Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.Zunächst möchte ich ganz herzlich dem Kollegen Dr. Erich Riedl zum 60. Geburtstag gratulieren und ihm von hier aus die besten Glückwünsche aussprechen.
— Er ist wohl nicht im Raum.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Beseitigung der französischen HADES-Atomraketen — Drucksachen 12/1212, 12/5210 —Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Abrüstung taktischer Atomwaffen — Drucksachen 12/1213, 12/5212 —Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Initiative zur nuklearen Abrüstung — Drucksachen 12/1443, 12/5213 —weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergänzung TOP 16)j) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes — Drucksache 12/5230 —Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Fehlentwicklungen bei der Verpackungsverordnung: Duales System Deutschland2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Verena Wohlleben, Hanna Wolf, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung von Frauen in Entwicklungsländern — Drucksache 12/5229 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll — soweit es bei den einzelnen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist — abgewichen werden.Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 2c abzusetzen.Außerdem mache ich auf die nachträglichen Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:Der in der 163. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17. Juni 1993 dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Haushaltsausschuß nur gem. § 96 GO überwiesen werden:Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, F.D.P. und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über besondere Maßgaben für die Anwendung des Parteiengesetzes — Drucksache 12/5134 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Haushaltsausschuß gem. § 96 GODer in der 163. Sitzung des Deutschen Bundestages am 17. Juni 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Mitberatung überwiesen werden:Gesetzentwurf der Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. zur Reform des Weinrechts — Drucksache 12/5138 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußDer in der 163. Sitzung des Deutschen Bundestags am 17. Juni 1993 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich auch dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:Antrag der Abgeordneten Josef Hollerith, Arnulf Kriedner, Ulrich Petzold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jürgen Türk, Werner Zywietz und der Fraktion der F.D.P.Altlasten des SED-Unrechtsregimes — Drucksache 12/5146 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Treuhandanstalt
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau HaushaltsausschußSind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 1a und b der Tagesordnung auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 1993— Drucksachen 12/4257, 12/4258 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
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14136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
1. zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Meinolf Michels, Richard Bayha, Dietrich Austermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Günther Bredehorn, Johann Paintner, Lisa Peters, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.2. zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die BundesregierungAgrarbericht 1992Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung— Drucksachen 12/2727, 12/2728, 12/2038, 12/2039, 12/3745 —Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried HornungZum Agrarbericht haben die Fraktion der SPD und die Gruppe PDS/Linke Liste je einen Entschließungsantrag eingebracht.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Bundesminister das Wort, Herr Borchert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich lege heute dem Deutschen Bundestag den Agrarbericht 1993 vor. Der Bericht weist im abgelaufenen Wirtschaftsjahr 1991/92 für das frühere Bundesgebiet im Durchschnitt der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe einen Anstieg der Gewinne um 4,3 % auf rund 47 700 DM je Unternehmen aus. Damit wurde der im vorhergehenden Wirtschaftsjahr eingetretene deutliche Gewinnrückgang teilweise wieder ausgeglichen. Im laufenden Wirtschaftsjahr, das in wenigen Tagen endet, ist bei insgesamt ungünstigeren Preisen mit leicht rückläufigen Einkommen zu rechnen.In den neuen Ländern lassen erste Testergebnisse folgende Tendenzen erkennen: Einzelunternehmen und Personengesellschaften erzielten auf Grund der großen Anbauflächen bereits relativ gute Gewinne je Unternehmen und Arbeitskraft. Hierzu haben auch die umfangreichen staatlichen Hilfen wesentlich beigetragen. Die Gewinnsituation der juristischen Personen war dagegen unbefriedigend. Im Durchschnitt konnten aber immerhin Löhne und Gehälter wie in anderen Wirtschaftsbereichen gezahlt werden.Der Anpassungs- und Umstrukturierungsprozeß in den neuen Ländern dauert an. Es ist inzwischen eine beachtliche Anzahl vielseitig strukturierter Unternehmen entstanden. Der Wettbewerb wird zeigen, welche Unternehmensformen sich langfristig durchsetzen werden.Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen läuft die erste Stufe der Agrarreform an. Wir werden darauf achten, daß die Reform in allen Mitgliedstaaten gleichgewichtig umgesetzt wird und daß die angestrebten Ziele der Marktentlastung sowie der Einkommensentwicklung erreicht werden.
Und wir wollen, daß die Reform vereinfacht wird. Ich habe der EG-Kommission hierzu ein Memorandum mit meinen Vorstellungen vorgelegt.Bei den diesjährigen Preisverhandlungen habe ich wichtige Verbesserungen erreichen können; weitere Verbesserungen sind zugesagt. Mein Ziel bei den diesjährigen Preisverhandlungen war es, Einkommenseinbußen für die deutsche Landwirtschaft soweit wie möglich zu verhindern. Bei den Ergebnissen möchte ich die Anhebung der durchschnittlichen Stillegungsprämie je Hektar von rund 590 auf 750 DM und die Zulassung der Dauerbrache neben der Rotationsbrache besonders herausstellen. Damit wird die von der Bundesregierung favorisierte Politik der Mengenrückführung gegen Einkommensausgleich konsequent fortgeführt und attraktiver gestaltet.Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der letzten Woche habe ich mein Konzept zur künftigen Ausgestaltung der Agrarpolitik der Öffentlichkeit vorgestellt. Auch wenn dies nicht die Zeit kostenträchtiger Programme ist, muß es uns darum gehen, unseren Bäuerinnen und Bauern eine klare Orientierung zu geben und die Agrarpolitik für sie überschaubarer, praktikabler und kalkulierbarer zu machen. In den weiteren politischen Beratungen gilt es nun, das Konzept durch konkrete Maßnahmen auszufüllen.Dabei sehe ich vor allem folgende Aufgabenfelder: erstens Stärkung der leistungs- und umweltbezogenen Prinzipien in der Agrarstrukturförderung; zweitens Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Agrarmärkte und Absicherung durch einen ausreichenden Außenschutz; drittens Sicherung flankierender Einkommenshilfen; viertens Weiterentwicklung der Agrarsozialpolitik; fünftens weitere Erschließung von nachwachsenden Rohstoffen; sechstens Aufbau einer leistungsfähigen Land- und Ernährungswirtschaft in den neuen Ländern; siebentens Verbesserung der Attraktivität ländlicher Räume; achtens Stärkung artgerechter, umweit- und landschaftspflegerischer Produktionsverfahren; neuntens Verbesserung der Verbraucherinformationen und des Verbraucherschutzes.Im Kern geht es insbesondere darum, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe zu verbessern; denn dies ist die Voraussetzung dafür, daß die Landwirtschaft auch künftig ihre vielfältigen Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen kann. Das heißt konkret: Produktion von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen, aber auch Erhaltung und Pflege der Kulturlandschaft und ländlicher Räume.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14137
Bundesminister Jochen BorchertIn der Agrarstrukturpolitik muß die Verbesserung der Betriebsstruktur gezielt unterstützt werden. Ich werde deshalb beispielsweise bei der einzelbetrieblichen Förderung für eine Fortsetzung der EG-Sonderregelungen in den neuen Ländern eintreten. Ich werde mich des weiteren dafür einsetzen, daß bei den überbetrieblichen Maßnahmen der Schwerpunkt in den neuen Ländern gesetzt wird.Aber auch in der Markt- und Preispolitik gilt es, die Voraussetzungen für die Entwicklung der Betriebe weiter zu verbessern. Ich werde deshalb beispielsweise dafür kämpfen, daß die 90-Tier-Grenze bei der Rindfleischmarktordnung abgeschafft wird, und ich werde — in Übereinstimmung mit dem Berufsstand und den Ländern — in den alten Bundesländern die Handelbarkeit der betrieblichen Milchreferenzmengen flexibler gestalten, indem ein Quotentransfer innerhalb vorgegebener Verwaltungsregionen ohne Flächenbindung zugelassen wird.
Die vorläufige Zuteilung der Milchquoten für die neuen Länder mit einer Spitzensaldierung für diese Länder wird auch für die Zukunft beibehalten.Noch in dieser Legislaturperiode, meine Damen und Herren, wird die vieldiskutierte Reform der Agrarsozialpolitik beschlossen.
— Lassen Sie sich überraschen. Es wäre hilfreich, wenn Sie dabei mithelfen würden.
Aber ich komme gleich noch zu den Aussagen, die von Ihrer Seite dazu gemacht worden sind.Über diese klassischen Bereiche der Agrarpolitik hinaus werden wir prüfen, wie die Wettbewerbsfähigkeit unserer landwirtschaftlichen Betriebe durch neue Technologien verbessert werden kann. Ich denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Biotechnologie und die Gentechnik, denen vor allem auch für die weitere Erschließung von nachwachsenden Rohstoffen große Bedeutung zukommt.
Meine Damen und Herren, die Sicherung und Pflege der Kulturlandschaft, die Erhaltung der Umwelt sind öffentliche Güter, für die es keinen Marktpreis gibt. Diese Leistungen müssen mit öffentlichen Mitteln sichergestellt werden, wenn die Agrarpreise dazu nicht mehr ausreichen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Ausgleichszulage in den benachteiligten Gebieten.Mit der gleichen Begründung werde ich darauf hinwirken, daß Einkommenseinbußen durch Auflagen des Umweltschutzes, die über die Grundsätze der guten fachlichen Praxis hinausgehen, finanziell ausgeglichen werden.
— Vielen Dank, Herr Kollege! — Mit der gleichen Zielsetzung befürworte ich schließlich, besondere Leistungen der Landwirtschaft im Umweltbereich finanziell zu honorieren.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird auch künftig ihre erfolgreiche Politik der Einkommenssicherung für unsere Bäuerinnen und Bauern fortsetzen. So werden wir beispielsweise die Bundesmittel für den soziostrukturellen Einkommensausgleich und die Anpassungshilfe bereitstellen, für deren Verlängerung wir in Brüssel erfolgreich gekämpft haben.Nachdem der Bundesrat darauf verzichtet hat, den Vermittlungsausschuß anzurufen, werden wir die von den Ländern beschlossene abgeschwächte betriebsgrößenabhängige Degression bei der Anpassungshilfe in den neuen Ländern akzeptieren; denn wir wollen keine Verzögerung bei der Auszahlung der Bundesmittel, weil wir wissen, daß die Landwirtschaft im Augenblick nicht darauf verzichten kann. Nun sind die Lander aufgerufen, wie auch in den vergangenen Jahren ihren Beitrag zu leisten, damit unsere Landwirte den vollen Betrag erhalten.Ein klares Bekenntnis zur Politik der Einkommenssicherung würde ich mir auch von Ihnen wünschen, meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD. Schließlich waren Sie es, die direkte Einkommenshilfen in der Vergangenheit immer als Ihren Heilsweg in der Agrarpolitik proklamiert haben.
Das alles soll nun auf einmal nicht mehr wahr sein. Wie sonst ist es zu verstehen, daß die SPD u. a. fordert, die Gasölbeihilfe solle im Bundeshaushalt 1994 gestrichen, der Abbau des soziostrukturellen Ausgleichs solle beschleunigt und auf die Agrarsozialreform solle verzichtet werden?
— Auf „die" haben Sie gesagt.Haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, je ausgerechnet, was das bedeutet? — Wahrscheinlich nicht. Ich habe es für Sie getan. Allein diese Streichungsvorschläge würden rund 1,5 Milliarden DM ausmachen. 1,5 Milliarden DM, das sind fast 8 % der landwirtschaftlichen Einkommen. Dies wollen Sie den Bauern in einer sowieso schon schwierigen Zeit zumuten!
— Da sie es ihnen nicht sagen, Herr Kollege, müssen wir es draußen laut genug sagen.Meine Damen und Herren, wer wie die SPD unseren Bäuerinnen und Bauern in einer extrem schwierigen Zeit mutwillig die Einkommen zurückschneiden will, der handelt für mich schlichtweg verantwortungslos.
Wer wie die SPD den soziostrukturellen Einkommensausgleich und die Anpassungshilfe zweckentfremden
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14138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Bundesminister Jochen Borchertwill, indem er einigen über massive Förderung etwas zuspricht, was er anderen vorenthält, der kann nicht mit meiner Zustimmung rechnen.
Dies ist nicht die soziale Verantwortung, wie die Bundesregierung sie versteht. Es braucht uns keiner zu sagen, daß gespart werden muß und daß davon auch die Landwirtschaft betroffen ist. Allerdings gilt es, dabei Augenmaß zu zeigen und Kontinuität und Verläßlichkeit der Agrarpolitik zu wahren.Ich appelliere deshalb an alle, unsere Politik für Bäuerinnen und Bauern nachhaltig zu unterstützen. Unseren Bauern wünsche ich für die bevorstehende Ernte gutes Wetter und Glück in Haus und Stall.Vielen Dank.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Horst Sielaff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die deutsche und die europäische Landwirtschaft befinden sich in einer sehr schwierigen Lage. Unsere Bäuerinnen und Bauern haben Sorge, Sorge um die Zukunft, um die Zukunft ihrer Kinder und ihrer Höfe. " Der Agrarbericht 1993 belegt diese Aussagen des damals noch neuen Landwirtschaftsministers auf dem Internationalen Forum Agrarpolitik auf der Grünen Woche 1993.Die Bundesregierung spricht oft und gern — heute ist es nicht geschehen — von der sogenannten Erblast, die sie abzutragen habe. Die gegenwärtige, besonders schwere Krise der Landwirtschaft kann nun aber beim besten Willen nicht den Sozialdemokraten als Erblast in die Schuhe geschoben werden.
Noch weniger Schuld an der agrarpolitischen Misere haben die Landwirte selbst. Falsche politische Rahmenbedingungen und Ideologien, an denen auch die gegenwärtige Bundesregierung zu lange festgehalten hat, sind Mitverursacher einer verfehlten Agrarpolitik.
Die Einkommenssituation in der Landwirtschaft ist alles andere als rosig. Der leichte Anstieg der Gewinne im Berichtszeitraum konnte die Rückgänge des Vorjahres bei weitem nicht wettmachen. Jetzt sind Besserungen nicht zu erwarten.
Im Gegenteil, im abgelaufenen Jahr muß die deutsche Landwirtschaft im Durchschnitt mit Gewinnrückgängen rechnen. Das gilt auch für das in wenigen Tagen beginnende neue Wirtschaftsjahr. Viele landwirtschaftliche Betriebe leben bereits von der Substanz.Sie haben keine Eigenkapitalbildung. In vielen Betrieben reicht der Gewinn nicht, um Ersatzinvestitionen finanzieren zu können.
Viele Betriebe haben keinen Hofnachfolger. Erschreckend ist dies in Betrieben, die bisher als relativ gesund angesehen wurden. Perspektivlosigkeit greift um sich. Die eingangs erwähnte Sorge der Bäuerinnen und Bauern um die Zukunft ihrer Kinder und Betriebe nimmt zu.Diese negativen Entwicklungen werden durch eine insgesamt viel zu bürokratische und zu spät in Angriff genommene EG-Agrarreform unterstützt, die in Ansätzen richtig war und viele von uns Sozialdemokraten für wichtig gehaltene Aspekte einer neuen Agrarpolitik enthält.
Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, die Preissenkung in Höhe von 1,3 % zu verhindern bzw. auszugleichen, die sich auf Grund der vom Rat im Dezember 1992 beschlossenen agrarmonetären Regelung infolge der Währungsereignisse seit September 1992 ergibt.
Weitere Preiseinbußen — lieber Herr Hornung, Sie wissen das genau — und Gewinnrückgänge für die deutsche Landwirtschaft sind die Folge.Mit der Verabschiedung des soziostrukturellen Einkommensausgleichs ab 1993 durch die Koalitionsparteien im Deutschen Bundestag — erst vor wenigen Tagen — wird von der Bundesregierung gern darüber hinweggetäuscht, daß weitere Einkommensrückgänge durch die Bundesregierung bereits vorprogrammiert sind. Der ersatzlose Wegfall des 2%igen Mehrwertsteuerausgleichs für die deutsche Landwirtschaft trägt dazu bei. Es handelt sich um nicht weniger als 40 % der ursprünglichen Gesamtmaßnahme Mehrwertsteuerausgleich, die fortfallen. Er machte rund 6 % des Gewinns in den landwirtschaftlichen Betrieben aus, wie es die Agrarberichte ausweisen.Es wird auch gern verschwiegen, daß nach dem Willen der Koalition die Mittel für den soziostrukturellen Einkommensausgleich selbst ab 1994 in den Folgejahren bis zum Auslaufen erheblich gekürzt werden.Die Bundesregierung mutet darüber hinaus den landwirtschaftlichen Betrieben in den neuen Bundesländern eine strikte Degression der Anpassungshilfen zu — und dies, obwohl viele Betriebe wegen der unzureichenden Altschuldenregelung und sich immer wieder verzögernder langfristiger Flächenzuteilungen finanziell und wirtschaftlich noch nicht über den Berg sind, wie wir alle wissen.
Die Anpassungshilfen sollten bei einigen Betriebengegenüber der Vergangenheit sogar um die Hälftegekürzt werden. Durch massiven Einsatz der neuen
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Horst SielaffBundesländer wurde dies glücklicherweise verhindert.Die Agrarsozialreform, lieber Herr Minister, läßt weiter auf sich warten. Oft angekündigt, verschwindet sie schnell wieder. Selbst vom Kabinettstisch wird sie kurzerhand verdammt. Der Kanzler verkündet, sie sei nicht zu finanzieren. Gerade in einer so angespannten Einkommenssituation wie der j etzigen ist sie um so nötiger und dringender, damit endlich die knappen öffentlichen Mittel gerechter und — im strengen Wortsinn — agrarsozialverträglicher eingesetzt werden können.
— Hören Sie doch einmal zu, Herr Hornung; Sie reden sich selbst etwas ein. Hören Sie zu; Sie wollten dazu die Oppositionsmeinung hören.
Auch den sich vollziehenden Strukturwandel müssen wir sozial abfedern. Die Bundesregierung wird nun natürlich, wie wir es kennen, die Latte der Zahlungen an die Landwirtschaft in den vergangenen Jahren hervorholen. Aber auch dies täuscht nicht darüber hinweg, daß die Bundesregierung selbst wichtige Änderungen im Bereich der Agrarpolitik vorgenommen hat, die unmittelbare Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Betriebe und deren Einkommen haben.Was auf den Agrarbereich im einzelnen noch im Rahmen der Stabilisierungsbemühungen für den Bundeshaushalt — sprich: an Kürzungen — zukommt, hat die Bundesregierung bisher noch nicht näher ausführen wollen. Mehr Gelder werden es bestimmt nicht. Eher wird die Förderung weiter eingeschränkt werden müssen; denn die kritische Einkommenslage vieler landwirtschaftlicher Betriebe fällt zusammen mit einem eingeschränkter werdenden Spielraum für die öffentlichen Haushalte.
Insofern begrüße ich grundsätzlich, daß der neue Landwirtschaftsminister erst in diesen Tagen versucht hat, den künftigen Weg seiner Agrarpolitik zu beschreiben. Nur: Das, Herr Borchert, was Sie in der letzten Woche als Ihren neuen Weg vorgestellt haben, ist keiner. Daß Sie darüber hinaus glaubten, auf die Anwesenheit des Fachausschusses, der gleichzeitig — langfristig geplant — in Stuttgart tagte, verzichten zu können, ist übrigens, wie ich meine, mehr als nur eine Stilfrage.
In der Zielsetzung stimmen wir — zumindest auf den ersten Blick — angesichts der geänderten Rahmenbedingungen in vielen Dingen überein. Erst am 23. April dieses Jahres haben die agrarpolitischen Sprecherinnen und Sprecher der SPD-Fraktionen des Bundestages, der Landtage, der Bürgerschaften und des Europäischen Parlaments in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht, daß die bisherige Förderpolitik im Lichte der Entscheidungen zur EG-Agrarreform grundsätzlich überprüft werden muß.
Sie haben dafür folgende Grundsätze aufgestellt: Unterstützung und Stärkung einer Landwirtschaft, die sich an den Erfordernissen des Marktes und der Umwelt ausrichtet, d. h. insbesondere eine Verstärkung der strukturverbessernden Förderung; Schaffung vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten der EG und den Ländern der Bundesrepublik Deutschland; besonderes Augenmerk ist dabei den Rechtsvorschriften in den Bereichen Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz zu widmen, die EG-weit auf möglichst hohem Niveau gelten müssen; auch das Steuerrecht muß harmonisiert werden — ich nehme an, auch da stimmen wir überein —; soziale Flankierung des Strukturwandels; Weiterentwicklung und Förderung der ländlichen Räume durch integrierte Konzepte mit dem Ziel, die Wirtschaftskraft der Agrarregionen zu stärken.Diese Zielsetzungen haben die Vorsitzenden der SPD-Fraktionen auf ihrer Konferenz im Juni in Kiel gemeinsam bestätigt.Ob wir, Herr Bundesminister, allerdings in bezug auf den Weg, auf dem die angestrebten Ziele zu erreichen sind, noch übereinstimmen, habe ich erhebliche Zweifel. Ihr künftiger Weg zur Sicherung des Agrarstandorts Deutschland scheint uns eine Mogelpackung zu sein. Die beste Zielformulierung nutzt nichts, wenn die Kraft fehlt, diese auch durch gezielte Maßnahmen zu realisieren. Der Waigelsche Sparzwang mit einem Volumen um 20 Milliarden DM oder mehr zwingt zu räumlichen und inhaltlichen Schwerpunktbildungen auch in der Agrarpolitik. Dazu fehlt dem Agrarminister, bisher zumindest, leider der Mut.Mit vier Beispielen möchte ich das unterstreichen:Das erste Beispiel ist der soziostrukturelle Einkommensausgleich. Angesichts der neuen Rahmenbedingungen und der knapper werdenden Finanzmittel haben wir Sozialdemokraten uns mit Anträgen dafür eingesetzt, die verfügbaren Mittel gezielt für Investitionen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und zur Förderung einer umweltschonenden Landbewirtschaftung einzusetzen. Wir Sozialdemokraten wollten und wollen — hören Sie zu, damit Sie das weiterverkünden und nicht immer draußen irgendwelche Märchen erzählen — diese Mittel für die Agrarpolitik und zur Entwicklung des ländlichen Raumes erhalten. Wir wollten aber weg vom Gießkannenprinzip und diese Mittel gezielt dort einsetzen, wo sie dringend benötigt werden.
Sie, Herr Minister, bleiben aber bei Ihrer alten Politik, möglichst allen etwas zu geben, unabhängig von der Einkommenslage und der dringenden Notwendigkeit. Zum Beispiel fördern Sie nach wie vor mit diesen Mitteln Betriebe, die durchaus auf die Förde-14140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 23. Juni 1993Horst Sielaffrungsmittel verzichten können, die andere dringend brauchen.
Ihre selbstgesteckten Ziele bleiben dabei, wie ich meine, auf der Strecke.Das zweite Beispiel ist die Agrarsozialpolitik. Ich möchte hier für die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich erklären: Wir wollen eine sozial gerechte und solide finanzierte Agrarsozialreform. Beiträge und Leistungen sind solidarisch zu gestalten. Soweit das möglich ist, soll eine Angleichung an die Rentenversicherung erfolgen. Die Landfrauen brauchen eine eigenständige Absicherung mit eigenen Beiträgen.
Für eine solche Reform werden im übrigen keine zusätzlichen Bundesmittel benötigt.
Bis heute wird viel Geld für zum Teil absurde Regelungen ausgegeben,
z. B. für die Beitragszuschußregelung in der Altershilfe bei viel zu hohen Einkommensgrenzen. Das kann für vernünftigere Dinge innerhalb des Sozialhaushalts genutzt werden. Wir bieten, Herr Minister, unsere Mitarbeit in diesem Bereich ausdrücklich an.
Das dritte Beispiel ist die Ausgleichszulage in den benachteiligten Gebieten. „Das auf Kontinuität angelegte Förderprogramm darf nicht in Frage gestellt werden", sagte jedenfalls die Bundesregierung in ihrer Antwort von Anfang Juni 1993 auf eine Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Umsetzung der flankierenden Maßnahmen. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie die leichtfertige und sehr durchsichtige Ausweitung der benachteiligten Gebiete und der Förderung mit der Ausgleichszulage u. a. auf Ackerstandorte durch Bundesminister Kiechle auch nicht vor dem Hintergrund der pauschalierten Ausgleichszahlungen aus der EG-Agrarreform, die diese Standorte jetzt erheblich begünstigt, hinterfragten und versuchten, ein Gleichgewicht wiederherzustellen.
Das vierte Beispiel ist die Gasölbeihilfe, die hier ebenfalls angesprochen worden ist.
— Nein, vom Minister; Sie haben Ihrem Minister nicht zugehört, Herr Hornung. — Auch sie wird bei Ihnen unter der Überschrift „Einkommenssicherung über direkte Ausgleichszahlungen" abgehandelt, und die Mittel dürfen nach Ihren Vorstellungen nicht in Überlegungen für eine neue sachliche und räumliche Schwerpunktbildung in der Agrarpolitik des künftigen Weges einbezogen werden. Vom Prinzip einerFörderung nach ökologischen Kriterien ist diese Maßnahme aber weit entfernt. Gerade hier wäre eine Diskussion über Sinn und Zweck angebracht, die aber — ich sage das ausdrücklich — europaweit und EG-einheitlich geführt werden muß.
Eine weitere knappe Milliarde DM ist damit nach Ihren Vorstellungen bereits gebunden. Ich frage Sie: Wie will die Bundesregierung über einen künftigen agrarpolitischen Weg den Agrarstandort Deutschland sichern, wenn die haushaltsmäßige Verfügungsmasse in ganz wesentlichen Teilen nicht zur Verfügung steht und bisherige Mittel nicht angetastet werden sollen?
Bleibt also als Verfügungsmasse für die Politik der Regierung nur die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" übrig und dort im wesentlichen der Teil, der für die Förderung von Investitionen zur Verfügung steht. Hier stehen aber überhaupt nur in bescheidenem Maße Mittel bereit. Sie selbst, Herr Minister, sagten Anfang Juni 1993 in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur „Umsetzung der flankierenden Maßnahmen der EG-Agrarreform in der Bundesrepublik Deutschland", daß Sie keine andere Wahl haben, als Mittel in der Gemeinschaftsaufgabe umzuschichten, um überhaupt die umweltgerechte landwirtschaftliche Produktion als flankierende Maßnahme der EG-Agrarreform fördern zu können.Sieht man sich Ihre Umschichtungsversuche für die wichtige Förderung umweltgerechter Produktionsweisen genauer an, so muß man feststellen, daß dafür praktisch kaum Finanzmittel übrigbleiben. Ich frage mich deshalb ernsthaft, mit welcher Berechtigung diese Bundesregierung die Förderung umweltverträglicher Landbewirtschaftung auf ihre Fahnen zu schreiben wagt.
Die Bundesregierung will mehrere überbetriebliche Maßnahmen, wozu insbesondere die Dorferneuerung, die Flurbereinigung, wasserwirtschaftliche Maßnahmen und Maßnahmen zur Verbesserung der Marktstruktur gehören, in den alten Ländern aussetzen. Besonders hervorgehoben haben Sie, Herr Minister, dabei die wasserwirtschaftlichen Maßnahmen. Aber gerade diese Maßnahmen stellen Investitionen in die Zukunft dar; sie verbessern die Infrastruktur u. a. durch den Ausbau von Abwasser- und Wasserversorgungsanlagen und die Schaffung einer funktionsgerechten Verkehrsinfrastruktur. Das alles sind Maßnahmen, die die Lebensqualität der Dörfer und des ländlichen Raumes verbessern.
Dort legen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Hand an, weil Sie nicht die Kraft haben, diesen in der Tat gewaltigen Kraftakt angesichts stark veränderter Rahmenbedingungen und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14141
Horst Sielaffeiner wirksamen Neubesinnung der Agrarpolitik in Deutschland zu vollziehen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kalb?
Bitte. Sie wird ja nicht auf meine Redezeit angerechnet.
Herr Kollege Sielaff, würden Sie mir bestätigen, daß die wasserwirtschaftlichen Maßnahmen und der Ausbau der Verkehrswege in den ländlichen Räumen vorrangig eine Aufgabe der Länder und nicht des Bundes sind, wie es ja einige Länder praktizieren?
Also, lieber Herr Kollege, hier wird das gleiche Spiel betrieben. Im Bund werden Dinge beschlossen und Mittel gekürzt, und die, die am wenigsten haben, die Kommunen und die Länder, sollen es dann finanzieren. Das ist es ja gerade, was Sie machen.
Sie wissen genau wie ich, daß die Gemeinschaftsaufgabe mit von den Ländern zu finanzieren ist. Unsere Länder waren bereit, hier ihren Anteil zu zahlen. Insofern stimmt der Akzent Ihrer Frage überhaupt nicht.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen? — Herr Kollege, wenn Sie so antworten, darf ich Sie darm bitten, mir in Ihrer verbleibenden Redezeit noch zu erläutern,
wie denn nun das Sparkonzept der SPD, das verschiedentlich angekündigt worden ist, nun wirklich ausschaut. Ich höre so viel Unterschiedliches, daß ich nicht weiß, woran ich bin.
Herr Kollege, ich weiß, daß Abgeordnete, insbesondere Abgeordnete im Haushaltsausschuß, wenig Zeit haben, um alles zu lesen. Trotzdem bin ich gerne bereit, Ihnen alle unsere Beschlüsse hier im Hause und anderswo zur Verfügung zu stellen. Vielleicht lassen Sie eine Synopse machen, so daß Sie darm auch über die Akzente, die wir deutlich öffentlich dargelegt haben, bestens informiert sind.
Meine Damen und Herren, obwohl Sie in diesen wichtigen Bereichen kürzen wollen — —
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?
Herr Kollege Sielaff, wären Sie damit einverstanden, wenn ich als der Kollege von Herrn Kalb im Haushaltsausschuß und Mitberichterstatter für den Einzelplan 10 es übernähme, ihn darüber aufzuklären?
Ich wäre ausgesprochen dankbar. Vielleicht kommen wir dann dazu — und das wäre auch im Sinne des Ministers, glaube ich —, daß wir gemeinsam vernünftig Zukunftsperspektiven für die Landwirtschaft öffentlich diskutieren und durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, im gleichen Atemzug wollen Sie die Entwicklung der ländlichen Räume und der Dörfer voranbringen, wie soeben Herr Kalb andeuten wollte. Ich frage mich nur: Wie? Etwa durch Aussetzung der Förderung der kommunalen Infrastruktur gerade in den Dörfern, die angesichts des bevorstehenden Strukturwandels in der Landwirtschaft auch der alten Lander vor großen Aufgaben stehen?Ich weiß — damit möchte ich zum Schluß kommen —, daß vor dem Hintergrund der EG-Agrarreform, des bevorstehenden GATT-Abschlusses, der Realisierung des EG-Binnenmarktes und der deutschen Einigung die vor uns liegenden Probleme auch im Agrarbereich riesig sind und größter Anstrengung bedürfen. Was ich kritisiere, ist, daß die Bundesregierung für Reformen praktisch keinen Spielraum hat. So jedenfalls ist der künftige agrarpolitische Weg zur Sicherung des Agrarstandorts Deutschland nicht zu beschreiten.Trotz seines guten Zahlenmaterials fehlt uns Wichtiges im Agrarbericht. Es werden keine Angaben darüber gemacht, wie und in welchen Zeiträumen die Sicherung und die Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen agrar- und umweltpolitisch erreicht werden sollen. Es fehlen ein Konzept und ein Programm zur ökologischen Umstrukturierung der Land- und Forstwirtschaft. Agrarpolitik muß sich einordnen in eine langfristig angelegte, Kreisläufe berücksichtigende Gesamtstrategie zur Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.Deshalb fordern wir in unserem Antrag im jährlichen Agrarbericht eine umfassendere Darstellung der Beeinträchtigungen der Landschaft und des Naturhaushalts, die durch die Land- und Forstwirtschaft verursacht werden oder sie selbst beeinträchtigen. Wir müssen Fakten haben und müssen weg von emotionalen Unterstellungen, auch gegenüber der Landwirtschaft.Beherzigen Sie, Herr Minister, ruhig die Worte des agrarpolitischen Sprechers der F.D.P.-Fraktion. Herr Bredehorn hat bei der Vorstellung des „Neuen Weges" gesagt: „Diese Grundsätze sollen aber nicht wie Transparente an der Hausfassade flattern; auch die Inneneinrichtung muß dem entsprechen."
Lieber Herr Bredehorn, vielleicht springt die Regierungskoalition einmal über ihren eigenen schwarzen
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14142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Horst SielaffSchatten, stimmt unserem Antrag zu und stimmt damit für eine zukunftsgerichtete Agrarpolitik.Ich bedanke mich.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Egon Susset.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Sielaff hörte sich an, als ob er die Vorgaben einem anderen Stern entnommen hätte.
Ich habe hier nur einige Pressemitteilungen der SPD-Bundestagsfraktion.
— Von der SPD. Ich habe keine anderen Presseerklärungen hier als die der SPD. Und hier ist von Sparvorschlägen die Rede. Gasölverbilligung: 910 Millionen. Alles SPD-Sparbeschlüsse.
Der Verzicht auf die Agrarsozialreform wird hier mit 200 Millionen beziffert. Vollständiger Abbau des Währungsausgleichs: 342 Millionen; wenn man hier Bund und Länder zusammennimmt, ist es eine Milliarde.
Beseitigung der Gewinnermittlung nach Durchschnittssätzen gemäß § 13a: 440 Millionen.
Streichung der Steuerermäßigung bei Abfindung weichender Erben und Verkäufen von Grundstücken, wurde mir gesagt, etwa 500 Millionen.
Wenn man das alles zusammen betrachtet, könnte man, falls der Minister Borchert recht gehabt hätte mit 1,5 Milliarden, vielleicht einen Teil der Rede des Kollegen Sielaff noch als durchdacht ansehen. Aber es sind insgesamt 3,042 Milliarden; das ist alles aus Ihren Presseerklärungen zu entnehmen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, so sollten wir nicht miteinander umgehen; so sollten wir in einer schwierigen Lage der Land- und Ernährungswirtschaft auch nicht reden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo?
Ja; jederzeit.
Herr Kollege Susset, ich höre jetzt aus Ihren Worten, daß der Weltuntergang eintritt, wenn das passiert, was die SPD sagt.
Sind Sie bereit, Herr Kollege Susset, mit mir irgendwo eine Veranstaltung nach Ihrer Wahl zu machen, wo wir aufrechnen, in welcher Zeit es den deutschen Bauern besser ging, unter dieser Regierung oder unter den Sozialdemokraten?
Ich bin zu jedem Termin bereit.
Ich bin in der Regel zu allen Veranstaltungen bereit. Ich bin auch bereit, dazu beizutragen, daß einige Leute zur Veranstaltung kommen, um dann dem Kollegen Oostergetelo zumindest auch im agrarpolitischen Bereich ein volles Haus zu bieten.
— Sie dürfen mich beim Wort nehmen.Meine Damen und Herren, die jährliche Agrardebatte stellt jedes Jahr die Lage der deutschen Landwirtschaft dar. Die statistischen Grundlagen liefert die Bundesregierung. Deshalb sind wir den Mitarbeitern des BML und den Länderministerien, besonders aber den landwirtschaftlichen Betriebsleitern dankbar, die mit viel Mühe die Fakten zusammengetragen haben.Die Agrarreform 1992 hat eine Wende in der europäischen Agrarmarktpolitik eingeleitet, und zwar zu markt- und umweltorientierter Politik. Sie wird die Entwicklung unserer Landwirtschaft und die Gestaltung der Agrarpolitik über die 90er Jahre hinaus maßgebend bestimmen. Die Reform als solche war überfällig, um die agrarpolitischen Fehlentwicklungen zu stoppen. Landwirtschaftliche Erzeugung läßt sich nicht dauerhaft gegen die elementaren Marktkräfte von Angebot und Nachfrage abschirmen. Die Preisstützung konnte weder ihre Markt- noch ihre Einkommensfunktion erfüllen, weil man sich in Brüssel nicht rechtzeitig zu einer Produktionsbegrenzung besonders bei Getreide hat durchsetzen können.
Es war nun ein großer Verhandlungserfolg, daß die Bundesregierung durchsetzen konnte, daß immerhin Ausgleichszahlungen zwischen 7 und 8 Milliarden DM aus der EG-Kasse kommen werden.Die Reformbeschlüsse müssen nun, wenn auch nicht in allen Teilen von uns gewollt, aber als einzige konsensfähige Alternative zum Nutzen unserer Landwirte in Brüssel zustandegekommen, konsequent umgesetzt werden. Dies muß jedoch gleichgewichtig und wirksam in allen EG-Mitgliedstaaten geschehen.
Mit der Reform 1992 sind die Probleme der EGAgrarpolitik angegangen, aber noch nicht dauerhaft gelöst. Wo notwendig, muß das Reformergebnis ziel-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14143
Egon Sussetgerecht nachgebessert werden, z. B. bei Rindfleisch. Im Gegensatz zur Opposition wollen wir also keine Reform der Reform, wohl aber notwendige und vertretbare Korrekturen.
Der Landwirtschaftsminister hat bereits eine einfache Durchführung erreicht. Dies läßt auf weitere Fortschritte entsprechend dem deutschen Memorandum hoffen. Es darf nicht dazu kommen, daß die reformbedingten Reglementierungen mit deutschem Perfektionismus exekutiert werden, während man dies in anderen EG-Ländern unbürokratischer angeht.
Dies würde die deutschen Landwirte unberechtigt hart treffen, und dies würde auch Europa diskreditieren. Das darf nicht sein.In den diesjährigen Agrarpreisverhandlungen gab es wenig Entscheidungsspielraum. Die Preisbeschlüsse sind durch die Reformbeschlüsse bereits vorweggenommen. Aber, Herr Minister Borchert, wir bestätigen, Sie haben Ihren Verhandlungsspielraum in Brüssel voll ausgeschöpft, um insgesamt ein noch vertretbares Ergebnis zu erzielen. Zu begrüßen ist— Sie haben es schon angesprochen — die Anhebung der Flächenstillegungsprämie. Sie ist Anreiz für Produktionsverzicht und sicherlich auch ein gewisser Ausgleich für die stark gebeutelten Getreideerzeuger.Nach Auffassung der SPD ist diese Regelung für die— so Ihre Presseerklärung — schon reichlich gesegneten Getreideproduzenten allerdings zu teuer. Die Opposition macht es sich zu einfach, wenn sie die Reform in Bausch und Bogen ablehnt, ohne eine konstruktive Alternative anbieten zu können.
Der Wermutstropfen bleibt. Trotz intensiver Anstrengungen konnte eine aufwertungsbedingte Preissenkung von 1,3 % nicht verhindert werden.Die Reform hat nicht nur die Lösung der Überschußprobleme im Visier. Sie hat mit den flankierenden Maßnahmen den Akzent gleichzeitig auf eine umweltverträglichere Landwirtschaft und extensive Produktionsverfahren gesetzt. Leistungen der Landwirtschaft zum Erhalt von Natur und Umwelt können in Zukunft gezielt vergütet werden, damit umweltgerechte landwirtschaftliche Produktionsweisen auch gefördert werden können.
Als Voraussetzung hierfür hat der Deutsche Bundestag die Änderung des Gemeinschaftsaufgabengesetzes bereits in erster Lesung beraten,Auch die Aufforstung stillgelegter landwirtschaftlicher Flächen bietet eine gute Chance zur Entlastung der Agrarmärkte und zum Schutz der Umwelt. Die großzügige finanzielle Förderung macht die Maßnahme zu einem effizienten und zweckmäßigen Instrument.
Wenn wir aber von Aufforstung reden, darf uns die Lage der Forstwirtschaft nicht gleichgültig sein.
Wir sind gut beraten, wenn wir uns gemeinsam Gedanken machen, wie wir die prekäre Ertragslage in der Forstwirtschaft durch geeignete Maßnahmen verbessern können.
Ich glaube, das ist etwas, was wir der Umwelt und nicht nur der in der Land- und Forstwirtschaft tätigen Bevölkerung wegen tun müssen.
Wer Europa vorwirft, den Agrarmarkt gegenüber Einfuhren abschotten zu wollen, der redet nicht die Wahrheit. Tatsache ist, daß schon gegenwärtig umfangreiche Importe von Nahrungs- und Futtermitteln in die EG und nach Deutschland gelangen. Deutschland ist weltweit größter Agrarimporteur. Im Jahr 1991 haben wir Agrarprodukte im Wert von 68 Milliarden DM importiert, aber auch — das wird viel zu selten gesehen — für 35,8 Milliarden DM exportiert. Diese Zahlen beweisen auch, daß der Agrarexport für die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft von großer Bedeutung ist. Deutschland ist weltweit viertgrößter Agrarexporteur.Die Landwirtschaft hat den Weg für ein GATTAbkommen freigemacht und auf diese Weise ein positives Signal für die Wirtschaftsentwicklung gesetzt. Erst der GATT-Kompromiß hat die vielen ungelösten Fragen im Industrie- und Dienstleistungssektor deutlich gemacht. Die EG-Landwirtschaft darf auf Dauer nicht der Lastesel für den liberalen Welthandel sein. Es muß ein Abschluß sein, den wir wollen, bei dem unsere Bauern eine Zukunft haben, weil es keinen Ersatz für die Bauern gibt.Das hat Bundeskanzler Kohl in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am Tag der Bauerndemonstration, am 8. Dezember 1992, ausgeführt.
Ich glaube, dazu kann man gut stehen.Marktgleichgewicht und Ausgleichszahlungen sind für die Stabilisierung der Einkommen unverzichtbar. Für uns ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, den soziostrukturellen Einkommensausgleich im Rahmen der Brüsseler Vorgaben zu bezahlen.
Bund und Länder sind wie bisher gemeinsam in der Pflicht. Auf Grund des verbesserten Länderanteils am Mehrwertsteueraufkommen sind die Bundesländer besonders gefordert, sich finanziell zu beteiligen. Die
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14144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Egon SussetBundesländer haben die Chance, sich hier auch für die Landwirtschaft zu engagieren.Wenn nun die SPD fordert, die Finanzmittel für investive Zwecke bereitzustellen und damit auf wenige Betriebe zu beschränken, so ist dies ein ganz durchsichtiges Manöver. Das Gerede von der Gießkannenförderung — ich weiß, auch Herr Kollege Bredehorn bedient sich dieses Wortes dann und wann — geht aber an der Sache vorbei und ist nach meiner Meinung auch eine Art Vernebelungstaktik.
Herr Abgeordneter Susset, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sielaff?
Bitte.
Lieber Herr Kollege, weil Sie so tun, als wären der soziostrukturelle Einkommensausgleich und die Nichtbeteiligung der Länder daran der Untergang der Landwirtschaft: Ist Ihnen bekannt, daß z. B. 60 % der Antragsteller aus Rheinland-Pfalz — das sind 18 000 Betriebe — 1993 Landesmittel pro Betrieb zwischen 485 und 970 DM erhalten? Sie können doch niemand erzählen, daß der Betrieb, der diese Mittel nicht bekommt, bankrott geht oder der Betrieb, dem es schlecht geht, dadurch tatsächlich überleben kann.
Dies ist doch Unsinn. Dies ist Gießkannenprinzip. Stimmen Sie dieser Beurteilung zu?
Daß das kein Gießkannenprinzip ist, sehen Sie daran, daß Sie Betriebe nennen, die 485 DM bekommen. Aber es gibt in Rheinland-Pfalz schließlich auch Betriebe, die die Höchstsumme bekommen. So war es zumindest bis zum letzten Jahr.
— Herr Sielaff ist der Meinung, daß die Betriebe, die mehr Mittel bekommen als die von ihm jetzt genannten, es nicht nötig haben.
Dann frage ich Sie: Was sagt der Kollege Thalheim dazu, daß wir beispielsweise im letzten Jahr Einzelbetriebe in den neuen Ländern mit bis zu 1 Million DM gefördert haben, nur damit dort Landwirtschaft auf Dauer überhaupt möglich ist? Man darf doch nicht so reden, wie es einem gerade einfällt.
Man darf sich nicht nur eine Einzelheit heraussuchen,nur um irgend etwas zu beweisen. Diese Zahlenkönnen auch in allen anderen Bundesländern belegt werden.
Richtig ist auch: Es handelt sich um einen differenzierten Einkommensausgleich für Umsatzverluste. Das möchte ich einmal klar sagen. Es war gerade die SPD, die jahrelang direkte Zahlungen an die Landwirte anstelle der Preissicherung im Rahmen der EG-Marktordnung gefordert hat. Gerade die SPD hat die Absenkung der Preise auf Weltmarktniveau und statt dessen staatliche Einkommensbeihilfen angemahnt. Sie stehlen sich, meine Damen und Herren von der Opposition, aus der Verantwortung.Welchen Einkommensbeitrag staatliche Transferleistungen für die Landwirtschaft leisten, geht aus dem Agrarbericht hervor. Der Beitrag zum Gewinn bei den Vollerwerbsbetrieben in der alten Bundesrepublik betrug im abgelaufenen Wirtschaftsjahr 28 %. In den neuen Bundesländern betrugen die Transferzahlungen 70 %. Auch das geht aus dem Agrarbericht hervor. Und Sie tun so, als ob dies überhaupt nicht notwendig wäre.
Aber trotz dieser umfangreichen staatlichen Leistungen ist die Einkommenslage schwierig. Für das abgelaufene Wirtschaftsjahr — Minister Borchert ist schon darauf eingegangen — gab es nur einen mäßigen Gewinnanstieg, obwohl es im Jahr zuvor einen Einkommensrückgang von 16 % gab.
Deutlich wird, daß es unterschiedliche Entwicklungen gab. Bei den Veredlungsbetrieben gab es mit 26 % den höchsten Gewinnanstieg. Bei den Dauerkulturen, beispielsweise beim Obstbau, gab es ein Plus von 52 % gegenüber dem Vorjahr. Man muß natürlich dazusagen: In diesem Jahr sieht das anders aus, weil nämlich die Marktpreise durch die gute Ernte zusammengebrochen sind.Insgesamt bleibt nur ein geringes Plus für die landwirtschaftlichen Betriebe. Der Einkommensabstand zu anderen Wirtschaftsbereichen hat sich vergrößert.
— Aber dagegen muß man etwas tun. Man darf es nicht unterlassen, wie Sie es tun.
Beim Einkommensausgleich nehmen die deutschen Landwirte im Vergleich zu den Kollegen in anderen EG-Staaten nach wie vor nur einen mittleren Platz ein.In den neuen Bundesländern — darauf wird nachher mein Kollege Junghanns noch eingehen — zeichnet sich, auch wenn es noch keine repräsentativen Ergebnisse gibt, eine entsprechend den Betriebsformen differenzierte Gewinnentwicklung ab.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14145
Egon SussetEine für die Zukunft der Landwirtschaft wichtige Säule ist die agrarsoziale Sicherung, deren Neuregelung unverzichtbar ist, auch wenn SPD-Politiker anderer Meinung sind.
Es kommt darauf an, sobald wie möglich die dringend notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die SPD-Fraktion sagt hier etwas anderes als der Herr Sielaff; das muß man deutlich machen.Wir müssen die bisher unzureichende Alterssicherung der Bäuerinnen verbessern. Das ist ein Element der Agrarsozialreform. Ich bin dem Minister dankbar, daß er hier heute den Zeitplan mitgeteilt hat. Die Landwirte in der Bundesrepublik Deutschland können sich also freuen. Wir — die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung — handeln, obwohl die SPD dies nicht will.
Agrarpolitik ist eingebunden in die europäische Interessenlage und mit unterschiedlichsten Zielvorstellungen der Partnerstaaten befrachtet. Wir müssen verstärkt gegen Wettbewerbsverzerrungen im Umwelt- und im Tierschutzbereich vorgehen. Dies ist unverzichtbar für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Betriebe in der Europäischen Gemeinschaft.
Schwerpunkt der nationalen Agrarpolitik ist und bleiben die Förderungs- und Einkommenspolitik und nicht zuletzt eine verantwortliche Agrarsozialpolitik. Nur so können wir eine leistungsfähige bäuerlich strukturierte und flächendeckende Landwirtschaft auch in Zukunft erhalten.Unsere Bundesrepublik Deutschland wäre um vieles ärmer, und zwar nicht nur im ökonomischen Sinne, wenn es diese Landwirtschaft nicht mehr gäbe.
Wir brauchen sie zur Sicherstellung der Nahrungsmittelproduktion. Wir brauchen sie zur Pflege der Landschaft und zur Sicherung der Naturgüter. Dies wird von unserer Gesellschaft gewünscht. Ich bin fest davon überzeugt: Sie ist bereit, dies zu honorieren. Aber daran müssen wir immer appellieren. Wir brauchen nicht nur die Landwirte, nein, wir brauchen die Gärtner, wir brauchen die Forstwirte, wir brauchen die Fischer, und wir brauchen die Weingärtner; denn sie alle zusammen — beispielsweise auch die Imker; auch sie sind ein Teil der Landwirtschaft —
brauchen wir, um Landwirtschaft tatsächlich so darzustellen, wie wir es wollen.
Die Probleme des Weinbaus werden wir in nächster Zeit diskutieren können, weil wir ja ein neues Weingesetz eingebracht haben.
— Wir haben es eingebracht. Ihr hättet ja auch die Chance gehabt, eines einzubringen, aber das habt ihr nicht getan.
Das neue Weingesetz soll bessere Rahmenbedingungen schaffen, um die großen Probleme des deutschen Weinbaus bewältigen zu können.Alle Berufsgruppen des Agrarbereichs müssen in den kommenden Jahren mit Belastungen fertig werden. Sie müssen sich darauf einstellen können, daß sie hier bei uns verläßliche Partner haben, indem wir ihnen verläßliche agrarpolitische Rahmendaten geben.
Der Herr Minister hat ja mit seinem agrarpolitischen Konzept Orientierungshilfe für betriebsnotwendige Entscheidungen geleistet. Ich wünsche Ihnen, Herr Minister, im Interesse der Entwicklung des ländlichen Raums, im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft, in der Nahrungsmittelindustrie, in der Landtechnik und in vielen anderen Bereichen, die es nur solange gibt, solange es die Landwirtschaft gibt,
daß wir hier gemeinsam ein gutes Stück vorankommen und daß das, was der Kollege Sielaff hier nun nicht gesagt hat, was aber seine Fraktion immer und immer wieder zum Ausdruck bringt, durch den Wähler verhindert wird.Ich danke schön.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Günther Bredehorn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren hier heute — Ende Juni — den Agrarbericht 1993, der sich auf das Wirtschaftsjahr 1991/1992 bezieht. Ich möchte heute schon für das nächste Jahr fordern, daß wir die Agrardebatte zeitlich näher an die Vorlage des Agrarberichts legen.
Es geht sonst nämlich der Zusammenhang zur Lage der deutschen Landwirtschaft, die im Agrarbericht auch in diesem Jahr wieder hervorragend dokumentiert ist, leicht verloren. Ich glaube, das ist nicht zu akzeptieren; denn wir diskutieren hier ja heute zusammen, um die Erkenntnisse, die wir daraus
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14146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Günther Bredehornentnehmen, letztlich in praktische Agrarpolitik umzusetzen.Die Herausforderungen für die Agrarpolitik sind zur Zeit wahrlich groß genug. Die EG-Agrarreform ist zwar auf den Weg gebracht. Sie ist aber, gemessen an den Zielen, nämlich Rückführung der Überschußproduktion, Sicherung der Finanzierbarkeit des EGAgrarmarktes und umweltverträglichere Produktion, noch keinesfalls in trockenen Tüchern.Ähnlich ist es bei der GATT-Runde. Dort hat zwar die Agrarpolitik einen großen Beitrag für einen Kompromiß geleistet, der erfolgreiche Abschluß steht aber noch aus.Schließlich bleibt noch sehr viel zu tun, bis wir einmal sagen können: Die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern ist in den deutschen und auch in den europäischen Agrarmarkt integriert.All dies wiegt schwer bei der richtigen Lagebeschreibung, auf die Minister Borchert in der vorigen Woche bei der Vorstellung seines neuen agrarpolitischen Konzepts hingewiesen hat. Es ist wahr: Insbesondere die westdeutsche Landwirtschaft leidet unter beträchtlichen Strukturdefiziten. Sie sind zu einem großen Teil hausgemacht und werden Jahr für Jahr ebenfalls mit beträchtlichen Einkommens- und Vermögensverlusten bezahlt. Geboten ist daher ein überzeugendes und weittragendes Fitneßprogramm für eine unternehmerische, wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die sich stärker am Markt orientiert.Die ursprünglich sehr gut gemeinten Marktordnungen haben sich als der falsche Weg erwiesen, der in den Überschußsumpf führt.
Hierdurch und durch Interventionen und dirigistische Eingriffe ist ein vernünftiger Strukturwandel eher gehemmt worden. Dadurch verlief die Abwanderung zu langsam. Zuviel Arbeitskraft und Kapital blieben in der Landwirtschaft. Insbesondere wurde die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft gehemmt. Wir können das ja feststellen. Wir verloren Marktanteile. Auf dem deutschen Markt beträgt der Selbstversorgungsgrad bei Rindfleisch noch 85 %, bei Schweinefleisch ungefähr noch 80 %.Wir können unsere im EG-Vergleich deutlichen Strukturdefizite nicht länger durch eine Politik der Strukturerhaltung ausgleichen. Diese Politik haben wir schon zu lange betrieben. Es gilt also, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft zu stärken. Von unserer Politik müssen klare Signale ausgehen; unsere Politik darf nicht widersprüchlich sein.
Daher müssen von der staatlichen Förderpolitik weit mehr als bisher wettbewerbsorientierte Impulse ausgehen: Ja zu Anpassungshilfen, auch Ja zur Hilfe zur Selbsthilfe, aber grundsätzlich Nein zur Gießkannenförderung.
— Ich freue mich, daß sogar die SPD aus den Erfahrungen durchaus die richtigen Schlüsse gezogen hat.
Nur wenn es gelingt, diese eher allgemein formulierten Grundsätze auch bei der Struktur des Maßnahmenkatalogs, auf den wir bei der Gestaltung der deutschen und europäischen Agrarpolitik Einfluß nehmen können, durchzusetzen, wird es zu einer dringend notwendigen Verbesserung unserer Wettbewerbsposition kommen. Andere wichtige Partner sind uns da voraus. Wir müssen also Prioritäten setzen und den Mut haben, eine Agrarpolitik zu machen, die auch die Landwirtschaft stärker als bislang an den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft orientiert.
Das bedeutet, der Strukturwandel wird sich bei guter Wirtschaftslage und entsprechendem Arbeitsplatzangebot möglicherweise sogar noch verstärken.
Herr Abgeordneter Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kastning?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gerne, ja.
Herr Kollege Bredehorn, ich habe Ihre Pressemitteilung von vor einigen Wochen sehr aufmerksam gelesen. Ich stimme ihr im Kern zu, daß in diese Landschaft das Gießkannenprinzip — Sie bezogen das auf die soziostrukturellen Einkommenszahlungen — angesichts der Finanzen nicht mehr hineinpaßt. Sie haben strukturpolitische oder strukturelle Hilfen favorisiert.
Sehe ich es richtig, daß Sie im Grunde das zu Ende zu denken versuchen, was der Herr Minister seit Wochen öffentlich propagiert, nämlich die leistungsfähigen Betriebe zu stützen und wettbewerbsfähig zu machen, und daß der eigentliche Blockierer dieser Politik in der Union zu suchen ist?
Das sehe ich so überhaupt nicht. Ich meine, darüber, was der Minister vorgestellt hat, werden wir diskutieren müssen. Ich habe gesagt, wir müssen Prioritäten setzen.
Das, was er fordert, nämlich Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, wird von uns voll unterstützt. Wir müssen das durch die Agrarsozialpolitik abfedern. Das heißt in Anbetracht der finanziellen Möglichkeiten, die sicherlich nicht zunehmen werden, daß wir hier Schwerpunkte, Prioritäten setzen müssen. Darüber müssen wir gemeinsam streiten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14147
Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage?
Bitte.
Trifft es denn zu, daß Sie als Koalitionspartner dem Gesetz über die Einkommenshilfen für die nächsten Jahre trotz dieser Erkenntnis im Bundestag zugestimmt und damit vermutlich keinen Beitrag zu mehr Akzeptanz der Agrarpolitik geleistet haben, wie das z. B. der Minister erst jetzt wieder verkündet hat? Wir brauchen mehr Akzeptanz, hat er gesagt.
Wenn Sie das Gesetz meinen: Dem haben die Koalitionsfraktionen zugestimmt.
Entschuldigen Sie, Herr Bredehorn, es gibt noch eine weitere Zwischenfrage.
Bitte.
Herr Kollege Bredehorn, stimmen Sie mir zu, daß dieser agrarische Strukturwandel insbesondere im Süden der Bundesrepublik historische Gründe hat, die man nicht par ordre du mufti oder durch eine einfache Änderung der Politik innerhalb kurzer Zeit so bewältigen kann, wie das hier gewünscht wird, sondern daß das ein Anpassungsprozeß ist, der langfristig angelegt sein muß, der
über mehrere Jahre geht und der seit vielen Jahren auch so vollzogen wird?
Herr Kollege, dies ist so, und da haben wir eine große Verantwortung. Das Dümmste und Schlechteste wäre jetzt, eine totale Kehrtwendung zu machen. Das Ganze muß vielmehr sehr verantwortungsvoll und vernünftig in den nächsten Jahren umgesetzt werden. Dazu brauchen wir finanzielle Mittel. Da müssen wir dann neue Schwerpunkte setzen.
Noch etwas zur Agrarsozialreform. Es ist ganz wichtig, daß diese Politik mit der Agrarsozialpolitik abgefedert wird. Ich habe hier feststellen können, daß Herr Sielaff gesagt hat, er stelle nicht insgesamt die Agrarsozialpolitik in Frage. Ich muß aber sagen — das ist, glaube ich, um der Redlichkeit willen notwendig —, daß ich hier eine Pressemitteilung habe, nach der die stellvertretende Vorsitzende, Frau Matthäus-Maier, und der finanzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Herr Poß, fordern — wörtlich —:Außerdem sollte auf die Agrarsozialreform verzichtet werden, was 1994 eine Einsparung von 200 Millionen DM brächte.
Lieber Herr Sielaff, wenn Sie sagen, daß Sie diese Agrarsozialreform wollen, gleichzeitig aber eine solche Feststellung Ihrer Fraktionskollegen und der stellvertretenden Vorsitzenden akzeptieren, dann kann das nur in demselben Finanzrahmen geschehen.
Das müssen wir hier einmal ganz klar feststellen. Dann ist das, was notwendig ist, nämlich auch eine eigenständige Absicherung der Bäuerinnen, so nicht machbar. Ich stelle das nur fest, auch wegen der Redlichkeit.
— Es ist gut, wenn Sie das so wollen. Ich stelle das nur fest.Ich meine, meine Damen und Herren, daß die Abfederung durch die Agrarsozialreform auch innerhalb der EG so wichtig ist — es gibt ja entsprechende Vorschläge der EG, die ich sehr begrüße —, weil es rund 8,5 Millionen Landwirte in der EG gibt. Davon sind 4,6 Millionen Landwirte über 55 Jahre alt und davon wieder gut 3 Millionen Landwirte mit unter 5 ha. Ich meine, daß es, wenn man Agrarpolitik verantwortlich durchführen will, sehr wichtig ist, daß wir dies im Auge haben und behalten.
Notwendig ist daher auch, daß die mit der EG-Agrarreform verabschiedeten flankierenden Maßnahmen so schnell und so umfassend wie möglich umgesetzt werden. Hier zu sparen wäre an der falschen Stelle gespart. Diese Maßnahmen sind konsequent und richtig darauf angelegt, strukturelle Defizite abzubauen. Sie sind also Zukunftsinvestitionen.Ähnliches gilt für die Unterstützung ländlicher Regionen, insbesondere dort, wo eine flächendekkende Landwirtschaft in bisheriger Form nicht mehr aufrechterhalten werden kann. In solchen Regionen gilt es, über die Regionalpolitik gewerbliche Arbeitsplätze zu schaffen oder andere geeignete Entwicklungen anzustoßen, die Zusatzeinkommen für die Landwirtschaft erbringen.Der Umstrukturierungsprozeß der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern ist bereits ein gutes Stück vorangekommen. Meine Prognose, daß sich dort eine im internationalen Vergleich wettbewerbsfähige Landwirtschaft entwickeln wird, hat sich schon jetzt als richtig erwiesen. Die Weichenstellung durch die Koalitionsvereinbarung, die strukturelle Entwicklung der Landwirtschaft in jeglicher Rechtsform zu ermöglichen, war richtig. Auch im Verarbeitungsbereich sind dort vielerorts schon moderne Unternehmen entstanden. Für die nahe Zukunft kommt es darauf an, den weiteren Prozeß der Privatisierung wirksam zu unterstützen. Jegliche Unternehmens-
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Günther Bredehornform — sei es als Wiedereinrichter oder als Neueinrichter, sei es der Ortsansässige oder der Alteigentümer — muß eine faire Chance bekommen.Chancengleichheit sollte es auch bei den staatlichen Einrichtungen geben. Seit geraumer Zeit steht die Standortentscheidung für die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe an. Die Föderalismuskommission hat — ich glaube, mit guten Gründen — vorgeschlagen, einen Standort in den neuen Bundesländern zu wählen.
Meine Damen und Herren, ich verstehe es inzwischen eigentlich nicht mehr, daß diese Entscheidung noch immer nicht getroffen ist;
denn diese Fachagentur ist Gott sei Dank — das ist völlig richtig — an das BML angegliedert.
Ich möchte hier wirklich noch einmal ganz klar fordern, jetzt endlich diese Entscheidung zu treffen.
Diese Arbeit ist zu wichtig, als daß wir die Entscheidung immer weiter vor uns herschieben sollten.
Die Umsetzung der EG-Agrarreform macht eine Reihe von Schwierigkeiten und belastet mit ihrem enormen bürokratischen Aufwand jeden einzelnen Landwirt. Der Bundeslandwirtschaftsminister bemüht sich um Vereinfachung. Wir begrüßen das ausdrücklich und sagen, daß angesichts der enormen Beträge und der hohen Mißbrauchgefahr ein Mindestmaß an Kontrolle allerdings notwendig ist.In der Diskussion über den richtigen Weg der Durchführung stecken aber auch Chancen, weil der Ruf nach Vereinfachung zugleich ein Ruf nach Deregulierung der Eingriffe in die Agrarmärkte sein muß. Wir sollten hier entrümpeln, wo immer es geht, und statt dessen mehr auf EG-weit verbindliche Wettbewerbsregeln setzen, die Wettbewerbspolitik insgesamt stärken und so den Spielraum für eine gesunde unternehmerische Landwirtschaft erhöhen. Dies wird der Weg sein, den wir mittel- und langfristig gehen müssen.Kurzfristig gilt es, in Brüssel die Agrarleitlinie einzuhalten. EG-Kommissar Schmidhuber hat prognostiziert, daß sie im nächsten Jahr bereits um 2 Milliarden DM überschritten werde. Wir sollten also die Debatte über die Vereinfachung auch in die Richtung führen, bei Maßnahmen einzusparen, die nicht mehr in die Zeit passen.
Noch einmal: Es gilt, Prioritäten zu setzen, wenn wir wollen, daß die gemeinsame europäische Agrarpolitik weiter finanzierbar bleibt und von unseren Bauern und den Bürgern Europas akzeptiert wird.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Fritz Schumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung in der Landwirtschaft verlief auch im zurückliegenden Jahr nicht zugunsten der Bauern — das ist mehrfach betont worden —, obwohl Fortschritte vor allem auch im Osten Deutschlands unverkennbar sind. Das möchte ich hier zum Ausdruck bringen. Ich werde darauf noch eingehen. Nicht mehr die Probleme des Absatzes von landwirtschaftlichen Produkten stehen heute im Vordergrund wie vor allen Dingen unmittelbar nach der Wende, sondern die allgemeine Einkommens- und Kostenentwicklung verläuft für die Landwirtschaft weiterhin auf negativen Bahnen.
Das haben viele zum Ausdruck gebracht. Darüber kann auch die Gewinnentwicklung nicht hinwegtäuschen.
