Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie hören: Ich habe Ton.
— Ich hätte fast gar kein blaues Kostüm gebraucht, um in dem Stuhl zu verschwinden.
Ich freue mich, daß ich heute wieder die erste Sitzung im Plenarsaal eröffnen kann. Wir alle haben wohl nicht gedacht, daß wir nach dem 24. November 1992 erst heute wieder in den neuen Plenarsaal gehen,
so daß ich sagen muß: Gut Ding will Weile haben. Dieses hatte überlange Weile; aber hoffen wir, daß es gut geworden ist.
— Überhaupt nicht, lieber Herr Kansy.
Wir haben in den letzten Wochen erprobt und versucht; heute versuchen wir es alle miteinander. Ich eröffne jedenfalls wieder und hoffe, daß Sie alle nicht nur Sitz, sondern auch Stimme haben. Vor dem ersten Tagesordnungspunkt möchte ich ganz kurz etwas zur Technik sagen.
Wortmeldung und Worterteilung erfolgen wie bisher. Wer vom Mikrofon an seinem Platz sprechen oder eine Frage stellen möchte, muß sich wie bisher durch Aufstehen oder Handzeichen zu Wort melden. Nach der Worterteilung drücken Sie bitte die grüne Taste. Das Mikrofon ist dann sprechbereit, wenn der Ring um das Mikrofon permanent leuchtet. Dies ist in der Regel nach ein bis zwei Sekunden der Fall. Versuchen Sie bitte nicht, den Schaltvorgang zwischenzeitlich durch erneutes Drücken der Taste zu beschleunigen.
Damit würden Sie Ihr Mikrofon abschalten.
Hinweise zur Benutzung der Mikrofone liegen schriftlich auf Ihren Plätzen aus. Ich bitte Sie, diese Hinweise für andere Kollegen liegen zu lassen.
Was die Mikrofone betrifft, ist unser Kollege Vizepräsident Johnny Klein völlig rehabilitiert, denn daß durch Ablage seiner Akten oder gar falsches Knopfdrücken die Mikrofonanlage ausgefallen sei, hat sich inzwischen als völlig irrig erwiesen.
Wir können das also ausschließen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt:
Erstens. Stand der Verhandlungen in der Uruguay-Runde.
Zweitens. Erster Bericht zur Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.
Drittens. Gesetzentwurf zu dem Dubliner Übereinkommen vom 15. Juni 1990, betreffend die Zuständigkeit für die Prüfung von Asylverfahren.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt. Bitte, Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß ihr an einem raschen Abschluß der Uruguay-Runde gelegen ist, weil andernfalls GATT, also ein Übereinkommen zum Offenhalten der Märkte und zur Erleichterung des Welthandels, gefährdet sein könnte.Wir haben gerade in letzter Zeit in den GATT-Verhandlungen erhebliche Schritte gemacht. Das gilt für den Bereich des Marktzugangs, also der Senkung von Zöllen und technischen Handelshemmnissen; das gilt für den Bereich der Dienstleistungen, also einer Erweiterung des freien Welthandels; und das gilt auch für die institutionelle Stärkung des GATT. Es ist ein wichtiger Durchbruch gewesen, wenn es dazu auch noch einer Multilateralisierung bedarf.Auf der anderen Seite hat es Schwierigkeiten gegeben. Diese Schwierigkeiten resultieren daraus, daß Mitgliedstaaten der EG, insbesondere Frankreich, mit dem erreichten sogenannten Blair-House-Kompromiß nicht zufrieden sind und ursprünglich versuchten, auf eine Regelung hinzuwirken, die eine Öffnung von
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15076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Bundesminister Dr. Günter RexrodtBlair House bedeutet hätte. Die EG hätte also neu verhandeln müssen. Eine solche Öffnung wäre mit erneuten Schwierigkeiten einhergegangen, weil zu erwarten gewesen wäre, daß von amerikanischer Seite zusätzliche Forderungen gestellt worden wären, aller Wahrscheinlichkeit nach zu Lasten der europäischen Landwirte und des europäischen Agrarexports.Deshalb kam es darauf an, in Verhandlungen in den letzten Tagen sicherzustellen, daß einerseits die EG mit den Amerikanern und anderen GATT-Mitgliedern weiter relativ flexible Verhandlungen führen kann und daß andererseits Frankreichs nachvollziehbare und in vieler Hinsicht verständliche Forderungen nach Interpretation und Ergänzung von Blair House nicht voll unter den Tisch fallen.In einer Mammutsitzung vorgestern nacht ist es gelungen, einen solchen Kompromiß zu erzielen. Dieser Kompromiß sieht vor, daß die EG weiter verhandeln kann. Er sieht aber auch vor, daß all die Punkte, die als problematisch angesehen werden, mit dem Ziel thematisiert werden können, das Beste für die europäische Landwirtschaft und für die französischen Bauern, soweit vertretbar, herauszuholen.
Wir sind mit diesem Kompromiß sehr zufrieden. Eine Paralyse der Uruguay-Runde und der GATT-Verhandlungen ist abgewendet worden. Insoweit ist ein Durchbruch erzielt worden. Ich füge aber hinzu: Dieser Durchbruch, dieses Abwenden der Krise ist nicht gleichbedeutend damit, daß wir den Durchbruch bei GATT haben. Nunmehr muß die EG mit den Amerikanern und mit anderen weiter verhandeln. Es werden schwierige Verhandlungen sein. Nichts destotrotz ist alles daranzusetzen, daß die UruguayRunde bis 15. Dezember zu Ende kommt. Anderenfalls sind höchst nachteilige Wirkungen auf die Weltwirtschaft, auf die deutsche Wirtschaft und insbesondere auf die deutsche Exportwirtschaft zu erwarten.
Vielen Dank, Herr Minister.
Der erste Fragesteller ist der Herr Abgeordnete Dr. Uwe Jens.
Herr Minister, ich hätte gerne gewußt: Wird an dem Blair-House-Abkommen etwas im Text verändert werden müssen, und sind Sie fest davon überzeugt, daß nach diesem Hickhack in Brüssel die GATT-Runde wirklich abgeschlossen wird?
Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Professor Jens, das Blair-HouseAbkommen ist ein relativ kurzgefaßter Kompromißtext. Daß es zu Blair House Ergänzungen, Interpretationen und möglicherweise auch neue Akzentuierungen geben mußte, stand nie außer Zweifel. Die Frage, die anstand, war nur: Wird der EG-Kommission vorgegeben, welches Ergebnis sie erzielen muß, damit Frankreich und andere einverstanden sind? Diese Vorgabe mußte nicht erfolgen und ist nicht erfolgt. Es gab eine Diskussion und sicherlich einzelne Orientierungen für die EG-Kommission, aber keine Festlegungen.
Nunmehr muß Blair House im Sinne einer Flexibilisierung, Interpretation und möglicherweise auch Ergänzung im Sinne einer Klarstellung weitergeführt werden.
Niemand, Herr Professor Jens, kann ausschließen, daß es bei GATT noch zu unüberwindlichen Schwierigkeiten kommt. Wer kann die Zukunft schon exakt voraussehen? Ich sage Ihnen aber: Wenn es vorgestern nacht zum Eklat gekommen wäre, dann wären Uruguay-Runde und GATT jetzt zu Ende gewesen. Das ist nicht der Fall.
Es steht jetzt sehr viel besser, weil die EG frei ist, mit der gesamten GATT-Runde zu verhandeln, ohne konkret auf Ergebnisse festgelegt zu sein. Die französische Position muß sich in Zukunft nicht nur am Ergebnis in der EG messen lassen, sondern am Ergebnis dessen, was alle Länder als Kompromiß wollen. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit — nicht die Gewißheit! — für einen erfolgreichen Abschluß bis zum 15. Dezember erheblich größer geworden.
Zusatzfrage.
Herr Minister, glauben Sie nicht, daß das in der Öffentlichkeit und vielleicht auch bei den 6 Millionen arbeitslosen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ein bißchen komisch ankommt, wenn da in Brüssel 30 Minister 24 Stunden lang zusammensitzen und am Ende wirklich nur ein Formelkompromiß herauskommt und nichts oder kaum etwas bewegt wird?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Professor Jens, ich glaube, Sie schätzen die Situation ganz falsch ein.
Die Menschen in Europa, auch die Arbeitslosen, hätten kein Verständnis dafür gehabt, daß 30 Minister eine Nacht lang da sitzen und nichts anderes herauskommt als eine Blockierung dieser Verhandlungen. Aber diese Blockade hat es eben nicht gegeben, und das war der Erfolg dieser Nacht.
Der nächste Fragesteller ist der Abgeordnete Hornung.
Herr Bundesminister, die Erwartungen waren im Ministerrat natürlich sehr hoch gesteckt. Wir wissen, daß die französische Bevölkerung auch mittels Umfragen signalisiert und die dortige Regierung ermuntert, selbst das Veto einzulegen. Ist das ausgehandelt, ist das zur Seite gelegt, oder müssen wir damit rechnen, daß unsere französischen Kollegen hier noch einmal entsprechend Druck machen?Sind im Zusammenhang mit dem Ölsaatenabkommen, das ja in den Blair-House-Gesprächen geregelt wurde, auch die Flächen der neuen Bundesländer noch einmal angesprochen worden?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15077
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Hornung, ausgeschlossen ist natürlich nichts. Ich kann immer nur über Wahrscheinlichkeiten sprechen. Die französische Seite hat in den Verhandlungen in dieser Nacht erkennen lassen, daß sie an einem Kompromiß interessiert ist. Sie hat auch deutlich gemacht, daß sie GATT will. Sie hat natürlich Interessen ihrer Bauern zu berücksichtigen. Deshalb kann niemand sagen, es werde kein Veto kommen.
Ich sage aber noch einmal — ich habe das in meinem Eingangsstatement schon gesagt —: Es ist unwahrscheinlicher geworden, daß dieses Veto kommt, weil jetzt ein ganz anderer Beziehungskreis dafür da ist. Wir müssen für die Franzosen Verständnis haben; wir müssen aber alles, auch dieses Verständnis, unserem Interesse unterordnen, im Interesse des Welthandels und damit der deutschen Wirtschaft recht bald zu einem Ergebnis zu kommen. Das jetzige Ergebnis stimmt uns viel optimistischer, als wir noch vor einer Woche sein konnten.
Bei den Ölsaaten ist es eine Frage der Anbauflächen, die man dabei vorsieht. Da besteht der Wunsch, diese Anbaufläche nicht so zu reduzieren wie vorgesehen. Der Ölsaatenkomplex ist wie der Komplex der Einfuhr bestimmter Futtermittel ebenfalls ein Bestandteil der Gespräche, die die EG-Kommission im Rahmen ihres bestehenden, nicht eines neuen, Mandats mit den Amerikanern und anderen zu führen hat.
Danke. — Frau Matthäus-Maier.
Ich glaube, es kann kein Zweifel daran bestehen, daß wir alle froh darüber sein müssen, daß die Verhandlungen am Montag in Brüssel nicht gescheitert sind. Das wäre eine Katastrophe gewesen.
Trotzdem die Frage an Sie, Herr Minister: Besteht nicht die Gefahr, daß diese Hängepartie weitergeht, aus dem einfachen Grund, daß sowohl in Paris als auch in den anderen Hauptstädten wie auch hier das Ergebnis als Erfolg gefeiert wird, was ja eigentlich nicht stimmen kann? Entweder gibt es einen offenen Dissens zwischen den Ländern, den man uns als Parlamentariern vorenthält, oder es gibt einen versteckten Dissens. Sonst können nicht alle das Ergebnis als Erfolg feiern. Denn jetzt geht es erst darum, das mit den Amerikanern umzusehen.
Die zweite Frage. Finden Sie nicht im nachhinein, obwohl wir alle dazu tendieren, immer Erfolgsmeldungen zu verbreiten, daß die Erfolgsmeldungen nach dem Tokioer Gipfel, GATT sei nun unter Dach und Fach, nun wirklich ein bißchen verfrüht waren?
Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, Frau Abgeordnete, meine Damen und Herren, ich finde es gut, wenn ein Kompromiß, den wir ja haben, von beiden Seiten als Erfolg angesehen wird. Er kann auch so angesehen werden. Die Franzosen haben die Versicherung, daß die Korn-
mission ihre Probleme in Gesprächen mit den Amerikanern behandeln wird; das ist ein Erfolg für sie. Wir, sage ich einmal, haben den Erfolg, daß GATT nicht blockiert worden ist, daß die Gespräche nicht aufgehalten werden, daß die Kommission nicht auf etwas festgelegt worden ist, was sie möglicherweise nicht hätte bringen können. Beide Seiten haben insofern einen Erfolg. Es besteht Anlaß zur Hoffnung, daß die Gespräche reibungsloser, besser, erfolgversprechender verlaufen, als es vor einer Woche aussah.
Frau Abgeordnete, lassen Sie mich sagen: Seitens der Bundesregierung hat nach Tokio niemand gesagt, daß die Quad-Gruppe Ergebnisse gebracht hat, die mit einem Erfolg für GATT gleichzusetzen wären. Die Quad-Gruppe hat in wichtigen Bereichen — Marktzugang, Dienstleistungen, Streitschlichtungsverfahren und anderem — Vorergebnisse gebracht, die nicht selbstverständlich waren und noch wenige Wochen vor Tokio zu einem Eklat zu führen drohten. Zwei Tage vor Tokio war der Durchbruch gemacht.
Wir haben immer gesagt: Das ist ebenfalls ein wichtiger Schritt, und nun kommt es darauf an, in Genf die Dinge zu multilateralisieren. Soweit ich beurteilen kann, wie die Dinge dort laufen, sind sie schwierig und kompliziert, es gibt aber durchaus Hoffnung, daß dies nicht das Hauptproblem bis zum 15. Dezember bleiben wird. Das Hauptproblem bleibt der Agrarbereich; und darüber ist gesprochen worden.
Herr Abgeordneter Beckmann.
Herr Minister, sind Sie bereit, für die Bundesregierung und die deutsche Verhandlungsdelegation hinsichtlich des Ergebnisses der Jumbo-Runde den Dank des Parlaments entgegenzunehmen,
und können Sie uns schon mitteilen, welche Reaktionen der eigentliche Adressat dieser Verhandlungsrunde, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, hinsichtlich des Ergebnisses gezeigt hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, Herr Abgeordneter Beckmann, die erste Frage beantworte ich mit Ja.
Was die zweite Frage angeht, so glaube ich, sagen zu müssen, daß im Interesse einer erfolgreichen Verhandlungsführung auch der Amerikaner natürlich nicht zu erwarten ist, daß es nun zu Jubelstürmen von amerikanischer Seite kommt. Das würde deren Verhandlungsposition in diesen Gesprächen beeinträchtigen.Ich darf aber sagen, daß es Hinweise darauf gibt, daß diese Gespräche auch von amerikanischer Seite kompromißbereit geführt werden können, weil es sich eben um Gespräche und nicht mehr um Neuverhandlungen handelt, die die Amerikaner gezwungen hät-
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Bundesminister Dr. Günter Rexrodtten, die Interessen der amerikanischen Bauern in ganz anderer Art und Weise zu berücksichtigen, als das heute der Fall ist. Die Situation ist entkrampft, entspannt; sie ist noch nicht in unserem Sinne gelöst. Die Chancen sind besser geworden.
Herr Oostergetelo.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, auch von mir zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mich darüber freue, daß die Bundesregierung zu dieser einheitlichen Haltung gekommen ist? Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß mich das wundern muß, zumal es Mitglieder der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien gibt, die ich hier sehe — viele werte Freunde —, die noch viel Beifall beim Protest des Bauernverbandes geklatscht haben, wo man den Gastredner aus Frankreich hatte, der mehr für die Blockade als zu sonst etwas geredet hat?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die erste Frage beantworte ich selbstverständlich wiederum dankend mit Ja.
Zur zweiten Frage, Herr Abgeordneter: Es gibt Interessen französischer Bauern und deutscher Bauern. Die liegen manchmal nicht weit auseinander, manchmal weiter auseinander. Es gehört zu unserer pluralistischen Demokratie, daß sich diese Bauern mit berechtigten Interessen zu Wort melden. Es gehört zu unserer repräsentativen Demokratie, daß es auch Kollegen aus dem Parlament gibt, die sich diese Interessenlage zu eigen machen und hier vortragen. Damit leben wir.
Es kommt aber darauf an, was am Ende herauskommt.
Und am Ende ist in diesem Zwischenstadium ein guter Kompromiß herausgekommen, der uns Anlaß zur Hoffnung gibt, daß wir am 15. Dezember die Uruguay-Runde unter Dach und Fach haben.
Die letzte Frage zu diesem ersten Themenkomplex stellt Herr Heistermann. Sonst kommen wir nicht mehr zu den anderen Themen. — Herr Heistermann.
Herr Minister, nachdem Sie so viel Dank einheimsen konnten und das Ende hier zitiert haben, das berühmte, frage ich: Könnten Sie dem Haus mitteilen, wieviel dieser Dank den Steuerzahler kosten wird? Denn es gab Gespräche zwischen der Bundesregierung und dem französischen Präsidenten. Vielleicht könnten Sie den Dank noch einmal quantifizieren, damit das Haus wenigstens daran Freude haben kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter, da muß ich differenzieren. Wenn es gelänge, mit den Amerikanern und anderen ein Ergebnis zu erzielen, das auf eine geringere Absenkung der Exporte hinausliefe, was nicht kommen muß, aber was kommen könnte, dann brächte das Verbesserungen für die europäischen Bauern mit sich.
Aber lassen wir einmal den bäuerlichen Sektor beiseite und kommen wir zu GATT als Ganzem. Da sagt die OECD: Wenn wir die Uruguay-Runde zum Abschluß bringen und GATT insofern verbessert und erweitert wird, dann bedeutet dies, daß die europäischen Sozialprodukte, also auch das deutsche, dadurch einen Impuls von mindestens einem Prozent Wachstum erhalten. Ein Prozent Wachstum bedeutet eine erhebliche Steuermehreinnahme für unseren Staat und damit für jeden Bürger, der am Umverteilungsprozeß beteiligt ist, eine zusätzliche Vergünstigung. Das bedeutet darüber hinaus zusätzliche wirtschaftliche Aktivität, zusätzliche Investitionen, zusätzliches Einkommen. Wenn die Dinge so laufen, wie sie hoffentlich laufen, dann können also alle Steuerzahler und alle Bürger unseres Landes damit zufrieden sein.
Vielen Dank, Herr Minister, für die Beantwortung dieses Fragekomplexes.
Ich komme zum Thema zwei: Erster Bericht zur Lage der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu liegen mir bisher Fragen von Frau Männle und Frau Schätzle vor.
Darf ich jetzt schon sagen: Es gibt eine Reihe von freien Fragen. Wir sollten die Regierungsbefragung bis viertel vor zwei verlängern, damit bei dem zahlreichen Erscheinen Ihre Fragen auch beantwortet werden können.
Es ist eigentlich unsere Regel, daß dann, wenn nicht ausdrücklich ein anderes Vorgehen gewünscht wird, unmittelbar zum zweiten und dritten Komplex gefragt werden kann. — Frau Männle.
Frau Ministerin, könnten Sie die wesentlichen Ergebnisse dieses Altenberichtes bzw. die spezifisch neuen Erkenntnisse dieses Berichts kurz erläutern?
Frau Ministerin Rönsch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dies ist der erste Bericht seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, der sich mit der Lebenssituation der älteren Menschen befaßt.Es wurde 1989 von meiner Kollegin Frau Professor Lehr eine Kommission ins Leben gerufen. Der Auftrag dieser Kommission wurde nach der Wiedervereinigung erweitert, weil wir die Lebenssituation aller älteren und alten Menschen in beiden Teilen Deutschlands erfragen und untersuchen wollten. Dieser Bericht liegt nun vor.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15079
Bundesministerin Hannelore RönschEr sagt sehr deutlich aus, daß Alter viele Gesichter hat und daß man nicht von einer homogenen Gruppe der Älteren sprechen kann, sondern daß Alter zwei oder drei Generationen haben kann, daß es die aktiven Älteren gibt, die ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen, die in eigener Kompetenz leben, arbeiten und weiter wirken wollen, daß es aber auch diejenigen gibt, die pflegebedürftig sind und die der besonderen Zuwendung des Staates bedürfen.Es ist auch ganz deutlich geworden, daß sich die wirtschaftliche Situation der älteren und der alten Menschen wesentlich verbessert hat.Trotzdem gibt es noch einen breiten Handlungsrahmen, der auch im Bericht sehr deutlich vorgegeben ist, wo wir aktiv werden müssen. Der Bericht wendet sich an die unterschiedlichsten Gremien: an die Bundesregierung, an die einzelnen Landesregierungen, an die Kommunen, aber auch an die breite Öffentlichkeit, an die gesellschaftlichen Gruppierungen, an die freien Wohlfahrtsverbände.Herausforderungen sind ganz besonders auf dem Feld gegeben, daß wir versuchen müssen, die älteren Menschen, die vielleicht kurzfristig pflegebedürftig sind, durch Rehabilitation zurück in die Aktivität zu holen, daß sichergestellt sein muß, daß der alte Mensch so lange wie möglich in der eigenen Kompetenz, in der ihm vertrauten Umgebung leben und wohnen kann, daß die entsprechende Infrastruktur durch die Lander bzw. die Kommunen geschaffen werden muß. Es ist z. B. noch ein starkes Defizit bei Tagespflegeeinrichtungen, bei Kurzzeitpflege vorhanden, das abgestellt werden muß.Ältere Menschen leben länger, und sie werden gesünder alt. Ich will noch zwei Zahlen nennen, die besonders beeindruckend sind: Ein heute geborenes Mädchen hat eine Lebenserwartung von 78,7 Jahren; ein heute geborener Junge hat eine Lebenserwartung von etwa 72,2 Jahren.
Die Differenz von sechs Jahren zwischen den Männern und den Frauen ist schon über viele Jahre durchgängig. Es wäre sicher interessant, einmal genauestens zu untersuchen, worin diese Differenz begründet ist.
