre Reputation herholen.Die Kohletechnologie ist heute schon so weit, daß sie über verbesserte Kraftwerkstechnologien, über Kraft-Wärme-Kopplung eine erhebliche Reduzierung der CO2-Belastung erreichen kann. Deshalb muß unsere energie- und umweltpolitische Strategie sein: erstens drastische Energieeinsparungen, zweitens umweltfreundlichster Einsatz der Stein- bzw. Braunkohle als Übergangstechnologie, drittens Stärkung alternativer Energiearten und Ausstieg aus der lebensbedrohenden Kernenergie.
In der „Wirtschaftswoche" Nr. 45 vom 5. November 1993 wird von „Rissen in den Nähten" bei den Kernkraftwerken berichtet. Sinkt die Betriebsdauer von Kernkraftwerken um nur 15 Jahre — so steht dort geschrieben —, dann trifft dies die Energiewirtschaftmit bis zu 150 Milliarden DM. All dies zahlt der Verbraucher. Mit viel, viel Geld! Das interessiert Sie aber überhaupt nicht. Daraus folgt, daß ohne Rücksicht auf kommende Generationen auf einen Energieproduzenten gesetzt worden ist, der menschlich nicht beherrschbar war und ist. Solange menschliches Fehlverhalten nicht auszuschließen ist — und dies wird immer so sein —, ist Atomenergie nicht zu verantworten.
Trotzdem — so kann man lesen — entscheiden sich „Nieten in Nadelstreifen" von Politik und Wirtschaft für diese lebensgefährdende Variante.Ich frage Sie, Herr Minister Töpfer: Warum geben Sie nicht zu, daß Sie für die Endlagerung des atomaren Malls keinen sicheren Standort haben? Warum sagen Sie nicht, was die Entsorgung des atomaren Mülls tatsächlich kostet? Warum sagen Sie nicht, Herr Minister Töpfer, wieviel Milliarden in der Atomindustrie zu Lasten der Allgemeinheit, zu Lasten der Verbraucher bereits in den Sand gesetzt wurden? Ich denke an Wackersdorf oder Hamm.
Wieso beginnen Sie, Herr Minister Töpfer, ausgerechnet im Jahre 1993, wo keine Aussicht auf Konsens in der Atomenergie besteht, die unselige Diskussion über den Bau eines Hochtemperaturreaktors?Wie erklären Sie unseren Bergleuten, Herr Minister Töpfer, daß ihr Arbeitsplatz jeweils mit 70 000 DM im Jahr subventioniert wird, aber der Arbeitsplatz eines Arbeiters in der Kernkraftindustrie mit über 200 000 DM? Da sagen Sie, der Bergbau müsse zugemacht und die Kernkraftwerke sollten weitergeführt werden. Das ist für mich nicht nachvollziehbar, Herr Minister Töpfer.
Ich fordere deshalb, die Umweltforschung nach alternativen, energiesparenden Verfahren zu verstärken. Auch hierin liegt nämlich eine große Chance, mit neuen Innovationen auf den Weltmarkt zu gehen und dadurch unseren Arbeitsmarkt zu entlasten.Hinzu kommt: Unser Bundesumweltminister hat weltweit, insbesondere in den osteuropäischen Staaten, Erwartungen geweckt, die haushaltsmäßig durch nichts gedeckt sind. Dies nährt Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit, und dies ist nicht zu verantworten. Die Chance, Umwelttechnik in diese Länder zu verkaufen, auch in Form von Joint Ventures, sinkt in dem Maße, wie diese Unglaubwürdigkeit zur Gewißheit wird. Deshalb werden wir im Gegensatz zu Ihnen größten Wert auf Seriosität und Glaubwürdigkeit unserer Aussagen legen.
Meine Damen und Herren, dabei wäre in der Bundesrepublik schon genug zu tun. Kollege Michael Müller hat neulich zu Recht festgestellt: Die Entwicklung des Dualen Systems Deutschland, DSD, nimmt immer mehr einen verhängnisvollen Verlauf. Die tagtäglichen Meldungen belegen dies auch.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16803
Hans Georg WagnerIst Ihnen, Herr Minister Töpfer, eigentlich entgangen, daß bereits 200 Firmen Konkurs haben anmelden müssen, weil das Instrument DSD, wenn auch von Ihnen öffentlichkeitswirksam propagiert, konkret nicht zu Stuhle kommt? Das von Ihnen gepriesene DSD ist zu einem reinen Müllsortier- und Müllbeseitigungssystem degeneriert. Insbesondere im Bereich Kunststoff gibt es immer noch erhebliche Widersprüche.
Wieso, Herr Minister, wurden dem DSD 500 000 t Plastikmüll in Rechnung gestellt, obwohl sich nur 150 000 t auf dem Markt befinden, die den DSD-Vorgaben entsprechen? Zugleich fehlt dem DSD das Geld für Kunststoffrecycling,
so daß auf über 100 Zwischenlager verteilt der gesamte Plastikmüll jahrelang aufbewahrt werden muß. — Ich kann nur sagen: Gott sei Dank ist er es nicht, Herr Baum. Wäre er es doch, was käme dann heraus? Ich will es nicht untersuchen.
Ihr entscheidender politischer Fehler — deshalb sind Sie als Umweltminister politisch persönlich verantwortlich — ist: Wer Müll vermeiden, vermindern und verwerten will, muß die gesetzlichen und politischen Voraussetzungen dafür schaffen, statt dem vorhandenen Zustand einfach eine private Sammelorganisation draufzusatteln.Weil es ein Weg in die Bürokratisierung und Monopolisierung ist, kostet dies die Bürgerinnen und Bürger nur viel Geld. Ihr Versagen in der Plastikmüllentsorgung ist für jedermann spürbar, weil es an den eigenen Geldbeutel geht. Jeder kann dies nachvollziehen.Meine Damen und Herren, dieser Tage fand eine Anhörung zur notwendigen und überfälligen Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes statt. Seit vielen Jahren verkünden Sie die baldige Vorlage eines Gesetzentwurfs. Doch bis heute konnten Sie sich nicht durchsetzen.Diejenigen, die an einer Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes interessiert sind, muß ich auf die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl vertrösten, wenn wir unseren längst vorliegenden Entwurf realisieren werden.
Weiter auf Herrn Töpfer zu hoffen ist völlig zwecklos.
Meine Damen und Herren, Professor Dr. Walter Kröll, Vorstandvorsitzender der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Köln, warnte vor kurzem mit den Worten: „Wer die Forschung kürzt, verschärft die Krise." Er meinte die Luft- und Raumfahrtindustrie. Diese Auffassung teile ich nicht.Aber die Aussage an sich ist richtig. Ich habe es anfangs im Hinblick auf die 25%ige Kürzung der Umweltforschung gesagt: Hier wird die Zukunft Deutschlands verspielt. Die Reduzierung der Umweltforschung in dieser Größenordnung wird sich noch als verhängnisvoll erweisen und unsere Exportchancen erheblich vermindern.Ich wiederhole deshalb unsere politischen Forderungen:Erstens. Deutschland muß auf die ökologische Modernisierung setzen.Zweitens. Umweltfreundliche Produkte müssen steuerliche und politische Vorteile genießen.Drittens. Die Vereinbarung über den Kohlevorrang von 1977 gilt bei Einsatz modernster Kraftwerkstechnik bis auf weiteres — bis ausreichende alternative Energiearten zur Verfügung stehen.