Die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise sind 1992 im Durchschnitt um 4,5 % gefallen; gleichzeitig stieg der Preisindex für Nahrungs- und Genußmittel um 2,5 %. Das heißt, trotz weiter sinkender Preise im Erzeugerbereich kommt letztlich beim Verbraucher davon nichts mehr an.
Wir beobachten diese Entwicklung zur Zeit auch auf dem Schweinemarkt. Jeder, der daran beteiligt ist, weiß das.
Die Differenz zwischen Erzeugerpreisen und Verbraucherpreisen wird immer größer. Eine Handvoll großer Handelsketten im Verbund mit hochkonzentrierten Verarbeitungsbetrieben bestimmt viel stärker, was beim Verbraucher ankommt, und maximiert seine Gewinnmargen.
Der Bauer als Erzeuger ist immer mehr vom Markt abgekoppelt. Das hat viele strukturelle Ursachen, erfordert aber neben Strukturanpassung, der ich unbedingt zustimme, in der Landwirtschaft selbst vor allem auch eine Verstärkung der agrarpolitischen Einflüsse auf den Gesamtsektor Nahrungsgüterwirtschaft und den ländlichen Raum insgesamt.
Herr Abgeordneter Dr. Schumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gallus?
Ja.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14149
Herr Kollege Schumann, ist Ihnen bekannt, daß die Konzentration im Nahrungsmittelhandelsbereich dadurch zustande kam, daß die Gewinnmargen hier in bezug auf die gesamte Wirtschaft weitaus geringer sind als in anderen Teilen der Wirtschaft und deshalb der Zwang vorhanden war zu konzentrieren? Den Vorteil hat letzten Endes der Verbraucher gehabt. Von wegen große Gewinne im Nahrungsmittelbereich — das müssen Sie in anderen Bereichen der Wirtschaft suchen.
Herr Gallus, Sie haben vielleicht recht, was den Nahrungsmittelbereich angeht. Trotzdem müssen wir inzwischen feststellen — Sie kennen die Zahlen ganz genau —, wieviel Weizen nur noch im Brötchen ist und wieviel im Bier. Im Bier ist mittlerweile für 2 Pfennig Malz und für 40 Pfennig Werbung. Dann ist es uninteressant, ob wir den Gerstenpreis auf die Hälfte senken. Davon wird das Glas Bier nicht billiger. Hier hat sich etwas aufgetan, was vielleicht nicht an der Nahrungsgüterwirtschaft liegt, aber wo wir einmal anpacken müssen. Wo entstehen denn die Gewinne? Ich kann Ihnen auch Relationen aus anderen Bereichen nennen. Wir haben im Osten bei dem Einzug der großen Handelsketten erlebt, wie Märkte erobert werden, wie kleine Handelsbetriebe an die Seite gedrückt werden, wie Gewinne maximiert werden. Hier ist Agrarpolitik gefordert. Darüber müßten wir uns eigentlich einig sein.
Eine Zusatzfrage von Herrn Gallus.
Herr Kollege Schumann, können Sie bestätigen, daß es in einer freien Marktwirtschaft jedem unbenommen ist, aus Gerste Bier und aus Weizen Brot zu machen, und daß das im genossenschaftlichen Bereich schon auf vielen Gebieten versucht worden ist mit dem Ende, daß viele dabei bankrott gegangen sind?
Das kann ich Ihnen voll bestätigen, Herr Gallus. Aber wenn Sie mir sagen könnten, wo zur Zeit in der Landwirtschaft die freie Marktwirtschaft funktioniert, würde ich mich gerne daran beteiligen.
Ich habe selber auch schon versucht, Schweine zu schlachten und Wurst daraus zu machen — mit gutem Ergebnis, muß ich Ihnen sagen. Sie sollten einmal davon kosten, Herr Gallus. Ich bringe Ihnen etwas mit.Meine Damen und Herren, Bundesminister Borchert hat in der vergangenen Woche sein Konzept für den künftigen Weg zur Sicherung des Agrarstandortes Deutschland vorgestellt. Es enthält Achtungszeichen in Richtung Strukturanpassung und beginnt die fast Jahrzehnte dauernde Abschottung der Landwirtschaft gegenüber der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung aufzuheben. Es macht aber auch den Spagat deutlich, Herr Minister, den Sie gemacht haben. Mir haben die Worte von Herrn Kollegen Günther Bredehorn sowohl in Bonn-Röttgen als auch heute hier deutlicher gezeigt, wo es langgehen soll, obwohl ich natürlich gewöhnt bin, zwischen denZeilen zu lesen — als Ossi ohnehin; da war es üblich, daß man zwischen den Zeilen lesen mußte, um herauszufinden, wo es langgehen sollte. Aber ich hoffe, daß Sie diesen Spagat überwinden, denn nur mit geschlossenen Beinen kann man vorwärts marschieren. Wenn Sie weiterhin im Spagat bleiben, wird es sehr schwierig sein.
Als Vertreter der ostdeutschen Landwirtschaft und insbesondere der juristischen Personen, die immerhin noch drei Viertel der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion des Ostens ausmachen, habe ich mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß Diskriminierungen, auch wenn sie nur verbal waren, jetzt offenbar zu Ende sind. Lassen Sie den Wettbewerb und die wirtschaftliche Entwicklung entscheiden! Auch ich bin mir im klaren, daß die gegenwärtigen Strukturen in Betriebsformen nicht das letzte Wort sind — nicht im Osten und schon gar nicht im Westen. Da besteht sicher über weite Strecken Einigkeit.Festzustellen bleibt auf alle Fälle, daß es den ostdeutschen Landwirten — den Wiedereinrichtern genauso wie den juristischen Personen — zum überwiegenden Teil gelungen ist, einen Strukturanpassungsprozeß in so kurzer Zeit, in nur zwei Jahren zu durchlaufen, vor dem man eigentlich nur den Hut ziehen kann. Der Wille von Menschen, die mit Boden und Vieh umgehen und dies mehr als Berufung als einen Beruf ansehen, hat dazu beigetragen, daß trotz Preisbruch, komplizierter Vermögensauseinandersetzungen, die nach wie vor nicht abgeschlossen sind — auch darüber sind wir uns einig —, und veralteter materiell-technischer Basis im Bereich der Landwirtschaft größere Hoffnungsaussichten bestehen als in der industriellen Produktion. Auch das muß man einmal sagen.Das hat sicher auch etwas damit zu tun, daß Eigenverantwortung, wenn auch in stark deformierter Form, zu DDR-Zeiten im Bereich der Landwirtschaft niemals ganz aufgehoben war
und bei der Umstrukturierung eigene Entscheidungen ohne Verkaufszwang und Bevormundung durch die Treuhand eine wesentlich größere Rolle gespielt haben, als in der Industrie möglich war. Es ist sicher zu spät, daraus Schlußfolgerungen abzuleiten, aber für die Industrie wäre es sicher sehr von Nutzen gewesen, wir hätten dort ähnliche Entwicklungen vollzogen.Der Anpassungsprozeß ist noch nicht beendet; noch sind Preisunterschiede bei den Erzeugerpreisen, insbesondere bei Milch, vorhanden und durch nichts mehr zu rechtfertigen, genauso wenig wie die im Osten höheren Einkaufspreise für Produktionsmittel.
Besonders die Entwicklung von Einkaufspreisen für die laufende Produktion ist im Osten besorgniserregend. Herr Hornung, ich habe mir die Statistiken
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Dr. Fritz Schumann
angeschaut. Von 1991 bis zum ersten Quartal 1993 sind die Einkaufspreise im Osten auf 112 % gestiegen, im Westen blieben sie gleich. Bei den Investitionen ist der Anstieg im Osten doppelt so hoch wie im Westen, was die Einkaufspreise anbelangt,
und zwar ganz abgesehen davon, daß in bezug auf Gesamtausgaben bei Betriebsmitteln im Osten nur halb so viel investiert wird wie im Westen, was ich für ungesund halte. Es müßte eigentlich umgekehrt sein, drückt aber aus, wie die Situation ist. Das ist nicht nur Sache der Politik — darüber sind wir uns einig —, das ist vor allen Dingen Sache der Leute selbst, aber auch die Politik ist hier gefordert.Die gesamtpolitische Einflußnahme kennzeichnet auch eine andere Erscheinung. Wenn der Umstrukturierungsprozeß als erfolgreich erscheint, darf dabei nicht vergessen werden, daß speziell im Bereich der tierischen Produktion Potential in erheblichem Umfang vernichtet wurde.Ich möchte noch einige Feststellungen machen. Erstens. Heute können in einem Territorium, das sich nicht nur zu DDR-Zeiten, sondern auch im früheren Deutschland bei allen Grundnahrungsmitteln aus eigener Produktion versorgte, nicht einmal mehr die vorhandenen Verarbeitungsbetriebe mit einheimischen Rohstoffen beliefert werden. Die Umsätze der westdeutschen Ernährungsindustrie und des Handels erreichten dagegen zweistellige Zuwachsraten, für die in früheren Jahren zehn und mehr Jahre notwendig gewesen wären.Dieser Boom ist zwar jetzt vorbei, aber das damit erreichte höhere Produktions- und Absatzniveau der westdeutschen Handels- und Ernährungsindustrie und der immer noch extrem niedrige Anteil der ostdeutschen Landwirtschaft und Verarbeitung am Gesamtverbrauch von Nahrungsgütern in Ostdeutschland, geschweige denn in den westlichen Bundesländern, scheint damit weitgehend zementiert zu sein. Hier bedarf es einer Kurskorrektur. Die ostdeutsche Landwirtschaft und Verarbeitungsindustrie muß in die Lage versetzt werden, wenigstens einen Teil ihrer verlorenen Marktanteile zurückzugewinnen. Die Verantwortung gegenüber den Betroffenen im Osten gebietet, dies nicht allein dem Spiel der Marktkräfte zu überlassen, sofern es die, wie gesagt, im Bereich der Landwirtschaft überhaupt gibt.
— Das kann man nicht verschweigen; Hilfen hat es gegeben.Unsere Gruppe erneuert deshalb unsere Forderung von vor einem Jahr, den teilweisen Wiederaufbau der ostdeutschen Tierproduktion differenziert nach Regionen zeitweilig staatlich zu fördern. Vor einem Jahr wurde dies hier im Plenum abgelehnt. Es stimmt mich aber hoffnungsvoll, daß dieser Gedanke heute selbst innerhalb der F.D.P. diskutiert wird; unter den ostdeutschen Agrarministern ohnehin. Wir konnten das ja feststellen, als wir mit dem Ausschuß in Thüringen waren.Zweitens. Die Bundesregierung malt immer wieder das Bild von der bald modernsten Ernährungsindustrie Europas in Ostdeutschland. Herr Borchert, Sie haben das gerade ebenfalls getan. Ich habe dabei sehr gemischte Gefühle. Ich frage: Ist die Regierung, sind wir alle gut beraten, diesen der bisherigen Logik des Wirtschaftswachstums folgenden Kurs tatsächlich zu verfolgen? Bereits heute gibt es nur noch einen Bruchteil der Verarbeitungsbetriebe von 1989. Damals waren es sicherlich zu viele; 125 Zuckerfabriken im Osten mußten nicht sein. Da sind wir einer Meinung.
— Aber es sind heute ein paar weniger, und in anderen Bereichen ist das bestimmt noch bedenklicher.
— Das ist nicht alles, Herr Köhler. — Damit ging in vielen ländlichen Regionen nicht nur Arbeit verloren, sondern es trat zugleich ein Verlust an typischen, unverwechselbaren Erzeugnissen bestimmter Regionen auf, und das insbesondere im verarbeitenden Gewerbe. Ich glaube, das sollten wir nicht weiterverfolgen.Der Transport von Milch, Fleisch und Gemüse über oft Hunderte Kilometer erweist sich immer weniger als Fortschritt. Die nur am betrieblichen Gewinn orientierte Wirtschaftsweise nimmt immer mehr Züge des Wahnsinns an. Ich war unlängst in Pritzwalk. Die fahren jeden Tag die Milch nach Oberitalien, machen dort daraus Käse und bringen es wieder zurück. Ich frage mich schon, ob das eine Lösung für die Zukunft ist. Ich halte das für sehr bedenklich.Die Folgen sind vor allem die Vernichtung regionaler landwirtschaftlicher Produktions-, Beschäftigungs- und Einkommenspotentiale besonders in benachteiligten Gebieten bis hin zu den immens wachsenden Verkehrs- und Umweltproblemen.Nötig ist eine andere wirtschaftliche Gesamtbetrachtung, eine Gesamtrechnung, die soziale und ökologische Aspekte von heute und morgen einschließt. Sie ergibt mit Sicherheit einen anderen Entwicklungsansatz. Die Idee der wieder stärkeren Regionalisierung würde aufgewertet. Das dürfte ein Konfliktfeld auch für das Ministerkonzept sein, über das wir hoffentlich bald im Ausschuß und darüber hinaus in der Öffentlichkeit diskutieren werden.
Herr Abgeordneter Schumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
Natürlich.
Herr Kollege Schumann, Sie bedauern die geringe Investitionstätigkeit im Bereich der Verarbeitungswirtschaft. Meine Frage: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, daß die geringe Investitionstätigkeit zu verzeichnen ist?
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14151
Ich bedaure nicht insgesamt die geringe Investitionstätigkeit im Bereich des Verarbeitungsgewerbes, Herr Heinrich; denn es entstehen inzwischen Riesenunternehmen. Es werden drei riesengroße neue Zuckerfabriken mit einem Milliardenaufwand gebaut. Es werden große Schlachthöfe gebaut, aber nur an drei Stellen.
Für mich lautet die Frage: Haben wir die Mittel richtig eingesetzt, indem wir solche Riesenunternehmen gefördert und damit regionale Gesichtspunkte außer acht gelassen haben? Gerade die regionalen Gegebenheiten sollten meiner Meinung nach in der Ernährungswirtschaft eine viel stärkere Rolle spielen.
Solche Riesenunternehmungen arbeiten sicher sehr modem. Die Zuckerfabrik in Könnern, die bei uns in diesem Herbst in Betrieb geht, wohin wir unsere Rüben liefern, arbeitet nur noch mit 15 Menschen. Das ist natürlich unter dem Gesichtspunkt der Modernität unwahrscheinlich gut. Ich weiß nur nicht, ob wir das überhaupt wollten, daß wir jeden Tag 10 000 t Zuckerrüben auf der Straße dorthin fahren, um sie dort verarbeiten zu lassen. Ich habe da große Bedenken.
— Nein, das nicht, Herr Gallus.
Herr Schumann, gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Ja.
Ich habe noch eine Nachfrage: Sind Sie mit mir der Meinung, daß es nicht an bereitgestellten Investitionsmitteln fehlt?
Ich bin Ihrer Meinung, Herr Heinrich, daß es nicht an Investitionsmitteln fehlt. Ich habe über das Konzept gesprochen, das wir angehen sollten, wenn wir über Agrarkonzepte und die Ernährungswirtschaft nachdenken. Wir sollten uns auch davon trennen, Agrarkonzepte losgelöst von der Ernährungswirtschaft und von ländlichen Räumen zu betrachten. Der Minister und wir alle sind sicher einhellig der Auffassung, daß das nicht mehr geht. Wir können das in den ländlichen Räumen nicht mehr machen, weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht.
— Danke.
Drittens. Für die Ostlandwirtschaft positiv sind die Fortschritte in der Arbeitsproduktivität; ich habe darüber eben bereits gesprochen. Um so bedrückender ist es, daß ein Großteil der ehemals in ihr Tätigen davon nicht profitiert. Die Probleme im ländlichen Raum erscheinen schier unlösbar. Es geht nicht ohne das Auflegen eines Sonderprogramms oder mindestens die Zweckbestimmung von Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsförderung für ländliche Regionen nach spezifischen Kriterien. Wir halten das für dringlich.
Besonders betroffen sind Frauen, die kaum noch Chancen für eine Arbeit haben. Die soziale Sicherung im Alter ist ohnehin ein kompliziertes Problem, vor allen Dingen in der Westlandwirtschaft. Das wissen Sie; darüber ist hier diskutiert worden. Wir müssen uns diesem Problem stellen.
Gestatten Sie mir zum Schluß eine Bemerkung zum Agrarbericht selbst. Das ist eine Fleißarbeit. Dafür möchten wir allen Dank sagen, die daran gearbeitet haben. Es ist sehr viel Material darin enthalten.
Wir haben einen Entschließungsantrag dazu eingebracht. Wir sind der Meinung, daß der zukünftige Agrarbericht den neuen Erfordernissen im ländlichen Raum, der Umweltproblematik und der Gesamtproblematik mehr entsprechen sollte. Ich bitte darum, daß wir darüber im Ausschuß diskutieren und daß wir uns darüber einig werden, wie wir weitermachen wollen. Ansonsten wünsche ich, daß wir gemeinsam die Probleme anpacken.
Danke schön.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Union versucht den Eindruck zu erwecken, die SPD wolle keine agrarsoziale Reform. Abgesehen davon, daß Sie sie seit Jahren versprochen haben und sie, obwohl Sie die Regierung stellen, bis heute nicht auf die Beine gebracht haben,
darf ich Ihnen folgende Passage aus unserem Antrag vorlesen, die wir einstimmig verabschiedet haben:
Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf zur grundlegenden Reform der agrarsozialen Sicherung vorzulegen.Es heißt dann u. a.:Für die Landfrauen soll die Schaffung einer eigenständigen Versicherungsbiographie mit eigenen Beiträgen und eigenen Leistungsansprüchen ermöglicht werden. Die Beiträge der landwirtschaftlichen Krankenversicherung sind sozial gerecht zu staffeln.Dann kommt der letzte Satz:Eine solche Reform wird nicht zu Mehrausgaben im gesamten System führen. Dies wäre angesichts knapper öffentlicher Mittel und der Notwendigkeit, die gesamtgesellschaftliche Solidari-
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14152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Ingrid Matthäus-Maiertät mit der agrarsozialen Sicherung zu wahren, auch nicht zu rechtfertigen.
Das ist der Unterschied zu Ihnen: Wir legen etwas vor, was sozial gerecht und durch Umschichtung solide finanziert ist. Die 200 Millionen DM, die in unserem Sparpaket enthalten sind, beziehen sich auf Ihren Vorschlag. Den hat doch nicht die SPD angehalten. Ihr Bundeskanzler hat ihn angehalten, weil er weiß, daß er die Finanzen vor die Wand gefahren hat.
Wir kennen die Arbeitsteilung bei der Union: Ihre Familienpolitiker versprechen bei den Familienverbänden das Blaue vom Himmel, Waigel tut es dann nicht und will sogar das Kindergeld kürzen. Ihre Agrarpolitiker versprechen 200 Millionen DM bei der agrarsozialen Reform, die Sie nicht haben, die Ihr Bundeskanzler anhält, weil er weiß: Dieser Staat ist bis über die Halskrause verschuldet.Da fahren die Landwirte besser mit der SPD.
Die SPD sagt ihnen die Wahrheit. Die SPD sagt ihnen: Wir haben kein Geld zum Draufsatteln. Wir sagen ihnen ehrlich, wo es langgeht.Der Unterschied ist: Bei Ihnen bekommen Sie auf dem Papier eine Reform, die 200 Millionen DM kostet, die Sie nicht haben und die wir nicht haben.
Bei uns bekommen sie eine Reform, die sozial gerecht und solide finanziert ist. Die Landwirte, die vernünftiger sind, als Sie denken, haben längst den Unterschied erkannt und lassen sich von Ihnen nicht mehr länger Sand in die Augen streuen.
Ebenfalls das Wort zur Kurzintervention hat Herr Kollege Susset:
Frau Kollegin Matthäus-Maier hat soeben ihr schlechtes Gewissen beruhigt.
Wer eine Agrarsozialreform will, kann nicht behaupten, daß dies ohne zusätzliche Mittel möglich ist.
— Das ist nicht durch Umschichtung möglich. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einen Gesetzentwurf vorlegten.
— Auch die Opposition ist dazu im Parlament. Sie kann nicht einfach in Presseerklärungen sagen: Wir wollen die Agrarsozialreform nicht.
Die SPD-Fraktion hat gestern oder vielleicht vorgestern einen Entschließungsantrag eingebracht, weil man in der Zwischenzeit den Druck von außen spürt, daß wir die Agrarsozialreform wollen.
Dann sagt Frau Matthäus-Maier, die 200 Millionen DM sollen aus Mitteln finanziert werden, die der Landwirtschaft auf Grund der Währungsausgleichsleistungen über den soziostrukturellen Einkommensausgleich künftig nicht zur Verfügung stehen.
Sie werden die eigenständige soziale Sicherung der Bäuerin nicht schaffen, wenn Sie meinen, daß dies kostenneutral zu leisten ist. Das ist einfach nicht möglich.
Als nächster spricht der Abgeordnete Meinolf Michels.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Öffentlichkeit und die Berufskollegen fragen uns, wie es in der Landwirtschaft bei uns und in Europa weitergeht, ob man als Landwirt auch in Zukunft die Chance einer gesicherten Existenz hat. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auf der Basis der Erfahrung vergangener Jahre perspektivisch nach vorn zu schauen. In der Vergangenheit sind große Anstrengungen unternommen worden, die Nahrungsmittelproduktion auf den Binnenmarkt einzustellen. Mit hohem Geld- und Verwaltungsaufwand konnten hierbei Teilerfolge erzielt werden. Für die Zukunft müssen jedoch der Verwaltungsaufwand verringert — hierzu hat Herr Minister Borchert dankenswerterweise bereits ein Memorandum vorgelegt — und die finanziellen Ausgleichsmittel gesichert werden, denn zu Weltmarktbedingungen kann bei uns auch bei bester Struktur kein Landwirt produzieren.Das Drängen einiger osteuropäischer Länder, ihre Agrarprodukte in größerem Umfang auf unseren Märkten verkaufen zu können, ist verständlich.
Unsere Landwirtschaft ist aber auf einen uneingeschränkten Außenschutz angewiesen. Sonst sind all die schmerzlichen Schritte der Agrarreform in ihrer Wirkung für die Landwirtschaft ergebnislos und existenzbedrohend.Produktionseinschränkungen durch Flächenstillegung und Extensivierung führen nur dann zu einem mengenmäßig reduzierten Marktangebot, welches die Preise wieder aus diesem Tal herausholt, wenn die Einfuhr von Substituten in dem gleichen Umfang zurückgeführt wird, in dem auch die europäischen Bauern ihre Produktion zurücknehmen müssen. Eine höhere Flächenstillegung für den einzelnen Landwirt als 15 % der Fläche kann ernsthaft nicht erwogen werden. Es ist wichtig, daß in allen europäischen Ländern und bei den an der Produktion Beteiligten insgesamt das gleiche Maß angelegt wird. Substitute sind zu einem großen Teil Abfallprodukte und werden
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14153
Meinolf Michelsim Preiskampf letztendlich noch gegen die Erstattung der Transportkosten auf unserem Markt angeboten.Der jetzt diskutierte Agrarbericht gibt uns aber auch die Möglichkeit, einmal der Frage nachzugehen, wie sich die Landwirtschaft in den fünf neuen Ländern auf die für sie neuen Rahmenbedingungen hat einstellen können. Sicherlich ist es schwer, zu einem für alle gleichermaßen gültigen Urteil zu kommen. Es kann aber gesagt werden, daß die Landwirtschaft von allen Wirtschaftsbereichen in den fünf neuen Ländern zu dem Bereich gehört, der am ehesten zu den Betrieben in den alten Ländern hat aufschließen können, denn die Garantiepreise und Abnahmebedingungen — hier liegt der große Unterschied, Herr Kollege — gelten letztendlich für alle Landwirte gleichermaßen und sind in der übrigen Wirtschaft so nicht vorhanden.Dank der enormen Anstrengungen ist es auch gelungen, daß die Erfassungs- und Verarbeitungsbetriebe in relativ kurzer Zeit wesentliche Schritte nach vorn tun konnten. Wir sind dabei, in den fünf neuen Ländern die modernsten Betriebe in Europa zu entwickeln.Die große Hilfe, die die Bundesregierung geleistet hat, hat es den in der Landwirtschaft tätigen Menschen ermöglicht, aus dem Tal sozialistischer Planwirtschaft herauszufinden. Das größte Problem, mit welchem die Landwirte in den fünf neuen Ländern fertigwerden müssen, ist meines Erachtens die Rechtsunsicherheit,
mit der praktisch alle landwirtschaftlichen Betriebe bezüglich ihres Flächennachweises, ihres Eigentums und ihrer Pachtverhältnisse zu tun haben. Es liegt nun an uns allen, diesen Zustand rechtlicher Unsicherheit Schritt für Schritt zu beseitigen.Die Vermögensauseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern ehemaliger LPGen und den heutigen Folgeunternehmen dürfen nicht, wie leider allzuoft festgestellt werden muß, auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden.
Ich bin aber der Meinung, daß wir denjenigen, die Mitglied in einer LPG waren, welche in Konkurs gehen mußte, dann helfen müssen, wenn ein Inventarausgleich aus Mitteln der ehemaligen LPG nicht erfolgen kann. Nur dann brauchen wir nicht in einem Jahr 260 Millionen DM; statt dessen werden in mehreren Jahren hintereinander kleinere Beträge notwendig sein. Dieser Prozeß wird sich sicherlich über einen längeren Zeitraum erstrecken, weil eine ordentliche rechtliche Abwicklung Voraussetzung dafür ist, daß festgestellt werden kann, wer wirklich Schaden hat hinnehmen müssen.Schon heute läßt sich jedoch sagen, daß sich ein hoher Anteil der landwirtschaftlichen Betriebe im Osten hervorragend entwickelt hat und daß es für junge Landwirte, die neu beginnen wollen, in den neuen Ländern zum Teil weit leichter ist, z. B. zu einem entsprechenden Milchlieferrecht zu kommen, als dies in den alten Ländern jemals möglich war oder möglich ist.
Wir müssen darauf achten, daß die Landwirte im Osten wie im Westen zunehmend die gleichen Perspektiven sehen. In dem Maße, in dem dies geschieht, wird es auch gelingen, daß sich das Zusammenwachsen in einem echten Miteinander vollzieht.Die Bundesregierung hat in den ersten Jahren der Landwirtschaft im Osten zu Recht in außerordentlicher Weise Hilfe zukommen lassen.
Wenn dies nun nicht zu einer Benachteiligung der schlechter strukturierten Landwirtschaft im Westen führen soll, dann muß auch hier Einheit praktiziert werden. Hier ist sicher der Ort, einmal darauf hinzuweisen, daß die Verschuldung im Westen bei 4 700 DM je Hektar und im Osten bei etwa der Hälfte, nämlich bei 2 400 DM je Hektar, liegt.Die Agrarreform muß als Realität angesehen und, wie Minister Borchert auch dargestellt hat, weiterentwickelt werden. Dabei kommt es sehr darauf an, daß die marktentlastenden Kriterien so genutzt werden, daß der Markt wirklich wieder funktionieren kann. Eine Kontingentierung bei gleichzeitigem Überangebot führt nicht nur zu einer Einengung der betrieblichen Entwicklung, sondern auch zu niedrigeren Preisen und damit zu schlechteren, ja die Landwirtschaft wirklich bedrohenden Einkommen. Dies kann nicht das Ziel von marktregulierenden Schritten sein.Die enorme Leistung, die die Landwirtschaft für den Natur- und Landschaftsschutz erbringt, hat nicht nur Anspruch auf entsprechende Beachtung, sondern auch auf einen entsprechenden finanziellen Ausgleich.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, auch innerhalb der EG die Maßnahmen zu einer stärkeren Verwendung nachwachsender landwirtschaftlicher Rohstoffe auf allen möglichen Einsatzfeldern voranzubringen und gleichzeitig alles zu tun, daß die wirklich auf beiden Seiten funktionierende Zuckermarktordnung unverändert erhalten bleibt.Meine Damen und Herren, wer zu dieser Zeit durch unser Land fährt, kann sich an einer wunderschönen Landschaft erfreuen, in der — das ist besonders wichtig — unser täglich Brot für das kommende Jahr heranreift. Dies haben die Bäuerinnen und Bauern in unserem Land bewirkt, und dies muß auch in Zukunft so bleiben.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich auf der Ehrentribüne den Vorsitzenden des Präsidiums der albanischen Volksversammlung,
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14154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthHerrn Pjeter Arbnori, mit seiner Delegation ganz herzlich begrüßen.
Ich freue mich, daß wir mit Ihnen hier in der Bundesrepublik vom Bundestag aus Gespräche führen können, denn wir wissen, Herr Vorsitzender, was es für Sie bedeutet, sich nach 28 Jahren Lebenszeit, die Sie im Gefängnis verbracht haben, erneut der politischen Arbeit zu stellen — im Dienst Ihres Landes, für den demokratischen Aufbau und die Wiedergewinnung wirtschaftlicher Prosperität.Wir danken Ihnen und Ihrer Delegation für die Arbeit, die Sie im Lande leisten. Sie wissen, daß die Bundesrepublik Albanien besonders verbunden ist und daß auch unsere Parlamentarier aktiv an der Arbeit sind, um den Aufbau zu unterstützen. Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag!
Nun erteile ich dem Abgeordneten Rudolf Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diesen Agrarbericht, Herr Minister Borchert, haben Sie nicht zu verantworten. Der eigentlich Verantwortliche sitzt hier im Plenum: Altminister Herr Kiechle. Wohl aber haben Sie als langjähriges Mitglied der Regierungskoalition die Agrarpolitik mitzuverantworten.Herr Kollege Susset, Sie haben vorhin mit lobenden Worten erwähnt, was die Regierung alles für die Landwirtschaft getan hat.
Da sei die Frage erlaubt: Wie ist denn die Lage der Landwirtschaft heute?
Wir stellen fest: Die Einkommen der Landwirte sind schlechter denn je und geraten zunehmend unter Druck.
Zweitens. Die Entscheidungsmöglichkeiten der Unternehmerlandwirte wurden weiter eingeschränkt.Drittens. Bürokratie und staatliche Bevormundung haben noch zugenommen.Viertens. Die Zukunftschancen wurden von den Landwirten selbst noch nie so schlecht eingeschätzt wie heute.
Als diese Koalition 1982 antrat, wurde das als große Wende bejubelt, in geistig-moralischer ebenso wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Zehn Jahre später lautet das Wort des Jahres: Politikverdrossenheit. Das gilt für alle Schichten des Volkes; es gilt auch für die Bauern.
Ich gebe zu, daß auch wir Sozialdemokraten uns mit unseren Reformvorstellungen — ich erinnere an das Apel-Papier — nicht durchsetzen konnten.
CDU/CSU und andere warfen uns damals vor, wir wollten damit die deutsche Landwirtschaft ruinieren. So war es, Herr Kollege Susset.
Interessanterweise greift der neue Bundesminister, Herr Borchert, in seinem Konzept, das er letzte Woche vorgestellt hat, viele Elemente unserer Vorschläge auf. So schlecht kann es also nicht gewesen sein.
Der Koalition hatte nach 1982 Zeit genug, die versprochene Wende auch in der Agrarpolitik wenigstens einzuleiten. Sie ist aber den von ihr in den 50er Jahren eingeschlagenen Weg weitergegangen.
So steckt die Agrarpolitik heute in einer Sackgasse, aus der sie nur schwer wird herauskommen können,
und das in einer Zeit, in der der Regierung auf allen Gebieten die Probleme über den Kopf wachsen. Die Agrarpolitik ist gerade unter dieser Koalition einer Zwangsverwaltungswirtschaft immer ähnlicher geworden, zumindest für die Bauern.
Realitätssinn, Gespür für soziale Ausgewogenheit, Weitblick und Druchsetzungskraft, z. B. auch in Brüssel, gehören nicht gerade zu den herausragenden Eigenschaften dieser Regierung. Die Bananen-Entscheidung macht das deutlich. Das ist kein Vorwurf an Sie, Herr Minister Borchert, aber es ist die logische Konsequenz einer falschen Agrarpolitik.
Viel gravierender als Bananenpreissteigerungen sind die Auswirkungen auf die GATT-Verhandlungen, auf den Welthandel und auf die deutsche Wirtschaft und damit auch auf den Export unserer Agrarprodukte.
Bis heute ist offen, ob der Optimismus, den die Regierung und den Sie, Herr Susset, verbreiten, gerechtfertigt ist.Ehrlichkeitshalber muß ich hinzufügen, daß für den derzeitigen Zustand auch das Verhalten unseres EG-Partners Frankreich mitverantwortlich ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14155
Rudolf Müller
Sosehr jeder von uns für die europäische Einigung eintritt, bleibt doch festzustellen: Die deutsche Regierung muß unseren französischen Freunden klar und deutlich sagen, daß französische Interessen noch längst nicht immer unsere oder gemeinsame Interessen sind.
„Deutschland soll zahlen" stand vor einiger Zeit in einer bekannten französischen Zeitung. Den Zusatz will ich hier gar nicht hinzufügen.
— Der Herr Kohl sitzt doch mit ihm immer zusammen, der kann das alles klären. Deutschland kann und will — da sind wir uns einig — für die Einigung Europas einen Beitrag leisten. Aber das Geld dafür müssen die Deutschen auch verdienen können.
Nun sind, was den Welthandel, den Agrarhandel angeht, die Europäer nicht die Bösen und die Amerikaner nicht die Guten. Es gibt bei der Diskussion sehr viel Heuchelei, auch in Übersee.
Klar ist aber eines: Niemand wird die Konsequenzen falscher Entscheidungen so teuer bezahlen müssen wie gerade wir Deutschen, auch die Bauern. Den notwendigen Strukturwandel in der Landwirtschaft erzwingt die Konkurrenz der EG und die aus den neuen Bundesländern sowieso, unabhängig davon, was im GATT beschlossen wird.
Aber endgültig gescheiterte GATT-Verhandlungen werden wegen der Auswirkungen auf den deutschen Export und damit auf die Steuereinnahmen auch die Landwirtschaft treffen, die noch lange öffentliche Zuschüsse haben will und, so wie die Lage nun einmal ist, auch noch einige Zeit braucht.
Natürlich muß man die berechtigten Schutzinteressen unserer Bauern anerkennen. Das heißt, ohne einen gewissen Außenschutz und eine Politik, die Wettbewerbsverzerrungen vor allem erst einmal innerhalb der EG verhindert, wird es auch in Zukunft nicht gehen.
Deshalb fordern die deutschen Bauern zu Recht gleiche Wettbewerbsvoraussetzungen. Diese Regierung war aber bisher nicht in der Lage, das EG-weit durchzusetzen.
So hat der Bundesemährungsminister, was die Wettbewerbsverzerrungen im Bereich Tier-, Umwelt-und Naturschutz betrifft, bei der Vorstellung seines agrarpolitischen Konzepts erklärt, daß das Ziel eines gleich hohen Schutzniveaus kurzfristig kaum zu erreichen sein wird. Ja, was dann? Resignation ersetzt keine Politik.
Hinter der Agrarpolitik der CDU/CSU geisterte lange der Satz eines CSU-Ministerpräsidenten: Bauer kann bleiben, wer Bauer bleiben will.
Nur wenige haben ehrlich hinzugefügt, daß dann, wenn alle Bauer bleiben wollen, keine Politik allen Landwirten ein angemessenes Einkommen garantieren kann.Um dieser Wahrheit aus dem Weg zu gehen, wurde nicht nur von Familienbetrieben in einer Art und Weise gesprochen — „bäuerlich" wurde noch besonders betont —, die auch dem kleinsten und schlecht wirtschaftenden Bauern das Gefühl geben mußte, die Politik werde seine Existenz schon irgendwie sichern.
— Ihre Aussagen, Herr Kollege Hornung, führen nicht gerade zur Begeisterung unserer Bauern.
Anders als die wirtschaftspolitische Philosophie der Koalitionsfraktionen eigentlich verlangte, profitierten von dieser Politik diejenigen am wenigsten, die den unternehmerischen Typ unter den Bauern verkörpern.
Weil gewisse Ausgleichszahlungen — Herr Kollege Bredehorn hat darauf hingewiesen — den Strukturwandel hemmen, können sie ihre Kapazitäten nur schwer auf wettbewerbsfähige Größenordnungen aufstocken. Hier wird zum Nachteil der Bauern Strukturpolitik mit Sozialpolitik vermengt. Wer Pachtland hat, muß wegen der Ausgleichszahlungen mit höheren Pachten rechnen. Tüchtige Unternehmer werden auf Dauer kaum einsehen, daß angesichts ihrer schwierig bleibenden Situation Leute Geld kassieren, deren einzige Leistung darin besteht, ihren Boden nicht selbst zu bewirtschaften.
Auch die Milchmengenregelung, die Sie, Herr Minister, als erfolgreiche Politik bezeichnet haben, wird, wie eine vielgelesene Zeitschrift für Betriebsleiter schrieb, mehr und mehr zu einem Wertpapier für die Enkel ehemaliger Milcherzeuger. Diejenigen, die Milch preisgünstig produzieren wollen und auch können, müssen das teuer bezahlen. Die Quotenregelung mag, als sie eingeführt wurde, als Notlösung erforder-
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14156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Rudolf Müller
lich gewesen sein. Aber zukunftsträchtig ist sie nicht.
Die größten Vorteile von dieser EG-Agrarpolitik haben unsere französischen Partner. Sie werden sich nicht zu Unrecht darauf berufen, daß das zu lange deutsche Beharren auf zu hohen staatlich abgesicherten Agrarpreisen ein wesentlicher Grund für die derzeitige Situation ist. Denn jetzt haben wir beides: niedrige Preise und eine Reglementierung mit einer übermächtigen, entscheidungshemmenden Bürokratie. Es ist für uns Sozialdemokraten kein Anlaß zum Triumph, daß wir recht behalten haben. Denn auch wir werden für das mit in die Haftung genommen, was die Bürger, was die Bauern so verdrossen macht.
Was Sie, Herr Minister, bisher haben verlauten lassen, zeigt, daß wir, was die Neuausrichtung der Agrarpolitik betrifft, offensichtlich nahe beieinander liegen. Ihr neues Konzept, ich sagte es schon, enthält viele Elemente, denen wir zustimmen können.
Trotzdem werden Sie es schwer haben; denn der Zug in der EG fährt zunächst einmal weiter, aber in die falsche Richtung. Ihr Spielraum ist gering. Das wissen wir. Aber ich sage ganz deutlich: Im Interesse unserer Bauernfamilien, im Interesse aller Menschen auf dem Lande und auch im Interesse der gesamten deutschen Wirtschaft werden wir den neuen Landwirtschaftsminister überall dort unterstützen, wo er das Allgemeinwohl und damit das Wohl und Wehe der deutschen Landwirtschaft in den Vordergrund stellt.
Ich danke.
Das Wort zu einer Kurzinternvention hat jetzt der Kollege Kalb.
Herr Kollege Müller, Sie haben hier gerade wieder den Satz von Alfons Goppel,
dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten, zitiert: „Jeder kann Bauer bleiben, der Bauer bleiben will."
Kein Satz ist bewußt so absichtlich falsch interpretiert und verstanden worden wie dieser Satz.
Er sollte damals nichts anderes aufzeigen, als daß
auch derjenige, der seinen Lebensunterhalt nicht
mehr allein aus den Einkünften aus der Landwirtschaft bestreiten kann, nicht von Haus und Hof gehen muß, weil nämlich die Politik zum Ziel hat, durch eine gute Strukturpolitik auch Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen zu schaffen,
die es den Landwirten, wenn sie schon auf Grund des unvermeidbaren Strukturwandels gezwungen sind, andere Einkommensquellen zu erschließen, ermöglichen, im ländlichen Raum zu bleiben und ausreichend Einkommen für sich und ihre Familie zu erwirtschaften.
Das war das Ziel, und das ist auch die konsequente Politik in den südlichen Bundesländern gewesen.
Das war auch die Politik der Bundesregierung, insbesondere auch unter Agrarminister Kiechle, und das wird von Jochen Borchert so fortgesetzt, daß nicht die Nebenerwerbslandwirte einseitig benachteiligt werden,
wie es ja auch einige gewollt haben.
Ich glaube, wir tun gut daran, daß wir diese Politik der Stärkung der ländlichen Räume, der Schaffung von Arbeitsplätzen in den ländlichen Räumen so fortsetzen,
daß wir damit auch den Menschen ermöglichen, daß eine breite Eigentumsstreuung möglich ist und sie ihr Eigentum erhalten können.
— Es gab ja auch die andere Philosophie, nämlich die des Hans-Jochen Vogel beispielsweise in den 70er Jahren, wo er gesagt hat: Das zukünftige Leben wird das städtische Leben sein. — Das ist doch alles Lügen gestraft worden! Wir sehen doch heute, daß die Menschen hinauswollen, in die ländlichen Räume hinausdrängen.
Im übrigen fällt mir gerade auf, daß von denjenigen, die sich immer so sehr für die Umwelt einsetzen und die Landwirtschaft immer anklagen, nämlich vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, überhaupt niemand da ist,
obwohl sonst immer gesagt wird, daß gerade die Landwirtschaft in die Umweltpolitik erheblich eingebunden sein muß.
Im übrigen haben Sie ja vorhin auch das Problem — —
Herr Kalb, so spannend es ist: Die Zeit ist zu Ende.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14157
Ich danke, daß ich die Möglichkeit hatte; das andere werde ich mir dann aufheben.
Zur Entgegnung gebe ich dem Herrn Kollegen Müller das Wort.
Herr Kollege Kalb, Herr Goppel ist tot.
Gewissenserforschung betreiben, was er gemeint hat, ist heute ein bißchen schwer. Aber wir wissen, was er gesagt hat, und vor allem, welche Wirkung es bei den Landwirten hervorgerufen hat. Das ist das Entscheidende.
Die Landwirte haben es so aufgefaßt, wie es für jeden einzelnen am besten gepaßt hat. Auch der kleine Vollerwerbslandwirt hat also geglaubt: Ja, wenn die Regierung das so sagt, dann wird sie schon etwas tun, damit ich auch weiterhin mit meinem Vollerwerbsbetrieb bestehen kann.
Das ist das berühmte Problem. Und die Folge ist, daß viele dieser Landwirte auch ihre Kinder noch veranlaßt haben, diesen Beruf zu ergreifen, und daß dadurch sogar viel Vermögen verlorengegangen ist, weil sie sich damals, zu einer guten Zeit, nicht darauf eingerichtet haben, eventuell in den Nebenerwerb zu gehen. Damals bestanden diese Chancen; heute ist das viel, viel schwieriger.
Ich sage noch einmal, Herr Kalb, man soll nicht Struktur- mit Sozialpolitik vermengen. Wir waren uns immer einig, auch mit Herrn Kiechle, daß das sozial abgefedert werden muß. Wir waren uns immer einig, daß man das nicht von heute auf morgen so umdrehen kann.
Aber wir waren auch immer der Meinung, daß das richtig ist, was jetzt der Herr Bredehorn gesagt hat und was jetzt auch der Minister sagt: Als Vollerwerbsbetriebe brauchen wir wettbewerbsfähige, leistungsfähige Betriebe mit gut ausgebildeten Landwirten. Das ist Neuland für Sie, denn niemand von Ihnen hat das vor 10 Jahren zu sagen gewagt, niemand, sondern draußen entstand der Eindruck: Ja, die Politik wird das schon irgendwie hinziehen. Und da liegt das Problem. Hier müssen wir einhaken; nur wäre das vor 10 Jahren alles viel, viel billiger geworden. Heute kommt das leider teuer.
Deswegen habe ich vorhin gesagt, der jetzige Minister wird es schwer haben. Sie wissen ja, Herr Kiechle hat doch auch schon versucht, dieses Umsteuern vorzunehmen. Das war Mitte der 80er Jahre schon schwer, weil einfach das Geld nicht mehr vorhanden war.
Da ist die Problematik, die darin steckt. Hier haben wir zuviel Zeit versäumt.
Nun hat der Kollege Ulrich Heinrich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Agrarbericht '93 hinterläßt mehr Fragen, als er Antworten zu geben in der Lage ist. Wir Agrarpolitiker sind mit Sachwalter einer Politik, die mehr Unsicherheit bei den Betroffenen hinterläßt, als sie in der Lage ist, Zukunftsperspektiven aufzuzeigen.
Dies gilt aber nicht nur national, sondern ebenso auch auf europäischer Ebene, und ich fürchte, daß die soeben laufende Debatte auch nicht zur Erhellung beigetragen hat.Vor dem Hintergrund eines massiven Strukturwandels und angesichts des wegen der konjunkturellen Krise derzeitigen Fehlens von außerlandwirtschaftlichen Perspektiven für die ländliche Bevölkerung sind unsere Vorstellungen für die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland noch zu verschwommen und zu widersprüchlich.
Wenn täglich 45 Betriebe ihre Hoftore für immer schließen und jährlich 20 000 Beitragszahler aus der landwirtschaftlichen Altershilfe ausscheiden, ist es allerhöchste Zeit, daß wir die Aufgaben der Landwirtschaft, die Rahmenbedingungen, unter denen die Landwirtschaft tätig sein soll, klarer und deutlicher formulieren und diese Agrarpolitik nicht nur für die aktive Landwirtschaft, für die produzierenden Bereiche, sondern für den ländlichen Raum insgesamt darstellen.
Landwirtschaftliche Einkommen müssen in Zukunft nach meinem Dafürhalten im wesentlichen aus drei Bereichen zu erzielen sein, die ich im folgenden kurz skizzieren will.Primäre Einkommensquelle für unsere Bauern wird die Erzeugung qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel entsprechend den Wünschen der Verbraucher zur Ernährung der Bevölkerung bleiben, ja bleiben müssen. Der Verbraucher verlangt zunehmend und mit Recht die Produktion von Nahrungsmitteln höchster Qualität unter strenger Beachtung von Umweltauflagen.Die sich hier für unsere Bauern abzeichnende Chance im Bereich einer rückstandsfreien, verbrauchernahen, umweltverträglichen, standortgerechten Nahrungsmittelproduktion wird meiner Meinung nach in den nächsten Jahren noch deutlicher an
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14158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Ulrich HeinrichBedeutung gewinnen. Die von einem zunehmenden Teil der Bevölkerung an die Nahrungsmittel gestellten unterschiedlichen Anforderungen können von ausländischen Produzenten meist nicht erfüllt werden. Derartige Nischen müssen erkannt und besetzt werden, und zwar von der deutschen Landwirtschaft.
Ich denke dabei auch an eine höhere Wertschöpfung unserer Produkte. Wer glaubt, nur Rohstoffe produzieren zu sollen, wird es in Zukunft immer schwerer haben. Meine Damen und Herren, die Wertschöpfung wird einen entscheidenden Anteil am zukünftigen Einkommen der deutschen Landwirtschaft haben!
Die Landwirtschaft der Zukunft muß unternehmerischer denken und handeln als in der Vergangenheit. Landwirte sind Unternehmer, meine Damen und Herren. Ihr Engagement und ihre unternehmerischen Entscheidungen müssen auch künftig maßgebend für ihre Einkommen sein.Marktwirtschaftlichen Spielraum finden unsere Landwirte z. B. noch im Sonderkulturenbereich: Obst, Gemüse, in der Schweine-, in der Eierproduktion, beim Wein, alles Bereiche,
die seitens der EG nicht oder nur sehr schwach von Marktordnungen geregelt sind.
Aus diesem Grund lehne ich auch jegliche von Brüssel geplante Ausweitung von Marktordnungen auf bisher noch nicht geregelte Bereiche strikt ab.
Ziel der F.D.P. bleibt also die unternehmerische, wettbewerbsfähige, sich am Markt orientierende Landwirtschaft. Damit allein läßt sich jedoch mittelfristig in vielen Produktbereichen bei auf Weltmarktpreisniveau absinkenden Erzeugerpreisen kein ausreichendes Einkommen erwirtschaften. Dies ist traurig, aber leider wahr.Die zweite Säule des landwirtschaftlichen Einkommens unserer Landwirte werden daher in Zukunft die direkten Einkommensübertragungen bilden. Einkommensübertragungen als Kompensation für fehlende Marktleistungen an die deutsche Landwirtschaft sind deshalb notwendig. Der Erhalt unserer Landwirtschaft und der landwirtschaftlich geprägten Kulturlandschaft, die verstärkten Anstrengungen zur Wiederherstellung des Marktgleichgewichts, der tiefgreifende strukturelle Anpassungsprozeß sowie die Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Landwirtschaft erfordern auch weiterhin den Einsatz staatlicher Mittel, und zwar überall dort, wo kein Markt eine angemessene Bezahlung für die erbrachten Leistungen übernehmen kann.Unverzichtbar ist dabei, auf regionale Gegebenheiten einzugehen, und zwar durch agrar- und strukturpolitische Maßnahmen. Die Regionalisierung muß daher ein wichtiges Element der Bundesländer sein, die ja für die infrastrukturelle Entwicklung ihrer ländlichen Gebiete in erster Linie verantwortlich sind.
Zur dritten Säule landwirtschaftlichen Einkommens muß sich aber der Bereich der nachwachsenden Rohstoffe entwickeln. Durch innovative Entwicklungen in der Naturstoffchemie, im chemisch-technischen Bereich werden neue Absatzmöglichkeiten für landwirtschaftliche Erzeugnisse erschlossen. Durch eine konsequente Nutzung der sich durch die Gentechnologie bietenden Möglichkeiten können landwirtschaftliche Produkte zudem in Zukunft stärker auf die Anforderungen der Industrie zugeschnitten werden.
Entwicklungen in der Naturstoffchemie, im chemisch-technischen Bereich haben gute Chancen vor allem dort, wo spezielle Pflanzeninhaltsstoffe zur Herstellung von höherwertigen Produkten genutzt werden können, wo Agrarrohstoffe gegenüber anderen, fossilen Rohstoffen ökologische Vorteile durch biologische Abbaubarkeit, CO2-Neutralität und Schonung von Ressourcen haben.Aber auch im energetischen Bereich muß jetzt ein klares politisches Signal zum Einstieg kommen, Herr Minister Borchert!
Da reine Pflanzenöle trotz Steuerfreiheit den Weg in den Treibstoffmarkt auf Grund besonderer Anforderungen
an Distribution und Technik derzeit nicht finden, muß jetzt aus umwelt- und agrarpolitischen Gründen die Möglichkeit eröffnet werden, Mischtreibstoffe aus Mineralöl und Pflanzenöl für den Pflanzenölanteil von der Mineralölsteuer zu befreien.
Es ist Ziel, die Steuerfreiheit für eine begrenzte Gesamtmenge über einen bestimmten Zeitraum hinweg politisch auf den Weg zu bringen.
Eine Steuerbefreiung für eine z. B. zweiprozentige Beimischung von Pflanzenöl zu Mineralöl würde rund einen Pfennig pro Liter ausmachen, die dann natürlich dem fossilen Anteil zugeschlagen werden müßten, um die leeren Kassen des Bundesfinanzministers nicht
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Ulrich Heinrichnoch zusätzlich zu belasten. Das ist und muß eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden.
Zukünftige Landwirtschaft muß sich im Rahmen dieser aufgezeigten Schwerpunkte entwickeln können, und dieser Rahmen muß zuverlässig sein. Er darf nicht heute beschlossen und morgen in Frage gestellt werden. Meine Damen und Herren, so kann die Landwirtschaft nicht richtig reagieren; sie braucht klare Perspektiven.
Ich bin deshalb sehr dankbar, Herr Minister, daß die Handelbarkeit der Milchquoten einer Region möglich gemacht worden ist. Ich fordere aber darüber hinaus, daß wir auch andere Obergrenzen — wenn man jetzt einmal die Quoten als Obergrenzen bezeichnen will — beseitigen, insbesondere in den alten Bundesländern. Dieses ist wettbewerbs- und strukturhemmend und hat keinen Platz in einer zukünftigen Landwirtschaft.
Zu einer verläßlichen, glaubwürdigen Politik gehört aber auch, daß man zu dem steht, was man über zwei Legislaturperioden in den Koalitionsvereinbarungen und Regierungserklärungen verkündet hat, nämlich dazu, daß die landwirtschaftliche Alterssicherung auf ein neues Fundament gestellt werden soll. Ich habe deshalb weder für die Verschiebung des Gesetzentwurfs im Bundeskabinett vom Dezember 1992 noch für die im Mai 1993 Verständnis.
Die Inhalte der Reform sind klar, der ausgearbeitete Gesetzentwurf liegt auf dem Tisch, und die Finanzierbarkeit ist gesichert. Reden wir uns doch nicht immer ein, es sei nicht finanzierbar. Diese Reform ist finanzierbar.
Wir brauchen nur den politischen Willen, einmal den der handelnden Personen hier in diesem Raum, zum anderen aber auch die politische Bereitschaft des Deutschen Bauernverbandes, hier mitzuziehen, nämlich bei der Umschichtung der Mittel von der soziokulturellen Einkommensbeihilfe in Richtung eines soliden Fundaments der sozialen Sicherung für die Landwirtschaft.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten noch einen ganz kurzen zweiten Satz anfügen.
Ich möchte der Regierung und insbesondere Ihnen, Herr Minister Borchert, signalisieren, daß wir bei all den Problemen, die wir derzeit finanziell haben, der
Meinung sind, daß selbstverständlich auch der Agrarhaushalt hier seinen Anteil beitragen muß. Wir wollen uns davor nicht drücken, Herr Minister. Wir erklären hier unsere Bereitschaft mitzumachen, wir bitten Sie aber, daß Sie uns zeitig informieren, daß Sie uns zeitig mit einbinden, —
Herr Kollege, den Schlußsatz bitte!
— daß Sie unsere Agrarpolitiker in die notwendige Erarbeitung einer Streichliste einbeziehen und daß wir nicht unverrückbaren Festlegungen, mit wem sie auch immer abgesprochen wurden, konfrontiert werden.
Herr Kollege Heinrich, Sie sind weit über Ihre Redezeit.
Herr Präsident, ich bedanke mich für Ihre Geduld, ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
Meine Geduld, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist unermeßlich, aber das geht den anderen Kolleginnen und Kollegen aus der gleichen Gruppierung natürlich nachher von der Redezeit ab. Nur deshalb muß ich eingreifen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Rudolf Krause .
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Geschätzter Herr Präsident! Im Agrarbericht steht im Punkt 153, ein Hauptziel der Regierung sei die Teilnahme an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung. Wenn ich auf Seite 67 das verfügbare Einkommen je Haushaltsmitglied auf 80 Arbeitsstunden für den Selbständigen, Bauern wie jeden anderen, umrechne — jeder arbeitet mehr als 80 Stunden —, komme ich auf 3,60 DM für den Bauern,
13,60 DM für den sonstigen nicht landwirtschaftlich Selbständigen und auf 26 DM für den Lehrer. Es ist heute besser für den Bauern, eine Lehrerin mit zwei linken Händen zu heiraten als eine tüchtige Frau mit 80 Hektar.
— Ihr dürft ruhig klatschen, auch wenn es die falsche Fraktion ist.Insofern stimmt es nicht, daß die Teilnahme an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung gewährleistet ist.Man muß natürlich Regierungen — und das trifft seit 1968 alle vier Bundeskanzler — an ihren Ergebnissen messen. Es sind drei Dinge, die die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen für diesen Niedergang des Bauernstandes bilden.
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14160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Rudolf Karl Krause
Erstens. Sozialhilfe. Die sozialen Leistungen dieses Staates kommen nur dem zu, der nichts mehr hat. Solange der Bauer noch einen einzigen Hufbreit Boden sein eigen nennt, darf er sich nicht ins soziale Netz zurückfallen lassen. Er wird nicht nur für 3,60 DM, er wird, um seinen Hof zu halten, auch für weniger als 2,00 DM arbeiten müssen. Das ist ein Durchschnittswert; viele tun es auch.Ich möchte hier ausdrücklich sagen: Die Minister Kiechle und Borchert, alle im Landwirtschaftausschuß, aus allen Parteien, also von Bredehorn bis Schumann, tun ihr Bestes zur Schadensbegrenzung. Aber es sind eben drei gesellschaftliche Rahmenbedingungen; eine ist das angerissene Sozialrecht.Das Zweite: Die EG garantiert einheitliche Preise, aber sie garantiert eben nicht einheitliche Kosten. Man kann in anderen Ländern die Vorleistungen und vieles an Reparaturen viel billiger bekommen. Das heißt also, der Sozialabbau des Bauernstandes in Europa trifft zuerst den deutschen Bauern, weil er eben zu wesentlich höheren Kosten produzieren muß.
Drittens. Die deutschen Sozialleistungen belasten ausschließlich die Arbeit in Deutschland, auch die der Türken, die hier arbeiten. Wenn ein Trecker tausend gesamtgesellschaftliche Arbeitsstunden kostet, kostet er anderswo 20 000 DM und bei uns 40 000 DM. Alle Sozialleistungen, alle Steuern — bis auf die Mehrwertsteuer — beziehen sich auf die gesamtgesellschaftliche Arbeit in Deutschland.Wie muß eine Lösung aussehen? Wir müssen davon wegkommen, daß die Arbeit in Deutschland belastet wird. Wir müssen wegkommen von der Eigendiskriminierung. Es wird eine Reform des gesamten Steuer-und Abgabensystems erforderlich sein, wenn nicht ein Wirtschaftszweig nach dem anderen kaputtgehen soll.Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen. Warum arbeitet der deutsche Bauer? — Nicht nur, weil er keine Gewerkschaft hat, sondern weil er dem Erben seinen Boden erhalten will, mit der Hoffnung auf bessere Zeiten. Es ist nur die Hoffnung auf bessere Zeiten. Er würde sich liebend gern einem anderen Beruf zuwenden. In Mitteldeutschland kann er es nicht.Lassen Sie mich ein Letztes zu Mitteldeutschland sagen. Dort hat ein Rentnerehepaar im Durchschnitt 2 600 DM. Das ist das Dreifache wie im Westen — hervorragend. Vorruheständler sind aus dem Schneider. Wer heute darunter liegt, wer 50 Jahre alt ist und auf dem Land lebt, hat alle sozialen Vorteile dieses Deutschlands, wenn er kein Eigentum hat. Hat er aber Eigentum, muß er das, was jahrhundertelang erarbeitet wurde, was ihm der Sozialismus nicht genommen hat, erst unter den Hammer bringen, bevor er sich in die soziale Hängematte legen kann. Das kann und darf nicht Ziel zukünftiger deutscher Politik sein.Ich danke für die Aufmerksamkeit, auch wenn Sie aus Parteiräson nicht klatschen dürfen.
Aber ich darf wenigstens danken, daß Sie sich an die Zeit gehalten haben, Herr Kollege Krause.
Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Jan Oostergetelo.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gern zu dem, was Herr Heinrich gesagt hat, drei oder vier Aussagen machen.
Erstens. Herr Heinrich, Sie haben dankenswerterweise den ländlichen Raum erwähnt. Er ist in der Diskussion, die wir bisher hatten, zu kurz gekommen. Ich meine, es ist gut, daß wir einmal fragen, wie es denn weitergehen soll. Wir haben noch ein Drittel junger Menschen, die bereit sind, landwirtschaftliche Betriebe zu übernehmen. Da kommt es nicht auf den Schlagabtausch klein oder groß an, sondern es geht um die Frage: Wie kann ich den ländlichen Raum in seiner Sozialfunktion erhalten?
Herr Minister, da ist es nicht richtig, mit ein paar Pressezitaten zu arbeiten. Es ist jetzt klargeworden: Jeder von uns will die soziale Absicherung auch der Bäuerinnen. Wir haben ernst genommen, was bei den Koalitionsabsprachen vor etwa sieben Jahren festgelegt wurde, als sich diese Regierung etablierte. So lange ist das her.
Zweitens. Damit klar ist, was die soziostrukturellen Einkommensübertragungen anlangt: Herr Minister, ich habe überhaupt nichts dagegen, daß Sie erreicht haben, daß das bis 1995 fortgeschrieben werden kann. Dann dürfen Sie aber nicht schimpfen, wenn Sozialdemokraten versucht haben, es noch gezielter und noch länger zu etablieren.
Drittens. Sie haben zu Recht gesagt, daß wir es waren, die direkte Hilfen wollten. Das ist völlig richtig. Ich muß allerdings sagen, daß diese Regierung das viel zu spät gemacht hat, denn Sie haben genau das gemacht, was Sie nicht wollten.
Es ist richtig, wenn wir handwerkliche Schwierigkeiten oder zuviel Bürokratismus beklagen. Bei allem Respekt muß ich sagen dürfen: Wir haben dort an jener Rheinseite gestreikt, und da hätte ich auch gern gehört, daß Sie gesagt hätten, daß es so nicht weitergehen kann.
Ich möchte uns alle auffordern, in dieser Lage, da es nur noch ein Drittel Höfe gibt, bei denen die Fortexistenz gewährleistet ist, alles zu tun und nicht mit Zitaten zu arbeiten, daß der eine dem anderen unterstellt, er habe nicht das Ganze im Sinn.
Herr Kollege Heinrich, Sie können, wenn Sie dies wünschen, kurz darauf reagieren.
Herr Kollege Oostergetelo, ich glaube, wir haben das gemeinsame Bemühen, den ländlichen Raum erhalten und stabilisieren zu wollen. Wir haben vor allen Dingen das gemeinsame Bemühen, in der Landwirtschaft auch solche Strukturen zu
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Ulrich Heinricherhalten, die den nachfolgenden Generationen erhaltenswert erscheinen.
Was hilft es uns letztendlich, wenn wir in Produktionsbereiche abgleiten, die nachher keine rentierlich arbeitenden Verarbeitungsstufen ermöglichen? Insofern müssen wir den gesamten ländlichen Raum betrachten. In dieser Beziehung sind wir völlig einer Meinung.
Vielen Dank. Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Deß.
Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, daß unser langjähriger Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle mit Interesse an dieser Agrardebatte teilnimmt.
Dies zeigt seine Verbundenheit mit den Bäuerinnen und Bauern in unserem Land über das Amt hinaus. Vielen Dank, lieber Kollege Ignaz Kiechle.Wie jedes Jahr wurde uns ein umfangreicher Agrarbericht für das zurückliegende Wirtschaftsjahr vorgelegt. Auch dieser Agrarbericht für das Wirtschaftsjahr 1991/92 zeigt, daß eine Reform der Agrarpolitik in der Europäischen Gemeinschaft unumgänglich war.
Das verfügbare Einkommen der Vollerwerbsbetriebe ist zwar um 2,8 % gestiegen; dies ist jedoch bei weitem kein Ausgleich für das Minus von 21,2 % im Jahr zuvor bei den Vollerwerbsbetrieben.Wenn jetzt Einsparungen im Haushalt erfolgen müssen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, muß man berücksichtigen, daß kein Berufsstand in den alten Bundesländern wegen der Wiedervereinigung unseres Landes größere Vorleistungen erbracht hat als die Landwirtschaft. Wären alle anderen Berufsgruppen bereit, ähnliche Einkommenseinbußen zugunsten der Wiedervereinigung hinzunehmen, hätte Finanzminister Theo Waigel keine Probleme, die Kosten, die sich aus der Wiedervereinigung — oder besser gesagt: aus über 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft in der ehemaligen DDR — ergeben, zu finanzieren. Aber wo bleibt hier die Solidarität der Gewerkschaften? Hier geht schon ein Aufschrei durchs Land, wenn wieder eine Stunde länger gearbeitet werden soll, obwohl allgemein eine Arbeitszeit gilt, von der die Bauern nur träumen können.Die Mehrzahl der Landwirte in den alten Bundesländern war und ist bereit, ihren Beitrag zur Wiedervereinigung zu leisten. Ärger gibt es jedoch, wenn festgestellt werden muß, daß die Landwirtschaft im Osten und im Westen ungleich behandelt wird. Es darf nicht sein, daß mit staatlichen Beihilfen zum Teil Überkapazitäten bei Vermarktungseinrichtungen in den neuen Bundesländern geschaffen werden. Während im Westen Investitionen von landwirtschaftlichen Vermarktungseinrichtungen größtenteils auf dem freien Kapitalmarkt finanziert werden müssen, werden durch die hohen Investitionszuschüsse imOsten Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der Landwirte in den alten Bundesländern geschaffen. Hier kann meiner Ansicht nach der Finanzminister durchaus Geld einsparen.Auch die Tatsache, daß wir bei den Ausgleichszahlungen für Betriebe im Westen beim soziostrukturellen Einkommensausgleich eine Obergrenze von 10 000 DM festlegen, während in den neuen Bundesländern die betriebliche Obergrenze für die Anpassungshilfe bei 378 750 DM liegt, ist nicht tragfähig.Berücksichtigt man den Länderanteil, der noch gewährt werden darf, wird die Disparität noch größer. Es ergeben sich dann Höchstbeträge von 15 385 DM im Westen und 582 692 DM in den jungen Bundesländern.Es darf auch nicht sein, daß die Landwirtschaft im Westen für 44,8 Milliarden DM, wie es der Agrarbericht ausweist, den Kapitaldienst erbringt, während in den jungen Bundesländern der Bundesfinanzminister die gesamten Altschulden übernehmen soll.Es ist unsere Aufgabe, solche Fehlleistungen zu vermeiden, damit die Solidarität zwischen den Landwirten im Westen und im Osten unseres Landes nicht gefährdet wird. Notwendig ist es, möglichst schnell gleiche Förderbedingungen in ganz Deutschland zu schaffen.Gleiche Bedingungen brauchen wir auch in der Europäischen Gemeinschaft. Sie, Herr Minister Borchert, haben angekündigt, sich besonders dafür einzusetzen, daß Vorschriften und Verordnungen aus Brüssel europaweit gleichmäßig umgesetzt und angewandt werden. Dafür bedanke ich mich. Hier kann man Ihnen nur viel Erfolg wünschen.Es ist unerträglich — ich habe es bereits im Vorjahr angesprochen —, daß in Italien bis heute die Milchquotierungsregelung nicht vollzogen wird.