Ich schlage vor, jetzt Fragen zu stellen. — Als nächste fragt Frau Abgeordnete Hanewinckel.
Ich möchte gerne wissen, ob die Situation der alten Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland zum Anlaß genommen wird, um im Altenbericht Aussagen über die in Zukunft gesteuerte und jedenfalls vom Arbeitsminister gewünschte Zuwanderung bzw. über die ungesteuerte Zuwanderung zu machen. Was gibt da der Altenbericht her? Was ist da für uns zu erwarten?
Liebe Kollegin Hanewinckel, die Situation der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger ist in diesem Altenbericht angerissen — ich sage ganz bewußt: angerissen. Wir haben in der Zukunft mit
Sicherheit sehr vielfältige Aufgaben, um die Integration gerade der älteren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Gesellschaft zu verfestigen.
In der Bundesrepublik Deutschland leben jetzt 300 000 ältere und alte Menschen über 60 Jahre. Aus ihren unterschiedlichen Herkunftsländern, aus ihren unterschiedlichen Kulturen ergibt sich, daß wir für sie, wenn sie älter werden, bei der Betreuung völlig unterschiedliche Zuwendungsarten finden müssen.
Wir haben aus anderen Untersuchungen jetzt erfahren, daß die Generationen der Kinder bzw. der Enkel das gleiche Verhalten wie die Bundesbürger zeigen, so daß das Miteinander in den Familien, wenn es um Pflegebedürftigkeit geht, nicht mehr so praktiziert wird wie ursprünglich in den alten traditionellen Formen in den Heimatländern. Deshalb werden wir hier in Zukunft mit Sicherheit eine größere Aufgabe haben.
Antworten auf die anderen Fragen können aus dem Altenbericht nicht abgelesen werden. Wir werden bei der Diskussion über den Altenbericht in den Ausschüssen sicher auch diese Fragen ansprechen. Nur: Erkenntnisse daraus, ob eine Zuwanderung notwendig ist, kann ich aus dem Altenbericht nicht ablesen.
Als nächste Frau Schätzle.
Frau Ministerin, welche Aussagen macht der erste Altenbericht im Hinblick auf gezielte Seniorenpolitik in den neuen Bundesländern, insbesondere auch über die verbesserte wirtschaftliche Situation älterer Menschen?
Frau Schätzle, mir wird gerade zugerufen: ganz kurz.
Ich hätte gern gerade an dieser Stelle die Gelegenheit gehabt, doch etwas ausführlicher Stellung zu nehmen, aber wir werden sicher noch Gelegenheit haben, Herr Kollege Conradi, auch hier in diesem Plenarsaal, nachdem die Anlage ja wieder funktioniert, sehr ausführlich über die Situation der älteren und alten Menschen in den neuen Bundesländern zu reden.Ich glaube, es ist sehr wichtig zu sagen, daß sich gerade die wirtschaftliche Situation der älteren Menschen in den neuen Bundesländern ganz erheblich verbessert hat. Vielleicht ist es auch sinnvoll, daß man an dieser Stelle einmal Zahlen nennt. Wichtig war mir von Anfang an, die Strukturen für die Altenbetreuung, die in der ehemaligen DDR nicht vorhanden waren, aufzubauen.
Wir haben deshalb innerhalb kürzester Zeit etwa 900 — —
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Frau Ministerin, darf ich Sie vielleicht, weil es sehr viele Fragesteller sind, bitten, auf die Zahlen zu verweisen. Der Bericht liegt ja vor. Denn sonst kommen die anderen nicht mehr zum Zuge.
Ich bin gerne damit einverstanden, daß die Zahlen, weil sie sehr ausdrucksstark sind und deutlich machen, daß Sorgen gerade der älteren Generation in den neuen Bundesländern unbegründet sind, dem Bericht entnommen werden. Ich glaube, wir alle sollten sie uns sehr genau ansehen.
Aber vielleicht, Frau Präsidentin, Frau Kollegin Schätzle, darf ich noch sagen, daß wir die erste Infrastruktur geschaffen haben, indem wir den alten Menschen, die zu Hause betreut werden, über 900 Sozialstationen zur Verfügung gestellt haben.
Danke. — Herr Abgeordneter Fuhrmann.
Frau Ministerin, die Diskussion in der Öffentlichkeit — Presse, Rundfunk und Fernsehen haben das ja sehr angeheizt — beschäftigt sich sehr intensiv mit den Zukunftsängsten im Zusammenhang mit der Altersversorgung in die nächsten Jahrzehnte hinein. Gibt der Altenbericht Auskunft darüber, wie sich das wirtschaftlich und sozial weiterentwickeln wird? Und ist der Altenbericht in der Lage, diejenigen zu beruhigen, die heute schon zu den Älteren gehören, und denjenigen eine Antwort zu geben, die noch im Erwerbsleben stehen, aber doch in diese Diskussion mit eingebunden sind?
Herr Kollege Fuhrmann, dieser Altenbericht hat natürlich über die Vergangenheit zu berichten gehabt und macht die wirtschaftliche Situation der älteren Männer und Frauen in beiden Teilen Deutschlands und die unterschiedliche Entwicklung bis zum heutigen Tage zum Hauptschwerpunkt. Er macht aber auch deutlich, daß wir für die Zukunft vorsorgen müssen. Mir macht ein wenig Sorge, daß wir die Verunsicherung der jetzt älteren Generation vorantreiben. Gerade durch das Rentenreformgesetz haben wir ja gemeinsam die Grundlage dafür geschaffen, daß diejenigen, die heute in Rente sind, und die heute in Rente Gehenden — bis etwa zum 50. Lebensjahr zurück — auf ein gesichertes Alter schauen können bzw. gesichert in Rente gehen können.
Sorge macht es mir durchaus, daß wir der jungen Generation, den heute berufstätigen 25- bis 30jährigen, diese Absicherung für die Zukunft nicht mehr geben können und daß die Betreffenden in einer Zukunftsangst leben. Hier müssen wir uns gemeinsam daranmachen, auch für die nachfolgenden Generationen, die jetzt im Erwerbsleben stehen, die Renten sicher zu machen.
Als nächste folgt Frau Kollegin Würfel.
Frau Präsidentin! Ich habe gewisse Probleme mit meinem Mikrofon. Würde ich es benutzen, müßte ich der Frau Ministerin den Rücken zukehren.
Frau Ministerin Rönsch, solche Feststellungen, wie Sie sie eben getroffen haben, etwa die, daß das Alter viele Gesichter hat und daß es sowohl Menschen gibt, die selbständig sind, als auch andere, die unselbständig sind, dürften für Sie als Ministerin und für uns Parlamentarier keine neuen Erkenntnisse sein.
Darf ich Sie deshalb fragen, welchen Handlungsbedarf Sie nun auf der Grundlage dieses Berichtes von seiten der Bundesregierung und von seiten des Gesetzgebers sehen?
Denn solche aufwendigen Berichte, egal ob über Kinder oder über Ältere, machen nur dann Sinn, wenn wir daraus Konsequenzen ziehen.
Liebe Frau Kollegin Würfel, Herr Kollege Conradi, ich hätte natürlich gerne wesentlich mehr Zeit, um heute den Altenbericht in seiner Gänze vorstellen zu können. In 15 Minuten kann es nur ein kleiner Abriß sein. Ich habe einige der wesentlichen Handlungsfelder aufgezeigt.Wir müssen von mindestens drei Generationen der Älteren ausgehen, und sie brauchen jeweils gesonderte Zuwendung vom Staat. Wenn der heute aus dem Berufsleben Ausscheidende manchmal mit ein wenig Bitternis feststellt, daß er seine Kreativität und Kompetenz, die er in seinem Arbeitsleben erworben hat, nicht mehr zur Verfügung stellen kann, ist das nicht nur für ihn selbst, sondern auch für unsere Gesellschaft und für unsere Ökonomie bitter. Deshalb müssen wir ein langsames Herausgleiten aus dem Arbeitsprozeß möglich machen, und wir müssen die Flexibilisierung vorantreiben, damit die Menschen diese Umstellung körperlich, aber auch geistig gut verarbeiten können.Zum anderen kommt es mir darauf an, daß wir die Kreativität und die Möglichkeiten, die alte Menschen der Gesellschaft noch zur Verfügung stellen können, nicht einfach brachliegen lassen. Wir haben deshalb im Bundesministerium für Familie und Senioren z. B. mit dem Bundesaltenplan und mit den Modellprojekten der Seniorenbüros genau diese Kompetenz einfordern wollen. Wir wollen, daß sich alte Menschen einbringen, daß sie z. B. in der Ehrenamtlichkeit tätig sind und daß sie erworbene Erfahrungen an andere weitergeben.Ein anderer Punkt, den wir die ganze Zeit diskutiert haben und bei dem wir jetzt hoffentlich zu einem Ende kommen, ist die Pflegeversicherung. Wir müssen das Pflegerisiko von alten Menschen absichern. Heute bekommen in den alten Bundesländern 70 % der Alten Sozialhilfe, und in den neuen Bundesländern sind es fast 100 %, die entweder zu ihrer Rente
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Bundesministerin Hannelore Rönschzusätzlich Sozialhilfe erhalten oder gänzlich auf Sozialhilfe angewiesen sind, wenn sie in Pflegeeinrichtungen sind. Das sind — —
Frau Ministerin, entschuldigen Sie. Es liegt zwar auch an den Fragestellungen, aber wir machen daraus jetzt einen eigenen Tagesordnungspunkt. Das müssen wir dann tun, wenn der Altenbericht auf der Tagesordnung steht. Wir bringen sonst auch Sie in Schwierigkeiten. Ich bitte um Verständnis, daß ich noch einmal eingegriffen habe.
Der nächste Fragesteller ist der Abgeordnete Walter Link.
Frau Bundesministerin, nun ist ja Politik für unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger und für unsere Senioren die Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. Könnten Sie noch einmal ganz spezifisch sagen: Wo hat der Bund seinen Schwerpunkt? Wie kann er den Gemeinden und Ländern bei dieser wichtigen Aufgabe helfen? Was sagt der Altenbericht über die Pflöcke, die wir in den nächsten Jahren einschlagen müssen, um eine gute Altenpolitik weiter fortzusetzen?
Das ist eine zu weite Fragestellung. Herr Link, können Sie sich drauf konzentrieren, daß Sie nur eine Frage zu dem stellen, was über die Gemeinden ausgesagt ist? Sonst hätten wir nämlich wieder den eigenen Tagesordnungspunkt.
Ich muß Sie, Herr Kollege Conradi, noch einmal ansprechen. Sie waren es doch vorhin, der mich gebeten hat, vielleicht eine Einführung zu geben.
— Sie haben es quer durch den Saal gerufen. Als Seniorenministerin fühle ich mich ab irgendeinem Zeitpunkt auch für Sie, Herr Kollege, zuständig.
Es ist vielleicht gar nicht verkehrt, wenn man dann gemeinsam über die Instrumente, die wir unseren älteren und alten Menschen zur Verfügung stellen können, nachdenkt. Denn ich meine, die Generationensolidarität geht uns alle an. Diese Generationensolidarität werde ich immer wieder einfordern, auch von den nachfolgenden Generationen in dem Sinne, daß sie sich gegenüber den jetzt Älteren und Alten solidarisch verhalten.
Herr Kollege Link, der Bund besitzt eine breite Kompetenz, vom Heimgesetz über die Rentengesetzgebung bis hin zur Pflegeversicherung, über die wir aktuell diskutieren. Aber wir müssen natürlich ebenso auf die Länderkompetenzen aufmerksam machen. Ich sage das ganz bewußt auch im Hinblick auf die neuen Bundesländer. Die Pflegeeinrichtungen, die Plätze für die Tages- und Kurzzeitpflege, müssen von den Ländern bereitgestellt werden.
Ich erhalte immer wieder Briefe, gerade auch von Ministern aus den neuen Bundesländern, in denen auch nach dem FKP bzw. nach dem Bund-LänderFinanzausgleich Bundesmittel zur Erfüllung der Landesaufgaben eingefordert werden.
Auch die Kommunen haben ein sehr breites Aufgabenspektrum. Die Sozialstationen habe ich bereits angesprochen. Zu erwähnen sind beispielsweise auch „Essen auf Rädern" und die anderen Instrumentarien, die von den Kommunen zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn wir wollen, daß alte Menschen noch lange in ihrer Wohnung leben können, auch wenn sie kurzzeitig einmal pflegebedürftig sein sollten.
Ich bitte um Verständnis dafür, daß die beiden letzten Fragesteller zu diesem Fragenkomplex nicht mehr an die Reihe kommen.
Die noch vorliegenden sieben freien Fragen möchte ich noch abhandeln. Ich bitte um Verständnis, daß wir deswegen diesen Tagesordnungspunkt entsprechend verlängern. Wenn kurze Fragen gestellt werden, werden sicher auch kurze Antworten gegeben.
Als erster der Abgeordnete Conradi.
Das berühmte Gesetz von Murphy — „Murphy's Law" — besagt ja, daß bei einem Projekt alles, was schiefgehen kann, irgendwann auch schiefgeht. Ich frage die Bundesregierung: Trifft es zu, daß die Bundesregierung auf Grund der Erfahrungen im Plenarsaal beabsichtigt, „Murphy's Law" zu andern? Wird sie dies auf dem Wege einer Gesetzesänderung oder auf dem Wege einer Verordnungsänderung betreiben?
Wen möchten Sie dazu hören?
Natürlich den Chef des Bundeskanzleramtes.
Herr Kollege Conradi, wir werden zweierlei prüfen: erstens die Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens und zweitens die Frage, ob dieses Anliegen sachlich gerechtfertigt ist.
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15082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Als nächster der Abgeordnete Hornhues.
Ich frage die Bundesregierung — ich denke, Frau Staatsministerin Seiler-Albring wird antworten — folgendes, wobei ich unterstellen darf, daß sich die Bundesregierung nicht nur mit so gewichtigen Fragen wie der des Kollegen Conradi befassen will, sondern sich heute auch mit der Lage in Rußland beschäftigt hat. Mich interessiert, zu welchen Erkenntnissen und gegebenenfalls Ergebnissen die Bundesregierung gekommen ist.
Frau Präsidentin, Herr Kollege, das Bundeskabinett hat sich auf der Grundlage eines Berichts des Außenministers in der Tat mit der Situation in Rußland beschäftigt. Ich kann dazu feststellen, daß die Bundesregierung weiterhin die Reformpolitik des demokratisch gewählten russischen Präsidenten unterstützt. Diese Reformpolitik ist entscheidend für die Zukunft dieses Landes. Sie ist im Interesse Rußlands, aber eben auch im Interesse aller Freunde und Partner Rußlands.
Die Entscheidung des russischen Präsidenten, Neuwahlen für das russische Parlament zu ermöglichen, soll den Weg zur Fortsetzung dieser Reformpolitik öffnen.
Die Bundesregierung unterstützt diese Entscheidung in der Erwartung, daß dieser Weg einer friedlichen freien und demokratischen Entscheidung fiber die Zukunft Rußlands konsequent und erfolgreich eingehalten wird und dem Land die notwendige und verdiente Stabilität bringt.
Die Bundesregierung ist in engem Kontakt mit der amerikanischen Regierung und auch mit der Europäischen Gemeinschaft, die sich dazu in einer ähnlichen Weise geäußert hat.
Als nächster hat Herr Keller das Wort.
Frau Staatsministerin, die Bundesregierung hat sich eine Meinung gebildet. Sie hat im Gegensatz zu Verfassungsrechtlern offensichtlich nicht festgestellt, daß es ein Verfassung in der Sowjetunion ist. Deshalb frage ich Sie: Sind Sie bei Ihrer Einschätzung davon ausgegangen, daß die Wahl zu diesem Parlament 1990 durch Boris Jelzin initiiert worden ist, daß dieses Parlament Boris Jelzin zum Präsidenten des Parlaments gewählt hat, daß dieses Parlament gegen die Auffassung von Gorbatschow die Wahlen zum Präsidenten Rußlands beschlossen hat, daß dieses Parlament Boris Jelzin als Präsidenten-Kandidaten Rußlands vorgeschlagen hat, daß dieses Parlament die Reformvorschläge von Boris Jelzin beschlossen hat und daß dieses Parlament
die Sondervollmachten für Präsident Jelzin 1992 bestätigt hat?
Herr Kollege, ich stelle fest, daß der Präsident Rußlands in freier und geheimer Wahl vom Volk gewählt worden ist und daher für seine Amtsführung eine ganz besondere Legitimität hat. Ich kann nur wiederholen, daß die Bundesregierung die Absicht des Präsidenten begrüßt, das russische Parlament ebenfalls in demokratischen freien und geheimen Wahlen zu bestätigen.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen?
Nein, weil wir sonst nicht durchkommen.
Sie ist nur mit Ja oder Nein zu beantworten.
Ich habe noch andere Fragesteller auf der Liste. — Bitte, Herr Kubatschka.
Ich muß sagen, ich finde die Technik schon faszinierend. Man drückt Grün, und Rot erscheint; Gelb und Schwarz findet nicht statt.
Aber jetzt zu meiner Frage: Wäre eine von einem Industrieunternehmen neu gebaute Produktionshalle nach der Übernahme wegen technischer Mängel, z. B. bei der Lautsprecheranlage, für neun Monate nicht benutzbar, dann würde die für das Projekt verantwortliche Leiterin der Bauabteilung entweder entlassen oder umgesetzt, vorausgesetzt, daß dieses Unternehmen leistungsbezogen ist. Welche Verwendungspläne hat der Bundeskanzler für die Bundesbauministerin?
Herr Kubatschka, wollen Sie darauf eine Antwort? — Darf ich fragen, wer von der Regierung Stellung nehmen möchte?
Frau Präsidentin! Herr Kollege, die Bundesregierung arbeitet seit der Wahl zu diesem Deutschen Bundestag ganz hervorragend. Sie hat hervorragende Minister, die ihre Arbeit auch zur vollsten Zufriedenheit des Bundeskanzlers verrichten. Sie haben die Unterstützung der Mehrheit dieses Hauses.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15083
Bundesminister Friedrich BohlDas gilt in besonderem Maße für die Bundesbauministerin.
Wir sind sicher, daß sie auch ihre Arbeit erfolgreich beenden wird. — Herzlichen Dank für die Klarstellung, die ich dem Hohen Hause damit bringen konnte.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Gansel.
Frau Präsidentin! Die Pannen beim Bau des Plenums, die die Bundesbauministerin letzten Endes zu verantworten hat, sind wohl nur als Beitrag der Bundesregierung zur ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft zu entschuldigen. Deshalb möchte ich an diese Feststellung eine Frage knüpfen, weil wir draußen vor dem Parlament eine Demonstration der IG Bau, Steine, Erden und anderer Gewerkschaften gehabt haben, bei der es insbesondere darum ging, die von der Bundesregierung beabsichtigte Streichung des Schlechtwettergeldes zu verhindern. In Anbetracht der vielen Proteste, die es gegeben hat, nicht nur von den betroffenen Bauarbeitern, nicht nur von den Gewerkschaften, sondern insbesondere auch aus dem Baugewerbe selbst, von den Betrieben und den Arbeitgeberverbänden, frage ich, ob die Bundesregierung diese Demonstration zum Anlaß genommen hat, in der heutigen Kabinettsitzung noch einmal darüber zu beraten, ob man die geplante Streichung des Schlechtwettergeldes nicht rückgängig machen will, um einen Beitrag zur wirtschaftlichen Vernunft und zum sozialen Frieden in diesem Lande zu leisten.
Herr Staatssekretär Echternach.
Herr Kollege Gansel, die Bundesregierung hat einen bestimmten Gesetzesvorschlag gemacht. Dieser Gesetzesvorschlag liegt hier im Hohen Hause. Das Hohe Haus wird die endgültige Entscheidung zu treffen haben.
Herr Abgeordneter Dreßler, bitte.
Ich möchte das Kanzleramt fragen, ob anläßlich der heutigen Kabinettsitzung die Veröffentlichung des Presse- und Informationsamts in ostdeutschen Zeitungen zum Thema „Solidarpakt" mit den Konterfeis der vier CDU-Ministerpräsidenten eine Rolle gespielt hat und welche Entscheidung das Kabinett dazu getroffen hat, daß im Lande Brandenburg statt des Konterfeis des dortigen Ministerpräsidenten Auszüge aus der Weltpresse veröffentlicht wurden.
Ich denke, daß dann, wenn so etwas auf Kosten der Steuerzahler für viel, viel Geld von seiten der Bundesregierung in Auftrag gegeben wird, sicher an herausgehobener Stelle über diese einseitige Parteipropaganda und den Mißbrauch von Steuergeldern im Kabinett beraten werden müßte.
Herr Minister Bohl.
Herr Kollege Dreßler, ich muß Ihnen sagen, daß dieser Punkt heute nicht im Kabinett behandelt wurde.
Ich muß Ihnen einräumen, daß ich nur rein zufällig durch eine Tickermeldung von diesem Sachverhalt gehört bzw. gelesen habe.
Ich habe dabei allerdings zur Kenntnis genommen, daß sich das Bundespresse- und Informationsamt dahin gehend eingelassen hat, daß dem Lande Brandenburg anheimgestellt wurde, sich zu beteiligen, was aber vom Lande Brandenburg abgelehnt worden sei.
Aber ich will gern Ihrer Anregung noch einmal nachgehen. Ich bin auch gern bereit, Ihnen dann telefonisch oder schriftlich, wie Sie es wünschen, Herr Kollege, weitere Auskünfte zukommen zu lassen.
Ich habe eine Zusatzfrage, Frau Präsidentin. — Herr Minister Bohl, nachdem Sie dem Parlament Auskunft über die Haltung des Landes Brandenburg gegeben und mir weitere Informationen angekündigt haben, frage ich Sie, ob ich diese Informationen insoweit angereichert bekommen könnte, als die Haltung des Landes Brandenburg bzw. der dortigen Regierung, sich diesem Mißbrauch einer Verwendung von Steuergeldern im Gegensatz zu den CDU-Ministerpräsidenten und der Bundesregierung nicht anzuschließen, auch eine hinreichende Würdigung durch Sie finden wird.