— Herr Kollege Baum, Sie waren damals nicht ganz unbeteiligt und in der Bundesregierung, die 1977 unter Helmut Schmidt den Kohlevorrang durchgesetzt und gesagt hat: Die Kernenergie ist eine Übergangsenergie. Damals waren Sie dabei. Ich war nicht dabei; ich habe es nur begrüßt und politisch mit vertreten. Deshalb sollte es Sie doch freuen, wenn ich sage, der Kohlevorrang von 1977 müsse mit all den Konditionen, die Sie seinerzeit eingebracht haben, wieder hergestellt werden. Es ist eine Sache, die Sie nicht ablehnen sollten.
Herr Wagner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Einen Satz noch, Frau Präsidentin.
Viertens. Kernenergie ist als gefährlichste und teuerste Energieart so schnell wie möglich abzuschalten; eine strahlensichere Endlagerung muß gewährleistet sein.
Fünftens. Energieeinsparung bleibt unser Schwerpunkt in der Energieversorgung. Die Umweltpolitik bestimmt unsere Zukunft. Dieser Haushalt trägt diesem Ziel nicht Rechnung. Deswegen werden wir ihn auch ablehnen. Vielen Dank.
Als nächster spricht unser Kollege Michael von Schmude.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesministers für Umwelt liegt auch nach zwischenzeitlicher Korrektur deutlich über dem Etat 1993. Die Umweltschutzausgaben im Bundeshaushalt steigen von 8,48 Milliarden DM auf rund 9 Milliarden DM im Jahr 1994. Erhöht werden auch die Umweltschutzkredite aus dem ERP-Sondervermögen und der
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16804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Michael von SchmudeBanken des Bundes um 970 Millionen DM auf jetzt 4,9 Milliarden DM.Schon in der ersten Lesung dieses Haushalts ist vom Kollegen Wagner der ergebnislose Versuch unternommen worden, diese gewaltige Finanzleistung des Bundes für unsere Umwelt herunterzureden und abzuwerten.
Da wird totgeschwiegen, daß wir mit dem neuen § 249h im Arbeitsförderungsgesetz rund 50 000 Menschen einen Arbeitsplatz im Bereich der Umweltsanierung zur Verfügung stellen. Da wird unterschlagen, daß unsere international führende Umweltpolitik in Deutschland Arbeitsplätze für insgesamt 700 000 Beschäftigte ermöglicht hat. Und da beklagt der Kollege Wagner Kürzungen im Umwelthaushalt, an denen er selbst und seine Fraktion ganz kräftig mitgewirkt haben. Ja, in einigen Fällen gingen ihnen die Kürzungen gar nicht weit genug.
Das gilt auch für die Öffentlichkeitsarbeit. Und da beklagen Sie, Herr Kollege Wagner, gleichzeitig, daß die Öffentlichkeit schlecht über den Umweltschutz informiert ist.Die SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat bei den Haushaltsberatungen aber auch den Antrag gestellt, die Umweltforschungsmittel um 10 Millionen DM zu erhöhen. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß im Haushalt für die Folgejahre 1995 bis 1997 zusätzliche Verpflichtungsermächtigungen in einer Höhe von 103,6 Millionen DM vorliegen. Damit ist die Kontinuität in der Umweltforschung gesichert. Nicht allein entscheidend ist im übrigen, wieviel Geld wir ausweisen, sondern was dabei herauskommt.
Interessant war der Deckungsvorschlag für diese 10 Millionen DM. Da wurde vom Kollegen Wagner vorgeschlagen, die Umweltschutzpilotprojekte im Inland, die zu einem Großteil auf die neuen Bundesländer entfallen, um 7,3 Millionen DM zu kürzen.
Die Mittel betragen sowieso nur 123,5 Millionen DM und werden nach Feststellung des Ministeriums dringend benötigt.
Die SPD-Abgeordneten im Umweltausschuß hatten merkwürdigerweise eine Erhöhung dieser 123,5 Millionen DM, die der Kollege Wagner kürzen wollte, beantragt, und zwar um 50 Millionen DM. Das ist schon eine merkwürdige Konzeptionslosigkeit bei der SPD!
— Das ist mehr als exemplarisch.Dann hat der Kollege Wagner vorgeschlagen, weitere 2,7 Millionen DM beim Neubau des Bundesamtes für Strahlenschutz zu kürzen.
Diesen Sparvorschlag haben wir gerne aufgenommen und darüber hinaus den gesamten Baransatz von 12 Millionen DM aus dem Haushalt herausgenommen.
Angesichts der Gesamtkosten von 52,3 Millionen DM für den geplanten Neubau ist die vom Bundesminister der Finanzen vorgesehene Kostenüberprüfung dringend notwendig.
Der Grundstückskaufpreis von 2,9 Millionen DM in einer standortschwachen Region ist völlig überhöht. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, daß durch Nachverhandlungen eine Reduzierung um wahrscheinlich 800 000 DM möglich erscheint. Ich bin dem Kollegen Schmidt von der SPD für seine diesbezüglichen Hinweise außerordentlich dankbar.
Bei allem Verständnis für die Wünsche der Stadt Salzgitter nach einer städtebaulich repräsentativen Lösung muß ich doch feststellen, daß wir hier einen Behördenzweckbau errichten wollen, ohne Schnörkel, ohne Marmor, ohne Mahagoni. Mit der Beibehaltung der Verpflichtungsermächtigung über 25 Millionen DM wird auch klargestellt, daß wir an dieser Neuunterbringung des Strahlenschutzamtes festhalten. Die eingetretenen Verzögerungen sind zwar bedauerlich, ändern aber nichts daran, daß die Bundesregierung ihre Zusage eingehalten hat, das Strahlenschutzamt in Salzgitter einzurichten. Ein fester Termin für einen Neubau wurde nie genannt.Die Neufassung des Titels betont jetzt noch einmal den Standort, obwohl dieser bereits durch Gesetz festgeschrieben worden ist. Der Kollege Helmut Sauer hatte sich für diese Klarstellung noch einmal eingesetzt, und ich begrüße das auch.
Mit den vorgesehenen Verpflichtungsermächtigungen ist es möglich, wenn der Finanzminister seine Prüfungen abgeschlossen hat, noch im Laufe des Jahres 1994 den Grunderwerb zu tätigen.
Es ist bedauerlich, daß diese Überprüfungen zu einer Kampagne politischer Art mißbraucht wurden, aber es ist auch bezeichnend, daß gerade jene sich für den Bau des Strahlenschutzamtes eingesetzt haben, die die Errichtung des Endlagers Schacht Konrad strikt boykottieren, obgleich auch sie wissen, daß das Hauptsachargument für das Strahlenschutzamt in Salzgitter gerade die Nähe zu Schacht Konrad ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in jüngster Zeit mehren sich Umweltschäden außerhalb Deutsch-
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Michael von Schmudelands, für die wir in Regreß genommen werden. Die Rückführung und Entsorgung von Pflanzenschutzmitteln aus früherer DDR-Produktion von Rumänien nach Deutschland kostet uns 9,66 Millionen DM.