Benachteiligt ist die deutsche Landwirtschaft auch durch die Währungsveränderungen, die wieder stattgefunden haben. Die deutschen Landwirte sind deshalb gut beraten, bei den Wahlen im nächsten Jahr Parteien zu wählen, die sich für die Verträge von Maastricht ausgesprochen haben bzw. aussprechen. Kein Berufsstand benötigt die Europäische Währungsunion dringender als die Landwirte, damit solche währungsbedingten Nachteile für die Zukunft ausgeschlossen werden.
Und trotzdem: Die meisten deutschen Landwirte bekennen sich zur europäischen Einigung, weil es dazu keine Alternative gibt. Alternativen brauchen jedoch die deutsche und die europäische Landwirtschaft für die Zukunft. Bei den Beschlüssen zur Agrarreform ist es Ignaz Kiechle gelungen, den Anbau von nachwachsenden Rohstoffen auf Stillegungsflächen zu ermöglichen. Die Bürokratie hat es heuer verhindert, daß hier schon stärker eingestiegen werden kann. Die CSU-Landesgruppe ist nicht bereit, solche Schikanen aus Brüssel zu akzeptieren.
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14162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Albert DeBHerr Minister, ich darf Sie ermuntern, dies im nächsten Anbaujahr zu ändern.Hürden müssen auch bei der Agrarsozialreform überwunden werden. Im Interesse unserer Bauern und Bäuerinnen ist es dringend erforderlich, in der laufenden Legislaturperiode eine Reform der agrarsozialen Sicherung zu erreichen.Der Entschließungsantrag, der von CDU/CSU und F.D.P. heute gemeinsam eingebracht wird, ist eine gute Grundlage für die weitere agrarpolitische Arbeit der Bundesregierung. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, diesen Antrag zu unterstützen, da er dem Interesse der Landwirtschaft besser gerecht wird, als dies beim SPD-Antrag der Fall ist.Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Gerald Thalheim, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister, in der vergangenen Woche haben Sie in einer großen Veranstaltung Ihre agrarpolitischen Vorstellungen dargelegt. Einer der Teilnehmer, der bereits zu DDR-Zeiten an ähnlichen Veranstaltungen teilnahm, sagte mir, daß er sich in vielem an die Vergangenheit erinnert gefühlt habe. Nicht nur daß durch die Auswahl der Referenten von vornherein für Konformität der Aussagen gesorgt war, vielleicht mit Ausnahme der Rede des Kollegen Bredehorn, sondern auch die Art und Weise, wie versucht wurde, Verbandsfunktionäre und Medienvertreter zu vereinnahmen.
In einem entscheidenden Punkt, Kollege Hornung, gab es jedoch Abweichungen zur ehemaligen DDR. Sie, Herr Minister, haben den Mut bewiesen, das auszusprechen, was jeder weiß. Und, Kollege Kalb, ich kann Ihnen den Satz nicht ersparen, daß nicht jeder Landwirt bleiben kann, der es will. Leider muß ich Ihnen sagen, daß das bereits der wichtigste Satz Ihrer Rede war. Ich zumindest bin nicht wie mein Kollege Schumann bereit, zwischen den Zeilen zu lesen. So kann ich zu keiner anderen Aussage kommen, als daß Sie die Richtungsbestimmung nicht nur für die alten, sondern auch für die neuen Länder schuldig geblieben sind.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb?
Ja.
Herr Kollege Thalheim, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich von hier vorn aus überhaupt nicht gesprochen habe? Ich habe nur einen Satz, der hier vorgetragen und falsch interpretiert worden ist, richtig darzustellen versucht. Ich bitte Sie, nicht wieder falsch zu interpretieren.
Ich nehme das zur Kenntnis. Aber ich schließe mich der Erwiderung meines Kollegen Rudi Müller an.
Herr Minister, auch Sie mußten einräumen, daß der Weg zur Privatisierung des volkseigenen land- und forstwirtschaftlichen Vermögens den Frieden in den Dörfern gefährdet. Die Art und Weise, mit der die Treuhandanstalt mit Deckung der Bundesregierung hier vorgeht, ist geeignet, den Ost-West-Konflikt eher zu vertiefen, denn zu entschärfen.
Dabei geht es nicht nur um die verhängnisvollen Auswirkungen der Verschleppungstaktik bei den langfristigen Pachtverträgen, sondern es geht vor allem darum, wie ostdeutsche Bewerber behandelt werden. Die Umstände der Privatisierung der Forellenmastanlage Rathmannsdorf in Sachsen, die mit dem tragischen Freitod eines der Bewerber endete, steht für mich symbolisch für die Benachteiligung ostdeutscher Bewerber. Ich könnte die Aussagen meiner Landtagskollegen der CDU aus Sachsen an dieser Stelle zitieren. Ich erspare mir das und gebe sie Ihnen zum Nachlesen.
Ein weiterer Zwischenfragewunsch des Kollegen Kuessner, wenn Sie bereit sind zu antworten.
Herr Kollege Thalheim, wissen Sie, daß die Richtlinien über die Verwertung der volkseigenen Güter dem Treuhandausschuß mehrfach versprochen, aber bis heute noch nicht auf den Tisch der Parlamentarier gekommen sind?
Kollege Kuessner, selbstverständlich ist mir das bekannt. Es ist eine typische Vorgehensweise der Regierung an diesem Punkt, daß sie versucht, diesen sensiblen Bereich am Parlament vorbei zu regeln, obwohl in dem BohlPapier vom 4. Dezember vergangenen Jahres — das muß man hinzufügen — ausdrücklich steht, daß dem Parlament diese Richtlinien zugeleitet werden sollen.Ich fahre fort: Dort, wo die ostdeutschen Bewerber tatsächlich eine Chance erhielten, haben die Menschen in den neuen Ländern unter Beweis gestellt, daß sie selbst in dieser schwierigen Anpassungsphase erfolgreich wirtschaften können. Das geht ja zum Teil auch aus dem Agrarbericht hervor.Wichtig ist auch der Vergleich der Landwirtschaft zur Industrie. Ich bin z. B. der Meinung, daß, gemessen am Gesamthaushalt der Treuhandanstalt, die Transferleistungen für die Landwirtschaft relativ gering sind. Immerhin 15 Milliarden DM. Diese waren eine wichtige Hilfe. Es darf aber nicht verschwiegen werden, daß bereits die Anpassungshilfen des vergangenen Jahres lediglich die ostdeutsche Version des soziostrukturellen Einkommensausgleichs waren und damit keine Transferleistungen.Im vergangenen Jahr wurde unser Antrag auf höhere Anpassungshilfen für das Jahr 1992 mit dem Hinweis abgelehnt, daß im Osten bald dieselben Erzeugerpreise wie im Westen gezahlt würden. Das Gegenteil ist der Fall, zumindest in Sachsen. Dort mußten die Landwirte mit Wut zur Kenntnis nehmen,
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Dr. Gerald Thalheimdaß die beiden großen Milchverarbeitungsbetriebe, die mehrheitlich der Südmilch bzw. Müller gehören, nur noch sage und schreibe 51 Pfennig pro Liter Milch zahlen. Bei der Sachsenmilch AG liegt der Verdacht nahe, daß die Bauern im Osten für die Managementfehler bei der Südmilch aufkommen müssen. Ich höre in diesem Hause immer, daß es nur im Osten Managementfehler gegeben habe. Der sächsische Landwirtschaftsminister kommentiert das mit der Bemerkung, das sei Marktwirtschaft. Ich kann das so nicht akzeptieren. Ich möchte Sie auffordern, Herr Minister, Ihren Einfluß dahin gehend geltend zu machen, daß die Erzeuger an den erheblichen öffentlichen Mitteln für die Modernisierung der Verarbeitungsindustrie — immerhin zum Teil bis 50 % der Investitionssumme — in Form fairer Auszahlungspreise teilhaben können. Das gilt nicht nur im Osten, das gilt genausogut im Westen.Auch im Hinblick auf die Altschulden bleiben Sie eine Richtungsbestimmung schuldig. Die Rangrücktrittsvereinbarung ist für mich die Gesetz gewordene Realitätsverweigerung der Bundesregierung nach dem Motto: Jetzt tun wir alle so, als gäbe es keine Altschulden! — Ohne Lösung der Altschuldenfrage bleibt vielen Betrieben nur der Weg in die Liquidation.
— Nein, eben nicht, Herr Kollege Hornung. Das ist nachzulesen bei Professor Manfred Koene von der Universität Göttingen. Auf einem Symposium der Edmund-Rehwinkel-Stiftung stellte er fest, daß Liquidation oft der bessere Weg sei, da die Betriebe nur so einen Neuanfang ohne Altschulden erreichen können. Kollege Michels, auch Ihnen empfehle ich dringend diese Lektüre.
Ich bin der festen Überzeugung, daß es bei der Anhörung zu Fragen der Bilanzierung im Zusammenhang mit den Vermögensauseinandersetzungen in der kommenden Woche, die übrigens von der SPD-Bundestagsfraktion initiiert wurde, erneut für alle sichtbar ans Licht kommen wird: Mit der Verweigerungstaktik der Bundesregierung bei den Altschulden werden die ehemaligen Inventareinbringer in Haftung genommen. Das verteilbare Vermögen wird geschmälert.Noch schlimmer, meine Damen und Herren, geht es den Inventareinbringern, die ihr Vermögen in den Betrieben stehen haben, die heute keine Landwirtschaft mehr betreiben. Durch die Verweigerung der Rangrücktrittsvereinbarung werden diese Betriebe in die Liquidation getrieben. Ihnen wir heute mit Hinweis auf den Umtauschkurs der Währungsunion, bildlich gesprochen, das letzte Hemd vom Leib gerissen.Auch in diesem Zusammenhang ist der Bundesregierung Wortbruch vorzuwerfen.
Sie, Herr Staatssekretär Haschke, sind im vergangenen Jahr durch die neuen Länder gezogen und haben den Betroffenen die Auszahlung von 280 Millionen DM für verlorengegangene Inventarbeiträge angekündigt. — Herr Kollege Hornung, dazu hat sie niemand gezwungen. Aber diese Mittel wurden im Haushalt dieses Jahres gestrichen. Was im kommenden Jahr wird, weiß keiner.Herr Minister, ich möchte Sie zumindest bitten, daß für den Fall der Kreispachtverträge eine einigermaßen vernünftige Lösung gefunden wird. Ihnen geht es sicher ähnlich wie uns allen, daß wir viele Zuschriften erhalten. Der Frieden in den Dörfern der neuen Länder ist nach wie vor auch durch die Vermögensauseinandersetzungen belastet. Da bringt es wenig, darauf hinzuweisen, daß es in vielen Fällen die alten Leitungen und Vorstände waren, die sich bei den Umwandlungsbeschlüssen
und bei der Rangrücktrittsvereinbarung des Vermögens nicht an die Gesetze gehalten haben.
Bei der Diskussion wird verschwiegen, daß der Zielkonflikt, der sich jetzt in voller Schärfe zeigt, bereits im Gesetz angelegt war. Weder die Bundesregierung noch die Verbände haben Lösungsmöglichkeiten für diesen Konflikt aufgezeigt. Der Bundesregierung sind schwerwiegende Versäumnisse im Hinblick auf die Information der Betroffenen vorzuwerfen. Erst im Dezember des vergangenen Jahres wurde von der Bundesregierung der Leitfaden zur Vermögensauseinandersetzung vorgelegt, obwohl zu diesem Zeitpunkt alle entscheidenden Termine praktisch verstrichen waren.Die Vermögensauseinandersetzungen werden in einigen Betrieben zusätzlich belastet, da beispielsweise die exportgeförderten Kartoffellieferungen nach Osteuropa bis heute nicht vollständig bezahlt sind. Die dazu im Bericht der Bundesregierung vorgelegte Begründung, Herr Minister, kann man so einfach nicht akzeptieren.Es ist zu fragen — und diese Frage stelle ich mit Nachdruck —, weshalb für Fleischexporteure, wie für Herrn Moksel, die Vorschriften — die öffentliche Diskussion ist bekannt — nachträglich geändert wurden. Pikanterweise, Herr Minister, wurde ein besonders niedriger Aufkaufpreis als Herkunftszeugnis anerkannt. Das muß man sich mal überlegen! Den ostdeutschen Lieferern wurde dagegen an dieser Stelle jedes Entgegenkommen verweigert.Sie sehen, für eine wirkliche Richtungsbestimmung gibt es noch viel aufzuarbeiten und in der Zukunft viel zu tun.
Schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit tatsächlich wettbewerbsfähige Betriebe entstehen, und reden Sie nicht nur darüber.
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14164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Als nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Junghanns.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vier kurze Anmerkungen aus der Sicht der Landwirtschaft der jungen Bundesländer.Erstens. Zum Agrarbericht 1992 selbst. Insbesondere von den juristischen Personen werden die statistischen Grundlagen und die Auswertungsmethodik des Agrarberichts kritisch hinterfragt. Wenn auch erstmals Testbetriebe der neuen Bundesländer mit herangezogen wurden, so konnte doch noch keine ausreichende Repräsentanz der Betriebsstrukturen und Regionen erreicht werden. Uns hilft es nicht, wenn wir diesen Zustand so erhalten. Wir müssen ihn verändern. Als problematisch erweisen sich vor allen Dingen die Kennzahlen, nach denen die Vergleiche zwischen den verschiedenen Betriebsformen und zwischen den alten und neuen Bundesländern angestellt werden.Wir müssen uns mit einer spezifischen Auswertung der juristischen Personen befassen. Als Ausweg können nicht nur einer Seite der Beteiligten Schuld zugesprochen und nötige Veränderungen abverlangt werden. Mein Vorschlag ist, daß kompetente Vertreter der juristischen Personen und Autoren des Agrarberichts den Weg zueinander finden, um die Basiswerte und die Auswertungsmodalitäten aufeinander abzustimmen.Wir brauchen hier in diesem Saal für alle Agrardebatten in der Zukunft ein ungeschminktes, klares Bild von der Situation in den juristischen Betrieben, um uns in die Lage zu versetzen, zuverlässige Folgerungen zu ziehen.
Zweitens. Unabhängig davon kann aber für unsere jungen Länder festgestellt werden, und das wurde zum Teil schon getan: Die Landwirte in den jungen Ländern haben außerordentlich schnell eine Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen der europäischen Agrarpolitik vollzogen. Schritt um Schritt nehmen leistungsfähige und marktorientierte Betriebe Gestalt an. Es gibt sozusagen eine gewisse Stabilisierung im Umstrukturierungsprozeß, auch wenn ich anfügen muß: Es ist eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau.Den sich entwickelnden modernen Ernährungswirtschaftsbetrieben steht beispielsweise ein unverhältnismäßig niedriger Tierbestand gegenüber. Auch sind die Milchquoten 1992/93 nur zu rund 88 % ausgeschöpft worden. Der radikale Arbeitskräfteabbau in der Landwirtschaft unserer Länder auf durchschnittlich 3,4 Vollarbeitskräfte je 100 ha — hierzulande sind es 5,8 — hat einen Punkt erreicht, der — das möchte ich nüchtern feststellen —, gemessen an den realen wirtschaftlichen Erwartungen an diese Branche, auf Stabilisierung orientiert.
— Nein, das nenne ich mit aller Deutlichkeit als gemeinsame Aufgabe.Ergo muß die Devise lauten, den von der Agrarreform gesetzten Rahmen voll auszuschöpfen. Gemeinsam mit den modernen Verarbeitungsbetrieben müssen größere Marktanteile, insbesondere gegenüber Importen, erobert bzw. zurückerobert werden.In diesem Zusammenhang bin ich der Auffassung, es kann nicht so sein, wie es mein Vorredner angemahnt hat, daß z. B. Molkereien aus ihrer Position heraus gegenüber den Bauern eine Übervorteilung organisieren.Drittens. An dieser Stelle werden auch bei uns immer wieder schlechte Rahmenbedingungen beklagt. Zunächst meine ich dazu: Bei allen Wünschen leben wir doch nicht im luftleeren Raum. Das, was Bundesminister Borchert an Sonderregelungen der EG-Agrarreform und an speziellen Hilfen für unsere jungen Bundesländer dargestellt hat, spricht im Vergleich zu den alten Ländern vom Gegenteil.
Der Agrarbericht 1993 offenbart aber gleichzeitig, daß der Einrichtungs- und Umstrukturierungsprozeß auch weiter der politischen Unterstützung durch Bonn bedarf. Wir erleben gemeinsam — meine Vorredner haben darauf Bezug genommen —, wie besonders die notwendigen Vermögensauseinandersetzungen und die Verpachtung der Treuhandflächen die Gemüter massiv gegeneinander aufbringen.In bezug auf meinen Vorredner möchte ich anmerken: Der Zielkonflikt ist da. Aber er ist im Grunde genommen durch Rahmenbedingungen politisch auszugestalten, um ihn zu lösen. Es ist nicht möglich, diese Problematik durch eine einseitige Zielvorgabe aus dem Konflikt herauszunehmen. Das ist die Natur konkurrierender Pachtinteressen; das ist die Natur konkurrierender Vermögensauseinandersetzungen.Ich möchte zum wiederholten Mal feststellen: Es gibt in den Kernfragen kein Bonner Regelungsdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit in den Sachproblemen selbst,
wofür ich, was manche Praxis in der Treuhand, aber auch insbesondere in manchen Landratsämtern angeht, keinerlei Verständnis mehr aufbringen kann.Dann gibt es ein Defizit in der Handhabung der juristischen Instrumentarien, gepaart mit einer verbreiteten Rechtsunkenntnis und Rechtsunsicherheit. Wer diese Erfahrungen mit mir teilt, wird auch zustimmen, wenn ich sage: Diese Probleme werden dadurch nicht besser oder schneller geklärt, wenn die Vermögens- und Pachtkonflikte weiter, wie bisher, politisch dazu benutzt werden, den Fast-Glaubenskrieg zwischen Betriebsstrukturen und Betriebsgrößen in unseren neuen Bundesländern anzuheizen.Wir sind aufgefordert, ohne diesen Konflikten und Fragen aus dem Wege zu gehen, für Vernunft und Verständnis füreinander zu sorgen, denn die Probleme müssen in der Tat in den Dörfern ausgekämpft werden, und zwar gerade jetzt, wo die öffentlichen
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Ulrich JunghannsAusgaben — die für die Landwirtschaft sind bestimmt nicht ausgenommen — notwendigerweise gekürzt werden sollen.Der Umstrukturierungsprozeß in den alten und in den jungen Bundesländern geht weiter. Die Zukunft gehört den leistungsfähigen, marktorientierten Betrieben. Dabei wird es auch einen „Wettbewerb" der Strukturen geben, in dem aber zuallererst die Landwirte als Hauptakteure ihre Unternehmerfähigkeiten beweisen müssen und werden.Schließlich noch zu einem gesonderten vierten Punkt im Agrarbericht. Es geht um spezielle Probleme der Gartenbaubetriebe in unseren jungen Ländern, die eigentlich völlig unzulässig oftmals am Rand unserer agrarpolitischen Betrachtungen stehen. Bei der betrieblichen Förderung werden sogenannte Modernisierer — das sind Gartenbaubetriebe, zumeist Familienunternehmen, die schon zu DDR-Zeiten privat gewirtschaftet haben — gegenüber Wiedereinrichtern, meist aus ehemaligen Genossenschaftsgärtnereien, benachteiligt. Die Modernisierer können in diesem Vergleich nur ca. ein Drittel der öffentlichen Darlehen beanspruchen. Altschuldenregelungen sind ihnen nicht zugänglich.Betrachtet man die Ausgangslage, so entbehrt diese Ungleichbehandlung jeder Grundlage. Deshalb erlaube ich mir von dieser Stelle aus, die Bitte an das BML, aber auch an die Landesregierungen zu richten, in dieser Frage Abhilfe zu schaffen.Ich danke Ihnen für das Zuhören.
Bevor ich dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert, das Wort gebe, möchte ich Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen, sagen, daß zeitgerecht zu dieser Debatte auf der Tribüne 50 Teilnehmer der Jahresversammlung der Atlantic Association of Young Political Leaders Platz genommen haben, die in ihren Ländern — in den USA, in England, in Frankreich und Italien; auch Abgeordnete von uns gehören dieser Vereinigung an — natürlich diese Problematik auf andere Weise ebenso zu behandeln haben. Ich richte ein herzliches Wort des Grußes im Namen des Hauses an Sie.
Herr Bundesminister, jetzt haben Sie das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in der Kürze der Zeit noch auf einige Widersprüche der Opposition eingehen. Der Kollege Sielaff beklagt einerseits die Einkommenssituation in der Landwirtschaft. Er beklagt, daß auf Grund dieser Einkommenssituation in vielen Betrieben keine Eigenkapitalbildung möglich ist und keine Gewinne für Ersatzinvestitionen erwirtschaftet werden können.
Anschließend fordert er die Streichung des soziostrukturellen Einkommensausgleichs, wodurch die Gewinnsituation in den Betrieben noch schlechter wird. Das heißt, er will allen etwas nehmen, um dann einige wenige zu fördern.
Damit will er die Situation verschärfen.
Weiter will die SPD die Situation verschärfen, indem sie gleichzeitig die Streichung der Gasölbeihilfe und die Kürzung im Sozialbereich fordert. Beides ist in der Presseerklärung von Ihnen nachzulesen.
Zweite Anmerkung zur Anpassungshilfe: Sie haben beklagt, daß die Anpassungshilfe für Betriebe um bis zu 50 % gekürzt werden solle. Sie haben nicht darauf hingewiesen, daß davon nur wenige Betriebe in den neuen Ländern — Betriebe mit mehr als 250 Arbeitskräften — betroffen sind. Ich bedauere die Abschwächung der Degression, die durch den Bundesrat vorgenommen worden ist,
weil uns so nicht die Möglichkeit gegeben ist, bei wenigen großen Betrieben zu kürzen, um vielen kleinen Betrieben stärker und intensiver helfen zu können.
Herr Bundesminister, der Kollege Sielaff würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber gern.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Minister, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich die Streichung der Gasölbeihilfe nicht gefordert habe
und daß Sie sich hier offensichtlich auf irgendwelche Fehlinformationen berufen. Ich habe ausdrücklich gesagt, daß sie aber aus ökologischen Gründen zur Diskussion gestellt werden kann und daß man Neuordnungen vornehmen kann. Ich habe deutlich gemacht, daß dies dann auch EG-konform geschehen muß. Das, was Sie hier unterstellt haben, ist von mir als Sprecher der Fraktion nicht gesagt worden.
Ich nehme gern zur Kenntnis, daß Sie — abweichend von Ihrer Fraktion —dies nicht fordern. Ich bleibe aber dabei, daß die Fraktion dies gefordert hat.
Zweitens: Sozialpolitik. Nun sind ja heute in der Debatte auch die Widersprüche in der Sozialpolitik
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Bundesminister Jochen Borchertaufgeklärt worden. Die SPD fordert weiterhin die Streichung der zusätzlichen Mittel für die Agrarsozialreform. Sie sagen aber gleichzeitig, daß Sie eine Agrarsozialreform wollen, und zwar durch eine Umverteilung der Mittel innerhalb der Sozialpolitik. Das heißt: Auch hier wollen Sie an irgendwelchen Stellen innerhalb der Sozialpolitik kürzen, um dies dann anders zu verteilen. Nur, ich sage Ihnen: Wer bei den vorhandenen Mitteln zusagt, er wolle im Rahmen einer Reform die Rente der Bäuerinnen und weitere Leistungen finanzieren, der mutet den Betrieben Belastungen zu, die so nicht finanzierbar sind.
Eine letzte Anmerkung. Kollege Thalheim, Sie sollten sich noch einmal überlegen, ob Sie Ihren Vergleich so aufrechterhalten. Wenn Sie eine Veranstaltung, zu der ich als Minister eingeladen habe, auf der frei gewählte Abgeordnete dieses Hauses sprechen, an der gewählte Repräsentanten der Verbände und der Organisationen der Bundesrepublik teilnehmen, mit einer Veranstaltung in der früheren DDR vergleichen, dann kennzeichnet dies auch Ihre übrigen Beiträge.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache. Der Agrarbericht 1993 soll an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse überwiesen werden. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5217 und der Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/5216 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Der während der Aussprache eingebrachte Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/5231 soll ebenfalls an diese Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu den Entschließungsanträgen zum Agrarbericht 1992 auf Drucksache 12/3745. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/2727 unverändert anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Der Ausschuß empfiehlt weiter, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2728 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? —
Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Diese Beschlußempfehlung ist ebenfalls angenommen.Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung sowie die Zusatzpunkte 1 bis 3 auf:2. Abrüstungsdebattea) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Verheugen, Katrin Fuchs (Verl), Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDNichtverbreitung von Kernwaffen — Drucksachen 12/3099, 12/5116 — Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kurt Würzbach Katrin Fuchs
Dr. Olaf Feldmannb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Fuchs (Verl), Robert Antretter, Helmuth Becker (Nienberge), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDSofortige Einstellung aller Atomwaff entests— Drucksachen 12/2845, 12/5115 —Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kurt WürzbachKatrin Fuchs
Dr. Olaf FeldmannZP1 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDBeseitigung der französischen HADES-Atomraketen— Drucksachen 12/1212, 12/5210 — Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kurt WürzbachKatrin Fuchs
Dr. Olaf FeldmannZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDAbrüstung taktischer Atomwaffen — Drucksachen 12/1213, 12/5212 — Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kurt WürzbachKatrin Fuchs
Dr. Olaf FeldmannZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke ListeInitiative zur nuklearen Abrüstung — Drucksachen 12/1443, 12/5213 —Berichterstattung:Abgeordnete Peter Kurt Würzbach Katrin Fuchs
Dr. Olaf FeldmannDr. Hans Modrow
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14167
Vizepräsident Hans KleinIch darf die Kolleginnen und Kollegen, die an der Debatte nicht teilnehmen wollen, bitten, den Saal etwas schneller zu verlassen und die Gespräche draußen zu führen, damit wir fortfahren können.Wir haben heute einen Vormittag, der offensichtlich auch großes auswärtiges Interesse hervorruft. Auf der Ehrentribüne hat eine Delegation von Parlamentariern aus dem tunesischen Nationalparlament Platz genommen. Ich richte ein Wort sehr herzlichen Grußes an Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen aus Tunesien.
Die Abrüstungsdebatte umfaßt die Beratung mehrerer Vorlagen zu diesem Thema. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Peter Würzbach.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich sage — ich weiß, daß dies gleich am Anfang dieser Debatte etwas mutig ist —, daß das eine gute Debatte wird, und zwar schon deshalb, weil — was ungewöhnlich in dieser Zeit des Streits zwischen Regierung und Koalition um manche Fragen der Sicherheits-, Verteidigungs- und Bundeswehrpolitik ist — wir bei all diesen Fragen, die heute hier anstehen, eine Sprache sprechen und gemeinsame Beschlußempfehlungen vorgelegt haben. Dies macht Mut, um nicht nur unserer Bundesregierung zu zeigen, daß das Parlament hier quer durch alle Fraktionen in diesen zentralen abrüstungs- und sicherheitspolitischen Fragen einig ist, sondern darüber hinaus zeigt dies auch allen internationalen Institutionen in der Welt, die teilweise noch handlungskräftiger, handlungswilliger in diesem Zusammenhang werden müssen, daß der Deutsche Bundestag hier eine Sprache spricht. Das ist etwas Besonderes, das wir, glaube ich, eingangs hier auch so würdigen sollten. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen, die — auch auf meine Anregung hin; manchmal waren wir dabei, das Handtuch zu werfen — weiterverhandelt haben, danken, daß wir in der Frage des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen — ein zentrales Thema in der Welt; es geht im Augenblick inmitten der Tagespolitik und nachgeordneter Dinge manchmal ein bißchen unter — zu einem gemeinsamen Entschluß kamen. Die Kollegin Fuchs von der SPD, der Kollege Feldmann von der F.D.P. und der Kollege Pflüger haben — nicht Tage; es hat Wochen gedauert — miteinander verhandelt, und ich freue mich, daß unser Unterausschuß und der Auswärtige Ausschuß zu dem Konsens gekommen sind, der uns heute hier dieses in der Form verabschieden läßt. Das ist eine prima, das ist eine beispielhafte Sache, und jeder versteht meinen Wunsch: Gäbe es diese Übereinstimmung doch auch in manch anderen für Deutschland, Europa und die Welt wichtigen Fragen.
Ich will das renommierte Internationale Institut für Friedensforschung — SIPRI — aus Stockholm mit einigen wenigen Zahlen zitieren. SIPRI stellte vor wenigen Wochen fest, daß eine Reihe genannter Länder — und ich habe mir aus einer längeren Kette mit Bedacht und bewußt folgende drei herausgesucht: Indien, Israel, Pakistan, und jeder weiß, was ich im Hinblick auf bestimmte Regionen, Zusammenhänge und Auswirkungen mit dem Erwähnen gerade dieser Länder meine — wohl über genügend Material verfügten, um zusammen über 120 Atomwaffen bauen zu können. SIPRI stellte weiter fest — zum erstenmal in einer solch zusammengefaßten Schätzung —, daß auf der Erde insgesamt — und das ist nicht alles im Besitz der Kernwaffenstaaten — rund 1 000 Tonnen Plutonium und 1 300 Tonnen hochangereichertes Uran vorhanden sind. All dies sind Materialien, die die Voraussetzung dafür bieten, Atomwaffen herzustellen.Das macht deutlich, wie wichtig es ist, daß die Weltgemeinschaft, die UNO, und alle Institutionen internationaler Art, die dies tun können, jetzt eingreifen, um hier zu ordnen, um zu kontrollieren. Das Kontrollieren ist schon schwer, und wir sind darin noch unfertig. Korea hat das gezeigt, der Irak hat das gezeigt. Das waren zwei Bereiche, die uns aus sonst ziemlich behäbiger Lethargie ein bißchen aufgerüttelt haben.Das Kontrollieren, das dann schon ein bißchen besser perfektioniert ist, genügt aber nicht, wenn dahinter nicht Mechanismen stehen, um zu sanktionieren, wenn jemand gegen freiwillig unterschriebene Verträge und die gültigen Regeln verstößt. Bei den Sanktionen sind wir noch nicht einmal am Anfang, vernünftige Instrumente gefunden zu haben, und diese sind ungleich notwendiger. Hier haben wir alle miteinander in der Welt eine Menge zu tun, und auch wir, die Deutschen, haben unseren Teil dazu beizutragen. In unserem gemeinsamen Beschluß haben wir — ich komme kurz darauf zurück — hierzu sehr konkrete Anregungen gegeben.Eine vor diesem Hintergrund ganz aktuelle und ebenfalls schwere Herausforderung kommt im Augenblick noch dadurch hinzu, daß wir erhebliche Mängel bei der Kontrolle der Atomwaffen der ehemaligen Sowjetunion feststellen müssen. Auch wenn die ehemalige Sowjetunion endlich angefangen hat, ihre Verträge zu erfüllen, nämlich riesige Mengen atomarer Waffen und Sprengköpfe zu verschrotten, gibt es noch eine Vielzahl von unwägbaren Unsicherheiten in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.Etwas Erfreuliches will ich hier direkt anfügen. Es gibt Länder, die, obwohl sie in der Lage wären, Atomwaffen zu bauen, konkret darauf verzichtet haben, dies zu tun. Ich nenne Länder wie Argentinien, Brasilien, Südafrika, Taiwan.Der Nichtverbreitungsvertrag über die Nichtweitergabe von atomaren Waffen und dazugehörigen Raketen, 1970 in Kraft getreten, muß 1995 verlängert werden, und wir fordern, daß er dann unbefristet, für alle Ewigkeit geltend, verlängert wird, also ohne über neue Konditionen nachverhandeln zu müssen. Es gibt manches in dem Vertrag, was besser sein könnte; aber
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Peter Kurt Würzbachwenn wir ihn öffnen und neu verhandeln würden, wäre bei so vielen Ländern — nur 28 Länder der Welt gehören ihm nicht an — die Chance, eine Ratifizierung in den bestehenden Vertragsstaaten zu erreichen, ungleich geringer. Es ist heute schon schwer. Zwei oder drei Schwierigkeiten will ich nennen, die, wie ich hoffe, durch kluge Verhandlungen überwunden werden können. Unsere Bundesregierung ist hier an der Spitze der Aktivitäten und, wie ich höre, bei den ersten Vorbereitungskonferenzen auch mit gutem Erfolg tätig geworden. Ich will hoffen, daß die Schwierigkeiten, die ich kurz skizzieren will, überwunden werden können.Da ist einmal die Schwierigkeit, daß atomare Rüstung von Vertragsstaaten durchgeführt wird, und auch hier haben wir Beispiele: Nordkorea mit einem Fragezeichen — wenn es noch ein Fragezeichen ist. Beim Irak wissen wir alle, wie es sich in der jüngsten Geschichte entwickelt hat und daß es nicht zu einer solchen vertragswidrigen Herstellung von Atomwaffen kam.Aber auch wenn Nichtvertragsstaaten — die 28, die ich nannte — sich jetzt Atomwaffen zulegen und die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, irgend etwas zu tun, könnte das andere davon abhalten, diesen Vertrag zu verlängern.Ich nenne eine dritte — etwas, was auch an die Adresse von Partnern und Freunden geht — kritische Entwicklungsmöglichkeit, nämlich daß auch Vertragspartner ihre Pflichten, die sich aus dem Vertrag ergeben, nicht uneingeschränkt oder nur ungenügend erfüllen, und zwar im Hinblick auf drei Punkte, die der Vertrag zur Leitlinie hat, erstens auf die Abrüstung, zweitens auf die Teststopps — darauf, jetzt sofort auf alle weiteren Tests mit nuklearen Waffen zu verzichten; ein Punkt der hier gesondert ansteht, und mein Kollege Pflüger wird sich dieser Frage besonders annehmen — und drittens — dieser Punkt ist in der sicherheitspolitischen Diskussion hochaktuell — auf die Frage des Gebens von Sicherheitsgarantien für solche Staaten, die selber bewußt auf Atomwaffen auch weiterhin verzichten wollen, aber in einer unstabilen Region sind und des Schutzes und der Zusicherung von Garantien durch stärkere, dazu in der Lage befindliche Staaten bedürfen. Ich will als Deutscher im Deutschen Bundestag nur fragen: Was wären wir, was wäre unser Land, das bewußt auf nukleare Waffen verzichtet hat, aber der Garantie von Partnern und Freunden bedurfte, uns mit allen Waffen beizustehen, wenn dies erforderlich sein würde, ohne solche Garantie?Das sind drei Punkte, bei denen ich hoffe, daß kluge Beratungen befreundeter Regierungen — auch in Richtung solcher Staaten, die wir noch gewinnen wollen — ein Scheitern verhindern und eine Vertragsverlängerung erreichen können.Die Vorgänge im Irak sind es gewesen, die die UNO, den Sicherheitsrat, erst ein wenig in Bewegung gebracht haben. Hier muß noch eine Menge mehr geschehen, damit wir uns die vernünftigen Instrumente schaffen, um hier kontrollieren und sanktionieren zu können. Korea — ein Kapitel, das sich im Augenblick ein bißchen beruhigt hat — wird hier ein ganz aktueller Prüfstein sein. Das Kapitel ist noch nicht abgeschlossen; da ist ein bißchen geschmeidig eingelenkt worden. Dies wird der erste im Augenblick erkennbare praktische Prüfstein für Handlungsfähigkeit und — viel wichtiger noch — für Handlungswilligkeit der Vereinten Nationen, des Sicherheitsrates und aller ihnen angehörigen Nationen sein.Ich will einige Länder nennen, die diesem Vertrag noch nicht angehören und bei denen wir alle — wir, aber auch alle unsere Partner mit uns zusammen, jeder von uns — die große Möglichkeit und — ich sage auch — Verpflichtung haben, auf diese Länder in der gebotenen parlamentarischen und politischen Form einzuwirken, sich diesem wichtigen Vertrag anzuschließen. Länder wie Algerien, Brasilien, Indien, Israel, Kasachstan, Kuba, Pakistan, die Ukraine und Weißrußland gehören diesem Vertrag noch nicht an. Manche dieser Länder haben Atomwaffen. Alle sollten sich dringend diesem Vertrag anschließen.
Daß wir als Deutsche, daß Deutschland besonderes Interesse an diesem Vertrag hat, und zwar aus unterschiedlichen Gründen, das will ich hier auch sehr deutlich feststellen. Unser Land hat völkerrechtlich verbindlich — und niemand wollte und will und wird daran rütteln, und wollte er es, dann könnte er es nicht, auch zukünftig nicht — auf Kernwaffen verzichtet, und selbst im schlimmsten Fall, daß die Verlängerung dieses Vertrages über 1995 hinaus scheitern sollte, wird sich an dieser Haltung Deutschlands nichts ändern. Ich sage auch — und das mit Bedacht, aber ebenso klar —, daß Deutschland in diesem Zusammenhang ein Beispiel, ein Vorbild für andere Staaten ist. Wir sind eines der bevölkerungsmäßig größten Länder in Europa; wir sind kerntechnisch in der Welt noch immer mit führend; wir haben strenge, in Europa mit die strengsten Exportkontrollen in diesem Zusammenhang. Wir werden umfassend kontrolliert, und da gibt es kein Tabu; da ist nicht irgendeine Anlage verschlossen. Wir wirken in allen internationalen Institutionen, die sich mit diesen Vorgängen zu befassen haben, uneingeschränkt mit. Ich sage noch einmal: Wir wollen und werden kernwaffenfrei bleiben — ein wirkliches Beispiel für viele andere Länder. Das sollten wir selbstbewußt und deutlich, so finde ich, auch sagen.Zu unserem Antrag: Wir haben darin in zehn recht inhaltsvollen Punkten einen umfassenden, gründlichen und in vielen Bereichen sehr neuen und richtungsweisenden Zielkatalog für die Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen formuliert, ein Zielkatalog, der der Bundesregierung bei den internationalen Verhandlungen sehr helfen wird und von dem ich mir wünsche, daß er auch mit uns in Verbindung stehende Parlamente anderer Staaten anregt, in ähnlicher Form tätig zu werden.In Stichworten seien wenige der zehn inhaltsreichen Punkte genannt:Stärkung der Kontrollmöglichkeiten der internationalen Atomenergiebehörde. Sie sind heute. völlig unzureichend. Ich will hier noch einmal ein kleines Beispiel nennen, das aber ein Licht auf ein starres, bürokratisches, behäbiges und den Auftrag damit lähmendes und erstickendes Handlungsvermögen
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Peter Kurt Würzbachwirft. Wenn die Kontrolleure in irgendein Land gehen, weil sie den dringenden Verdacht haben, daß dort gegen die internationalen Regularien verstoßen wird — es ist fast ein Witz, es erwähnen zu müssen; es tut weh —, dann müssen sie wie jeder Tourist bei dem Land, in das sie reisen wollen, um Kontrollen durchzuführen, erst einmal ein Visum beantragen. Jeder weiß, was bestimmte Länder dann, wenn sie wissen, wer von welcher Behörde aus welchem Anlaß und zu welchem Zeitpunkt kommen will, tun. Daß es dieser Behörde der UNO noch nicht einmal gelungen ist, den Kontrolleuren wenigstens ein Dauervisum zu verschaffen, so daß sie reisen können, wenn sie meinen, es sei nötig, das zeigt, welcher riesige Handlungsbedarf da noch ist; das zeigt aber auch, wie alle Mitgliedstaaten — ich rechne uns mal dazu — sich mit diesem behäbigen Verwaltungsverfahren abgefunden zu haben scheinen. Hier ist, lieber Herr Schäfer, für uns alle, das Parlament und die Regierung, für unseren Staat und andere, dringender Handlungsbedarf gegeben.
Wir fordern darüber hinaus eine sehr weitgehende Überprüfung auch aller zivilen Nuklearanlagen. Das ist eine ganz weitgehende Forderung, die wir erheben, und dies ohne Ausnahme. Sie werden bisher nicht kontrolliert. Hier wird es möglicherweise Protest aus den Vereinigten Staaten, unseren Freunden und Partnern, geben. Aber ich will begründen, warum wir dies gemeinsam gefordert haben: weil wir nur so in die überalterten und gefährlichen Kernkraftwerke der ehemaligen Sowjetunion, in Rußland, in der Ukraine und sonstwo, hineinkommen. Ich hoffe, daß es allen unseren Partnern einsichtig ist, daß wir dort hineingehen müssen, um zu schauen, was sich dort tut, was man dort tut und wie dort mit den Materialien umgegangen wird.Eine internationale Kontrolle der Entsorgung soll eingeführt werden. Auch dies ist neu und muß ohne Ausnahme gelten.Ein weiterer Punkt ist die Hilfe bei der nuklearen Abrüstung der GUS, die dies allein nicht leisten kann. Wenn sie es endlich politisch wirklich wollen — auch da ist ja inzwischen noch bei dem einen oder anderen Land berechtigter Zweifel anzumelden —, dann können sie es finanziell oder technologisch nicht. Hier sind wir gewaltig gefordert, um mehr zu tun.
Ein weiterer Punkt ist die Frage der Sanktionen, und zwar gegen Firmen, die gegen die Regeln verstießen, wie gegen Lander, die lieferten, wie gegen Länder, die empfingen. Alle drei müssen im Bereich der Sanktionen gesehen werden. Auf den allgemeinen Teststopp, der hierher gehört, wies ich hin. Der Kollege Pflüger wird darauf eingehen.Es gibt in diesem Zusammenhang einen weiteren schwierigen Punkt, den ich als die „herumvagabundierenden Nuklearmaterialien in der alten Sowjetunion" bezeichnen möchte. Es gibt viele solcher Materialien, und es muß verhindert werden, daß diese frei gehandelt und verkauft — um nicht zu sagen: verscheuert — werden, um Devisen zu bekommen, ohne Rücksicht darauf, welche Gefährdung dadurch eintritt.Es muß von uns klug — hier sind wir wieder bei der Abrüstungshilfe — frühzeitig geregelt werden, daß sich, wenn die Abrüstung begonnen hat und neue Waffen zerlegt werden, dieses Material, das auf dem Schwarzen Markt gehandelt wird, nicht vermehrt. Über 25 000 Kernwaffen müssen die Staaten der ehemaligen Sowjetunion abrüsten. Das wirft Fragen nach der Zerlegung, dem Transport, der Zwischenlagerung, der Kontrolle, der Bewachung, der Weiterverwendung, der Umweltverträglichkeit und der Finanzierung auf.Wir haben großartige Verträge geschlossen. Ich sehe hier unseren Ehrenvorsitzenden, Dr. Dregger, der damals forderte: Weg mit den Kurzstreckenwaffen!
Das ist längst Geschichte. Weiter forderte er: Weg mit den chemischen Waffen! Auch das ist längst Geschichte. Alles das ist aber nur in bezug auf das Vertragswesen Geschichte. Die Dinger liegen noch hier und da und warten auf die Vernichtung. Hier darf ich an unser aller Adresse — der Schlüssel hierzu liegt bei den ersten Ansätzen zum Haushalt unserer Bundesregierung; ich glaube, das ist nächste Woche — darauf aufmerksam machen: Diese Verträge, gute Verträge, von denen manche hier auf der einen oder anderen Seite meinten, daß wir sie nie zustande bekämen, müssen nun umgesetzt werden in die praktische Wirklichkeit. Dies kostet Geld, und hierzu hat Deutschland bisher 10 Millionen DM beigetragen.Vor dem Hintergrund mancher Diskussion ist das viel; aber gemessen an dem, was wir tun müssen, nämlich chemische Waffen und Kurz- und Langstrekkenwaffen und Raketen vernichten, ist das nichts. Im Vergleich zu dem, was Japan, England, Frankreich und besonders Amerika geben, ist das ebenfalls fast nichts. Ich melde also hier gerade vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeit deutlich an, daß der theoretischen Vertragsabschließung das praktische Umsetzen zu folgen hat.
Abschließend ein Wort zu einem Bericht, der hier ebenfalls ansteht. Die Bundesregierung hat am 24. März einen Vertrag über den sogenannten Offenen Himmel unterzeichnet. Das ist ein fabelhafter Vertrag, dem zuzustimmen wir empfehlen. Von Wladiwostok bis Vancouver und Malibu
ist für alle in Europa, in Amerika, in Kanada und Rußland erlaubt, von oben mit Hilfe von Flugzeugen zu kontrollieren, ob man sich an die Verträge hält. Vielleicht kann dadurch eine Zusammenarbeit im europäischen und im über Europa hinausgehenden Bündnis hergestellt werden. Es dient der Kontrolle und ermöglicht die Chance, das auch auf Fragen des Umweltschutzes und andere Dinge auszuweiten. Ich möchte über diesen Vertragstext hinausgehend anre-
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Peter Kurt Würzbachgen, zu prüfen, ob wir — das gilt nur für die Vertragsstaaten des ehemaligen Warschauer Pakts und die NATO-Staaten — nicht auch neutralen Staaten — ich nenne einmal bewußt ein Land wie Finnland — diese Daten zur Verfügung stellen sollten. Wir freuen uns: Demnächst werden die letzten russischen Soldaten aus Deutschland abgezogen sein. Aus Zentraleuropa sind sie weg. Vor der Tür von Finnland haben sie sich massiert zusammengezogen. Als Finne hätte ich Interesse zu sehen: Was tut sich da? Meine Frage also ist, ob wir nicht auch Nichtvertragsstaaten die Chance einräumen sollten, an den Daten teilzuhaben oder sogar in den Flugzeugen mitzufliegen und zu schauen.Ich ende mit dem Wunsch, mit dem ich begann: daß wir hier recht bald wieder Debatten zur Sicherheits-und Verteidigungspolitik führen, bei denen wir der gleichen Auffassung sind, wie heute bei diesen Dingen.
Als nächste spricht die Kollegin Katrin Fuchs.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Würzbach! Leider haben wir heute fünf Anträge und einen Gesetzentwurf zu beraten. Es wurde also in letzter Sekunde noch etwas hinzugefügt, mit dem wir nicht gerechnet haben. Aber es gilt nach wie vor: In den wesentlichen Anträgen, den Hauptanträgen, sind wir in der Tat einer Meinung. Sie betreffen den Teststopp und die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Ich hoffe, daß der Bundestag genauso einstimmig entscheiden wird, wie das der Auswärtige Ausschuß und der Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle getan haben.
Wir haben ebenfalls über den Gesetzentwurf über den Offenen Himmel, über den Sie gerade gesprochen haben, zu entscheiden. Ich stimme vorbehaltlos all dem zu, was Sie dazu gesagt haben. Es ist ein außerordentlich positiver Entwurf. Ich hoffe auch hier auf breite oder einstimmige Zustimmung.
Ich habe eine Anregung, die über Ihre hinausgeht — ähnliches hat der ehemalige Botschafter Hartmann gesagt —: Es sollte überlegt werden, wie zukünftig „Open skies" zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung und auch im Bereich des Umweltschutzes genutzt werden können.
Das ist sicherlich eine gute Funktion. Das kann ausgeweitet werden. Diese Anregung aufzunehmen wäre sicher sinnvoll. Im übrigen verdient dieses Gesetz die einhellige Unterstützung des Parlamentes.
Nicht folgen werden wir als SPD der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu unseren Anträgen über die Abrüstung taktischer Atomwaffen und die völlige Beseitigung der französischen HADES-Raketen. Diese Anträge liegen schon sage und schreibe fast zwei Jahre dem Bundestag vor. Ich finde es bemerkenswert, wie mit Anträgen von Fraktionen umgegangen wird. Ihre Behandlung ist ja sehr kurzfristig, sozusagen in letzter Sekunde, noch auf die Tagesordnung gesetzt worden.
— Zum Teil überholt; ich bin sehr froh, daß die landgestützten Kurzstreckenraketen mittlerweile abgezogen worden sind. Aber wir halten natürlich nach wie vor daran fest, daß auch die luftgestützten Raketen, also die Flugzeugbomben, aus Europa abgezogen werden.
Im übrigen wollen wir nach wie vor, daß die Beseitigung von Atomwaffen weltweit kontrolliert betrieben wird und die Philosophie der atomaren Abschreckung, die mit den Atomwaffen ja verbunden ist, aufgegeben wird. Das bleibt unser Ziel.
Wir bleiben auch dabei, daß die restlichen HADESRaketen abgezogen werden sollen. Es hat ja mittlerweile ein Abbau stattgefunden; aber es beruhigt uns überhaupt nicht, daß der Rest in Depots verbracht worden ist. Wenn sie denn zum Einsatz kämen, würden sie auf unser Land niedergehen. Das können wir nicht hinnehmen; das ist nicht akzeptabel. Ich denke, das muß doch auch unseren französischen Freunden zu vermitteln sein.
— Darf ich weitermachen? Entschuldigung!
Was heißt das? Erlauben Sie eine Zwischenfrage, ja oder nein?
Nein, bitte nicht.Auch die ursprüngliche Begründung für diese Raketen, sozusagen gegen die konventionelle Überlegenheit der Warschauer Vertragsstaaten zu wirken, ist ja nun wirklich hinfällig. Also, wir sollten mit den französischen Freunden reden.Kollegen und Kolleginnen, zur Beendigung von Atomwaffenversuchen und zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen haben wir nun gemeinsam diese Anträge vorgelegt. Alle drei Fraktionen — CDU/CSU, F.D.P. und SPD — möchten, daß Atomwaffentests nicht nur zeitweise ausgesetzt, sondern definitiv und für immer beendet werden. Und alle möchten, daß mehr getan wird, um die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Gegenwärtig finden keine Atomwaffenversuche statt, aber das 1992 von Rußland und von den USA beschlossene Testmoratorium läuft in diesem Monat ab. Frankreich hatte im Januar 1993 verkündet, es werde so lange keine Atomwaffen zur Explosion bringen, wie auch die anderen Kernwaffenstaaten darauf verzichteten. Auch China hat sich, zumindest in diesem Jahr, zurückgehalten, obwohl es immer wieder zu verstehen gibt, daß es sich beim atomaren Rüstungswettlauf als Nachzügler fühlt und sich weitere Atomwaffenversuche vorbehält.In der Zeit des Moratoriums hat es positive Signale gegeben. Die Präsidenten Clinton und Jelzin haben in Vancouver am 3. April baldige Verhandlungen über einen vollständigen Teststopp in Aussicht gestellt, und Frankreich hat Konsultationen aller Atommächte über diesen Punkt vorgeschlagen. Aber einen Durch-
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Katrin Fuchs
Bruch hat es bisher leider noch nicht gegeben. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, droht ein Rückfall in die Vergangenheit, denn die Militärs in Ost und West drängen bereits wieder darauf, weiter testen zu dürfen.Es ist gut, wenn sich alle Fraktionen dieses Hauses insofern einig sind: Wenn die Zeit für vernünftige Verhandlungen nicht ausreichend war, müssen die Moratorien eben verlängert werden. Diese Pause muß dann wirklich genutzt werden, um einen Vertrag über die endgültige Beendigung der Tests auszuhandeln.Vor wenigen Tagen hat die norwegische Regierung einen Vertragsentwurf für einen umfassenden Teststopp bei der Genfer Abrüstungskonferenz vorgelegt. Darin ist auch die früher umstrittene Frage, ob sich ein Teststopp verläßlich überprüfen lasse, beantwortet. Der Entwurf enthält detaillierte Regelungen zur Verifikation. Es gibt also überhaupt keinen Grund mehr, ein Teststoppabkommen abzulehnen.Wir alle wissen, Atomtests gefährden Menschen und Umwelt, verstrahlen riesige Gebiete über Tausende von Jahren. Erst in jüngster Zeit haben wir gehört, welche Verseuchung die über 400 Atomexplosionen in Kasachstan verursacht haben. Zehntausende von Kindern werden in den Krankenhäusern rund um das Testgelände Semipalatinsk behandelt. Sie werden ihr Leben lang von den Strahlenschäden gezeichnet sein. Das zeigt, wie verantwortungslos das Gerede von den angeblich ungefährlichen unterirdischen Tests immer war.Wir lehnen Atomversuche auch deswegen ab, weil sie im wesentlichen zur Entwicklung neuer und immer effektiverer Atomwaffen gedient haben und dienen. Wir wollen aber keine neuen Atomwaffen, wir wollen, daß die alten endlich abgerüstet werden.Als offenbar letzter Versuch, Atomwaffentests nun doch noch zu retten, wird heute im Pentagon behauptet, sie seien für die Sicherheit der Waffen zwingend erforderlich. Im State Department ist man offensichtlich ganz anderer Meinung. Dort neigt man eher der Auffassung vieler Wissenschaftler zu, die schon lange sagen, daß diese Begründung nicht stichhaltig ist. Tatsache ist, das Pentagon betreibt hier Augenwischerei. Um die Zuverlässigkeit der Waffen zu prüfen, reichen Inspektionen und Labortests aus. Und die veralteten, möglicherweise unsicheren Waffen können im Zuge der nuklearen Abrüstung natürlich auch problemlos ausgemustert oder durch moderne ersetzt werden, solange sie nicht restlos beseitigt sind.Einige Kollegen aus dem Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle waren im Mai in Washington und konnten sich davon überzeugen, daß die Diskussion über die künftige Haltung der US-Regierung in vollem Gange ist. 22 demokratische Senatoren und ein Republikaner haben am 12. Mai an Präsident Clinton geschrieben und ihn aufgefordert, das Teststoppmoratorium zu verlängern. Bill Clinton hat in seiner Wahlkampagne erklärt, daß er ein Teststoppabkommen will. Seit seiner Wahl zum neuen Präsidenten gibt es daher die Chance, den amerikanischen Prozeß des Umdenkens in dieser Frage positiv zu beeinflussen.Im Unterausschuß ist auch beschlossen worden, einen Brief an die Kollegen im amerikanischen Kongreß zu richten, um sie zu bitten, sich ebenfalls gegen die Wiederaufnahme der Tests zu stellen. Diese transatlantische parlamentarische Zusammenarbeit — wir kriegen auch viele Anrufe von denjenigen, die die Tests nicht wollen — scheint sich also ganz positiv anzubahnen.
— Na gut, man muß ja irgendwo anfangen. Wenn man sich darauf verständigt, auf die Regierung einwirken will, die Moratorien zu verlängern, dann halte ich das für eine sehr gute Sache.Jetzt ist es an der Bundesregierung, ihren Einfluß geltend zu machen. Hier ist ein Thema, wo die Bundesregierung internationale Verantwortung wahrnehmen kann. Hier kann sie mitreden und wirklich positiv wirken.Die Bundesregierung, die die Interessen eines Nichtatomwaffenstaates zu vertreten hat, kann sich dabei auf wichtige Bündnispartner stützen. Gerade Staaten aus der Dritten Welt haben sich in der Sechs-Kontinente-Initiative zusammengetan, um einen vollständigen Teststopp zu erreichen. Diese Staaten wollen, daß mit der Verpflichtung der Atommächte aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag zur allgemeinen nuklearen Abrüstung endlich ernst gemacht wird. Diese Initiative zu unterstützen würde der Bundesregierung gut anstehen. Das wäre praktizierte globale Verantwortung, von der heute dauernd die Rede ist.Die Bundesregierung kann konkret zwei Dinge tun. Erstens sollte sie sich dafür stark machen, daß die Genfer Abrüstungskonferenz mit einem Verhandlungsmandat für ein Teststoppabkommen ausgestattet wird. Auf der Grundlage des norwegischen Gesetzentwurfs könnten, wie wir finden, sehr schnell Vereinbarungen erzielt werden.Zweitens sollte sich die Regierung bei der UN-Generalversammlung im Herbst dafür verwenden, daß eine Fortsetzung der Amendment-Konferenz beschlossen wird, die über eine Umwandlung des begrenzten Teststoppvertrags von 1963 in ein umfassendes Verbot der Tests beraten will. Der interfraktionelle Antrag gibt der Bundesregierung eine gute Grundlage an die Hand, um auf diesem Felde international aktiv zu werden, Druck zu machen, damit die gefährlichen Atomtests endlich aufhören.Liebe Kollegen und Kolleginnen, mit dem zweiten Antrag, den wir und die Fraktionen der Regierungskoalition vorlegen, wollen wir dazu beitragen, daß Atomwaffen nicht in die Hände von immer mehr Staaten gelangen. Diesen Antrag zustande zu bringen, hat viel Mühe gekostet. Sie hat sich gelohnt, weil wir damit der Sache, um die es uns allen geht, größeres Gewicht verleihen. Auch ich möchte mich bei allen Beteiligten bedanken, auch bei Herrn Würzbach, der sozusagen seine schützende Hand über einem Teil der Verhandler hatte, denke ich, und ihnen den Rücken gestärkt hat. Also, es ging hier um „give and take" auf allen Seiten, wobei ich an dieser Stelle auch gerne
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14172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Katrin Fuchs
bereit bin einzuräumen, daß einige Anregungen aus Ihren Fraktionen durchaus zur Verbesserung dieses Antrages beigetragen haben.Wir wollen alle zivilen Atomanlagen der NV-Vertragsstaaten einem umfangreichen Kontrollmechanismus unterwerfen. Kollege Würzbach hat darauf hingewiesen. Wir wollen die Inspektionsrechte der Internationalen Atomenergiebehörde erweitern und dieser Institution jederzeit Verdachtskontrollen erlauben. Die Entsorgung ziviler und militärischer Anlagen soll ebenfalls von der IAEO überwacht und nach international vereinbarten Verfahren betrieben werden.Ich will auf einen Punkt des Antrages aufmerksam machen — ich will nicht auf alles eingehen, weil wir das heute aufteilen können —, der sich für uns aus einer Expertenanhörung des Unterausschusses ergeben hat. Wir müssen, um den Risiken der Weiterverbreitung von Atomwaffen entgegenzusetzen, früher als bisher üblich ansetzen. Bestimmte Forschungs-und Technikentwicklungen wie die Laser-Anreicherung können die Weiterverbreitung fördern, auch andere Techniken. Wir regen daher an, solche Entwicklungen einer kritischen Technikfolgenabschätzung zu unterziehen. Da gibt es eine Diskussion im Unterausschuß. Wir haben auch konkrete Projekte ins Auge gefaßt. Ich hoffe, daß das eine gute Arbeit wird.So positiv es ist, lieber Herr Kollege Würzbach, daß Regierungs- und Oppositionsfraktionen sich auf einen Antrag einigen konnten, bedauere ich natürlich, daß Sie einige für uns besonders wichtige Punkte nicht mittragen wollten. Sie sind dem Protokoll angehängt. Wir werden diese Anliegen natürlich hier im Parlament und international weiterverfolgen. Wer weiß, vielleicht werden Sie eines Tages auch noch zu überzeugen sein. Die Hoffnung darf man nie aufgeben.Bei diesen Punkten handelt es sich erstens darum, daß die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen nationaler Selbstverpflichtungen und Selbstbeschränkungen einseitig auf die Nutzung sensitiver Nukleartechnologien, insbesondere auf die Wiederaufarbeitung und die Plutonium-Nutzung, verzichtet. Ich verstehe nicht ganz, weshalb Sie sich dieser Forderung nicht anschließen können. Aus der Wiederaufarbeitung haben wir uns verabschiedet. Sogar die Industrie denkt darüber nach, ob es nicht zweckmäßiger und kostengünstiger ist, aus der Plutoniumnutzung auszusteigen. Ich könnte Ihnen empfehlen, sich da mit Siemens zu beraten. Bisher habe ich Ihre Ablehnung dieses Punktes nicht recht verstanden; ich fand sie nicht überzeugend. Vielleicht kann Kollege Pflüger, falls er dazu noch redet, das noch einmal erläutern.Zweitens wollen wir, daß die vorhandenen Kernwaffenbestände einschließlich der Trägermittel unter internationale Überwachung gestellt werden. Auch die Vernichtung dieser Waffen soll unter Aufsicht einer UN-Behörde erfolgen. Diese Forderung wird in der Fachwelt schon seit längerem erhoben. Sogar Kollege Dregger hat sich dieser Forderung angeschlossen. Sie ist vernünftig, sie schafft Transparenz und würde der neuen politischen Lage entsprechen, in der aus alten Gegnern Freunde und Partner geworden sind. Hiermit würden wir auch einen Beitrag zur weltweiten kooperativen Sicherheit leisten.Drittens wollen wir, daß die Bundesregierung einen Produktionsstopp für alle spaltbaren waffenfähigen Nuklearmaterialien unterstützt. Damit könnten wir z. B. die USA unterstützen, die seit Ende der 80er Jahre kein waffengrädiges Material mehr herstellen, und wir könnten ein Signal an Rußland senden, das ebenfalls Bereitschaft signalisiert hat, die Produktion einzustellen. Es ist mir nicht ganz erklärlich, warum die Regierungsfraktionen diese Forderung nicht unterstützen können.Viertens halten wir es für unverzichtbar, daß bei der Ausfuhrgenehmigung für Dual-use-Güter eine Endverbleibskontrolle sicherzustellen ist. Hier hat sich besonders die F.D.P. quergestellt.
— Herr Feldmann, ich wiederhole jetzt das, was ich Ihnen auch gesagt habe. — Ich vermute, daß die Unternehmensinteressen bei Ihnen offensichtlich höher angesiedelt sind als wasserdichte Regelungen für den Rüstungsexport.
Lassen Sie mich das einmal ganz polemisch so sagen.
— Hören Sie doch bitte zu, Herr Feldmann! — Wie anders können wir sicherstellen, daß keine bundesdeutschen Firmen z. B. an der Aufrüstung des Iran beteiligt sind? Sie wissen, es gibt Berichte, daß dies stattfindet.
— Das kann man nicht mit dem Hinweis auf schwarze Schafe einfach aus der Welt wischen. — Es gibt eine Möglichkeit, zu überprüfen, daß bestimmte Rohre nicht für Kanonen verwendet werden, sondern für ein ziviles Gut. Das muß nachprüfbar sein. Es muß Endverbleibsklauseln geben. Wir bestehen darauf und halten das für einen ganz wichtigen Schritt.