Herr Kollege Dreßler, ich wiederhole, daß ich von diesem Sachverhalt rein zufällig heute auf Grund einer Tikkermeldung erfahren habe. Ich habe mehr oder weniger ständig Kontakt auch mit Mitgliedern der Landesregierung von Brandenburg. So habe ich gestern mit dem Ministerpräsidenten Stolpe in einer anderen Sache telefoniert, und ich habe heute mit dem Chef der Staatskanzlei, Herrn Linde, an einem Tisch gesessen. Mir ist von beiden Herren dieser Punkt nicht
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Bundesminister Friedrich Bohlvorgetragen worden, so daß ich zumindest unterstelle, daß das Monitum, das Sie mir hier vortragen, nicht im Zentrum der brandenburgischen Politik steht.Ich glaube auch nicht, daß die Damen und Herren des Bundespresse- und Informationsamts in irgendeiner Weise beabsichtigen, Steuergelder zum Fenster herauszuwerfen. Deshalb wäre ich doch dankbar, wenn wir uns vielleicht den Sachverhalt gemeinsam anschauen und daraus, vielleicht sogar gemeinsam, die notwendigen Schlüsse ziehen würden.
Als letzter Fragesteller folgt nun Herr Elmer.
Ich habe eine Frage an den Parlamentarischen Staatssekretär Günther. Wie hoch beziffert sich die Vertragsstrafe für die Firma Siemens wegen der um neun Monate verspäteten Benutzung dieser Anlage?
Herr Staatssekretär, bitte.
Ich habe den Sachverhalt jetzt nicht parat. Ich werde Ihnen das nachliefern.
Ist die Frage angekommen? Es wurde gefragt, ob es eine solche gäbe.
Ich habe gesagt, daß ich Ihnen den Sachverhalt im Anschluß mitteilen werde.
Damit schließe ich die Befragung der Bundesregierung und rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/5692 —
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Die Fragen 1 und 2 des Abgeordneten Rolf Schwanitz werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen und rufe Frage 3 des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer auf:
Welcher Betrag ist im Entwurf des Bundeshaushalts 1994 insgesamt eingestellt zur Umsetzung des Bundestags-Beschlusses vom 20. Juni 1991 zur Verlegung des Sitzes von Parlament und Bundesregierung von Bonn nach Berlin?
Die Beantwortung erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Jürgen Echternach.
Herr Kollege Ramsauer, im Entwurf des Bundeshaushalts 1994 sind insgesamt 301 450 000 DM für die Verlagerung des Parlamentssitzes und von Regierungsfunktionen von Bonn nach Berlin veranschlagt.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Ramsauer?
Ich habe zunächst eine Frage zur Geschäftsordnung. War das die Beantwortung beider Fragen oder nur der ersten?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Nur der ersten.
Das wird jetzt nicht auf meine zwei Zusatzfragen angerechnet?
Nein.
Danke. — Meine erste Zusatzfrage, Herr Staatssekretär, lautet: Steht diese Mittelbereitstellung im Einklang mit dem Sparkonzept der Bundesregierung, mit dem wir uns zur Zeit in den Parlamentsberatungen befassen?
Die zweite Zusatzfrage, die ich gerne stellen möchte, lautet: Gibt es Argumente, mit denen die Bundesregierung glaubt, die Öffentlichkeit davon überzeugen zu können, daß auf der einen Seite von uns allen die notwendigen Einsparungen hingenommen werden müssen, auf der anderen Seite hingegen bereits jetzt die Vorbereitungen für einen Umzug von Bonn nach Berlin mit einer Summe von etwa 300 Millionen DM zu dotieren sind?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ramsauer, wir ziehen mit dem Regierungsentwurf nur die Konsequenzen aus den Beschlüssen des Deutschen Bundestages, der sowohl hinsichtlich des Standortes des Parlaments und der Regierung eine Entscheidung getroffen hat wie auch durch weitere Beschlüsse sehr konkrete Festlegungen für die Ausfüllung dieser ersten Entscheidung vom Sommer 1991 vorgenommen hat. Auf dieser Basis ist der Regierungsentwurf erstellt. Hier trifft die letzte Entscheidung der Deutsche Bundestag selbst im November bei der Verabschiedung des Haushalts.
Herr Conradi, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß alle notwendigen Ausgaben für die Planungen von Bundestag und Bundesregierung in Berlin aus dem Haushalt 1994 gedeckt werden können?Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß dieser Entwurf, der auch von dem zuständigen Fachministerium mitgetragen worden ist, die aus der Sicht der Bundesregierung notwendigen Ausgaben für 1994 enthält. Es gibt zwischen der Aufstellung eines Regierungsentwurfs und der endgültigen Verabschiedung des Haushalts ja immer einen weiteren Meinungsbildungsprozeß. Wenn neue
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Parl. Staatssekretär Jürgen EchternachErkenntnisse auftauchen, ist es Sache des Hohen Hauses, den Regierungsentwurf möglicherweise noch zu korrigieren.
Wir kommen zur Frage 4 des Abgeordneten Dr. Ramsauer:
Welche Beträge sind dabei für welche Zwecke vorgesehen?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ramsauer, der genannte Gesamtbetrag von 301 450 000 DM für die Verlagerung des Parlamentssitzes und von Regierungsfunktionen von Bonn nach Berlin ist für folgende Zwecke vorgesehen:
Erstens. Für den Grunderwerb in Berlin sind 100 Millionen DM vorgesehen.
Zweitens. Für Wettbewerbskosten und Planungskosten sind 26 700 000 DM vorgesehen.
Drittens. Für die Herrichtung von Gebäuden für den Deutschen Bundestag — Unter den Linden, Wilhelmstraße — sind 60 Millionen DM vorgesehen.
Viertens. Für andere Baukosten, z. B. die Errichtung eines Dienstgebäudes in der Jerusalemer Straße für Zwecke der Bundesregierung und den Abbruch des ehemaligen Palastes der Republik, sind 20 Millionen DM vorgesehen.
Fünftens. Für die Kosten der Bundesbaugesellschaft sind 5 900 000 DM vorgesehen.
Sechstens. Für hauptstadtbedingte kulturelle Bauvorhaben wie Deutscher Dom und Deutsches Historisches Museum sind 35 Millionen DM vorgesehen.
Siebtens. Für Ausgleichsmaßnahmen in der Region Bonn im Wege der sogenannten Soforthilfe sind 53 850 000 DM vorgesehen.
Das macht zusammen die vorhin genannte Summe von 301 450 000 DM aus.
Weitere Mittel bis zu 700 Millionen DM können für den Grunderwerb in Berlin verwendet werden, sofern entsprechende Einnahmen aus der Veräußerung von bundeseigenen Grundstücken in Berlin anfallen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, auf welchen Umzugszeitpunkt sind diese Mittelbereitstellungen im Haushalt ausgelegt?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Wir gehen von den Beschlüssen des Deutschen Bundestages aus. Dieser hat seinen Beschluß von 1991 durch weitere Beschlüsse im Wege der Vorlage durch die Kommission des Ältestenrates hinsichtlich des Termins konkretisiert. Diese Mittel reichen erst einmal aus, um diesen Zeithorizont zu erreichen.
Sie wissen, daß darüber hinaus in den letzten Wochen eine neue Diskussion über eine mögliche konkrete datumsmäßige Fixierung entstanden ist. Sollte diese Fixierung so oder so erfolgen, könnten sich daraus natürlich noch weitere Beschlüsse ergeben.
Zweite Frage.
Herr Staatssekretär, eine zweite Zusatzfrage: Können Sie Meldungen der Medien bestätigen, daß die ursprünglich geschätzten Kosten für die Instandsetzung des Reichstagsgebäudes schon heute als veraltet gelten müssen und bei realistischer Sichtweise in die Richtung von 600 bis 700 Millionen DM explodieren?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ich kann diese Summe nicht exakt bestätigen. In der Tat liegen die Summen, die zur Zeit genannt werden, zwar nicht ganz in dieser Größenordnung, aber sie sind nicht allzuweit davon entfernt.
Entschuldigen Sie, wenn ich mich hier einschalte. Die Summe bezieht sich nicht nur auf das Reichstagsgebäude, sondern schließt das Reichstagspräsidentenpalais und die Außenanlagen des Reichstagsgebäudes ein, so daß in dieser Summe offenbar mehrere Kostenpunkte angesetzt sind. Ich sage das hier, weil diese Klarstellung für die Öffentlichkeit notwendig ist.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Die Frage 5 des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich komme dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Beantwortung erfolgt durch die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Ich rufe Frage 6 der Abgeordneten Susanne Kastner auf:
Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung der Getränke- und Lebensmittelindustrie, bei der Produktion z. B. von Gemüsekonserven Wasser verwenden zu können, das nicht den Anforderungen der EG-Trinkwasserrichtlinie in bezug auf die Pflanzenschutzmittel- und Nitratgrenzwerte entspricht, weil in Gemüse z. B. höhere Rückstandsmengen zugelassen sind, und welche Folgen hätte es, wenn Wasser nur bei der Nutzung als Trinkwasser den Anforderungen der EG-Trinkwasserrichtlinie entsprechen müßte?
Frau Kollegin Kastner, Wasser, das in Lebensmittelbetrieben z. B. zur Herstellung von Getränken und Gemüsekonserven verwendet wird, muß gemäß § 7 der Trinkwasserverordnung grundsätzlich auch hinsichtlich seines Gehalts an Nitrat sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittelrückständen den Anforderungen der Trinkwasserverordnung entsprechen. Die Trinkwasserverordnung stellt die Umsetzung der EG-Trinkwasserrichtlinie in deutsches Recht dar.
Eine Infragestellung dieser Anforderungen könnte in bestimmten Fällen, z. B. bei Stoffen, für die eine niedrige tägliche duldbare Aufnahmemenge festgelegt worden ist, zu einer unzulässigen Gesamtaufnahme dieser Stoffe über die Nahrung führen. Die Akzeptanz eines solchen Risikos muß aus Gründen der Gesundheitsvorsorge abgelehnt werden. Sofern der Gesundheitsschutz nicht beeinträchtigt werden kann, können die zuständigen Behörden allerdings Ausnahmen zulassen.
Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ist das, was Sie jetzt vorgetragen haben, die Meinung des
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Susanne KastnerGesundheitsministers oder die Meinung der gesamten Bundesregierung?
Das ist die Meinung des Gesundheitsministers. Ich glaube nicht, daß sich die übrigen Ressorts dieser Meinung entziehen können.
Frau Staatssekretärin, darf ich Sie fragen, ob in diesem Fall „glauben" „nicht wissen" bedeutet?
Das heißt es nicht, Frau Kollegin Kastner, sondern das heißt, daß der Gesundheitsschutz der Bevölkerung durch sauberes Trinkwasser für uns eine hohe Priorität hat.
Zusatzfrage durch den Kollegen Kubatschka.
Frau Kollegin, Sie sprechen von Ausnahmen. Wie definieren Sie diese Ausnahmen?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil es das Ganze deutlich macht. Wenn Gemüse oder Obst von Rückständen aus der Erde, also von Schmutzpartikeln, befreit werden müssen, d. h. abgespült werden müssen, so kann das Wasser z. B. aus einem hauseigenen Brunnen stammen.
Ich rufe nun die Frage 7 der Abgeordneten Susanne Kastner auf:
Welche Stellungnahme wird die Bundesregierung auf der EG-Trinkwasserkonferenz am 23/24. September 1993 in Brüssel zu der zur Diskussion stehenden Änderung des Vorsorgegrenzwertes für Pflanzenschutzmittel im Trinkwasser von 0,1 Mikrogramm pro Liter abgeben, und wie soll der Vorsorgegedanke im Gesundheits- und Trinkwasserschutz und im Grundwasserschutz durchgesetzt werden, wenn Grundwasser je nach Nutzung differenziert vor Pflanzenschutzmitteln und Nitrat geschützt werden soll?
Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, die Kommission hat Experten zur EG-Trinkwasserkonferenz nach Brüssel eingeladen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, alle im Zusammenhang mit Trinkwasser stehenden Fragen zu diskutieren. Die Ergebnisse dieser Konferenz sind die Grundlage für die Entscheidung der Kommission, ob sie dem Rat einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie machen wird. Erst dann ist eine Stellungnahme der Bundesregierung bezüglich der zur Diskussion stehenden Änderungen notwendig. Unabhängig davon kommt dem Vorsorgegedanken im Gesundheits- und Trinkwasserschutz hohe Priorität zu.
Auch aus umweltpolitischer Sicht gilt, daß das Grundwasser flächendeckend eines besonderen Schutzes bedarf. Dieses Prinzip ist bisher sowohl im deutschen als auch im europäischen Recht entsprechend berücksichtigt.
Was den Schutz vor Nitrateinträgen betrifft, ist beabsichtigt, die Aktionsprogramme der EG-Nitratrichtlinie ebenfalls flächendeckend anzuwenden. Gerade für das Grundwasser hat der Vorsorgegedanke oberste Priorität; denn einmal eingetretene Verunreinigungen sind, wenn überhaupt, nur mit großem technischen und finanziellen Aufwand wieder zu beseitigen. Daher indiziert das Auftreten anthropogen bedingter Verunreinigungen im Grundwasser in der Regel einen Handlungsbedarf.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir dann zustimmen, daß es im Spannungsfeld zwischen den EG-Werten und den WHO-Werten, die hier eine maßgebliche Rolle spielen, die Zielsetzung der Bundesregierung ist, den bundesrepublikanischen Wert nicht abzusenken?
Es ist so, Frau Kollegin Kastner, daß auch diese Fragestellung in Brüssel besprochen wird. Ich habe ja gesagt, unser Grundsatz ist, die Reinheit des Trinkwassers zu erhalten.
Können Sie mir dann beantworten, warum es im Vorfeld dieser Anhörung der EG zum Trinkwasser nicht zu einer Ressortabstimmung zwischen Umweltministerium, Gesundheitsministerium und Landwirtschaftsministerium und damit nicht zu einer einheitlichen Zielsetzung der Bundesregierung gekommen ist?
Frau Kollegin Kastner, ich habe in Beantwortung Ihrer ersten Frage ausgeführt, daß die Zielsetzung, nämlich die Reinerhaltung des Trinkwassers, von der Bundesregierung sicherlich einhellig getragen wird.
In meiner Antwort auf Ihre zweite Frage habe ich ausgeführt, daß es sich bei der Konferenz in Brüssel um ein Hearing von Experten handelt, das dann eventuell zu einer Entscheidung der Kommission führt, zu der die Bundesregierung dann ihrerseits Stellung nimmt.
Danke. — Herr Abgeordneter Kubatschka.
Frau Kollegin, Sie sprechen richtigerweise von einem flächendeckenden Schutz des Grundwassers. Bedeutet diese Aussage aber nicht, daß Sie die Beschränkungen, die in Trinkwasserschutzgebieten vorgenommen werden, flächendeckend vornehmen müßten?
Herr Kollege Kubatschka, es ist so, daß wir flächendeckend alle Vorsorgemaßnahmen treffen wollen, um zu vermeiden, daß die Reinerhaltung des Trinkwassers sonst mit einem zu hohen finanziellen und materiellen Aufwand betrieben werden muß.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin.Ich komme jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Norbert Lammert.Ich rufe die Frage 8 des Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape auf:
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Präsidentin Dr. Rita SüssmuthSieht die Bundesregierung Handlungsbedarf bei der Prävention von beruflicher Ausbildungslosigkeit bei Jugendlichen ohne Schulabschluß, besonders in den neuen Ländern, und wenn ja, welche Schritte unternimmt sie in dieser Hinsicht?
Herr Kollege, die Bundesregierung hat vielfältige Schritte unternommen, um berufliche Ausbildungslosigkeit bei Jugendlichen, insbesondere bei Jugendlichen ohne Schulabschluß, deutlich zu verringern.
Ich will einige ausgewählte Beispiele nennen: Wir haben seit Jahren die bewährte, auch rechtlich abgesicherte Benachteiligtenförderung nach § 40 c des Arbeitsförderungsgesetzes. Wir haben eine inhaltlichkonzeptionelle Gestaltung dieser Benachteiligtenförderung durch Handreichungen für Ausbilder, Lehrer, Sozialpädagogen und übrigens auch für Träger entsprechender Einrichtungen bei der Ausbildungsvorbereitung und bei der Berufsausbildung. Es gibt ein gemeinsames Projekt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft und der Europäischen Gemeinschaft in den neuen Bundesländern zur Qualifizierung und Beratung von Ausbildungspersonal und lokalen Entscheidungsträgern bzw. Multiplikatoren im Bereich der Benachteiligtenausbildung. Das BMBW hat gerade im Mai dieses Jahres in Schwerin eine Fachtagung zur beruflichen Qualifizierung lernbeeinträchtigter und sozial benachteiligter Jugendlicher durchgeführt.
Wir arbeiten zur Zeit auf der Basis der genannten Maßnahmen und unter Einbeziehung eines Berichts der Bund-Länder-Kommission über Differenzierung in der Berufsausbildung an einem alle Bildungsbereiche umfassenden Handlungskonzept für die Qualifizierung von Jugendlichen, die bisher ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben.
Herr Kollege, ich darf Sie schließlich noch darauf aufmerksam machen, daß die Bundesregierung seit Inkrafttreten des Berufsbildungsrechts in den neuen Ländern mit Erfolg erhebliche Anstrengungen zur Schaffung ausreichender betrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildungsplätze unternommen hat, um möglichst allen interessierten Jugendlichen eine qualifizierte Berufsausbildung zu ermöglichen.
Zusatzfrage, Herr Knaape.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß genügend getan worden ist und der Rest vor Ort geschehen muß?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat immer auf die Zuständigkeitsverteilungen in diesem Bereich hingewiesen, die übrigens in anderen Zusammenhängen auch von den unmittelbar Verantwortlichen mit großem Nachdruck eingefordert werden. Das gilt sowohl für die Verantwortung, die die Länder haben; das gilt im Bereich der Berufsausbildung aber nicht zuletzt auch für die Verantwortung der Wirtschaft. Gleichwohl haben wir uns in all diesen Jahren, die wir jetzt gemeinsam zum Gegenstand der Diskussion machen, nie hinter diesen Verantwortlichkeiten Dritter versteckt. Vielmehr haben wir, zum Teil auch über unsere rechtlichen Verpflichtungen hinaus, mit eigenen Programmen, mit eigenen Initiativen für genau die Maßnahmen gesorgt, die in allen bisherigen Ausbildungsjahren zu dem Ergebnis geführt haben, daß für die interessierten Jugendlichen entsprechende Ausbildungsangebote tatsächlich auch bereitgestellt werden konnten.
Darf ich Ihrer Antwort dann entnehmen, daß Sie keinen weiteren Handlungsbedarf sehen, Anstrengungen seitens der Bundesregierung zu unternehmen, damit Lehrstellen für diese benachteiligten Jugendlichen in den Städten und in den Gemeinden geschaffen werden?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Ganz im Gegenteil: Der Gegenstand der Aktuellen Stunde, mit der wir uns nachher befassen, macht deutlich, daß die Bundesregierung bis in diese Tage hinein immer dann, wenn es konkreten absehbaren Handlungsbedarf gibt, diesem mit ebenso konkreten, praktischen und im übrigen meist recht teuren Maßnahmen Rechnung zu tragen bereit ist.
Wir kommen damit zur Frage 9 des Abgeordneten Knaape:
Gedenkt die Bundesregierung bildungspolitische Konzepte, die in Abstimmung mit dem Deutschen Jugendinstitut e. V., München, von freien Trägern regional durchgeführt werden, wie z. B. das Modellprojekt Jugendliche im Übergang von der Schule in den Beruf in der Stadt Brandenburg an der Havel, das sich um Jugendliche vor und nach Schulabgang ohne Abschluß bemüht, zu unterstützen?
Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär: Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft fördert seit dem 1. Januar 1992 beim Deutschen Jugendinstitut, München, das Projekt betreffend Hilfen beim Übergang von der Schule in den Beruf im regionalen Kontext. Darüber hinaus wird das Projekt auch mit EG-Mitteln, mit Landes- und kommunalen Mitteln unterstützt. In diesem Projekt wurde ein Verbund der fünf Städte Berlin, Brandenburg, Duisburg, Jena und München eingerichtet. Es hat die Umsetzung der in der Frage erwähnten bildungspolitischen Konzepte zum Ziel. Dabei handelt es sich um die Entwicklung und Erprobung innovativer und zugleich regional differenzierter Modelle. Das Projekt soll auch in den nächsten Jahren fortgeführt werden.
Zusatzfrage? — Nein. — Vielen Dank, Herr Dr. Lammert.Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Die Beantwortung der Fragen erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.Die Frage 10 des Abgeordneten Ortwin Lowack wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen zur Frage 11 des Abgeordneten Dr. Christoph Schnittler:Stimmt die in Nr. 31/1993 abgedruckte Behauptung des „Spiegel", daß in Bundesdienststellen 2 597 ehemalige StasiMitarbeiter beschäftigt und daß von diesen bereits 452 ins Beamtenverhältnis übernommen worden sind?Herr Staatssekretär.
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15088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schnittler, Ihre Frage 11 möchte ich wie folgt beantworten: Es trifft zu, daß zum 1. April 1993 insgesamt 2 597 ehemalige MfS-Mitarbeiter in der Bundesverwaltung einschließlich Bahn und Post tätig waren, davon 454 als Beamte.
Lassen Sie mich dazu folgende Erläuterungen geben: Erstens. Die Weiterbeschäftigung von ehemaligen MfS-Mitarbeitern ist eine Folge der Regelung im Einigungsvertrag. Danach kann ein Arbeitsverhältnis in der öffentlichen Verwaltung fristlos gekündigt werden, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Das bedeutet: Die Partner des Einigungsvertrages, also auch die Vertreter der ehemaligen DDR, haben keinen generellen Ausschluß aus dem öffentlichen Dienst gewollt, sondern in jedem Fall eine Einzelfallprüfung.