Die Lander haben es abgelehnt, sich daran auch nur zu beteiligen. Die Bundesregierung wird dies nicht hinnehmen. Es kann nicht sein, daß der Bund bei der Beseitigung von Erblasten aus der früheren DDR wieder einmal alleingelassen wird.Ich begrüße die Absicht von Minister Klaus Töpfer, einen Gesetzentwurf über die finanzielle Mitverantwortung der Länder in derartigen Fällen zu veranlassen.Bereits im August 1990 kenterte eine norwegische Wohnplattform 110 km westlich von Sylt auf dem deutschen Festlandsockel. Das Wrack ist immer noch nicht beseitigt und stellt nicht nur ein Hindernis für die Schiffahrt dar, sondern wegen des befürchteten Austritts von Hydrauliköl auch ein Risiko für die Umwelt.Die internationalen Vereinbarungen sollten auf die finanzielle Verantwortung hin überprüft werden, damit in derartigen Schadensfällen schneller und unbürokratischer vorgegangen werden kann.Die Bewältigung finanzieller Lasten bei der Aufarbeitung von Umweltschadensfällen wird zunehmend zu einem Problem. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen.Im Januar 1989 hatte ein Tanklastfahrer 5 000 1 Kresol auf einem Autobahnparkplatz in meinem Heimatkreis Stormarn abgelassen. Schwere Umweltschäden waren die Folge. Monatelang verschleppte der jetzt endlich zurückgetretene schleswig-holsteinische Umweltminister Heydemann die Entsorgung. 12 Millionen DM Kosten sind aufgelaufen.Das Land Schleswig-Holstein verweigert — wie kann es anders sein — eine Kostenbeteiligung und wird nun allerdings veranlaßt, den Kreis zu verklagen. Der Bund deklariert das Kresol als Abfall, der Kreis sei zuständig. Der Kreis beruft sich auf den Status des Bundes als Eigentümer von Bundesstraßen. Das Verfahren könnte sich zu einem Musterprozeß entwikkeln.Inzwischen gibt es einen neuen Fall in meinem Kreis. Zwei polnische Fahrer hatten im August dieses Jahres, diesmal auf einem Rastplatz an der Bundesstraße 404, Chemikalien aus ihrem Lkw abgelassen, wodurch 350 m3 Boden verseucht wurden. Durch derartige kriminelle Handlungen entstehen Folgeschäden, mit denen die Kreise, wenn sie denn von ihren Ländern alleingelassen werden, absolut überfordert sind, zumal auch Versicherungen sich weigern zu zahlen.
Herr von Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Bitte schön.
Ich muß die Frage leider von hier stellen, weil die Technik offenbar noch nicht wieder funktioniert.
Herr Kollege von Schmude, da der von Ihnen genannte Kreis auch mein Heimatkreis ist, möchte ich Ihnen gern die Frage stellen, ob Sie nicht meine Auffassung teilen, daß Abfälle, die im Zusammenhang mit dem Betrieb auf Bundesfernstraßen entstehen, auch eine gewisse Verantwortung des Bundes bei der Schadensbeseitigung und der Finanzierung der Schadensbeseitigung zur Folge haben müßten.
Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesländer haben mit Ausnahme von Schleswig-Holstein einstimmig festgestellt, daß die Abfallbeseitigung eine Angelegenheit der Kreise ist,
und der Bund kann nicht zusätzliche Lasten wie immer übernehmen, wenn die Länder sich weigern, grundsätzlich weigern, wie das hier aber nur bei Schleswig-Holstein der Fall ist, auch ihren Teil dazu beizutragen.
Deshalb rege ich an, daß, weil durch derart kriminelle Handlungsweisen Folgeschäden entstehen, der Bundesumweltminister mit den Ländern Gespräche führt, damit ein Hilfsfonds angelegt wird, der bei gravierenden Umweltschadensfällen an Bundesautobahnen und Bundesstraßen dafür sorgt, daß die Kosten der Kreise von einer breiteren Ebene getragen werden.
Zusatzfrage? Michael von Schmude : Bitte.
Darf ich Ihnen noch eine Zusatzfrage stellen, weil ich dieses Modell mit einem Hilfsfonds durchaus für akzeptabel hielte? Wäre es nicht dem Verursacherprinzip entsprechend, daß die Betreiber solcher Transporte, die gelegentlich zur Deponierung von giftigen Abfällen führen, dafür in Form einer besonderen Versicherung aufkommen?
Die Transportunternehmen haben Versicherungen. Sie haben Haftpflichtversicherungen. Aber die Beispiele der Praxis haben gezeigt, daß sich diese Versicherer, wenn es darauf ankommt — so ergeht es oft ja auch Privatleuten, die versichert sind —, dann zurückziehen und auf den Standpunkt stellen, sie seien in solchen Fällen nicht gezwungen zu zahlen. Solche Fälle haben wir
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16806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Michael von Schmudehier vorliegen. Deswegen meine ich, daß über diesen Hilfsfonds Gespräche geführt werden müssen.
— Aber in aller Ruhe und mit dem Ziel, daß auch die Länder hier in gebührender Weise in die Pflicht genommen werden, Herr Kollege Dr. Weng.
Zwei Bereiche der internationalen Zusammenarbeit möchte ich zum Schluß ansprechen.Erstens das deutsch-polnische Vorzeigeobjekt Bau einer gemeinsamen Kläranlage in Swinemünde mit Anschluß von deutschen Gemeinden auf der Insel Usedom. Dieses Projekt kommt gut voran. Der Bund stellt Fördermittel von insgesamt 20,8 Millionen DM, davon allein 10,3 Millionen DM in 1994, zur Verfügung. Das Projekt ist ausgeschrieben, und es steht schon jetzt fest, daß deutsche Technologie zum Einsatz kommt. Bedauerlich ist, daß die polnische Seite die Prüfrechte des Bundesrechnungshofs mit Hinweis auf die eigene Souveränität ablehnt und lediglich dem Bundesumweltminister Prüfrechte einräumt. Wir können das vielleicht in diesem Fall ausnahmsweise akzeptieren. Das darf aber kein Präzedenzfall für die künftige deutsch-polnische Zusammenarbeit werden.Zweitens möchte ich die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit ansprechen. Wir stellen hier 11 Millionen DM für die osteuropäischen Staaten zur Verfügung. Die Aus- und Weiterbildung von Personal in Kernkraftwerken wird schwerpunktmäßig in der Simulatorenanlage in Lubmin bei Greifswald vorgenommen. Dieses von der Treuhand privatisierte Objekt hat Monopolcharakter, weshalb die uns berechneten Kosten von uns besonders sorgfältig zu prüfen sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß. Die Koalitionsfraktionen stimmen dem Haushalt des Bundesumweltministers zu und bedanken sich zugleich bei ihm und seinen Mitarbeitern für die überaus erfolgreiche Arbeit.
Als nächster erhält der Kollege Gerhart Baum das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wagner, ich wünsche mir, daß Sie sich die Ruhe und Gelassenheit angewöhnen, die Mitglieder von Regierungsparteien ihrer Regierung gegenüber an den Tag legen. Das gehört dazu, wenn Sie regieren wollen.Im übrigen ist es so: Ich habe bei internationalen Begegnungen festgestellt, daß unser Land sehr gut dasteht. In der UNO haben wir einen hervorragenden Ruf, einen sehr viel besseren offenbar als bei der Opposition.
Den haben wir uns durch eine konsequente Umweltpolitik erworben, übrigens in allen Koalitionen.
Wir haben eine Menge, wie wir jetzt wissen, zu spät oder nicht gemacht; aber wir haben mit einem konsequenten Ausbau, zunächst mit dem vielgescholtenen Ordnungsrecht unser Land in die Lage gebracht, daß wir bei unserer Produktion und bei Produkten eine internationale Spitzenstellung haben.