Fünftens halten wir es für notwendig, daß im Rahmen des NVV-Systems ein Fonds bei der UNO zur Förderung alternativer, erneuerbarer Energien gebildet wird, um den Entwicklungsländern tatsächlich eine Alternative zur Kernenergie zu ermöglichen. Allein werden sie dazu die Kraft nicht haben. Dies wäre ein wesentlicher Beitrag zur Verhinderung der Weiterverbreitung. Denn solange die Entwicklungsländer auf Kernenergie angewiesen sind, besteht die Gefahr, daß sie die Nuklearkenntnisse für die Herstellung der Atombombe benutzen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14173
Katrin Fuchs
— Warum stimmen Sie, wenn Sie mir jetzt zustimmen, nicht zu, daß wir einen Fonds bei den UN bilden? Aber gut, dann reden wir noch einmal darüber!Ein Streitpunkt bei der Aushandlung des Antrags war die Frage, ob man dem Problem der Ausbreitung von Atomwaffen unter Umständen mit militärischen Mitteln beikommen kann. CDU/CSU und F.D.P. wollen sich ausdrücklich die Option offenhalten, der Weiterverbreitung mit einer Raketenabwehr zu begegnen. Es kann doch aber niemand ernsthaft annehmen, mit neuen Rüstungsprogrammen einer Aufrüstung in sogenannten Schwellenländern oder den Ländern der Dritten Welt entgegenwirken zu können. Im übrigen habe ich den Eindruck, daß einige nicht unwesentliche Kollegen aus der CDU/CSUFraktion, die von Raketenabwehr etwas verstehen, von ihr überhaupt nicht begeistert sind und sie eher ablehnen. Unsere Anhörung im Unterausschuß hat ergeben, daß eine Raketenabwehr nur sehr begrenzte Möglichkeiten hat, z. B. Cruise Missiles gar nicht abfangen kann und außerdem horrende Kosten verursachen wird.Bedenken Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, doch bitte folgendes. Wer für die reichen Länder des Nordens heute einen Schutz gegen Raketen aus der Dritten Welt errichten will, der geht bereits jetzt von der weiteren und unaufhaltsamen Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen aus. Er hat vor der Aufgabe, die Proliferation zu verhindern, bereits kapituliert. Nur konsequente Abrüstung begünstigt die Nichtweiterverbreitung. Deswegen ist die SPD für die Fortsetzung der Abrüstungsbemühungen bei den Atomwaffen wie bei den konventionellen Waffen
und wünscht, daß auch Waffen, die auf neuartigen technologischen Prinzipien beruhen, einer internationalen Kontrolle unterzogen werden.Schließlich gibt es einen weiteren Dissens zwischen der SPD-Fraktion und den Regierungsfraktionen. In Punkt 6 des Antrags wird festgestellt, daß die Verbreitung und der Erwerb von Atomwaffen eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt und daß Staaten, die völkerrechtswidrig versuchen, Nuklearwaffen zu erwerben oder herzustellen, deshalb mit Sanktionen belegt werden müssen. Die SPD meint damit ausschließlich nichtmilitätische Sanktionen, wie sie im fortlaufenden Antragstext auch aufgeführt sind.Die Regierungsfraktionen wollen in diese Sanktionen ausdrücklich militärische Zwangsmaßnahmen einschließen, wie unsere Debatte ergeben hatte. Das ist im Fall des Irak praktiziert worden. Das konnte dort nur deswegen geschehen, weil der Irak zuvor aus anderen Gründen einen gegen ihn geführten Krieg verloren hatte. Aber soll die UNO Krieg z. B. gegen den Iran führen, nur weil es Hinweise gibt, daß dieses Land eine Atomwaffe baut oder schon gebaut hat und damit später möglicherweise Nachbarn bedrohen könnte? Wenn man sich vor Augen hält, wie viele potentielle Kandidaten es für militärische Sanktionen durch UNO-Streitkräfte bei der nuklearen Weiterverbreitung geben könnte, wird man sehr schnell sehen, dieser Weg führt ebenfalls in die Sackgasse. Die UNO ist nicht nur aus personellen und finanziellen Gründen gar nicht in der Lage, so viele Kriege zu führen. Eine UNO, die auf Kriegführen und militärische Erzwingung setzte, wäre, finden wir, schnell am Ende. Wer eine solche Militarisierung der internationalen Politik betreiben will, zerstört jegliche Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Diesen Aberwitz machen wir nicht mit.Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn alle von uns vorgeschlagenen Verbesserungen zur Kontrolle des Atomwaffenverzichts verwirklicht werden, wenn es eine „internationale Rasterfahndung" schon gäbe, die alle einzelnen Schritte zur Herstellung von Atomwaffen, den Kauf und Verkauf von relevanten Stoffen und Komponenten erfassen würde, dann würde die Weiterverbreitung dieser Waffen im Vergleich zur heutigen Situation zwar wesentlich erschwert, aber ausgeschlossen wäre sie noch immer nicht. Auch der bisherige Atomwaffensperrvertrag hat nicht verhindert, daß einige Staaten heute faktisch Atommächte sind bzw. kurz davor stehen, es zu werden; auch Kollege Würzbach hat darauf hingewiesen. Nordkorea war in den Schlagzeilen, davor der Iran, davor der Irak. Von Israel weiß man, daß es über Atomwaffen bereits verfügt. Bei Pakistan und Indien nimmt man es an. Südafrika hat gerade über ein früheres Atomprogramm berichtet. Diese Liste läßt sich fortsetzen.Um das Entstehen weiterer Atommächte zu verhindern, muß noch mehr getan werden. Vor allem müßten endlich die politischen Motive für den Bau oder Erwerb von Atomwaffen in Rechnung gestellt werden. Ich sage einmal: Nicht Angriffslust, sondern in den meisten Fällen Angst hat den Wunsch nach dem Besitz von Atomwaffen ausgelöst. Die USA hatten ihre Atomwaffenprogramme aus Angst vor Deutschland und Japan, später aus Angst vor dem Weltkommunismus entwickelt. Israel hat seine Atomwaffen aus Angst vor einer arabischen Bedrohung. Arabische Staaten möchten mit solchen Waffen Israel abschrekken. Iran fürchtet die Wiederholung der militärischen Aggression aus dem Irak. Kasachstan sieht sich von vier Atomstaaten — Rußland, China, Indien, Pakistan — umzingelt usw., usw.
— Ja, ja! — Belarus scheint der einzige der neuen Atomwaffenstaaten zu sein, der keine besonders große Angst vor militärischen Aggressionen hat und die Atomwaffen auf seinem Boden wirklich loswerden möchte.Nun braucht man die Augen nicht davor zu verschließen, daß auch weniger ehrenwerte Motive im Spiel sind. Einige der genannten potentiellen Atomwaffenstaaten ringen miteinander um regionale Vormachtstellungen. Das wissen wir. Ich will hier auch nicht alle Motive der traditionellen Atommächte untersuchen.Daß die Fähigkeiten zur Massenvernichtung eine große Rolle spielen, ist traurig genug, ist aber nicht unabänderlich. Denn daß Atomwaffen eine internationale Leitwährung sind, hat mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs zu tun. Diesen Teil der Geschichte wollen wir abschließen.
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14174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Katrin Fuchs
Gerade die hochentwickelten Staaten, die sich so viel auf ihre zivilgesellschaftlichen Errungenschaften zugute halten, müssen endlich mit gutem Beispiel vorangehen und die Rolle des militärischen Faktors in den internationalen Beziehungen kräftig abwerten.Es wäre eine internationale Anstrengung wert, mit den inoffiziellen, potentiellen und den neuen Atomwaffenstaaten über den sicherheitspolitischen Hintergrund ihres atomaren Ehrgeizes zu sprechen. Nur so könnten wir eine Perspektive für die Beendigung der Weiterverbreitung und auch für eine atomwaffenfreie Welt entwickeln. Dem UNO-Sicherheitsrat, in dem alle offiziellen Atomstaaten als ständige Mitglieder vertreten sind, sollte ein solcher Vorschlag unterbreitet werden.Die internationale Staatengemeinschaft ist nach wie vor auf zivile Methoden der Nichtverbreitungspolitik angewiesen. Die Abrüstungshilfe, die dazu beitragen soll, die Massenvernichtungswaffen der früheren Sowjetunion zu beseitigen, ist ein gutes Beispiel für den Ausbau der zivilen Methoden der Nichtverbreitungspolitik.Es ist eben darauf hingewiesen worden: Der amerikanische Kongreß hat bislang 800 Millionen Dollar für die Abrüstungshilfe bewilligt und für den Haushalt 1994 nochmals eine Erhöhung von 400 Millionen Dollar ins Auge gefaßt. Japan hat im April dieses Jahres mit 100 Millionen US-Dollar ebenfalls einen großen Beitrag für die nukleare Abrüstung Rußlands, der Ukraine, Kasachstans und von Belarus zur Verfügung gestellt. Die britischen Leistungen betragen 30 Millionen Pfund, die französischen 400 Millionen Francs. Der vergleichsweise bescheidene deutsche Beitrag von 10 Millionen DM deutet ungefähr an, wo die Bundesregierung die globale Rolle des — wie es immer wieder heißt — größer gewordenen Deutschlands sieht. Um diese 10 Millionen DM mußte auf allen Seiten des Parlaments noch sehr hart gekämpft werden.
Es ist also kein Wunder, wenn gesagt wird, daß für die Bundesregierung der Hinweis auf eine gewachsene Verantwortung Deutschlands für den Frieden in der Welt in erster Linie militärisch gemeint ist. Die traurige Tatsache scheint zu stimmen, daß die deutsche Bevölkerung auf die Teilnahme der Bundeswehr an globalen Kampfeinsätzen und globalen Militärinterventionen vorbereitet werden soll. Dafür steht jedenfalls Geld zur Genüge zur Verfügung.
Das sehen wir doch: 200 Millionen DM für Somalia. Das darf nicht so bleiben. Die Bundesregierung muß die weltpolitischen Möglichkeiten Deutschlands dort zur Geltung bringen, wo wir tatsächlich etwas für den Frieden leisten können.
Der Nichtweiterverbreitungsvertrag von 1968 steht 1995 zur Verlängerung an. Es muß alles getan werden, damit das mit Unterstützung möglichst vieler Staaten geschehen kann. Das Nichtverbreitungsregime muß dringend gestärkt werden. Die Bereitschaft, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu stoppen, steigt, wenn die Atomtests endlich eingestellt werden. Deswegen müssen die Moratorien verlängert werden. Ein Atomteststoppabkommen muß zügig ausgehandelt werden. Dafür sollten wir uns gerade in den nächsten Wochen, in denen über die Fortsetzung der Tests in den USA, aber auch bei den anderen Atommächten entschieden wird, mit aller Kraft einsetzen.
Als nächster spricht nun der Kollege Dr. Olaf Feldmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So viel Friede, Gemeinsamkeit, friedliche Äußerungen — —
— Das waren nur wenige Äußerungen. Der Grundtenor hat aber doch eine große Gemeinsamkeit gezeigt. Das läßt die Kontroversen und auch die wesentlich heftigeren Debatten der letzten Legislaturperioden über die Abrüstungspolitik fast vergessen. Das ist auch gut so.
Die F.D.P. ist stolz auf das — ich glaube, wir alle, auch Sie, Frau Fuchs, können stolz darauf sein —, was wir im Bereich der Abrüstung erreicht haben.
Die Ergebnisse der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik der letzten Jahre haben zu einem Gewinn an Sicherheit in Europa und der Welt geführt. Wir dürfen uns aber — da stimme ich mit Ihnen überein — nicht auf den Erfolgen ausruhen. Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sind Sicherheit und Frieden keine Selbstverständlichkeit. Die Abrüstungspolitik als wesentlicher Teil der Außen- und Sicherheitspolitik muß Schritt für Schritt fortgesetzt und vorangetrieben werden.
Wir haben heute eine Vielzahl von Anträgen zu diesem Thema auf der Tagesordnung. Aber, Frau Präsidentin — wenn ich Sie ausnahmsweise direkt ansprechen darf —, das Open-Skies-Abkommen, zu dem die Kollegen vorher Stellung genommen haben — das frage ich nur zur Klarstellung — ist meines Erachtens von der heutigen Tagesordnung gestrichen worden.
Herr Kollege, Sie haben recht. Der Tagesordnungspunkt 2 c — Open-Skies — ist von der Tagesordnung abgesetzt, wie ich Ihnen gerade schon versicherte.
Vielen Dank für die Klarstellung.Dann darf ich zum NVV kommen. Mit der nuklearen Abrüstung ist aber zugleich die Gefahr der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14175
Dr. Olaf FeldmannWeiterverbreitung von spaltbarem Material und Know-how gestiegen. Immer mehr Staaten vor allem der Dritten Welt bemühen sich um Atomwaffen. Dem muß im Rahmen des NVV auf allen politischen Ebenen entschieden entgegengewirkt werden. Der Zusammenbruch des Warschauer Pakts, die Auflösung der ehemaligen Sowjetunion, die Erfahrungen des Golfkrieges sowie das hier schon erwähnte Katzund-Maus-Spiel Nordkoreas haben die Notwendigkeit einer Verbesserung der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen überdeutlich gemacht. Obwohl der NVV bisher das Entstehen einer größeren Zahl neuer Atommächte verhindert hat, muß er auf der Überprüfungskonferenz 1995 nicht nur verlängert, sondern auch wesentlich verbessert werden. Wir haben dazu eine interfraktionelle Beschlußempfehlung und konkrete Vorschläge erarbeitet. Ich darf mich auf das beziehen, was der Kollege Würzbach hier vorgetragen hat. Wir drei Berichterstatter stimmen voll überein, so daß ich das hier nicht wiederholen muß. Wir wollen den NVV stärken und seine Wirkungsmöglichkeiten ausbauen, von der Verhängung stärkerer Sanktionen bis hin zu Sicherheitsratsentschließungen auf der Grundlage des Art. 34 der UN-Charta.Die bürokratischen Hürden, die Sie erwähnt haben, sind natürlich eine Groteske; sie müssen beseitigt werden. Das ist die Aufgabe, der wir uns noch zu stellen haben.Wir wollen eine bessere personelle und materielle Ausstattung der IAEO in Wien — wir haben vor Ort ja auch vernommen, wo es klemmt —, damit die IAEO ihre wachsenden Aufgaben in der Welt erfüllen kann. Die Finanzierung regionaler Kontrollbehörden, z. B. der EURATOM, darf nicht auf Kosten der IAEO geschehen; denn es gibt keine realistische Alternative zu einer international vereinbarten und international garantierten und kontrollierten, weltweit gültigen Politik der Nichtverbreitung von Kern- und Massenvernichtungswaf fen.Was, Herr Kollege Würzbach, Nordkorea anbelangt, so sind wir uns wohl einig, daß die Suspendierung der Austrittserklärung aus dem NVV nur ein erster zaghafter Schritt in die richtige Richtung ist; aber immerhin geht er in die richtige Richtung. Erforderlich ist natürlich das uneingeschränkte Ja Nordkoreas zum NVV und die uneingeschränkte Zulassung von IAEO-Inspektoren.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Proliferationsprobleme, die die Vorredner angesprochen haben, gibt es natürlich nicht nur im nuklearen Bereich, sondern auch bei den chemischen, biologischen und konventionellen Technologien.
Hier helfen nur wirksame Exportkontrollen, insbesondere im Dual-use-Gebiet. Deutschland ist Vorreiter auf dem Gebiet und muß es auch bleiben.
Eine weitere wichtige Möglichkeit der Exportkontrolle ist das Tragertechnologiekontrollregime. Es ist eine wichtige Ergänzung der internationalen Bemühungen zur Nichtverbreitung und unterstützt flankierend rüstungskontrollpolitische Maßnahmen.Die Gefahr einer ungehemmten Proliferation von Massenvernichtungswaffen der ehemaligen Sowjetunion ist sehr real — die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen —; denn es ist ungewiß, inwiefern das gewaltige Potential an atomaren und chemischen Massenvernichtungswaffen noch unter Kontrolle gehalten werden kann. Die Bundesrepublik beteiligt sich deshalb an der Abrüstungshilfe für die ehemaligen Staaten der Sowjetunion durch finanzielle Unterstützung und Bereitstellung von Know-how. Durch internationale Abrüstungshilfe kann der Gefahr der Verbreitung entgegengewirkt werden. Ich hoffe mit Ihnen Frau Kollegin Fuchs, daß wir im nächsten Bundeshaushalt — der Kollege Weng als unser Haushaltspolitiker ist ja hier dabei; er hat im Plenum auch schon durch entsprechende Zwischenrufe Zustimmung signalisiert — über die 10 Millionen DM hinauskommen, die wir aus anderen Titeln herausschneiden müssen, und daß wir größere Beträge im Interesse unserer eigenen Sicherheit für die Abrüstungshilfe für die Sowjetunion zur Verfügung stellen können.Wir dürfen aber vor lauter nuklearen und chemischen Massenvernichtungswaffen die Proliferation konventioneller Waffen nicht vergessen. Die Einrichtung eines entsprechenden Waffenregisters bei den Vereinten Nationen konnte 1991 als Resolution verabschiedet werden. Dies war ein beachtlicher Erfolg deutscher Außenpolitik, auf den die F.D.P. stolz ist.Die Vereinten Nationen setzten mit dieser Resolution ein Signal für ihre wachsende Mitverantwortung bei der Erarbeitung und Implementierung konkreter Maßnahmen zur Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle. Gleichzeitig wurde damit das europäische Konzept von vertrauensbildenden Maßnahmen weltweit anerkannt.Meine Damen und Herren, Atomwaffentests — da stimme ich Ihnen zu, Frau Kollegin Fuchs — erhöhen das Risiko der nuklearen Proliferation. Ein endgültiger Teststopp ist daher das Gebot der Stunde. Natürlich ist ein umfassender Teststopp kein Ersatz für eine substantielle Reduzierung vorhandener Waffenarsenale. Aber er kann ein wichtiger Beitrag sein, um die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Jeder Atomwaffentest kann von den Schwellenländern als Signal verstanden werden, daß die Atommächte das Ziel der Beseitigung der Atomwaffen nicht weiter verfolgen. Die Einstellung aller Atomwaff entests dagegen fördert weitere substantielle Abrüstungsschritte und kann ein Klima des Vertrauens schaffen. Diese große Chance dürfen wir nicht ungenutzt lassen.Das im Juli 1992 vom damaligen Präsidenten Bush verkündete Teststoppmoratorium muß über den Juni 1993 hinaus verlängert werden. Wir unterstützen daher die Gesetzesinitiative des US-Repräsentantenhauses, in der die amerikanische Regierung zu einer weiteren Einstellung der Tests aufgefordert wird. Wir appellieren an unsere Parlamentskollegen in den USA, auf eine Verlängerung des Teststoppmoratoriums hinzuwirken. Diesen Appell richten wir auch an unsere Kollegen in England, Frankreich und Rußland.Ein solcher Appell ist notwendig; denn in den letzten Wochen ist das Risiko gestiegen, daß Präsident
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14176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Olaf FeldmannClinton erneut Tests zuläßt. Eine Wiederaufnahme der Atomtests könnte als schlechtes Beispiel Schule machen und eine Kettenreaktion auslösen, denn sowohl Präsident Jelzin als auch Präsident Mitterrand haben eine Verlängerung ihrer Atomteststoppmoratorien über 1993 hinaus davon abhängig gemacht, daß auch andere Staaten auf weitere Tests verzichten. Die Chance, die die Moratorien bieten, muß genutzt werden, um Verhandlungen über einen vollständigen Teststopp zu führen.Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen: Der NW, das Atomteststoppmoratorium, aber auch das heute von der Tagesordnung abgesetzte Abkommen über Open skies haben eines gemeinsam: Sie sind keine Abrüstungsverträge im normalen, herkömmlichen, traditionellen Sinne. Sie reduzieren nicht bestehende Rüstungspotentiale und militärische Aktivitäten. Diese Abkommen dienen vielmehr der Verbesserung der Sicherheit und stärken das Vertrauen durch Offenheit und Transparenz. Nur in diesem Klima können weitere Abrüstungsmaßnahmen gedeihen. Auf diesem Weg sollten wir weitergehen, Schritt für Schritt und konsequent.Vielen Dank.
Frau Kollegin Andrea Lederer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schicke vorweg: Auch wir werden der Beschlußempfehlung zustimmen, was die beiden von den großen Fraktionen ausgehandelten Anträge anbelangt. Aber wir sehen, ehrlich gesagt, keinen Anlaß, hier eine abrüstungspolitische Feierstunde zu veranstalten, wo man von Erfolgsbilanz redet und die Einigkeit hervorhebt. Ich kann nur sagen, wenn es um die Frage internationaler Einsätze der Bundeswehr geht, hoffe ich, daß die Einigkeit nicht hergestellt wird, vor allem nicht im Sinne der Politik der Bundesregierung.Noch eines vorweg: Kollege Würzbach, Sie haben hier den neuen Bericht von SIPRI zu einem ganz konkreten Punkt erwähnt. Ich finde es, muß ich sagen, eigentlich vermessen, nicht auch zu erwähnen, daß nach genau diesen Veröffentlichungen von SIPRI die Bundesrepublik Deutschland inzwischen immerhin auf Platz drei der Hitliste der Waffenexporteure gelandet ist und fast schon Platz zwei einnimmt; das wird wohl nur noch eine Frage der Zeit sein. Wenn in dem Jahresabrüstungsbericht von eindrucksvollen Erfolgsbilanzen die Rede ist, dann weiß ich nicht, ob die Bundesregierung auch das darunter subsumiert. Ich tue das nicht. Es gibt jedenfalls keinerlei Anlaß, sich hier selbst auf die Schulter zu klopfen.Es geht überhaupt nicht darum, die Notwendigkeit der Verträge, die Abrüstung zum Gegenstand haben, in Zweifel zu ziehen. Es geht um die Frage: Wie geht es weiter? Es geht auch um die Frage: Wie sollen diese Verträge eigentlich umgesetzt werden?Es ist klar: Es wird abgerüstet, und zwar bei den einen, denen, die nicht mehr können, ziemlich viel, und bei den anderen relativ wenig, und zwar nur das, was unter geänderten politischen Bedingungen, militärstrategisch gesehen, nun wirklich keinen Sinn mehr macht — und das meistens nur mit viel Ach und Krach. Diese Art der Abrüstung vor allem im Ost-West-Verhältnis ist denn auch weniger dem guten Willen aller Beteiligten aus Einsicht in friedenspolitische Notwendigkeiten als vielmehr dem Druck der veränderten Bedingungen geschuldet.Es ist so: Unter anderem ohne die Verpflichtung zur Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 Soldaten hätte es die DDR nicht so schnell und nicht so billig gegeben. Das kann man hinterher vielleicht als friedenspolitische Großtat abfeiern; eine solche ist es aber nicht und wird es auch nie werden. Die würde erst dann zum Gegenstand der Debatte hier, wenn beispielsweise eine wirklich freiwillige Vorleistung der Bundesregierung erbracht würde, indem sie sagt: Wir reduzieren jetzt auf 200 000 Mann, weil es keine Bedrohung dieses Landes gibt. Dann reduzieren wir auf 100 000 Mann, weil es noch immer keine Bedrohung gibt. Und so weiter.
Diese Großtat würde also darin bestehen, definitiv und eindeutig auf jeden Einsatz der Bundeswehr außerhalb dieses Landes, auf jede Form militärisch untersetzter Außenpolitik zu verzichten. Dann würde ich hier glatt in eine Feierstunde einstimmen.Eine wirklich friedenspolitische Großtat wird es aber nicht geben, und folgerichtig weist der Bericht auf andere Perspektiven hin. Da heißt es:Priorität vor der weiteren Reduzierung von Streitkräften und Waffen wird zunächst die gemeinsame Durchsetzung des Gebots haben, sich der Androhung und Anwendung von Gewalt zu enthalten.Die Bundesregierung erklärt damit im Grunde genommen das Ende weiterer Abrüstungsmaßnahmen, kaum daß sie wirklich begonnen haben.Die Frage, wie dieses Gebot durchgesetzt werden soll, beschäftigt momentan nicht nur Karlsruhe und den Bundestag. Es ist genau das, was auch die Kollegin Fuchs angesprochen hat: Es geht auch in dieser Frage um die Militarisierung internationaler Politik, wenn die Bundesregierung bei der Durchsetzung dieses Gebots nur militärische Mittel im Auge hat und faktisch anzupacken beginnt.Es ist in diesem Kontext natürlich klar, daß ausgerechnet die Petersberg-Erklärung der WEU als „eines der wichtigsten Dokumente, welches die WEU seit ihrem Bestehen verabschieden konnte", im Bericht abgefeiert wird — immerhin ein Dokument, das der WEU als Grundlage für ein Agieren als aggressives Militärbündnis dient.Es ist genauso folgerichtig, wenn praktisch ausschließlich von den Militärbündnissen NATO und WEU die Rede ist, wenn es um die politischen Entwicklungen und friedliche Kooperation in Europa geht. Als Stabilitätsfaktoren wird statt auf nichtmilitärische Institutionen wie die KSZE — es ist fast ein Wunder, daß sie in dem Bericht überhaupt auftaucht — auf eben die Militärbündnisse gesetzt, die
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Andrea Lederergegenwärtig die beste Gewähr für weltweite Interventionspolitik bieten. Frieden und Abrüstung werden aber nun gerade nicht durch Militärbündnisse und schon gar nicht durch ihren weiteren Ausbau oder neue Rollenzuweisung im Sinne weltpolizeilicher Interventionen zu haben sein. Im Gegenteil: Nur im Abbau der Militärbündnisse und ihrer Ersetzung durch nichtmilitärische Kooperationsmechanismen liegt überhaupt eine Chance für eine erfolgreiche Friedens- und Abrüstungspolitik. Eine auf Militärbündnisse beruhende Stabilität ist trügerisch. Sie beruht auf Machtpolitik und ihrer militärischen Untermauerung.Natürlich besteht die Gefahr der Proliferation von Atomwaffentechnologie, und natürlich besteht die Gefahr der Proliferation anderer Massenvernichtungswaffentechnologie. Aber es wird keinen Kontrollmechanismus geben, der diese Gefahren mit Sicherheit beseitigen kann. Proliferationsgefahren wird es exakt so lange geben, wie es Besitzer und Nichtbesitzer dieser Technologien gibt. Nur wenn sich die Besitzerstaaten zu Nichtbesitzerstaaten entwickeln, werden diese Gefahren beseitigt oder zumindest kontrollierbar werden können, weil erst dann kein Staat mehr glauben muß, es nötig zu haben, in die Riege der Besitzerstaaten aufzurücken. Auch hier gilt: bei sich selbst anfangen.Ich habe zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung für die unbefristete Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages eintreten will. Ich begrüße das. Ich hoffe, es bleibt dabei und sie wird sich intensiv dafür einsetzen. Eine wirkliche Vorreiterrolle in der Frage nukleare Option und in der Frage der Nichtweiterverbreitung kann aber nicht nur darin bestehen; denn die Verlängerung des Vertrages ist eine Selbstverständlichkeit, gerade unter den Besitzerstaaten. Es muß nicht nur darum gehen, die Zahl der Besitzerstaaten zu belassen und nicht weitere zu schaffen, sondern es muß auch darum gehen, daß das nukleare Potential abgebaut wird, und zwar auch bei denjenigen, die heute über nukleare Waffen verfügen.Eine Vorreiterrolle würde darin bestehen, einen völkerrechtlich verbindlichen Verzicht auf sämtliche Massenvernichtungswaffen zu erklären und in Verträgen festzuklopfen. Sie würde — was dieses Land angeht — darin bestehen, einen Atomwaffenverzicht endlich ins Grundgesetz zu bringen; sie würde vor allem auch darin bestehen, daß diese Bundesregierung erklärt, daß sie auf die multilaterale Teilhabe an Atomwaffen verzichtet. Ich nenne das Stichwort: Vom Eurokorps zur Eurobombe. Das sollte hier ausdrücklich erklärt werden. Außerdem sollte die Vorreiterrolle darin bestehen, die NATO-Erstschlagsoption endlich vom Tisch zu bringen. Allerdings haben wir hier von seiten der Bundesregierung immer nur Gegenteiliges gehört.
Ich denke, es steht dem drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt ganz einfach nicht zu, die zum eigenen Potential vergleichsweise nach wie vor kümmerlichen Rüstungsarsenale mancher Staaten der sogenannten Dritten Welt oder sogenannter Schwellenländer anzuklagen, solange er dafür selber die wesentlichen Voraussetzungen durch den eigenen Waffenexport liefert.Es steht dem drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt nicht zu,
die Gefahren, die aus der Hochrüstung mancher Staaten der sogenannten Dritten Welt für die BRD angeblich resultieren — —
— Quatsch, die haben Sie verscherbelt. Die sind doch unter Ihrer Regierung alle verscherbelt worden! Sie haben mit den gesamten NVA-Waffen doch einen Riesenreibach gemacht! Erzählen Sie hier keine Märchen!Es steht dieser Bundesregierung überhaupt nicht zu, darüber hinwegzutäuschen, daß sie mit dazu beiträgt, daß andere Staaten aufgerüstet werden, indem sie Profite zu machen versucht, diese Rüstungsindustrie hier weiter unterstützt und es ablehnt, ein Verbot dieses Rüstungsexportes hier ein für allemal zu beschließen und auch grundgesetzlich zu verankern.Solange das so ist, nützt es überhaupt nichts, hier eine Feierstunde zum Thema Abrüstungspolitik abzuhalten. Wir wollen Taten sehen, wir wollen, daß Sie darauf verzichten, Außenpolitik militärisch zu untermauern, ob das durch Waffenexport oder dadurch geschieht, daß Sie internationale Einsätze der Bundeswehr faktisch — ob durch die Verfassung gedeckt oder nicht — durchzupowern versuchen.Ich danke.
Das Wort hat die Kollegin Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Lederer, im Gegensatz zu Ihnen habe ich nichts gegen eine abrüstungspolitische Feierstunde, weil solche Feierstunden immer auch dazu dienen, Kraft zu schöpfen für neue Taten. Wenn wir Taten sehen wollen, dann, denke ich, dürfen wir auch einmal feiern.
Der uns vorgelegte Bericht der Bundesregierung ist alles in allem eine erfreuliche Lektüre. Der Abbau von Interkontinentalraketen oder die Abrüstung der in dem KSE-Abkommen festgelegten Waffen aus fünf Kategorien sowie die Reduzierung der Truppenstärken sind durchaus Beispiele dafür. Am bedeutsamsten ist sicherlich der Abschluß des Übereinkommens über chemische Waffen und entsprechende Maßnahmen zur Verifikation der Respektierung des Verbots von Entwicklung, Produktion und Weitergabe chemischer Waffen. Damit bestehen gute Aussichten, eine der
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Vera Wollenbergergrausamsten und heimtückischsten Waffenarten aus dem Verkehr zu ziehen.Weiter betont die Bundesregierung die Bedeutung von Rüstungskontrolle und dabei vor allem die Eindämmung der Proliferation. Es ist nicht zu widersprechen, wenn festgestellt wird, daß an Rüstungskontrolle als „kooperativen Bemühungen um die Kontrolle militärischer Macht" festgehalten wird. Indes fällt leider auf, daß dies in erster Linie auf andere Staaten bezogen wird, die angeblich unverantwortlich handeln und sich alle möglichen Arten von Waffen auf dem Weltmarkt beschaffen wollen.Gedanken an eigene Schritte der Abrüstung sowohl in Europa als auch im Sinne des Beitrags zur Eindämmung der weltweiten Proliferation von Massenvernichtungs- und Trägerwaffen fehlen. Dabei haben nicht zuletzt die Fälle Libyen und Irak gezeigt, daß es in erster Linie westliche und westeuropäische und sehr oft deutsche Firmen waren, die nur zu bereit waren, Ausrüstungen zur Produktion von Massenvernichtungswaffen zu liefern.Der Bericht des schwedischen Institutes SIPRI, auf den auch Frau Lederer eingegangen ist, zeigt, daß die Bundesrepublik die Nummer 3 der Waffenexporteure dieser Erde ist. Das zeigt, wie sehr wir noch vor der eigenen Tür zu kehren haben, ehe wir mit dem Finger auf andere deuten können.Ein nicht unerheblicher Teil des Exports, z. B. die Waffen der ehemaligen NVA, geht direkt auf das Konto der Regierung. Gerüchte, Panzer des Typs T-72 aus dem Besitz der ehemaligen NVA würden angeblich für 500 000 DM auf dem Weltmarkt angeboten, sind nicht geeignet, das Vertrauen in die Abrüstungswilligkeit der Regierung zu verstärken.Meine Damen und Herren, es gibt also allen Anlaß, über Schritte nachzudenken, die dieses Land von sich aus unternehmen kann, um die Abrüstung weiter zu fördern und voranzutreiben.
So sollte die Bundesrepublik nicht nur nichts tun, was neues Wettrüsten verursacht, sondern auch zur Prävention beitragen und selber einseitige Schritte der Abrüstung unternehmen.
— Deswegen können wir noch mehr tun.Ein solches Erfordernis wäre die Ausdehnung des Weltraumrechts. Bisher ist es lediglich untersagt, im Weltraum Massenvernichtungsmittel zu stationieren. Das heißt, der weiteren Militarisierung des Weltraums durch Systeme zur Raketenabwehr etc. ist keine Grenze gesetzt. Ein entschiedener Vorstoß zur Entmilitarisierung des Weltraums, zumindest zum Verbot der Stationierung jeglicher Art von Waffen, wäre ein wichtiger Schritt.Weiterhin wäre ein Verzicht auf Systeme zur Abwehr von Raketenangriffen ein Schritt, neue Rüstungswettläufe zu vermeiden. Derzeit wird sowohl in den USA als auch in Westeuropa an mancherlei Systemen zur Abwehr von begrenzten Raketenangriffen oder von taktischen Raketen gebastelt, sei es in Planungsspielen oder bereits in der Entwicklung.Ein wesentlicher Beitrag zur Abrüstung kann geleistet werden, wenn die Bundesrepublik den Verzicht auf die Produktion und den Besitz von Massenvernichtungswaffen — in erster Linie Atomwaffen — im Grundgesetz verankert. Anlaß dazu böte nicht zuletzt die unsichere Zukunft des Nichtweiterverbreitungsvertrages. Sollten die Atomwaffenstaaten sich nicht bereit erklären, die beim Abschluß des Vertrages eingegangenen Verpflichtungen in kurzer Zeit zu erfüllen, ist vorhersehbar, daß viele Unterzeichner nicht bereit sein werden, die von ihnen als diskriminierend empfundenen Bestimmungen einzuhalten.Mit einem im Grundgesetz festgeschriebenen Verzicht würde Deutschland signalisieren, daß auch nach einem eventuellen Scheitern des Regimes zur Kontrolle atomarer Proliferation in diesem Land keine Atomwaffen gebaut werden; es würde damit zur Vermeidung des Scheiterns beitragen. Der im Rahmen der WEU-Verträge erklärte Verzicht auf die Produktion von Atomwaffen würde allein — ohne den Nichtweiterverbreitungsvertrag — sowieso nicht ausreichen, denn er ist mit der Klausel „rebus sic stantibus" konditioniert. Leider läßt der Bericht kooperative Ansätze gegenüber den zu Kontrollierenden vermissen.Ohne einen Austausch, ausgehandelte Zugeständnisse und positive Anreize wird eine rein restriktive Kontrolle der Weiterverbreitung immer löchriger werden. Viele Länder, vor allem im Süden, werden versuchen, die Beschränkungen zu umgehen, und einigen wird das auch gelingen. Allein Angebote und Abmachungen, die beiden Seiten Nutzen versprechen, können auf Dauer wirksam sein. Hierbei ist es an den Industriestaaten des Nordens, durch entsprechende Schritte zu beweisen, daß es nicht um die simple Verweigerung des Zugangs zur Technologie geht.Bei konventionellen Waffen bieten sich der Bundesregierung ebenfalls viele Chancen, den Prozeß der Abrüstung durch weitere Schritte voranzutreiben. Besonders bedeutsam wäre es, in der KSE über die bisherigen fünf Waffenkategorien hinaus weitere Abrüstungsschritte zu vereinbaren.In erster Linie sollte es darum gehen, die immensen Mengen an leichteren Waffen, Kleinwaffen und Munition, die seit der Auflösung der Sowjetunion Ost- und Südosteuropa überschwemmen, substantiell zu verringern. Es sind vor allem diese Waffen, die in den Kriegen in Ex-Jugoslawien, in der Kaukasusregion und in Zentralasien zum Einsatz kommen. Sollten sie weiter im bisherigen Umfang verfügbar bleiben, wird es mit Sicherheit noch viele neue Kriege in diesen Regionen geben, die wegen des leichten Zugangs zu Waffen eine hohe Zahl an Opfern fordern werden.Ähnlich wie bei der KSE sollten im Register der UN weitere Kategorien von Waffen und die entsprechenden Exportzahlen in die jährlich erstellten Berichte aufgenommen werden. Das würde bedeuten, daß in einem zweiten Schritt die Produktionskapazitäten offengelegt werden sollten. Die Bundesregierung
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Vera Wollenbergerkann ohne Umschweife in diesem Sinn die Initiative ergreifen.Die Einführung eines Verhaltenskodexes für Waffenexporte wäre ein Schritt, die Verbreitung der Waffen einzudämmen. So sollte nicht an Länder in Kriegs-, Krisen- und Spannungsregionen, an Staaten, die grob gegen die Menschenrechte verstoßen, geliefert werden, und es sollten keine neuen Waffenarten in die Regionen eingeführt werden.Dazu gibt es noch eine Reihe von anderen Kriterien, die wichtig sind. Ein solcher Verhaltenskodex sollte zunächst von den EG-Staaten im Rahmen ihrer Beratungen zur gemeinsamen Rüstungsexportpolitik angenommen und dann in die Vereinten Nationen eingebracht werden. Es gibt eine Reihe unabhängiger Organisationen, die genaue Vorstellungen entwickelt haben, wie etwa die britische Saferworld.Die Haltung der Bundesregierung zu Fragen der Konversion von Rüstungsindustrie ist zwiespältig. Während gerne von der Friedensdividende geredet wird, wird die Abfederung des Umbaus von militärischen Strukturen, wie Stützpunkten, und die Umstellung von Rüstungsbetrieben auf zivile Produktion sträflich vernachlässigt, ja, sogar behindert.Die Bundesregierung täte gut daran, eigene Programme zur Konversion aufzustellen, etwa für die Regionen in Rheinland-Pfalz, die viele US-Stützpunkte beherbergen, und die Gebiete in Ostdeutschland, die mit den Hinterlassenschaften der abziehenden GUS-Armee alleingelassen werden. Zusätzlich zum wirtschaftlichen Kahlschlag bleiben immense Umweltprobleme zurück, die vor Ort nicht allein bewältigt werden können.Die Abrüstung sollte sich nicht auf Schritte beschränken, die nach außen wirksam sind. Im Inneren dieses Landes wären die Bürger dankbar, wenn die Tiefflüge endlich aufhören würden. Desgleichen ist es völlig unverständlich, weshalb in dem geplanten — —
Frau Kollegin Wollenberger, keine Liste mehr, sondern nur noch ein Schlußsatz.
Ja. — Desgleichen ist es völlig unverständlich, weshalb in dem geplanten Ausmaß Truppenübungsplätze unterhalten werden müssen, vor allem wenn dies — wie in Wittstock und in der Letzlinger Heide — mit der Perpetuierung unrechtmäßiger Zwangsenteignung unter sowjetischem Besatzungsrecht einhergeht und gegen die erklärten Interessen der Bevölkerung in der Region verstößt.
Vielen Dank.
Ich glaube, Frau Kollegin Wollenberger, ich bin den Kolleginnen und Kollegen, die erst zu diesem Tagesordnungspunkt gekommen sind, die Information schuldig, daß wir Ihnen heute eine Premiere verdanken: Die Kollegin Wollenberger ist die erste Abgeordnete, die im Plenum mit Hut erschienen ist.
Als nächster hat der Kollege Dr. Friedbert Pflüger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Wollenberger hat nicht nur einen schönen Hut aufgehabt, sondern sie hat vor allen Dingen der Bundesregierung ein Kompliment gemacht, über das ich mich sehr freue und für das ich mich auch bedanke. Ich finde, es ist keineswegs selbstverständlich, daß das BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN in so deutlicher Form das, was wir in den letzten Jahren zusammen erreicht haben, als Erfolg bewertet.
Dies und Ihre Rede auf dem Evangelischen Kirchentag, die deutlichen Worte, die Sie dort gefunden haben, könnten, glaube ich, zur Grundlage für einen sich anbahnenden guten Dialog werden.Ich möchte am Anfang gerne ein paar Worte zu dem sagen, was hier soeben von der Kollegin Fuchs und auch von der Kollegin Wollenberger gesagt worden ist.Frau Kollegin Fuchs, zu Ihrem Antrag zur Beseitigung der französischen HADES-Raketen. Sie wissen — wir haben das an dieser Stelle in den letzten zwei Jahren bereits mehrfach diskutiert —, die Haltung aller Fraktionen in diesem Hause ist klar. Wir haben auch von unserer Seite deutlich gemacht, daß wir die HADES-Raketen natürlich nicht wollen.Allerdings wissen wir auch, daß es weniger HADES-Raketen gibt als ursprünglich vorgesehen, daß sie sich nicht in ihren Stellungen befinden, sondern in Silos deponiert sind. Wir glauben wirklich, daß dies im Moment kein aktuelles Problem in den deutsch-französischen Beziehungen ist.Ich darf meine ganz persönliche Meinung sagen: Ich finde es falsch, daß wir diesen Antrag überhaupt auf der Tagesordnung haben; denn nun droht nur ein Thema wieder in den Vordergrund zu rücken, über das wir uns zwischen Deutschen und Franzosen im Grunde schon längst geeinigt haben.Der zweite Punkt: Sie haben das Thema Raketenabwehr angesprochen. Das ist eine der Fragen, über die wir in der ansonsten sehr konstruktiv zwischen unseren Fraktionen geführten Debatte in der Tat eine unterschiedliche Auffassung hatten. Auch wir lehnen die Raketenabwehr als Lösung des Problems der Weiterverbreitung nuklearer Waffen ab. Das würde sehr viel teurer werden, als wenn wir jetzt Geld, was vernünftig wäre, in die nukleare Abrüstung hineinsteckten. Insofern ist Raketenabwehr keine Alternative zur Proliferationsverhinderung.Aber, Frau Kollegin, wir alle wissen nicht, was sich trotz unserer Bemühungen z. B. um die Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages in den nächsten
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Dr. Friedbert Pflüger15 Jahren in der Welt abspielen wird und ob nicht doch eine Trägerrakete, die 1 000 oder 2 000 km weit trägt, und ein nuklearer Sprengkopf irgendwo in Nordafrika oder im Nahen Osten zusammenfinden und dann plötzlich Europa bedrohen.Ich möchte jedenfalls für eine solche Situation nicht bereits im Jahre 1993 die Raketenabwehr als Option völlig ausgeschlossen haben. Ich finde, als Option ist sie wichtig, aber sie ist sicherlich nicht ein Ziel, auf das wir hinarbeiten, vor allen Dingen nicht jetzt unter den gegebenen finanzpolitischen Schwierigkeiten, vor denen wir alle stehen.
In den nächsten zehn Jahren wird sich zeigen, ob wir die größte nukleare Abrüstung oder die größte nukleare Weiterverbreitung in der Menschheitsgeschichte erleben werden. Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Antrag, den wir gemeinsam tragen, wollen wir einen Beitrag leisten, dieses Problem in den Vordergrund der Debatte zu rücken.Bisher wird die Gefahr der Weiterverbreitung von Atomwaffen und atomarer Technologie von einer breiten Öffentlichkeit weitgehend verkannt. Dabei ist sie im Kern genauso existenzbedrohend für den Menschen wie z. B. der Treibhauseffekt oder das Ozonloch.
Im Gegensatz zu diesen Umweltkatastrophen erscheinen die Gefahren der Weiterverbreitung von Atomwaffen noch größer, weil sie weniger meßbar und berechenbar sind.Die bestehenden Abrüstungsvereinbarungen verpflichten die GUS-Staaten zur Abrüstung von ca. 25 000 nuklearen Sprengköpfen innerhalb der nächsten zehn Jahre. Davon sind fast 7 000 interkontinentale Raketen, also Raketen, die bis nach Amerika reichen.Das ist eine gigantische Aufgabe, die Rußland, Weißrußland, die Ukraine und Kasachstan nicht alleine bewältigen können, zumal die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in diesen Ländern äußerst problematisch sind. Notwendig ist einmal mehr eine gewaltige und koordinierte Anstrengung der internationalen Staatengemeinschaft, urn diese nukleare Erblast des Kalten Krieges abzufragen und ihr Ausstrahlen — im wahrsten Sinne des Wortes — zu verhindern.Diese Bemühungen müssen in zwei Richtungen gehen: Erstens geht es um die Hilfe bei der Denuklearisierung in der GUS, und zweitens muß der im März 1995 auslaufende Atomwaffensperrvertrag unverändert und unbegrenzt verlängert und das um ihn herum gewachsene Kontrollregime verschärft werden.
Wir werden bereits in den nächsten zwei Jahren erleben, ob wir dieser Aufgabe gewachsen sind oder ob wir scheitern.Zunächst zu den Aufgaben im Bereich der ehemaligen Sowjetunion: Tausende von Sprengköpfen müssen bis zum Jahre 2003 von den jeweiligen Trägersystemen abmontiert werden. Sie müssen dann erst einmal sicher in Laboratorien transportiert, sicher gelagert und dann zerlegt werden. Bei diesem hochkomplizierten und gefährlichen Vorgang, der z. B. selbst in Amerika, Frankreich oder England große Probleme aufwerfen würde und der sich nun in Rußland auch noch in einer instabilen Situation abspielt, werden, wenn die GUS alle ihre Abrüstungsvereinbarungen einhält, 100 t waffenfähiges Plutonium und 400 t hochangereichertes Uran freigesetzt werden.Wenn dann die Demontage der Sprengköpfe stattgefunden hat, benötigt Rußland weitere Lagerungsfazilitäten. Das wird sehr schwierig und teuer werden.Wir wissen, Plutonium hat Halbwertszeiten, also Zerfallszeiten, die man in menschlichen Kategorien kaum verstehen kann. Das heißt, wir schaffen uns durch diesen Abrüstungsprozeß eine andere neue, riesige Gefahr. Es stellt sich nämlich die Frage: Wie gehen wir mit diesen hochgiftigen Stoffen um, die dort anfallen?Allein ein Lager für das Plutonium in Rußland kostet nach Ausführungen amerikanischer Wissenschaftler etwa 250 Millionen Dollar plus 10 Millionen jährlich an Betriebskosten, nur um es halbwegs zu sichern. Wir ersehen daraus, welche ungeheuren Aufgaben auf uns zukommen. Die Halbwertszeit von Plutonium beträgt 24 000 Jahre, die von hochangereichertem Uran 700 Millionen Jahre.Der Fortschritt auf dem Gebiet der Abrüstung hat zu einer neuen, zusätzlichen Gefahr geführt. Was tun wir mit dem Plutonium?Die erwünschte Abrüstung führt also zu einer neuen Gefahr, und wir haben nicht annähernd die Frage der Entsorgung gelöst. Sie stellt sich nun um so schärfer, als wir wissen, daß wir in der GUS nicht einmal eine stabile politische Situation haben. Jeder von uns weiß, daß die politische Situation in Rußland z. B. im nächsten Jahr völlig anders sein kann. In einer solchen explosiven Lage 500 t spaltbares Material zu haben, ist wirklich so gefährlich — ich darf es noch einmal sagen — wie das Ozonloch oder der Treibhauseffekt. Wer kann garantieren, daß der gigantische Montage-, Transport- und Lagerungsprozeß ohne größere Unfälle, ohne terroristische Anschläge, ohne Diebstahl von Substanzen usw. verläuft?Die Amerikaner haben vor dem Hintergrund dieser Situation als erste gehandelt; davon ist hier schon gesprochen worden. 800 Millionen Dollar sind bisher bewilligt, in diesem Jahr kommen 400 Millionen Dollar dazu. Wir haben uns kürzlich mit dem Unterausschuß Abrüstung in Washington ein Bild von der Situation gemacht. Die Amerikaner wollen beim Bau von Lagerstätten helfen, sie wollen technische Hilfen bei der Eliminierung von hochgiftigen Flüssigkeitstreibstoffen geben, Hilfe bei der Entgiftung verseuchter Gebiete und vor allen Dingen Unterstützung bei der Konversion von Rüstungsfabriken leisten. Von daher glauben wir, daß die Amerikaner hier unser Lob
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Dr. Friedbert Pflügerverdienen. Sie haben als erste die Brisanz dieser Situation richtig erkannt.
Vor allem haben sie sich bereit erklärt, 500 t des bei der Abrüstung anfallenden Urans von den Russen zu kaufen, um es später in verdünnter Form dem Weltmarkt zur friedlichen Nutzung zuzuführen. Das, finde ich, ist der einzige Weg, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Ich weiß, daß nicht alle darin übereinstimmen und daß viele grundsätzliche Bedenken auch gegen die friedliche Nutzung der Kernkraft haben. Nur, die friedliche Nutzung der Kernkraft ist im Grunde die einzig vertretbare Möglichkeit, um hochangereichertes waffenfähiges Plutonium und Uran in irgendeiner Weise einem Prozeß zugänglich zu machen und zu nutzen.Wir alle wissen, daß sich Uran relativ leicht verdünnen läßt, so daß es in zivilen Leichtwasser-Kernreaktoren verwandt werden kann. Dies stellt sich beim Plutonium natürlich anders dar. Es gibt ganz wenige technische Verfahren, um waffenfähiges Plutonium in Plutonium zu verwandeln, das friedlich nutzbar ist.Die Firma Siemens hat dazu eine Technologie entwickelt, die sogenannte MOX-Technologie. Dabei werden Uran-Plutonium-Mischoxid-Brennelemente hergestellt.
— Selbst wenn richtig ist, Herr Kollege Feldmann, daß die Firma Siemens bei der Ausstattung unseres Plenarsaals offenbar versagt hat, so traue ich ihr doch zu, daß sie auf diesem Gebiet mit ihrer Technologie weitaus größere Erfolge hat.Wir verhandeln ja schon lange mit den Russen über diese Technologie. Sie wissen, es gibt ein Projekt in Tscheljabinsk, wo wir im Juli mit einer Expertengruppe aus Vertretern des Verteidigungsministeriums, des Außenministeriums und der Industrie Gespräche über den Bau einer solchen Anlage führen werden.Auch das MOX-Verfahren führt natürlich nicht zu einer endgültigen Lösung des Plutoniumproblems, denn natürlich bleibt auch dann Plutonium in den Brennelementen übrig. Die Endlagerungsfrage ist also damit nicht gelöst, aber sie verliert an Gewicht. Deswegen glaube ich, daß wir hier über ein Verfahren verfügen, das sehr wichtig ist. Karl-Heinz Kamp hat in einer ausgezeichneten „Internen Studie" der KonradAdenauer-Stiftung vor kurzem zu Recht darauf hingewiesen.Ich freue mich sehr, daß es endlich gelungen ist, das Abkommen zur Abrüstungshilfe, das der Bundeskanzler am 16. Dezember vergangenen Jahres in Moskau geschlossen hat, konkret umzusetzen, nämlich indem die von uns geforderte Gemeinsame Kommission am Donnerstag und Freitag letzter Woche das erste Mal getagt hat. Dort hat man über das Tscheljabinsk-Projekt gesprochen.Man hat aber vor allen Dingen erörtert, wie man die Einrichtung des Wissenschafts- und Technologiezentrums, das in Moskau errichtet werden soll, um dieAbwanderung von Nuklearwissenschaftlern nach Libyen, Iran oder Irak zu verhindern, forcieren kann. Ich finde es sehr wichtig, daß man jetzt endlich anfängt, im Rahmen dieses Projekts, wofür ja seit langem Mittel zur Verfügung stehen, zu arbeiten. Wir haben jetzt immerhin ein Gebäude, wir haben jetzt eine Kernmannschaft, und unsere Fraktion hofft sehr, daß man bald mit der Arbeit beginnt. Allerdings gibt es nach wie vor Widerstände in Rußland. Es gibt immer noch Russen, die glauben, auf diesem Weg würde zuviel nukleare Technologie in den Westen gelangen. Solchen Befürchtungen muß man entgegentreten. Man muß vor allen Dingen sagen: Wenn wir nicht bald dieses Zentrum bauen, dann wird das nukleare Know-how auf anderen Wegen — auf unkontrollierten — in die Welt gelangen, und es wird in die falschen Hände geraten.Ich glaube — der Kollege Feldmann hat soeben darauf hingewiesen, der Kollege Würzbach ebenfalls —, daß es angesichts der 1,2 Milliarden Dollar, die die Amerikaner für die nukleare Abrüstungshilfe ausgeben, wirklich nicht ausreichend ist, wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, lediglich 10 Millionen DM dafür zur Verfügung stellen. Natürlich ist der Einwand richtig, daß wir auf anderen Gebieten sehr viel für Rußland tun, und zwar mehr als andere Staaten. Dennoch: Wenn wir hier ein gewichtiges Wort mitsprechen wollen, auch bei der inhaltlichen Konzipierung der nuklearen Abrüstungshilfe, dann müssen wir wirklich mehr tun als bisher. Von daher glaube ich, daß wir gut daran tun, die Mittel für die Abrüstungshilfe bereits im kommenden Haushalt deutlich zu erhöhen.Während des Kalten Krieges standen Milliarden für die Aufrüstung zur Verfügung. Es ist in unser aller Interesse, daß nun wenigstens ein Teil dieses Betrages für die nukleare Abrüstung zur Verfügung steht. Wir dürfen dabei auch keine Zeit verlieren. Vielleicht ist das Fenster zur nuklearen Abrüstung, das aufgestoßen worden ist, nur ganz klein und wird bald wieder geschlossen. Deshalb ist schnelles Handeln dringend erforderlich.Es geht aber auch um ein internationales Gesamtkonzept zur nuklearen Abrüstung. Wir erinnern uns daran, daß der Bundeskanzler 1988 auf dem G7-Gipfel in Toronto als erster das Thema der tropischen Regenwälder an die absolute Spitze der Tagesordnung der Weltgemeinschaft gesetzt hat. Das Ergebnis davon ist der Erdgipfel von Rio gewesen. Wir würden uns sehr freuen und fänden es sehr richtig, wenn eine ähnliche Anstrengung unternommen würde, um das Thema der Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen ebenso auf höchster Ebene zu behandeln und eine ebensolche Initiative zu starten.Neben der Hilfe für die Sowjetunion bei der nuklearen Abrüstung — darauf hat der Kollege Würzbach hingewiesen — kommt es vor allen Dingen darauf an, den Atomwaffensperrvertrag zeitlich zu verlängern. Ich will, wenn Sie erlauben, Frau Präsidentin, einen letzten Gedanken dazu vortragen.Wir müssen den Versuch unternehmen — über das hinaus, was wir in unserem Antrag sagen —, der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien
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Dr. Friedbert Pflügerdie Möglichkeit zu geben, ein sogenanntes „Internationales Plutoniummanagement" aufzubauen. Über all das hinaus, was diese Behörde bisher schon leistet, arbeitet das dortige Sekretariat jetzt an einem Konzept, wie man z. B. in Rußland eine riesige Lagerstätte oder mehrere Lagerstätten aufbaut und dann in einer Gemeinschaftsarbeit zwischen russischen Kräften und Vertretern der Internationalen Atomenergiebehörde — sozusagen mit einem Zwei-Schlüssel-Verfahren — die Plutoniumverwaltung unter internationale Kontrolle stellt. Das Sekretariat will diese Arbeiten bis 1995 abgeschlossen haben.Ich finde, wir sollten wirklich alles tun, um der IAEO und ihrem Generaldirektor Blix bei dieser schwierigen Aufgabe und auch dabei zu helfen, die Kontrollen, die sie ausübt, zu verschärfen, zu verstärken und Verdachtskontrollén durchzuführen. Herr Blix hat uns bei einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im März zu Recht gemahnt, daß auch dazu Geld erforderlich ist und daß die Bundesrepublik auch die Verstärkung der Sonderkontrollen der IAEO entsprechend finanzieren muß.Ich sage abschließend: Ich finde es wirklich ganz wichtig, daß wir an diesen Fragen weiterarbeiten, daß sich das Auswärtige Amt auch überlegt, ob es intern die Voraussetzungen geschaffen hat, um mit diesem neuen Thema wirklich angemessen fertigzuwerden. Ich wünsche mir neben den finanziellen Beiträgen, die wir zu leisten haben, vor allen Dingen einen Führungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Konzeption. Hier sollten wir, genau wie es früher bei der KSZE und in vielen anderen Bereichen der Fall war, die erste Rolle spielen. Man kann dann stolz sein auf sein eigenes Land, wenn es sich an einer solchen Aufgabe verantwortlich beteiligt.
Jetzt hat Herr Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pflüger, natürlich hat das Auswärtige Amt nicht nur die Kapazitäten, sondern auch die Kraft, Ihren Vorstellungen zu entsprechen; wir sind dabei. Ich lade Sie gern einmal ein, sich demnächst bei uns umzusehen und festzustellen, wie gerade an diesen Fragen gearbeitet wird.Ich darf, was die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme betrifft, heute noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen, daß dies das dringlichste Ziel unserer Abrüstungspolitik ist, wie ich das bei der Debatte am 27. November letzten Jahres hier schon dargelegt habe. Ich kann heute nur sagen: Wir haben in der Zwischenzeit — man soll gelegentlich auch die Fakten sprechen lassen — mit der Vereinbarung des Chemiewaffenverbots einen weiteren wichtigen Erfolg auf diesem Weg erzielen können. Sie wissen auch, daßDeutschland beim Zustandekommen dieses Vertrages eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat.
— Den Umstand, daß die Ratifizierung noch nicht eingeleitet worden ist, hat mehr das Präsidium des Deutschen Bundestages, haben mehr die Fraktionsführungen, die Geschäftsführer zu vertreten als die Bundesregierung,
da sie die Tagesordnung des Deutschen Bundestages festlegen. Das Kabinett kann nur Wünsche äußern. Aber die Geschäftsführer, Frau Kollegin Hämmerle, sind natürlich hervorragende Persönlichkeiten. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit noch einmal unterstreichen. —
Und ich darf hier einmal sagen, was besonders erfreulich ist: Es haben 140 Staaten der Welt inzwischen dieses Übereinkommen gezeichnet.Wir sind sehr froh, daß in der heutigen Aussprache die breite Übereinstimmung in diesem Hause durch die beiden interfraktionellen Beschlußempfehlungen, die Sie vorgelegt haben und die wir sehr begrüßen, deutlich wird. Von Feierstunde würde ich in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Ich finde, es ist sachliche Arbeit, die wir hier leisten. Feierstunden unterscheiden sich von sachlicher Arbeit sehr wesentlich, wie wir angesichts der Häufung von Feierstunden in diesem Hause alle wissen.Was den Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahre 1968 betrifft, so wissen Sie, daß wir ihn nach wie vor als Kernstück des internationalen nuklearen Nichtverbreitungssystems ansehen, das es zu stärken und auszubauen gilt. Hierzu gibt die vorliegende Beschlußempfehlung wichtige Anregungen. Ich bin sehr dankbar, daß der Kollege Würzbach und andere einzelne wichtige Details noch einmal aufgegriffen haben. Gerade die Stärkung der Kontrollen der Internationalen Atomenergieagentur in Wien und des Ausbaus von Exportkontrollen ist außerordentlich wichtig.Zu den Zielsetzungen des Nichtverbreitungsvertrags gehört natürlich die nukleare Abrüstung. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder die Kernwaffenstaaten auf ihre Verpflichtung hingewiesen, alles zu tun, um die Abrüstung dieser schrecklichen Waffen energisch voranzutreiben. Wir sind froh, daß durch die Vereinbarung zwischen den USA und Rußland bei strategischen Nuklearwaffen ein doch sehr weitreichender Schritt inzwischen erfolgt ist.Die Bundesregierung tritt für die unkonditionierte und unbefristete Verlängerung des Nichtverbreitungsvertrags im Jahre 1995 ein. Sie weiß sich in diesem Vorhaben mit ihren westlichen Partnern, auch mit ihren mittel- und osteuropäischen Partnern einig.
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Staatsminister Helmut SchäferGemeinsam wurde diese Zielsetzung in der Erklärung des Nordatlantischen Kooperationsrates vom 11. Juni dieses Jahres in Athen bekräftigt. Die Bundesregierung wird den bis zur Verlängerungskonferenz verbleibenden Zeitraum nutzen, um Hindernisse auf dem Weg zu diesem Ziel zu überwinden. Sie wird sich nachhaltig darum bemühen — Sie sollten das als Abgeordnete des Deutschen Bundestages auch tun —, die Staaten, die noch nicht bereit sind, diesem Vertrag beizutreten — hier müssen immer wieder beispielhaft genannt werden: Israel, Pakistan, Indien und Brasilien; Herr Kollege Würzbach, Sie haben sie alle genannt —, zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen.
Es wäre vielleicht an der Zeit, meine Damen und Herren, angesichts der Begehrlichkeiten dieser Staaten, die an uns herangetragen werden, einen Zusammenhang mit der Bereitschaft herzustellen, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten.Nordkorea hat mit seiner Ankündigung des Austritts aus dem Nichtverbreitungsvertrag eine Gefahr heraufbeschworen, die nicht ernst genug genommen werden kann. Wir haben daher die Bemühungen der Vereinigten Staaten gegenüber Nordkorea begrüßt, die Krise beizulegen. Die jüngste Ankündigung Nordkoreas läßt hoffen, daß die Absicht, auszutreten, bzw. der inzwischen erfolgte Austritt widerrufen wird und daß das Land dem Nichtverbreitungsvertrag wieder beitreten wird. Auch das haben wir in allen Gesprächen sehr deutlich gemacht.Implementierung bestehender Rüstungskontrollvereinbarungen, insbesondere der START-Verträge, ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Verlängerungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags. Gleichermaßen bedeutsam ist der Beitritt der Nachfolgestaaten der Sowjetunion zum Nichtverbreitungsvertrag als Nichtkernwaffenstaaten entsprechend dem Lissaboner Protokoll.Die Bundesregierung nutzt alle sich bietenden Gelegenheiten, um diese Staaten auf ihre Verpflichtungen hinzuweisen. Diese Thematik war, wie Sie wissen, ein wichtiger Gesprächspunkt beim jüngsten Besuch des Bundeskanzlers in Kiew. Zugleich ist die Bundesrepublik bereit, diese Staaten bei der Umsetzung ihrer Abrüstungsverpflichtungen tatkräftig zu unterstützen. Wir sind uns bewußt, daß die bisher zur Verfügung stehenden Summen — Herr Kollege Pflüger, Herr Kollege Würzbach und andere — natürlich noch nicht ausreichend sind. Ich meine jedoch, wer hier Vorschläge macht, diese Summen erheblich zu erhöhen, muß auch sagen, wo sie an anderer Stelle nach Möglichkeit eingespart werden können. Vielleicht gibt es da Ansatzpunkte bei der Frage, die ich vorhin schon angedeutet habe: bei der kostenlosen Lieferung von Rüstungsgütern an mit uns besonders befreundete Staaten. Vielleicht sollte man das in diesem Zusammenhang einmal erörtern dürfen.Die Bundesrepublik hat bereits im Dezember des vergangenen Jahres entsprechende Abkommen mit Rußland abgeschlossen, und unsere praktische Hilfe bei der Eliminierung von Nuklear- und Chemiewaffen läuft jetzt an. Herr Kollege Pflüger, natürlich ist hierfür ein sehr langer Zeitraum erforderlich. Aber ich stimme Ihnen völlig zu, wenn Sie sagen, wir dürfen diese Chance nicht vorübergehen lassen. Wir müssen von Anfang an mitentscheidend dabei sein, auch bei der technologischen Bewältigung dieses Problems.Mit der Ukraine wurde in diesem Monat ein Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit bei der Eliminierung ihrer Waffen abgeschlossen. Ich darf dazusagen, daß sich inzwischen herauskristallisiert, daß sich all diese Staaten ihrer besonderen Schwierigkeiten bei der Vernichtung dieser Waffen bewußt sind und daß die Zusammenarbeit mit den westlichen Partnerstaaten zwangsläufig ist. Diese internationale Zusammenarbeit wird von allen Mitgliedstaaten des Nichtverbreitungsvertrages als wichtiges Signal für die gemeinsame Entschlossenheit gewertet werden, nukleare Abrüstungsverpflichtungen zügig umzusetzen.Meine Damen und Herren, die Beschlußempfehlung zur Einstellung der Atomtests entspricht dem seit langem von uns mit Nachdruck vertretenen Anliegen, einen umfassenden und verifizierbaren Stopp nuklearer Tests zum frühestmöglichen Zeitpunkt anzustreben. Wir haben uns für einen internationalen Vertrag ausgesprochen, der in der Genfer Abrüstungskonferenz verhandelt werden sollte, in der alle Kernwaffenstaaten gemeinsam mit einer repräsentativen Gruppe von Nichtkernwaffenstaaten an einem Verhandlungstisch sitzen.Im Teststoppbereich gibt es positive Entwicklungen. Seit September des vergangenen Jahres gab es keine Nukleartests mehr, was maßgeblich auf die Vereinbarungen über Testmoratorien zwischen den USA und Rußland zurückzuführen ist, denen sich Frankreich anschloß. Wir unternehmen alle Anstrengungen, daß es dabei bleibt. In diesem Zusammenhang begrüßen wir auch die Absprachen zwischen den Präsidenten Rußlands und der USA von Vancouver vom April dieses Jahres, die frühzeitige Verhandlungen über einen nuklearen Teststopp anstreben.