Zweitens. 7 007 ehemalige Mitarbeiter des MfS, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung von der Verwaltung der ehemaligen DDR übernommen worden sind, sind in der Zwischenzeit entlassen worden. In diesen Fällen sind also nach der Einzelfallprüfung Entlassungen erfolgt.
Drittens. Die ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die noch in der Bundesverwaltung verblieben sind, sind meistens in untergeordneten Funktionen. 2 538 Beschäftigte gehören der Ebene des mittleren oder einfachen Dienstes an, während nur 59 der Ebene des höheren oder gehobenen Dienstes zuzurechnen sind.
Letztlich. Wesentliche Kriterien bei der Einzelfallprüfung jedes Betroffenen sind im Rundschreiben des Bundesministeriums des Innern vom 26. Februar 1991 festgelegt. Sie stellen auf die Art der Tätigkeit ab, die der Betroffene früher für das MfS ausgeübt hat.
Zusatzfrage, Herr Schnittler.
Herr Staatssekretär, halten Sie nicht zumindest das Verfahren für bedenklich, einen Teil der Betroffenen zu verbeamten, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo das Ausmaß ihrer Tätigkeit und zum Teil der damit angerichtete Schaden noch gar nicht bekannt ist, wo nachträglich durchaus weitere Anwürfe kommen können, Sie das Beamtenverhältnis nach dem gegenwärtigen Recht aber überhaupt nicht mehr lösen können?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wenn jemand in das Beamtenverhältnis übernommen wird, werden bestimmte Voraussetzungen geprüft, nach unserem Beamtenrecht u. a. die Voraussetzung, daß sich der Bewerber um ein Beamtenverhältnis allezeit zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt. Würde sich später herausstellen, daß eine der Voraussetzungen nicht vorliegt, so wäre ein Fortfall der Geschäftsgrundlage für die Berufung in das Beamtenverhältnis mit den entsprechenden Konsequenzen gegeben.
Dann kommen wir zur Frage 12 des Abgeordneten Schnittler:
Wie schätzt die Bundesregierung das mit der Einstellung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in Bundesdienststellen verbundene Sicherheitsrisiko ein, und welche Maßnahmen wurden getroffen, um ein mögliches Sicherheitsrisiko auszuschalten?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schnittler, zur Frage 12 folgende Antwort: Soll ehemaligen Stasi-Mitarbeitern eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit entweder zugleich mit der Einstellung in den Bundesdienst oder später übertragen werden, dann sind diese Mitarbeiter nach den Sicherheitsrichtlinien der Bundesregierung in der Bekanntgabe vom 2. Januar 1991 zuvor einer strengen Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen.
Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit liegt z. B. vor, wenn eine Person Zugang zu „VS Vertraulich" oder höher eingestuften Verschlußsachen erhält oder aber sich im Rahmen der beruflichen Tätigkeit Zugang zu solchen verschaffen kann.
Die Sicherheitsüberprüfung hat zum Ziel, festzustellen, ob Sicherheitsrisiken, d. h. Umstände gegeben sind, die es aus Gründen des staatlichen Geheimschutzes verbieten würden, der betroffenen Person eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit zuzuweisen. Ein Sicherheitsrisiko im Sinne dieser Vorschriften liegt z. B. vor, wenn tatsächlich Anhaltspunkte bei der betroffenen Person wie folgt vorliegen würden: Zweifel an der Zuverlässigkeit bei der Wahrnehmung der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit oder eine besondere Gefährdung durch Anbahnungs- und Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste, insbesondere die Besorgnis einer Erpreßbarkeit, oder aber Zweifel am Bekenntnis zur freiheitlich- demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes oder am jederzeitigen Eintreten für deren Erhaltung.
Inwieweit eine Tätigkeit für das ehemalige MfS ein Sicherheitsrisiko begründet, läßt sich nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls feststellen. Ich glaube, so waren auch die Partner für den Einigungsvertrag verblieben. Aus allen Verhandlungen ergibt sich, daß man wünschte, um den Menschen gerecht zu werden, die betroffen sind, daß jeder Einzelfall im Detail geprüft wird.
Zusatzfrage, Herr Schnittler
Herr Staatssekretär, Sie stimmen sicherlich mit mir darin überein, daß es eine sehr intensive Zusammenarbeit zwischen dem ehemaligen MfS und dem NKWD gegeben hat. Wenn Sie das Sicherheitsrisiko prüfen, dann ist dies sicherlich ein entscheidender Punkt. Meine Zusatzfrage: Ist die Bundesregierung eigentlich heute einigermaßen informiert über das Ausmaß und die Organisationsformen dieser Zusammenarbeit zwischen MfS und NKWD?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann hier nicht abschließend feststellen, ob wir bereits alles wissen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir uns im Interesse der Sicherheit der Staatstätigkeit darum bemühen und bemüht haben, soviel wie möglich davon kennenzulernen, und dies auch bei der
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Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidteben von mir beschriebenen Sicherheitsüberprüfung anwenden.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Duve.
Herr Staatssekretär, ich glaube, es ist sinnvoll, daß solche intensiven Sicherheitsüberprüfungen stattfinden. Meine Frage an die Bundesregierung: Ist die Bundesregierung bereit, mir eine Auskunft darüber zu erarbeiten — Sie können sie nicht sofort geben —, in welcher Weise sich seinerzeit bei der Benennung des Leiters des neu gegründeten Bundesnachrichtendienstes, der frühere Abwehrchef Ost, Gehlen, einer solchen oder ähnlichen Sicherheitsüberprüfung unterzogen hat?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Herr Kollege Duve, Sie haben es schon erwähnt: Ich kann zu dieser Frage sicherlich hier nicht auf Anhieb Stellung nehmen. Aber ich will gerne prüfen, inwieweit ich Ihnen dazu solide Informationen übermitteln kann.
Danke schön.
Welchen Stand haben die Bemühungen der Bundesregierung, die im Zusammenhang mit Wirtschaftsbeteiligungen der öffentlichen Hand bestehende sog. VBL-Problematik zu lösen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich möchte zunächst Sie, Frau Präsidentin, um Zustimmung bitten, daß ich die beiden Fragen zusammen beantworten kann.
Herr Abgeordneter Dr. Weng, sind Sie einverstanden?
Ja, wenn ich trotzdem vier Zusatzfragen stellen darf.
Dann rufe ich auch die Frage 14 des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng auf.
Welche Institutionen/Personen be- bzw. verhindern die für eine Lösung erforderliche Änderung der Satzung der VBL?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Es geht um die schon mehrfach diskutierte VBL-Problematik. Herr Kollege, Sie sprechen hier die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes an, die bekanntlich für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes eine an die Beamtenversorgung angelehnte Gesamtversorgung gewährleisten soll. Sie ist für die nicht beamteten Mitarbeiter des Bundes, der Länder und der Gemeinden bestimmt und damit auch — das ist für alles Weitere wichtig — an den spezifischen Strukturen des öffentlichen Dienstes ausgerichtet. Für sonstige Arbeitgeber, deren Aufgabenbereich nicht zum Kernbereich des öffentlichen Dienstes gehört, ist die Beteiligung an dieser Zusatzversorgung, d. h. die Versicherung ihrer Arbeitnehmer bei der VBL, unter bestimmten Bedingungen möglich gemacht worden. Dazu gehört die Anwendung des Tarifrechts des öffentlichen Dienstes sowie die überwiegende Beteiligung oder der maßgebliche Einfluß der öffentlichen
Hand. Will ein solcher Arbeitgeber nicht mehr an dieser Zusatzversorgung beteiligt sein oder fallen die Voraussetzungen seiner Beteiligung weg — beispielsweise durch Privatisierung unter Aufgabe des maßgeblichen Einflusses der öffentlichen Hand —, dann kann er kündigen, oder aber es kann ihm auch von der VBL gekündigt werden. Der Beteiligte hat dann Ausgleichszahlungen für die Renten und Anwartschaften zu leisten, welche die VBL weiter zu bedienen hat.
Für die Beantwortung beider Fragen, Herr Kollege, ist wichtig, daß die Satzungsbestimmungen der VBL, die das alles regeln, nicht von der Bundesregierung erlassen, sondern vielmehr nach Beratung der Tarifpartner vom Verwaltungsrat der Anstalt, der aus dem Vorsitzenden und zwölf weiteren Mitgliedern besteht, beschlossen werden. In diesem Gremium, das also alles festlegt, hat die Bundesregierung einen Sitz.
Die grundsätzliche Bindung des Zusatzversorgungssystems an die Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst — lassen Sie mich das abschließend zu beiden Fragen sagen — ergibt sich aus der Natur der Sache. So haben es die Partner immer gesagt. Es ist allerdings bekannt, daß in bestimmten Fällen der Aufgabe von Beteiligungen der öffentlichen Hand wegen Wegfalls der Beteiligungsvoraussetzungen der Wunsch besteht, doch weiter Mitglied der VBL zu bleiben. Das sind schwierige Fragenkomplexe, die eine ganze Reihe von Beteiligten angehen.
Ich muß Ihnen heute als Zwischenergebnis sagen: Allgemein verwertbare, brauchbare Lösungen, z. B. in Gestalt einer Garantie von Körperschaften des öffentlichen Rechts, sind bisher nicht gefunden worden. Der Bund als Arbeitgeber muß bei möglichem Ausscheiden von Beteiligten aus dem System der VBL auch darauf achten, daß das Ausscheiden nicht zu Lasten der verbleibenden Beteiligten erfolgt. In diesem Rahmen werden jedoch bei eventuellen Gesprächen die Ansätze, die schon zu Lösungen führen können, konsequent unterstützt.
Ich sage Ihnen, Herr Kollege, auch nachdem ich heute noch einmal mit den zuständigen Mitarbeitern in unserem Hause gesprochen habe: Ich nehme Ihre Anfrage zum Anlaß, die Verhandlungen, an denen die Bundesregierung, insbesondere das Bundesinnenministerium und das Bundesfinanzministerium, beteiligt ist, soweit wie möglich zu beschleunigen. Ich bin, Herr Kollege Weng, auch gern bereit, Ihnen einmal die Beteiligten, die zwölf Mitglieder des zuständigen Gremiums zu nennen, das über die gesamte Geschäftspolitik der VBL befindet.
Die erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich akzeptiere gern, daß Sie mir die Beteiligten, vielleicht in schriftlicher Form, nennen werden. Ich habe, da Sie bei der Beantwortung meiner Frage am Kern etwas vorbeigeredet haben, die Frage: Hält es die Bundesregierung für möglich, daß die Satzung der VBL rechtswidrig ist, weil sie im Rahmen der neueren Rechtsprechung zu betrieblicher Altersoder Zusatzversorgung quasi eine Enteignung der
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Dr. Wolfgang Weng
öffentlichen und auch der privaten Aktionäre bedeutet, und schon deswegen geändert werden muß?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, diesen Tatbestand kenne ich nicht. Ich bin aber gern bereit, Ihnen dazu eine Stellungnahme aus unserem Hause zu vermitteln.
Recht herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Meine zweite Zusatzfrage: Können Sie mir erklären, warum es nicht zu einer einfachen Lösung derart kommen kann, daß für seither Versicherte weiter bezahlt und weiter geleistet wird, aber für neue Mitarbeiter der betreffenden Firmen in überwiegend öffentlichem Eigentum dann eine betriebliche Regelung getroffen wird? Warum kann es nicht zu einer solchen Aufspaltung kommen? Das wäre die einfachste Lösung.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Weng, auch mir erscheint das, was Sie gerade dargestellt haben, als eine verständliche und einfache Lösung. Nur muß ich darauf verweisen, daß zwölf Beteiligte mit ihren Organisationen darüber befinden, daß das eine Riesenmenge von Menschen in den Betrieben, Verwaltungen und Dienststellen angeht und daß hier viele individuelle Umstände berücksichtigt werden müssen. Ich bin aber bereit, da ich Ihnen eine schriftliche Information zugesagt habe, auch dazu eine Einschätzung unseres Hauses mitzuteilen.
Herr Staatssekretär, ich kann Sie leider nicht so ganz in Gnaden gehen lassen.
Ich frage Sie noch in Unkenntnis der genannten Personen: Sind Sie auf Grund Ihres jetzigen Kenntnisstandes der Auffassung, daß diese Personen oder die von ihnen vertretenen Institutionen in diesem Zusammenhang Gruppeninteressen vertreten und damit dem öffentlichen Interesse schaden?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich will hier nicht, Herr Kollege Weng, ein Verdikt aussprechen, daß diese Menschen dem öffentlichen Interesse schaden. Ich will nur eines sagen. Wir alle — das werden wir unseren Kollegen in diesem Gremium deutlich machen — müssen ein Interesse daran haben, daß eine — darum geht es im Kern bei Ihrer Frage — sinnvolle Privatisierung nicht behindert wird.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Die letzte Frage muß ich jetzt etwas abschwächen, weil ich Ihnen zwar nicht Hausaufgaben, wohl aber eine Anregung mit auf den Weg geben will. Halten Sie es für möglich, in diesem Gremium dahin gehend vorzutragen, daß bei öffentlichen Wirtschaftsunternehmen notfalls gleichnamige Auffanggesellschaften gegründet werden könnten, deren Mitarbeiter dann betrieblich zusatzversichert sind, und auf diesem Weg Zug um Zug öffentliche Wirtschaftsbetriebe der VBL entzogen werden könnten?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Auch dieser Sachverhalt sollte geprüft werden, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren.
Ich habe befürchtet, daß Sie mir nicht mehr sagen.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Ich bin kein Rentenexperte, lieber Herr Kollege. Aber ich will mich bemühen, damit Privatisierung, wo sie sinnvoll ist, nicht behindert wird.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung den Beschäftigten im öffentlichen Dienst zusichern, daß, welche Diskussionen und Verhandlungen auch immer laufen, denjenigen, die Ansprüche nach VBL erworben haben, diese im Alter zugute kommen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Lieber Herr Kollege Lüder, mir ist kein Tatbestand bekannt, der hindern würde, daß die Menschen, die einen Anspruch haben, diesen Anspruch auch erfüllt bekommen.
Ich komme zur Frage 15 des Abgeordneten Freimut Duve.
Wie bewertet die Bundesregierung die vermehrten Vorfälle, in denen rechtsextremistische Gruppierungen die Reichskriegsflagge als Ersatz-Nazi-Symbol verwendeten?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, hier geht es um die Reichskriegsflagge. Ich beantworte Ihre Frage 15 wie folgt.
Die Bundesregierung beobachtet mit großer Sorge den Mißbrauch der Reichskriegsflagge durch extremistische Gruppierungen. Nach den Beobachtungen der Bundesregierung wird von den Rechtsextremisten in erster Linie die Reichskriegsflagge aus der Zeit vor 1935 gezeigt. Diese Reichskriegsflagge wurde in der Zeit von 1867 bis 1871 von der Marine des Norddeutschen Bundes und dann in der Folgezeit von der Kaiserlichen Marine verwendet.
Die Bundesregierung verurteilt diesen Mißbrauch der Reichskriegsflagge durch Rechtsextremisten nachdrücklich. Die Bundesregierung begrüßt es, daß eine Reihe von Bundesländern ihre Polizeibehörden bereits im Erlaßwege dazu aufgefordert hat, gegen den Mißbrauch der Reichskriegsflagge im Rahmen der polizeilichen Vorschriften vorzugehen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Duve.
Kann ich aus dem Wort „Mißbrauch" und Ihren Erläuterungen, Herr Staatssekretär, entnehmen, daß die Bundesregierung nicht beabsichtigt, ihrerseits in dieser Angelegenheit des bewußten Zeigens eines Symbols, das „Reichskriegsflagge" genannt wird, tätig zu werden?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht darf ich, damit wir das gesamte Bild hier vor Augen haben, dann gleich die nächste Frage mit beantworten: Es entgehen Ihnen ja keine Zusatzfragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15091
Dann rufe ich Frage 16 des Abgeordneten Duve auf.
Plant die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode die Reichskriegsflagge zu verbieten, wenn nicht, mit welcher Begründung kommt sie zu einer abschlägigen Beurteilung?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, zu der Frage, plant die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode, die Reichskriegsflagge zu verbieten, möchte ich folgendes antworten: Von den Nationalsozialisten wurde durch Verordnung vom 5. Oktober 1935 die Reichskriegsflagge neu gestaltet. Diese Reichskriegsflagge aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigt u. a. das Hakenkreuz in dieser Flagge. Diese Verwendung fällt eindeutig unter die Strafvorschrift des § 86a des Strafgesetzbuches. Diese Strafvorschrift erfaßt aber nicht das Verwenden der alten Reichskriegsflagge ohne das Hakenkreuz.
Die Bundesregierung beabsichtigt, wie Sie sicher wissen, § 86a Strafgesetzbuch, der u. a. das Verwenden von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen unter Strafe stellt, dahin zu ergänzen, daß auch das Verwenden von solchen Kennzeichen unter Strafe gestellt wird, die den unter § 86a genannten Kennzeichen zum Verwechseln ähnlich sind.
Ob nun auch die Reichskriegsflagge in der Form, in der sie von Rechtsextremisten in aller Regel verwendet wird, nämlich in der Ausgestaltung vor dem 5. Oktober 1935, d. h. ohne Hakenkreuz, in diese Vorschrift einbezogen wird, wird von der Ausgestaltung des zu novellierenden § 86a Strafgesetzbuch im weiteren Gesetzgebungsverfahren abhängen. Dies ist noch in der Beratung. Ich habe gerade mit der federführenden Bundesjustizministerin darüber gesprochen. Davon wird abhängen, wie diese Vorschrift im einzelnen gestaltet werden soll.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in der Antwort auf meine vorige Frage haben Sie historische Erläuterungen gegeben, die aufzeigen, wie leicht man selber in die aufgestellte Falle derjenigen geht, die dieses Symbol für sich nutzen, weil sie ein anderes nicht benutzen wollen; man könnte viel darüber philosophieren. Ist die Bundesregierung bereit, sozusagen aktiv diese Falle zu zersprengen und zu sagen: Diese Reichskriegsflagge, unabhängig von ihrer Geschichte, ist, wenn sie politisch in dieser Weise benutzt wird, zu verbieten und analog zu anderen bereits verbotenen Symbolen zu sehen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich habe mich im Vorfeld der Beantwortung Ihrer Frage gerade mit den Fällen beschäftigt, die wir hier in unserer Wertung sicherlich im Auge haben. Ich muß sagen: Es wird immer wieder sehr darauf ankommen, in welchem Zusammenhang diese Reichskriegsflagge gezeigt wird. Es wird also auf die Situation ankommen.
Ich will das einmal an Beispielen deutlich machen: Wenn Menschen, die nationalsozialistisches Gedankengut verbreiten, sich bei Demonstrationen oder Aufmärschen dieser Flagge bedienen, dann ist dieser Mißbrauch sicherlich nachdrücklich zu verurteilen und zu verhindern.
Es kann auf der anderen Seite Fälle geben, wo ein Soldat der Marine den letzten Wunsch hatte, daß die Flagge, unter der er einmal für sein Vaterland Soldat war, auf seinen Sarg gelegt wird. In diesem Falle würde ich nicht von einem Mißbrauch der Reichskriegsflagge sprechen; denn diese Flagge war immerhin noch unter Reichspräsident Ebert und anderen demokratischen Instanzen in der Anwendung.
Es wird also ganz wesentlich auf die Situation ankommen. Wir müssen uns einig sein, den Mißbrauch zu verhindern und den Extremisten, die diesen Mißbrauch betreiben, das Handwerk zu legen.
Herr Abgeordneter Duve, haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Ich habe insgesamt vier, und dies wäre dann meine vierte.
Ja, okay. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, erkennen Sie nicht, daß die häufige Verwendung des Begriffs „Mißbrauch" zeigt — Sie haben das eben an diesem Beispiel auch deutlich gemacht —, daß Sie sozusagen einen sinnvollen, verständlichen, nachvollziehbaren Gebrauch dieser Flagge sehen und daß Sie sich wiederum in der von den Rechtsextremen aufgestellten Falle befinden und bewegen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich konnte eben schon darauf hinweisen: Alles das, was Sie jetzt ansprechen, haben wir derzeit in der Prüfung. Wir werden uns in den beteiligten Häusern Mühe geben, diese Prüfung schnellstens abzuschließen. Sie wissen, es gibt bereits Gesetzesinitiativen zu dieser Vorschrift. Die beziehen sich aber nicht auf die Reichskriegsflagge, sondern auf andere verwechselbare Symbole.
Daraus mögen Sie ersehen, daß die Bundesregierung in ihrer Gesamtheit alles tun will — das hat sie auch in ihrer Stellungnahme zur Initiative des Bundesrates gesagt —, um zu vermeiden, daß Symbole von Rechtsextremisten mißbraucht werden oder daß Symbole verwechselt werden.
Bitte gestatten Sie, daß ich noch darauf hinweise, daß für diesen konkreten Sachverhalt der Reichskriegsflagge das noch ein Stück weit geprüft wird. Ich bin sicher, wir werden zu Ergebnissen kommen, die hier mit guten Gründen dargelegt werden können.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns zutreffend darauf hingewiesen haben, daß es seit geraumer Zeit einen vollkommen fertig ausgearbeiteten Gesetzentwurf der Justizmini-
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15092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Dr. Burkhard Hirschsterin gibt, durch den die Anwendung oder das Vorzeigen abgewandelter Symbole des Nationalsozialismus unter Strafe gestellt werden soll und in dem eine ganze Reihe anderer konkret ausformulierter Vorschläge im Zusammenhang mit der Bekämpfung rechtsradikaler Bestrebungen enthalten sind, können Sie uns heute sagen, ob der Bundesminister des Innern und der Bundesminister der Finanzen inzwischen diesem Gesetzentwurf zustimmen und wann er endlich als Vorlage der Bundesregierung dieses Haus erreichen wird?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hirsch, ich durfte schon darauf hinweisen, daß die Beratungen zu dieser Materie in der gesamten Bundesregierung noch andauern. Wir werden uns darum bemühen, so schnell, wie das entsprechend der Materie möglich ist, zu einem Ergebnis zu kommen und es dann diesem Hause auch vorzulegen. Ich kann aber den Beteiligten in der Bundesregierung außerhalb des Bundesministers der Justiz nicht vorgreifen. Das werden Sie als langjähriger Minister verstehen.