Der Standort Deutschland ist jedenfalls nicht durch den Druck, den wir ausgeübt haben und den unsere Gesellschaft ausgeübt hat, oder durch die Vorgaben, die wir gemacht haben, gefährdet worden. Bei unseren Produkten, das zeigen alle internationalen Statistiken, sind wir Spitzenreiter.Es gibt jetzt Schwierigkeiten. Wir merken das als Umweltpolitiker. Wir müssen sehr hart argumentieren, um überzeugend unter Beweis zu stellen, daß die Umweltpolitik ein unverzichtbares Element des Standorts Deutschland ist.Wir müssen nachweisen, daß wir die Mittel effizient einsetzen. Wir müssen altes Recht auf überflüssige Regulierungen und Hemmnisse bei Investitionen durchforsten. Wir müssen unser Ordnungsrecht kritisch ansehen. Wir müssen bei jedem neuen Vorhaben prüfen, ob es wirklich schnell die Ziele, auch die Umweltziele, realisiert, die wir anstreben.Eines möchte ich kritisch zu einer gewissen Stimmung sagen, die wir auch in der Wirtschaft feststellen— das haben auch Sie, Herr Töpfer, vor einigen Tagen zusammen mit den Umweltministern festgestellt —: Die Umweltpolitik ist in unserer Republik nicht der Arbeitsplatzkiller.
Er ist auch nicht der Rezessionsverursacher, sondern in der Regel ein Motor für sinnvolle, nützliche Zukunftsinvestitionen. Dabei soll es bleiben.
Der Haushalt ist auch nicht der Indikator für das, was im Umweltschutz getan wird. Das kann er nach unserer Auffassung auch nicht sein; denn jede Investition, jede Ausgabe, die jeder einzelne vornimmt, finden Sie doch nicht im Haushalt.Wir wollen Rahmenbedingungen für umweltpolitische Investitionen schaffen. Umweltpolitik wird immer mehr zum Bestandteil der anderen Haushalte, zum Bestandteil der anderen Politiken. Das ist gewollt. Die Umweltpolitik findet in der Verkehrspolitik, in der Agrarpolitik, in der Finanzpolitik statt und ist allein am Haushalt des Umweltministers — das wäre traurig — nicht abzulesen.
Umweltpolitik ist also ein Teil der Umorientierung, in der wir uns jetzt befinden.Herr Kollege Wagner, es ist ja sehr schön, von dem Naturschutzgesetz zu reden; auch ich habe das viele Jahre lang getan. Aber ich habe dann hier im Plenum gesagt: Es geht nicht mehr so. Wir können nicht die großen Lasten, auch die Umweltlasten, im Osten bewältigen und dann alten Träumen nachhängen. Denn das Naturschutzgesetz muß finanziert werden. Es gibt keinen vernünftigen Finanzierungsvorschlag
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Gerhart Rudolf Baumvon Ihnen. Deshalb haben wir, die Koalition, richtig gehandelt, daß wir dieses Vorhaben zurückstellen und jetzt nicht in die vorderste Linie stellen.Wir wollen das Bodenschutzrecht reformieren. Herr Töpfer, da haben wir eine gewisse Sorge, ob wir noch rechtzeitig den Regierungsentwurf bekommen.
Der Zeitplan rückt sehr weit in das nächste Jahr. Wir sind sehr daran interessiert — ich sage das hier für meine Partei —, auch im Interesse der Investitionssicherheit möglichst schnell das Bodenschutzgesetz hier im Parlament beraten zu können.
Wir sehen eine enge Beziehung zu den Entwicklungen in Osteuropa; das ist hier schon erwähnt worden. Wir begrüßen, daß im Haushalt dazu nach wie vor Mittel enthalten sind. Wir begrüßen auch Ihre Initiativen, Herr Töpfer. Sie haben von früh an international hier eine Meinungsführerschaft übernommen.Ich halte es für unverantwortbar, daß die ukrainische Regierung Tschernobyl wieder teilweise in Betrieb genommen hat.
Sie haben das kritisiert, wir müssen das hier kritisieren. Es wird noch schlimmer, wenn wir wissen, daß aus diesem Elektrizitätsverbund Strom in das westliche Ausland geliefert wird, während z. B. in Österreich ein moderner Reaktor nicht in Betrieb genommen wird und der Strom aus den maroden, hochgefährlichen Kraftwerken der alten RBMK-Reaktoren in der früheren Sowjetunion gewonnen wird.
— Mülheim-Kärlich ist ein anderes Beispiel. Vor die Wahl gestellt, Tschernobyl oder Mülheim-Kärlich, wüßte ich, wie ich mich zu entscheiden hätte.
Ich bin sehr enttäuscht, daß die Energiekonsensgespräche nicht zu einem Abschluß gekommen sind. Es gab in Ihrer Partei sehr unterschiedliche Strömungen, Herr Wagner. Es wäre ja sehr schön gewesen, wenn sich Herr Schröder hätte durchsetzen können. Das wäre ja eine Basis gewesen.
Ich kann es nicht einsehen, daß wir es in einem Industrieland, in einem hochentwickelten Land der westlichen Welt, eingebunden in eine europäische Gemeinschaft, verpflichtet zur Kooperation mit Osteuropa, nicht einmal fertigbringen, uns über wesentliche Grundzüge unserer Energiepolitik zu einigen.
Es müßte doch wenigstens möglich sein, sich über die Entsorgung, über die Nutzung erneuerbarer Energien und auch über die Kohle zu einigen. Das ist leider nicht geschehen.Wir werden jetzt ein Artikelgesetz vorlegen, wo wir versuchen werden, Ihnen einige Dinge zur Entscheidung vorzulegen. Ich werde mich dafür einsetzen, daß in diesem Artikelgesetz auch deutliche Hinweise zur Energieeinsparung, zu erneuerbaren Energien und höherer Energieeffizienz enthalten sind.Aber dies ändert nichts an der Feststellung, daß eine Einigkeit notwendig ist, auch im Hinblick auf die Kohle; auch sie ist notwendig. Es gibt Länder, die an ihrer Kohle überhaupt kein Interesse haben. Herr Schröder würde lieber die Importkohle verfeuern, die in Wilhelmshaven für 80 DM angelandet wird.Wir setzen als Liberale auf eine möglichst breite Palette marktwirtschaftlicher Instrumente, vor allen Dingen auf eine ökologische Weiterentwicklung des Steuersystems. Wir sind auch für eine stufenweise Erhöhung der Mineralölsteuer. Das Autofahren ist zu billig. Wir haben Energiepreise, Mineralölpreise, die, gemessen an den Einkünften, niedriger sind als vor zehn Jahren. Wir wollen nicht das Auto verteufeln, aber die Automobilindustrie endlich veranlassen, Autos zu bauen, die weniger Sprit verbrauchen.
Die Erhöhung der Preise ist ein wirksames Lenkungsinstrument, und ich freue mich, daß ein großer Automobilhersteller jetzt von sich aus das umweltfreundliche Auto wesentlich preiswerter anbietet als die anderen Typen.