Herr Staatsminister, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Die Zwischenfrage kommt gleichzeitig mit dem roten Licht, das hier jetzt aufleuchtet; deshalb möchte ich gern mit Herrn Scheer im Anschluß privat ein Wort wechseln, ohne die bereits anwesenden, auf den nächsten Tagesordnungspunkt wartenden Minister und Abgeordneten allzulange aufzuhalten.Meine Damen und Herren, Ihre Unterstützung unserer Politik wird uns helfen, den Rüstungskontrollprozeß weiter voranzutreiben. Sie wird unsere Bemühungen um ein möglichst universelles und in der Umsetzung umfassendes Nichtverbreitungsregime nachhaltig fördern.Der breite Konsens in diesem Hause wird auch im Ausland nicht überhört werden und die Glaubwürdigkeit unserer Politik unterstreichen, auch wenn wir gelegentlich Ausfälle gegen die Glaubwürdigkeit
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Staatsminister Helmut Schäferunserer Politik von der immer gleichen Seite hinnehmen müssen.Vielen Dank.
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Nichtverbreitung von Kernwaffen, Drucksachen 12/3099 und 12/5116. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 2 b und stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur sofortigen Einstellung aller Atomwaffentests
— Drucksachen 12/2845 und 12/5115 — ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 1 und stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Beseitigung der französischen HADES-Atomraketen
— Drucksachen 12/1212 und 12/5210 — ab. Der Ausschuß empiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit knapper Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Abrüstung taktischer Atomwaffen, Drucksachen 12/1213 und 12/5212. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 3 und stimmen über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu einer Initiative zur nuklearen Abrüstung ab, Drucksachen 12/1443 und 12/5213.
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Anderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten
— Drucksachen 12/4889, 12/4991 —
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/4611 —
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid Köppe weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsrechts
— Drucksache 12/4348 —
Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes
— Drucksache 12/4297 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/5182 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Alexander Warrikoff Ulrike Mascher
Dr. Gisela Babel
b) Berichte des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksachen 12/5183, 12/5184, 12/5185, 12/5186 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache darüber eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Dr. Alexander Warrikoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Gesetz, das wir heute gemeinsam verabschieden werden, wird die Verbrechen von Hiinxe, Mölln und Solingen nicht ungeschehen machen. Es kann sie auch nicht wiedergutmachen. Das, was geschehen ist, ist nicht wiedergutmachbar.Dennoch ist dieses Gesetz notwendig. Wir können die Folgen der Gewalt nicht beseitigen, wir können aber zumindest wirtschaftlich helfen, so unvollkommen das auch sein mag. Um all diese Fälle zu erfassen, haben wir eine Rückwirkung des Gesetzes vorgesehen.Unser Opferentschädigungsrecht hat eine gewisse Tradition. 1976 wurde es einstimmig im Deutschen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14185
Dr. Alexander WarrikoffBundestag beschlossen. Es beschränkt sich jedoch auf Deutsche, EG-Angehörige und solche Ausländer, in deren Heimatländern das Recht auf Gegenseitigkeit gilt, also Deutsche, die Opfer von Gewalttaten werden, entschädigt würden.Diese letzte Einschränkung darf keinen Bestand haben. Wir wollen Ausländer entschädigen, weil sie bei uns Opfer von Gewalt wurden, vor der sie unser Staat nicht schützen konnte. Ihr Schicksal ist unabhängig davon, ob Gegenseitigkeit gilt.Viele Länder haben kein Opferentschädigungsrecht für ihre eigenen Bürger und können daher auch Deutschen keinen Anspruch geben. Wir verweigern keinem Ausländer, der hier lebt, den Zugang zu unseren großen sozialen Sicherungssystemen mit der Begründung, daß es in seinem Heimatland vergleichbare Systeme nicht gibt oder, wenn es sie geben sollte, Deutsche darin keinen Schutz finden können.Das Opferentschädigungsrecht gilt zwar — Gott sei Dank — für sehr viel weniger Menschen als die großen sozialen Sicherungssysteme, aber es gehört dazu. Es wäre verfehlt, dieses Opferentschädigungsrecht von dem auszunehmen, was Ausländer in Anspruch nehmen können.In unseren Beratungen hat auch das Schicksal von Deutschen, die im Ausland Opfer von Gewalt werden und dort keine Ansprüche erwerben, eine große Rolle gespielt. Dieses Schicksal darf uns nicht gleichgültig sein. Es war und es ist uns nicht gleichgültig. Allerdings ist unser deutsches Opferentschädigungsrecht nicht die richtige Stelle für eine Regelung. Das Opferentschädigungsrecht betrifft Versagen unseres Staates, also des deutschen Staates, nicht aber das Versagen anderer Staaten.Wir wollen jedoch, um dieses Problem weiterzubringen, wenn wir nachher abstimmen, die Bundesregierung durch eine Entschließung auffordern, darauf hinzuwirken, daß mit möglichst vielen Staaten Gegenseitigkeitsabkommen abgeschlossen werden, die eine der Entschädigung eigener Staatsangehöriger vergleichbare Entschädigung Deutscher vorsehen. Für den Fall, daß dies nicht möglich ist — es wird häufig nicht möglich sein, weil solche Systeme nicht bestehen —, bitten wir die Bundesregierung, Konzepte zu entwickeln, wie den Deutschen, die im Ausland Opfer von Gewalt wurden, geholfen werden kann.So überzeugend das Gesamtkonzept ist, so gibt es auch hier, wie immer, Abgrenzungsprobleme. Es kann passieren, daß z. B. Touristen, die die formalen Voraussetzungen des Gesetzes — Aufenthaltsdauer usw. — nicht erfüllen, keine Ansprüche erwerben, obwohl dies im Einzelfall unserem gemeinsamen Gerechtigkeitsgefühl widerspricht. Hierfür haben wir eine Härteregelung vorgesehen, die Abhilfe schaffen kann.Auf der anderen Seite der Abgrenzungsprobleme will niemand Entschädigung leisten, wenn auf deutschem Boden politische Auseinandersetzungen aus den jeweiligen Heimatländern aktiv und mit Gewalt fortgeführt werden und dabei Schäden entstehen oder wenn gar, als besonders extremer Fall, Ausländer auf deutschem Boden zu Schäden kommen, die mit organisierter Kriminalität in Zusammenhang stehen. Wir haben diese Fälle ausgenommen.An anderer Stelle wird durch den Gesetzgeber — dazu gibt es ja eine ganze Reihe von Vorschlägen und Überlegungen —, aber auch durch den Gesetzesvollzug, durch die Rechtsprechung und vor allem durch das Verhalten der Gemeinschaft, der Nachbarn und eines jeden einzelnen, der irgendwie damit in Berührung kommt, dafür zu sorgen sein, daß mit aller Kraft Verbrechen wie die, die uns heute hier beschäftigen, bekämpft und soweit wie möglich vermieden werden. Es wird nicht ganz gelingen; leider. Hierzu kann dieses Gesetz einen Beitrag nicht leisten; das ist nicht sein Zweck. Es soll aber, wenn sich Gewaltakte gegen Ausländer wiederholen, so gut wie möglich helfen.
Es spricht unsere Kollegin Ulrike Mascher.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu. Wir halten es für richtig, ja für notwendig, daß diese Änderung des Opferentschädigungsgesetzes von einer breiten Mehrheit des Bundestages getragen wird, um ein deutliches Signal zu setzen.Die Beschlußempfehlung bezieht endlich auch die Gruppen von Ausländern in die Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes ein, die lange bei uns leben, Steuern und Beiträge zahlen, aber bisher ausgeschlossen waren, weil sie nicht aus Staaten der EG kommen oder weil es kein Abkommen mit ihrem Heimatstaat gibt, das nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit auch Leistungen für Deutsche vorsieht.Dieses abstrakte Prinzip der Gegenseitigkeit hat bisher verhindert, daß die Anträge der SPD für eine entsprechende Änderung des Opferentschädigungsgesetzes eine Mehrheit gefunden haben. Bereits 1984 hat die SPD einen entsprechenden Antrag eingebracht. Der Antrag wurde damals von der CDU/CSU und der F.D.P. wegen der angespannten Haushaltslage — es ging um die Summe von 600 000 DM —, aber vor allem wegen des Gegenseitigkeitsprinzips abgelehnt. Andere Staaten sollten veranlaßt werden, Deutschen vergleichbare Rechte in ihren Staaten einzuräumen. So lautete die Argumentation der Regierungskoalition.Die Gefahr der Ablehnung aus den gleichen Gründen drohte auch dem Antrag der SPD vom 23. März dieses Jahres. Aber angesichts der steigenden Zahl von Anschlägen auf Ausländer, die vor allem Türken, Schwarzafrikaner und Vietnamesen getroffen haben, war das Festhalten am Prinzip der Gegenseitigkeit untragbar geworden.Die SPD hat es deshalb begrüßt, daß die Bundesregierung, aufgeschreckt durch die ausländerfeindlichen Gewalttaten, am 10. Mai endlich einen Gesetzentwurf zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes eingebracht hat, der das Prinzip der Gegenseitigkeit aufbricht und sich an den Realitäten unseres Landes orientiert; denn 75 % der bei uns lebenden
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14186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Ulrike MascherAusländer waren bisher von den Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes ausgeschlossen. Viele von ihnen leben seit vielen Jahren bei uns, arbeiten hier und tragen mit ihren Steuern dazu bei, daß die Leistungen des Opferentschädigungsgesetzes, also Heilbehandlung, Rehabilitation und Rente, finanziert werden können, von denen sie bisher keinen Nutzen haben konnten.Es ist erschreckend für uns alle in der Bundesrepublik, daß der Staat, unser Staat, Ausländer in den letzten Jahren nicht mehr zuverlässig vor Gewalttaten schützen konnte. Um so dringlicher war es, alle bei uns lebenden Ausländer in den Leistungsbereich des Opferentschädigungsgesetzes einzubeziehen, Regelungen zu treffen, wie Verwandte, die hier zu Besuch sind, geschützt werden können und wie durch eine Härtefallregelung flexibel auf nicht vorhersehbare und daher schwer regelbare Fallkonstruktionen reagiert werden kann.Ich möchte mich ausdrücklich auch bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung bedanken, daß jetzt ein entsprechender Gesetzentwurf vorliegt.
Ich hoffe, daß die schwierige Formulierung der Ausschlußgründe in § 2 dieses Gesetzes in der Realität zu akzeptablen Ergebnissen führt. Wir wollen nicht, daß z. B. ein Antragsteller, der auf Grund seiner publizistischen oppositionellen Tätigkeit in seinem Heimatland verfolgt wurde, hier Asyl gefunden hat und wegen der Fortsetzung dieser publizistischen Tätigkeit in der Bundesrepublik Opfer einer gezielten Gewalttat wird, keine Opferentschädigung unter Berufung auf diesen § 2 bekommt, und wir wollen auch nicht, daß Bürgerkriegsopfern, wenn sie hier erneut Opfer von Gewalt werden, schwer zu leistende Beweislasten aufgebürdet werden.
Wir waren uns im Ausschuß einig, daß Opfer von internen Auseinandersetzungen krimineller Organisationen von Leistungen dieses Gesetzes ausgeschlossen sind, es sei denn, der Beweis des Gegenteils kann vom Antragsteller erbracht werden. Ich möchte das hier ausdrücklich sagen, damit die SPD keinen Mißdeutungen ausgesetzt wird.Die SPD hat durch einen Antrag eine Änderung des Bundesversorgungsgesetzes angeregt. Auch Kriegsopfer, die bisher durch die Regelungen des Bundesversorgungsgesetzes von Leistungen ausgeschlossen waren, sollten im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt werden. Es handelt sich dabei um deutschsprachige Juden aus den Ostgebieten und um NS-Verfolgte, die einen Entschädigungsanspruch in ihrem Heimatland verloren haben, weil sie in Deutschland leben oder die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben.Die CDU/CSU hat diesen Antrag abgelehnt, weil sie die Auswirkungen dieser Änderung des Bundesversorgungsgesetzes sorgfältig prüfen will. Wir haben dafür Verständnis. Wir werden aber diesen Antrag erneut einbringen.Wir freuen uns, daß durch die Festlegung des Termins des Inkrafttretens dieses Gesetzes am 1. Juli 1990 Petitionen, die dem Ausschuß zur Entscheidung vorlagen, positiv entschieden werden können.Insgesamt liegt also nach den Ausschußberatungen nun ein Ergebnis vor, das im Interesse der bei uns lebenden Ausländer, aber auch im Interesse des Ansehens der Bundesrepublik als eines Landes der guten Nachbarschaft mit ausländischen Mitbürgern und Gästen mit breiter Mehrheit zugestimmt werden kann, ja zugestimmt werden muß.Leider haben sich die bayerische Staatsregierung und, wie es bei den Abstimmungen im Ausschuß erkennbar, die CSU-Abgeordneten und ihre Freunde in der CDU aus diesem Konsens ausgeschlossen. Die bayerische Staatsregierung hat im Bundesrat dagegen gestimmt, und die CSU-Abgeordneten und ihre CDU-Freunde haben bei der Abstimmung im Ausschuß nur leere Stühle hinterlassen.
Ich finde es beschämend, daß dieses vergleichsweise kleine Signal, Herr Dr. Ramsauer, an die Opfer von Hünxe und Mölln, von Hoyerswerda und Solingen und leider viele andere von Vertretern der CSU — da frage ich mich, ob das christlich-sozial heißt — abgelehnt wird. Ich hätte erwartet, daß der neue bayerische Ministerpräsident oder der CSU-Vorsitzende Waigel dafür sorgen, daß Bayern nicht dadurch ins Zwielicht gerät, daß es ausländischen Opfern von Gewalttaten Leistungen nach diesem Opferentschädigungsgesetz verweigert.
Aber vielleicht — ich habe allerdings keine so großen Hoffnungen nach Ihren Zwischenrufen — nutzt noch ein Vertreter oder eine Vertreterin der CSU die Debatte zu einer eindeutigen positiven Stellungnahme zu dieser Änderung des Opferentschädigungsgesetzes.Die SPD-Bundestagsfraktion wird wie alle sozialdemokratisch geführten Lander in Kontinuität ihrer Anträge von 1984 und vom März dieses Jahres dieser Änderung des Gesetzes zustimmen.Ich danke Ihnen.
Nun spricht die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Frau Präsidentin! Meine Kollegen! Meine Kolleginnen! Der Hintergrund, vor dem wir heute diese Gesetzesnovelle verabschieden, ist bedrückend genug, und darum ist Eile geboten.Aber ich kann mit Befriedigung feststellen, daß die Bundesregierung ein Gesetz vorgelegt hat, das unse-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14187
Cornelia Schmalz-Jacobsenrem gemeinsamen Anspruch, ein sozialer Rechtsstaat zu sein, gerecht wird.
In der Begründung des Opferentschädigungsgesetzes heißt es:Wenn es der staatlichen Gemeinschaft trotz ihrer Anstrengungen zur Verbrechensverhütung nicht gelingt, Gewalttaten völlig zu verhindern, so muß sie wenigstens für die Opfer dieser Straftaten einstehen.Bisher war die große Mehrheit aller in der Bundesrepublik lebenden Ausländer ausgeschlossen, und zwar ohne Rücksicht darauf, wie viele Jahre sie schon bei uns gelebt und — ich sage das in Klammern — gezahlt haben. Daß mit dieser Novelle auf die Gegenseitigkeit verzichtet wird, das ist richtig, das ist angemessen; aber ich will auch sagen: Es ist beispielhaft.
Durch die vorliegende Änderung sind nun alle Ausländer, die seit mindestens drei Jahren rechtmäßig hier leben, deutschen wie auch EG-Staatsbürgern gleichgestellt. Auch diejenigen, die sich erst kürzere Zeit bei uns aufhalten, fallen nicht durch die Maschen, sondern erhalten Entschädigungsleistungen. Hier ist nun endlich die Grundlage für klare Rechtsansprüche geschaffen worden.
Das ist wichtig, denn allein mit Ermessen kann man wenig tun.Aber es bleibt hier dankenswerterweise auch noch ein Raum für besondere Härtefälle bestehen. Das ist deswegen wichtig, weil man nicht jeden Einzelfall in einem Gesetz völlig abdecken kann.Es ist richtig, daß das Gesetz rückwirkend gilt, seit dem 1. Juli 1990, denn damit kann nun den armen Opfern von Gewalttaten — ich denke hier z. B. an die kleinen Mädchen aus Hünxe — Hilfe und Fürsorge nicht länger verweigert werden. Sie bekommen jetzt die Hilfe, die sie brauchen.Ich muß sagen: Ich werde erleichert sein, wenn wir heute das neue Opferentschädigungsgesetz beschlossen haben werden. Aber ich möchte auch hervorheben, daß wir es hier mit einer sehr großzügigen Regelung zu tun haben, die ihresgleichen nicht finden wird.
Herr Bundesminister Blüm, ich danke Ihnen ganz ausdrücklich dafür.
Es steht uns gut an, daß wir das machen, weil wir nämlich auf diese Weise Verantwortung für alle Opfer übernehmen. Aber wir müssen uns mit diesem Gesetz auch nicht verstecken.Zwei Bemerkungen möchte ich anschließen, die von unserer Seite, der F.D.P.-Fraktion, bereits angekündigt worden sind. Zum einen hat der Weiße Ring, eine sehr erfahrene Organisation, wenn es um die Opferentschädigung geht, Zweifel angemeldet, ob das Gesetz wirklich handhabbar sei. Die F.D.P.-Fraktion wird nach einigen Monaten überprüfen, ob es am Ende für die Antragsteller zu schwer verständlich und zu kompliziert für die Verwaltung ist. Das möchten wir gern wissen.Meine zweite Bemerkung: Wir halten es für angezeigt — natürlich völlig unabhängig von dem, was wir hier heute beschließen —, nach Wegen zu suchen, um deutschen Opfern von Gewalt, die im Ausland zu Schaden gekommen sind, mit Opfern im Inland gleichzustellen.
Wie gesagt, das hat hiermit nichts zu tun; aber wir möchten das gern geprüft wissen.Alles in allem: Es ist gut, daß wir heute diesen Beschluß fassen. Es ist ein kleines Signal, aber es ist doch ein deutliches Signal, daß wir Verantwortung übernehmen.Danke schön.
Nun spricht die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch während der Trauerfeierlichkeiten für die Opfer von Solingen diskutiert die CSU ihre Blockade gegen eine Entschädigung für die Opfer rassistischer Angriffe. Wer wie Kollege Geis hier in der zweiten und der dritten Lesung zur Grundgesetzänderung von einem „Naturrecht" auf Widerstand gegen „Überfremdung" spricht, kann nicht ernsthaft für eine Änderung des Gesetzes eintreten.Kennzeichnend für die Atmosphäre in der Bundesrepublik ist, daß diese Regierung zu keiner großzügigen Geste der Humanität und der Solidarität bereit ist. Noch angesichts einer ständig wachsenden Liste von Brandanschlägen, Überfällen und Morden wird Pfennigfuchserei betrieben.
— Ich war im Innenausschuß dabei, während Sie parallel im anderen Ausschuß getagt haben, und ich habe diese Kritik auch dort vorgetragen.Potentielle Opfer des Rassismus, der inzwischen blindlings gegen Flüchtlinge, Asylbewerber, Immigranten zuschlägt, werden wieder klassifiziert und sortiert.Vorgelegt wurde ein gesetzliches Regelwerk, in dessen bürokratischem Gestrüpp noch viele Ansprüche der Opfer hängenbleiben. Nach einer strengen gesetzlichen Rangordnung nach Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsstatus und Verwandtschaftsgrad ist die Entschädigung differenziert.
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Ulla JelpkeNicht vergessen wurde die Möglichkeit, Entschädigungsansprüche zu umgehen, indem die Schädigung als Folge politischer Betätigung der Opfer ausgegeben werden kann. Das Opfer hat den Nachweis zu erbringen, daß dies nicht der Fall war.Der Zynismus dieser Konzeption einer Opferentschädigung wird an der Härtefallregelung für diejenigen besonders deutlich, die auf Grund ihrer Aufenthaltsdauer eigentlich keine Ansprüche hätten. Als Gnadenakt können einmalige Zuwendungen gezahlt werden, allerdings nur unter beträchtlichen Einschränkungen. Hatte es im ursprünglichen Regierungsentwurf noch geheißen: „Eine besondere Härte liegt dann vor, wenn der Geschädigte mindestens schwerbeschädigt ist", heißt es jetzt in der Beschlußvorlage, daß der Antrag überhaupt erst geprüft wird, wenn Schwerbeschädigung vorliegt.Ich meine, der Bundestag sollte deutliche Signale setzen, daß er die andauernde Gefahr für Ausländer und Flüchtlinge in diesem Land erkannt hat. Das kann meines Erachtens nur heißen: Einrichtung einer von uns vorgeschlagenen Stiftung für die Opferentschädigung und umfassende gesetzliche Gleichstellung ausländischer Opfer mit Deutschen. Dem werden nur die Entwürfe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste, die heute ebenfalls zur Abstimmung vorliegen, gerecht.Danke.
Nun spricht die Kollegin Vera Wollenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Regierungsentwurf für die Entschädigung ausländischer Gewaltopfer und deren Hinterbliebenen ist in der von der Koalition und der SPD getragenen Ausschußfassung in mehrfacher Hinsicht völlig unzureichend.
Erstens. Ausgangspunkt der gesetzlichen Entschädigungsansprüche ist anerkanntermaßen der Umstand, daß der Staat Gewaltopfern im Einzelfall keinen Schutz gewähren konnte. Dazu paßt die Differenzierung des Leistungsumfangs nach der Dauer des Aufenthalts der Opfer in Deutschland überhaupt nicht.
Will die Bundesregierung, wenn morgen oder übermorgen erneut Ausländer von Neonazis überfallen und verletzt oder gar getötet werden, diesen oder ihren Angehörigen Entschädigungsansprüche ernsthaft z. B. mit der Begründung versagen, ihre Aufenthaltserlaubnis sei ja kurz zuvor abgelaufen oder sie seien nur wegen unzureichender Papiere noch nicht aus diesem gefährlichen Land abgeschoben worden?
Zweitens. Wer noch nicht drei Jahre legal hier ist, soll nur Ersatz von Heilbehandlungs- und Rehabilitationskosten erhalten, nicht aber Rente oder Schadens-ausgleich wie Deutsche. Damit sind die meisten Asylbewerber ausgeschlossen, deren Unterkünfte in der Vergangenheit bevorzugtes Ziel gefährlicher Angriffe waren.
Drittens. Wer grundsätzlich laufende Zahlungen beanspruchen könnte, soll diesen Anspruch verlieren, wenn er für sechs oder mehr Monate dieses Land verläßt, etwa aus Angst nach der Gewalttat oder einfach, weil ein vorläufiges Bleiberecht ausläuft. Der Weiße Ring hat diese Regelung mit Recht kritisiert.
Viertens. Wer keinen Entschädigungsanspruch hat, kann auf dem Gnadenweg mit persönlicher Zustimmung des Bundesarbeitsministers trotzdem einige Leistungen erhalten, wenn eine besondere Härte vorliegt. Wann das geschehen könnte, sagt das Gesetz leider nicht. Der Entwurf läßt keinen Raum für die Hoffnung, dies sei wenigstens dann der Fall, wenn das Opfer durch die Tat schwerbeschädigt ist.
Fünftens. Von Entschädigungsansprüchen soll auf Druck der CSU nun ausgeschlossen sein, wer nach der Definition seines Heimat- oder Verfolgerlandes an politischen bzw. kriegerischen Auseinandersetzungen aktiv beteiligt war oder einer Organisation angehört hat, die Gewalttaten begeht. Genau dies trifft aber auf viele Asylbewerber, politisch Oppositionelle, Flüchtlinge z. B. aus Ex-Jugoslawien, Ex-Mitglieder des ANC oder der OAS und sogar auf jüdische Anhänger von Begins früherer Untergrundbewegung zu.
Wenn dann von den Opfern ein Beweis verlangt wird, daß die Gewalttat in keinem Zusammenhang mit ihrer Biographie steht, ist dies pervers, besonders wenn die Polizei die wirklichen Täter nicht ermitteln kann.
Sechstens. Entschädigungszahlungen dürfen den Opfern nicht sogleich wieder von anderen Sozialleistungen abgezogen werden, sonst gerät die heutige Novelle zum Nullsummenspiel, was einer Verhöhnung der Opfer gleichkommen könnte. Der Regierungsentwurf sieht bereits eine entsprechende Entlastung der öffentlichen Haushalte „in nicht schätzbarer Höhe" vor. Daher muß — wie nach Art. 2 des Entwurfs meiner Gruppe — ein echter Schadensausgleich für Gewaltopfer sichergestellt werden.
Siebtens. Nicht zuletzt erinnere ich Sie, Herr Minister Blüm und liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen, an die 13jährige Gülestan Öztürk, die in Solingen verbrannt ist, wo sie ihre Tante und ihren Onkel, Cousinen und Cousins besuchte. Wollen Sie hier — noch nicht einmal vier Wochen nach der Tat — ernstlich eine Regelung vornehmen und verabschieden, die Gülestan Öztürk bzw. ihren Hinterbliebenen jeden Entschädigungsanspruch verweigert, nur weil sie — nach dem engherzigen Regierungsentwurf — die „falschen" Verwandten besucht hat?
Ich denke, das darf nicht geschehen und sollte nach den hier von allen formulierten Ansprüchen nicht sein. Ich bitte Sie deshalb herzlich, zur Vermeidung dessen der Beschlußempfehlung unserer Gruppe zuzustimmen.
Vielen Dank.
Nun spricht Herr Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14189
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will am Schluß dieser Debatte ganz klar feststellen: Für mich ist das Gesetz eine humanitäre und rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Ich meine, die Erfindung des Rechtsstaats bestand darin, daß er die Gewalt monopolisiert hat und damit auch die Verpflichtung eingegangen ist, seine Bürger vor Gewalt zu schützen.
Wenn er das nicht kann, muß er entschädigen. Diesen Schutz hat er allen Menschen zu gewähren, die bei ihm leben, ohne Rücksicht auf Staatsbürgerschaft, Hautfarbe, Sprache, Religion.
Richtig ist, daß wir diejenigen, die bei uns leben, nicht unterschiedlich behandeln, daß wir unsere ausländischen Mitbürger nicht anders behandeln als deutsche Opfer. Das gilt auch für die in Frage stehenden Regelungen, die Sie, Frau Wollenberger, gerade für die Solinger Opfer beschrieben haben.
Ich finde, daß die bisherige Regelung insofern unbefriedigend war, als sie das Gebot der Gegenseitigkeit zur Leistungsvoraussetzung machte und nur für EG-Staatsangehörige Ausnahmen vorsah. Ich bin zwar nach wie vor ein Anhänger der Auffassung, daß wir auf Gegenseitigkeit drängen müssen. Aber was kann ein ausländischer Mitbürger dafür, daß sein Land diese Gegenseitigkeit nicht gewährt? Insofern muß man diesen Hinderungsgrund überspringen.
Ich finde es auch richtig, daß wir durch das Gesetz einerseits Rechtsansprüche gewähren. Es handelt sich dabei nicht um einen Akt obrigkeitlicher Huld, sondern es geht um Rechtsansprüche, wie bei den deutschen Staatsangehörigen.
Andererseits ist die Regelung der Härtefälle einzubauen. Ich glaube nämlich, es wird immer einen Fall mehr geben, als sich der Gesetzgeber ausgedacht hat. Deshalb finde ich diese Kombination zwischen einem gesicherten Rechtsanspruch auf der einen Seite und der Härtefallregelung, die dem Ermessen entspricht, auf der anderen Seite richtig.
Noch wichtiger als das Opferentschädigungsgesetz ist — darin stimmen wir überein —, Opfer zu verhindern. Es ist nur die Antwort auf Taten, für die wir uns schämen müssen. Insofern kommt die Opferverhinderung vor der Opferentschädigung. Ich fände es gut, wenn wir für dieses Gesetz eine breite Mehrheit bekämen. Ich glaube, das wäre über das Gesetz hinaus ein Zeichen unseres Willens zur Solidarität und zum Schutz unserer ausländischen Mitbürger.
Wir dürfen uns damit allerdings nicht zufriedengeben. Wir dürfen auch nicht nur auf den Gesetzgeber warten, wenn es gilt, unsere Nachbarn, unsere Arbeitskollegen, unsere ausländischen Kinder zu schützen und ihnen hier eine Heimat zu geben.
Ich meine, bei der Verabschiedung dieses Gesetzes sollte nicht vergessen werden: Es regelt lediglich den materiellen Teil der Entschädigung. Das ist aber nicht alles, was wir zu diesem Thema beizutragen haben. Dennoch danke ich dem Deutschen Bundestag dafür, daß er heute ein so wichtiges Gesetz mit, wie ich hoffe, breiter Mehrheit beschließt, als ein Zeichen, das über die gesetzlichen Leistungen hinausgeht, als ein Zeichen unseres Willens zur Integration.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende der Aussprache.Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten auf den Drucksachen 12/4889, 12/4991 und 12/5182. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? —Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit bei wenigen Enthaltungen und einer Gegenstimme angenommen.Damit kommen wir zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit großer Mehrheit bei 2 Gegenstimmen und 2 Enthaltungen angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5182 empfiehlt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, die Gesetzentwürfe der Fraktion der SPD, der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe PDS/Linke Liste auf den Drucksachen 12/4611, 12/4348 und 12/4297 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuß schließlich die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 16a bis 16j auf:Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — §§ 44, 69b StGB —
— Drucksache 12/5053 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Verkehrb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über den Auto-
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14190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidtbahnzusammenschluß und den Bau von Grenzabfertigungsanlagen für den neuen Grenzübergang im Raum Görlitz und Zgorzelec— Drucksache 12/5090 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr Auswärtiger AusschußFinanzausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bolivien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/5192 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Auswärtiger Ausschußd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Januar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Costa Rica zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/5193 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Auswärtiger Ausschuße) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/5194 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Auswärtiger Ausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Dezember 1992 zu dem Abkommen vom 11. August 197 1 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/5195 —Überweisungsvorschlag:Finanzausschuß Auswärtiger AusschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GO Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes— Drucksache 12/4869 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußAusschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschaftg) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tierschutzbericht 1993"Bericht über den Stand der Entwicklung des Tierschutzes"— Drucksache 12/4242 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für GesundheitAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und Wissenschafti) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments— Drucksache 12/4733 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
EG-AusschußAusschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungInnenausschußAusschuß für Wirtschaftj) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes— Drucksache 12/5230 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Auswärtiger AusschußRechtsausschußEG-AusschußDabei handelt es sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 17a bis 17 k auf:Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14191
Vizepräsidentin Renate Schmidtten Entwurfs eines Gesetzes fiber den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu den Übereinkommen vom 23. Oktober 1991 fiber Kambodscha— Drucksache 12/4469 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuß)
— Drucksache 12/5118 — Berichterstattung:Abgeordnete Karl Lamers Volker Neumann Ulrich Irmerb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Konstitution und der Konvention der Internationalen Fernmeldeunion vom 30. Juni 1989— Drucksache 12/4134 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Post und Telekommunikation
— Drucksache 12/5122 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Bernd Protzner Arne Börnsen
Jürgen Timmc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu der Unterrichtung durch die BundesregierungGrünbuch fiber die Entwicklung des Binnenmarktes für Postdienste— Drucksachen 12/3317 Nr. 2.6, 12/3328, 12/5123 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Bernd ProtznerPeter PaternaJürgen Timmd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPDAusländerbeauftragte— Drucksachen 12/1357, 12/4366 — Berichterstattung:Abgeordneter Volker Kaudere) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPDDiplomatische Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit den neuen Staaten in Ost- und Südosteuropa— Drucksachen 12/2233, 12/5117 — Berichterstattung:Abgeordnete Klaus Francke Karsten D. Voigt (Frankfurt)Ulrich Irmerf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Vierundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung -- Drucksachen 12/4746, 12/5159 — Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmanng) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Siebenundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/4745, 12/5160 — Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmannh) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Einhunderteinundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste— Drucksachen 12/4677, 12/5161 — Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Uwe Jensi) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Siegfried Vergin, Dr. Egon Jüttner und weiterer AbgeordneterBeendigung der Nutzung des Standortübungsplatzes Viernheimer/Lampertheimer Wald in Hessen/Baden-Württemberg— Drucksachen 12/3227, 12/5119 — Berichterstattung:Abgeordnete Wilfried Böhm Karsten D. Voigt (Frankfurt)Dr. Olaf Feldmann
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14192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Vizepräsidentin Renate Schmidtj) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 107 zu Petitionen — Drucksache 12/5149 —k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 108 zu Petitionen — Drucksache 12/5150 —Dabei handelt es sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Zuerst kommen wir zu Tagesordnungspunkt 17 a und damit zur zweiten Beratung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Beitritt zu den Übereinkommen über Kambodscha auf der Drucksache 12/4469. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5118, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 17b. Dabei handelt es sich um die zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Internationalen Fernmeldeunion auf der Drucksache 12/4134. Der Ausschuß für Post und Telekommunikation empfiehlt auf Drucksache 12/5122, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist auch dieser Gesetzentwurf bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 17c. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation zum Grünbuch über die Entwicklung des Binnenmarktes für Postdienste auf Drucksache 12/5123. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 17d. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Amt der Ausländerbeauftragten. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4366, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1357 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit bei einer Stimmenthaltung mit Mehrheit angenommen.Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 17e. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu den diplomatischen Beziehungen mit den neuen Staaten in Ost- und Südosteuropa. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5117, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2233 unverändert anzunehmen.
— Sensationen bahnen sich an.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen dann zum Tagesordnungspunkt 17f bis 17h. Dabei handelt es sich um drei Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zu Änderungsverordnungen zur Ausfuhrliste, zur Außenwirtschaftsverordnung und zur Einfuhrliste. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.Wer stimmt für diese drei Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung und bei einigen Nichtbeteiligungen an der Abstimmung sind die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 17i. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Siegfried Vergin, Dr. Egon Jüttner und weiterer Abgeordneter zur Beendigung der Nutzung des Standortübungsplatzes Viernheimer/Lampertheimer Wald auf der Drucksache 12/3227. Ich hoffe, Sie wissen alle, wo das liegt. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5119 die Annahme des Antrags in der Ausschußfassung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 17j und 17k. Dabei handelt es sich um Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/5149 und 12/5150. Es sind die Sammelübersichten 107 und 108. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Wiederum bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Fragestunde— Drucksache 12/5188 —Wir kommen mit unveränderter Geschwindigkeit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.Wir kommen zur ersten zu beantwortenden Frage, nämlich der Frage 22 des Kollegen Ortwin Lowack:Wie kommt die Bundesregierung eigentlich dazu, die tüchtigen Menschen auf Taiwan und die hervorragende Entwicklung des Landes zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild zu diffamieren, indem sie den Taiwan-Chinesen, die niemals zum kommunistischen Festland gehörten, eine „Ein-China-Doktrin" aufzwingen will?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14193
Herr Kollege Lowack, die deutsche EinChina-Politik entspricht der von der Mehrheit der Völkergemeinschaft akzeptierten Völkerrechtslage. Unter anderem vertritt nicht nur die Volksrepublik China, sondern auch Taiwan offiziell eine Ein-ChinaPolitik.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Hochverehrte Frau Staatsministerin, ist der Bundesregierung eigentlich noch bewußt oder bekannt, daß bei der Entscheidung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik China im Oktober 1972 nicht von der Exklusivität der Kontakte — gerade im Gegenteil z. B. zur Vereinbarung zwischen Großbritannien und Rotchina — gesprochen wurde, so daß im Grunde genommen die derzeitige Politik der Bundesregierung ausschließlich einem Akt der Selbstbindung entspricht?
Herr Kollege Lowack, ich habe Ihre Frage zum Teil akustisch nicht verstanden, aber ich möchte betonen, daß weder Peking noch Taipeh eine Zwei-Staaten-Theorie vertreten. Insofern ist kein Anlaß geboten, von dieser Position zur Zeit abzurücken.
Eine zweite Zusatzfrage, Kollege Lowack.
Ich werde etwas lauter sprechen, damit das akustisch besser ankommt.
Hochzuverehrende Frau Kollegin, liebe Frau Staatsministerin, ist der Bundesregierung eigentlich bekannt, daß diese Ein-Staaten-Theorie, die noch immer vertreten wird — aber nicht mehr von einer breiten Bevölkerungsmehrheit auf Taiwan —, damit zusammenhängt, daß Peking angedroht hat, daß es der Casus belli wäre, wenn denn Taiwan auf eine andere Idee käme? Ist denn die Haltung der Bundesregierung so zu verstehen, daß die Perspektive, mit Hilfe Pekings und von seinen Gnaden Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, sämtliche ethischen Grundsätze und auch wichtige wirtschaftliche überspielt?
Herr Kollege Lowack, Ihre Eingangsformel habe ich übrigens beim erstenmal schon verstanden. Sie können vielleicht beim nächsten Mal eine etwas gelassenere Anrede verwenden.
Die Frage der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist in mehreren Äußerungen des Außenministers und des Herrn Bundeskanzlers in letzter Zeit ausführlich dargestellt worden. Wir werden es zu gegebener Zeit auch mit den Mitgliedern des Sicherheitsrates diskutieren. Die Frage stellt sich heute hier nicht.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lüder.
Frau Staatsministerin, beinhaltet die Doktrin der Ein-China-Politik auch eine Anerkennung der inneren und demokratischen Legitimation des Regimes?
Herr Kollege Lüder, über den Komplex China, Menschenrechte und dergleichen, ist in diesem Haus seit langer Zeit und sehr intensiv geredet worden. An der Position der Bundesregierung, insbesondere des Bundesministers des Auswärtigen, gibt es wohl wirklich keinen Zweifel. Er hat das mehrfach und sehr ausführlich an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht.
Herr Kollege Lüder, auf eine Frage kann ich keine zwei Zusatzfragen zulassen, auch wenn ich gerne möchte, weil ich Sie gerne mag.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kübler, den ich natürlich auch mag.
Frau Staatsminsterin, kann ich Ihren Erläuterungen entnehmen, daß die Bundesregierung in der Tat Überlegungen anstellt, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschlußreif sind?
Die Frage in bezug auf eine Zwei-China-Theorie stellt sich — ich muß es leider sagen — zur Zeit nicht, Herr Kollege.
Wir kommen jetzt zu Frage 23 des Kollegen Dr. Klaus Kübler:
Welche Haltung hat die Bundesregierung zu der Ausladung des Dalai-Lama aus dem offiziellen Programm der VN-Weltmenschenrechtskonferenz in Wien, die auf Intervention und Druck Chinas erfolgt ist, eingenommen?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Herr Kollege Dr. Kübler, der Dalai-Lama — dies ist zunächst einmal festzustellen — wurde nicht ausgeladen. Der Generalsekretär der Weltmenschenrechtskonferenz hat es jedoch abgelehnt, den zu einer Veranstaltung der österreichischen Regierung mit Friedensnobelpreisträgern in Wien weilenden Dalai-Lama zu der Eröffnung der Konferenz einzuladen. Die Bundesregierung hat diese Entscheidung bedauert.
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14194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Staatsministerin Ursula Seiler-AlbringDie deutsche Delegation bei der Weltmenschenrechtskonferenz hat zusammen mit den übrigen EG-Partnern gegenüber dem Generalsekretär ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht mit dem Ziel, den Dalai-Lama einzuladen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kübler.
Nach mir vorliegenden Informationen war vorher durchaus eine Einladung an den Dalai-Lama ausgesprochen worden, im Rahmen von NGO-Veranstaltungen sprechen zu können. Ihren Äußerungen entnehme ich, daß dies nicht der Fall war. Kann ich nachfragen, ob Sie dies noch klären könnten?
Das werde ich gerne klären, Herr Kollege Kübler. Mir ist von einer anderen Situation in bezug auf die Einladung im Rahmen der Nobelpreisträger nichts bekannt. Ich gehe dem aber sehr gern nach und werde Sie entsprechend unterrichten.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Kübler.
Meine zweite Frage ist natürlich: Welches war der aktive Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, doch zu ermöglichen, daß der Dalai-Lama in bestimmter Weise zu Wort kommen konnte?
Herr Kollege, Sie haben ja an dieser Konferenz teilgenommen. Ihnen ist sicherlich nicht entgangen, daß sich die Bundesregierung gemeinsam mit den anderen Partnern innerhalb der Gemeinschaft und auch anderen Delegationen erfolgreich bemüht hat, dem Dalai-Lama die Teilnahme an einer NGO-Veranstaltung am 15. Juni 1993 im Veranstaltungsgebäude zu ermöglichen. Diese Einladung ist ergangen. Leider hat der Dalai-Lama davon keinen Gebrauch gemacht. Er hat, wenn ich richtig unterrichtet bin, zur gleichen Zeit in der Hofburg an einer anderen Veranstaltung teilgenommen.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily.
Da ja das Auftreten des Dalai-Lama bei der Menschenrechtskonferenz sicherlich einen Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China in Tibet hat, ist meine Frage: Welche Bemühungen unternimmt die Bundesregierung eigentlich, um diesen Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu machen? Welchen Erfolg hatte sie, falls sie solche Bemühungen unternommen hat?
Herr Kollege Schily, ich habe eben dem Kollegen Lüder schon gesagt, daß die Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen, zur Lage der Menschenrechte in China insgesamt sehr eindeutig und nachdrücklich
Stellung genommen hat. Wir werden dies weiterhin im Bundestag darstellen und auch bilateral keine Gelegenheit vorbeigehen lassen, dies unseren chinesischen Partnern im Dialog zu vermitteln.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Ortwin Lowack.
Liebe Kollegin — ich hoffe, daß Sie mit dieser bescheidenen Anrede zufrieden sein werden — —
— Sehr verehrte Frau Staatsministerin — auf besonderen Wunsch des Kollegen Feilcke —,
gibt es über diese Verbalnoten hinaus irgendwo etwas mehr, was man eventuell im Umgang mit Peking einbringen könnte, um tatsächlich effektiv darauf hinzuwirken, daß Menschenrechtsverletzungen, wie sie auch hier angesprochen worden sind, unterbleiben?
Ich kann, sehr geehrter Herr Kollege Lowack, darauf verweisen, daß im Anschluß an den Besuch des Außenministers in der Volksrepublik China einige Veränderungen stattgefunden haben. Sie wissen, daß die Art und Weise des Dialogs, den der Außenminister geführt hat, in einigen Fällen zum Erfolg geführt hat. Wir werden in entsprechender Weise fortfahren, unsere Bemühungen vielleicht nicht im Vordergrund der Bühne, aber dort, wo sie möglicherweise effizienter sind, fortzusetzen.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Karl-Heinz Klejdzinski.
Dr. Karl-Heinz Klejdzinski: : Frau Staatsministerin, darf ich Sie fragen, ob es in bezug auf die Frage 23 eine Intervention der Volksrepublik China gegeben hat? In welcher Form hat die Bundesregierung darauf reagiert?
Herr Kollege Dr. Klejdzinski, es ist allen bekannt — man konnte es auch allen Medien entnehmen —, daß die Volksrepublik China hier einen gewissen Einfluß ausgeübt hat. Ich kann nur sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Zwölf und mit anderen Delegationen gemeinsam versucht hat, diese Situation zu ändern. Sie ist dabei nicht erfolgreich gewesen. Ich bedauere dies.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Lüder.
Frau Staatsministerin, da es ja nicht nur darum geht, Menschenrechtsverstöße zu verurteilen, sondern auch darum, zu registrieren, in welchen Teilen der Welt Menschenrechte akzeptiert werden, frage ich: Ist die Bundesregierung bereit, politisch Partei zu nehmen für die Teile oder den Staat oder das Völkerrechtssubjekt China, genannt Repu-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14195
Wolfgang Lüderblik China auf Taiwan, weil dort Menschenrechtsverstöße nicht mehr existieren?
Herr Kollege Lüder, die Bundesregierung steht nicht an, anzuerkennen, daß der Demokratisierungsprozeß auf Taiwan eine sehr erfreuliche Richtung angenommen hat.
Nun hat der Kollege Horst Kubatschka das Wort zu einer Zusatzfrage.
Frau Kollegin, hat es auf der Konferenz Kontakte zwischen der Bundesregierung und dem Dalai-Lama gegeben?
Wie mir gerade bestätigt wird, ist dies nicht bekannt. Ich werde dem aber nachgehen und für den Fall, daß es so etwas gegeben hat, Sie gerne unterrichten, Herr Kollege.
Wir kommen dennoch zur Frage 24 des Kollegen Dr. Eberhard Brecht:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die auf der jüngsten Konferenz in Genf deutlich gewordene ethnische Aufteilung Bosnien-Herzegowinas zu Lasten des moslemischen Bevölkerungsteils einer faktischen Anerkennung der Eroberungs- und Vertreibungspolitik der stärkeren Kroaten und Serben gleichkommt, und welche Schritte gedenkt sie zu unternehmen, um den bosnischen Moslems über Appelle und humanitäre Hilfe hinaus wirksam helfen zu können?
Herr Kollege Dr. Brecht, von serbischer und kroatischer Seite wurden in Genf zuletzt Vorschläge zur Aufteilung der Republik Bosnien-Herzegowina gemacht, die für den Fall ihrer Umsetzung die faktische Anerkennung der Eroberungs- und Vertreibungspolitik der militärisch Überlegenen bedeuten würde.
Die Bundesregierung betrachtet diese Vorschläge nicht als für die internationale Gemeinschaft verbindlich. Die Bundesregierung setzt gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft weiter auf die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas. Auch angesichts der sich ständig verändernden Lage vor Ort ist das letzte Wort für eine dauerhafte Konfliktlösung nicht gesprochen. Vordringlich ist ein umgehender dauerhafter Waffenstillstand zur Sicherung des physischen und politischen Überlebens der Moslems.
Der Europäische Rat hat gestern diese Ziele noch einmal bekräftigt. Er hat darüber hinaus klargestellt, daß eine Diktatlösung von seiten der Serben und der Kroaten zu Lasten der Moslems nicht akzeptiert wird. Der Europäische Rat hält zudem an den Prinzipien der Londoner Konferenz fest: insbesondere an der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität von Bosnien-Herzegowina, der Unzulässigkeit territorialen Erwerbs durch Gewalt, der Notwendigkeit humanitärer Hilfe und der Verfolgung von Kriegsverbrechen.
Darüber hinaus wird die Bundesregierung auch weiterhin in den internationalen Gremien für die Belange der Regierung von Bosnien-Herzegowina und der bosnischen Moslems eintreten. In einer Situation wie der in Bosnien-Herzegowina würden wirksamere Hilfen die Bereitschaft voraussetzen, sich in derartigen Konfliktzonen notfalls auch militärisch zu engagieren.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Brecht.
Frau Staatsministerin, wie erklären Sie sich dann, daß der Außenminister unseres Landes davon gesprochen hat, daß er zähneknirschend die Anerkennung der zwischen Serben und Kroaten vereinbarten Aufteilung Bosniens anerkennen würde, obwohl sich die Konfliktparteien über den Grenzverlauf, die territorialen Garantien und den Schutz der Minderheitenrechte überhaupt noch nicht geeinigt haben und auch diese Anerkennung von niemandem eingeklagt wurde?
Herr Kollege, ich kann nicht bestätigen — wie Sie sagen —, daß der Außenminister Grenzen bereits anerkannt habe. Ich erinnere mich an entsprechende Äußerungen, in denen er seiner Besorgnis Ausdruck gegeben hat, daß es Entwicklungen geben könnte, die möglicherweise zu einer solchen Situation führen könnten. Aber das, was ich Ihnen soeben in der Beantwortung auf Ihre Frage geantwortet habe, ist die Position der Bundesregierung, wie sie auch gestern durch die Äußerung des Bundeskanzlers im Europäischen Rat in Kopenhagen noch einmal sehr deutlich zum Ausdruck gebracht wurde.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Brecht.
Frau Staatsministerin, Sie haben mich möglicherweise mißverstanden. Ich habe nicht davon gesprochen, daß der Außenminister den Grenzverlauf anerkannt habe, sondern davon, daß er in einem Interview gesagt hat, daß er zähneknirschend die Aufteilung von Bosnien-Herzegowina anerkennen würde. Dies steht im Widerspruch zu dem, was Sie jetzt gesagt haben. Können Sie das erklären?
Herr Kollege, ich bitte Sie, die Antwort, die ich Ihnen dazu soeben gegeben habe, als die Antwort zu akzeptieren, die ich Ihnen auf Ihre Frage geben konnte.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack.
Frau Staatsministerin, halten Sie es nicht für einen unglaublichen Vorgang, daß europäische Moslems, also Europäer, die in Bosnien ihre Heimat hatten, heute nach Pakistan in ein völlig unsicheres Schicksal verfrachtet werden, ohne von der Europäischen Gemeinschaft, überhaupt der
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14196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Ortwin Lowackwestlichen Wertegemeinschaft eine Hoffnung vermittelt zu bekommen?
Aber selbstverständlich, Herr Kollege Lowack. Ich glaube, über die Bewertung der Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien gibt es doch in diesem Haus überhaupt gar keinen Dissens. Es geht darum, die Instrumente zu finden, wie man diesem Schlachten und diesem Morden Einhalt gebieten kann.
Ich denke, daß das, was der Bundeskanzler und der Außenminister gestern gefordert haben — leider Gottes haben wir da keine Unterstützung bekommen —, nämlich an eine teilweise Aufhebung des Waffenembargos zu denken, eine Möglichkeit unter anderen gewesen ist. Dieses ist leider Gottes vom Kreis der anderen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft nicht so beurteilt worden.
Wir können sicherlich eines tun — das ist auch bereits gemacht worden; das wird zwar das unmittelbare Geschehen nicht beeinflussen, aber es wird möglicherweise denen, die vielleicht noch einen Rest von Verantwortung dort tragen, klarmachen, wie die Situation anschließend sein wird, und möglicherweise auf die Art und Weise dazu beitragen, daß der Konflikt doch eher beendet wird —, nämlich eindeutig zu erklären, daß die Bundesrepublik Deutschland — sie wird ihren entsprechenden Einfluß im Rahmen der Zwölf auch geltend machen — nicht bereit ist, territoriale Gewinne dadurch zu sanktionieren, daß sie nach Beendigung der Kampfhandlung zum Wiederaufbau dieser Gebiete beitragen wird.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Die Fragen 28 und 29 des Kollegen Dr. Erich Riedl werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 30 der Kollegin Dr. Christine Lucyga:
Wie hat sich die Bundesregierung vor der Entscheidung zum überhasteten Verkauf der Deutschen Seereederei an die Hamburger Rahe/Schües-Gruppe davon überzeugen können, daß das Unternehmenskonzept langfristig tragfähig, insbesondere die Finanzkraft der Investoren dauerhaft gesichert und der Erhalt von einheimischen Seearbeitsplätzen durch die von der Treuhandanstalt favorisierten Erwerber auch wirklich möglich ist, und wie will sie die in letzter Zeit von verschiedener Seite geäußerten Zweifel an der Bonität der Rahe/Schuess-Gruppe gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern entkräften?
Frau Kollegin Lucyga, von einem überhasteten Verkauf der Deutschen Seereederei kann nun wirklich keine Rede sein. Dem Verkauf an die Erwerber Rahe/Schües gingen monatelange Sanierungsgespräche und eingehende Kaufverhandlungen voraus. Die Entscheidung selbst ist auf der Grundlage paraphierter Verträge im Vorstand, im Verwaltungsrat und im Präsidium des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt ausführlich diskutiert worden.
Eine zusätzliche, in der Sache nicht gerechtfertigte Verzögerung der Privatisierungsentscheidung wäre angesichts der angespannten, durch hohe Verluste gekennzeichneten wirtschaftlichen Situation der DSR nicht zu vertreten gewesen. Auch mußte die zeitliche Befristung des Angebots bis zum 1. Juni 1993 der Erwerber Rahe und Schües berücksichtigt werden.
Der Kaufvertrag mit Rahe/Schües liegt dem BMF nun zur Genehmigung nach § 65 BHO vor. In die Prüfung nach § 65 sind u. a. die von Ihnen genannten Punkte — Tragfähigkeit des Konzepts und Finanzkraft der Erwerber — einbezogen. Die C &L Treuarbeit AG, die im Vorfeld der Privatisierung der DSR in die Prüfung der Angebote eingeschaltet war, bestätigt dem Rahe/Schües-Konzept ausdrücklich Tragfähigkeit unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, und zwar nicht zuletzt wegen des darin enthaltenen Diversifizierungselements. Auch die Bonität der Erwerber Rahe/Schües wurde von der Treuarbeit AG untersucht und als zweifelsfrei bestätigt.
Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen hat die Bundesregierung keinen Zweifel daran, daß mit dem Konzept von Rahe/Schües gute Voraussetzungen für den dauerhaften Erhalt möglichst vieler Arbeitsplätze — auch Arbeitsplätze auf Schiffen und Frauenarbeitsplätze — gegeben sind.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Lucyga.
Da Sie soeben von monatelangen Sondierungsgesprächen und anderem sprachen: Waren in diese Gespräche die jetzt von der Treuhand favorisierten Erwerber Rahe/Schües einbezogen? Wir hatten den Eindruck, daß sie sehr schnell auf der Bildfläche erschienen. Wie soll sichergestellt werden, daß das erhebliche materielle Vermögen der DSR wirklich für die Sanierung des Reedereibetriebes und für den Geschäftsbetrieb der DSR eingesetzt wird, damit dieser auch erhalten bleiben kann?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Sondierungsverhandlungen gehen zurück bis in den September vergangenen Jahres. Von den ursprünglich vier Interessenten kristallisierten sich zwei heraus, bei denen, wie soeben angedeutet, die Verhandlungen bis zu paraphierten Verträgen vorangetrieben wurden. Darunter waren Rahe und Schües. Die sind mit großer Intensität und Sorgfalt in allen Parametern gegeneinander abgewogen worden. Der Zuschlag ist nun einmal aus Sicht der Treuhandanstalt — mit Sicht auf die ausstehende Genehmigung durch uns; diesen Vorbehalt muß ich machen — für Rahe und Schües gefallen.Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage, zu einem Substanzverlust, den Sie besorgen: Solchen, nicht ausschließbaren Dingen ist in dem umfangreichen Vertragswerk vorgebeugt worden. Darin enthalten sind z. B.: keine Gewinnausschüttungen, keine Entnahmen, keine Darlehensgewährungen aus dem Vermögen der DSR bis Ende 1997.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14197
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann auch erklären, wie es sich mit der von der Käufergruppe einzubringenden Beteiligung verhält und wie vor allem garantiert worden ist, daß diese, von der Käufergruppe einzubringende Beteiligung auch vorher verlustfrei gestellt wird?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Bei dem Bieter Rahe/Schües gibt es, wenn ich es richtig sehe, nur verlustfreie Beteiligungen — das war bei anderen Mitbewerbern anders —, so daß sich so gesehen diese Frage nicht stellt.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Karl-Heinz Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Frage nach dem überhasteten Verkauf geantwortet, daß es nicht so sei, weil die Verträge paraphiert seien. Darf ich Sie fragen, ob Sie sich nicht vorstellen können, daß dies ein Argument ist, das die eigentliche Frage nicht beantwortet?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, aber ich will gern noch einige ergänzende Erklärungen abgeben, um den Zeitdruck zu belegen. Sie müssen sehen, daß die DSR im vergangenen Jahr 200 Millionen DM an Verlusten gemacht hat, und ich habe in der letzten Sitzung des Treuhandanstaltausschusses in der vergangenen Woche gelernt — wir haben uns ja stundenlang mit dieser Problematik befaßt —, daß auch im ersten Quartal 1993 schon wieder ein Verlust von 42 Millionen DM aufgelaufen ist. Das ist ein Moment, warum wir auf Beschleunigung drängen müssen, und das andere — das hatte ich allerdings erwähnt — ist, daß wir von Rahe/Schües ein auf den 1. Juni befristetes Angebot vorliegen hatten. Hätten wir diese Frist fruchtlos verstreichen lassen, hätten wir möglicherweise den Interessenten verloren. Das wäre nicht verantwortbar gewesen.
Nun eine Zusatzfrage der Kollegin Iris Gleicke.
Herr Staatssekretär, mich würde noch interessieren, wie denn sichergestellt wird, daß bei der Verschachtelung der Sparten der DSRHolding das Substanzvermögen der DSR nicht in erheblichem Umfang durch andere Unternehmensfelder beliehen oder aufgezehrt wird.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das Vertragswerk ist außerordentlich kompliziert, und deshalb habe ich auch je einem Vertreter der Fraktionen im Ausschuß angeboten, die Verträge bei uns im Hause einzusehen.
Der von Ihnen geäußerten Besorgnis ist sicherlich Rechnung getragen worden. So muß sich Rahe/ Schües verpflichten, 60 Schiffe mit einer Gesamttonnage, die in etwa dem derzeitigen Tonnagebestand von DSR entspricht, im Bestand zu behalten. Im übrigen sind von den vereinbarten Investitionen in der Größenordnung von etwa 1,1 Milliarden DM 550 Millionen DM fest vereinbart und pönalisiert. Diese verteilen sich in gleicher Weise auf alle Aktivitäten, auf die Schiffahrt wie auf die Touristikaktivitäten, die vorgesehen sind, wie auch auf die Immobilienaktivitäten, so daß im Kern sichergestellt ist, daß der Schiffahrtsverkehr, die eigentliche Aufgabe der DSR, auch in Zukunft sachgerecht von einem, wie wir hoffen, interessanten Wettbewerber auf dem schwierigen internationalen Markt gewährleistet sein wird.
Nun der Kollege Werner Schulz.
Herr Staatssekretär Grünewald, abgesehen davon, daß sich die Gewinnabschöpfung oder die Gewährung von Darlehen bei einem gegen Null tendierenden Vermögen der Deutschen Seereederei von selbst ergibt, werden denn für die Kreditzusage bzw. die Investitionszusage des Erwerbers Rahe/ Schües die Aktiva der Deutschen Seereederei als Versicherungsvermögen herangezogen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, die beiden Erwerber werden den Kaufpreis von 10 Millionen DM zu zahlen haben.
Bei den Investitionszusagen müssen Sie sehen, daß wir nach den Projektionen des erwerbenden Konzerns auch noch für 1993, 1994 und 1995 leider mit nachhaltigen Verlusten rechnen müssen. Der Break-evenpoint wird nach den Aussagen der Sachverständigen frühestens 1996 erreicht werden. Die zugesagten 200 Millionen DM an Zuschüssen — Sie sprechen ja jetzt mit Sicht auf diese 200 Millionen DM — werden selbstverständlich für notwendige Investitionsmaßnahmen im weiten Sinne gewährt und keineswegs etwa zur Abdeckung der Kaufpreiszahlung.
Nun Kollege Manfred Hampel, bitte.
Herr Staatssekretär Grünewald, ist sichergestellt, daß die zugesagten Investitionen überwiegend in den Schiffahrtsbetrieb der DSR einfließen und daß die nicht unerheblichen Investitionszuschüsse seitens der Treuhandanstalt ausschließlich den originären Geschäftsfeldern der DSR zugute kommen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Bei dem diversifizierten Unternehmenskonzept von Rahe/Schües geht das nicht. Ich habe gesagt: Es verteilt sich. Es verteilt sich auf Investitionen in Schiffe, auf Investitionen auf dem Lande und auf Investitionen im Touristikbereich. Ich kann nicht sagen, daß diese Investitionen überwiegend für die Schiffahrt gelten. Darauf kommt es uns auch gar nicht an; denn unser Interesse liegt ja gerade darin, in Mecklenburg-Vorpommern ein möglichst konkurrenzfähiges Unternehmen, weitgehend diversifiziert mit Arbeitsplätzen auf dem Wasser wie auf dem Lande, zu finden.
Nun eine Zusatzfrage vom Kollegen Otto Schily.
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14198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Herr Staatssekretär, halten Sie die in den Verträgen vorgesehenen Sanktionen bei Nichteinhaltung der Zusagen im Blick auf die Erfahrungen für ausreichend, die die Treuhandanstalt und indirekt das Bundesfinanzministerium mit der Nichteinhaltung von Zusagen in anderen Fällen gemacht haben?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, nach den jüngsten Erkenntnissen im Zusammenhang mit den Zusagen 1992, die Vizepräsident Brahms gerade gestern veröffentlicht hat, sind wir optimistisch. Über alles gesehen, sind die Zusagen sowohl mit Sicht auf die Investitionen wie auch auf die Zahl der Arbeitsplätze mehr als erfüllt worden; aber die Sorge, die sich hinter Ihrer Frage — auch in einem anderen, einem wesentlich verschlechterten konjunkturellen Umfeld — verbirgt, teilen wir natürlich. Man ist fast geneigt zu sagen: „Na ja, wenn der Himmel herunterfällt, sind die Spatzen tot!"; aber im Vertragswerk, Herr Schily, haben wir das so weit abgesichert wie nur eben möglich. Wir haben 2 225 Arbeitsplätze fest vereinbart. Davon sind allein für die Leute zur See 1 400 mit 3 000 DM pro Monat pönalisiert. Entsprechendes gilt auch für die eben erwähnten 550 Millionen DM Investitionskosten, die auch mit 25 % — wie es in diesen Verträgen üblich ist, wie es bei den Mitbewerbern auch gewesen wäre — pönalisiert worden sind.
Jetzt eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Hinrich Kuessner.
Herr Staatssekretär, wenn ich das im Treuhandausschuß richtig verstanden habe, betragen die Beteiligungen, die Rahe/Schües einbringt, 50 Millionen DM. Meine Frage lautet: Wird durch den Vertrag abgesichert, daß Rahe/Schües nicht Barmittel in diesem Wert oder in einem anderen Wert aus der DSR herausziehen kann? Wir haben ja erlebt, daß es durchaus Betriebe gibt, bei denen so etwas versucht worden ist.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuessner, das ist ein sehr komplizierter Fall. Ich darf versuchen, ihn verkürzt und vereinfacht darzustellen.
Rahe/Schües bezahlt, wie schon gesagt 10 Millionen DM als Kaufpreis und verpflichtet sich darüber hinaus, bei notwendig werdenden Liquiditätsbedürfnissen weitere 10 Millionen DM verfügbar zu machen. Rahe/Schües hält aber mittelbar und unmittelbar Beteiligungen an zwei Gesellschaften, die sie einbringt und an DSR verkaufen wird. Der Wert — der natürlich auf Grund von Bewertungsgutachten festgestellt werden muß — beläuft sich auf etwa 80 Millionen DM, und es ist vereinbart, daß diese 80 Millionen DM bis zum 15. Januar 1998 in der DSR verbleiben, es sei denn — mit Sicht auf einen Teilbetrag von 50 Millionen DM —, daß die einbringenden Gesellschafter, also die Verkäufer an die DSR, dafür Mittel für sich aus dem Beteiligungsverkauf ergebende steuerliche Verpflichtungen bis zu 50 Millionen DM entnehmen dürfen. Verkürzt und vereinfacht: Im Ergebnis bedeutet auch diese Transaktion eine zusätzliche Stärkung der Substanz/Liquidität von DSR.
Nun kommt Kollege Nils Diederich, aber ich habe die Bitte — das richtet sich eigentlich an die Vorhergehenden — kurze und präzise Fragen zu stellen und ebenso kurze Antworten zu geben, weil ändere auch noch etwas fragen wollen.
Ich werde mir Mühe geben, Frau Präsidentin. — Herr Staatssekretär, Sie haben über Investitionen gesprochen und dabei auch verschiedene Projekte erwähnt. Gibt es ein schlüssiges Konzept der Käufer für die geplanten Investitionen in den nächsten Jahren einschließlich der geplanten Bauvorhaben usw., und liegt dieses Konzept schriftlich und von Ihnen genehmigt vor?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Von uns genehmigt noch nicht. Das Konzept liegt selbstverständlich vor und war, was die Tragfähigkeit in der Marktwirtschaft anlangt, Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen u. a. der renommierten Prüfanstalt Treuarbeit. Sie hat die Tragfähigkeit dieses Konzepts ausdrücklich testiert.