Aber was ist mit dem Innenminister? Sie vertreten hier doch den Innenminister.
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Wir sind dabei, das mit den anderen Kollegen zu prüfen, weil wir die verschiedenen Aspekte, die ich eben aufgewiesen habe, noch gegeneinander abwägen müssen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Gernot Erler.
Herr Staatssekretär, könnten Sie den Mitgliedern des Hohen Hauses einmal erklären, wie es kommt, daß eine ganze Reihe von Bundesländern auch öffentlich erklärt hat, daß sie das Zeigen der Reichskriegsflagge verboten haben, und können Sie bestätigen, daß dies in der Regel nur ein Hinweis darauf ist, daß das Zeigen der Reichskriegsflagge eine Störung der öffentlichen Ordnung in diesen Bundesländern darstellt?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach den mir vorliegenden Berichten haben die Bundesländer den Mißbrauch der Reichskriegsflagge durch Extremisten — wie das eben schon angesprochen wurde — verboten, untersagt. Ich habe diese Maßnahmen gegen den Mißbrauch der Reichskriegsflagge hier ausdrücklich begrüßt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Wolfgang Lüder.
Herr Staatssekretär, —
So, jetzt ist es soweit.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für — —
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Zur Erreichung von Chancengleichheit nehme auch ich mein Mikrofon weg. Wir können uns auch so verständigen.
Herr Staatssekretär, da wir morgen abend eine Debatte über Rechtsradikalismus führen: Halten Sie es für der Sache dienlich, wenn wir das Thema dann noch einmal etwas im Sinne der Fragestellung thematisieren? Meinen Sie, daß wir dann schneller zu einer Entscheidung der Bundesregierung kommen?
Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lüder, Sie kennen meinen Respekt als Mitglied dieses Hauses — das sage ich jetzt bewußt als Abgeordneter des Deutschen Bundestages — vor der Freiheit und den Möglichkeiten der Kolleginnen und Kollegen. Den Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag ist es unbenommen — die Frau Präsidentin hört es mit großer Freude —, das, was sie für notwendig halten, hier anzuschneiden, zu artikulieren und zu beleuchten. Oft kann die Bundesregierung daraus auch nützliche Hinweise für ihre Auf gaben entnehmen.
Nun hat der Kollege Urbaniak noch eine Zusatzfrage. — Wir haben die Zeit jetzt überschritten. Weiterer Zeitverbrauch würde auf die Aktuelle Stunde angerechnet werden. Ich nehme an, daß das niemand wünscht, so daß nach dieser Zusatzfrage die Fragestunde beendet ist.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, daß die Bundesregierung die Dinge in der Konzeption und im Entwurf fast fertig hat. Muß es eigentlich so lange dauern, bis Sie die entsprechenden Entwürfe hier vorlegen und überhaupt ein Gesamtkonzept entwickeln, wie man nicht nur dieses Übel beseitigt, sondern schärfer gegen den Rechtsradikalismus vorgehen kann?Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat bei mehreren Gelegenheiten deutlich gemacht, daß sie den Rechtsextremismus verurteilt und dagegen vorgeht. Bei der Gesetzesvorlage, die Sie jetzt ansprechen, geht es ja nicht nur um die Reichskriegsflagge, sondern noch um andere Dinge. Wir sind es dem Rechtsstaat schuldig, daß wir bei der von uns allen — so denke ich — gewollten Bekämpfung des Rechtsextremismus so solide arbeiten, wie es das Gesetzgebungsverfahren erfordert. Es wird nichts verzögert. Wir werden uns
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Parl. Staatssekretär Dr. Horst WaffenschmidtMühe geben, die Dinge schnell zu einem Abschluß kommen zu lassen.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Lehrstellensituation in Deutschland
Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. haben diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Abgeordneten Wolfgang Meckelburg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erster Redner im zweiten Versuch, im neuen Plenarsaal überzukommen, hat man natürlich zunächst die Versuchung, die Technik auszuprobieren. Ich will das aber nicht tun, da wir uns mit einem sehr aktuellen Thema, nämlich der Lehrstellensituation in Deutschland, beschäftigen wollen. Es ist auch schön, daß bei dieser ersten wirklichen Debatte hier ein Signal in die neuen Bundesländer gehen kann. Denn das Kabinett hat heute ein Ausbildungsprogramm Ost beschlossen, um den Problemen des Ausbildungsstellenmarktes Ost abzuhelfen und um auch in diesem Jahr das Versprechen der Bundesregierung einzuhalten, daß jeder Ausbildungswillige in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz erhält.
— Bisher haben Sie sie immer beantragt, aber wir wollen Ihnen diesmal auf die Sprünge helfen, damit Sie nicht nächste Woche die Fragen stellen müssen. Wir machen es diese Woche, damit es ganz aktuell in die neuen Bundesländer hinübergeht.
Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt ist natürlich in den neuen und in den alten Bundesländern nach wie vor unterschiedlich. Während wir zunächst auch in den alten Bundesländern zu Beginn der 80er Jahre einen Lehrstellenmangel hatten, gibt es hier jetzt das umgekehrte Verhältnis, daß wir nämlich ein übergroßes Angebot an Ausbildungsplätzen haben. Es gibt mehr Ausbildungsplätze als Lehrstellenbewerber. Ich finde es erfreulich, daß es auch in einigen Orten in den neuen Bundesländern diesen Trend gibt. In Gera, Plauen, Wittenberg und Magdeburg gibt es inzwischen mehr offene Stellen als noch nicht vermittelte Bewerber. Das zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind.
— Nein, das ist keine Statistik der DDR; ich schätze einmal, daß wir beide die nicht mehr benötigen.In den neuen Ländern besteht natürlich die Schwierigkeit, im Verlaufe eines jeden Jahres das Lehrstellenangebot und die Nachfrage in Übereinstimmung zu bringen. Wir sehen es seitdem als unser politisches Ziel an, in jedem Jahr die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen, und zwar nicht durch einfachen statistischen Ausgleich — der wäre ja leicht herzustellen — und auch nicht dadurch, daß wir einen simplen Austausch zwischen Ost und West vornehmen, nein, dadurch, daß wir uns bemühen, so viele betriebliche Ausbildungsplätze wie möglich zu schaffen. Das geschieht auch dadurch, daß vielfältige Hilfen des Staates, von Bund und Ländern, gegeben werden. Hier hat der Bund sich besonders hervorgetan. Im Jahre 1991 gab es ein Zuschußprogramm des Bundes für die Bereitstellung von zusätzlichen Lehrstellen in kleineren Betrieben; 1991 und 1992 gab es staatliche Förderung für außerbetriebliche Ausbildungsplätze nach dem alten § 41 c AFG DDR.Aber eines haben wir immer im Vordergrund gesehen: den Umbau in Richtung Soziale Marktwirtschaft von Anfang an auch auf dem Lehrstellenmarkt voranzubringen, d. h. so viele Ausbildungsplätze betrieblicher Art wie möglich im Rahmen der dualen Berufsausbildung zur Verfügung zu haben.
Die Trendwende ist gelungen, wenn man den Einsatz staatlicher Mittel sieht. Wir haben 1991 noch 35 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze gehabt; 1992 ist diese Zahl auf 16 000 zurückgegangen. Das heißt, die Trendwende geht auch dahin, daß es gelungen ist, mehr privates und weniger staatliches Engagement zu bekommen.Die Rechtsgrundlage des AFG DDR ist in diesem Jahr weggefallen. Deswegen war es in diesem Jahr zunächst einmal besonders schwierig, in der Situation das Richtige zu tun. Ich glaube, daß wir die zeitliche Abfolge richtig eingehalten haben. Wir haben an dem Willen festgehalten, so viele betriebliche Ausbildungsstellen wie irgend möglich in diesem Jahr zu bekommen.Herr Kuhlwein, Sie haben heute morgen im Ausschuß gesagt, wir hätten damit natürlich die jungen Leute in einer gewissen Unsicherheit gelassen. Ich frage: Was wäre die Alternative gewesen? Sie, meine Damen und Herren von der SPD, hätten, wenn ich das richtig sehe, bereits im Frühjahr ein Programm des Staates für berufliche Bildung aufgelegt und damit vordergründig möglicherweise Sicherheit geschaffen. Warum „vordergründig"? Weil es nur eine Sicherheit des Zahlenausgleichs gewesen wäre. Sie hätten mit höheren Staatsausgaben möglicherweise verhindert, daß in der Zwischenzeit noch mehr betriebliche Arbeitsplätze eingerichtet worden wären.Wir haben damals gesagt: Zunächst ist die Wirtschaft gefordert. Jetzt ist genau der Zeitpunkt gekommen, an dem das Versprechen des Bundeskanzlers, daß jeder Lehrstellenbewerber in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz bekommen soll, eingelöst werden kann.
Ich will darauf nicht im Detail eingehen, sondern nur zwei oder drei Daten nennen.
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15094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Wolfgang MeckelburgEs ist ein 500-Millionen-DM-Programm für 10 000 Jugendliche. Wenn man die Zahl, die ich eben genannt habe, befrachtet, ist deutlich erkennbar, daß wir uns stärker in Richtung auf die betriebliche Ausbildung bewegen und der staatliche Einsatz zurückgenommen wird. Aber er ist jetzt genau in dem Moment da, wo er gebraucht wird. Wir werden dieses Programm so schnell wie möglich auch mit Hilfe der Länder umsetzen.
Dabei muß ich sagen: Es wäre schön gewesen, wenn es, Frau Odendahl, zu einer Lastenteilung fifty-fifty gekommen wäre, wenn die Länder sich zu 50 % beteiligt hätten. Es ist leider wieder so, daß der Bund die Mittel zu 75 % tragen muß und die Länder sich nur mit 25 % beteiligen.
Auch in diesem Jahr wird es aller Voraussicht nach gelingen, den Ausbildungsstellenmarkt im Osten auszugleichen und jedem willigen Bewerber eine Lehrstelle zu geben. Dies wird auch in Zukunft Richtschnur für unsere Politik sein.Schönen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Stephan Hilsberg das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann den Anlaß der heutigen Aktuellen Stunde nicht richtig begreifen, denn die Situation für die Lehrlinge in Ostdeutschland ist viel zu ernst, als daß sie heute irgend jemandem Anlaß zum Jubeln geben könnte. Jeder weiß, warum Lehrstellen in Ostdeutschland Mangelware sind: Solange wichtige Bereiche der Industrie am Boden liegen — und das ändert sich bei der jetzigen Politik der Bundesregierung nicht so schnell —, gibt es eben nicht genug Lehrstellen. Da muß nachgeholfen werden, wenn man verhindern will, daß die Jugendlichen entweder auf der Straße liegen oder allesamt nach Westdeutschland abwandern.Zweitens ist auch sonnenklar, daß man für diese Hilfe einen zweiten Ausbildungsmarkt schaffen und erhalten muß. Das wußte auch die Bundesregierung. Aber nach quälend langen Monaten der Untätigkeit, als sie immer nur Schwarzer Peter spielte, sich der Abwanderungsdruck für die Jugendlichen verstärkte und viele Jugendliche ohne Ausbildungsplatz den Gang nach Westdeutschland angetreten haben, hat die Bundesregierung glücklicherweise — man höre und staune — in diesem Monat endlich gehandelt. Aber sie hat sich dabei wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert.45 000 Lehrlinge haben zur Zeit den Gang in die alten Bundesländer angetreten. Die Abbrecherquote ist ungeheuer hoch; sie ist nicht vertretbar.Wenn sich die Bundesregierung dafür heute feiern lassen will, dann ist das in meinen Augen zynisch gegenüber denjenigen Jugendlichen, die von dem neuen Lehrstellenprogramm überhaupt nicht erfaßtsind. Das sind immerhin 10 000. Das können Sie sich auch vom DGB vorrechnen lassen; die Zahlen liegen auf dem Tisch.
Diesen Jugendlichen bleibt nichts anderes übrig, als — wie viele andere vor ihnen — den Weg in die alten Bundesländer anzutreten oder aber ihrer eigenen Lebensplanung oder ihren persönlichen Neigungen zu entsagen und notgedrungen eine ungeliebte Lehrstelle anzutreten. Für die Jugendlichen ist das eine harte Zumutung, und mit freier Lehrstellenwahl, wie sie einmal versprochen wurde, oder mit Chancengleichheit zwischen Ost und West hat das überhaupt nichts zu tun.Die neue Lehrstelleninitiative der Bundesregierung behält in schöner Kontinuität all die Mängel ihres Vorgängerprogramms. Weder ist die Mitbestimmungsfrage gelöst, noch wird die Ausbildung inhaltlich verbessert, noch haben die Jugendlichen vergleichbare Einkommen wie ihre Kollegen im dualen Ausbildungssystem.Zusätzlich belastet das neue Lehrstellenprogramm der Bundesregierung die neuen Länder mit erheblichen Kosten, obwohl diese die einzigen waren, die rechtzeitig Förderprogramme für die Schaffung neuer Lehrstellen in ihren Ländern ins Leben gerufen haben. Aber die neuen Länder stehen ja mit dem Rücken an der Wand, so daß sie von der Bundesregierung regelrecht erpreßt werden können. Das geht nach der Devise: Entweder du bezahlst, oder du kriegst deine Ausbildungsplätze nicht.Eine große Leistung ist Ihr Lehrstellenprogramm wirklich nicht. Zugegeben: Für die Behebung der Lehrstellenmisere hat in Ostdeutschland niemand ein Patentrezept. Des Kanzlers Wort von den blühenden Landschaften — noch jedermann im Ohr — ist erst einmal in weite Ferne gerückt. Schade für diejenigen in Ostdeutschland, die sich auf die blühenden Landschaften gefreut haben und sich nun grob getäuscht sehen.Können Sie, meine Damen und Herren, dieses verlorengegangene Vertrauen jemals zurückbekommen?
— Was heißt „solche Reden"? Wissen Sie noch, wie Sie einmal durch die Lande gegangen sind? Den Leuten sind Augen und Ohren übergegangen wegen der Versprechen, die ihnen gemacht wurden. Jetzt — das kann man aus allen Mündern hören — ist der Frust ungeheuer groß. Die Leute fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse.
Und Sie fragen mich, wie ich hier so reden kann! Wer ist denn für die Misere verantwortlich? Natürlich war es in erster Linie die SED. Aber diese Vereinigungspolitik ist ein einziger Skandal. Es ist eine Schande für Deutschland, was da gelaufen ist.
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Stephan HilsbergDaß man sich heute für ein Lehrstellenprogramm feiern lassen will, das wirklich nur die dringendste Not behebt, um einigermaßen gerade dastehen zu können, urn das Gesicht zu wahren, kann ich wirklich nicht verstehen.
— Wir haben ja Vorschläge gemacht. Wir haben dieses Lehrstellenprogramm, das Sie heute verkündet haben, seit Monaten eingefordert. Wir sind immer nur der Schwarzseherei beschuldigt worden. Wissen Sie, warum die Bundesregierung mit Ihrem Programm herauskam? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen; die Industrie- und Handelskammern sagen es Ihnen j a auch. Sie sagen: Der Druck muß groß sein, sonst nehmen die Jugendlichen das schlechte Lehrstellenangebot, das zur Zeit besteht, nicht an. Das „Blaukittelsyndrom" — in den alten Bundesländern ein altbekanntes Problem — existiert inzwischen auch in den neuen Bundesländern. Natürlich kann ein Jugendlicher aus Bautzen eine Fleischerlehrstelle annehmen, die in Hoyerswerda liegt. Natürlich, so gerechnet ist genug Ausbildungsplatzkapazität vorhanden, so daß Sie die letzten 10 000 Jugendlichen, die durch Ihr Programm nicht erfaßt sind, auch noch unterbringen können.Wir haben vor zwei Monaten einen Antrag eingebracht, in dem sowohl unsere alten Vorschläge enthalten sind und zusätzlich neue gemacht wurden. Wir sind nicht in der Lage, dieses Programm heute mit Ihnen zu diskutieren, weil Sie nicht bereit sind, das in der Plenardebatte zuzulassen. Statt konstruktive Vorschläge zu diskutieren, die wir eingebracht haben, wollen Sie sich mit Ihrem mangelhaften Ausbildungsprogramm feiern lassen. Ich kann das nicht einsehen. Meine Damen und Herren, ich halte das nicht für seriös. Das, was Sie heute gemacht haben, kann höchstens die Note mangelhaft bekommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dirk Hansen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die Ehrlichkeit, Herr Keller. Das ist völlig richtig. Dieses war wirklich ein Beitrag zur Unehrlichkeit. Dieses war so unehrlich wie man es überhaupt nur darstellen kann.
Verehrter Herr Kollege Hilsberg, wie kommen Sie heute mit einem solchen Musterbeitrag von Defaitismus an dieses Rednerpult, zu einem Zeitpunkt, Mitte September, wo über Monate hinweg die Kassandren auf Ihrer Seite — man kann sich an die Debatte vom vergangenen Jahr erinnern — immer wieder geunkt haben? Und was ist das Ergebnis dieser Debatte? Die Unkenrufe entlarven sich als solche; denn dies ist doch nichts anderes als tatsächlich ein Erfolg. Ob man ihn feiern will oder nicht, darum geht es überhaupt nicht, Herr Hilsberg. Nein, es geht darum, daß sich das Versprechen der Bundesregierung, von Bundesminister Ortleb und von Kanzler Kohl erfüllt hat. Es gehtdoch nicht darum, wie Sie es gerade wieder herbeizitiert haben, daß Sie so bravourös Programme gefordert hätten. Es ist doch nicht die Entscheidung, ständig vorzeitige Programme zu fordern, ohne sich an die eigentlich Verantwortlichen zu wenden. Wer ist denn das? Es findet nicht nur Wirtschaft in der Wirtschaft statt, sondern auch Ausbildung findet in der Wirtschaft statt. Die Wirtschaft hat die Pflicht, sie ist aber auch die Selbstverpflichtung eingegangen, verstärkt Lehrstellen anzubieten. Also, das vergangene Vierteljahr als Monate der Untätigkeit zu bezeichnen ist nun wirklich der Hohn aller Wirklichkeit.
In einem Nebensatz haben Sie sich dann selber widersprochen, indem Sie sagen: Niemand hat ein Patentrezept. Der Staat und auch einzelne Parteien — Sie schon gar nicht — können kein Patentrezept anbieten. Wenden Sie diesen eigenen Satz auch auf sich selber und Ihre eigene Partei an! Ich frage mich wirklich, wer Ihnen diesen Beitrag geschrieben hat.Nein, nicht staatliche Programme, innerbetriebliche Ausbildung soweit wie nur irgend möglich heißt die Devise.
Horrormeldungen von der SPD, Herr Kuhlwein, und dem DGB, der vor 14 Tagen noch von einem Defizit von 40 000 gesprochen hat, und der Chefpropagandistin des Negativismus, der brandenburgischen Ministerin Hildebrandt, die sich geradezu als Chefmelderin falscher Prognosen betätigt, sind alle ins Leere gestoßen.
Wahrscheinlich bleiben jetzt 10 000 Plätze übrig. Anfang September waren es ungefähr 11 000. Sie zitieren die Gewerkschaften, ich zitiere den DIHT. Präsident Stihl geht davon aus, daß für das Lehrstellenprogramm vermutlich nur 5 000 Plätze notwendig sein werden. Ich komme gerade aus einem Gespräch mit Gewerkschaftsvertretern, mit der DAG. In diesem Gespräch ist auch Thema gewesen, daß die Verantwortung bei der Wirtschaft und nicht beim Staat zu suchen ist, wie Sie es nach dem Muster alten Denkens wieder formuliert haben.
Es gibt Probleme — die sind auch einzugestehen —regionaler und struktureller Art. Probleme regionaler Art heißt, daß es unterschiedliche Defizite gibt. Es gibt auch unterschiedliche Strategien. In Sachsen wird sogar ausdrücklich mit „Go West" geworben. Ich finde nicht, daß das ausdrücklich unterstützenswert ist. Es gibt strukturelle Defizite, die gewissermaßen einen westdeutschen Trend widerspiegeln: Der Run in die Büroberufe und die kaufmännische Ausbildung. Das heißt, es gibt einen Überhang an Lehrstellenangeboten in Bauberufen und im Metallbereich. Dieses nenne ich den westdeutschen Trend, der strukturell nicht besonders positiv ist. Insofern zeichnet sich in dieser Weise doch eine Angleichung der Verhältnisse an.Wichtig ist: Das Versprechen der Bundesregierung ist eingehalten worden. Die Kabinettsvorlage vom
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Dirk Hansenheutigen Tag ist eine Gemeinschaftsinitiative zur ergänzenden außerbetrieblichen Ausbildung.Es muß klar sein, daß ein solches Programm nur ein Übergangsprogramm, eine Nothilfe ist, nicht aber die Normalität, wie Sie sie sich offensichtlich vorstellen.10 000 Förderfälle sind vorgesehen. Ein Riesenprogramm von 500 Millionen DM wird für die Jahre bis 1997 aufgelegt. 250 Millionen DM davon kommen vom Bund und aus EG-Mitteln. Die Mitfinanzierung der Länder — darauf wird noch hingewiesen werden; zum Teil ist dies auch schon gesagt worden — wird immerhin sichergestellt, wobei sie unterproportional gefordert sind, da sie sich erst 1995 zur Hälfte beteiligen müssen.Berufsstrukturell soll besonders bei Mädchen und Frauen ein Schwerpunkt gelegt werden.Mein Fazit heißt:Erstens. Bundesregierung und Koalition können wieder, wie in den beiden vergangenen Jahren, an der Erfüllung ihrer Versprechen gemessen werden. Nicht umsonst hat auch die „Frankfurter Rundschau" vor wenigen Tagen Bundesminister Ortleb als einen der wenigen bezeichnet, von dem die Leute im Osten noch fest und vertrauensvoll annehmen können, daß er sich in den Sachlagen dort auskennt. Ich könnte das Zitat bringen, aber das würde jetzt zu lang.