Ein wichtiger Schritt ist für uns die Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer. Das habe ich hier schon mehrfach gesagt. Hier gibt es auch einen Handlungsbedarf in der Koalition. Meine Partei ist seit langem für die Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer. Sie muß aufkommensneutral auf die Mineralölsteuer umgelegt werden. Hier haben wir dann auch einen Abbau an Verwaltung als Folge.Wir wollen das Ordnungsrecht entrümpeln, und wir setzen schließlich auf die konsequente Privatisierung von Umweltleistungen.Die Privatisierung ist eine der Voraussetzungen für die Investitionen in den neuen Bundesländern. Hier ist viel geredet worden, aber auf dem privaten Sektor im Umbau von Wasser-, Abwasser- und Abfallanlagen viel zu wenig in Gang gekommen.Wir müssen dafür sorgen — das wird in den nächsten Tagen hier diskutiert werden, auch innerhalb der Koalition und der Regierung —, daß die Wasserentsorgungs- und Abfallentsorgungsanlagen mit den Versorgungsanlagen steuerlich gleichgestellt werden, d. h. auch den ermäßigten Steuersatz erhalten. Auch die privatrechtliche Organisationsform der Abwasser- und Abfallentsorgung muß der öffentlichen Form steuerlich gleichgestellt werden. Hier ist ein großer Hinderungsgrund etwa für die Gemeinden in Ostdeutschland, die private Organisationsform zu wählen. Wir werden darauf drängen, daß dies abgeschafft wird.
Herr Baum, ich sagte Ihnen, daß die Redezeit zu Ende ist.
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Ja. Ich habe leider hier auch keine Uhr, die funktioniert; die hier geht nicht. Ich werde jetzt eine Schlußbemerkung machen.
Ich habe schon gesagt, daß wir uns intensiv um das Bodenschutzgesetz kümmern wollen.
Wir sind jetzt dabei, das Kreislaufwirtschaftsgesetz zum Teil nach intensiven Debatten in der Koalition neu zu konzipieren.
Wir halten das Ausführungsgesetz zum Baseler Übereinkommen über Abfallexporte für überfällig. Hier müssen übrigens — Herr Kollege von Schmude hat das gesagt — die Länder an ihre finanzielle Verantwortung erinnert werden.
Wir sind der Meinung, meine Damen und Herren, daß wir guten Gewissens dem Haushalt des Bundesumweltministers zustimmen können. Das werden wir auch gleich tun.
Ich sage es noch einmal: Ich gebe jeweils das Ende der Redezeit an, weil wir zur Zeit zwar eine gute Akustik, aber keine Uhr haben. Die Notanlage ist akustisch besser als die Hauptanlage.
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann.
Vor allem, Frau Präsidentin, fehlt hier das rote Licht. Das bedaure ich außerordentlich.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Umwelthaushalt 1994 ist eine Mogelpakkung, und das ohne Grünen Punkt. Er ist ein Atomhaushalt, besser noch: ein Atommülihaushalt.Fast die Hälfte seines Etats soll das Bundesamt für Strahlenschutz schlucken. Weitere Millionen gehen für das, was so schönfärberisch „Reaktorsicherheit und Strahlenschutz" genannt wird, drauf. Was wir hier eigentlich brauchten, wäre nicht ein als Umweltetat getarnter Atomhaushalt, sondern eine Ökologisierung des gesamten Bundeshaushalts.Was diese Haushaltsdebatte so deutlich auszeichnet, ist im Grunde genommen ein Töpfchendenken, und keiner wagt, über die eigene Suppenschüssel hinaus zu denken. Insofern könnte man auch „Töpferchen-Denken" sagen.
— Da freut sich selbst der Herr Umweltminister.Konsequente ökologische Politik ist eben ein Querschnittsthema. Sie darf auch nicht vor dem Wirtschaftsetat und dem Verkehrsetat haltmachen, vom Verteidigungsetat ganz zu schweigen; denn Rüstung ist mit Ökologie unvereinbar.Ich weiß, die Herren Rexrodt, Wissmann und Rühe schaudert es bei dem Gedanken, daß an ihre Etats dieökologische Meßlatte angelegt werden könnte. Aber wir brauchen heute nichts Dringenderes.Dabei stößt das grenzenlose Wachstum eines an Profit orientierten Wirtschaftens mit seinem Zwang zur Konkurrenz, zu Egoismus, Ellenbogengesellschaft und verschwenderischem Konsum zunehmend an seine Grenzen.Die PDS/Linke Liste fordert daher eine an ökologischen und sozialen Kriterien orientierte Wirtschaftspolitik, die den Menschen und der Umwelt dient und nicht erstrangig der Verbesserung der Kapitalverwertungsbedingungen. Wir fordern eine Wirtschaftspolitik, die auf die Befriedigung wirklicher Bedürfnisse gerichtet ist, nicht auf Verschleiß und Verschwendung.
— Sie sind heute wohl für Zwischenrufe zuständig, Herr Dr. Weng.Eine ernstgemeinte ökologische Politik muß statt auf nachsorgende Umwelttechnokratie auf die Veränderung der herrschenden umwelt- und sozialzerstörerischen Produktionsweise hinarbeiten. Dies gilt insbesondere in den Metropolen des Kapitals, den westlichen Industriestaaten; denn genau hier liegt der Schlüssel dafür, daß die Umweltzerstörung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt beendet wird.Herr Töpfer hatte sich auf dem Umweltgipfel in Rio ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, als er über die Verantwortung der Industriestaaten sprach. Das allerdings muß nun endlich in nachvollziehbare Politik umgesetzt werden.So wie sich die PDS/Linke Liste für ein ökologisches, auf effizienter Energienutzung erneuerbarer Energieträger und Energiesparmaßnahmen beruhendes Energieversorgungssystem einsetzt, so kämpfen wir auch für die Durchsetzung eines humanen Verkehrssystems.
— Das muß man bei dieser Regierung aber.Konsequente ökologische Politik heißt darüber hinaus nicht nur ökologische Produktion, sanfte, dezentralisierte vergesellschaftete — wohlgemerkt: nicht verstaatlichte — Chemie, sondern auch Veränderung der Arbeit, so daß Menschen durch sie nicht abgestumpft, deformiert, krank, invalide oder gar getötet werden.Es gibt viele Schnittstellen zwischen ökologischer Politik und unseren sozialen, ökonomischen, feministischen und antirassistischen Grundpositionen. Eine davon ist unsere Abscheu gegenüber denjenigen, die mit Begrifflichkeiten wie „Asylantenflut" oder „Bevölkerungsexplosion" Menschen mit Naturkatastrophen gleichsetzen, die notfalls gewaltsam zu bekämpfen sind. Hinter dieser Sprache steht nicht nur ein rassistisches Bewußtsein, sondern ein um der sozialen Frage entleerter Naturbegriff. Die Natur läßt sich nicht gegen die Menschen verteidigen, sondern nur mit ihnen. Entfremdete Arbeit, Elend, Ausbeutung
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Dr. Dagmar Enkelmannund Armut haben dieselbe Ursache wie die Zerstörung der Natur.
— Ich habe eingangs gesagt: Hier geht es nicht nur um den Umweltetat, es geht um wesentlich mehr. Das müssen Sie endlich begreifen.Meine Damen und Herren, der kapitalistische Industrialismus ist wie ein alter, löchriger Socken. Es reicht auch nicht, ihn einfach auf „links" ziehen zu wollen, wie dies in den Ländern des Staatssozialismus versucht wurde. Es bleibt eben ein alter löchriger Socken, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, also mit quantitativer Wachstumsideologie um jeden Preis, mit Tonnenideologie usw.Heute gilt es, einen ganz neuen ökologischen und sozialverträglichen Strumpf zu stricken.