Eine letzte Zusatzfrage der Kollegin Rennebach.
Herr Staatssekretär, Sie sagten, daß Ihnen an dem Schiffahrtsbereich der DSR nicht gelegen ist. Wir wissen, daß Hapag-Lloyd nicht daran interessiert ist, Konkurrenz zu haben. Wenn Sie sagen, daß Ihnen an Schiffahrt im Bereich der DSR nicht gelegen ist oder daß das keine große Rolle spielt, möchte ich Sie fragen: Hat der schnelle Umschwenk zu Rahe/Schües etwas damit zu tun, daß Sie HapagLloyd unterstützen wollen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich bitte um Entschuldigung, daß ich mich doch in großer Deutlichkeit dagegen verwahren muß, daß Sie mich dafür beanspruchen, daß ich den Schiffahrtsaktivitäten keine oder auch nur eine nachrangige Bedeutung beigemessen hätte. Ich habe darauf hingewiesen, daß über die Schiffahrtsaktivitäten hinaus in einem diversifizierten Unternehmenskonzept auch andere Aktivitäten angegangen werden, die im Grunde genommen für die Zukunft mit zur Tragfähigkeit des Konzepts gehören.
Weitere Zusatzfragen zu der Frage 30 liegen nicht vor. Wir kommen dann zur Frage 31 der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga:Wie begründet die Bundesregierung, daß angesichts der im Kaufvertrag zwischen der Treuhandanstalt und der Rahe/ Schües-Gruppe sehr niedrig ausgefallenen Poenale der Erhalt von Arbeitsplätzen für einheimische Seeleute und von Frauenarbeitsplätzen als gesichert angesehen werden kann, und wie will die Bundesregierung die diesbezüglichen, begründet geäußerten Zweifel und Ängste der Arbeitnehmer entkräften?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nach dem Kaufvertrag werden von Rahe/Schües bis Ende 1995 2 225 Arbeitsplätze garantiert. Diese Arbeitsplatzgarantie ist keineswegs sehr niedrig pönalisiert.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14199
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldIch habe ja eben schon darauf hingewiesen. Es konnte vielmehr eine Vertragsstrafenhöhe festgeschrieben werden, die auch bei anderen Kaufverträgen der Treuhandanstalt branchenübergreifend üblich ist. Auch die Angebote der Mitbewerber für die DSR respektive das Angebot des Bremer Vulkan wiesen keine höhere Vertragsstrafe für die Arbeitsplätze auf.Vertragsstrafen stellen im übrigen keine definitive Absicherung gegen einen Arbeitsplatzabbau dar. Im Hinblick auf den Arbeitsplatzerhalt kommt daher der Tragfähigkeit eines Unternehmenskonzepts um so größere Bedeutung zu. Die Tragfähigkeit des Konzepts von Rahe/Schües ist, wie bereits ausführlich dargelegt, ausdrücklich von der Treuarbeit bestätigt worden.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Lucyga.
Herr Staatssekretär, wie viele Arbeitsplätze von der eben genannten Summe entfallen auf den Bereich der ursprünglichen DSR? Wie viele Arbeitnehmer aus dem Bereich der Rahe/ Schües werden übernommen? Das war für mich nicht klar herauszuhören.
Eine weitere Frage: Sind in bezug auf die Investitionen, die ja Rahe/Schües entsprechend dem diversifizierten Konzept tätigen wollen, überhaupt in der Region entsprechende Vorklärungen erfolgt? Wenn ich an die Baumaßnahmen denke, dann staune ich doch, daß z. B. mit der Stadt Rostock, die dann ja immer mit im Boot sitzt, überhaupt keine Absprachen erfolgt sind und von ihr auch keine Zustimmung vorliegt.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich bin Gott sei Dank in der Lage, Ihre Frage sehr präzise zu beantworten. Es geht ja nur um zukünftige Arbeitsplätze bei der DSR. Hier sind 1 600 Arbeitsplätze für den Schiffverkehr, also auf See, davon 1 400 pönalisiert, 500 an Land und weitere 125 in sonstigen Bereichen vorgesehen.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Die Durchsetzung des Konzepts obliegt nicht der Treuhandanstalt und schon gar nicht uns als Aufsichtsbehörde. Das wird das Unternehmen selber zu leisten haben. Ich kann Ihnen nur sagen, daß im Vorfeld dieser umfänglichen Verhandlungen der Ministerpräsident, der Wirtschaftsminister, der Finanzminister, die Vorsitzenden der Fraktionen im mecklenburg-vorpommerschen Landtag, daß also wirklich alle Beteiligten bis ins Detail jeweils zeitgerecht informiert worden sind. Mehr ist einfach nicht zu leisten.
Eine zweite Zusatzfrage der Kollegin Lucyga.
Ist bei den eben angesprochenen 1 600 Seearbeitsplätzen garantiert, daß das Pönale hoch genug ist, um auch eine Ausflaggung nicht mehr attraktiv erscheinen zu lassen?
Ein zweiter Punkt: Ich vermisse immer noch den Anteil der Frauenarbeitsplätze; denn auch danach habe ich in der zweiten Frage gefragt. Es arbeiten 700 hochqualifizierte Frauen in der Seereederei. Ich wüßte gern, in welcher Form das Konzept auch diesem Umstand Rechnung trägt.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Bei den 1 400 mit 3 000 DM pro Monat nun wirklich hoch pönalisierten Arbeitsplätzen besteht mit Sicherheit nicht die Besorgnis, daß wegen einer Ausflaggung diese Zusage nicht eingehalten werden könnte.
Ich bin leider nicht imstande, eine konkrete Zahl zum Anteil der beschäftigten Frauen zu geben. Ich fürchte, das werde ich Ihnen auch nicht nachliefern können. Ich werde mich aber darum bemühen.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Iris Gleicke.
Herr Staatssekretär, mich würde noch einmal interessieren, wie denn die Treuhandanstalt sicherstellen wird, daß die Erfüllung des Vertrages und die Entwicklung des Unternehmens auch wirklich kontinuierlich begleitet werden und daß darauf geachtet wird, daß alle Zusagen eingehalten werden, um gegebenenfalls rasch eingreifen und entgegenwirken zu können. Das sollte auf bessere Weise ablaufen, als wir das in der Vergangenheit in ähnlich gelagerten Fällen erlebt haben.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Es wird besser als in der Vergangenheit ablaufen. Wir haben auf Betreiben des BMF das Vertragscontrolling bei der Treuhandanstalt umfänglich auf- und ausgebaut. Wir werden es noch weiter ausbauen, von zur Zeit 350 Mitarbeitern auf 500. Damit ist zukünftig sichergestellt, daß wir diese Verträge auch wirksam kontrollieren und begleiten können.
Die nächste Nachfrage kommt vom Kollegen Karl-Heinz Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Beantwortung der Fragen 30 und 31 inhaltlich gesagt, daß einheimische Arbeitsplätze dort gesichert werden, und Sie haben ausgeführt, daß 60 Schiffe weiterhin betrieben werden. Darf ich Sie sehr konkret fragen, ob von den 60 Schiffen, die weiterhin betrieben werden und auf denen einheimische Arbeitsplätze sind, kein einziges vertraglich so festgelegt ist, daß es nicht ausgeflaggt werden darf?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann mich nur wiederholen, Herr Kollege Klejdzinski: Ein Mindestbestand von 60 Schiffen mit einer Gesamttonnage, die der derzeitigen Tonnage der DSR entspricht, ist vertraglich vereinbart und pönalisiert. Das wird eingehalten; davon gehen wir aus. Ansonsten hätten wir ja die treuhandlichen Verträge nicht gemacht. Damit ist auch die Sicherung von Arbeitsplätzen vor Ort gewährleistet.
Ich würde es bei den jetzt angemeldeten Zusatzfragen belassen wollen, weil die anderen Kollegen zu Recht unruhig
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Vizepräsidentin Renate Schmidtwerden. Ich möchte bitten, daß wir versuchen, uns ein bißchen kürzer zu fassen,
auch wenn ich natürlich weiß, daß die jeweilige Frage für den, der sie stellt, immer die wichtigste ist.Die nächste Zusatzfrage kommt vom Kollegen Manfred Hampel.
Herr Staatssekretär Grünewald, Sie haben dem Treuhandausschuß gestattet, in Ihren Haus Einblick in die Verträge der DSR zu nehmen, und haben das hier eben noch einmal bekräftigt. Gilt das nur für die Verträge der DSR oder für alle für den Treuhandausschuß relevanten Fälle?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wir haben uns ja auch nach den Erfahrungen, die wir mit der Privatisierung durch die Elf-Aquitaine oder mit den Interhotels gemacht haben, bisher im Ausschuß immer dahingehend verständigen können, das auf Einzelfälle zu beschränken. Denn wo würden wir bei der weiteren notwendigen Privatisierung hinkommen, wenn wir alle Vertragswerke öffentlich draußen an die Bäume hängen würden? Ich meine, dieses Angebot, die Unterlagen durch je einen Beauftragten einsehen zu lassen, hat in der Vergangenheit gereicht, und es wird auch in der Zukunft reichen. Ansonsten besorge ich, daß Interessenten von ihrem Interesse Abstand nehmen werden.
Die nächste Zusatzfrage kommt vom Kollegen Werner Schulz.
Herr Staatssekretär, wann wird der Bundesfinanzminister zu einer abschließenden Entscheidung fiber die Privatisierung der Deutschen Seereederei kommen? Werden die im Vorfeld gestellten schriftlichen Fragen noch beantwortet?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Aus der eben dargelegten Dringlichkeit heraus sind wir bemüht, die notwendige Genehmigung so schnell wie nur eben möglich, noch vor der Sommerpause, zu erteilen. Alle Fragen, die wir ja stundenlang mit den Fachleuten und auch mit dem Anwalt erörtert haben, werden in unserem Genehmigungsverfahren Berücksichtigung finden, ebenso — wie von mir angeboten — die noch eingehenden schriftlichen Fragen. Sie werden selbstverständlich vorher auch noch beantwortet werden.
Zu einer letzten Zusatzfrage — das habe ich vorhin angekündigt — hat der Kollege Otto Schily das Wort.
Herr Staatssekretär, werden Sie in Ihre Überprüfung auch die Bewertung der veräußerten Anteile einbeziehen? Wird die Bereitschaft, den Vertretern des Treuhandausschusses Einblick in die Vertragswerke zu gewähren, auch möglicherweise vorhandene Bewertungsgutachten umfassen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Aber selbstverständlich. Soweit ich über das umfängliche Vertragswerk einen Überblick habe, sind diese Fragen der mittelbaren und unmittelbaren Beteiligung durch die Übernehmer schon im Vertragswerk enthalten.
Die Fragen 32 und 33 der Kollegin Rosemarie Priebus werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen — vielen Dank, Herr Staatssekretär — und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Kollegen Jürgen Augustinowitz auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Beitrag der Bundes-
wehr zum sogenannten „air-dropping" über Ostbosnien?
Herr Kollege Augustinowitz, eine Bitte der Regierung der USA vom 22. Februar 1993 entsprechend und weil wir der notleiden-den Bevölkerung in Ostbosnien wirksam helfen wollten, hat die Bundesregierung mit Kabinettsbeschluß vom 24. März 1993 den Vereinten Nationen die Beteiligung an der Versorgung der Menschen in Ostbosnien durch den Abwurf von Hilfsgütern aus der Luft, den sogenannten „air drop", angeboten.
Nach der Zustimmung der Vereinten Nationen beteiligt sich die deutsche Luftwaffe seit dem 28. März 1993 erfolgreich mit Lufttransportflugzeugen C 160 Transall an dieser humanitären Initiative. Mit bisher 74 deutschen Einsatzflügen wurden 381 Tonnen Nahrungsmittel und Medikamente über genau festgelegten Abwurfzonen in Ostbosnien abgesetzt. Nach der intensiven Ausbildung der Luftfahrzeugbesatzungen für das Absetzen der Hilfsgüter aus großer Höhe kann die Aufgabe, den Menschen in Ostbosnien zu helfen, durch unsere Besatzungen gut erfüllt werden. Das wird uns auch durch die positiven Rückmeldungen der Hilfsorganisationen vor Ort bestätigt.
Die Hilfsflüge sind eine eindrucksvolle Leistung, für die wir den daran beteiligten Soldaten zu großem Dank verpflichtet sind, zumal diese Einsätze nicht ungefährlich sind. Der UN-Generalsekretär hat die deutsche Teilnahme an diesem humanitären Einsatz ausdrücklich begrüßt.
Die Hilfe aus der Luft ist notwendig, weil eine Versorgung der notleidenden Bevölkerung in diesem Gebiet durch Landkonvois nicht oder nur punktuell möglich ist. Die Notsituation in Ostbosnien dauert, wie wir alle wissen, leider zur Zeit noch an. Wir werden uns deshalb weiterhin an der Hilfsaktion beteiligen. Die Bundesregierung beurteilt den Beitrag der Bundeswehr zum sogenannten „air-dropping" als außerordentlich wichtig und sinnvoll.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Eine kurze Zusatzfrage, Frau Staatssekretärin. Wie vielen Men-
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Jürgen Augustinowitzschen wird durch diese Aktion der Bundeswehr geholfen? Wie viele sind das ungefähr?
Wir können die Zahlen nicht mit Sicherheit feststellen. Wir wissen aber, daß die Ladungen ziemlich genau dort abgesetzt werden, wo sie hinkommen sollen, und daß sie dort sehr große Wirkungen haben, daß sie den Menschen wirklich helfen können und daß sie die Menschen auch tatsächlich erreichen, was bei den Konvois, die ja immer wieder gestoppt werden, leider nicht der Fall ist.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Wie viele Menschen sind denn in diesem Bereich eingeschlossen? Wie viele Menschen gibt es dort, die auf die Hilfe dringend angewiesen sind?
Ich kann Ihnen auch diese Zahl nicht nennen. Ich kann aber versuchen, sie herauszufinden, und werde sie Ihnen dann schriftlich mitteilen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir auch am Ende des Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe Frage 2 des Kollegen Joachim Tappe auf:
Wann gedenkt die Bundesregierung die bereits seit einem Jahr als Referentenentwurf vorliegende sogenannte „Sommersmogverordnung" angesichts der immer häufiger deutlich überschrittenen Grenzwerte bei der Ozonbelastung in bestimmten Regionen zu erlassen?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Tappe, die Bundesregierung bereitet den Erlaß einer Verordnung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes vor. Ich möchte an dieser Stelle zur Klarstellung des Ziels der geplanten Verordnung zunächst einen Hinweis geben: Es handelt sich hier nicht um eine spezielle Sommersmog-Verordnung; denn unter Sommersmog wird eine erhöhte, sehr großräumig auftretende bodennahe Ozonbelastung verstanden, wie sie unter bestimmten meteorologischen und topographischen Bedingungen im Sommer anzutreffen ist.
Solche Ozonbelastungen können mit dem Instrumentarium des § 40 Abs. 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes nicht wirkungsvoll bekämpft werden. Die Verordnung sieht deshalb ausdrücklich nicht die Messung von Ozon vor und regelt auch keine Maßnahmen bei erhöhten Ozonkonzentrationen. Sie dient der Festlegung von Konzentrationswerten für ausgewählte Luftverunreinigungen und der Verbesserung der Luftsituation in vom Verkehr belasteten Gebieten.
Durch die Reduzierung der Ozon-Vorläufersubstanzen aus dem Verkehrsbereich können Maßnahmen nach § 40 Abs. 2 jedoch unter bestimmten Bedingungen auch zu einer gewissen Absenkung der Ozonkonzentrationen führen.
Zur Zeit befindet sich der Verordnungsentwurf in der Ressortabstimmung. Der Kabinettsbeschluß wird unmittelbar nach Beendigung der Ressortabstimmung erfolgen. Ein Termin steht noch nicht fest.
Zusatzfrage, Herr Kollege Tappe.
Herr Staatssekretär, unabhängig davon darf ich fragen: Plant die Bundesregierung weitere gesetzliche Maßnahmen zur Reduzierung ozonverursachender Schadstoffe z. B. bei Kraftfahrzeugen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Zunächst müssen wir an dieser Stelle festhalten, daß natürlich die Verordnung nach § 40 Abs. 2, die demnächst, wenn die Ressortabstimmungen erfolgt sind, ins Bundeskabinett gehen soll, einen ganz wesentlichen Beitrag zur Reduzierung von verkehrsbedingten Schadstoffen leistet. Es handelt sich — das muß man an dieser Stelle noch einmal sagen — nicht nur um den Schadstoff NOx, sondern auch um das anerkannte Kanzerogen Benzol und auch um das Kanzerogen Ruß. Damit sind die drei Schadstoffe erfaßt, die hier entscheidend sind.
Eine zweite Zusatzfrage.
Denkt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch daran, anderen Emittenten Beschränkungen aufzuerlegen, beispielsweise in industriellen Feuerungs- oder Energieerzeugungsanlagen, die eine Region natürlich auch entsprechend belasten?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Tappe, hier verweise ich auf die Großfeuerungsanlagenverordnung und die damit im Zusammenhang stehende Technische Anleitung Luft. Sie werden vielleicht wissen, daß der Langzeitwert, der in dieser Verordnung nach § 40 Abs. 2 festgeschrieben ist, exakt den Bestimmungen der TA Luft beim NOx entspricht.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in welchem Zeithorizont ist denn mit dem endgültigen Erlaß zu rechnen? Sie kündigen diese Verordnung schon mehrere Jahre an, ohne daß sie endgültig erlassen worden ist, und zwingen dadurch die Länder und auch die Kommunen, in andere Maßnahmen zu gehen, ohne daß sie sich auf die Verordnung berufen können. Wann konkret ist denn damit zu rechnen?Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Caspers-Merk, die Straßenverkehrsbehörden können bereits jetzt nach § 40 Abs. 2 handeln. Die Handlungsgrenze wird allerdings durch diese Verord-
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14202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczoreknung näher festgelegt. Die Ressortabstimmung findet zur Zeit mit Termin 2. Juli statt. Wenn es keine weiteren Hindernisse oder Hürden bei der Ressortabstimmung gibt, wird diese Verordnung noch vor der parlamentarischen Sommerpause und dann natürlich auch vor der Sommerpause des Kabinetts verabschiedet.
Zusatzfrage des Kollegen Michael Müller.
Herr Staatssekretär, in der letzten Debatte des Bundestages zum Thema Sommersmog hat der Bundesumweltminister hier erklärt, daß verkehrsbedingte NOx-Emissionen nach dem letzten Bundesimmissionsschutzbericht gesunken seien. Es ist allerdings das Gegenteil der Fall. Sind Sie bereit, die Aussage des Bundesumweltministers hier zu korrigieren?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, wir haben uns im Umweltausschuß darüber ja unterhalten. Hier liegt wahrscheinlich ein Mißverständnis vor. Die Angaben, die der Bundesumweltminister hier gemacht hat, sind die aktuellen Angaben des Umweltbundesamtes.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Dann rufe ich die Frage 3 des Kollegen Tappe auf:
Unter welchen Voraussetzungen gibt die vorgesehene Smogverordnung den Kommunen und gegebenenfalls den Landkreisen eine rechtliche Grundlage, bei gefährlich hohen Ozonkonzentrationen ihre Innenstädte bzw. besonders stark belastete Regionen für den Autoverkehr zu sperren?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Tappe, in der geplanten Verordnung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 des Bundes-Immiossionsschutzgesetzes werden Konzentrationswerte für die verkehrsbedingten Luftverunreinigungen Stickstoffdioxid, Ruß und Benzol festgelegt. Bei Überschreitung der Konzentrationswerte müssen die zuständigen Behörden verkehrliche Maßnahmen prüfen. Die Durchführung der Maßnahmen ist in den besagten Paragraphen geregelt. Danach kann die zuständige Straßenverkehrsbehörde den Kraftfahrzeugverkehr auf bestimmten Straßen oder in bestimmten Gebieten unter Berücksichtigung der Verkehrsbedürfnisse und der städtebaulichen Belange nach Maßgabe der verkehrsrechtlichen Vorschriften beschränken oder auch verbieten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Tappe.
Herr Staatssekretär, ich komme aus einer Region, die auf Grund der topographischen Gegebenheiten schlecht entlüftet wird und auf Grund dieser Tatsache im deutschlandweiten Vergleich seit Wochen Ozonspitzenwerte aufweist; dies bezieht sich jetzt nicht nur auf Innenstädte. Inwieweit gibt die geplante Verordnung die Möglichkeit, einen etwas größeren Bereich als die Innenstadt dann für den Verkehr zu sperren?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Ich habe in der Beantwortung Ihrer Frage eben ausdrücklich benannt, daß wir Entscheidungen mit eng- und zum anderen mit weiträumiger Wirkung treffen können. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe bereits eine Richtlinie ausarbeitet, wie man für den Fall, daß diese Konzentrationswerte überschritten werden, handelt.
Eine zweite Zusatzfrage.
Wann ist mit dieser BundLänder-Absprache zu rechnen? Unsere Bevölkerung ist bei den gegenwärtigen Werten sehr starken Belastungen ausgesetzt.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Sobald die Verordnung im Kabinett verabschiedet ist und der Bundesrat zugestimmt hat, kann diese Richtlinie erlassen werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen.
Die Fragen 4 und 5 des Kollegen Klaus Harries aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation werden schriftlich beantwortet. Dasselbe gilt für Frage 6 des Kollegen Horst Kubatschka aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Forschung und Technologie und Frage 7 des Kollegen Dr. Klaus Kübler aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Frage 8 des Kollegen Ortwin Lowack aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb zur Verfügung. Ich rufe Frage 9 des Kollegen Ludwig Stiegler auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Wettbewerbssituation der deutschen feinkeramischen Industrie gegenüber den auf Währungsgefälle, Lohngefälle und Umweltgefälle beruhenden Wettbewerbsvorteilen von Wettbewerbern aus den ehemaligen Staatshandelsländern Mittel- und Osteuropas, und welche Möglichkeiten bilateraler und multilateraler Art sieht sie, die durch die Grenzöffnung verursachte massive Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten der deutschen Unternehmen zu beeinflussen?
Herr Kollege Stiegler, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Wie zahlreiche andere Industriezweige auch hat die deutsche feinkeramische Industrie in den Unternehmen der mittel- und osteuropäischen Staaten Wettbewerber, die auf Grund ihrer Kostenstruktur insbesondere eben im Bereich der Personalkosten gewisse Wettbewerbsvorteile haben. Andererseits kennen die meisten deutschen Unternehmen der feinkeramischen Industrie durch ihre jahrzehntelange sehr erfolgreiche Exporttätigkeit die Faktoren sehr genau, die zu beachten sind, um sich am Weltmarkt auch gegenüber Produzenten aus Staaten mit niedrigeren Produktionskosten erfolgreich durchsetzen zu können. Dieses Erfahrungs- und Wissenspotential bedeu-
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
tet für die deutsche feinkeramische Industrie einen erheblichen nicht nur kurzfristigen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten aus den mittel- und osteuropäischen Staaten.
Wie die Bundesregierung, Herr Kollege Stiegler, bereits in ihrer Antwort auf Ihre Anfrage vom Mai 1992 ausgeführt hat, müssen die Unternehmen in eigener Verantwortung den ökonomisch bedingten Strukturänderungen gerecht werden. Zahlreiche Äußerungen von maßgeblichen Vertretern der feinkeramischen Industrie insbesondere hinsichtlich der notwendigen Senkung der zum Teil sehr hohen Arbeitskosten zeigen, daß die Probleme bezüglich der Kostenstruktur erkannt und einer Lösung zugeführt werden. Ich bin daher überzeugt, daß es der feinkeramischen Industrie auch weiterhin gelingen wird, ihre hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit beizubehalten und gegebenenfalls noch zu verstärken.
Sollte der Verdacht bestehen, Herr Kollege Stiegler, daß sich die Wettbewerber mit Dumpingpreisen Wettbewerbsvorteile verschaffen, kann die Wirtschaft unter bestimmten Voraussetzungen gegebenenfalls über den europäischen oder den nationalen Verband bei der EG-Kommission einen Antrag auf Einleitung eines Anti-Dumping-Verfahrens stellen. Im Rahmen der Assoziierungsabkommen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten sind Schutzmaßnahmen, u. a. auch mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, möglich. Solche Eingriffe in den freien Warenaustausch sollten jedoch nur in gravierenden Ausnahmefällen in Erwägung gezogen werden.
Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, wie vereinbaren Sie den Optimismus, der aus Ihren Ausführungen spricht, mit dem massiven Arbeitsplatzabbau in dieser Branche, der seit Monaten zu verfolgen ist und sozusagen ungebremst anhält?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, ich verkenne mit meiner Antwort nicht die Probleme, denen die Unternehmen der feinkeramischen Industrie insbesondere in den Konzentrationsbereichen der alten Bundesländer ausgesetzt sind. Gleichwohl möchte ich unterstreichen, was mein Vorgänger im Amt, Klaus Beckmann, ausgeführt hat: Es ist zunächst und in allererster Linie Aufgabe der Unternehmen, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen.
Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Abgeordneter Stiegler.
Herr Staatssekretär, halten Sie es denn für verantwortbar, daß bei einem Währungsgefälle etwa zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik von bald 1 : 18 und in manchen Bereichen noch höher Anpassungsleistungen allein den Unternehmen übertragen werden und daß die Marktöffnung unbegrenzt erfolgt, obwohl doch jeder weiß, daß ein solches Lohngefälle selbst durch noch so große Rationalisierungen und Technisierungen überhaupt nicht aufgefangen werden kann?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, das Ganze hat natürlich auch einen gesamtwirtschaftlichen Aspekt. Die feinkeramische Industrie ist speziell durch Konkurrenz betroffen, gleichzeitig erschließen sich insbesondere für bayerische Unternehmen in den angrenzenden mittel- und osteuropäischen Staaten auch neue Märkte, immer vorausgesetzt, daß die bilateralen Beziehungen insgesamt unter dem Gesichtspunkt offenen Handels gestaltet sind. Ich denke, deswegen ist es durchaus berechtigt, daß die Bundesregierung zunächst einmal dem freien Handel die höchste Priorität gibt und die Unternehmen auffordert, Anpassungsleistungen zu erbringen.
Ich wiederhole: Es gibt durchaus Instrumente, um im Fall unfairen Wettbewerbs entsprechend zu handeln. Ich bin gern bereit, das Entsprechende dann auch vorzutragen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Büttner.
Ist sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang bewußt, daß sie durch die Förderung von Abkommen wie den Assoziierungsabkommen der EG mit dazu beiträgt, daß durch den Wegfall von Arbeitsplätzen und damit einer verminderten Kaufkraft bei bundesdeutschen Arbeitnehmern sowie die nicht genügende Kaufkraft in den osteuropäischen Ländern auf Grund der Dumpinglöhne weder ein wirtschaftlicher Markt in Osteuropa entsteht noch die Marktverhältnisse in der Bundesrepublik verbessert werden?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich will noch einmal betonen: Das Ganze ist eine Medaille mit zwei Seiten. Auf der einen Seite ist die Bundesrepublik als exportorientierte Nation natürlich daran interessiert, neue Märkte zu erschließen und zu einem möglichst offenen Handel mit den mittel- und osteuropäischen Staaten zu kommen. Auf der anderen Seite müssen wir akzeptieren, daß diese Staaten in einem gewissen Rahmen — ich sage immer: in einem fairen Wettbewerb — mit ihren Waren hier auf den Markt drängen. Das ist eine notwendige Voraussetzung, um Handelsbeziehungen neu aufzubauen. Insofern habe ich von meinen Aussagen nichts zu relativieren.
Zusatzfrage des Abgeordneten Klejdzinski.
Herr Kollege, wenn Sie Ihren Aussagen nichts weiter hinzuzufügen haben, bzw. auch nichts relativieren wollen: Darf ich Sie fragen, wenn Sie einen Zeitraum von fünf Jahren ansetzen, welche Betriebe in diesem Bereich angesichts des Dumpings, das in der Zwischenzeit von der Gegenseite aus erfolgt, noch konkurrenzfähig sind? Vielleicht denken Sie auch einmal darüber nach.Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin kein Prophet. Insofern kann ich Ihnen nicht sagen, welche Situation wir in dieser Industrie in
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14204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbfünf Jahren vorfinden werden. Ich bin geneigt, es noch einmal vorzutragen: Es gibt die Möglichkeit des Anti-Dumping-Verfahrens, wenn es von der überwiegenden Mehrzahl der in der EG ansässigen Unternehmen z. B. über den nationalen oder europäischen Verband beantragt wird. Hier gibt es also Handlungsmöglichkeiten. Allerdings geht in diesem Fall die Initiative von der Industrie bzw. dem Industrieverband und nicht von der Bundesregierung aus.
Zum Abschluß der Fragestunde eine Frage der Abgeordneten Renate Schmidt .
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade den Begriff „fairer Wettbewerb" verwandt. Welches sind denn für Sie die Kriterien eines fairen Wettbewerbs, und zwar nicht nur im sozialen Bereich, sondern auch im ökologischen Bereich, und glauben Sie, daß in diesem Industriebereich ein fairer Wettbewerb derzeit gewährleistet ist?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Die Kostenvorteile, die ich angesprochen habe, haben natürlich mehrere Komponenten. Ich habe festgestellt, daß wir ganz überwiegend den Einfluß im Personalkostenbereich sehen. Darüber hinaus spielt natürlich auch ein, wie immer Sie es nennen mögen, Umwelt-Dumping, Dumping im Sozialbereich und im allgemeinen eine gewisse Rolle. Unterschiedliche Umweltvorschriften haben natürlich einen Einfluß, können aber nicht zur alleinigen Begründung von Wettbewerbsvorteilen herangezogen werden.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Fehlentwicklungen bei der Verpackungsverordnung: Duales System Deutschland.
Die Fraktion der SPD hat die Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.
Frau Abgeordnete Caspers-Merk hat das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Müllfibel des Bundesumweltministeriums bezeichnet sich der Umweltminister als Vater der Verpackungsverordnung. Daß man Vaterschaften in Krisenzeiten ganz gern wieder los wäre, ist für uns Frauen keine grundlegend neue Erfahrung. Der Bundesumweltminister verhält sich durchaus entsprechend unseren bisher gemachten Erfahrungen. Er hat einen Wechselbalg in die Welt gesetzt, hat sich um seine Erziehung nicht gekümmert und wundert sich nun, daß das ungeratene Kind nicht lebenstüchtig ist. Wir sprechen vom DSD, dem Dualen System Deutschland, das derzeit nicht nur in einer Finanz-, sondern auch in einer Existenzkrise ist.
Dabei war alles so gut gedacht: Hersteller und Vertreiber von Verpackungen sollten in Zukunft durch Rücknahme- und Pfandpflichten für die Entsorgung dieser Verpackungen in die Produktverantwortung genommen werden.
So weit, so gut. Um den Handel von seinen neuen Pflichten gleich wieder zu befreien, wurde das Schlupfloch DSD gefunden. Der Herr Kollege Graf Lambsdorff ist ja einer der Väter dieses Schlupflochs.
Deswegen ist der gelbe Sack auch gelb.Mit der Installierung dieses Systems begann der komplette Ärger. Ärgernis Nr. 1: Mit dem Grünen Punkt wurde ein Symbol gefunden, das an Verbrauchertäuschung grenzt. Viele meinen nämlich, daß dieses Zeichen ein Zeichen für besondere Umweltfreundlichkeit sei. Tatsache ist aber, daß der Grüne Punkt nur aussagt, daß die Lizenzgebühr für die Einwegverpackung entrichtet wurde.
Ärgernis Nr. 2: Die Bürgerinnen und Bürger zahlen über den Grünen Punkt eine volle zweite Müllgebühr, die sich nach den Erhöhungen ab Oktober noch einmal verdoppeln wird. Die neue Nachricht ist, daß Bürgerinnen und Bürger eines durchschnittlichen Haushalts in Zukunft eine jährliche Müllgebühr von bis zu 600 DM zahlen müssen.
Dabei handelt es sich bislang um ein Abkassierungsmodell ohne Gegenleistungen.Ärgernis Nr. 3: Die Hausfrauen — denn es sind ja überwiegend Frauen, die die unbezahlte Sortierarbeit leisten — nehmen diesen Aufwand in Kauf, weil sie annehmen, daß die Verpackungen auch verwertet werden. Inzwischen mußten die Sortiererinnen allerdings feststellen, daß ihr mühsam ausgespülter Joghurtbecher irgendwo in einem Dritte-Welt-Land auf einer Deponie landet, illegal entsorgt wird oder aber in brandgefährlichen Zwischenlagern in unserer Nachbarschaft vor sich hingammelt.
Ärgernis Nr. 4: Zur Müllvermeidung leistet das ganze System keinen Beitrag; denn unser Konsumverhalten muß sich ja nicht ändern. Das DSD ist lediglich das schlechte Gewissen unserer Wegwerfgesellschaft, und die großen Verpacker sitzen allesamt im DSD, unbehelligt von einem Pro-forma-Kuratorium, das nur Dekorationszwecken dient.
Ärgernis Nr. 5: Niemand kontrolliert den Monopolisten DSD und sagt verbindlich, was das Ganze kosten wird. Schon heute sind Milliarden in dieses System investiert worden, ohne daß über ökologische
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14205
Marion Caspers-MerkKriterien der Verwertung oder über den Ausschluß ökologisch unsinniger Verpackungen oder über eine Kostentransparenz und -kontrolle, wo der ganze Verpackungsmüll denn bleibt, geredet würde.Wenn das Mitmachen der Bürgerinnen und Bürger weiterhin sichergestellt werden soll, bedarf es einer Reform des ganzen Systems an Haupt und Gliedern. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf,
endlich eine Novellierung der Verpackungsverordnung vorzunehmen, die wirklich umweltverträglichen Kriterien entspricht. — Zu dem Zwischenruf „Bundesrat" ist zu sagen, daß der Bundesrat Bedingungen an die Zustimmung geknüpft hat, die bis heute nicht umgesetzt wurden.
Wir haben deshalb hier heute im Bundestag einen Antrag eingebracht, in dem wir die Bundesregierung auffordern,
die Novellierung der Verpackungsverordnung vorzunehmen. Unsere Forderungen sind erstens, daß die Monopolstruktur des DSD weg muß, zweitens, daß sofort eine Pfand- und Rücknahmepflicht eingeführt wird. Drittens wollen wir einen klaren Auftrag für Müllvermeidung.
Viertens fordern wir die Verpflichtung zur transparenten Kostenkalkulation und fünftens eine Rechenschaftspflicht des DSD oder weiterer Systeme für Sortierbilanzen, Verwertungspfade und Endverbleib der gesammelten Wertstoffe.Deshalb ist die Bundesregierung jetzt hier im Obligo. Sie soll uns erklären, wie es weitergehen soll; denn so, wie es derzeit ist, kann es nicht mehr hingenommen werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ulrich Klinkert.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Parlamentarische Demokratie braucht Opposition. Eine der wichtigsten Aufgaben der Opposition ist es natürlich, die Regierung dort, wo sie Fehler gemacht hat, zu kritisieren. Aber nun wird die Opposition in diesem Haus ein Jahr vor den Wahlen langsam nervös.
Mangels eigener Gedankenentwicklung — was hat man außer Kandidatensuche von Ihnen schon groß gehört, meine Damen und Herren? — dreschen Sie undifferenziert auf alles ein, was von der Regierung kommt. In diesem Fall ist es die Verpackungsverordnung.
Schon der Titel dieser Aktuellen Stunde ,,Fehlentwicklungen bei der Verpackungsverordnung" zeigt, daß Sie entweder die Verpackungsverordnung gar nicht gelesen haben oder sie nicht verstanden haben oder sie nicht verstehen wollten oder — was noch viel schlimmer ist — die Praxis nicht kennen.
Ich behaupte: Es gibt keine Fehlentwicklung bei der Verpackungsverordnung;
denn alle Vorgaben, die diese Verpackungsverordnung gestellt hat, wurden bisher erfüllt. Dazu gehört das Erfassen von Kunststoffen beispielsweise. Dort ist die Quote übererfüllt worden, mit 400 000 t pro Jahr sogar deutlich übererfüllt worden. Dazu gehört auch das Recyceln. Wenn Sie die Verpackungsverordnung gelesen haben sollten, dann wüßten Sie, daß 30 % Recycling von Kunststoffverpackungen gefordert sind.
Diese 30 % wären 120 000 t im Jahr. Für mehr als 160 000 t sind Kapazitäten gebunden. 250 000 t werden in diesem Jahr aber auch machbar sein.Die Verpackungsverordnung hat bereits in den ersten Monaten ihrer Existenz dazu geführt, daß dank des aktiven Mitwirkens der Bevölkerung wesentlich mehr Kunststoffabfälle erfaßt und aussortiert wurden, als sie es vorgeschrieben hatte. Es hat ein Umdenken bei der Bevölkerung eingesetzt. Aus unterschiedlichen Gründen aber sind die stofflichen Verwertungskapazitäten nicht gleichschnell entwickelt worden. Das liegt einmal daran, daß dies natürlich technisch aufwendiger ist, als Sortierkapazitäten zu schaffen. Zum anderen liegt das auch an der Verweigerungshaltung der Industrie. Trotzdem besteht der positive Effekt, daß jetzt massiver Druck auf die Industrie ausgeübt wird, um Verwertungsanlagen zu entwikkeln.Die SPD tut hier allerdings so, als ob ohne die Verpackungsverordnung sämtliche Verpackungsabfälle ordentlich entsorgt werden könnten. Sie haben wohl vergessen, daß die Deponien voll sind, daß Müllverbrennungsanlagen dank Ihrer aktiven Kommunalpolitik nicht gebaut werden dürfen
und daß wir einen Entsorgungsnotstand in Deutschland haben. Viele Industriebereiche und die SPD behaupten, daß es gar keine Anlagen zum stofflichen Recyceln von Kunststoffen geben kann, weil sie zu aufwendig und. zu teuer wären. Aber hier sollte die SPD nicht länger auf die Industrie hereinfallen. So haben nämlich führende deutsche Industrieunternehmen beispielsweise bei den FCKW-Kühlschränken behauptet, daß es die ökologisch und ökonomisch vernünftig nicht nicht geben könnte. Heute werben alle deutschen Hersteller mit FCKW-freien Kühlschränken und wollen sich an diese früheren Äuße-
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Ulrich Klinkertrungen nicht gern erinnern. Wie beim FCKW-freien Kühlschrank, so haben auch hier die neuen Bundesländer eine Vorreiterrolle übernommen.
— Danke. — Gerade in den neuen Bundesländern wurde eine ganze Reihe von Verwertungsanlagen entworfen und ist bereits in der Realisierungsphase, beispielsweise in Leuna für 200 000 t im Jahr; in meinem Wahlkreis bei „Schwarze Pumpe" werden Kapazitäten für 120 000 t geschaffen. 1993 werden in meinem Wahlkreis z. B. 20 000 t Altkunststoffe stofflich recycelt. Das bedeutet, daß 400 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden und daß 300 Millionen DM investiert wurden.
All das wäre ohne die Verpackungsverordnung, ohne das DSD nicht möglich gewesen.
Wir in den neuen Bundesländern lassen uns durch die Blockadepolitik der SPD neue Wirtschaftsentwicklungen nicht kaputtmachen.
Schröder wollte das VW-Werk in Zwickau stoppen. Die Umweltpolitiker der SPD wollen Verwertungsanlagen für Altkunststoffe verhindern. Ich fordere die SPD-Abgeordneten, die das DSD und das Kunststoffrecyceln kaputtmachen wollen, auf: Kommen Sie in die neuen Bundesländer und erklären Sie den Ingenieuren und Arbeitern, die in Tag- und Nachtarbeit, beispielsweise bei mir in „Schwarze Pumpe", all das aufbauen, daß dies ökologisch und ökonomisch unsinnig sei.
Meine Damen und Herren, der Grüne Punkt und das DSD sind für Sie ein rotes Tuch. Aber sie sind das offensichtlich nur deshalb, weil die Verpackungsverordnung von einem christdemokratischen Minister entwickelt wurde.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Verpackungsverordnung gibt erstmalig in der deutschen Abfall- und Umweltpolitik marktwirtschaftlichen Prinzipien genügend Raum,
um deren Vorteile unter Beweis zu stellen. Das, Frau
Caspers-Merk, ist der Grund für mein Interesse, nicht
der Sack und auch nicht die gelbe Farbe des Sackes und auch nicht das Schlupfloch.
Die Bundesländer, einschließlich der SPD-regierten Länder, unterstützten mit ihrer Entscheidung vom Dezember 1992 den Versuch der an dem DSD beteiligten Wirtschaft, die Verpackungsverordnung auch umzusetzen.
Was Sie jetzt mit Ihrem Antrag bewerkstelligen, müssen Sie wohl gegen die Mehrheit der SPD-regierten Länder zusammen mit Herrn Gauweiler durchsetzen. Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat damit erstmalig eine umfassende Produktverantwortung übernommen. Das hat schon zu erheblichen Veränderungen geführt: Die Verpackungsunternehmen haben sich bei der Wahl des Verpackungsmaterials an der stofflichen Verwertung orientiert,
die Verpackungsvolumina sind verringert, die Umstellung auf umweltfreundliche Verpackungsmaterialien schreitet voran, und der Anteil an der Mehrwegverpackung nimmt kontinuierlich zu.
Herr Abgeordneter Feige, Sie können doch gleich noch reden. Nun reden Sie nicht soviel dazwischen.
Herr Präsident, das geht alles von meiner Redezeit ab. — Im übrigen: Die Zwischenrufe entsprechen dem Pepita-Muster meines Anzuges. Auf Pepita kann man nicht Schachspielen; das ist zu kleinkariert.
Aber, meine Damen und Herren, mit der Gründung des DSD und seiner anfänglichen Aktivitäten kamen auch die ersten Schwierigkeiten. Das bestreitet doch niemand. Der organisatorische und finanzielle Aufbau eines solchen Systems ist schwierig. Kooperationsbereitschaft aller ist erforderlich. Die Bereitschaft zur Kooperation ist noch nicht bei allen in der DSD engagierten Unternehmen in der gewünschten und notwendigen Form gegeben. Das gilt vor allem für die Kunststoffindustrie.
Durch die umweltbewußte Mitarbeit unserer Mitbürger wird mehr Kunststoff als erwartet gesammelt und sortiert. Bis zu 414 000 t werden für das laufende Jahr erwartet. Die Verarbeitungskapazitäten reichen nicht. Die kunststofferzeugende und -verarbeitende Industrie ist nicht — noch nicht — bereit, sich an der Abfallverwertung in angemessener Weise zu beteiligen. Ihr Hinweis, die in der Verpackungsverordnung
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Dr. Otto Graf Lambsdorff
vorgeschriebene Quote sei doch erreicht, ist Zeugnis eines wenig ausgeprägten Verantwortungsbewußtseins für eine verursachergerechte Entsorgung.
Die Gründung einer neuen Gesellschaft mit größeren Verwertungskapazitäten für Kunststoff ist deshalb beschlossen worden. Das ist auch der richtige Weg. Ist es aber richtig, daß das DSD selber jetzt auch die Verwertung betreibt? Reicht dafür die finanzielle Kraft des mit einem Stammkapital von 3 Millionen DM ohnehin nur ungenügend finanzierten DSD? Stimmt es, wie die „Süddeutsche Zeitung" am 19. Juni schreibt, daß die Verbrennung heute umweltunschädlich möglich ist, so daß der Aufbau großer Verwertungskapazitäten in die Fehlinvestition führt?
Die Gebührenstaffelung nach den tatsächlichen Entsorgungskosten des Einzelmaterials, die für Herbst dieses Jahres vorgesehen ist, ist ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Damit ist eine verursachergerechte Berechnung der Lizenzgebühren gewährleistet, und notwendiges Kapital wird zur Verfügung gestellt. Aber auch hier zwei Fragen: Sollte die Verpackung außer dem Grünen Punkt auch die Gebühr ausweisen, die für diese spezifische Verpackung vom Verbraucher zu zahlen ist? Könnte das nicht den Druck zur Vermeidung teuer zu verwertender Verpackungen verstärken?
Zweitens. Wie kann und will die Geschäftsführung des DSD sicherstellen, daß die Gebühren für den Grünen Punkt pünktlich und vollständig gezahlt werden?
Die Bundesländer müssen sich entscheiden, ob sie über mehr Marktwirtschaft im Umweltschutz nur reden oder ob sie auch so handeln wollen. Ein entschiedenes Jein reicht nicht aus.
In den zurückliegenden zehn bis 15 Jahren sind wir in der Abfallvermeidung kaum weitergekommen. Jetzt verlangt man von dem marktwirtschaftlichen Ansatz ein Wunder in zwei Jahren. Das ist weder fair noch sinnvoll. Halten wir uns lieber an die Lebensweisheit: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Hier brauchen wir Geduld. Ein Scheitern des DSD bedeutet die Rücknahme gebrauchter Verpackungen im Laden. Nennt man diese, mit Verlaub gesagt, Schweinerei denn eigentlich Entsorgung? Ein Scheitern des DSD bedeutet auch den Abschied von Eigeninitiative und Eigenverantwortung in der Abfallwirtschaft und den Ruf nach mehr Staat, nach dirigistischen Maßnahmen.
Der SPD-Antrag enthält ein Wort in bemerkenswerter Vielzahl, das Wort „Verbot". Das ist Ihre Position und Ihre Philosophie. Dazu sollte es nicht kommen. Begleiten wir also das DSD kritisch, wie ich es versucht habe, aber kooperativ und konstruktiv.
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines hat die bisherige Geschichte des DSD und des Grünen Punktes wohl gezeigt: Die Menschen in unserem Lande sehen einen dringenden Bedarf für eine ökologische Abfallpolitik und sind bereit mitzumachen. Wenn jedoch die Politik ihnen eine Struktur serviert, die bei ernsthafter Anwendung in einer Sackgasse endet, kann dabei nichts herauskommen. Im Gegenteil: Berichte von Müllverschiebungen und nicht realisierten Verwertungskapazitäten demotivieren die Menschen nur. Die Apologeten der Müllverbrennung lachen sich dabei ins Fäustchen; aber vielleicht ist das ja auch so geplant.Ein ernstgemeintes und erfolgversprechendes Konzept für eine ökologische Abfallwirtschaft geht nicht ohne grundsätzliche Änderung der industriellen Produktionsweise. Abfallpolitik ist letztlich Chemiepolitik mit dem Ziel der Entgiftung der Produktion und ihrer Produkte. Nur die Umstellung der industriellen Güterproduktion auf abfallarme und in den Naturkreislauf rückführbare Produkte sowie der konsequente Ausbau von Mehrwegsystemen bieten einen Ausweg aus dem flächendeckenden Müllnotstand.Das Duale System ist für die Lösung des Abfallproblems schlichtweg ungeeignet, schon allein deshalb, weil es weitgehend der öffentlichen Kontrolle entzogen ist. Die Abfallentsorgung gehört — dies sei hier den Ideologen der Privatisierung ins Altpapier geschrieben — in die Hände der Kommunen. Wir brauchen jetzt ein flächendeckendes Netz von kommunalen Recyclinghöfen und Sero-Sammelstellen, verbunden mit kommunalen Getrenntmüll-Holsystemen. Natürlich muß der rechtliche Rahmen stimmen, und natürlich müssen die Kommunen mit den notwendigen Mitteln ausgestattet werden, um tätig zu werden.
Ich verweise an dieser Stelle auf den Entschließungsantrag der PDS/Linke Liste zur Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage „Auswirkungen auf die Abfallentsorgung durch die Einführung des ,Dualen Systems Deutschland' " vom Dezember vorigen Jahres. Darin heißt es:Sollte sich anläßlich einer Bestandsaufnahme nach dem Stichtag 1. Januar 1993 erweisen, daß die vereinbarten Verwertungsquoten nicht nachgewiesen werden können, tritt die Verpackungsverordnung sofort in vollem ursprünglich vorgesehenen Umfang in Kraft, da die Voraussetzungen für die nach § 6 Abs. 3 VerpackV vorgesehene Sonderregelung in bezug auf ein zweites Entsorgungssystem entfallen. Übergangsregelungen und Ausnahmegenehmigungen werden nicht erteilt.Die Bundesregierung wird in diesem Fall aufgefordert, umgehend einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der zum Ziel hat, die vorhandenen Strukturen, eingenommenen Finanzmittel und auflaufenden Verpackungsabfälle des „Dualen Systems Deutschland" in einen öffentlichen Zweckverband einzubringen. Dieser Zweckverband soll der umweltfreundlichen und sozialverträglichen
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Petra BlässAuflösung und Abwicklung des DSD dienen sowie Vorschläge für eine weitreichende Verpakkungsverordnung mit Zielrichtung Abfallvermeidung und Ausbau von Mehrwegsystemen erarbeiten.Träger des Zweckverbandes sind die entsorgungspflichtigen Gebietskörperschaften, denen in bezug auf die Verpackungsverordnung ein Vetorecht einzuräumen ist. Für den Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist Konsultationspflicht vorzusehen. Der Zweckverband ist bis zu seiner finanziellen Eigenständigkeit durch Erhebung von Abgaben auf Verpackungen aus Mitteln des Bundes zu finanzieren.Wir sind der Ansicht, daß nun der Zeitpunkt gekommen ist, im Sinne unseres Entschließungsantrages tätig zu werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus-Dieter Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Duale System Deutschland, einst als Wunderwaffe im Kampf gegen den überhandnehmenden Verpackungsmüll gepriesen, hat sich in den letzten Wochen endgültig als Windei erwiesen.
Der vom Bundesumweltminister angekündigte Ausstieg aus der Ex-und-hopp-Mentalität ist jämmerlich gescheitert. Der Bundesumweltminister hat wider besseres Wissen und gegen alle Warnungen der Opposition an seiner Unterstützung für das DSD festgehalten.
Er hat mit dem Aufbau dieser parallelen Müllabfuhr billigend in Kauf genommen, daß der Ruf der Bundesrepublik in vielen Staaten Schaden genommen hat:
von Frankreich bis Großbritannien, von der Ukraine bis Indonesien, deutscher Müll in aller Welt.Die angebliche Abfallvermeidung ist ein gigantischer Etikettenschwindel. Wie von uns vorhergesagt, haben die Verpackungsverordnung und das DSD lediglich dazu geführt, daß öffentliche Statistiken frisiert werden. Keine Tonne Abfall wurde tatsächlich vermieden.
Graf Lambsdorff, im Kuratorium selbst kennt man die Zahlen, von denen Sie sprechen, noch nicht. Dort konnte diese Statistik aus Mangel an Informationen nicht vorgelegt werden. Sie müssen offensichtlichmehr Informationen haben. Sie sollten sie Herrn Brück vom DSD zur Verfügung stellen.Statt auf öffentlichen Deponien wird der Müll nun in privaten Zwischenlagern gestapelt, wie immer auf Kosten der umweltbewußten Verbraucher und insbesondere Verbraucherinnen. 200 bis 500 DM kostet dieses widersinnige System jeden bundesdeutschen Haushalt im Jahr. Die Menschen in unserem Land werden getäuscht, betrogen und dafür auch noch zur Kasse gebeten. Handel und Industrie dagegen kommen ungeschoren weg. Soviel zum vielbeschworenen Verursacherprinzip.Obwohl den privaten Haushalten das Geld aus den Taschen gezogen wird, um ein Wirtschaftsunternehmen vorzufinanzieren, mußten wir in der vergangenen Woche erfahren, daß diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung praktisch pleite ist. Wo ist denn das Geld hingegangen?Weil die Kapazitäten für die Verarbeitung von Kunststoffen im In- und Ausland nicht ausreichen, bezuschußt das DSD Abnehmer mit bis zu 1 000 DM pro Tonne. Das gesamte Unternehmen ist ökonomisch widersinnig und ökologischer Unfug. Mit Marktwirtschaft hat eine solche Monopolisierung, wie sie hier stattfindet, jedenfalls nichts zu tun; sonst hätte ich Ihr Programm auch nicht verstanden.
Das sogenannte stoffliche Recycling führt bestenfalls zu minderwertigen Regranulaten und damit zu minderwertigen Produkten. Dieses Recyclingmaterial kostet dann pro Kilo mehr als 3 DM. Bezahlt wird am Markt aber nur ungefähr 1 DM, während qualitativ bessere Neuware für 50 Pf mehr erhältlich ist.Hinzu kommt, daß durch die zusätzlichen Transporte CO2-Emissionen in erheblichem Umfang entstehen; aber angesichts des Nichthandelns der Bundesregierung in Sachen CO2-Reduzierung kommt es darauf wahrscheinlich auch nicht mehr an.Meine Damen und Herren, wir haben bereits im vergangenen Oktober hier im Bundestag über das DSD debattiert. Keiner der damals angesprochenen Kritikpunkte wurde in der Folgezeit behoben. Die einzig nennenswerte Aktivität des DSD bestand in der Einrichtung eines Kuratoriums. Auch wir haben uns — trotz erheblicher Bedenken — an der Arbeit dieses Kuratoriums beteiligt.Vor einem Monat habe ich meine Mitgliedschaft in diesem Organ aufgekündigt, weil es offenbar lediglich der Imagepflege des DSD dienen sollte.
Meine geringe Hoffnung auf eine positive Veränderung der Geschäftspolitik des DSD hat sich nicht erfüllt. Wir lassen uns jedenfalls nicht als Feigenblatt für das DSD mißbrauchen.
Herr Lambsdorff, wenn Sie an der letzten Sitzung teilgenommen hätten — auch Sie sind Mitglied des Kuratoriums —, dann hätten Sie mitbekommen, wie gerade Ihr Vorschlag — auszuweisen, wie teuer ein
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Dr. Klaus-Dieter FeigeGrüner Punkt eigentlich ist; dem Verbraucher also darzustellen, was ein Punkt kostet — mit den CDU/ CSU-Stimmen — ich möchte jetzt keine Namen nennen — abgebügelt wurde. Wenn solche elementaren Ansätze einfach plattgemacht werden — dann können Sie sich hier noch zehntausendmal hinstellen und so tun, als würde das etwas bringen —, dann ersticken Sie selbst im Ansatz das, was dort möglich ist.
Wir können und wollen es nicht verantworten, daß die Menschen auch und gerade im Osten Deutschlands ein System finanzieren, das keine entsprechenden Gegenleistungen liefert. Wir unterstützen ausdrücklich die Bundesländer, die die Freistellung des Handels von der Rücknahmepflicht für Kunststoffverpackungen widerrufen. Erst wenn die Handelseinrichtungen gezwungen werden, das Verpackungsmaterial selbst zu entsorgen, wird ein entsprechender Druck entstehen, weniger Verpackung zu produzieren.
— Bisher hat das ganz phantastisch geklappt.
— In der ersten Phase hat das wunderbar geklappt.Ich glaube, die Bundesregierung ist mit der Verpakkungsverordnung politisch für das überflüssige Duale System Deutschland verantwortlich.
— Der Bundesrat ebenfalls.Schwierigkeiten mit diesem System wird es weiterhin geben. Ich glaube, es wird möglicherweise doch noch ein spannender Wettbewerb, in der Hinsicht: Wer ist zuerst weg vom politischen Fenster — der Vater des Gedankens oder sein unsägliches Kind?Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vater dieses Gedankens lebt. Er ist zur Zeit in New York und gestaltet eine wichtige Konferenz zur nachhaltigen Entwicklung, eine der wichtigsten Nachfolgekonferenzen von Rio de Janeiro.Niemand kann leugnen — auch Kollege Feige nicht —: Der Grüne Punkt ist in aller Hände und in aller Munde.
— Herr Kollege Schily, das haben wir dem umweltpolitischen Sprecher Ihrer Fraktion mitgeteilt, der das ohne weiteres so akzeptiert hat.
— Das werden wir sehen, Herr Kollege Schily.Meistens, meine Damen und Herren, erfolgt die Betrachtung jedoch sehr einseitig. Wir haben einen solchen Beitrag eben gehört. Da sind die ideologischen Verbotsstrategen, alternativlose Gegner notwendiger Entsorgungsverfahren und Anhänger ordnungsrechtlicher Abgabenlösungen. Sie vernachlässigen bewußt den Blick auf die Realität, auf das, was machbar ist, und auf die bereits wirkenden Veränderungen.
Meine Damen und Herren, die Verpackungsverordnung hat tiefgreifende Veränderungen bewirkt. Sie hat schon jetzt Quantität und Qualität der Verpakkungen verändert. Allein der Packmitteleinsatz im Bereich Kunststoff ist von 1991 auf 1992 um rund 60 000 t zurückgegangen.Ich möchte Sie gern auch mit der neuesten Zahl konfrontieren, die in Wiesbaden die Gesellschaft für Verpackungsmarktforschung gestern herausgegeben hat: Der Gesamtpackmitteleinsatz ist im Jahre 1992 um 500 000 t zurückgegangen.
Meine Damen und Herren, entgegen allen Vorhersagen — ich erinnere mich noch sehr gut an die Auseinandersetzung — hat sich im Getränkebereich innerhalb von 18 Monaten die Durchschnittsquote von 72 auf über 74 % erhöht. Wer aufmerksam in die Regale der Geschäfte schaut, erkennt, welche Veränderungen im Volumen und im Material von Verpakkungen bereits erfolgt sind.
Ich erinnere hier an neue Transportverpackungen, Mehrwegsysteme für Möbel und Fahrräder — Frau Kollegin Mehl, auch das sollte man zur Kenntnis nehmen und aufmerksam zuhören — oder z. B. beim Transport von Fischen.Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat die geforderte Produktverantwortung grundsätzlich, denke ich, angenommen. Innerhalb von anderthalb Jahren wurde ein flächendeckendes Erfassungssystem aufgebaut: Gebrauchte Verpackungen werden mit steigender Tendenz einer stofflichen Verwertung zugeführt.Ich sage es hier ganz bewußt: Der Beginn der Kreislaufwirtschaft ist gemacht.
— Der Bundesrat hat das Kreislaufwirtschaftsgesetz nicht abgelehnt, Herr Kollege Feige.
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Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek— Sie sollten vielleicht ab und zu in den Bundesrat gehen.Ich möchte an dieser Stelle auch den Bürgerinnen und Bürgern ein Kompliment machen: Die Sammelmenge von 400 000 t Kunststoffverpackung zeigt das hohe Umweltbewußtsein in unserem Land. Wir sollten dieses Umweltbewußtsein nicht enttäuschen.
Ich will hier nicht die Probleme vertuschen, die wir im Bereich der Kunststoffverwertung offensichtlich haben und die wir lösen müssen.
Meine Damen und Herren, die Kunststoffverpakkung war und ist — wie Sie alle wissen — zentrales Ziel der Verpackungsverordnung. Sicherlich ist die Kreislaufwirtschaft in diesem Bereich nicht von heute auf morgen zu realisieren; einige Vorredner haben darauf hingewiesen.Dennoch sind wir mit der heutigen Situation unzufrieden. Erstens. Seit Ende der 80er Jahre haben wir die Kunststoffindustrie zum Aufbau von Recyclingkapazitäten aufgefordert.Zweitens. Nach Verabschiedung der Verpackungsverordnung hat die Kunststoffindustrie das notwendige Engagement bisher vermissen lassen. Sie korrigiert es jetzt; Kollege Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen.Drittens. Die Verwertungspartner der Kunststoffindustrie sind nicht stets mit der nötigen Sorgfalt ausgesucht worden — Beispiel: Frankreich.
Die problematische Entwicklung ist aber auch von anderen mitgefördert worden.Die DSD GmbH wurde lange Zeit von Ländern, Kommunen und der Öffentlichkeit sozusagen als Black box angesehen, der man über den Verordnungsrahmen hinaus weitreichende Anforderungen stellen kann.Ich will hier nur die Forderung erwähnen, daß das DSD eine einheitliche Wertstofferfassung zu realisieren habe. Das führt dazu — das wissen Sie —, daß heute 20 % verpackungsfremde Kunststoffe im System sind, für die weder eine Erfassung und Sortierung finanziert noch eine Verwertung garantiert ist.Meine Damen und Herren, einer DarmverschlußStrategie ähnelt es — wer nicht weiß, was das ist: Ileus —,
wenn die Länder im Bundesrat die Anforderungen an die stoffliche Verwertung erhöhen und dann — jetzt müssen Sie besonders gut zuhören — der Umsetzung rohstofflicher Verfahren und der Wiederherstellung von Rohöl, aus dem wieder Kunststoffe erzeugt werden können, und von Gas, das Ressourcen ersetzt, Steine in den Weg legen.Meine Damen und Herren, dieser Einstieg in Stoffkreisläufe hat bei den Verpackungen nur einen eleganten Beginn. Wir wollen in ganz andere Bereiche; das wissen Sie selber so gut wie ich.
— Ich sprach gerade vom chemischen Recycling. Man sollte sich mit dem rohstofflichen Recycling intensiv beschäftigen.
— Dazu sollten Sie die Fachleute befragen.Wer die Freistellung für Kunststoffe vor diesem Hintergrund befristet — man sollte vielleicht nicht soviel über Thermoselect sprechen, sondern eher über ordentliche Hydrierungsverfahren —, hält die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft auf. Paradox wird es dann, wenn der Bundesrat von der Bundesregierung die zeitweilige Öffnung der Verbrennung — jetzt komme ich dazu — für Kunststoffverpackungen fordert.Meine Damen und Herren, die aktuelle Situation erfordert keine Veränderung der Verpackungsverordnung, sondern eine Konzentration auf die Anforderungen dieser Verordnung:Erstens. Die Kunststoffverwertung ist nach den Vorgaben der Verordnung sicherzustellen. Mit der finanziellen Konsolidierung des DSD durch Handel und abfüllende Industrie sowie der Neugründung der Kunststoffverwertungsgesellschaft ist der erste Schritt getan. Auch die chemische Rohstoffindustrie hat damit endlich ein Signal gegeben. Diese — auch finanzielle — Kraftanstrengung von Handel, Abfüllern und Kunststofferzeugern zeigt, daß die Wirtschaft die Herausforderung der Verpackungsverordnung annimmt.Zweitens. Eine redliche Positionierung gegenüber DSD ist angezeigt. DSD ist praktisch eine Logistik-und Maklerorganisation und kein gewinnorientiertes Unternehmen.Die Umsetzung der rohstofflichen Verwertungsverfahren, die nach heutigen Erkenntnissen ökologisch und ökonomisch vertretbar sind, darf nicht weiter behindert werden.Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß für 1993 160 000 t Verwertungskapazitäten sichergestellt wurden. Das ist mehr als das Doppelte, was die Verpakkungsverordnung inhaltlich hinsichtlich der stofflichen Verwertung hergibt.Hinsichtlich der Nichtverpackungsmaterialien im DSD-System sind auch Länder und Kommunen in der Lösungsverantwortung. Wir haben bewußt auf die marktwirtschaftliche Lösungsvariante des Dualen Systems gesetzt, weil damit eine Produktverantwortung wahrgenommen werden muß und nicht lediglich die Abwicklung erhöhter Ökosteuern gemanagt werden kann. Wir wollen nicht mehr Staat und Verwaltung, sondern die Marktwirtschaft für den Umweltschutz aktivieren.Wir brauchen die Lösung im Produktionsprozeß. Der Sekundärrohstoff muß integraler Bestandteil des
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14211
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram WieczorekRohstoffmarktes werden. Gebrauchte Verpackungen sollen nicht nur zu Zaunpfählen, Gartenzwergen, Kleiderbügeln oder sonstwas verarbeitet werden, sondern sie sind zu Shampooflaschen, zu den beliebten Joghurtbechern oder auch zum Ausgangsprodukt Rohöl zurückzuführen. Das sind die Stoffkreisläufe, die es zu schaffen gilt, bevor ein Produkt eines Tages energetisch verwertet oder verbrannt wird.