Zweitens. Im Blick auf ganz Deutschland darf dieser Erfolg nicht den Blick dafür verstellen, daß es bei allen Nöten und Defiziten im Osten zuwenig Lehrstellenbewerber im Westen gibt.Drittens. Das bedeutet: Die Reform der Bildungspolitik ist anzumahnen. Der Bildungsgipfel muß endlich neue Linien ziehen. Das zunehmende Ungleichgewicht zwischen akademischer und betrieblicher Ausbildung kann nur beseitigt werden, wenn in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst attraktivere Berufsperspektiven deutlich werden.
Nicht formale Abschlüsse, sondern gute Leistungen und die Förderung der Begabten — ein Stichwort, das Sie sehr ungern hören — sind gefragt. Das bewährte duale Bildungssystem, ein Exportschlager, muß eine Chance für jedermann behalten.Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hansen, damit Sie mir nicht vorwerfen, daß mir jemand etwas aufgeschrieben hat, habe ich mein Manuskript da liegenlassen, und ich schließe sofort an das Wort „Ehrlichkeit" an.
Ich akzeptiere, daß die Bundesregierung einen Beschluß gefaßt hat, der akzeptabel ist. Aber, zur Ehrlichkeit gehört auch, daß man sagt: Es ist zu spät für dieses Jahr.
— Es ist zu spät für dieses Jahr.Ihr Parteikollege, Herr Minister, hat im Frühjahr hier gesagt: Im Herbst werden die Küken gezählt. Jetzt ist Herbst Jetzt haben Sie gezählt. Festgestellt haben Sie, daß die Henne entweder legefaul oder unfruchtbar ist; denn sonst hätten Sie diesen Beschluß jetzt nicht fassen müssen.
Das muß man mit aller Deutlichkeit sagen.
Hier geht es nicht um 500 Millionen DM mehr oder weniger. Hier geht es um die Lebenschancen von jungen Menschen.
Die jungen Menschen im Osten Deutschlands wollen in dieser Bundesrepublik Deutschland Fuß fassen. Sie wissen, daß ihr Leben von einer Ausbildungschance abhängt. Früher haben Sie von einem Ausbildungsplatz gesprochen. Jetzt reden wir nur noch von einer Ausbildungschance. Auch das ist ein semantischer Trick, den ich nicht gutheiße.Ich bin dagegen, daß wir das Wort Aufschwung Ost irgendwann mit dem großen A für Arbeitslosigkeit, Angst und fehlende Ausbildungsplätze titulieren müssen. Wo sind die Plätze hin, die es in der DDR gegeben hat? 400 000 berufliche Ausbildungsplätze gab es. Jetzt gibt es noch 170 000. Wo und wie wollen Sie erklären, daß in der Alt-Brundesrepublik drei Viertel der 16- bis 19jährigen einen Ausbildungsplatz haben, in der Alt-DDR aber nur die Hälfte? Wo ist die andere Hälfte hin?
— Ich frage nicht Herrn Mittag. Der Herr Mittag sitzt nicht in der Regierung von Herrn Kohl.
— Nein.
— Aber entschuldigen Sie! Das ist doch Demagogie, was Sie hier machen. Als Sie an die Macht gekommen sind — nicht Sie, Herr Jork, Sie sind ja unschuldig daran —, haben Sie davon gesprochen, daß Sie eine Erblast von den Sozialdemokraten geerntet haben. Jetzt reden Sie von der Erblast der SED. Nein, seit 1990 sind Sie verantwortlich. Es geht nicht um die Frage Ausbildungsplatz. Es geht letztendlich um die entscheidende Aufgabe: Entwickeln Sie eine Konzeption, daß die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland auf-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15097
Dr. Dietmar Kellerhört! Siedeln Sie dort Industrie an! Machen Sie ein Investmanagement, daß dort Menschen wieder zu Ausbildung in Betrieben kommen können! Sonst werden Sie alle drei bis vier Jahre ein neues Ausbildungsprogramm beschließen müssen. Das wäre keine Lösung.Ich akzeptiere Ihre Entscheidung, daß heute ein Beschluß gefaßt worden ist, der vielen jungen Menschen in Ostdeutschland helfen wird. Aber machen Sie sich nicht vor, daß damit die Probleme etwa gelöst werden.Denn seit 1991 sagen Sie jedesmal im Herbst: Die Probleme sind gelöst. Im Winter stellen Sie fest, daß die Probleme nicht gelöst sind.Ich sage noch einmal: Es geht um die Lebenschance von jungen Menschen, die in dieser Bundesrepublik Deutschland eine Chance wollen und eine Chance benötigen. Sie sollten durch Ihre Industrie- und Bildungspolitik dazu beitragen, daß diese Menschen eine Chance bekommen.Ich bin dagegen, dieses Thema zu einem Parteienstreit zu machen. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dafür zu sorgen, daß junge Menschen möglichst in dem Beruf, den sie gern erlernen möchten, eine Chance bekommen.
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin, Frau Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den letzten Debattenbeiträgen gebe ich lieber gleich zu, daß mir diese Rede von jemandem aufgeschrieben worden ist. Denn eigentlich bin ich Sicherheitspolitikerin. Das hier ist nicht mein Gebiet. Weil unsere Gruppe, die bekanntlich nur aus acht Menschen besteht,
aber auch zu diesem wichtigen Gebiet etwas sagen wollte, habe ich einen Experten zu Rate gezogen.
Ich gehe davon aus, daß Sie lediglich Notizen haben, so wie es in unserer Geschäftsordnung steht.
Ich glaube nicht, daß ich heute in diesem Parlament die große Ausnahme bin.Auf dem gerade beendeten CDU-Parteitag wurde vollmundig das Thema Bildungspolitik gestreift, aber wir wissen ja, wie die Debatte aussah. Im wesentlichen reduzierte sich die Diskussion auf die Frage nach der Abschaffung des 13. Schuljahres. Derart zukunftsweisend soll die Ausbildungszeit von Gymnasiasten auf ein international vergleichbares Niveau zurechtgestutzt werden.Auf dieser Ebene präsentiert sich auch die Berufsbildungspolitik der Bundesregierung. Das duale System der Berufsbildung wird alljährlich als im internationalen Maßstab hervorragend dargestellt. Wir kennen das auch aus der DDR.Deshalb wundert es nicht, daß der im Frühjahr vorgestellte Berufsausbildungsbericht der Bundesregierung eine ausschließlich positive Bilanz zieht. Wenn Jugendliche keinen Ausbildungsplatz finden, sind sie selbstverständlich selbst die Schuldigen. Das paßt in die seit Jahren von Wirtschaftsunternehmen gepflegte Larmoyanz über die unbesetzten Ausbildungsplätze.Diese Fiktion ist nun zumindest in den neuen Bundesländern nicht mehr haltbar. Anfang des Jahres konnte Bildungsminister Ortleb immerhin noch erklären, daß es gelungen ist, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln, und sei es auch nur, da ca. 19 000 Auszubildende in Ausbildungsverhältnisse im alten Bundesgebiet vermittelt wurden. Von den zahlreichen über- und vor allem außerbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen, die nur zum Kaschieren und Hinauszögern von Arbeitslosigkeit beitrugen, will ich gar nicht erst reden.Attraktivitätsverbesserungen der beruflichen Bildung sind notwendig. Das beschlossen Sie auch, meine Damen und Herren, mit dem letzten Berufsausbildungsbericht. Dabei wurde in bewährter Manier auf die Wirtschaft vertraut, die sich bereit erklärte, die notwendigen Ausbildungsplätze zu schaffen.Das klang erfolgversprechend, obwohl allen Bildungspolitikern und Bildungspolitikerinnen die Unhaltbarkeit schon bei der Verkündung bewußt war, und dies nicht nur, weil die Offerte an eine positive Wirtschaftsentwicklung gekoppelt wurde. Aber so konnten sich die Verantwortlichen wenigstens bis Anfang des Monats ausruhen. Dann entdeckte Herr Bildungsminister Ortleb plötzlich, daß in den neuen Bundesländern 23 500 Bewerber und Bewerberinnen noch nicht in ein Ausbildungsverhältnis vermittelt werden konnten. Selbst bei den größtmöglichen Verrenkungen gelang es nicht, dies allein mit den noch unbesetzten Plätzen zu verrechnen.Selbst dann, wenn die Angaben von Handwerk und Arbeitgeberverbänden stimmen, mußten 10 000 fehlende Ausbildungsplätze dazugegeben werden. Die Ausbildungsmisere ist somit offensichtlich. Kurzfristig mußte Abhilfe herbeigezaubert werden. Das am 2. September erstmalig vorgestellte Ausbildungsprogramm Ost sollte Abhilfe schaffen. Immerhin vollbrachte Herr Ortleb das Kunststück, trotz bisher fehlender ministerieller Abstimmung bereits Anfang Oktober die erforderlichen 10 000 außerbetrieblichen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.Bei näherem Hinschauen dürfte jedoch deutlich werden, daß diese Ankündigungen eine Farce sind. Bund und betroffene Länder sollen je die Hälfte der Mittel, d. h. 250 Millionen DM, über fünf Jahre gestreckt bereitstellen. Sowohl für den Bund als auch für die Länder sollen jeweils 50 % aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds bereitgestellt werden. Wie die Länder ihren Anteil aufbringen sollen, bleibt großzügigerweise ihnen selbst überlassen.Der Bundesanteil ist auf jeden Fall noch nicht abgesichert. Hierzu ist die Einwilligung von Herrn Waigel für eine außerplanmäßige Ausgabe und eine
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15098 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Vera Wollenbergeraußerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung erforderlich. Da die Fördermittel der Bundesanstalt für Arbeit zugewiesen werden, kann der Finanzminister sie ja mit dem sowieso schon überzogenen Etat der Bundesanstalt verrechnen.Auf jeden Fall haben Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ein Glanzstück vollbracht. 10 000 Ausbildungsplätze sind in nur drei Wochen geschaffen worden — leider nur auf dem Papier. In weniger als einem Monat sollen die Mittel des Europäischen Sozialfonds durch die Umwidmung bereitstehen — wirklich eine Abkürzung des zeitaufwendigen Bewilligungsverfahrens. Deutlich wird, daß Sie wiederum Ihre eigene Unfähigkeit auf dem Rükken der Betroffenen aussitzen.Ihre Ankündigung, möglichst allen Jugendlichen Ausbildungsplätze mit Zukunftsperspektiven zur Verfügung zu stellen, ist wirklich dreist. Eine Übernahme nach der Ausbildung dürfte bei vielen der derzeit noch als unbesetzt geltenden Ausbildungsplätze schwierig sein; ich verweise nur auf die Metallindustrie und das verarbeitende Gewerbe.Bei außerbetrieblichen Ausbildungsstellen ist eine Zukunft qua Konzeption sowieso nicht gegeben. Statt dessen ist eine Berufbildungspolitik nötig, die eine wirkliche Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und schulischer Bildung schafft. Eine Gleichheit der Ausbildungsgänge ist zu garantieren. Auszubildende dürfen nicht weiter als billige Arbeitskräfte von Unternehmen mißbraucht werden. Die Programme der Bundesregierung werden dem nicht gerecht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zwei Bemerkungen machen:
Erstens. Ich will im Zusammenhang mit meiner Eingangsbemerkung sagen, was in § 33 unserer Geschäftsordnung steht. Dort steht:
Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.
Danach müßten wir uns richten.
Zweitens. Ich bitte noch einmal, daran zu denken: Wir haben in der Geschäftsordnung für die Aktuelle Stunde einen Redebeitrag bis zu fünf Minuten und nicht über fünf Minuten vereinbart.
Ich erteile nun das Wort unserem Kollegen Dr. Rainer Jork.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Wollenberger, ich wollte Ihnen noch schnell ein Angebot machen: Wenn Sie wirklich interessiert, was auf dem CDU-Parteitag zur Bildungspolitik gesprochen worden ist, und wenn Sie Zeit haben, das zu lesen, dann gebe ich Ihnen gern die Berichte. Das ist sehr viel mehr als das, was Sie zum 13. Schuljahr gesagt haben. Wir können uns gerne darüber unterhalten. Sie müssen deshalb nicht gleich in die CDU eintreten.Wir haben hier darüber gesprochen, was das Kernproblem ist. Ich sehe einen deutlichen Zusammenhang zu dem, was kontinuierlich durch die Bundesregierung getan wird. Ich erinnere an den Berufsbildungsbericht, in dem eindeutig gesagt wird, daß es mit Blick auf 1993 darum geht, die laufenden Aktivitäten der Bundesregierung, der Länder und der Wirtschaft unvermindert fortzusetzen. Jetzt liegt ein Gemeinschaftsprogramm vor, und zwar rechtzeitig und in erforderlichem Umfang.Herr Hilsberg, es geht überhaupt nicht darum, etwas zu feiern. Wir sind gemeinsam der Meinung, daß das eine ernste Situation ist und daß es darum geht, den Jugendlichen gewissenhaft zu helfen. Ein Grund zum Feiern besteht nicht.Interessant ist aber vielleicht die Entwicklung in den neuen Bundesländern in den letzten Monaten. Im Juni gab es noch 60 000 unvermittelte Bewerber; im August waren es etwa 23 600. Die Differenz zwischen Bewerbern und Stellen betrug im Juni noch 36 250, im August 12 000. Genau dort liegt die Ursache dafür, daß die Bundesregierung nicht zu früh einsetzen durfte. Es ging darum, Herr Hilsberg, daß die Selbstregulierung funktionieren mußte. Wir haben den Eindruck gewonnen, daß — trotz aller Probleme; ich sagte, wir haben nichts zu feiern — genau diese Selbstregulierung im Rahmen des Möglichen funktioniert hat. Es gibt, so sollte den Zahlen entnommen werden, durch das Programm der Bundesregierung eine deutliche Verringerung des erwarteten Defizits.Bei der Nutzung dieses Gemeinschaftsprogramms ist natürlich noch folgendes zu beachten — das sollte man sagen —: Es gibt in den neuen Bundesländern ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Es gibt regionale Unterschiede. Ich denke an Bautzen, Annaberg, Dessau, Merseburg, Eberswalde, Cottbus und Frankfurt/ Oder. Auch gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede: Die Mädchen haben relativ schlechte Chancen. Und es gibt Angebote und zum Teil nicht dazu passende Nachfragen. Die Länder bieten Förderprogramme an; dem wird unterschiedlich Rechnung getragen.Herr Keller, ich habe mir im Juni die Mühe gemacht — weil ich die Situation für sehr ernst halte —, unter Kontaktnahme mit jeder Regierung in den neuen Bundesländern einen eigenen Ist-Stand-Bericht auf der Grundlage einer Recherche zu erstellen. Das Ergebnis stimmte in etwa mit den Zahlen überein, die ich offiziell bekommen habe. Ich möchte an der Stelle einmal den Länderministerien danken, die mir da sehr geholfen haben.Das Ergebnis dieser Recherche war die Grundlage für ein Gespräch im Kanzleramt Ende Juli. Im Ergebnis dieses Gesprächs sind Maßnahmen vereinbart worden. Wir haben selbst einen Maßnahmeplan vorgelegt, den ich aus Zeitgründen hier nicht verlesen möchte. Aber den muß man sich natürlich ansehen, wenn wir an die Situation in den nächsten Jahren denken. Das Problem ist natürlich nicht grundsätzlich gelöst. Ich sage es, damit keine Mißverständnisse entstehen, zum drittenmal: Die Situation ist mir so ernst, daß ich nicht feiern möchte.
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Dr.-Ing. Rainer JorkAber ich sehe eine deutliche Kontinuität in der Haltung der Bundesregierung und erinnere mich an Problembesprechungen, die wir als Abgeordnete der CDU/CSU aus den neuen Bundesländern mit dem Kanzler hatten, Frau Odendahl. Ich sage Ihnen unter Nennung von Terminen gern, was dort besprochen worden ist.Am 30. Juni hat der Bundeskanzler z. B. in der Fraktion gesagt: Lehrstellen haben Absolute Priori-tat. — Damit kein Mißverständnis entsteht: Das war nicht die erste Aussage zu dieser Frage. — Er sagte auch: Es wird Geld kosten. Und er sagte — das halte ich für ganz wichtig —: Die erste Begegnung der Jugendlichen in den neuen Bundesländern mit der Freiheit können nicht die Arbeitslosigkeit und der Umstand sein, daß sie keine Lehrstelle bekommen. — Deshalb also, bitte: eine ernste Situation. Daher sollte man bei Zurufen, Herr Hilsberg, überlegen, was man sagt.Ich möchte dem Bundeskanzler, der Bundesregierung an dieser Stelle mit ehrlichem Herzen sehr herzlich dafür danken, daß sie besonnen, bewußt und im richtigen Rahmen reagiert hat.
Auch das sollte man bei aller Lust am Meckern und Miesmachen einmal sagen. Denn nur mit Herumnölen hilft man denen, die es betrifft, nicht. — Herr Hilsberg, hören Sie einmal zu, auch Sie, Herr Keller!Brandenburg hat gestern geschrieben — ich lese es auszugsweise vor; vielleicht langt die Zeit noch —:Das am 2. 9. von der Bundesregierung verabschiedete Sonderprogramm beachtet sowohl vom Inhalt als auch vom Umfang her die vorhandene Ausbildungsplatzsituation.— Von Brandenburg, wohlgemerkt. Dann wird dargelegt, daß diese Maßnahmen ausreichend sind, daß regionale Programme, Frauenprogramme usw. nötig sind. Ich möchte das in der gebotenen Kürze nur andeuten; auch das zeige ich Ihnen gerne.Wir sollten uns, damit die Situation nicht weiter von Jahr zu Jahr kritisch ist, darauf konzentrieren, was wir die nächsten Jahre machen wollen.
Ich meine, daß es — Herr Hilsberg, da decken sich sicher unsere Standpunkte — um die Standortsicherung — sagen wir es genauer: um Arbeitsplätze — geht, daß es um Industrie, um Wirtschaft geht — sicher zuerst um den Mittelstand, dem wir für die Initiativen zu danken haben —, damit wir Lehrstellen bekommen.Auch sollten wir die offenen Stellen nutzen. Da gibt es Probleme bei der Aufklärung und im Verständnis.Wir sollten uns in den neuen Bundesländern auch Gedanken zu Fragen der Mobilität machen. Ich war am Sonnabend in Glashütte. Sie wissen, daß das ein Zentrum der Uhrenherstellung ist. Früher war es völlig normal, daß die Leute von weither in die Uhrmacherschule kamen, um dort Spezialkenntnisse zu erwerben. Warum ist es denn eigentlich nicht normal, von den neuen in die alten Bundesländer — soes verträglich ist — zu fahren und dort eine Lehrstelle anzunehmen? Dazu sind Programme nötig. Auch das, Herr Keller, sollten Sie bitte nicht nur formal abhaken.
— Wir können uns gerne darüber unterhalten. — Sachsen hat — wissen Sie das, Herr Keller? — ein spezielles Programm zur Förderung der Mobilität, und das ist nicht nur eine Finanzfrage, sondern auch eine Frage der inneren Einstellung. Da muß man auch wollen und darf nicht nur blöd herumnölen. — Entschuldigung! Den Begriff „blöd" möchte ich bitte zurücknehmen.
— Das habe ich gemacht, ohne Aufforderung.
Herr Dr. Jork, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen. Bitte, kommen Sie zum Ende.
Ich erwarte, daß diese Hilfe, die wir angesprochen haben, greift und daß wir uns darüber im klaren sind, was wir in den nächsten Jahren konstruktiv tun. Es geht darum, den Menschen zu helfen.
Danke.
Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dem, was wir vortragen, sagen: Blöd rumnölen — das tut hier wirklich keiner!
Nun hat das Wort Frau Kollegin Doris Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich sehr bemühen, diesen Kriterien gerecht zu werden.Was heute hier abläuft, ist in der Tat ein Trauerspiel gegenüber den betroffenen Jugendlichen.
Zum zweiten ist es eine Unverfrorenheit gegenüber dem Parlament. Ich erkläre Ihnen das gleich. Wir haben am 13. Mai in einer Aktuellen Stunde genau zu diesem Thema gesprochen, haben Sie vor den dramatischen Entwicklungen in den ostdeutschen Ländern gewarnt
und die Bundesregierung aufgefordert, etwas zu tun.
Sie haben Nebelkerzen geworfen, auf die Ausbildungsgarantie der Wirtschaft verwiesen und Ihr Nichtstun damit zu rechtfertigen versucht, man dürfe die zugesagte Ausbildungsgarantie der Wirtschaft nicht durch zusätzliche Maßnahmen gefährden.
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15100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Doris OdendahlAls sich im Juli die Lage ist Ostdeutschland weiter zugespitzt hatte, wurde am 27. Juli von der SPD-Fraktion ein entsprechender Antrag eingebracht. Den konnten Sie nachrechnen; daran hätten Sie gar nicht neu stricken müssen.Als sich der Kanzler am Wolfgangsee erholt hatte, begann dann das Fingerhakeln im Kabinett. Dabei hat der Bildungsminister — zaghaft wie immer und viel zu spät wie immer — für ein Ausbildungsplatzprogramm gekämpft, und er wurde vom Wirtschaftsminister, der ja den Wirtschaftsstandort Deutschland immer so gern im Munde führt — im Kopf hat er ihn leider nicht, sonst hätte er anders gehandelt — bis zum 2. September auf die Wartebank gedrängt. Das alles noch unter der Rubrik „Trauerspiel".Jetzt kommt der größte Skandal. Wir sollen also heute eine Vereinbarung begrüßen, die selbstverständlich ist, die in der Tat heute unterschrieben wurde,
und die Jugend steht auf der Straße. Sie bieten hier das Schauspiel Ihrer Darstellung von Selbstzufriedenheit und verhindern gleichzeitig mit Ihrer Geschäftsordnungsmacht, daß der SPD-Antrag auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt wird. Das sind die Tricks, mit denen Sie dauernd vernebeln, daß Sie nichts tun. Und deshalb ärgere ich mich.