— Es kann auch ein roter Strumpf sein.Dies bedeutet: Dezentralisierung der Entscheidungen über Politik und Produktion. Nur eine zutiefst demokratische Politik kann den ökologischen und sozialen Anforderungen der Zukunft gerecht werden.Zentralismus nach Art von Brüssel und Maastricht ist genau das Gegenteil von ökologischer und sozialer Politik. Es ist antiquierte, allein an Profit orientierte Wachstumspolitik in westeuropäischem Rahmen. Maastricht und die herrschende EG-Politik stehen für immer mehr Energie- und Rohstoffverbrauch, Industrialisierung und Chemisierung von Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion, für die Erzeugung von unnötigen Verkehrsströmen bei gleichzeitiger Verelendung und Freisetzung von immer mehr Menschen.Aus diesen Gründen, also aus ökologischen und sozialen, lehnt die PDS/Linke Liste diese Art Europa der Konzerne und die Verträge von Maastricht ab.
Frau Enkelmann, Ihre Redezeit geht zu Ende.
Ja; ich bin gleich fertig.
Meine Damen und Herren, vielleicht gelingt es uns ja, bei den nächsten Haushaltsberatungen einige ökologische Akzente in den Bundesetat einzuführen.
— Ich schließe mich voll mit ein, Herr Klinkert.
Vielleicht haben dann auch Ideen eine Chance, die auf den ersten Blick eher abwegig erscheinen, so die Idee von Hanns Langer, die Zeitbombe Kosloduj durch Energiesparlampen zu entschärfen. So jedenfalls könnte man einige Millionen einsparen, die in eine mehr als fragwürdige „Verbesserung der technischen Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer Bauart" hineingesteckt werden sollen. Die könnten
dann z. B. in das Biosphärenreservat Schorfheide gesteckt werden.
Ich sehe einige Kollegen hier — Herrn Klinkert, Herrn Harries, und vor allem auch Herrn Norbert Rieder —, von denen ich mir vorstellen kann, daß sie dieser Idee durchaus zustimmten.
Diesen Haushalt, den Umweltetat von Herrn Töpfer, jedenfalls müssen wir ablehnen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Rudolf Krause.
Michael Müller [Düsseldorf [SPD]: Muß das
sein? — Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/
CSU]: Wo sind die GRÜNEN hier bei dem
Etat? Eduard Oswald [CDU/CSU]: Interessant: Die GRÜNEN sind bei diesem Etat nicht
hier!)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland leistet den mit Abstand größten anteiligen Beitrag zum Umweltschutz. Nicht nur der deutsche Steuerzahler, auch die deutsche Wirtschaft leisten dafür die größten Opfer. Für den Haushalt des Umweltministers mit 9 Milliarden DM wird es von meiner Seite nur volle Zustimmung geben. Deshalb wird man auch bei dieser Debatte von meiner Seite keinerlei pauschale Beschimpfung hören, wie das sonst leider viel zuviel üblich ist.Deutsche Umweltpolitik muß drei Zielen dienen: erstens dem anteiligen Schutz dieser Erde, zweitens dem Schutz des deutschen Verbrauchers vor Schädigungen durch in- und ausländische Produkte und Umwelteinflüsse; Umwelteinflüsse, die auf seinen Körper, seine Seele und seinen Geist einwirken, schließe ich ein. Drittens muß Umweltpolitik dem Schutz ausländischer Käufer deutscher Waren dienen. Das heißt, deutsche Waren müssen sauber bleiben. Aber das beruht eben auch auf Gegenseitigkeit.Eine grüne Eigendiskriminierung der deutschen Wirtschaft dagegen schadet allen diesen Zielen und fördert letztendlich die Massenarbeitslosigkeit.
Es schadet der ganzen Erde, wenn saubere Produzenten wegen hoher eigendiskriminierender Umweltkosten vom Markt verschwinden und dadurch ökologisch verantwortungslosere Konkurrenz international wächst. Dies schadet der deutschen Wirtschaft, und es schadet letztlich auch dieser Erde.Wodurch muß geschützt werden? Erstens muß sicher durch Umweltauflagen für die deutschen Erzeuger geschützt werden. Aber es ist eine grüne Eigendiskriminierung, wenn Importe diese Auflagen nicht zu erfüllen brauchen und wenn kontaminierte Billigprodukte eine unlautere Konkurrenz darstellen.Zweitens. Geschützt werden muß auch durch Einfuhrverbote und Einfuhrzölle, wenn zu importierende Waren nicht deutschen Vorschriften entsprechen.
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16810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Dr. Rudolf Karl Krause
Wenn belastete Produkte teurere saubere deutsche Produkte unlauter vom Markt verdrängen, müssen wir auch gegen diese Eigendiskriminierung vorgehen.
Das heißt auch: Wenn wir Energiesteuern wie höhere Benzinsteuern einführen und damit die deutsche Wirtschaft belasten, dann muß das in Zukunft auch durch entsprechende Energiezölle kompensiert werden. Sonst liegt auch hier eine Eigendiskriminierung der deutschen Wirtschaft vor, und wir bekommen letztendlich höhere Arbeitslosigkeit.Letztens.
Ihre Redezeit geht zu Ende.
Danke. — Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht, mit der ökologische Herstellungsbedingungen und limitierte Inhaltsstoffe angegeben werden. Wir müssen nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz, Benzin und Atomstrom in unsere Restriktionen einbeziehen, wenn wir die Weltökologie nicht nur anteilig, sondern mit unserem ganzen Einfluß in der Welt schützen wollen.
— Manche denken selbst.
Danke.
Als letzter nimmt in dieser Aussprache Bundesminister Töpfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich am Ende dieser Diskussion, vielleicht auch rückblickend auf dieses Jahr, all denen sehr herzlich danken, die in einer für die Umweltpolitik schwierigen Zeit engagiert weiter Umweltpolitik mitbetrieben haben. Dies sage ich in diesem Hohen Hause an die Adresse vieler, die auch heute hier anwesend sind. Ich glaube, wir sollten mit großem Nachdruck darauf hinweisen, daß unsere Umweltpolitik weltweit ein Markenartikel geworden ist und daß wir dies gerade in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit weiter betreiben müssen.
Ich danke an dieser Stelle in ganz besonderer Weise allen meinen Mitarbeitern, die, obwohl auch sie sehen, daß der Gegenwind etwas stärker geworden ist,
kreativ weiter darum bemüht sind, vernünftige Lösungen für ein Sustainable Development, für ein nachhaltiges Entwickeln, auch in Deutschland zu erarbeiten.Ich danke den Mitarbeitern in meinem Ministerium, aber auch den Mitarbeitern in den Bundesämtern. Ich danke denen, die in der Stadt bleiben, in der sie sind, und denen, die sie verlassen müssen.Heute ist viel über Salzgitter gesprochen worden. Ich bin dankbar dafür, daß wir klar und deutlich sagen: Salzgitter ist der Standort. Dort wird entsprechend gebaut und die Unterkunft auf Dauer vernünftig gemacht.
An gleicher Stelle danke ich auch den Mitarbeitern im Umweltbundesamt. Wir verlangen ihnen ab, daß sie aus Berlin nach Sachsen-Anhalt gehen. Damit leisten sie einen Beitrag dazu, daß deutsche Einheit auch in diesem Bereich gelebt wird. Das ist nicht selbstverständlich.