Ich bin mir sehr sicher, daß die entsprechenden Anlagen und integrierten Systeme in den neuen Bundesländern — wir werden Sie dann herzlich einladen, Herr Feige — Ihnen das zeigen werden.Ein letzter Punkt: Wir sollten hier bitte auch die europapolitische Komponente unseres umweltpolitischen Vorgehens nicht vergessen. Die Niederlande, Frankreich und Österreich haben bereits ähnliche Maßnahmen ergriffen. Sie schauen auf Deutschland. Auch Belgien, Luxemburg, die Schweiz und Schweden wollen unserem Beispiel nachfolgen.Ich denke, eine entsprechende Diskussion kann diese Länder ermutigen, uns in dem, was wir hier sozusagen als das große Experiment „Ausstieg aus der Wegwerfgesellschaft" durchführen, nachzuahmen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Michael Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus zwei Gründen ist es sicherlich sehr wichtig, daß man das Thema Grüner Punkt, Duales System Deutschland nicht ganz einfach behandelt: Erstens. Nirgendwo ist die Bürgerbeteiligung so groß wie in der Abfallpolitik.
— Gerade deshalb ist es so schlimm, wie Sie mit der Bürgerbeteiligung umgehen. — Also erstens: Das Bürgerengagement im Bereich Umweltschutz ist nirgendwo so groß wie in der Abfallpolitik. Deshalb muß man da klare Lösungen schaffen und darf die Bürger nicht täuschen. Das ist das erste Wichtige.Das zweite Wichtige ist: Die Innovationsfähigkeit, die Zukunftsfähigkeit der Industriegesellschaft hängt entscheidend davon ab, wie sie mit Rohstoffen umgeht, wie sie die Abfallproblematik löst. Insofern ist unser Thema DSD keine nebensächliche Frage, sondern sowohl in bezug auf die weitere Entwicklung unserer Wirtschaftsstrukturen als auch im Hinblick auf das Bürgerengagement eine zentrale Frage. Ich will das in den Raum stellen, nicht damit wir uns darüber streiten, sondern von den unterschiedlichen Ausgangspositionen her versuchen, Inhalte zu klären.Die Bürger sehen das Abfallproblem als das zentrale Umweltproblem an; das belegt ein Anteil von etwa 40 % bei fast jeder Umfrage. Vor diesem Hintergrund ist es in der Tat großartig, wie viele Leute sammeln, sortieren, ihren Müll zu den Tonnen bringen, sich also unmittelbar und in der Sache beteiligen.Aber gerade weil das so ist, finden wir es falsch und problematisch, daß ihnen mit dem DSD eine umweltpolitische Mogelpackung serviert wird,
da nämlich dieser Abfallweg im wesentlichen in die Verbrennung gehen wird. Das ist der entscheidende Punkt; wir sollten da ehrlicher sein.
— Doch, Herr Friedrich. Herr Friedrich, das Interessante daran ist für mich
— ich komme dazu —, daß selbst die Mitarbeiter und die Mitglieder im DSD sehr viel kritischer und selbstkritischer diskutieren als Sie. Es macht mich doch sehr erstaunt, daß man hier nicht einmal ein wenig seine eigene Politik reflektiert. Man kann ja unterschiedlicher Meinung sein. Aber lassen Sie uns doch bitte versuchen, ein bißchen reflektierender miteinander umzugehen. Ich finde das so wie bisher nicht in Ordnung.Das Entscheidende aus unserer Sicht — ich begründe das gleich an einzelnen Punkten — ist, daß das Duale System Deutschland ein umweltpolitischer Irrweg ist und es mögliche, sehr viel sinnvollere Alternativen blockiert, sie gar nicht erst zur Entfaltung kommen läßt bzw. heute schon vom Markt verdrängt.
— Ja, ich werde es Ihnen an einigen Punkten verdeutlichen.Erster Punkt: Ich habe mich in den letzten Tagen sehr intensiv bemüht und bei sehr vielen größeren Städten gefragt, welchen Effekt das DSD für die Vermeidung und Verringerung von Müll dort hat; wir haben leider keine offiziellen Daten. Die durchgängige Auskunft der Umweltdezernenten, die ich befragt habe — ich habe insgesamt 14 Städte befragt —, ist, daß es mit dem DSD eine Reduktion der Müllmenge um 5 % gegeben hat — nicht mehr —, bei gleichzeitig massiv steigenden Kosten. Ich weiß nicht, ob Sie das auf Dauer gegenüber den Bürgern vertreten können.Zweiter Punkt: Sie wissen ganz genau, daß das DSD insbesondere mit den Problemstoffen, z. B. Aluminium, Kunststoffe und Verbundverpackungen, auf diesem Weg nicht zurechtkommt. Jeder, der ehrlich ist, muß das zugeben. Auf diesem Weg werden die Ziele nicht erreicht. Sie müssen bei den Ursachen ansetzen, aber Sie setzen in der Abfallpolitik bei den Folgen an. Solange Sie nur bei den Folgen der Produktion problematischer Stoffe ansetzen, werden
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Michael Müller
Sie die Müllproblematik, die Entsorgungsproblematik nicht lösen. Sie sind da auf dem Irrweg.
Als dritten Punkt möchte ich nennen — das sind keine Zahlen aus der „Bild"-Zeitung, sondern Zahlen der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher —: Die Belastungen für die Bürger werden von etwa 200 DM für eine vierköpfige Familie mittelfristig, in den nächsten Jahren, auf etwa 600 bis 700 DM ansteigen. Schon heute liegen sie bei etwa 400 DM. Gleichzeitig steigen die Abfallgebühren für die kommunale Entsorgung.
Ich sage Ihnen noch einmal: Sie können mit dem Dualen System, wenn Sie nicht wirklich auf Vermeidung gehen — Sie gehen nämlich nicht auf Vermeidung; Sie gehen auf die Bewältigung von Folgen —, weder die Abfallproblematik lösen noch auf Dauer Akzeptanz bei den Bürgern schaffen. Das ist das entscheidende Problem.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Wir haben erst vor drei Wochen eine Konferenz mit den umweltpolitischen Sprechern aus anderen europäischen Parlamenten gehabt. Auch wenn Sie es noch so sehr in Abrede stellen: Die Bundesrepublik verspielt derzeit in einer unglaublichen Rasanz ihren Anspruch, umweltpolitischer Vorreiter zu sein, und zwar am Thema DSD. Es gibt nur Aggressionen und Beschimpfungen wegen DSD, ob ich in Spanien bin, mit Portugiesen rede, in Holland oder in Dänemark bin.
— Vielleicht haben sie andere Sprecher; aber ich habe auch mit vielen Umweltministern geredet.Ich sage das auch in Ihrem Interesse. Wir können gemeinsam kein Interesse daran haben, daß die Umweltpolitik der Bundesregierung unglaubwürdig ist.
Deshalb sage ich Ihnen: Beenden Sie den Unsinn DSD, um kehren Sie zu den Alternativen zurück, die Sie selber einmal gefordert haben: Mehrwegsysteme, Pfandsysteme, Stoffpolitik, also von vornherein Produkte und ihr Design so erstellen, daß sie nicht problematisch sind.Sie machen aber genau das Falsche — Ihre Logik ist falsch —: Sie produzieren Tatsachen und bemühen sich anschließend mit unzureichenden Mitteln, diese Tatsachen wieder zu verändern. Wir müssen andereTatsachen produzieren, nämlich Müllvermeidung. Das muß unser Weg sein.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang von Geldern das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich dem Kollegen Michael Müller, der jedenfalls in weiten Teilen eine viel sachlichere Rede gehalten hat als einige andere Redner der Opposition, durchaus nähern, indem ich sage: Es gibt die Notwendigkeit zum Reduzieren und zum Vermeiden von Abfall; selbstverständlich gibt es die. Das DSD leistet dazu — darauf komme ich zurück — einen wichtigen Beitrag.Aber eins ist auch klar: Wir können Abfall nicht völlig vermeiden. Deswegen sind die stoffliche Wiederverwertung und das Recycling ebenfalls ein politisches Gebot einer modernen Abfallpolitik. Man muß nur aufpassen, daß man sich nicht selber zu Tode reitet. Das gilt sowohl beim Recycling als auch z. B. bei der Mehrwegfrage — ein richtiges Prinzip, das aber nicht immer und in jedem Falle absolut gesetzt werden kann.Tatsache ist, daß sich in Deutschland die Deponiekapazitäten allmählich ihrem Ende nähern — jeder Kommunalpolitiker weiß, wie schwierig es ist, neue auszuweisen — und daß wir bei weitem nicht genügend Müllverbrennungsanlagen haben. Darum ist jede Maßnahme, die wirklich der Vermeidung oder Verminderung von Abfall dient, ein willkommener Beitrag zur Problemlösung. Insbesondere unsere Kommunen wissen das.Seit Einführung des Dualen Systems sind die Abfallmengen um mehr als 15 %, teilweise um 30 % — das kann man bei den Kommunen abfragen —, gesunken. Das liegt auch daran, daß wir ein erhebliches Engagement der Verbraucher haben, was hier schon zur Recht gewürdigt worden ist.
Moderne Abfallpolitik — das zeigt sich hier — lebt vom Mitmachen — Herr Kollege Feige, das sage ich gerade an Ihre Adresse — und nicht vom Miesmachen.
Das Duale System ist die einzige großangelegte und ernst zu nehmende Initiative, die den Kommunen in den kommenden Jahren eine erhebliche Abfallentlastung bringen kann und wird.Wenn wir an die 80er Jahre zurückdenken, wo Verpackungsrecycling und Wiedergewinnung von Wertstoffen noch kein großes Thema waren, und diese Zeit mit heute vergleichen, dann verzeichnen wir
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Dr. Wolfgang von Gelderninzwischen Erfolge, die wir vor zwei Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Ich nenne nur die bundesweite flächendeckende Erfassung von 500 entsorgungspflichtigen Körperschaften, all die Einzelverträge mit den Kommunen und vor allen Dingen das Mitmachen der Verbraucher. Diese Mitmachbereitschaft ist außerordentlich hoch, so hoch, daß diesen Erfolg selbst das Duale System nicht erwartet hatte. Daraus resultieren die hohen Sammelquoten insbesondere auch bei Kunststoff, die hier schon erwähnt worden sind.Ich meine, daß der Erfolg, den das Duale System Deutschland bisher aufzuweisen hat, ihm jetzt nicht angelastet werden darf oder gar zur Rücknahme von Freistellungen führen darf. Zum Einstieg in die Kreislaufwirtschaft und damit zum Dualen System gibt es letztlich keine vernünftige Alternative. Vor allen Dingen gibt es keine praktikable Alternative, die unserer Einbindung in den Weltmarkt, dem freien Warenverkehr und den EG-Richtlinien Rechnung trägt.Ich glaube, daß die Wirtschaft die Herausforderung der Verpackungsverordnung mit der Gründung des Dualen Systems Deutschland angenommen hat. Sie hat schnell ihre Solidarität bewiesen und dieses System jetzt wieder auf eine neue finanzielle Basis gestellt, die eine langfristige Arbeit des Systems ermöglicht. Nur der Politik fällt es offenbar schwer, wie wir heute auch wieder hören, zu begreifen, daß ein Projekt von einer derartigen Größenordnung eine Anlaufzeit braucht und nicht von heute auf morgen perfekt funktionieren kann. Natürlich ist das Duale System noch nicht perfekt; wer wollte das bestreiten?Ich möchte insbesondere an die Adresse der Opposition, vor allen Dingen an die Adresse der SPD gerichtet, ein Zitat vortragen, das vom saarländischen Umweltminister Jo Leinen stammt. Er hat in einem Leserbrief an den „Stern" folgendes ausgeführt:Wollen Sie, daß die Verpackungen wieder in die Mülltonne geschmissen werden? Alle Beteiligten wußten, daß es bei diesem neuartigen Sammelsystem Anlaufschwierigkeiten und Kinderkrankheiten geben würde. Doch der deutsche Perfektionismus verlangt immer gleich Totallösungen, und zwar möglichst auf Knopfdruck. Es ist eine großartige Leistung des Dualen Systems, innerhalb kürzester Zeit für 80 Millionen Menschen eine Wertstoffsammlung aufzubauen. Die Sortier- und Verwertungsprobleme müssen bis Juli 1995 behoben werden, so wie es die Verpakkungsverordnung vorsieht.Nun noch einmal der Satz, den ich soeben schon zitiert habe: „Recyling lebt vom Mitmachen und nicht vom Miesmachen." — Wenn Sie noch Verständigungsprobleme haben, dann empfehle ich Ihnen ein ausgezeichnetes Buch, das den schönen Titel trägt: „Wege aus dem Wohlstandsmüll".
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Birgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute ja nun zum wiederholten Male über das Duale System und die Verpackungsverordnung. Das kommt mir ein bißchen gebetsmühlenhaft vor, weil das, was hier heute teilweise gegen das Duale System gesagt wurde, schon in den Debatten davor in der gleichen Weise wiederholt worden ist.
Wir haben das natürlich auch schon sehr differenziert diskutiert, Herr Kollege Müller. Sie wissen ganz genau, daß auch wir eine differenzierte Position haben, daß auch uns gewisse Dinge an dem Dualen System nicht gefallen und daß wir deswegen gesagt haben: Wir brauchen eine kritische, aber auch eine konstruktive Begleitung, um diese Mißstände abzubauen. Das ist das, was wir wollen.Es wurde wiederholt, was wir schon in den vergangenen Debatten gehört hatten, nämlich daß es sich bei dieser Verordnung um eine Verordnung zur Vermeidung von Abfall handelt. Natürlich hat die Verpakkungsverordnung Vermeidungseffekte — das läßt sich eindeutig nachweisen —, aber sie ist zunächst einmal eine Verordnung, die die Verwertung zum Ziel hat. Ich habe schon einmal gesagt, daß hier vielleicht der zweite Schritt vor dem ersten gemacht wurde. Aber sie können von einer Verordnung doch nichts erwarten, was mit ihr gar nicht erreicht werden soll. Genau das wird hier permanent wiederholt. Das, denke ich, kann man nicht so stehenlassen.
Wenn ich dann höre, daß das DSD in einen öffentlich-rechtlichen Zweckverband überführt werden soll, dann kann ich nur sagen: Glauben Sie wirklich und ernsthaft, daß das dann besser wäre als die privatwirtschaftliche Lösung? Ich kann mir das nicht vorstellen.Nur noch ein Wort dazu, was die Monopolstellung des DSD angeht. Wer hat denn letztlich dafür gesorgt, daß das DSD noch viel mehr in eine Monopolstellung hineingedrängt wurde? Doch letztlich die Länder, die wollen, daß die gewerbliche Entsorgung auch noch vom DSD übernommen wird. Das ist eine Art und Weise, die man nicht akzeptieren kann.
Es ist natürlich unbefriedigend, daß das Duale System derzeit einen großen Teil an Kunststoffen einsammelt, der noch nicht verwertet werden kann. Das führt eben dazu, daß es diese Zwischenlager gibt. Dem Dualen System daraus allerdings einen Vorwurf zu machen ist meiner Ansicht nach unberechtigt. Die Verpackungsverordnung sieht vor, daß ab dem 1. Januar dieses Jahres 30 % der Kunststoffe aus dem Verpackungsmaterial eingesammelt werden müssen. Das entspricht etwa 330 000 Tonnen. 450 000 Tonnen werden, wie Sie wissen, eingesammelt. Die Verwertungsquote für Kunststoffe betrüge nach der Verpakkungsverordnung 30 %. Das entspräche einer Verwertungsnotwendigkeit von 100 000 Tonnen. Verwertet werden 160 000 Tonnen. Damit hat das Duale System zumindest in dem Bereich die Anforderungen, die an dieses System gestellt werden, erfüllt.
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Birgit HomburgerDie Situation des Dualen Systems zeigt auch deutlich, daß es richtig ist, zukünftig verstärkt auf marktwirtschaftliche Instrumente in der Umweltpolitik zu setzen. Ich will als Beispiel nur die Reaktion des Dualen Systems in Form einer Umstellung der Preisstaffelung, die zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft tritt, anführen. Danach sind Kunststoffe wesentlich teurer als andere Verpackungsmaterialien. Dies wird zu einer weiteren Lenkung bei den Verpackungsmaterialien führen, nachdem der Anteil der Kunststoffverpackungen nach der Einführung des Dualen Systems zwischen 1990 und 1992 bereits von 40 auf 27 % zurückgegangen ist. Wenn das kein Ergebnis ist, dann weiß ich auch nicht mehr, was Sie ein Ergebnis nennen.Unter diesen Voraussetzungen habe ich auch keinerlei Verständnis für die Umweltminister von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, Frau Martiny und Herrn Schäfer. Sie wollen nämlich dem Dualen System die Freistellungserklärung für die Kunststoffverpackungen entziehen. Dafür gibt es unter den vorher geschilderten Bedingungen überhaupt keine Handhabe in der Verpackungsverordnung. Vielmehr könnte es sich das Duale System ja leichtmachen und die überschüssigen Kunststoffverpackungen auf die Deponie oder aber zur Verbrennungsanlage bringen. Es kann ja wohl nicht sein, daß Sie das wirklich wollen.
Was, bitte schön, wollen diese Landesumweltminister eigentlich damit erreichen, daß durch die Verweigerung der Freistellungserklärung Kunststoffverpakkungen im Handel zurückgenommen werden müssen? Damit ist noch keine Kunststoffverpackung entsorgt, geschweige denn verwertet. Mit der von Frau Martiny angekündigten Maßnahme passiert nur eines: Wir machen den Handel zur Schutthalde der Nation, und das kann ja wohl nicht so sein.
Der hektische Aktionismus, der hier an den Tag gelegt wird, und zwar ohne gesetzliche Grundlage, nützt niemandem und führt nur zu einer weiteren Verunsicherung der Verbraucher und Investoren. Wir müssen jetzt ganz klarmachen, daß das Duale System Deutschland die ersten Bewährungsproben bestanden hat. Jetzt muß es optimiert werden. Deswegen macht die F.D.P. deutlich, daß das Duale System Deutschland Bestand hat. Mit einer Politik nach dem Motto: „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln" sorgen wir jedenfalls nur für eine Verunsicherung von Bürgern und Investoren. Manchmal scheint es ja das Ziel zu sein, auf diese Art und Weise das Duale System und die Verpackungsverordnung noch zu konterkarieren, nachdem Herr Schäfer gemerkt hat, daß Herr Töpfer in dieser Sache recht behalten hat. Die vorübergehenden Probleme im Bereich des Kunststoffrecycling machen aber auch deutlich, daß das Duale System alle Möglichkeiten und Neuentwicklungen zur stofflichen Verwertung ausschöpfen muß. Es darf nicht passieren, daß mittelständische Firmen mit überzeugenden Lösungen abgewiesen werden. Insofern erwarte ich mehr Flexibilität vom Dualen System.Gestatten Sie mir noch ein letztes Wort. Es geht eben auch nicht, daß Firmen wie Müller-Milch mit einem Riesenanteil am Markt 90 % des Geldes, das sie für den Grünen Punkt entrichten müßten, auf ein Sperrkonto einzahlen. Auch solche Aktionen schaden dem Dualen System und haben lediglich das Ziel, vom Gedanken der Verwertung ganz Abschied zu nehmen, und das, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht zulassen.Danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Susanne Kastner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Töpfer und das Duale System haben uns den Rohstoffkreislauf versprochen. Frau Kollegin Homburger, Herr Töpfer hat uns ebenfalls — so steht es ja wohl im Titel dieser Verordnung— eine Verordnung über die Vermeidung von Verpackungsabfällen und eine Reduzierung des Verpakkungsmülls versprochen. All diese Versprechungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind bis heute nicht eingelöst.
— Statt dessen, Herr Klinkert — das können Sie nachlesen —, landet deutscher Plastikmüll, verziert mit dem Grünen Punkt, in Indonesien, in Rußland, ja sogar in unserem Nachbarland Frankreich auf Müllhalden. Treffender als „Greenpeace" dies in ihren Erfahrungswerten beschrieben hat, kann man die Misere des Dualen Systems gar nicht mehr beschreiben. Der Grüne Punkt: Symbol für vermeidbaren Müll. Der Grüne Punkt ist in vielen Ländern Osteuropas und Asiens heute das Symbol für die Verantwortungslosigkeit deutscher Politik. Die reiche Bundesrepublik Deutschland hinterläßt unter dem Stichwort „ökologische Abfallwirtschaft" und mit dem Schlagwort „Sekundärrohstoffe" Berge von stinkenden Plastikhaufen in diesen Ländern. Die Menschen in diesen Ländern, die mit dem einheimischen Plastikmüll bescheidenes Geld verdient haben, werden durch die immensen Plastikimporte der Bundesrepublik Deutschland um ihren Broterwerb gebracht, weil die Preise in diesen Ländern so nämlich kaputtgemacht werden.
— Herr Kollege Friedrich, beschäftigen Sie sich einmal nut der Thematik! Dann wissen Sie auch, daß der Export dieses Plastikmülls natürlich auch dazu führt, die Preise dort kaputtzumachen.
Solche Vorgänge, verehrter Herr Staatssekretär Wieczorek, haben sich in den letzten Jahren dramatisch gehäuft. Sie weisen auf einen steigenden Organisationsgrad legaler, aber vor allem auch illegaler Exportanstrengungen von seiten einer immer undurchsichtigeren Szene professioneller Müllexpor-
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Susanne Kastnerteure hin. Solche Vorgänge, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben — dies bestätigt ja inzwischen auch das Umweltministerium — dem Ruf der Bundesrepublik Deutschland in anderen Ländern erheblich geschadet. Ich erinnere nur daran, mit welcher Verbitterung die deutsche Minderheit Rumäniens erleben mußte, daß Giftmüll, deklariert als Hilfstransport, ins Land kam. Ich erinnere daran, wie schwierig die Rückführung dieser Fässer war.
Wie wollen Sie diesen außenpolitischen Schaden wiedergutmachen?
Herr Töpfer wendet sich öffentlich immer wieder vehement, aber bedauerlicherweise nur verbal gegen Müllexporte,
gegen diese Form von Neukolonialismus. Aber wirksam dagegen angehen will der Herr Umweltminister wohl nicht. — Darüber unterhalten wir uns später, Herr Kollege Kampeter. Das kenne ich vielleicht ein bißchen besser als Sie.
Würde er das ernsthaft wollen, müßte er durch politische Vorgaben endlich dafür sorgen, daß die unsägliche gelbe Tonne verschwindet und damit sortenreines Verpackungsmaterial in den Stoffkreislauf kommt.
Um den seit Jahren laufenden Export dieser vermeintlichen Wertstoffe nach Osteuropa und Übersee zu stoppen — wenn Sie sich so echauffieren, Herr Kollege von Geldern, muß ich wohl richtig liegen —, bedarf es einer öffentlichen Aufsicht über Gebühren und Verwertungspraxis des Dualen Systems, von der gelben Tonne bis hin zur Recyclinganlage. Es bedarf eines Mehrwegkonzeptes mit gleichzeitiger Reduzierung der Einwegquote.Bei dem Arbeitstreffen der Vertragsstaaten der UNO-Konvention zur Kontrolle grenzüberschreitender Abfalltransporte erwiderte der indische Delegierte der deutschen Delegation auf die Behauptung der Deutschen, wir hätten volle Kontrolle über alles, was zum Recycling außer Landes gehe: Ihr Industriestaaten bittet uns fortwährend, viele Dinge für das Wohl der Erde zu tun: Wir sollen unsere Wälder nicht abholzen. Wir sollen eure FCKWs nicht mehr benutzen. Nun bitten wir euch um eines: Behaltet euren Müll zu Hause!
Das sollte Herr Minister Töpfer eine Vorgabe für dieAbfallpolitik der Bundesrepublik Deutschland sein.Dazu gehört auch, daß wir versuchen, Müll zu vermeiden, wie es die Verpackungsverordnung — aber nur verbal in der Überschrift — beschreibt.
Herr Töpfer läßt zur Zeit ständig erklären, daß die Deutschen wesentlich mehr Verpackungsmüll in die gelbe Tonne schmeißen, als erwartet worden sei. Einmal abgesehen davon, daß die Töpfersche Abfallpolitik die Ankündigung, daß das Duale System zu einer Müllverringerung führen werde, ad absurdum führt, dürfen wir schon heute gespannt sein, in welchen Ländern wir demnächst Plastik- und Verpakkungsmüll aus deutschen Landen finden werden. Ich bitte Sie herzlich: Denken Sie bei all dem, was Sie tun, an die Worte des indischen Delegierten!Danke schön.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Elke Wülfing.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Sprecherin der Arbeitsgruppe Wirtschaft der CDU/ CSU-Fraktion bin ich selbstverständlich der Meinung, daß Umweltschutz sein muß. Deswegen gibt die Industrie auch sehr viel Geld dafür aus.
Die Umweltausgaben im produzierenden Gewerbe sind seit 1975 um das 3,5fache gestiegen, und zwar von 5,7 Milliarden DM auf fast 20 Milliarden DM.
Da eben die Zuverlässigkeit der Angaben sehr diskutiert worden ist: Die Quelle ist das Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, Herr Schily.
Bei der Abfallbeseitigung liegen die Kostensteigerungsraten beim produzierenden Gewerbe noch um einiges höher, nämlich beim 4,5fachen. 1975 gaben Betriebe nur 660 Millionen DM für die Abfallbeseitigung aus,
1991 immerhin 3 Milliarden DM. Die Kosten des Dualen Systems sind hierin noch nicht enthalten.
— Herr Präsident, können Sie ein bißchen für Ruhe sorgen? Ich bin etwas irritiert.
Ich kann es versuchen, Frau Abgeordnete. Aber die Bereitschaft, auf meine Worte zu hören, ist im Moment bei einer Fraktion dieses Hauses außerordentlich gering.
Es ist vielleicht ganz hilfreich, wenn ein bißchen zugehört wird. — Als langjähriges Kreistagsmitglied weiß ich, wie dringend Abfallvermeidung und -reduzierung sind. Alte Depo-
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Elke Wülfingnien laufen voll. Neue Einrichtungen scheitern an schwierigen Genehmigungsverfahren, an mangelndem Durchsetzungsvermögen, an der SPD vor Ort,
und natürlich auch am Widerstand der betroffenen Bevölkerung gegen jede Art von Abfallbeseitigung, gegen Sondermülldeponien und gegen alle anderen auch. In meinem Heimatwahlkreis planen wir immerhin seit 17 Jahren eine Deponie. Ihre Verwirklichung ist immer noch nicht in trockenen Tüchern.Daher ist die Idee des Dualen Systems genau richtig, nämlich die Verursacher des Mülls mit dem selbst produzierten Abfall zu konfrontieren. Ich halte es auch marktwirtschaftlich für sinnvoll und ökologisch für wichtig und richtig.Da sich die deutschen Verbraucher lobenswerterweise an der Getrenntsammlung vorbildlich beteiligen, ergeben sich speziell in der Kunststofffraktion Überkapazitäten, die noch nicht recycelt werden können.Ich halte es allerdings nicht für richtig, das DSD wegen seiner Anfangsschwierigkeiten sofort wieder abzuschaffen, wie Sie es die ganze Zeit fordern. Eine Umstellung der kunststoffverarbeitenden Verpakkungsindustrie auf die Herstellung von ausschließlich recycelbaren Verpackungen, z. B. aus Polyethylen oder aus Polypropylen, geht nicht von heute auf morgen. Ich halte es daher auch nicht für sehr hilfreich, wenn Umweltminister in den Ländern jetzt die Kunststoffindustrie beschuldigen, sie bewege sich nicht. Bei einem Gespräch mit der kunststoffverarbeitenden Industrie in meinem Wahlkreis wurde mir der dringende Wunsch vorgetragen, die Verbundstoffe und die Duroplaste, die Ihrer Meinung nicht ersetzbar seien, thermisch zu verwerten. Kunststoff sei verarbeitetes 01 und damit zweiter Energieträger und als Brennstoff gut zu gebrauchen.Auf meinen Hinweis, Verbrennen sei nicht das Ziel der Verpackungsverordnung — zu Ihrer Beruhigung —, wurde mir ein für mich sehr einsichtiges Argument vorgehalten: Solange in Deutschland nicht, wie in der Schweiz, z. B. bei der Herstellung von Leitungsrohren zu einem bestimmten Prozentsatz die Verwendung von Recyclaten vorgeschrieben sei und solange selbst bei der Herstellung von Mülltonnen die Verwendung von Recyclaten nicht zwingend sei, so lange gehe die Rechnung nicht auf.Nun glaube ich zwar, daß unsere Industrie innovationsfähiger ist, als sie das manchmal öffentlich oder auch im Beisein von Mitbewerbern zugibt, aber die Hinweise auf die Veränderung unserer Produktnormen hin zu mehr Einsatz von Recyclaten in neuen Produkten sollten wir ernst nehmen. Wir sollten auf die Leute hören, die die Arbeitsplätze schaffen und die sich mit unseren komplizierten Vorschriften beschäftigen müssen. Wenn wir nicht die Gefahr eingehen wollen, daß Kunststoffmüll illegal ins Ausland transportiert wird, wenn wir auch nicht wollen, daß die Einzelhandelsgeschäfte zur zweiten Müllhalde werden, und wenn wir erst recht nicht wollen — ich denke, das darf ich als Vertreterin der Arbeitsgruppe Wirtschaft sagen —, daß unsere Kunststoffindustrie in Deutschland die Pforten schließt und Arbeitsplätze zuHunderttausenden wegfallen, dann brauchen wir neue Möglichkeiten zum Einsatz von Recyclaten, meine Damen und Herren.Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Liesel Hartenstein. Ich wünsche ihr einen etwas geringeren Geräuschpegel, als ihn die Vorrednerin hatte.
Danke schön, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer in der Klemme sitzt, sucht gern nach Sündenböcken. Hier sitzt nicht nur das Duale System in der Klemme, sondern auch die Bundesregierung. Lieber Kollege Kampeter, daran ändern auch alle beschönigenden Umschreibungen nichts.Es ist letztlich grotesk, wenn seit neuestem so getan wird, als ob der umweltbewußte Verbraucher am Debakel des Grünen Punktes schuld sei,
weil er im letzten Jahr 450 000 Tonnen Plastikabfälle gesammelt hat und nicht 40 000 Tonnen wie im Jahre 1990. Dafür ist er zu loben. Man soll nicht Ursache und Wirkung auf den Kopf stellen, wie Sie es in vielen Reden getan haben.
— Doch. Sie weigern sich immer noch, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Duale System von Anfang an eine abfallpolitische Mißgeburt war. Es spart keine einzige Verpackung ein und kostet den Verbraucher eine Menge Geld. Nicht wenige Länderminister haben das längst erkannt. Von einer totalen Bund-Länder-Harmonie, wie Graf Lambsdorff das dargestellt hat, kann überhaupt keine Rede sein. Es war bekannt, daß die DSD-Manager von Anfang an den Mund zu voll genommen haben. Es war bekannt, daß die Recyclingeinrichtungen fehlen. Es war auch bekannt, daß die Techniken noch nicht weit genug entwickelt waren. Aber alle Kritiker wurden mundtot gemacht. Der Umweltminister hat beide Augen zugedrückt. Das ist nicht entschuldbar.Der Verbraucher, meine Damen und Herren, wird gleich doppelt manipuliert. Auch das ist nicht entschuldbar. Zum einen wird er dadurch getäuscht, daß ihm eine ökologische Wiederverwertung vorgegaukelt wird, die in weiten Teilen nicht stattfindet.Zum anderen ist er wehrlos gegenüber der Zwangsabkassierung des Dualen Systems, denn er muß den Grünen Punkt auch dann bezahlen, wenn er bereit wäre, das leere Gurkenglas zum kommunalen Depot-Container zu bringen, statt es in den gelben Sack zu stecken.Das Geschäft ist unsolide, liebe Kolleginnen und Kollegen, denn von einer freien Wahl des Verbrauchers kann keine Rede mehr sein. Eigentlich müßte der Verbraucher dem Dualen System den Vertrag aufkündigen, mit der Begründung, die Geschäftsgrundlage ist entfallen.
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Dr. Liesel HartensteinVor zwei Jahren rühmte der damalige Parlamentarische Staatssekretär Schmidbauer die Verpackungsverordnung und das darauf basierende Duale System als sensationellen Durchbruch in der Abfallpolitik; das deutsche Vorgehen werde Modellcharakter haben, der Verpackungsaufwand werde — wörtlich — „drastisch zurückgehen". Heute ist offenkundig, daß dieses Experiment mißglückt ist. Der Verpackungsmüll steigt und gleichzeitig ist das DSD pleite.Fazit: Der Bundesumweltminister hat aufs falsche Pferd gesetzt. Man fragt sich, warum es der Bundesregierung eigentlich so schwerfällt, einzugestehen, daß sie einem kapitalen Irrtum aufgesessen ist. Die Erfahrung lehrt doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß sich ein Fehler oft erst dann als verhängnisvoll erweist, wenn man nicht den Mut aufbringt, ihn rechtzeitig zu reparieren.Das DSD ist hauptsächlich deshalb eine so unverzeihliche Fehlkonstruktion, weil es keinerlei Anreiz zur Vermeidung überflüssiger Verpackungen bietet. Die Überlegung ist simpel: Warum sollte eigentlich Vermeidungsdruck entstehen, solange Preisaufschläge ungeniert auf die Verbraucher übergewälzt werden können? Je mehr Verpackungen produziert werden, desto besser läuft doch für alle Beteiligten das Geschäft. Die Menge macht's, Herr Friedrich! Die Menge macht's!Selten hat es ein privates Unternehmen innerhalb von zwei Jahren auf einen Umsatz von vier bis fünf Milliarden DM gebracht. Das ist nur möglich, weil das DSD praktisch ein Monopolist ist. Mit dem Segen des Verordnungsgebers werden die Konkurrenten ausgeschaltet.
— So ist das. Verordnungsgeber sind beide, Herr Friedrich.Inzwischen haben übrigens renommierte Gutachter aus Ihren Reihen, z. B. Professor Rupert Scholz, die Monopolstellung des Dualen Systems auf dem Entsorgungsmarkt hart kritisiert und als verfassungswidrig eingestuft.
Ich frage die Bundesregierung: Warum zieht sie daraus keine Konsequenzen?
Solange der Hauptfehler nicht repariert ist, Graf Lambsdorff, kann von Markt oder echtem Wettbewerb doch keine Rede sein!
Meine Damen und Herren, das Anhäufen von Wertstoffbergen kann nicht Ziel einer modernen Abfallpolitik sein. Recycling ist immer nur die zweitbeste Lösung. Deshalb sind unsere Forderungen:Erstens. Ein modernes Abfallrecht muß endlich die Müllvermeidung an die erste Stelle rücken. Das tut der jetzt vorliegende Entwurf der Bundesregierung leider nicht.Zweitens. Das Duale System hat sein Klassenziel nicht erreicht. Es muß, wenn nicht aufgelöst, so doch von Grund auf reformiert werden.Drittens. Einwegverpackungen sind drastisch zu reduzieren und daher mit einer hohen Abgabe zu beleben. Anders kommen Sie hier, zumindest im Getränkebereich, nicht zum Ziel.
Lassen Sie mich schließen: Wir brauchen ein Bündnis von Verbrauchern, Umweltschützern und innovationsfreudigen Unternehmern, wenn der Weg zu einer ökologisch verträglichen Produktion geöffnet werden soll. Das ist möglich. Die Weichen sind aber hier in Bonn immer noch falsch gestellt. Sie können das ändern.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Sozialen Marktwirtschaft hat der Markt zentrale Koordinierungsfunktionen, auch für die Abfallwirtschaft. Deswegen fand ich es sehr erfrischend, daß Graf Lambsdorff auf die ordnungspolitische Dimension der heutigen Debatte hingewiesen hat. Die Bundesregierung hat im Kern ihrer abfallwirtschaftlichen Bemühungen Stichworte wie „Kreislaufwirtschaft", „Weg mit dem Ex und Hopp", „Einbeziehung der Konsumenten in die Vermeidung", „umfassende Anlastung der Entsorgungskosten" zu einem Thema gemacht. Ich glaube, daß kein anderes umweltpolitisches Thema die Menschen so bewegt, wo sie so mitmachen, wie durch die Veränderungen, die wir unter anderem durch die Verpackungsverordnung in den bundesdeutschen Haushalten einführen konnten.Die publizistische Großoffensive, die heute parlamentarisch mit etwas schriller Begleitmusik fortgeführt wird, verdunkelt die Tatsachen eher, als das sie die Bevölkerung über die Hintergründe der Verpakkungsverordnung aufklärt.
Richtig ist: Die Firma Duales System hat zur Zeit Probleme. Sie ist dabei, diese Probleme zu lösen. Falsch ist allerdings, daß dadurch die Verpackungsverordnung oder der durch sie vertretene Kreislaufgedanke diskreditiert wird.Die Gründe für die Probleme, die wir derzeit diskutieren, liegen nicht nur in dem übermäßigen Sammelerfolg, sondern sind teilweise auch hausgemacht. Das nehmen wir durchaus zur Kenntnis, so z. B. den niedrigen Lizensierungsgrad für Verpackungen im Non-food-Bereich, Trittbrettfahrerprobleme, wie sie bei den Zigaretten gelöst werden konnten, oder großzügige Zusagen an die Kommunen.Was allerdings heute von der Opposition an Kritik hier vorgetragen wurde, ist politisch abenteuerlich
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Steffen Kampeterund hat wenig Substanz. Da fordert der Kollege Feige von den GRÜNEN, wir sollen jetzt kräftig im Laden zurücknehmen. Herr Kollege Feige, es wird doch keine Tonne Kunststoff mehr verwertet, wenn Sie die Sammlung im Laden organisieren und nicht über ein sogenanntes Duales System!
Das ist doch nicht das Ziel! Es wird überhaupt nichts vermieden.Der Kollege Müller beklagt hier wehleidig die steigenden Entsorgungskosten.
Meine Damen und Herren, Sie können einander nicht mehr verstehen, wenn Sie so weitermachen. Und das lohnt beim besten Willen nicht. Ein wenig Zuhören ist schon richtig.
Ich wiederhole, daß der Kollege Müller die steigenden Entsorgungskosten hier beklagt, während die Kollegin Hartenstein eine Rederunde später eine deutliche Verpackungsabgabe fordert. Es ist doch überhaupt nicht mehr stimmig, was hier vorgetragen worden ist.
Es kann doch nur darin begründet sein, daß Sie die Verpackungsabgabe Grüner Punkt in privatwirtschaftlicher Hand nicht wollen und stattdessen stets staatswirtschaftliche Lösungen bevorzugen. Aber die staatswirtschaftliche Abfallwirtschaft hat uns doch in den Entsorgungskollaps geführt, über den wir heute diskutieren.
Die Kollegin Caspers-Merk redet von einer Mogelpackung. Frau Hartenstein, Sie haben von einer Mißgeburt der Verwertung gesprochen. Das ist doch einfach nicht richtig. Nehmen Sie bitte mal die Tatsachen zur Kenntnis: 1990 rund 20 000 t Kunststoffverwertung, 1993 160 000 t Kunststoffverwertung. Das sind 700 % mehr in drei Jahren! Das ist ein Erfolg dieser Verpackungsverordnung.
Hier wurde behauptet, es sei überhaupt nichts vermieden worden. Tatsächlich ist der Verpackungsmitteleinsatz in diesem Jahr um 500 000 t im Vergleich zum Jahre 1990 gesunken. Und wenn etwas nicht mehr verwendet wird, dann ist das ein ganz klarer Vermeidungserfolg.
Trotz aller oppositioneller Verdunklungsversuche
bleibt die Idee der Rücknahmeverpflichtung attraktiv.
Private Initiative organisiert die Entsorgung. Dies ist
doch ein Anreiz für den produktions- und produktintegrierten Umweltschutz.
Wichtig bleibt für uns, sofern freiwillige privatwirtschaftliche Lösungen in Selbstverpflichtungen nicht greifen, daß die Altpapierverordnung kommt, daß wir Regelungen für Altautos, Elektronikschrott, ähnlich wie die Verpackungsverordnung, haben.
Ich fasse zusammen:
Erstens. Das Duale System Deutschland ist finanziell konsolidiert.
Zweitens. Die kunststofferzeugende Industrie hat sich endlich bereit erklärt, einen substantiellen Beitrag für die Verwertung von Altkunststoffen zu leisten.
Drittens. Die Entsorgungsstrategie der Firma DSD hat sich den sammlerischen Realitäten in der Bundesrepublik anzupassen und ihr Verwertungs- und Entsorgungskonzept rasch fortzuentwickeln. Die Zusage des Handels, sich um die Lizensierung stärker zu kümmern, muß umgesetzt werden.
Viertens. Ein Scheitern des Dualen Systems Deutschland hätte katastrophale wettbewerbspolitische Effekte. Gerade kleine und mittlere Entsorgungsunternehmen würden dabei aus dem Markt gedrängt. Dies kann doch wohl nicht Sinn und Zweck unserer Politik sein.
Fünftens und abschließend: Die Freistellungsrücknahme, wie sie von einigen Länderministern gefordert wird, ist keine umweltpolitische Alternative. Aus Wertstoffen würde wieder Abfall deklariert. Statt Fortentwicklung der Verwertung erfolgt dann wieder das alte „Ex und Hopp". Das kann die SPD doch nicht allen Ernstes wollen.
Ich danke Ihnen.
Der letzte Redner ist Dr. Gerhard Friedrich. Ich hoffe, daß es etwas ruhiger zugeht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem mich der Kollege Feige gerade ansprach, möchte ich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen.
— Jetzt rede ich! — Der Kollege Feige ist einer der menschlich nettesten Kollegen, die ich hier im Bundestag kenne.
Aber, lieber Kollege Feige, Ihr habt einen Fehlergemacht: Ihr habt als Fraktion der GRÜNEN dieReferenten der GRÜNEN beschäftigt, und du
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Dr. Gerhard Friedrichmachst den Fehler, die unsinnigen Reden dieser Referenten hier vorzutragen.
Ich mache weiter: Der Kollege Feige war mit mir gemeinsam Mitglied des Kuratoriums DSD. Ich habe auch mit ein wenig Bedauern zur Kenntnis genommen, daß der Kollege Feige seinen Rücktritt
— Austritt erklärt hat. Hätte der Kollege den Austritt glaubwürdig begründen wollen, hätte er vorher den Versuch machen müssen, durch Anträge die Politik von DSD zu beeinflussen.
Ich stelle fest, der Kollege Feige hat im Kuratorium keinen einzigen Versuch dieser Art gemacht.
Ich bin Mitglied. — Moment, jetzt komme ich zu dem Punkt, der hier besprochen worden ist; auf den gehe ich doch ein. Das war der Antrag der Verbraucherverbände, in dem vorgeschlagen wurde, die Preise auf die Verpackungen aufzudrucken.
Das ist jetzt auch vom früheren F.D.P.-Bundesvorsitzenden unterstützt worden. Ich habe diesen Antrag im Kuratorium abgelehnt, weil ich meine, daß das zwar eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme wäre, aber es kommt nicht darauf an, ob der Verbraucher weiß, was das Recyclen dieser Verpackung kostet. Die Profis müssen wissen, was das kostet, diejenigen nämlich, die Verpackungsmaterial für ihre Waren einkaufen. Wenn sie feststellen, daß Kunststoffverpackung immer teurer wird, dann werden sie aus Kunststoff aussteigen, . wo immer es geht. Deshalb habe ich das abgelehnt, aber es wäre durchaus noch eine Maßnahme pädagogischer Art, über die man diskutieren könnte.
Nächster Punkt: Was ich sehr interessiert zur Kenntnis nehme — und das ist das Nützlichste an dieser ganzen Verpackungsverordnungsdebatte — ist, daß die Umweltverbände und die SPD plötzlich erkannt haben, daß das Verwerten ökologisch manchmal problematisch sein kann.
— Das haben sie erst entdeckt, seit die Wirtschaft selber stofflich verwertet.
Früher haben Kommunen versucht, stofflich zu verwerten.
— Ich weiß Ihren Namen nicht, Herr Kollege, aber in meinem Wahlkreis haben alle SPD-Kollegen und alle SPD-Mitglieder den Eindruck erweckt, durch möglichst viel Sammeln durch die Kommune könne man den Restmüll auf Null bringen.
Erst seit die Wirtschaft selbst verwertet, erkennen Sie die Probleme und darüber müssen wir vernünftig weiter reden. Wir müssen auch darüber reden, ob alle Verwertungstechniken, die da jetzt angewendet werden, ökologisch sinnvoll sind.
Darüber müssen wir doch reden!
Dann, Herr Kollege Müller, kommt die entscheidende Frage an Sie. Sind Sie denn dann bereit, mit uns die Verpackungsverordnung in diesem Punkt zu verändern?Ich werde solange einer Änderung der Verpakkungsverordnung nicht zustimmen, solange dann ein Triumphgeschrei kommt und gesagt wird: Da seht ihr, jetzt sind die mit ihrer Verpackungsverordnung gescheitert. Wenn Sie versprechen, diesen Unsinn dann nicht in der Öffentlichkeit zu bringen, können wir über Details der Verpackungsverordnung und bestimmte Methoden der Verwertung doch selbstverständlich reden.Herr Kollege Feige, Sie wissen doch, daß Herr Brück vom DSD die Hydrierung inzwischen in Form einer Energiebilanz überprüfen läßt. Der Mann hat doch die Probleme erkannt!
— Doch. Bloß, die Verbraucherinitiative hat gemeint, man könne jetzt alle Verfahren über Ökobilanzen hier überprüfen lassen. Herr Kollege Feige, wir kennen doch beide die Unterlagen des Umweltbundesamtes, welche methodischen Probleme bei den Ökobilanzen auftauchen.
Das wissen wir doch.Jetzt möchte ich noch eines zu den Exporten sagen, Herr Präsident, und dann höre ich auf. Frau Kollegin Kastner hat diese Exporte kritisiert. Ich habe einmal, solange die Kommunen gesammelt haben, die Privatentsorger der Kommunen gefragt, wo denn das Gesammelte lande. Sie haben mir gesagt: Bitte nicht laut sagen: teilweise im Ausland. Die Exporte, Frau Kastner, sind doch nicht neu;
die sind jetzt durch das Nachweissystem des Dualen Systems Deutschland sichtbar, und es ist schon ein bißchen eine Heuchelei, wenn Kommunalpolitiker der SPD bewußt die Augen davor verschlossen haben, wo das von ihnen früher gesammelte Material gelan-
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Dr. Gerhard Friedrichdet ist. — Auch im Ausland! Erst seit DSD das macht, ist das plötzlich ein Problem!
Verehrter Dr. Friedrich, Ihre Ankündigung habe ich gehört, und sie hat mich erfreut. Aber Sie sind jetzt doch deutlich über der Zeit.
Herr Präsident, es wäre noch vieles zu sagen.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich kann als nächsten Punkt, den Tagesordnungspunkt 5, aufrufen.
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten
— Drucksachen 12/4902, 12/5081, 12/5191 —
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten
— Drucksache 12/4907 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/5228 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Josef Laumann
Zum Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung liegt ein Änderungsantrag des Abgeordneten Günther Heyenn vor.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich das als beschlossen feststellen, die Debatte eröffnen und zunächst dem Abgeordneten Karl-Josef Laumann das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, daß der Bundestag heute mit seinen Beschlüssen die unterschiedlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte in unserem Land abschafft, und ich bin ganz sicher, hier im Haus gibt es auch eine große Übereinstimmung darin: Wenn man ein neues Kündigungsfristengesetz macht, dann passen in einer modernen Industriegesellschaft diese Unterschiede nicht mehr hinein. Schließlich sind es heute in der Regel Arbeiter, die Maschinen und Maschinenanlagen bedienen, deren Anschaffung die Firmen oft Millionen von Mark gekostet haben, und es ist gar nicht einzusehen, daß sie einen schlechteren Kündigungsschutz als etwa eine Verkäuferin haben, die Angestellte ist.
Im übrigen ist es auch auf Grund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 geboten, diese gravierenden Unterschiede zu beseitigen und — ich sage es ganz klar — diesen Zopf, der noch aus dem letzten Jahrhundert herrührt, abzuschaffen.Ich glaube, es besteht auch darüber Einigkeit, daß für die Menschen der Arbeitsplatz von existentieller Bedeutung ist. Dies ist nach meiner Meinung die beste Begründung, warum wir einen Kündigungsschutz brauchen und warum wir, wenn es zu Kündigungen kommt, auch Kündigungsfristen brauchen.
Andererseits können wir als Gesetzgeber die notwendigen Entscheidungen, die nun einmal im Unternehmen im Bereich der Personalpolitik anstehen können, nicht ignorieren.Der Vorschlag der SPD, die für Angestellte jetzt gültigen Kündigungsfristen von sechs Wochen zum Quartalsende auf alle in unserem Land beschäftigten Menschen auszudehnen,
hätte nach unserer Überzeugung eine Strangulierung von Entscheidungsprozessen bedeutet.
Meine Damen und Herren, auch die Anhörungen haben dies sehr deutlich gemacht. Die kleinen und mittelständischen Betriebe, die es teilweise schwerer als etwa größere Betriebe oder die öffentliche Hand haben, eine langfristige Personalplanung zu machen, wären durch lange Kündigungsfristen in ihrem unternehmerischen Handlungsspielraum sehr eingeengt.Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß es richtig ist, einen Mittelweg zu finden, wenn man über Kündigungsfristen spricht. Ich glaube, daß der Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion diesen Mittelweg aufzeigt.Diese Gesetzentwürfe bedeuten im übrigen für alle Arbeiter in Deutschland, für Angestellte in Kleinbetrieben und für die Beschäftigten in den neuen Bundesländern eine erhebliche Verbesserung des Kündigungsschutzes. Meine Damen und Herren, das sind zusammen immerhin 18 Millionen Menschen in unserem Land, die durch dieses Gesetz, das wir heute wohl verabschieden werden, einen besseren Kündigungsschutz haben werden als heute.Ich war schon ein bißchen darüber verwundert, daß von den Experten in der Anhörung, insbesondere von denjenigen, die von der Gewerkschaftsseite kamen,
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Karl-Josef Laumanndieser verbesserte Kündigungsschutz für die Arbeiter überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde.
Dennoch bin ich ganz optimistisch. Auch ich habe viele Gespräche mit Betriebsräten geführt. Ich habe den Eindruck, daß sie über diese Verbesserungen, die ich vorgetragen habe, sehr froh sind.
Ich war einige Jahre Mitglied eines Betriebsrats, bevor ich in den Bundestag kam. Ich wäre froh gewesen, wenn wir für die gewerblichen Kolleginnen und Kollegen einen solchen Kündigungsschutz gehabt hätten, wie wir ihn heute beschließen werden.Darüber hinaus ist es doch eine richtige Entscheidung — ich meine, es war auch eine gute Idee —, den Kündigungsschutz an der Dauer der Beschäftigung im Betrieb zu orientieren. Wir müssen uns einmal die Staffelungen ansehen. Mitarbeiter mit einer 20jährigen Betriebszugehörigkeit haben nach diesem Gesetz demnächst eine Kündigungsfrist von sieben Monaten. Das bedeutet auf der anderen Seite, daß diejenigen, die weniger lange im Betrieb tätig sind, kürzere Kündigungsfristen haben. Auf jeden Fall aber ist die Grundkündigungsfrist von vier Wochen einzuhalten. Damit ist die Flexibilität, die im Bereich der Personalpolitik notwendig sein kann, gegeben.Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten auch noch einen anderen Punkt aufgreifen. In den Diskussionen im Ausschuß und bei der Anhörung ist uns immer wieder der Vorwurf gemacht worden, der Vorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. im Bereich der Kündigungsfristen sei frauenfeindlich. Ich möchte diesen Vorwurf ganz energisch zurückweisen. Es war die CDU/CSU, die in den letzten Jahren dafür gesorgt hat, daß wir Schritt für Schritt zu einem Erziehungsurlaub von drei Jahren gekommen sind.
Wir waren es, die das Erziehungsgeld eingeführt haben. Ich sage deutlich: Das ist ein Kernstück christlich-demokratischer Familienpolitik. Das werden wir uns auch nicht zerreden lassen. Wenn Sie dieses Gesetz gelesen hätten, wüßten Sie, daß der gesetzliche Erziehungsurlaub von drei Jahren durch dieses Gesetz überhaupt nicht berührt wird, daß also gar keine Nachteile für die Frauen oder die Männer, die Erziehungsurlaub nehmen, eintritt.
Deswegen ist dieser Gesetzentwurf überhaupt nicht frauenfeindlich.Ich glaube, daß der Gesetzentwurf von CDU/CSU und F.D.P. — wie sollte es anders sein — vom gesunden Menschenverstand gezeichnet ist, daß er einen Mittelweg geht.
Ich bitte Sie, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Günther Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben im Parlament für die Beratung dieser Gesetzentwürfe weniger als drei Wochen Zeit gehabt. Das reichte offenkundig für eine Fehlentscheidung auf Grund des gesunden Menschenverstands der Koalition.Die Koalition muß die Kündigungsfristen von Arbeitern denen der Angestellten angleichen; so das Bundesverfassungsgericht. Die Koalition nutzt die Gunst der Stunde einer rezessiven Phase und kürzt drastisch die Grundkündigungsfristen für Angestellte. Heute beträgt diese Frist sechs Wochen zum Quartalsende. Zukünftig sollen Angestellte mit einer Frist von vier Wochen — und das zu jedem x-beliebigen Tag — gefeuert werden können.Vorgegeben wird, damit der Beschäftigung zu dienen. Tatsächlich wird nur die Rechtsposition der Arbeitgeber verstärkt.
Für die Arbeiter in den alten Ländern und für alle Arbeitnehmer in den neuen Ländern bedeutet das Gesetz allerdings eine Verbesserung. Aber das greift zu kurz, Herr Kollege Laumann: Angestellte in den alten Ländern haben das zu bezahlen. Es geht auch am Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorbei. Das höchste Gericht hatte über die Zulässigkeit ungleicher Fristen zu entscheiden. Es hat auf die existentielle Bedeutung des Arbeitsplatzes insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit hingewiesen und die Angleichung vorgeschrieben. Niemand in Karlsruhe dürfte damit gerechnet haben, daß die Koalition und die Bundesregierung dieses Urteil nutzen, um Arbeitnehmerrechte abzubauen. Es ging dem Verfassungsgericht um den Ausbau von Rechten der Arbeiter!
Ich glaube, meine Damen und Herren, es hätte sonst einen deutlicheren Urteilsspruch gegeben.Zu den sozialen Folgen dieses Gesetzes will ich kurz die DAG zitieren:1. Die Position der gekündigten Angestellten bei der Suche nach einem qualifizierten Arbeitsplatz auf einen immer differenzierteren und damit unübersichtlicheren Arbeitsmarkt sowie beim Aushandeln der Arbeitsvertragskonditionen wird ganz wesentlich verschlechtert, weil schon bald die Arbeitslosigkeit droht und deswegen sehr schnell zugegriffen werden muß. Dies führt zur beruflichen Abqualifizierung und zum sozialen Abstieg .. .2. Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen, da den geplanten rund 260 Kündigungsterminen — statt wie bisher für die meisten Angestellten nur vier — keine entsprechend große Zahl von Einstellungs-
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Günther Heyennterminen gegenüberstehen wird. Um keinen Einkommensausfall und keine Lücke in den Rentenversicherungszeiten entstehen zu lassen, müssen die Angestellten sich bis zum nächsten Einstellungstermin auf jeden Fall arbeitslos melden.Die kurzen Kündigungsfristen zu jedem Arbeitstag werden einerseits verstärkt zu Kündigungsschutzprozessen führen; andererseits den Kündigungsschutz noch mehr als bisher schon in seiner Wirksamkeit aushebeln, weil bei den kurzen Kündigungsfristen die Arbeitsgerichte kaum genug Zeit haben, den Bestand eines gekündigten Arbeitsverhältnisses zu retten.Das ist Schlichtweg die Wahrheit. Die Bundesregierung sah sich in den kurzen Ausschußberatungen in keiner Weise in der Lage, hierzu überhaupt eine Meinungsäußerung abzugeben. Darum ging es ihr nicht; die Folgen sind ihr schlicht gleichgültig.Meine Damen und Herren, das Arbeitsrecht ist das Sonderrecht für die abhängig Beschäftigten. Es gilt damit für mehr als 90 % der insgesamt Erwerbstätigen. Wir wollen deren Rechtsposition nicht schwächen, sondern sehen in der im Vergleich zu zurückliegenden Zeiten heute besseren Stellung der Arbeitnehmer eine konkrete und inhaltliche Ausgestaltung des Sozialstaats. Dieser hat nach unserem Grundgesetz Verfassungsrang. Ihn zu beachten und nicht unter die Räder kommen zu lassen müßte all denen am Herzen liegen, die sich unter Stabilität mehr vorstellen können als Profitraten, die wissen, daß auch der soziale Friede zu den Standortvorteilen eines Landes zählt; und der ist nicht umsonst zu haben.Wir lehnen deshalb den Entwurf der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen ab. Wir haben unseren eigenen Vorschlag vorgelegt. Wir wollen die Kündigungsfristen für die Arbeiter auf das Niveau der Angestellten anheben. Wir wollen eine sechswöchige Kündigungsfrist für alle Arbeitnehmer zum Quartalsende.Dieser Vorschlag hatte von Anfang an keine Chance, ebenso wie es bisher vergebliche Liebesmühe des Landes Brandenburg war, im Bundesrat einen eigenen, dort kompromißfähigen Antrag auszuarbeiten. Der Vorschlag aus Brandenburg hatte im wesentlichen zum Inhalt, die Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte auf sechs Wochen zum Monatsende festzulegen.Doch die Koalition war entschlossen, die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts zu einem erneuten Abbau der Arbeitnehmerrechte zu nutzen. Dazu hat sie im Bundestag die Mehrheit; sie wird von ihr genutzt.Ich habe schon bei der ersten Lesung aus der Stellungnahme des Bundesarbeitsministers an das Bundesverfassungsgericht zitiert. Originalton:Die Angestellten könnten darauf verweisen, die für sie bisher bestehenden Kündigungsfristen seien zum erheblichen Teil bereits im vorigen Jahrhundert eingeführt. Eine Verkürzung sei vor allem in der heutigen Zeit mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit ein unzumutbarer sozialer Rückschritt.So wahr der Bundesarbeitsminister im Reden hier gewesen ist, so unglaubwürdig ist er und sind Regierung und Koalition in ihrem tatsächlichen politischen Handeln.
Ich glaube, ein solches politisches Verhalten hat auch eine Menge mit Politikverdrossenheit zu tun.
Dieser Rückschritt wird jetzt realisiert. Die Weichen werden falsch gestellt. Der Koalitionsentwurf ist rückwärtsgerichtet. Er wird dem Anliegen des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Dieses wollte die Angleichung und nicht die Kürzung.Meine Damen und Herren, auf die besondere Situation der Frauen wäre in einem neuen Kündigungsschutzrecht einzugehen gewesen. Ich gebe all denen recht, die sagen: Daran haben Sie nicht einen Gedanken verschwendet. Auch das war Ihnen schnuppe. Sie wollten Rechte reduzieren und nicht gerechter gestalten.
Sie aber sind auf Deregulierung eingeschworen— Herr Laumann, das schönste Lächeln hilft nicht darüber hinweg —, die Krise wird instrumentalisiert. Einkommen werden von unten nach oben, Rechte von Arbeit zum Kapital umverteilt.
— Dazu sage ich gleich etwas.Dies will die Mehrheit; sie ist den Interessen der Arbeitgeber verpflichtet. Das ist legitim, man sollte es aber auch offen sagen.Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben noch die Möglichkeit, sich zu korrigieren. Sie werden sie nicht nutzen.Um Mißverständnissen vorzubeugen, sage ich, daß die Tatsache, daß unsere Änderungsanträge in der Überschrift nicht den Namen der SPD-Fraktion, sondern nur meinen Namen tragen,
darauf zurückzuführen ist, daß wir nur sehr wenig Zeit hatten. Sie hatten zwölf Jahre lang Zeit, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Uns zwingen Sie zu einer Entscheidung in knapp zwei Wochen. Es handelt sich um eine rein technische Frage.
Ich darf, um möglichen Zweifeln vorzubeugen, sagen, daß die SPD-Fraktion voll hinter den von mir namentlich gekennzeichneten Anträgen steht.Vielen Dank.
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Nur zur geschäftsordnungsgemäßen Klarstellung: Wir haben es mit dem SPD-Antrag insgesamt und in der zweiten Lesung mit dem Änderungsantrag des Abgeordneten Heyenn zu tun, hinter dem die ganze Fraktion steht. Ist das richtig so? — Jawohl, das ist eine Behauptung; wir sind hier gläubig.
Nun hat der Abgeordnete Paul Friedhoff das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem heute zu verabschiedenden Kündigungsfristengesetz kommen die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung dem Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts nach. Gleichzeitig werden die Unterschiede bei den Kündigungsfristen für Arbeitnehmer in den alten und neuen Bundesländern beseitigt. Dies ist ein weiterer Eckpfeiler auf dem Weg in die wirtschaftliche und soziale Einheit, die wir in diesem Lande schaffen müssen.
Gerade diese Neuregelung ist hervorzuheben, da sie doch eine deutliche Verbesserung der Rechtsposition der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern darstellt. Leider ist dies bei den Protesten der vielen Interessengruppen nach Einbringung des Gesetzentwurfes nahezu untergegangen.
Meine Damen und Herren, das Kündigungsfristengesetz sieht eine einheitliche Grundregelung der Kündigungsfristen für alle abhängig Beschäftigten vor. Die neue gesetzliche Kündigungsfrist wird vier Wochen betragen. Damit ist diese Frist für alle Arbeitnehmer in den neuen sowie für alle Arbeiter in den alten Bundesländern verdoppelt worden. Für die Angestellten wird die gesetzliche Frist allerdings um zwei Wochen verringert.
Gleichzeitig wird eine eindeutige Staffelung der Länge der Kündigungsfristen gemäß der Betriebszugehörigkeit vorgenommen. Danach verlängert sich die neue gesetzliche Kündigungsfrist bereits ab dem zweiten Jahr der Betriebszugehörigkeit. Dies hat in der Anhörung viel Kritik der Arbeitgebervertreter eingebracht, die ich verstehen kann, da sie die Flexibilität des Arbeitsmarkts sicher nicht erhöht, sondern einengt.
In die Neuregelung einbezogen werden auch die Arbeitnehmer, die in Unternehmen mit nur zwei Beschäftigten tätig sind. Für diese nicht unerhebliche Zahl von Arbeitnehmern wird es erstmals, trotz vieler, wie ich meine, verständlicher Bedenken vor allem aus dem Bereich des Handwerks, längere gesetzliche Kündigungsfristen geben.
Meine Damen und Herren, gerade diese Bedenken zeigen das Spannungsfeld auf, in dem eine Lösung gefunden werden mußte. Neben der sozialen Ausgewogenheit für die Arbeitsplatzbesitzer durfte die Neuregelung nicht zu sehr der Schaffung und Erhaltung von neuen Arbeitsplätzen entgegenstehen. Die Proteste von seiten der Angestelltenvertretung in den alten Bundesländern dürften eigentlich niemanden überraschen. Natürlich findet eine Schlechterstellung der gesetzlichen Kündigungsfrist bei den Angestellten statt.
Man muß beachten, daß das Gesetz ausdrücklich nur eine Grundregelung darstellt und die Tarifpartner nicht an abweichenden Regelungen hindert. Nach Berechnungen auch des DGB weist die Mehrzahl der Tarifverträge längere Kündigungsfristen aus. Die Tarifparteien bleiben bei der Gestaltung der Kündigungsfristen weiterhin unabhängig.
Dies ist ähnlich wie beim gesetzlich geregelten Mindesturlaub. Wir wissen alle, daß der Tarifurlaub in der Praxis nicht 18 Werktage, sondern eher 30 Arbeitstage und mehr beträgt. Auch dies ist in der Verantwortung der Tarifpartner ausgehandelt worden.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu der Abschaffung der Quartalskündigungstermine machen: Die Quartalskündigungen führen zu einer schubweisen Belastung des Arbeitsmarktes, der Arbeitsämter und der Arbeitsgerichte an vier Terminen im Jahr. Auch der DGB kann sich diesen Tatsachen nicht verschließen und hat sich für Monatskündigungstermine ausgesprochen. Dieser Teil der Neuregelung führt zu einem gesamtwirtschaftlich notwendigen Mehr an Flexibilität am Arbeitsmarkt und erleichtert einen möglichst nahtlosen Übergang in neue Arbeitsverhältnisse. Gerade kleine und mittlere Unternehmen können bei einem sechswöchigen Kündigungstermin zum Quartalsende häufig in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sein. Lange, inflexible Kündigungsfristen scheinen auf den ersten Blick zum Wohle der Arbeitnehmer zu sein. Tatsächlich stehen sie der Schaffung neuer Arbeitsplätze entgegen und können Arbeitsplätze gefährden.