Wir wissen heute nicht, ob die in der Kabinettsvorlage ausgewiesenen 10 000 Plätze tatsächlich ausreichen werden. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich überhaupt nicht mehr bereit bin, Ihre Zahlenspielchen mitzumachen, weil sie nie aufgehen. Diese Erfahrung habe ich Ihnen allerdings voraus: Es hat noch nie gestimmt.
— Nein!Jetzt sage Ihnen noch etwas. Sie haben durch Ihre Politik der letzten 12 Jahre heute 1,5 Millionen unausgebildeter junger Menschen hier in Deutschland. Das ist die Bilanz Ihrer Berufsbildungspolitik, um einmal Tacheles zu reden.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Skandal. Auf Grund des Berichts und der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum Berufsbildungsbericht 1992 hat der Deutsche Bundestag im letzten November nahezu einstimmig und damit meines Wissens erstmalig in der 1977 begonnenen Geschichte der Berufsbildungsberichte der Bundesregierung gemeinsam beschlossen — ich lese jetzt ab, Herr Präsident; ich hoffe, ich darf es; es ist ein Zitat —:Der Deutsche Bundestag mißt der beruflichen Bildung eine zentrale Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen, den sozialen Frieden, die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen bei der Erhaltung und Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitund Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu. Die Bundesregierung wird aufgefordert, weiterhin Vorsorge zu treffen, daß zukünftig allen Jugendlichen, die dies wünschen, ein qualitativ angemessenes, vorrangig betriebliches Ausbildungsplatzangebot gemacht werden kann.
Dies gilt vor allem in den neuen Ländern. Ich zitiere weiter, weil Sie das gern auslassen:Für besonders notwendig hält der Deutsche Bundestag, die Finanzierung außerbetrieblicher Ausbildung in den neuen Ländern im Ausbildungsjahr 1993/94 im notwendigen Umfang zur Verfügung zu stellen.Das ist das Zitat.Gemessen an diesem geschlossenen Willen des Deutschen Bundestages, den die SPD-Bundestagsfraktion ernst genommen hat und weiterhin ernst nimmt, sind die von der Bundesregierung viel zu spät ergriffenen und unzureichenden Maßnahmen ein Armutszeugnis.Jetzt zu dem, was Sie über die Finanzierung und zu den Ländern gesagt haben, Herr Meckelburg. Im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft hat uns der Vertreter der Bundesregierung heute auch etwas zu der Art der Finanzierung, wie sie mit den Vertretern in den neuen Ländern jetzt in Berlin vereinbart worden ist, gesagt. Auch hier haben wir weiterhin viele Fragen. Schämt sich denn die Bundesregierung nicht, wenn sie behauptet, sie würde 75 % der Lasten für diese Programme tragen, die neuen Länder lediglich 25 %, während auf Nachfrage noch einmal bestätigt wurde, daß die Bundesmittel zum überwiegenden Teil aus dem Europäischen Sozialfonds stammen?
Hält die Bundesregierung die neuen Länder für finanzstark genug, sie mit in dieses Programm zu pressen, zumal wenn berücksichtigt wird, daß die neuen Lander im Bereich Modernisierung der Berufsschulen noch erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen?Wenn Sie heute versuchen — jetzt zitiere ich gern den Kanzler; denn da sagt er das immer treffend —, aus dem, was hinten herauskommt — anderes darf ich nicht sagen —, Gold zu machen, dann sage ich Ihnen: Die Jugendlichen erkennen den Geruch. Es stinkt ihnen ganz gewaltig. Wenn Sie den „Spiegel" wirklich gelesen hätten, so hätten Sie bemerkt: Die Jugendlichen haben gesagt — da haben sie recht —: Ohne Beruf bist du immer ein Verlierer. Und Sie sorgen dafür, daß da nichts Entscheidendes verändert wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15101
Ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, unserem Kollegen Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich alle Urteile, die über die Arbeit der Bundesregierung in diesen wenigen Minuten bisher gefallen sind, ernst nähme, dann wäre es in der Tat ein Skandal. Ich brauche das aber nicht ernst zu nehmen.Mir wurde vorgeworfen, ich machte alles zu zaghaft und zu spät. Meine Damen und Herren, ich mache es lieber leise und genau als laut und unkorrekt.
Auch wenn es einigen in diesem Hause nicht recht in den Sinn will: In den letzten drei Jahren konnte in den neuen Ländern jedem Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot gemacht werden.
— Darüber, wie wir das formulieren, Herr Keller, würde ich gern einen Germanistenstreit ins Leben rufen. Aber der sollte nicht jetzt im Bundestag ausgetragen werden.
Jedenfalls weise ich auch die Kritik daran zurück, daß die Fragen der beruflichen Bildung in einer Gemeinschaftsaktion zwischen Bund und Ländern gelöst wurden. Das ist von Anfang an so gewesen. Ich darf daran erinnern: Vor zwei Jahren, zu Beginn meiner Amtszeit, habe ich ein Sonderprogramm des Bundes mit 250 Millionen DM ins Leben gerufen, unter der ausdrücklichen Bedingung, daß mit zunehmender Wirtschaftskraft auch die neuen Länder ins Boot müssen.Ich hatte gestern Gelegenheit, etwa eine Stunde im Rundfunk u. a. mit Frau Hildebrandt zu diskutieren; aus diesem Grunde bin ich heute durch keinen Zwischenruf zu schrecken.
Bei dieser Diskussion wollte man mir interessanterweise die Jugendarbeitslosigkeit im Osten Deutschlands vorwerfen. Ich habe mir die Mühe gemacht und mir statistische Angaben dazu geholt. Da ist eines bemerkenswert — das ist allerdings nicht das Thema des heutigen Tages —; ich erkläre gleich, warum. Wir hatten vor einem Jahr im Osten eine Jugendarbeitslosigkeit von — absolute Zahl — 38 306. In diesem Jahr sind es 24 428. Das ist ein Drittel weniger. Die Statistik habe ich mir beschafft und nicht gefälscht — falls mir jemand das vorwerfen wollte.Meine Damen und Herren, warum erwähne ich das? Das konsequente Beharren darauf, daß die betriebliche Ausbildung der gesunde wirtschaftliche Weg ist,kommt gerade darin zum Ausdruck, daß ich keine Ausbildungsformen schaffen darf, deren natürliche Integration in das Wirtschaftssystem nicht garantiert ist. Das ist bei außerbetrieblichen Plätzen nun einmal der Fall.
Ich protestiere auch ganz entschieden dagegen, daß man die Aussage, die ich soeben getroffen habe, umkehrt und daraus schließt: Die außerbetriebliche Ausbildung ist von der Qualität her schlecht.
Das ist eine falsche Aussage. Denn die Qualität der Ausbildung hängt nicht unbedingt von der Ausbildungsform ab, sondern vom Zusammenspiel zwischen Ausbildenden und Auszubildenden.
— Ich lese meine Rede nicht ab, Frau Odendahl. Einiges habe ich noch im Kopf, trotz der vielen Kritik die ich mir habe anhören müssen.Wie ist der Verlauf der Aktion gewesen? Ich möchte das hier auch noch einmal verdeutlichen und die Behauptung endgültig zur Legende machen, daß sich die Bundesregierung und damit in erster Linie der verantwortliche Minister im Oktober des jeweiligen Jahres stolz auf dem Erreichten ausruhen und sogar, sich selbst lobend, nichts tun. Wir haben natürlich die Pflicht, den Prozeß, der nämlich ein natürlicher Entwicklungsprozeß zwischen Angebot und Nachfrage ist, genauestens zu beobachten. Wer glaubt, daß man ein Ausbildungssystem zur Staatssache machen könne, der müßte folgerichtig auch die Wirtschaft zur Staatssache machen.
Und da kenne ich einen Staat, der kürzlich daran zugrunde gegangen ist.
Was meine Position zu Problemen des Ostens angeht, so bin ich sehr dankbar, daß sich doch ein Medium gefunden hat — wie dankenswerterweise zitiert wurde — das mir noch zutraut, ostdeutsch denken zu können. Meine Damen und Herren, das tue ich natürlich, aber ich sehe es auch als Pflicht eines Bundesministers an, ost- und westdeutsch und vor allen Dingen an die gemeinsame Zukunft, die wir haben, zu denken. Ich kann keine Zukunft garantieren, wenn ich aberwitzige Lenkungsmechanismen einführe, die sich woanders schon überlebt haben. Das muß ich auch so deutlich sagen.Und was die Behauptung „zu spät" angeht: Wenn Sie nur genau verfolgt hätten, welche Äußerungen aus meinem Ministerium oder von mir gekommen sind! Wir haben von Anfang an gesagt, daß wir neben der Garantie der Wirtschaft, die wir einfordern müssen, natürlich auch die Möglichkeit offenhalten müssen, die Garantie der Wirtschaft notfalls durch eine Garantie des Staates zu ergänzen. Das ist von Anfang an gesagt worden. Es ist auch sehr deutlich gesagt worden — da hat aber keiner hingehört, vor allem die
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15102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Bundesminister Dr. Rainer Ortlebnicht, die es nicht hören wollten —, daß wir keine betriebliche Förderung betreiben werden, abgesehen von den Programmen der Länder.Hinsichtlich der Länderprogramme — und das will ich ausdrücklich sagen — gibt es keine Konfrontation zwischen Bund und Ländern. Ich bin sehr froh darüber, daß vor allem die zuständigen Minister diesem Programm sehr rasch zugestimmt haben. Bereits gestern, als es noch gar nicht endgültig auf dem Tisch des Bundeskabinetts lag, haben die ersten Landesminister ihrer Freude über die Beschlußlage Ausdruck verliehen. Das sind die Realitäten, nicht anders herum.Und von wegen Überforderung der Länder! Auch das kann man nicht stehenlassen. Wir haben sehr bewährte Prinzipien, wonach Mitfinanzierungen dafür sorgen, daß der mit ins Boot Genommene natürlich in Verantwortung ist. Wenn man kein Geld beisteuern muß, hat man nämlich keine Verantwortung. Immer die Hand in eine Richtung aufzuhalten, das hat sein Ende. Wenn man die Hand immer vom Land in Richtung Bund und vom Bund in Richtung Europa aufhält, muß ich einmal die Frage stellen: Wo kommt eigentlich das Geld her, das man dort erhalten will?
— Eben, das ist es. Und da wir in gewissem Sinne nur einen Steuerzahler haben, ist es ein böses Spiel, wenn wir auf dem Rücken junger Leute eine solche Politik betreiben. Sie werfen mir vor, ich hätte durch zu spätes Handeln die Jugendlichen hinausgeredet. Meine Damen und Herren, wären Sie nicht lauter und unkorrekter als ich gewesen, hätten wir niemanden hinausgeredet, weil man dann geglaubt hätte, daß die doppelte Garantie von Wirtschaft und Bund selbstverständlich eine sichere Garantie sei. Das haben wir immerhin erreicht.Heute ist kein Grund zum Jubeln, weil das Problem immer noch bleibt. Wir werden auf Grund der wirtschaftlichen Situation der ostdeutschen Länder natürlich nach wie vor am Ball bleiben müssen. Das ist unumstritten. Aber ich verwahre mich dagegen, daß man einen Erfolg kontinuierlicher Arbeit zum Nichterfolg herabreden will.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kollegin Eichhorn.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei einem Besuch der jungen Bundesländer vor ein paar Wochen, Anfang September, hatte ich die Möglichkeit, mich auch über die aktuelle Lehrstellensituation zu informieren. Das, was ich sah und hörte, stimmte mich hoffnungsvoll. Es ist ganz deutlich zu spüren: Es geht voran in den neuen Bundesländern. Allerdings reicht das Angebot an Ausbildungsplätzen, das die Wirtschaft anbietet, in diesem Jahr noch nicht aus. Deutliche Verbesserungen sind jedoch spürbar.So berichtete mir der Leiter der gewerblichen Berufsschule in Stralsund, daß er im Elektro- und Metallbereich in diesem Schuljahr die Klassenzahl von neun auf elf steigern konnte. Das Lehrstellenangebot habe sich im Handwerk deutlich erhöht.In einer großen Wochenendzeitung stand vor kurzem als Überschrift: „In den neuen Ländern ist die Lage deutlich besser als die Stimmung". Nach meinen Eindrücken, die ich an verschiedenen Orten in den neuen Ländern gewinnen konnte, möchte ich diesen Satz so ergänzen: In den neuen Ländern ist die Lage deutlich besser, als die Medien uns glauben machen. Das gilt auch für den Lehrstellenmarkt.Wieder einmal zeigt sich, meine Damen und Herren von der Opposition: Trotz aller Unkenrufe werden alle Ausbildungswilligen unterkommen.
Das, was Herr Hilsberg — er geht gerade hinaus — heute geboten hatte, war reine Polemik. Zuerst fordern Sie Lehrstellenprogramme, und wenn dieses Programm beschlossen wird, dann paßt es Ihnen wieder nicht.
Während 1991 35 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze erforderlich waren, reduzierte sich diese Zahl im letzten Jahr auf rund 16 000. Selbstverständlich hätten wir uns gefreut — darum haben wir ja gewartet —, wenn die Wirtschaft bereits in diesem Jahr in der Lage gewesen wäre, für Ausbildungsplätze allein zu sorgen. Vielleicht wären auch da und dort noch verstärkte Anstrengungen der Wirtschaft möglich gewesen.Dennoch können wir in diesem Jahr von einem deutlich verringerten Bedarf an außerbetrieblichen Ausbildungsstellen ausgehen. 10 000 solcher Stellen werden ausreichen, um allen Ausbildungswilligen eine Lehrstelle zu beschaffen.Das Lehrstellenangebot ist jedoch regional und sektoral sehr unterschiedlich. Es gibt auch in den neuen Bundesländern bereits Bereiche, z. B. Bäcker und Metzger, in denen es schwierig ist, Lehrlinge zu finden. Dagegen gibt es im Dienstleistungsbereich einen Nachfrageüberhang. Vor allem junge Frauen haben Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Ausbildungsplatz. Zur Erweiterung der Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen wurde deshalb eine Kampagne durchgeführt, um Betriebe zu informieren und Vorurteile abzubauen.Meine Damen und Herren, wir kennen die Lehrstellensituation in Ost und West: dort Lehrstellenmangel, hier Lehrstellenüberschuß. Vor allem Facharbeiter müssen ausgebildet werden, wenn wir uns auf dem Weltmarkt behaupten wollen. Was liegt da näher, als die Jugendlichen in den neuen Bundesländern zu ermuntern, eine Lehrstelle im Westen anzunehmen? Über 20 000 Jugendliche aus den neuen Ländern nutzen jährlich diese Gelegenheit. Sie kommen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15103
Maria Eichhornjedoch überwiegend aus Regionen, die an die alten Bundesländer angrenzen.
Nach einer Repräsentativumfrage zum Neunten Jugendbericht sind Zweidrittel der Jugendlichen bereit, aus beruflichen Gründen den Wohnort zu wechseln. Die tatsächliche Bereitschaft zur Mobilität sieht etwas anders aus. Das stellt das Land Sachsen derzeit fest, wie Kollege Jork schon angedeutet hat. Obwohl der Freistaat boomt, fehlen dort Lehrstellen. Daher hat die sächsische Regierung ein Mobilitätsprogramm geschaffen. Junge Leute aus strukturschwachen Regionen erhalten monatlich 300 DM, wenn sie bis Ende des Jahres eine Ausbildung im Westen antreten und nach deren Abschluß wieder zurückkommen. Die Bereitschaft der Jugendlichen, diese Mobilitätshilfe in Anspruch zu nehmen, ist nach den bisherigen Erfahrungen, aus welchen Gründen auch immer, jedoch nicht sehr groß.Meine Damen und Herren, Anfang September hat Bundeskanzler Kohl zugesagt, daß auch in diesem Jahr alle Ausbildungswilligen eine Lehrstelle bekommen sollen. Heute können wir feststellen, daß dieses Versprechen eingehalten wird.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Eckart Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Hansen hat der SPD-Fraktion Defätismus vorgeworfen. Ich frage Sie — Sie sind ja Lehrer —: Ist es Defätismus, wenn eine Fraktion im Deutschen Bundestag rechtzeitig auf ein Problem, auf eine soziale Wirklichkeit hinweist, die nachvollziehbar und erkennbar ist, wenn eine Fraktion im Deutschen Bundestag rechtzeitig Schlußfolgerungen fordert, um zu verhindern, daß Jugendliche durch monatelanges Warten auf die Perspektive auf Ausbildungsplätze Schäden an der Seele erleiden, die später nicht mehr immer repariert werden können?Verzögerungen eines solchen Programmes wirken sich eben auch darin aus, daß Ängste und Verzweiflung erzeugt werden, die hin bis zu Agressionen gehen, und daß sich Enttäuschung breitmacht über diese neue Gesellschaft und den neuen Staat, den ein Teil der jungen Menschen als einen Staat erlebt, der ihnen keine Zukunft und keine Perspektive bietet.Wenn Sie jetzt heute die Situation schönreden oder behaupten, Frau Eichhorn, schon morgen sei alles geregelt, dann empfehle ich Ihnen doch, obwohl dieses Blatt natürlich nicht Ihr Lieblingsblatt ist und auch nicht das des Bundeskanzlers, einmal im „Spiegel" von dieser Woche nachzulesen, wie das in der Oberlausitz aussieht, wo jeder dritte in diesem Sommer nach dem Ende der neunten oder zehnten Klasse noch immer ohne Lehrstelle ist und wo sich in Bautzen ein Klima breitgemacht hat, bei dem DGB und Jugendhilfe sagen: Wir kommen damit nicht mehr klar, und wir dürfen uns nicht wundern, wenn da Rechtsradikalismus erzeugt wird. Ich empfehle Ihnen, dies nachzulesen und dann vielleicht ein bißchenbesser zu verstehen, Herr Kollege Hansen, warum wir uns rechtzeitig immer wieder engagieren, um solche Entwicklungen zu verhindern.
Seit April war — damals durch den Offenbarungseid von Herrn Schoser vom DIHT — absehbar, daß die Wirtschaft nicht in der Lage sein werde, die Lücke von 20 000 Ausbildungsplätzen zu schließen, daß politische Programme notwendig werden dürften. Und die Bundesregierung hat gewartet und gewartet und gewartet und am Ende jetzt ein Programm zustande gekriegt, dessen dauerhafte Finanzierbarkeit zusammengestoppelt ist und deswegen auf tönernen Füßen steht; ein Programm, das wahrscheinlich zu kurz greifen wird, aber immerhin ein Programm, das wieder ein bißchen Hoffnung für manche weckt, die ihre individuelle Krise haben, und vielleicht einen Teil des Problems in den nächsten Monaten wird lösen können.Nun hat die Bundesregierung in ihrer Weisheit vorgesehen — Herr Ortleb hat dazu auch etwas gesagt —, daß sich die Ostländer mit 25 % an der Finanzierung dieses Programms beteiligen sollten, weil das immer so gewesen sei. Das ist nicht immer so gewesen. Wir haben früher überbetriebliche Ausbildungsplätze errichtet, da hat der Bund 90 % übernommen, und 10 % sind von den Ländern getragen worden. Wir haben das getan, weil wir gesagt haben, die betriebliche und überbetriebliche Ausbildung fällt nach dem Recht der Wirtschaft und dem Recht der Arbeit, jeweils in der Verfassung niedergelegt, in erster Linie in die Bundeskompetenz. Der Bund hat dafür zu sorgen — entweder dadurch, daß er die Wirtschaft dazu kriegt, ihre Pflicht zu erfüllen, oder auf Grund eigener Anstrengungen —, daß alle jungen Leute Ausbildungsplätze bekommen. Ich teile diese Auffassung.Vielleicht noch eine Bemerkung dazu. Die Länder hätten ihre Finanzen verdammt nötig, um den dringend notwendigen Renovierungsbedarf in den Berufsschulen erfüllen zu können.
Jetzt werden die umfinanzieren müssen, werden für Ausbildungsplätze Geld ausgeben müssen und werden dieses Geld nicht für die Berufsschulen haben. Das duale System insgesamt wird deswegen nicht verbessert werden, sondern wird weiterhin Schaden leiden.Ich folge dem Kollegen Hansen insoweit, als ich sage — das ist auch vom Bundesverfassungsgericht 1980 noch einmal eindeutig so klargestellt worden —, daß es eigentlich Aufgabe der Wirtschaft wäre, ausreichend Ausbildungsplätze für alle zur Verfügung zu stellen. Völlig d'accord. Bloß, dann frage ich die Bundesregierung, die sich auch einen Bundeswirtschaftsminister leistet, der dauernd erklärt, daß er eigentlich überflüssig sei: Welche Schritte hat sie denn in Richtung Wirtschaft unternommen, um die Wirtschaft dazu zu kriegen, ihre verfassungsrechtlich
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Eckart Kuhlweinverbürgte Aufgabe zu erfüllen? Da müssen Sie dann sagen: Da passen wir leider.
— Ja, ja, geredet worden ist viel. Da sind heilige Eide geschworen, Versprechen abgegeben worden. Da sind Garantien erklärt worden. Aber passiert ist nichts.
Sonst wäre doch diese Lücke nicht da, Herr Kollege Hansen. Wenn die Wirtschaft ihre Pflicht erfüllen würde, dann wäre doch diese Ausbildungsplatzlücke überhaupt nicht da.