Gerade deshalb möchte ich denen danken, die das mitmachen und nicht allein danach fragen, ob sie im Haushalt mit dieser Millionensumme vertreten sind oder nicht. Ich muß ganz ehrlich sagen, so gern und so schnell ich ein neues Amt in Salzgitter hätte, meine Damen und Herren: Wenn sich die deutsche Umweltpolitik an dem ein oder zwei Jahre früheren Bau eines Amtes in Salzgitter messen lassen kann, dann sind wir an der falschen Ecke. Das muß ich ganz deutlich sagen.
Wenn wir wirklich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation auch von Mitarbeitern in Salzgitter erbitten, daß sie länger in einem Provisorium arbeiten, dann tun wir dort nichts anderes als das, was ich mit meinen Mitarbeitern hier in Bonn seit vielen Jahren mache. Wir sind auf neun verschiedene Standorte verteilt, und keiner leidet darunter, sondern jeder erbringt seine Leistung. Das ist gut und richtig so. Lassen Sie uns die Dimension wieder in die richtige Ebene setzen und uns nicht an Dingen erhitzen, wo es wirklich unnötig ist. Die Dinge sind ja geregelt.
Nun lassen Sie mich wiederum in aller Klarheit und Deutlichkeit die Grundphilosophie unserer Umweltpolitik nennen. Alles das, was der Kollege Wagner hier gesagt hat, führt eigentlich dazu, daß er fordern müßte: Verändert Preise! Dann müßte er sagen: Überprüft jede Mark im Haushalt, ob eines Landes oder des Bundes, ob sie noch hineingehört. Denn jede Mark, die in einem öffentlichen Haushalt über Steuermittel für Umweltmaßnahmen eingesetzt wird, ist ein Hinweis darauf, daß wir vor dem Verursacherprinzip kapitulieren. Dazu fordere ich Sie wirklich gerne heraus.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferDas ist gegenwärtig in einer Wirtschaft schwierig, die das Verursacherprinzip als Kostenbelastung sieht. Verursacherprinzip durch Verordnungen und Gesetze umzusetzen und jemandem zu sagen: Du mußt in den Preis deines Produkts die Abfallkosten einkalkulieren, das ist eine verdammt schwierige Aufgabe.
Das ist viel schwieriger, als dafür zu sorgen, daß wir 10 Millionen DM im Haushalt haben.Sagen Sie uns bitte auch hier: Das ist das Markenzeichen unserer Umweltpolitik.
Das ist nicht nur meine Meinung. Eine Überschrift lautet: „Von Japan und Deutschland lernen".
Aussage:Wir haben im Wahlkampf gehört, übertriebener Umweltschutz sei einer der Hauptgründe für den Niedergang unserer Volkswirtschaft, und wir müßten zwischen einer gesunden Umwelt und einer starken Volkswirtschaft wählen. Beides, so wird behauptet, können wir nicht haben. Wir müssen von Deutschland und Japan lernen.Das ist nicht lange her, Herr Kollege. Es ist fast genau vor einem Jahr veröffentlicht worden. Der Autor heißt Bill Clinton, Präsident der Vereinigten Staaten. Veröffentlicht wurde das u. a. in der Wochenzeitung „Die Zeit". Ich kann Ihnen diese Quelle gerne zur Verfügung stellen.
Ich zitiere gerne weiter:Einer der Gründe, warum deutsche Arbeiter um ein Viertel mehr produzieren als ihre amerikanischen Kollegen, liegt darin, daß sie um die Hälfte weniger Energie verbrauchen, um die gleiche Warenmenge herzustellen. Japanische Firmen können ihre Produkte auf dem Weltmarkt um 5 % günstiger anbieten, weil sie mit der Energie besser haushalten.Das ist nicht meine Aussage. Das schrieb vor einem Jahr Bill Clinton: „Von Deutschen und Japanern lernen".
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hitschler?
Mit großer Freude.
Herr Bundesminister, wie bewerten Sie die Tatsache, daß angesichts der Debatte um Ihren Haushalt die Vertreter der grünen Partei hier von Anbeginn an fehlen?
Herr Kollege Hitschler, ich wollte darauf zurückkommen.
Ich werde das in die Kategorie einordnen, daß es offenbar dringlich dieser Koalition bedarf, um in Deutschland vernünftige Umweltpolitik zu betreiben. Noch.
Meine Damen und Herren, Clinton: „Jobs, jobs, jobs" — sein Wahlkampfmotto. „Von Japan und Deutschland lernen" seine Antwort. Ich wäre gar nicht so weit gegangen, aber man wird einmal zitieren dürfen.
Wir werden es gut machen können, Herr Kollege Wagner.Ich bin wirklich außerordentlich zufrieden darüber, daß ich heute von der Umweltkonferenz hierherkomme. Also, sprechen Sie sich doch wenigstens einmal mit Ihrem Parteifreund Jo Leinen ab. Das wäre doch einfach ganz sinnvoll. Wir haben eine Umweltministerkonferenz hinter uns gebracht, in der man all das bestätigt hat, was man hier gegenwärtig kritisiert. Sie sind doch aus dem Saarland. Ich auch.
— Welch eine kleine Münze! Herr Kollege Wagner, wissen Sie was? Ich bin im Jahre 1938 geboren,
in Schlesien. Ich wäre herzlich dankbar, wenn wir uns über unsere gemeinsame Geschichte genauso unterhalten könnten wie mit dem Hinweis, ich bin da geboren. Wenn es der Fall wäre, sich einmal in Deutschland auseinanderzusetzen, dann sollten Sie sich über diesen Zuruf noch einmal Gedanken machen, was denn heute in Deutschland möglich ist.
Ich komme wieder darauf zurück, was ich sagen wollte. Ich sage Ihnen doch eines: Wir haben im Saarland doch gegenwärtig bereits, wie Sie wissen, um Luxemburg herum, so etwas wie eine tankstellenfreie Zone, weil wir keine Abstimmung von den Energiesteuern haben. Ja, wir wollen in Europa eine gemeinsame Energiesteuerveränderung erreichen. Dafür haben wir uns eingesetzt. Das haben wir jetzt in
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16812 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993
Bundesminister Dr. Klaus TöpferSaarbrücken beschlossen. Dann sollten wir uns doch wirklich hinsetzen und sagen: Lassen wir es uns gemeinsam in einem gemeinsamen Europa machen! Wir wollen die Steuern harmonisieren. Dann müssen wir wirklich bei den Energiesteuern anfangen, damit dies nicht zu Standortverzerrungen führt, sondern zu einer Entlastung der europäischen Wirtschaft insgesamt. Dies ist doch der Zusammenhang.
Herr Minister Töpfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Ganseforth?
Aber gerne.
Herr Minister, würden Sie es nicht für sinnvoll halten, wenn Bill Clinton schon so ehrlich ist, zu sagen, von Deutschland und von Japan kann man etwas lernen, wenn wir z. B. das gleiche sagen könnten, von den USA können wir einiges lernen, sicher nicht den Energieverbrauch, aber least-cost-planning. Wir können eine ganze Menge von Dänemark lernen — finden Sie das nicht auch? —, wenn man an Windenergie denkt. Wäre es nicht sinnvoll, sogar von Frankreich etwas zu lernen oder von den Niederlanden? Also, ist der Umwelt nicht am meisten damit gedient,
wenn jeder nicht nur das heraussucht, wo er selber vielleicht gut ist — da gibt es bei uns auch ein paar Sachen —, sondern wenn jeder vom anderen lernt und guckt, wo dort etwas zu lernen ist und was besser ist als im eigenen Land, als wenn Sie sich als Minister hier hinstellen und sagen, Bill Clinton sagt, er könne von uns etwas lernen? Wäre der Umwelt damit nicht mehr gedient?