Ich erinnere mich an ein Instrument, das es mal im Ausbildungsplatzförderungsgesetz in den 70er Jahren gegeben hat — da waren wir in der Koalition, als das damals erfunden wurde —,
mit dem man die Wirtschaft durchaus dazu bringen könnte, für jeden einen Ausbildungsplatz zur Verfügung zu stellen, indem man nämlich sagte: Ihr müßt das gemeinschaftlich finanzieren, und die Unternehmen, die zuwenig ausbilden, müssen etwas in einen Topf tun, aus dem die Unternehmen gefördert werden, die mehr und über den eigenen Bedarf hinaus ausbilden. Die IG Metall hat solche Vorschläge wieder gemacht. Bei der Bundesregierung werden sie aus ideologischen Gründen verworfen. Ich kann das nicht nachvollziehen. Aber wenn die Bundesregierung aus ideologischen Gründen solche Konzepte verwirft, dann muß sie eben in Steuerzahlers Taschen greifen, und das tut sie jetzt mit diesem Programm.Ich hoffe, Herr Minister Ortleb, daß Sie schon im Kopf haben, wie Sie das nächste, das übernächste und das überübernächste Programm finanzieren wollen. Dauernd werden Sie nicht in den EG-Sozialfonds greifen können. Dauernd haben Sie nicht stille Reserven im Haushalt des BMBW. Vielmehr werden Sie irgendwann sagen müssen: Jetzt brauchen wir ein solide finanziertes, mittelfristiges, verstetigtes Programm und können uns nicht mehr mit solchen Stoppeleien helfen, wie sie hier vorgelegt wurden.
Herr Kollege Kuhlwein, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. — Letzte Bemerkung: Im übrigen handelt es sich bei dieser außerbetrieblichen Ausbildung um den größten Modellversuch der Geschichte, eine nichtbetriebliche Ausbildung durchzuführen. Es wäre ratsam, diesen Modellversuch auch einmal zu evaluieren und am Ende zu fragen: Wo bleiben die Ausgebildeten nach der zweiten Schwelle, wenn sie diese Ausbildung außerhalb von Betrieben durchlaufen haben?
Es gibt noch viel daran zu arbeiten. Mit dem Programm alleine ist es nicht getan, es reicht nicht hinten und nicht vorne. Es muß auch qualitativ verändert werden, damit es wirklich den Bedürfnissen der Gesellschaft und der jungen Menschen entspricht.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt als nächstem Redner unserem Kollegen Dr. Karlheinz Guttmacher das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon sehr interessant, in einer Aktuellen Stunde eine Aussprache zur Lehrstellensituation zu erleben, wo man sich gegenseitig Vorwürfe macht, sich aber letztendlich nicht auf die wirklichen Kernprobleme verständigt.Wir sind im April 1993 in der Debatte zum Berufsbildungsbericht doch davon ausgegangen, für 130 000 junge Menschen in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz zu schaffen. In dieser Verantwortung stehen wir alle als Bildungspolitiker, und wir haben alle Medien dafür zu gewinnen, um dieses Ziel zu erreichen. Heute stellen wir fest, daß 10 000 dieser 130 000 jungen Menschen kein Ausbildungsplatz zur Verfügung gestellt werden konnte.Dann müssen wir uns fragen: Was passierte in diesem gesamten Feld von 120 000 jungen Menschen, die wir in eine Ausbildung gebracht haben?Wenn hier die Wirtschaft substantiell kritisiert wird, daß noch nicht alles getan worden sei, dann erinnere ich daran, daß wir das Kuratorium der Deutschen Wirtschaft für Berufsbildung, in dem alle Spitzenverbände, Handel, Gewerbe, die freien Berufe, Landwirtschaft und Verbände, tätig sind, dafür gewonnen haben, daß sie ihren Garantieverpflichtungen nahezu nachgekommen sind.Ich will auch diesen Ort heute nicht verlassen, ohne diesem Kuratorium der Deutschen Wirtschaft meinen ausdrücklichen Dank zu sagen, weil ich weiß, wie schwierig es ist, in den neuen Bundesländern bei der derzeitig noch nicht voll ausgebauten Infrastruktur der Wirtschaft qualitativ gute Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Herr Ortleb, Sie mußten im Verlaufe dieser Zeit, von April 1993 bis heute, einige Kritik hinnehmen. Ich muß Ihnen sagen: Die Fraktion dankt Ihnen ganz ausdrücklich für die Regie, die Sie geführt haben, indem Sie den Betrieben Anleitungen gegeben haben, die in einer Erstausbildung der beruflichen Ausbildung standen, die den Mut hatten, Lehrlinge aufzunehmen, um sie auszubilden. Sie haben diesen Betrieben als Anleitung eine Fibel zur Verfügung gestellt, wie die berufliche Ausbildung durchzuführen ist. Die mittelständischen Betriebe in den neuen Bundesländern empfanden das — so äußern sie sich — als eine ausgezeichnete Hilfestellung. Wir sollten nicht immer Kritik üben, weil bei uns in den neuen Bundesländern noch 10 000 Lehrstellen fehlen.Jawohl, es ist richtig: Wir haben Sorge zu tragen, Herr Kuhlwein, daß die Basis dafür geschaffen wird,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993 15105
Dr. Karlheinz Guttmacherdaß diese Ausbildungsstellen zur Verfügung gestellt werden, und zwar in guter Qualität. Glauben Sie doch nicht, daß die Wirtschaft und auch Herr Rexrodt als neuer Wirtschaftsminister da zu träumen anfangen. Wir sind darum bemüht, die industriellen Kerne wieder zu reaktivieren, zu regenerieren, sie aufzubauen, sie so zu halten, daß sie sich wieder in die Pflicht begeben können, neben dem Handwerk und den mittelständischen Unternehmen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.Lassen Sie mich Faktenmaterial aus dem Land Thüringen vortragen. In Thüringen fehlen genau 960 Lehrstellen, um jungen Menschen eine gute Ausbildung zu geben. Wenn das Gemeinschaftsprogramm zur Finanzierung der außerbetrieblichen Ausbildung von Herrn Ortleb früher gekommen wäre, hätte z. B. der Arbeitsamtsbereich Jena im Juni 1993 im Handwerk einen Überhang von 30 Ausbildungsstellen gehabt. Nach der Sommerpause sind durch das Handwerk, durch die Kammern 400 Lehrstellen zur Verfügung gestellt worden. Ich muß Ihnen sagen: Die Wirtschaft hätte sich möglicherweise nicht so in die Pflicht begeben, wenn das Programm schon in Aussicht gestanden hätte, wenn abzusehen gewesen wäre, daß diese jungen Menschen eine außerbetriebliche Ausbildung bekommen.
Wir wollen doch ehrlich miteinander umgehen. Wir wollen uns auch nicht ein Leid klagen, daß wir es nicht geschafft haben, diese 10 000 Lehrstellen noch zu beschaffen. Freuen wir uns darüber, daß wir jetzt das Gemeinschaftsprogramm einer außerbetrieblichen Ausbildung aufgelegt haben. Wir werden jetzt weitersehen. Ich kann Ihnen aus Thüringen sagen, wie unser Wirtschaftsminister Bohn baggert, um auch jetzt noch zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, um immer wieder junge Menschen aus dem außerbetrieblichen in den betrieblichen Ausbildungsprozeß zu bekommen. Unsere Verantwortung ist jetzt, mit diesem Ball weiterzuspielen.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Gerhard Päselt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Frau Odendahl sagt, das, was sich hier abspiele, sei ein Trauerspiel, dann kann ich ihr nur zustimmen. Es war ein Trauerspiel, was ich von ihrer Seite hier zum Teil gehört habe.
Ich möchte das begründen. Ich wohne in einem der neuen Länder, im Wahlkreis Gotha-Arnstadt. Ich muß mir einreden lassen, daß alles viel schlechter geworden ist, daß sich nichts getan hat, daß keine Lehrstellen da sind, daß die Berufsschulen eigentlich noch schlechter geworden sind als früher, usw. MeineDamen und Herren, ich lade Sie alle in meinen Wahlkreis ein.
Wenn Ihre Bürgermeister im Westen, z. B. aus unserer Partnergemeinde Reiskirchen, von der SPD regiert, oder Mitglieder aus dem Kreistag Main-Kinzig, SPD-regiert, in meinen Wahlkreis kommen, sagen sie: Hier hat sich aber sehr sehr viel getan. Und ich sage: Das hätte sich alles nicht getan, wenn die Einheit nicht gekommen wäre. Auch in den nächsten 40 Jahren hätten wir das nicht geschafft. Ich habe Herrn Hilsberg hier richtig verstanden. In Brandenburg sieht es in den „Nestern" natürlich noch genauso aus wie damals. Ich sage das einmal so, um das hier richtigzustellen.
Wenn die Berufsausbilder und die Berufsschullehrer das gehört hätten, was Herr Hilsberg hier vorgetragen hat, dann hätte es an dieser Stelle mächtigen Widerstand gegeben. Ich kann mich damit nicht identifizieren.Gestatten Sie, daß ich, nachdem soviel zur Finanzierung und zu anderen Dingen gesagt worden ist, einiges sage, worauf noch nicht eingegangen worden ist. Es gibt zwei Dinge. Das eine ist, daß es Berufe gibt, die auch im Osten plötzlich nicht mehr attraktiv sind. Zu diesen zählt u. a. auch das Baugewerbe. Nun frage ich mich: Warum eigentlich? Obwohl die Arbeitsmarktsituation im Baugewerbe gut ist und in den neuen Ländern infolge des Nachholbedarfs auch auf längere Zeit gut bleiben wird, bleiben Lehrstellen unbesetzt, besonders in den größeren Städten. Es stellt sich die Frage: Tun wir alles in der Berufsaufklärung und in der Berufsberatung? Müssen wir nicht noch in der Berufsberatung ansetzen? Besteht dort nicht Bedarf, müssen wir die Stellenzahl nicht aufstocken, um eine entsprechende arbeitsmarktpolitische Lenkung vorzunehmen, damit die Stellen, die später auf dem Arbeitsmarkt begehrt sind, auch besetzt werden?Ich möchte noch einen zweiten Aspekt anführen. Es gehören ja auch Ausbilder dazu. Diese Ausbilder mußten geschult werden; es mußte umgestellt werden vom System DDR auf das gesamtdeutsche System der Bundesrepublik Deutschland. Denn worauf wir umgestellt haben, ist ja kein neues System, sondern das, was sich in der Bundesrepublik seit längerem durchgesetzt hat.
— Nein, Maurer ist nicht gleich Maurer, weil das Programm der DDR in dieser Richtung anders aussah, Herr Keller — zufällig weiß ich das genau —; denn wir haben kaum Maurer ausgebildet, sondern Baufacharbeiter. Sie kennen das. Aber unsere Maurer und Baufacharbeiter sind in der alten Bundesrepublik gut
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Dr. Gerhard Päseltuntergekommen. Deswegen kann ich nur dafür werben.
Wir haben in der letzten Zeit etwa 30 000 Ausbilder, Weiterbilder, Beratungskräfte usw. weiterqualifiziert. Auch für 1993 gibt es Förderschwerpunkte auf diesem Gebiet, nämlich im Bildungsmanagement, in der Durchführungskompetenz und in der Beratungs- und Prüfungskompetenz. Diese neuen Schwerpunkte ergeben sich aus der Analyse der zurückliegenden Jahre seit 1990.Lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen auf die gewaltigen Leistungen bei der Umstellung des Berufsbildungssystems der DDR auf das bundesrepublikanische System aufmerksam machen. Es kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, was in dieser Zeit geleistet wurde. Das ist kaum gewürdigt worden. Ich möchte Dank und Anerkennung all denen sagen, die daran mitgewirkt haben. Das beginnt bei der Bundesregierung und endet bei dem kleinsten Ausbilder. Dazwischen findet sich eine große Palette von Menschen, die sich mit Kraft und Energie eingebracht haben, um das zu bewerkstelligen. Sie können sich die Schulen und die Ausbildungsplätze ansehen. Sie entsprechen nicht in allen Fällen dem bundesrepublikanischen Stand, aber die Aufholjagd ist unverkennbar. Es ist vielleicht eines der wenigen Gebiete, bei dem man innerhalb kurzer Zeit den Unterschied zwischen Alt-Bundesrepublik und Neu-Bundesrepublik kaum noch wahrnehmen wird.Ich kann die Jugendlichen eigentlich nur auffordern, die angebotenen Lehrstellen anzunehmen und sich in der Richtung zu orientieren, daß sie am Arbeitsmarkt schauen, wo sie für längere Zeit eine Chance haben.
Meine Damen und Herren, als vorletztem Redner erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Peter Eckardt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Guttmacher, damit es noch einmal — ich hoffe, das zum letzten Mal sagen zu müssen — klar wird: Es geht nicht darum, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen.
Es geht auch nicht darum, das zu mißachten, was schon geschehen ist.
Aber im Interesse der jungen Leute haben wir die Verpflichtung, die Regierung ständig, permanent an ihre Regierungsverantwortung zu erinnern, und wir haben die Aufgabe, das zu benennen, was nach unserer Meinung noch nicht ordentlich, noch nicht ausreichend und auch falsch benannt wurde. Ich denke, das muß unter uns doch eigentlich klar sein.
— Ich habe zur Kenntnis genommen, daß in den letzten 11 Jahren die Regierung — leider —, von mir aus gesehen, immer auf der rechten Seite zu finden ist. Wenn sie auf der linken Seite zu finden ist, wird es für mich etwas anderes sein, weil auch ich dann noch weiter auf der linken Seite bin.Herr Kollege Hansen, Sie sind als Fachkollege, wie ich denke, sicher ausgewiesen. Es reicht nicht aus, in dieser Debatte das Wort vom „bewährten dualen System", möglicherweise sogar das Wort vom „bewährten deutschen dualen System" permanent als Monstranz vor sich herzutragen,
dann aber gleichzeitig nicht nur nicht zu fragen, warum die Wirtschaft nicht ausbildet, sondern auch die Rahmenbedingungen nicht zu nennen, die dazu führen, daß die Wirtschaft möglicherweise nicht ausbildet.Das hat genau wie bei den jungen Leuten, wenn sie eine Ausbildungsplatzchance suchen, etwas mit den Perspektiven und nicht nur mit der aktuellen Entscheidung zu tun. Deshalb gilt: Je früher ein Ausbildungsplatzprogramm bzw. ein Notprogramm gestartet wird, desto besser. Die Entscheidung, einen Beruf zu ergreifen, ist nicht die Entscheidung eines Wochenendes, sondern eine Entscheidung für das ganze weitere Leben.Der von Ihnen befürchtete Mitnahmeeffekt ist nach meiner Ansicht als gering zu erachten, wenn es darum geht, für junge Leute eine Perspektive zu entwikkeln.
Ich bin etwas erschrocken, daß Sie im Zusammenhang mit diesem Programm Ost nicht darüber nachdenken, welche seelischen Befindlichkeiten sich bei den Jugendlichen, die in dieser Situation sind, zukünftig möglicherweise ergeben und in welcher Not und in welcher Frustration sich das möglicherweise abspielt. Sie haben auch nichts darüber gesagt, welche gesellschaftlichen Folgen es haben kann, wenn wir uns Jahr um Jahr von einem Notprogramm zum anderen hangeln.Ich kann Ihnen jedenfalls aus 30jähriger Erfahrung mit betrieblicher und schulischer Berufsausbildung sagen: Ohne Berufsausbildung ist man im Leben immer auf der Verliererstraße. Resignation, Langeweile, Alkohol und Radikalismus sind meist die sozialen Folgen, wie alle Lebensläufe, die wir in dieser Hinsicht kennen, bestätigen. Erst eine qualifizierte Berufsausbildung gilt sozusagen als unverzichtbare soziale Eintrittskarte.
Wenn dies so ist, dann ist das betriebliche duale System immer noch ein Markenzeichen für pädagogische Qualität in Deutschland. Dieses dürfen Sie im Osten nicht dadurch verspielen, daß Sie meinen — wie Herr Ortleb es vor kurzem in Hamburg sagte; manchmal liest man so etwas noch —, außer- und überbetriebliche Ausbildungsstätten seien Ergänzungen des
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Dr. Peter Eckardtdualen Systems. Sie können das duale System nicht auf Dauer ersetzen.
Ich denke, es ist ein Hilfsprogramm, das den langfristigen Ansprüchen einer Planung beruflicher Bildung nicht entspricht. Es versorgt — das ist ein schreckliches Wort —; aber mehr auch nicht.Ich bin gern bereit, zu sagen: Ein Sonderprogramm ist immer noch besser als gar kein Programm, ein verspätetes Programm ist immer noch besser als nichts, ein schlecht finanziertes Programm ist besser als ein nicht finanziertes.
Als Regierung können Sie mit diesem Programm in der Öffentlichkeit nicht für sich in Anspruch nehmen, ein überzeugendes und wirkungsvolles Konzept beruflicher Bildung für den Osten unseres Landes, das Bedingung für einen Aufschwung ist, vorgelegt zu haben. Ich denke, das wäre eigentlich Ihre Aufgabe.
Von der Modernitätslücke in den Ausbildungsberufen in der alten Bundesrepublik hätte eigentlich ebenfalls gesprochen werden müssen. Auch hier gibt es Warnmeldungen über den Abbau von attraktiven Ausbildungsplätzen und die mangelnde Kooperation der Ausbildungsorte. Die Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen, von ausländischen Jugendlichen und Lernschwachen wird von vielen Experten auch bei uns als mangelhaft angesehen. Wenn wir an dieser Form der Berufsausbildung nichts ändern, werden wir in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren — Kollegin Odendahl hat schon darauf hingewiesen — eine Qualifikationslücke haben, die wir finanzieren müssen, die gerade dann entsteht, wenn wir auf Fachkräfte dringend angewiesen sind.Ich hoffe, Sie lernen im nächsten Jahr, wenn Sie wieder Berufsbildungspolitik im Haushalt machen, noch um. Ich fürchte, sonst werden andere diese Aufgabe übernehmen müssen.Danke schön.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nun rufe ich unseren letzten Redner auf, nämlich den Kollegen Alois Graf von Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Eckardt, ich danke Ihnen für Ihre Rede.Herr Kuhlwein, Sie haben die Psychologie junger Menschen angesprochen. Ich glaube, manchmal sollten wir hier im Hohen Hause mehr an die Psychologiejunger Menschen denken, wenn wir miteinander debattieren.
Wenn wir uns — ich nehme mich da absolut nicht aus, liebe Frau Kollegin Odendahl — wechselseitig als Idioten darstellen: die einen sind die Idioten, die die jungen Leute ins Unheil rennen lassen, und die anderen sind die Idioten, die zur Unzeit schwarzmalen, dann glauben die jungen Leute zum Schluß, alle seien Idioten. Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die beiden großen Volksparteien Stimmen einbüßen.
Ich glaube, es wäre besser, das ein bißchen zu sehen.Selbstverständlich ist es Ihr Recht und Ihre Pflicht als Opposition — um mich jetzt leger auszudrücken —, der Regierung Feuer unter dem Hintern zu machen. Das ist klar. Aber umgekehrt müssen Sie doch einfach, wenn Sie das Argument „Zu spät!" gebrauchen, anerkennen, daß wir, wenn wir im April gesagt hätten, wir machen ein Programm für 10 000, dann 10 000 zuwenig gehabt hätten, weil sich die Wirtschaft hätte gehen lassen und gesagt hätte: Na wunderbar; die Regierung macht's. Man muß den Attentismus vorher mit einschätzen. Deshalb ist das Programm zur richtigen Zeit und nicht zur falschen Zeit gekommen.
Ein zweites: Herr Hilsberg hat ein Wort gewählt und gemeint, man habe ein Versprechen gebrochen. Das ist falsch. Dieser Begriff ist nie versprochen worden. Er hat von der freien Lehrstellenwahl gesprochen. Kein Mensch kann garantieren, daß, wenn plötzlich allen Studierenden einfällt, Medizin zu studieren, alle Medizin studieren können. Und kein Mensch kann garantieren, daß es, wenn plötzlich alle Bankkaufmann werden wollen, nur noch die Ausbildung zum Bankkaufmann gibt. Wir müssen uns auf den Markt insgesamt einstellen. Das andere wäre eine falsche Erwartung.Herr Kollege Professor Keller, ich muß Ihnen absolut zustimmen. Sie haben einen ganz wichtigen Kern getroffen. Das, was wir hier machen, sind schlechte Aushilfsmaßnahmen. Das, was eigentlich greifen muß, ist der Arbeitsmarkt. Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt hängen ganz eng miteinander zusammen. Nur erfüllt der Ausbildungsmarkt so etwas wie eine Vorläuferfunktion für den Arbeitsmarkt.Überall, wo man das duale System diskutiert, wird darauf hingewiesen — der Herr Minister hat es erwähnt —, daß ein enger Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit und dem dualen System besteht. Frankreich hat eine viel höhere Jugendarbeitslosigkeit, weil es das duale System nicht hat. Wer die Chance hat, in ein duales System hineinzukommen, der hat eine viel bessere Chance, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Insofern ist auch hier entscheidend wichtig, daß wir nicht die außerbetriebliche Ersatzlösung haben, sondern, wo immer möglich, die gute betriebliche Lösung.
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15108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 175. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 22. September 1993
Alois Graf von Waldburg-ZeilHerr Hansen, ich war Ihnen sehr dankbar, daß Sie die Frage der offenen Stellen im Westen mit einbezogen haben, denn wir haben nur über den Osten gesprochen, aber nicht gesehen, daß es auch ein West-Problem gibt. Das West-Problem ist die Nichtbesetzung von etwa 100 000 Stellen. Ich muß dazusagen: Wir dürfen nicht den Fehler machen, zu sagen, daß der Staat schuld sei, sondern in allererster Linie muß die Wirtschaft, wenn sie jammert, daß bestimmte Stellen nicht angenommen werden, dafür sorgen, daß diese Stellen so attraktiv werden, daß sie wieder angenommen werden. Den Schuh sollen wir uns nicht anziehen und dürfen wir uns nicht anziehen.
Allerdings gibt es natürlich auch bildungspolitische Konsequenzen, wenn man in der Abwägung, was man für welchen Bereich tut, ein bißchen mehr auf die Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung achtet.Darf ich abschließend noch ein Wort zum Europäischen Sozialfonds sagen? Es ist ein bißchen kritisiert worden, daß er mit herangezogen worden ist. Ich bin eigentlich sehr froh und dankbar, daß es geschehenist. Bei uns geht immer noch das dumme Wort um: Wir sind die Zahlmeister für Europa. Hier können wir endlich einmal sehen, daß wir nicht die Zahlmeister Europas sind, sondern daß uns Europa auch hilft, in einer schwierigen Situation ein Problem zu bewältigen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde zur Lehrstellensituation ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 23. September 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.