Aber, Frau Kollegin, nichts tue ich lieber als das. Ich habe eine hervorragende Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Svend Aucken aus Dänemark und mit Hans Alders in den Niederlanden. Wir sind diejenigen, die in der Europäischen Gemeinschaft die Umweltpolitik massiv mit voranbringen. Ich bin der letzte, der die Meinung vertritt, wir alle hätten schon als einzige alles gut gemacht. Nur, eines steht fest: Die einzigen, die wirklich einen Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft und eine Ôkologisierung der Marktwirtschaft gemacht haben, sind nun einmal wir. Andere gehen hinter uns her. Das muß man doch erwähnen dürfen. Dies ist die Situation.
Dann hat man mir gesagt, das Duale System und die Verpackungsverordnung seien ganz gescheitert. Ich habe heute nicht nur die Freude gehabt, Herr Kollege Wagner, die Umweltministerkonferenz mit zu besuchen, sondern ich war heute nachmittag bei dem Landkreistag in Rheinland-Pfalz, gemeinsam mit meiner dortigen Kollegin Martini. Wir haben dort über Kreislaufwirtschaft gesprochen. Die Frau Kollegin Martini hat mir gesagt, von Anfang an habe sie überhaupt nicht vorgehabt, das Duale System scheitern zu lassen, denn es habe gewirkt.
Es wirkt wirklich. Zum erstenmal, meine Damen und Herren, bekommen wir auf einmal weniger Verpakkungsmaterial und nicht mehr. 500 000 t Verpakkungsmaterial brauchen unsere Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zu bezahlen. Die haben sie früher bezahlt. Jetzt sind es weniger geworden. Wir haben urplötzlich keine Diskussion mehr über Plastik. Da muß man sich doch einmal informieren.Herr Kollege Wagner, ich gehe gern einmal mit Ihnen zu den Entsorgern im Saarland. Diese sind bei mir gewesen und haben gesagt: Herr Minister, wir brauchen dringlich einige Mengen von Verpackungskunststoffen, wir wollen nämlich damit etwas machen, es gibt keine mehr, sie sind alle bereits verteilt. — Das Problem Verpackung und Kunststoffrecycling ist gelöst, weil die Marktwirtschaft darauf mit moderner Technik geantwortet hat.
Das ist der entscheidende Punkt.
Meine Damen und Herren, wenn wir also in einer solchen Debatte Grundsätzliches erörtern wollen, dann füge ich hinzu: Diese Regierung und die sie tragende Koalition wollen eine ökologische und soziale Marktwirtschaft. Wir wollen Steuerung nicht über den Steuerhaushalt, sondern wir wollen Steuerung über Preise. Wir wollen ökologisch ehrliche Preise, um damit Verhalten zu ändern und Technik zu stimulieren. Und dies tun wir in hohem Maße selbst in einer Zeit, in der diese Internalisierung externer Kosten weiß Gott nicht leicht ist und für jeden einzelnen erhebliche Schwierigkeiten macht. Aber genau das tun wir, und das bringt in der Tat wirklich gute Zukunftschancen. Das bringt Zukunftschancen in den Bereichen, wo wir mit dieser modernen Technik weltweit auf dem Markt sind. Ich zitiere noch einmal, Frau Kollegin Ganseforth, Bill Clinton:Die Beweise liegen auf dem Tisch. Bedeutende Märkte sind uns bereits verlorengegangen. 1980 hielten die USA noch drei Viertel des Weltmarkts für Solartechnologie in ihren Händen. 1990 hatten deutsche und japanische Konkurrenten unseren Anteil auf 30 % gedrückt. Früher haben wir die restliche Welt mit unserer Technologie zur Kontrolle von Luftverschmutzung versorgt. Heute müssen wir 70 % dieser Technologie einführen.Dies sagt nicht der Bundesumweltminister, sondernder Präsident der Vereinigten Staaten. Sie haben
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16813
Bundesminister Dr. Klaus TöpferMärkte im Umweltschutz verloren, weil wir mit konsequenter Umweltpolitik diesen Markt durch moderne Techniken für uns gewonnen haben.
Dies ist die Situation, und an dem Punkt werden wir weitermachen.Meine Damen und Herren, ich freue mich darüber, daß wir international dafür auch so akzeptiert werden. Und seien Sie ganz sicher, Herr Kollege Wagner: Ob wir in der UNO die Kommission für nachhaltige Entwicklung präsidieren werden oder nicht, das ist eine sicherlich wichtige Frage. Aber wenn wir sie präsidieren, dann u. a. deswegen, weil alle wissen, daß wir mit dieser Ökologisierung unserer Marktwirtschaft ernst machen, und weil wir damit Technologien entwickeln, die andere dringlich brauchen.Dies ist unsere Aussage, und deswegen bin ich — um es abschließend festzuhalten — sicherlich der Meinung, daß wir auch in diesem Haushalt an der einen oder anderen Stelle gern mehr gesehen hätten, mehr hätten machen wollen. Wer will das denn bestreiten? Aber auch der Bundesumweltminister muß sich in einer Zeit, in der die Rahmendaten dies erzwingen, mit an der Decke ausrichten. Wir werden alles daransetzen, mit den uns zur Verfügung gestellten Finanzmitteln kreative Umweltpolitik für eine Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland zu entwickeln. Ich bin ganz sicher: Dazu haben wir die richtigen Mitarbeiter, dazu haben wir die Unterstützung in dieser Koalition, wofür ich mich sehr herzlich bedanke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 16: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie ein Änderungsantrag der Abg. Wilhelm Schmidt , Helmut Wieczorek (Duisburg), Hans Georg Wagner und weiterer Abgeordneter vor.
Bevor ich zur Abstimmung komme, teile ich noch mit, daß der Kollege Wilhelm Schmidt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung schriftlich vorgelegt hat.*)
Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Abg. Wilhelm Schmidt, Helmut Wieczorek, Hans Georg Wagner und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 12/6207 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/6208? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Änderungsantrag einstimmig angenommen.
*) Anlage 2
Wer stimmt für den Einzelplan 16 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 16 gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe nunmehr auf:
Einzelplan 25
Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksachen 12/6022, 12/6030 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig Thiele
Thea Bock
— Ich bitte Sie, zu warten; wir müssen noch abstimmen.
— Reicht es?
Zum Einzelplan 25 liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor.
Die Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Tagesordnungspunkt als Redner vorgesehen waren, haben ihre Debattenbeiträge zu Protokoll gegeben.*) Sind Sie damit einverstanden? —
Dagegen sehe ich keinen Widerspruch.
Dann können wir jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 25 kommen.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/6238 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist bei mehreren Enthaltungen mehrheitlich abgelehnt.
Wer stimmt für den Einzelplan 25 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 25 gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir für die heutige Sitzung nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. November 1993, 9 Uhr ein.
Ich schließe unsere Debatte und wünsche Ihnen ein paar Stunden Schlaf.