Meine Damen und Herren, für Arbeiter und Arbeitnehmer vor allem in den neuen Bundesländern stellt sich de facto keine Verschlechterung, sondern eine deutliche Verbesserung der bisherigen Rechtsposition ein. Sie stellt eine Grundregelung dar; die Tarifpartner können im Rahmen ihrer Verantwortung hiervon abweichende Regelungen treffen. Das Kündigungsfristengesetz ist eine Lösung, die sozial ausgewogen und gleichzeitig gesamtwirtschaftlich vertretbar ist.
Die F.D.P.-Fraktion wird den vorliegenden Gesetzentwürfen der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zustimmen.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute vorliegende Beschlußempfehlung zur Vereinheitlichung der Kündigungsschutzfristen paßt geradezu klassisch zum Politikkonzept der Bundesregierung. Sie reiht sich ein in die Absicht, den Sozialstaat Stück um Stück weiter zu demontieren. Die leidige Karenztagediskussion zur Finanzierung der Pflegeabsicherung, die Debatte um Mißbrauch und übersteigertes Anspruchsdenken, der teilweise gelungene Versuch, die Tarifautonomie auszuhöhlen, stehen dafür ebenso wie der jetzt vorgeschlagene Abbau von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerschutzrechten. Für die Angestellten ist die vorgeschlagene Neuregelung des Kündigungs-
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Petra Blässschutzes ein schwerwiegender Eingriff in Jahrzehnte währende Schutzrechte.Zwar ergab sich der Handlungsbedarf der Bundesregierung aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1990, ausnahmsweise aber haben die obersten Richter dem Gesetzgeber nicht vorgeschrieben, in welcher Weise die aus verfassungsrechtlichen Gründen notwendig gewordene Angleichung der Kündigungsschutzfristen vorgenommen werden sollten. Der politische Spielraum der Regierung wurde jedoch dazu genutzt, um bestehende Kündigungsschutzrechte nach unten zu nivellieren.Natürlich ist die rechtliche Ungleichheit von Arbeitern und Angestellten ein Rudiment überkommenen Statusdenkens. Abhilfe aber hätte darin bestanden, die Schutzrechte für Arbeiterinnen und Arbeiter auf das Niveau der Angestellten anzuheben. Dies wäre auch angesichts der sich weiter dramatisch zuspitzenden Lage auf dem Arbeitsmarkt eine weit vernünftigere Lösung, als die Situation der noch Beschäftigten unsicherer zu machen.Betroffen von der geplanten Neuregelung der Kündigungsschutzfristen sind natürlich vor allem mal wieder Frauen.Erstens verbleiben sie zu einem übergroßen Teil wegen erziehungs- und familienbedingter Berufsunterbrechungszeiten immer auf dem Niveau der Grundkündigungsfristen und haben wenig Chancen, sich einen besseren Schutz zu erarbeiten, weil auf die immer noch frauentypische unkontinuierliche Berufsbiographie keine Rücksicht genommen wird.Zweitens sind es gerade Frauen, die eines besonderen gesetzlichen Schutzes bedürfen, weil gerade sie überwiegend in Bereichen tätig sind, die nicht zusätzlich durch tarifvertragliche Regelungen abgesichert sind, also in Klein- und Mittelbetrieben des Dienstleistungsbereichs, aber auch in der Textil- und Bekleidungsindustrie.Für sie hat die Dauer der Kündigungsfristen existenzielle Bedeutung. Wer das negiert, handelt frauenfeindlich.Die PDS/Linke Liste unterstützt daher die Forderungen der Gewerkschaften nach einer Angleichung der Kündigungsschutzfristen auf das Niveau der Angestellten und lehnt den von der Regierungskoalition vorgelegten Gesetzentwurf ab.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diskriminierungen sind in der Bundesrepublik in verschiedenen Bereichen an der Tagesordnung; das gilt auch im Arbeitsrecht.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1990 die unterschiedlichen Kündigungsfristen für Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellte insgesamt für verfassungswidrig erklärt und die Bundesregierung aufgefordert, eine Neuregelung zu treffen. Anstatt jedoch nun diesen Anlaß zu nutzen, die Kündigungsfristen der Arbeiter und Arbeiterinnen und insbesondere der ostdeutschen Angestellten auf das Niveau, das für Angestellte in Westdeutschland gilt, anzuheben, wählte die Koalition einen anderen Weg. Die gesetzlichen Kündigungsfristen werden für alle auf eine Frist von anfänglich vier Wochen festgesetzt, und Kündigungen sollen nun zu jedem Tag möglich sein.
Der Vorschlag der Regierungskoalition geht damit an der Intention des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vorbei, das die unterschiedlichen Kündigungsfristen nur insoweit für verfassungswidrig erklärt hat, als die Kündigungsfristen der Arbeiter und Arbeiterinnen eben kürzer sind als die der Angestellten. Darüber hinaus ist allerdings in diesem Urteil eindeutig und sehr deutlich hervorgehoben worden, daß die Kündigungsfristen eine Schutzfunktion haben, die nicht ohne weiteres negiert werden kann.
Selbst die Bundesregierung hat damals erklärt, daß es für die Angestellten „einen unzumutbaren sozialen Rückschritt bedeuten würde, diese Fristen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit mit erheblichen Schwierigkeiten, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, zu verkürzen". Das haben die Damen und Herren von der Bundesregierung aber offensichtlich ganz schnell wieder vergessen, als der Arbeitgeberverband eine Flexibilisierung der Kündigungsfristen favorisierte.
Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt die Neuregelung der Kündigungsfristen in der vorgeschlagenen Form ab, und zwar nicht nur wegen der Verschlechterung für Angestellte, sondern weil damit das Gegenteil des Notwendigen und Sinnvollen getan wird. Für alle Beschäftigten sind längere Kündigungsfristen zur Absicherung der eigenen Lebensplanung unabdingbar, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und wachsender Dauerarbeitslosigkeit um so mehr.
Wenn unter Bezugnahme auf tarifvertragliche Regelungen behauptet wird, daß die neuen Kündigungsfristen für viele Beschäftigte ohnehin nicht gelten würden, frage ich mich, warum solche Regelungen, die in vielen Fällen angeblich nicht greifen, überhaupt eingeführt werden sollen. Zweck einer solchen Behauptung ist vielmehr die bewußte Irreführung. Arbeitsverträge und Tarifverträge nehmen in der Regel Bezug auf die geltenden gesetzlichen Regelungen, und damit bekommt das durchaus eine Wirkung. Außerdem sind gerade kleine Betriebe häufig nicht tarifgebunden.
Es zeigt sich also auch in dieser Frage ebenso wie in der Diskussion um die Reduzierung der Arbeitslosengeldansprüche, daß die Demontage sozialer Leistungen fortgesetzt wird. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird dazu ihre Zustimmung nicht geben.
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14225
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung begrüßt die von der Ausschußmehrheit beschlossene Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen, denn sie stellt einen für alle Beteiligten akzeptablen Mittelweg dar und bringt im Ergebnis Verbesserungen für über 18 Millionen Arbeitnehmer.
Daß Sie, Herr Kollege Heyenn, dennoch eben Kritik geübt haben, steht Ihnen nicht nur zu, sondern macht an Punkten fest, die aus Ihrer Sicht auch kritikwürdig sein mögen. Nur sollten Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hier nicht falsch interpretieren. Es ist auch nicht richtig, wenn Sie feststellen, das Gesetz gehe an diesem Urteil vorbei. Das entspricht nun wirklich nicht den Tatsachen; denn das Bundesverfassungsgericht hat die Arbeiterfristen für nichtig erklärt und gleichzeitig verlangt, daß einheitliche Fristen für Arbeiter und Angestellte vom Gesetzgeber hergestellt werden müssen. Es hat keine Angleichung der Fristen der Arbeiter an die der Angestellten verlangt, wie es eben aus Ihren Worten herauszuhören war. Ich möchte das hier ausdrücklich sagen.
Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich sagen, daß die Bundesregierung sehr wohl Auskunft gegeben hat,
welche Arbeitsmarktauswirkungen sie sieht. Ich selbst habe das gestern auf Ihre Fragen hin im Ausschuß noch getan. Dies hier zu kritisieren geht an den Tatsachen vorbei.
Meine Damen und Herren, die Neuregelung orientiert sich an folgenden Grundsätzen: an der Abschaffung des unterschiedlichen Rechts für Arbeiter und Angestellte, einer stärkeren Staffelung der Kündigungsfristen nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit, der Vorfahrt für Tarifregelungen — das möchte ich ausdrücklich betonen — und dem Verzicht auf Quartalskündigungstermine. In diesen Punkten befinden wir uns im Konsens mit den Sozialpartnern.
Für die Neuregelung der Kündigungsfristen war auch der mit der IG-Chemie und der DAG abgeschlossene Manteltarifvertrag für die chemische Industrie von Bedeutung. Demgemäß hat auch der Gesetzgeber einen mittleren Weg eingeschlagen und nicht alles nach oben angeglichen. Wir dürfen unsere Schutzvorschriften nicht überziehen, wenn wir nicht Einstellungshemmnisse schaffen und befristete Arbeitsverhältnisse fördern wollen. Leidtragende einer solchen Politik wären mit Sicherheit die Arbeitsuchenden. Deshalb sieht die vorliegende Neuregelung eine vierwöchige Grundkündigungsfrist in Verbindung mit bei der Arbeitgeberkündigung einzuhaltenden steigenden Fristen für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer vor.
Für Arbeiter führt der Gesetzentwurf zu erheblich verlängerten Kündigungsfristen. So verdoppeln sich insbesondere die derzeitige Grundkündigungsfrist von zwei auf vier Wochen, und die in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit verlängerten Kündigungsfristen, die jetzt höchstens drei Monate betragen, werden auf bis zu sieben Monate erhöht. Diese längeren Kündigungsfristen gelten auch für die Angestellten in den neuen Bundesländern, wo derzeit noch die Arbeiterfristen angewendet werden.
Damit beseitigt die Neuregelung einen der letzten noch bestehenden Unterschiede in der arbeitsrechtlichen Behandlung der Arbeitnehmer in den alten und den neuen Bundesländern.
Wichtig ist auch, meine Damen und Herren, daß für die Angestellten in Betrieben mit bis zu zwei Angestellten erstmals Kündigungsfristen gelten, die sich in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit verlängern, und zwar je nach Beschäftigungsdauer bis zu sieben Monaten. Die Damen und Herren, die dort beschäftigt waren, waren bisher von diesem Schutz ausgeschlossen.
Die Kritik der Gewerkschaften richtet sich gegen die Fristverkürzung für Angestellte in den alten Bundesländern. Die eintretende Fristverkürzung ist meiner Ansicht nach vertretbar. Der vorliegenden Neuregelung muß zugute gehalten werden, daß sie als Ausgleich für diese Fristverkürzung eine neue Stufe der Kündigungsfristen für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer mit sich bringt. So ist nach 20jähriger Betriebszugehörigkeit eine Kündigungsfrist von sieben Monaten vorgesehen.
Eines kann nicht oft genug wiederholt werden, meine Damen und Herren, und es war auch aus dieser Debatte herauszuhören: Der Kündigungsschutz als solcher, der vor ungerechtfertigten Kündigungen schützt, wird durch das vorliegende Gesetz in keiner Weise berührt.
— Herr Kollege Andres, der Kündigungsschutz als solcher wird durch dieses Gesetz in keiner Weise berührt, die Kündigungsfristen werden berührt.
Herr Staatssekretär, der Abgeordnete Büttner möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bewußt, daß es beim Kündigungsschutz eine entscheidende Rolle spielt, in welch kurzer Zeit jemand vor Gericht durch einen entsprechenden Beschluß seinen Arbeitsplatz sichern lassen kann, und daß durch eine Verkürzung der Kündigungsfrist die Chance, den Arbeitsplatz zu erhalten, in der Tat verringert wird?
Nein, Kollege Büttner, da muß ich Ihnen heftig widersprechen. Ich habe selber Arbeitnehmer vor dem Arbeitsgericht vertreten. Die Verlängerung oder die Verkürzung der
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Parl. Staatssekretär Horst GüntherKündigungsfrist hat mit den Kündigungsgründen, die zu einer Kündigung führen, überhaupt nichts zu tun.
Und ein Arbeitsgericht bewertet nicht, wie lange der Kündigungsschutz ist, sondern ob die Kündigung sozial gerechtfertigt oder durch betriebliche Gründe bedingt ist.Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie hingegen lassen politisches Verantwortungsgefühl vermissen, wenn Sie, wie in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen, alle Fristen nicht nur bis auf das herkömmliche Angestelltenniveau, sondern noch darüber hinaus verlängern wollen.
Es kann doch nicht unser Ziel sein, Neueinstellungen zu erschweren. Dies bewirken aber gerade auch Quartalskündigungstermine, die eine Konzentration aller Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkündigungen auf vier Termine im Jahr nach sich ziehen würden. Jedem Arbeitnehmer, der außerhalb dieses Quartalsrhythmus eine Stellung sucht, wird automatisch der Stempel aufgedrückt, sein Arbeitsverhältnis sei nicht ordnungsgemäß beendet worden. Dies hat auch der DGB erkannt. Er hat deshalb auf Quartalskündigungstermine verzichtet. Leider hat es sehr lange gedauert, bis auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, mit Ihrem Verzicht auf Quartalskündigungstermine doch noch einen gewissen Realitätssinn bewiesen haben.Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie der vorliegenden Beschlußvorlage zustimmen würden.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten. Hierzu liegen die Drucksachen 12/4902, 12/5081, 12/5191, 12/5235 und 12/5228 vor.Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag des Abgeordneten Günther Heyenn abstimmen, der Ihnen auf Drucksache 12/5239 vorliegt. Der Änderungsantrag, so hat der Abgeordnete Heyenn ausgeführt, findet die Unterstützung der SPD-Fraktion.
Ich lasse zunächst über den Buchstaben A. des Änderungsantrags abstimmen. Wer für den Buchstaben A. des Änderungsantrags ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist dieser Teil des Änderungsantrags abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Buchstaben B. des gleichen Änderungsantrags. Wer stimmt für den Buchstaben B. dieses Änderungsantrags? — Wer stimmt dagegen? —
Damit ist auch dieser Teil des Änderungsantrags mit der gleichen Mehrheit abgelehnt worden.Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschuß-fassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenommen.Wir kommen nunmehr zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer den Gesetzentwurf als Ganzes ablehnen will, den bitte ich, sich ebenfalls zu erheben. — Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Lesung angenommen worden.Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksachel2/5228 empfiehlt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4907 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist die Mehrheit für die Empfehlung gegeben und der Gesetzentwurf für erledigt erklärt.
— Nein, das ist nur eine sinnlose Demonstration gewesen.Ich rufe den Punkt 6a bis f sowie den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:6. Entwicklungspolitische Debattea) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Karl-Heinz Hornhues, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der „Dritten Welt"— Drucksachen 12/1356, 12/4098 —Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Adler Dr. Winfried PingerIngrid Walzb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14227
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergEntschließung zur Strukturanpassung in den Entwicklungsländern— Drucksachen 12/2786, 12/4618 —Berichterstattung:Abgeordnete Jochen Feilcke Dr. Ingomar HauchlerIngrid Walzc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUnterzeichung und Ratifizierung des Obereinkommens 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern der Internationalen Arbeitsorganisation
— Drucksachen 12/3824, 12/4786 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Harald Schreiber Ingrid WalzVerena Wohllebend) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Schmidt , Dr. Winfried Pinger, Jürgen Augustinowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ingrid Walz, Ulrich Irmer, Dr. Gisela Babel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Entwicklung und Aufbau von sozialen Sicherungssystemen in den Entwicklungsländern— Drucksache 12/4553 —Überweisung svorschla g:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und Jugende) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Rudolf Bindig, Peter W. Reuschenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDRepatriierung und Reintegration von Flüchtlingen— Drucksache 12/4662 —Überwei sungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger Ausschußf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Schulte , Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGesetzesvorlagen— Drucksache 12/4350 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Verena Wohlleben, Hanna Wolf, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFörderung von Frauen in Entwicklungsländern— Drucksache 12/5229 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für Frauen und JugendZur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Strukturanpassung in den Entwicklungsländern liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/5232 vor.Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von zwei Stunden vor. Ich will jetzt einmal fragen, ob diejenigen Mitglieder, die beabsichtigen, an der Debatte teilzunehmen, mit diesem Vorschlag einverstanden sind. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.Bevor ich dem Abgeordneten Professor Dr. Pinger das Wort gebe, möchte ich aber die erforderliche Ruhe herstellen und alle diejenigen, die nicht an der Debatte teilnehmen wollen, bitten, schleunigst den Saal zu verlassen. — Auch der Abgeordnete Laumann wird gebeten, sich zu entscheiden, ob er bleiben will oder nicht, damit Herr Professor Pinger die Diskussion eröffnen kann. — Herr Professor Pinger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neue Entwicklungspolitik der Bundesregierung wird für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland immer klarer. Damit wird auch die Zustimmung größer und die Unterstützung breiter.Der heute zur Beschlußfassung anstehende Antrag zur Förderung der privaten unternehmerischen Initiative konkretisiert das Gesamtkonzept: Wirtschaftliche Entwicklung kann entscheidend nicht von außen und von oben durch einige wenige industrielle Großprojekte und schon gar nicht durch den Staat gefördert werden. Die Wirtschaft entwickelt sich von unten durch die außerordentlich große Vielzahl und Vielfalt kleiner und kleinster Unternehmen — vor allem auch im informellen Sektor. Es geht um die Stärkung der großen Produktivkraft der Armen und Ärmsten. Sie können sich selbst helfen, und wir können ihnen Hilfe zur Selbsthilfe leisten, wenn nur der Staat die notwendigen Freiräume gewährt und die richtigen Rahmenbedingungen setzt.
Meine Damen und Herren, je größer die Unterstützung für diese neue Entwicklungspolitik ist, um so heftiger wird die Kritik der SPD.
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14228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Winfried PingerGanz massiv ist diese Kritik in der letzten Zeit geworden. Gewiß ist es die Aufgabe der Opposition, die Regierungspolitik kritisch zu begleiten. Dies kann übrigens sehr förderlich sein.
Wer sich jedoch ernsthaft mit den Vorwürfen der SPD-Opposition und mit der vorgelegten eigenen Konzeption der SPD auseinanderzusetzen versucht, ist völlig ratlos. Bisher schien es, daß die SPD die neue Entwicklungspolitik der Koalition — in ihren Grundzügen zumindest — mittragen würde, nämlich Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe statt Großprojekten und staatlicher Bevormundung; Verbesserung der Rahmenbedingungen durch Errichtung einer Wettbewerbsordnung im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft sowie Partizipation der Bevölkerung auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene durch Demokratisierung in den staatlichen Strukturen. Ist all dies jetzt die falsche Richtung? Bedarf es hier einer Neuorientierung?Da frage ich mich immer wieder: Was und wen kritisiert die SPD eigentlich? Ist Gegenstand der Kritik — so frage ich — die neue Entwicklungspolitik der Regierung, von der doch die SPD und ihr Obmann Hauchler sagen, diese sei in Ordnung, man könne ihr im wesentlichen zustimmen? Trotzdem fordert Ingo-mar Hauchler im Widerspruch dazu gleichzeitig die Neuorientierung der Entwicklungspolitik.
Will er denn zu der alten, längst als verfehlt erwiesenen Entwicklungszusammenarbeit zurückkehren, also sozusagen eine Rolle rückwärts vornehmen?
Das kann es doch wohl nicht sein.Oder wendet sich die SPD mit ihrer Kritik gar nicht an die Bundesregierung, sondern meint sie die anderen Industrieländer, die als Geberländer aus den Fehlern der Vergangenheit zum Teil nicht in gleicher Weise gelernt haben wie die Bundesregierung?Oder ist es vielleicht ganz anders? Bezieht sich die harsche Kritik weder auf die Bundesregierung noch auf die anderen Geberländer, sondern auf einen Teil der Genossinnen und Genossen in der eigenen Partei, die ihre Vorstellungen von Entwicklungspolitik immer noch von vorgestern beziehen — also aus der Zeit, in der die SPD die Entwicklungsminister stellte?
Diese Widersprüchlichkeiten will ich an einigen Beispielen deutlich machen.Ein Vorwurf geht dahin, die Entwicklungspolitik setze einseitig auf Industriepolitik von außen und Exportförderung aus den Entwicklungsländern.
Unsere neue Entwicklungspolitik kann damit nicht gemeint sein.Ich zitiere aus dem Antrag 12/1356, der heute zur Abstimmung steht: „Die Förderung der Kleinstunternehmen im informellen Sektor ist zu stärken." Diese Kleinstunternehmen betätigen sich aber bekanntlich in Werkschuppen und in Basaren, jedoch nicht auf dem Weltmarkt. Wir setzen also gerade nicht auf Industriepolitik und Exportförderung in einseitiger Weise, sondern auf Hilfe zur Selbsthilfe im produktiven Bereich statt staatlicher Bevormundung.Gegen wen wendet sich also die SPD-Kritik? Unsere Entwicklungspolitik und unser Antrag können es also nicht sein.Nun zitiere ich aus dem SPD-Papier.
Da steht erstaunlicherweise: „Eine neue Entwicklungspolitik muß das Gegenteil tun, nämlich in den Ländern des Südens und Ostens die inneren Rahmenbedingungen für produktives Wirtschaften stärken, die inneren Produktionsfaktoren direkt auf breiter Front fördern." Meine Damen und Herren, dies könnte wortwörtlich aus der Konzeption unserer neuen Entwicklungspolitik abgeschrieben sein.
Der zweite Vorwurf der SPD mahnt die Kohärenz, also die Verzahnung der einzelnen Politikbereiche, an, z. B. die von Entwicklungpolitik und Außenpolitik sowie die von Entwicklungspolitik und Wirtschaftspolitik. Das ist in der Tat ein wichtiger Punkt.Nehmen wir nun als Beispiel die Verzahnung der Entwicklungspolitik mit der Außenpolitik. Hier gibt es traditionell ein Spannungsverhältnis — ist doch Außenpolitik in erster Linie angelegt auf die gegenwärtigen, aktuellen guten Beziehungen zu der jetzigen Regierung und zum derzeitigen Präsidenten, während Entwicklungspolitik die langfristige Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen in einem Zeitraum zum Ziel hat, in dem bereits der übernächste Putsch möglicherweise stattgefunden hat.Das Prestigeprojekt, die Prachtstraße der Hauptstadt, steht dann möglicherweise in Alternative zur Verbindungsstraße in den ländlichen Raum, zur Entwicklung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Traditionell, also auch in der Zeit der SPD-Entwicklungsminister, trat in der Praxis immer wieder dieser Gegensatz zutage, und es setzte sich allzuoft der Außenminister durch.Dies ist heute anders, und damit haben wir jetzt eine, wie ich meine, sensationelle Verbesserung der Situation. Auf der afrikanischen Botschafterkonferenz in Accra hat Außenminister Kinkel nahtlos das jetzige neue Konzept zugrunde gelegt, das als Afrika-Regionalpapier im vergangenen Jahr von Entwicklungsminister Spranger vorgelegt worden ist. Bemerkenswert war dabei auch, daß die anwesenden 38 deutschen Botschafter aus ihrer Praxis heraus dieses Konzept unterstützten und seine Umsetzung zusagten. Also Kohärenz der Außenpolitik mit der Entwicklungspolitik!Ein weiteres Beispiel ist für mich die Sicherheitspolitik. In Somalia — und vorher in Kambodscha — zeigt
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14229
Dr. Winfried Pingersich die Kohärenz deutscher Sicherheitspolitik mit der Entwicklungspolitik. Die Bundeswehr schützt nicht nur unsere deutschen Mitbürger; sie schützt auch Menschen in der Dritten Welt.
Da habe ich nun für die Politik der SPD überhaupt kein Verständnis, vor allen Dingen nicht für die SPD-Entwicklungspolitik. Die SPD will globale menschliche Entwicklung. Der Vorsitzende betont: „global human security". Wenn es dann aber konkret um den Schutz der Menschen in Somalia vor Mord und Verhungern geht, fällt die SPD der Bundesregierung in den Rücken. Die SPD verlangt für die Vereinten Nationen ein Gewaltmonopol zur Friedensschaffung in der Welt. Setzen aber die Vereinten Nationen in Somalia Gewalt ein, dann versucht die SPD, den Kampfeinsatz der Vereinten Nationen dadurch zu schwächen, daß die deutschen Soldaten vom Bundesverfassungsgericht zurückbefohlen werden.Was die Verzahnung, die Kohärenz der Entwicklungspolitik mit der Außenpolitik angeht, können wir — wie sich zeigte — einen großen Fortschritt vermerken. Bei der Sicherheitspolitik haben wir in Somalia wenigsten einen wichtigen Einstieg erreicht, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht würde in diesen Stunden anders entscheiden.Probleme bereitet uns — wir wir alle wissen — insbesondere die Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft, wenn es um Kohärenz der Entwicklungspolitik mit der Wirtschaftspolitik geht, vor allen Dingen was das Gebiet des Agrarmarktes angeht. Was sollen aber Ihre, der SPD, ständigen Mahnungen hinsichtlich des Protektionismus, wenn Sie uns bei der ersten Gelegenheit, konkret gegen eine neue EG-Einfuhrhürde anzugehen, in den Rücken fallen? Wie glaubwürdig sind Ihre ständigen Forderungen nach Kohärenz, wenn Sie schon bei den „EG-Bananen" davon abrücken?
Es bleibt mir festzustellen: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, sind — und davon sind wir überzeugt — auf dem richtigen Weg. Die notwendige Neuorientierung der Entwicklungspolitik hat längst stattgefunden. Die Erfolge unserer Entwicklungspolitik sind sichtbar: Die selbsthilfeorientierten Maßnahmen nehmen zu. Viele Menschen in den Entwicklungsländern schöpfen neue Hoffnung. Ihr Selbstvertrauen wird gestärkt. Die Kritik der SPD trifft daher auf unsere neue Entwicklungspolitik nicht zu. Wir brauchen keinen neuen Kurswechsel.
Die CDU/CSU wird daher auch weiterhin konsequent die Entwicklungspolitik des Bundesministers unterstützen. Wir sind überzeugt, wir sind auf dem richtigen Weg, und bitten die Opposition, ihre Kritik differenzierter vorzunehmen und im wesentlichen — wie wir glaubten: wie bisher — dieser Politik auch zu folgen.
Als nächster spricht nun unser Kollege Professor Dr. Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pinger, es war eine sehr defensive Rede, die Sie hier vorgetragen haben.
Sie haben sich nachdrücklich mit der Kritik der SPD an der Regierungspolitik auseinandergesetzt. Das ist ein gutes Zeichen.Meine Damen und Herren, wenn wir heute in einer verbundenen Debatte über Entwicklungspolitik reden, dann steht für mich — genau auf den Tag vier Wochen nach der Neuregelung des Asylrechts — die Frage im Vordergrund: Kann die Entwicklungspolitik, wie wir sie heute betreiben, einen nennenswerten Beitrag leisten, um die Ursachen der Flucht, also Hunger und Elend, Gewalt und Krieg, zu bekämpfen?Ich frage das im Interesse der Menschen im Osten und Süden, die nicht einfach so ohne Grund die Heimat verlassen; ich frage das aber auch im Interesse des eigenen Landes. Mit Abschottung werden wir das Grundproblem einer wachsenden Völkerwanderung sicher nicht lösen. Das Grundproblem haben wir noch nicht gelöst. Es liegt darin, daß Armut, Unterdrückung und fehlende Hoffnung auf Entwicklung immer mehr Menschen veranlassen, ihre Heimat im Süden und Osten zu verlassen, um im Norden eine Lebensperspektive zu finden.Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien sind dieser Herausforderung bisher nicht nachgekommen, und ihre jetzige Politik läßt nicht erwarten, daß sie in Zukunft dieser Herausforderung nachkommen werden. Ich will das mit vier Argumenten begründen.Erstes Argument. In der Bundesregierung und der Koalition verdrängt militärisches Denken zunehmend entwicklungspolitisches Engagement.
Der Bundeswehreinsatz in Somalia belegt — wie schon die gewaltige Finanzspritze für den Golfkrieg —, daß die Bundesregierung, während sie ihr entwicklungspolitisches Engagement zurückfährt, im Zweifel immer genügend Geld hat, wenn es um Militäraktionen geht.
In Somalia werden schnell einmal 200 Millionen DM für militärische Zwecke bezahlt, während in all den Jahren, als sich dort Hunger und Gewalt immer höher stauten, jährlich nur ein Bruchteil dessen für Entwicklung ausgegeben wurde, also für die Prävention gegen Gewalt, gegen Hunger, gegen Elend, gegen Flucht.
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14230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Ingomar HauchlerMan stelle sich vor: Was der Bundeswehreinsatz in Somalia in wenigen Monaten kostet, ist etwa das Doppelte dessen, was der Deutsche Entwicklungsdienst jährlich weltweit für seine Arbeit zur Verfügung hat. Dies ist ein Skandal!
Dabei ist der Bundeswehreinsatz entwicklungspolitisch ziemlich wertlos. Statt daß humanitäre Aktionen, Wiederaufbau und entwicklungspolitische Initiativen abgesichert werden, übernimmt das Militär dort selbst die Rolle des Not- und Entwicklungshelfers mit vergleichsweise sehr hohen Kosten und sehr geringer Kompetenz. Dieser Einsatz verschwendet Steuergelder, weil die Bundesregierung und die Industrieländer kein Konzept haben, um militärische Friedenssicherung, Wiederaufbauhilfe und Entwicklungszusammenarbeit miteinander zu verknüpfen. Nur so aber hätte eine militärische Sicherung wirklich Sinn.Wenn ich dies sage, so ist dies kein Votum gegen eine verfassungskonforme Beteiligung von Deutschen an Friedensmissionen der Vereinten Nationen.
Ich bin für eine Beteiligung der Deutschen an einem robusten Einsatz von Blauhelmen zur Absicherung humanitärer Aktionen.
Ich bin auch dafür, wenn Wirtschaftssanktionen oder das Verbot von Waffenexporten nur so effektiv durchgesetzt werden können. Was aber die Bundesregierung in Somalia vollführt,
ist ein Eiertanz im Dreieck von militärischem Muskelspiel, Verfassungsbeugung und konzeptionsloser Reaktion auf internationalen Druck.
Zweites Argument: Westliche Strukturanpassungsauflagen verschärfen die Fluchtursachen. Die Bundesregierung hat sich seit den 80er Jahren mitschuldig gemacht, daß sich das Elend in der Dritten Welt verschärft hat. Im Verein mit anderen großen Industrieländern hat sie eine brutale Strukturanpassungspolitik im Süden durchgedrückt. Und genau das, Herr Kollege Pinger, haben Sie doch unterstützt. Die Bundesregierung hat mit zu verantworten, daß im Kern der Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF die Exportsteigerung stand, um Altschulden bezahlen zu können.Heute verabreichen wir den Ländern des Ostens die gleiche Schocktherapie. Diese wird dort — wie schon im Süden — zu noch mehr Hunger und Umweltzerstörung, zu weniger Bildung und Gesundheit und damit auch zu noch mehr Flucht führen. Wir Sozialdemokraten werden dem entschieden entgegentreten.Strukturanpassung muß sein; sie darf aber nicht zum Niedergang von Produktion und Investition, zur Vernichtung inländischer Potentiale, zum sozialen Flächenbrand und zur Gefährdung demokratischer Ansätze führen — mit der nur vagen Hoffnung, daß eines fernen Tages alles besser würde. Es könnte dann, wenn die Medizin unserer westlichen Entwicklungstherapie gewirkt hat, heißen: Operation gelungen, Patient tot.Strukturanpassung muß sein, aber vor allem auch in den Industrieländern, bei uns. Im Gegensatz dazu läßt die Bundesregierung zu, daß in unserem Lande weiter Energie und Wasser, Natur und Raum verschwendet werden, die Umweltzerstörung ihren Lauf nimmt, der Individualverkehr explodiert und uns die Klimakatastrophe immer näherrückt.Drittes Argument, warum Sie den Herausforderungen nicht gewachsen sind: Politischer Opportunismus und eigene Wirtschaftsinteressen sind auf dem Vormarsch bei der Entwicklungspolitik der Bundesregierung.
— Das erkläre ich Ihnen jetzt. — Die Regierung betreibt zunehmend Entwicklungspolitik aus politischem Opportunismus. Welches Land in welchen Sektoren für welches Projekt eine Förderung erfährt, richtet sich nicht vornehmlich nach einer entwicklungspolitischen Konzeption, sondern immer mehr nach einer schnell wechselnden Mischung aus eigenen außen-, wirtschafts-, finanz- und innenpolitischen Prioritäten.
Diese Prioritäten, nicht entwicklungspolitische, drängen die Entwicklungspolitik immer mehr ins Abseits und degradieren — verzeihen Sie, Herr Minister, das deutliche Wort — den Entwicklungsminister zum Erfüllungsgehilfen und zum Public-Relations-Manager mächtigerer Kollegen.Das sieht so aus: Siemens will ein supermodernes digitales Fernsprechnetz in einem Entwicklungsland aufbauen. Gut, also helfen wir Siemens, indem wir dem Land für dieses hyperteure Projekt zig Millionen aus dem Entwicklungsetat zur Verfügung stellen, obwohl dort nicht einmal die Ernährungsgrundlage gesichert ist. Was kümmert es uns, wenn die Menschen dort ihre Heimat verlassen, weil sie nichts zu essen haben?Oder: China macht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Golfkrieg möglich. Also helfen wir den Altkommunisten in China, am Ruder zu bleiben. Nach dem großen Lamento über das Massaker in Peking 1989 steht China schon wieder ganz oben auf der Liste wirtschaftlicher Kooperation und an zweiter Stelle der größten Empfängerländer deutscher Entwicklungshilfe. Was kümmert es uns, wenn aus China weiter Menschen zu uns fliehen, die politisch verfolgt werden?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14231
Dr. Ingomar HauchlerDiese Politik ist nicht nur schizophren, sondern auch kurzsichtig. Sie macht uns im Süden und Osten völlig unglaubwürdig.
Wir müssen endlich unsere knappen öffentlichen Mittel konzentrieren, Kontinuität unserer Kriterien und Verläßlichkeit unserer Maßnahmen in der Entwicklungspolitik sicherstellen und vorwiegend jenen Ländern helfen, die selbst eine demokratische und entwicklungsorientierte Politik verfolgen.Herr Kollege Pinger, „Hilfe zur Selbsthilfe" ist ja ein altes Schlagwort. Das kennen wir. Dafür sind wir. Aber wir haben das Konzept inhaltlich weiterentwikkelt. Wir reden nicht einfach von „Hilfe zur Selbsthilfe". Nein, wir sagen: Wir haben eine Verantwortung, die inneren produktiven Potentiale in diesen Ländern systematisch zu stärken.
Dazu gehört, daß wir aus kapitalfressenden und isoliert stehenden Großprojekten aussteigen und konsequent auf Programme setzen — hören Sie zu —, die dem Aufbau der inneren Potentiale eines Entwicklungslandes zugute kommen.
Dazu gehören Ernährungssicherung und Gesundheit, Bildung und eigene Technologieentwicklung sowie die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine sozial und ökologisch verträgliche marktwirtschaftliche Entwicklung.
— Es gibt gemeinsame Elemente in unseren Auffassungen von Entwicklungspolitik. Worüber wir zu streiten haben, ist nicht das Gemeinsame, sondern sind die Unterschiede. Sie sollten wir hier herausarbeiten; dazu ist das Parlament da.Viertes Argument: Die Entwicklungspolitik hat in der Bundespolitik keinen wirklichen Stellenwert. Die Regierung ist unfähig, Entwicklungspolitik als eine Querschnittsaufgabe der gesamten Politik zu begreif en.
Das Wenige, das der Entwicklungsminister — allerdings oft mehr schlecht als recht — aufbaut, wird in vielen Fällen vom Außenminister, vom Wirtschaftsminister, vom Finanzminister und vom Landwirtschaftsminister wieder niedergerissen: durch außenpolitischen Opportunismus, durch das Prinzip „Gießkanne statt konzentrierter Einsatz von Mitteln", Herr Staatsminister Schäfer, durch den Mißbrauch entwicklungspolitischer Mittel zur Förderung von Großkonzernen — davon habe ich gesprochen —, durch die Unfähigkeit, die Überschuldung der Länder des Südens und Ostens abzubauen — das ist die von der Bundesregierung unterstützte IWF-Politik —, und vor allem durchden europäischen Agrarprotektionismus, der zum Himmel schreit und an dem nicht nur die Franzosen schuld sind. Dies muß endlich aufhören!Die Bundesregierung kennt seit langem die Institution des Bundessicherheitsrates zur Koordination sicherheitspolitischer Fragen. Warum schafft der Bundeskanzler nicht endlich auch ein Entwicklungskabinett, in dem auf höchster Ebene die Entwicklungsverträglichkeit aller Entscheidungen überprüft wird, die von hoher Bedeutung für Entwicklung und Umwelt, Weltwirtschaft und Migration sind? Eine solche Initiative schlagen wir Ihnen vor. Sie ist überfällig.Unsere Forderung nach einer entwicklungsverträglichen Orientierung und Koordination aller Ressorts der Bundesregierung gilt nicht nur für die Zusammenarbeit im Süden, sondern auch für unser Engagement im Osten. Dort reiten aber inzwischen sage und schreibe 17 Minister ihr eigenes entwicklungspolitisches Steckenpferd. Beamte aus fast allen Ressorts und eine Flut exzellent verdienender deutscher Consulting-Unternehmen überschwemmen förmlich Osteuropa mit unkoordinierten und punktuellen Beratungsangeboten, die dort aus Mangel an Kapital und geeigneten Rahmenbedingungen gar nicht umgesetzt werden können. Ist das ein wirksamer Beitrag zur Bekämpfung von Fluchtursachen? Es sind dies: explodierende Arbeitslosigkeit — es geht dort erst los —, soziale Verelendung — das verschärft sich — und Bürgerkriege, die aus der Not und aus der Spannung in diesen Gesellschaften entstehen werden.Die Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit wahrlich nicht erkannt. Nicht Entwicklungspolitik, um Friedensgefährdungen vorzubeugen, sondern Militärpolitik, die ohne entwicklungspolitisches Konzept erst einmal militärisch dreinschlägt, beschäftigt zunehmend ihr Denken.
Die Entwicklungspolitik hat in Deutschland trotz wohltönender Worte des Bundeskanzlers und trotz richtiger Mahnungen des Bundespräsidenten — das sollten Sie sich wirklich einmal zu Herzen nehmen — immer noch einen ganz geringen Stellenwert. Sie ist allenfalls — geben wir es doch zu — Lückenbüßer, zunehmend aber Propagandaartikel, Türöffner und Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen. Das ist ja im Bundeshaushalt nun wahrlich nachzulesen. Im Verlauf ihrer Amtszeit hat diese Bundesregierung den Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt von 0,48 % auf 0,34 % zurückgefahren. Dieser Anteil soll auf Grund der Finanzplanung der Bundesregierung weiter sinken. Das ist aber kein Zeichen wirklicher Armut unseres Landes, son-dem ein Armutszeugnis dieser Regierungskoalition.
Die Bundesregierung hat immer noch nicht erkannt, daß die Sünden von gestern die Lasten von heute verursacht haben und daß die erneute Mißachtung der Fluchtursachen heute die Katastrophe von morgen sein wird.
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14232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Ingomar HauchlerDie Mittel, die durch eine bessere Steuerung der Zuwanderung eingespart werden — Sie haben ja versprochen, daß da einiges eingespart werden kann; mal sehen ob es eintritt —, müssen für die Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden.
— Danke schön, Herr Kuhlwein.
Das war mein Kollege Kuhlwein; der versteht etwas von der Sache.
Wir könnten mit diesem Geld eine zigfache Wirkung in den Entwicklungsländern erzielen. Ich sage Ihnen noch einmal einen Zahlenvergleich. 35 Milliarden Deutsche Mark wurden 1992 für Asylbewerber in Deutschland ausgegeben, 8 Milliarden für die ganze weite Dritte Welt.
Ist das nicht ein groteskes Mißverhältnis!
Ich bin ja gespannt, welche Konsequenzen Sie jetzt aus der neuen Asylrechtsregelung ziehen und wieviel Geld Sie nun für die Bekämpfung der Fluchtursachen einsetzen. Wir fordern schrittweise 0,7 % bis zum Jahr 2000.Wie gesagt, die Regierungskoalition nimmt die Entwicklungspolitik nicht wirklich ernst. Erschwerend kommt aber hinzu, daß der Entwicklungsminister selber — entschuldigen Sie, Herr Kollege Spranger — nicht wirklich ernst genommen wird.
Er läßt sich zunehmend ureigene entwicklungspolitische Aufgaben aus der Hand nehmen.
— Das sage ich Ihnen, von wem.
Das galt für die Vorbereitungen zur Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im vergangenen Jahr. Das hat er an seinen Staatssekretär delegiert. Das gilt für die Weltbevölkerungskonferenz im nächsten Jahr. Das macht der Innenminister. Und das gilt für die Weltkonferenz für soziale Entwicklung 1995. Das macht der Arbeitsminister. Nicht der Entwicklungsminister, sondern der Umwelt-, der Innen- und der Arbeitsminister sind jetzt in der Bundesregierung für globale Entwicklungsfragen zuständig.
— So ist es, Frau Kollegin.Herr Spranger beschäftigt sich derweil damit — ich sage es nicht gern —, welche Schuld die 68erGeneration an den Morden in Mölln und Solingen trägt.
Sie hätten wahrlich andere Aufgaben, Herr Minister Spranger.Anerkennen will ich allerdings, daß sich der Entwicklungsminister anfangs bis in den linken Journalismus hinein profilieren konnte, als er bei seinem Amtsantritt lautstark verkündete, für ihn seien Menschenrechte, Demokratie, Abrüstung und Marktwirtschaft zentrale Kriterien für deutsche Hilfe. Das haben wir anerkannt.Bedauerlicherweise folgt ihm aber die Bundesregierung nicht auf diesem Wege, denn an der Spitze der deutschen Empfängerliste stehen jene Länder, die nach wie vor in schwerer Weise Menschenrechte und Demokratie verletzen und nicht nur nicht abrüsten, sondern massiv aufrüsten. Ich nenne China, Indien, Indonesien. Die Kluft zwischen schönem Reden und Handeln führt im Ausland zu einem immer größeren Verlust der deutschen Glaubwürdigkeit.Ich komme zum Schluß.
Gerade in der Entwicklungspolitik wünsche ich mir mehr Gemeinsamkeit über die Fraktionen in diesem Hause hinweg. Leider sind die Koalitionsfraktionen aber weit davon entfernt, Entwicklung als eine zentrale Voraussetzung für Frieden und Sicherheit zu begreifen. Dabei liegt hier und nicht in der militärischen Intervention die eigentliche Zukunftsaufgabe der internationalen Politik.
Im Mittelpunkt der internationalen Zusammenarbeit muß das zivile Engagement und darf nicht ein militärisches Engagement für den Frieden stehen. Darin lag einmal, nicht zuletzt durch Willy Brandt, unsere internationale Reputation begründet.Auch nach dem Fall der Mauer, nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges muß nun eine Politik der globalen Entspannung das Markenzeichen Deutschlands in der internationalen Gemeinschaft sein. Wir dürfen die Agenda für den Frieden von UN-Generalsekretär Boutros-Ghali nicht einseitig interpretieren als den bloßen Ruf nach deutscher Beteiligung an UN-Einsätzen, sondern vor allem — das sagt er in jedem Gespräch — als Plädoyer für Entwicklung als sowohl vorbeugende als auch nachsorgende Aktivität für den Frieden.Ich wiederhole: Diese Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Die Zeit ist überfällig, daß sie abtritt.
Im Gegensatz zur Regierungskoalition werden wir Sozialdemokraten, wenn wir ab 1994 regieren,
national wie international nicht nur die Symptome,sondern verstärkt auch die Ursachen von Flucht und
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Dr. Ingomar HauchlerVertreibung, also die Kluft zwischen Nord und Süd, Ost und West und die globale Umweltzerstörung bekämpfen.
Was hier konkret zu tun ist, darüber werden wir hier noch heftig, allerdings friedlich streiten müssen.Vielen Dank.
Nun hat Kollegin Ingrid Walz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Weg von der Ersten über die Zweite — was immer das sein mag und wo immer sie sich auch befinden mag — zur Dritten bis hin zur Einen Welt war lang. Es war der Pfad nicht der Erkenntnis, sondern vieler Irrtümer.Als einzige richtige Theorie hat sich offensichtlich die Evolutionstheorie herausgestellt. Nur wer sich anpaßt, überlebt. Diese Erkenntnis trifft uns jetzt selber wie Thors Hammer. Auch wir müssen uns weiterentwickeln. Auch wir sind vor die Entscheidung gestellt, welche Art der nachholenden Entwicklung die richtige ist. Auch wir kämpfen mit einem immer größer werdenden Teil unserer Wirtschaft um Integration in die Weltwirtschaft, nicht nur, was die Wirtschaft in den neuen Bundesländern betrifft, sondern auch, was die Wirtschaft im Westen betrifft. Doch ich fürchte, trotz der Gleichartigkeit der Probleme, die uns zu einem neuen Verständnis von Entwicklung und Entwicklungspolitik verhelfen könnte, denken wir nach wie vor in den Rastern von Gebern und Nehmern, von Nord und Süd und betreiben wir leider Gottes immer noch die Wunschvorstellung einer 0,7Prozent-Politik.Dieses Schema wurde in der nachkolonialen Phase für die Zusammenarbeit zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern geprägt. Doch wo stehen wir heute als angeblich entwickeltes Land? Wo stehen unsere Partner in der angeblich Dritten Welt?In den Industrieländern beginnt der Lack zu blättern. Viele Motoren stehen bereits still oder laufen inzwischen anderswo. Mit der Senkgeschwindigkeit des Bruttosozialprodukts steigt die Angst der Menschen hier. Stehen wir damit vor einer neuen Qualität oder einer neuen Sicht der Zusammenarbeit, die von anderen Voraussetzungen ausgeht als bisher, nämlich, daß Solidarität nicht aus Reichtum entsteht, sondern durch Armut?Aber auch auf eine andere These sei verwiesen. Zunehmende Armut, nicht nur im Süden, mehr im Osten, die beängstigende Bevölkerungszunahme, die Umweltzerstörung, das Aufflackern von ethnischen und religiösen Konflikten und die anhaltende Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen gefährden nicht nur die Sicherheit des einzelnen, sondern ganzer Regionen.Kriminalität, der internationale Drogenhandel und die wachsenden Flüchtlings- und Migrationsströme erschüttern jetzt auch die letzten heilen Flecken dieser Welt und machen überdeutlich, daß zwischen Stabilität im Innern auf nationalstaatlicher Ebene und der Stabilität im internationalen System ein unauflöslicher Zusammenhang besteht.Wir meinen, der Begriff der Sicherheit muß deshalb weiter gefaßt werden, nämlich als Sicherheit für die Menschen im Sinne einer umfassenden Sicherung der Lebensgrundlagen der heutigen Generation und der künftigen Generationen.
Dies, meine Damen und Herren, ist eine Aufgabe für alle. Keine Regierung kann sich aus dieser Verantwortung entlassen. Das trifft vor allen Dingen für Deutschland und die Deutschen zu.Nachdem wir nämlich — wir waren es — den ersten Stein aus der Berliner Mauer gezogen und damit — das ist das historische Verdienst der Deutschen — zur Beendigung der Ost-West-Konfrontation beigetragen haben, können wir nicht länger in den bequemen Logen des Welttheaters sitzen. Wir müssen handlungsfähiger und verantwortungsbewußter werden und die vollen Pflichten eines Mitglieds der Vereinten Nationen übernehmen.
Lieber Herr Kollege Hauchler, wir dürfen und wir können nicht länger zusehen, wie andere allein für die Freiheit — mir versagt die Sprache — der Unterdrückten kämpfen und gegen den Tod angehen. Dies gilt für Somalia. Dies galt Gott sei Dank nicht für Kambodscha. Ich hoffe, es wird auch nicht für Angola gelten.Wir müssen mit daran arbeiten, die strukturellen Ursachen der globalen Risiken sowohl in den Ländern des Südens und des Ostens als auch bei uns zu beseitigen, soweit sie in unseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen begründet sind. Über das Prolongieren von plan- oder staatswirtschaftlichen Modellen brauchen wir hier nicht mehr zu diskutieren; sie haben sich nämlich selbst ad absurdum geführt. Ich bin eigentlich nur neugierig, ob der asiatische Versuch von sozialistischer Marktwirtschaft erfolgreich sein wird.
Wir müssen nicht nur Realitäten erkennen, sondern auch in unseren Köpfen nachholende Entwicklung zulassen. An deren Ende muß die Erkenntnis stehen, daß das einzige Zukunftsmodell — hier werde ich etwas konkreter als Sie, lieber Herr Kollege Hauchler — eine ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft sein kann.
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14234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Ingrid WalzDies ist Aufgabe für uns. Wir wollen dabei helfen, daß diese Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie als Überlebensstrategie weltweit Eingang findet.
Die Entwicklungspolitik gewinnt vor diesem Hintergrund nämlich eine völlig neue Bedeutung: Entwicklungspolitik ist Politik der globalen Zukunftssicherung.Um dies deutlich zu machen, haben wir, die Koalitionsfraktionen, zwei wichtige Anträge vorgelegt, die sich zum einen mit der Förderung der Marktwirtschaft, d. h. der Privatwirtschaft, in Entwicklungsländern und zum zweiten mit der Ausgestaltung des Begriffs der Sozialen Marktwirtschaft im Hinblick auf Sozialpolitik und den Aufbau sozialer Sicherungssysteme in unseren Partnerländern beschäftigen.Ich sage zum wiederholten Male: Marktwirtschaft allein genügt nicht. Sie kann mißbraucht und auch mißverstanden werden. Der Übergang von einer Plan-bzw. Staatswirtschaft in die Marktwirtschaft braucht diese Begleitung. Wir haben wiederholt gehört, daß die Privatisierung in Mittel- und Osteuropa und in den GUS-Staaten daran scheitert, daß viele Staatsbetriebe nicht privatisiert werden können, weil die sozialen Lasten zu groß sind. Dafür wird sich kein Investor finden. Darum wird die Privatisierung in diesen Ländern nicht erfolgen können.In den meisten Entwicklungsländern ist die Überzeugung gewachsen, daß privatwirtschaftliches Handeln und Wettbewerb die treibenden Kräfte für eine erfolgreiche Entwicklung sind. Die meisten unserer Partnerländer haben in diesem richtig verstandenen Sinne bereits die nötigen Entscheidungen getroffen. Sie bestätigen damit eigentlich alle Annahmen, daß dann, wenn Ordnungspolitik in Richtung Marktwirtschaft steuert, Investitionen und Sozialprodukt zunehmen.Die Vergangenheit hat aber auch gezeigt: Auf den Marsch in die Planwirtschaft folgt in der Regel ein eklatanter Einbruch. Die jüngsten empirischen Untersuchungen kommen zu einem ganz erstaunlichen Ergebnis. Offensichtlich spielen externe Ursachen, wie die Veränderung der terms of trade oder der Weltkonjunktur, eine weitaus geringere Rolle, als bisher angenommen. Entscheidend für den eigendynamischen Entwicklungsprozeß und eine nachhaltige Entwicklung sind die internen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern selbst. Dabei sind Eigenverantwortung, Privatinitiative und Leistungswille die Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Fortschritt.Ganz entscheidend — hier stehen wir hinter dem, was Minister Spranger in seiner Konzeption immer wieder zu verwirklichen versucht — ist die Beteiligung der Armen am Entwicklungsprozeß ihrer Länder.
Die Hinwendung vieler Länder zur Marktwirtschaft und zur Demokratie, wobei wir sehen müssen, daß sich einige pseudodemokratisch gerieren, hat zu tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Wir sind heute weltweit mit unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten und einem unterschiedlichen Entwicklungsniveau in unseren Partnerländern konfrontiert. Wir haben mittlerweile reiche Partner, und wir haben einen Kontinent, der sich am Rande der weltwirtschaftlichen Galaxie befindet: Afrika.Dies bedeutet für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit neue Anfragen und eine andere, vielschichtigere Art der Unterstützung. Es geht nicht mehr, symbolisch gesprochen, um das Brunnenbohren; es geht nicht mehr allein um den Transfer von Kapital und Know-how. Es geht heute um den gewollten und nachgefragten Transfer rechtlicher und staatlicher Ordnungssysteme. Es geht um die Ausgestaltung einer neuen gesellschaftspolitischen Zusammenarbeit.
Viele unserer Partner haben nämlich begriffen, daß die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen eine Voraussetzung für positive Veränderung ist. Dies gilt für einen verläßlichen Rechtsrahmen genauso wie für den Aufbau eines breiteren Finanzsystems, Steuersystems, das dem Staat Einnahmen verschafft, damit er Armut überhaupt bekämpfen kann. Es geht vor allem um die Förderung der Privatwirtschaft. Dabei unterscheiden wir nicht nach Betriebsgrößen, sondern nach der Möglichkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, um die Grundlage für das Entstehen eines stabilen Mittelstands zu bilden.Wir haben inzwischen erkannt, daß der Aufbau und die Stärkung privatwirtschaftlicher Strukturen in Entwicklungsländern eng mit der Funktionsfähigkeit des Kreditwesens verbunden ist. Als entscheidender Engpaß hat sich in der Vergangenheit nämlich der fehlende Zugang von Klein- und mittleren Unternehmen zu Krediten herausgestellt. Das bisherige System der Entwicklungsbanken ist deshalb mit einem sehr großen Fragezeichen zu versehen.
Wir haben dies fraktionsübergreifend eingebracht. Wichtig ist eine liberalisierte, dezentralisierte Finanzstruktur, die Ersparnisse mobilisiert und diese an kreditsuchende Investoren weiterleitet.Die Unterstützung beim Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen kann jedoch langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn die Strategien wirtschaftlichen Wachstums mit Maßnahmen der sozialen Absicherung verbunden werden. Der Aufbau und die Entwicklung sozialer Sicherungssysteme muß deshalb zu einem wichtigen Bestandteil künftiger Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden.
Dafür gibt es auch einen anderen, einen sehr wichtigen Grund. Nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern das Abkoppeln der „sozialen Sicherheit" von der Zahl der Kinder wird erst den entschei-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14235
Ingrid Walzdenden Fortschritt in der Bevölkerungspolitik bringen. Die Zahl der Kinder ist nämlich — das wissen wir heute ganz genau — häufig der Grund für Armut; es ist nicht umgekehrt.Mit unserem Antrag können wir aber auch der armutsorientierten Entwicklungszusammenarbeit neue Impulse geben. Allerdings sollten wir uns davor hüten, uns selbst als Sozialhilfeträger zu mißbrauchen. Wir müssen unsere Partner in der neuen gesellschaftspolitischen Entwicklungszusammenarbeit darauf aufmerksam machen, daß sie selber für die Beseitigung der Ursachen von Armut sorgen müssen. Ihre Politik muß entwicklungsorientiert, d. h. armutsüberwindend, sein.In den Verfassungen unserer Partnerländer sollte so wie in unserer die Hinwendung zum Allgemeinwohl und zur Achtung der Würde des Menschen sichtbar werden. Ich vermisse in vielen Verfassungen unserer Partner einen solchen Hinweis. Es darf auch nicht sein, daß die Schere zwischen Arm und Reich in einigen Ländern immer größer wird. Deshalb meinen wir, daß das einzige tragfähige Modell der Zukunftssicherung das einer ökologisch orientierten Sozialen Marktwirtschaft ist. Dazu haben wir — ich muß es noch einmal betonen —, lieber Herr Kollege Hauchler,
im Gegensatz zu Ihnen sehr konkrete Vorschläge gemacht.
Ich habe hier nicht polemisch agiert wie Sie,
sondern ich habe im Sinne meiner Grundüberzeugung, nämlich der Toleranz und der Sachlichkeit, unsere Vorschläge begründet.
Nun spricht die Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wiederum liegt in einer entwicklungspolitischen Debatte dem Parlament ein sehr breites Angebot zur Diskussion vor, zum Teil in Form von Beschlußempfehlungen. Möglicherweise, Kolleginnen und Kollegen, täten wir schon im eigenen Interesse besser daran, ein Thema etwas tiefgründiger zu behandeln. Ich beschränke mich deshalb auf einige Punkte.Zunächst möchte ich mich der Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Unterrichtung durch das Europäische Parlament zur Strukturanpassung in den Entwicklungsländern widmen. Die 25-Punkte-Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. Mai 1992 ist ein aus entwicklungspolitischer Sicht bemerkenswertes Dokument. Das ist sie nicht etwa, weil sie das Lösungskonzept für die drängenden globalen Probleme der Menschheit darstellt. Mit diesem Anspruch wären sowohl das Papier als auch das Europaparlament überfordert. Aber es ist den Kollegen in Straßburg zumindest gelungen, symbolisch den Finger auf einige neuralgische Punkte des Miteinanders oder besser Gegeneinanders von Nord und Süd oder besser Arm und Reich zu legen.Ich nenne stellvertretend nur die weltweite Schuldenkrise, die unangemessene Kreditpolitik und den von den Industrieländern praktizierten handelspolitischen Protektionismus als einige der Ursachen für die derzeitige Situation in den Entwicklungsländern oder die Überlegung, Herr Pinger, daß eine endgültige Bewältigung der Krise der Entwicklungsländer eine Neufestlegung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der nördlichen und der südlichen Erdhalbkugel umfassen muß. Auch die Kriterien der sozialen und ökologischen Verträglichkeit und die Forderung nach umfangreicher Entschuldung und Stabilisierung der Rohstoffpreise sind von uns mitzutragen. Das ist zwar ebenfalls nicht neu, aber für ein solches Papier bemerkenswert.Natürlich sehen wir auch die Schwachpunkte dieses Papiers. Es gibt eine Reihe von konzeptionellen Widersprüchen, und es fehlen konkrete Aussagen über die Handlungsträger der geforderten Veränderungen. Dadurch, daß konkret existierende Kräfte-und Interessenverhältnisse, z. B. innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, sowie Entscheidungs- und Handlungsmechanismen in den internationalen Beziehungen einfach ignoriert werden, erhält das ganze Papier streckenweise einen recht utopischen Charakter.Nun, ich habe nichts gegen Utopien. Ich finde sie sogar sehr nützlich, wenn sie in die richtige Richtung weisen. Ansätze sind dafür in der Entschließung des Europaparlaments enthalten, so unkonkret sie im Einzelfall auch sein mögen.Die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit greift einige Schwerpunkte der EG-Entschließung in sehr geraffter Form auf. Immerhin finden sich die wirksame Entschuldung der Entwicklungsländer und ihre Einbeziehung in grundlegende Entscheidungen über die internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik noch im Forderungskatalog. Eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen wird ins Auge gefaßt, was immer das bedeuten mag.Hier kommen wir zu einem wichtigen Detail, auf das wir immer wieder hinweisen müssen und werden. In dem vorliegenden Papier werden die erforderlichen Veränderungen aus der Perspektive der Strukturanpassung behandelt. Das Europaparlament bezeichnet die Strukturanpassungsprogramme der sogenannten Ersten Generation als gescheitert.Aber auch die vom Europaparlament ins Auge gefaßten Anpassungen müssen kritisch hinterfragt werden. Veränderungen allein im Süden, so wichtig sie sind, reichen nicht. Gefragt ist vielmehr ein Komplex von Strukturveränderungen auf der Nord- und der Südhalbkugel sowie in den Beziehungen zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern, wenn die existenzgefährdenden Widersprüche in dieser Einen Welt nicht weiter eskalieren sollen.
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14236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Ursula FischerIch bin besonders Herrn Hauchler sehr dankbar, daß er so ausführlich auf die Problematik der Asylpolitik als die Kehrseite der Medaille der Entwicklungspolitik eingegangen ist. Diese Deutlichkeit läßt die Beschlußempfehlung leider vermissen.Meine Damen und Herren, die Beschlußempfehlung zu dem Antrag „Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der ,Dritten Welt' " möchte ich nur kurz kommentieren. Ich will nicht in Abrede stellen, daß es in einigen oder den meisten Entwicklungsländern durchaus Gruppen gibt, deren Interessen und Entwicklungschancen der zugrunde liegende Antrag entspricht.Massiven Zweifel habe ich jedoch an der Breitenwirksamkeit einer solchen Schwerpunktsetzung für die bundesdeutsche Entwicklungspolitik. Wohlstand für einige bedeutet noch längst keine Grundbedürfnisbefriedigung für die große Mehrheit. Die Übertragbarkeit westlicher Wirtschafts- und Demokratiemodelle auf Entwicklungsländergesellschaften wird nicht erst seit heute und nicht nur von mir in Frage gestellt.
Der Bundespräsident stellte am 12. Mai dieses Jahres im Zusammenhang mit Afrika fest:Wie töricht wäre es also, unsere Gesellschaftsordnung anderen Völkern einfach als „Zaubertrank" anzubieten oder gar aufzudrängen. Vielleicht ist es wirklich so, daß unsere Erfahrungen auf viele Entwicklungsländer kaum direkt übertragbar sind. Vielleicht entspricht der afrikanischen Tradition in der Tat eine stärkere Gemeinschaftsorientierung, als wir sie kennen. Ich bin nicht berufen, diese Frage zu beantworten. Die Afrikaner selbst werden die Antwort finden.Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich mag Sonntagsreden ansonsten nicht; aber wo er recht hat, hat er recht.Massenarmut wird jedenfalls mit diesem Antrag nicht bekämpft. Außerdem abstrahieren der Antrag und die Beschlußempfehlung vollständig von den internationalen Rahmenbedingungen, unter denen sich die unternehmerische Aktivität in den Entwicklungsländern entfalten soll. Zumindest finden sie nirgendwo Erwähnung.Die Kollegen von der F.D.P. hatten die oben behandelte Entschließung des Europaparlaments als blauäugig bezeichnet.
Das hier vorliegende Papier verdient mit Verlaub die gleiche Bezeichnung. Positiv zu vermerken ist eigentlich nur die Kontinuität, mit der Sie und Ihre Koalitionspartner sowohl im Inland als auch in den Entwicklungsländern die Interessen der immer wieder gleichen sozialen Gruppierung vertreten. Um nicht mehr und nicht weniger handelt es sich.Mit dem Antrag der Kolleginnen und Kollegen der Koalition „Entwicklung und Aufbau von sozialenSicherungssystemen in den Entwicklungsländern" habe ich offen gesagt große Schwierigkeiten.
Nicht, daß ich die Notwendigkeit einer wie auch immer organisierten sozialen Grundsicherung nicht sehe; ganz im Gegenteil. Aber auch in diesem Fall beschränken sich die Antragstellerinnen und Antragsteller darauf, Symptome zu konstatieren und behandeln zu wollen. Es wurde hier schon gesagt: Der Patient ist am Ende tot. Aber auch das ist möglicherweise eine Form der Bevölkerungswachstumshemmung. Es ist zynisch, ich weiß es; aber manchmal ist es so.
— Nein. Ich finde das nicht komisch. Aber es ist so.
— Gehen Sie doch auf die Ursachen ein! Die Ursachen für die beschriebenen Probleme wie Landflucht, Verstädterung, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit etc. bleiben unberührt.Auf diese Weise sind weder die fortschreitende Verelendung und der Zerfall der wenigen noch funktionierenden Sozialstrukturen zu verhindern, noch bestehen die notwendigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für den Neuaufbau sozialer Sicherungssysteme. Es ist bei Licht besehen ziemlich makaber, daß der Norden dem Süden zunächst seine wirtschaftlichen und politischen Modelle aufdrängt und hinterher auch noch die unter den konkreten Bedingungen kaum funktionsfähigen Mittel zur Schadensbegrenzung liefern will, die dann wieder als entwicklungspolitische Lichtblicke gefeiert werden können. Wäre es nicht sinnvoller, endlich an die Entwicklung von Konzepten zu gehen, die den Menschen im Norden und im Süden ein Leben in Würde und sozialer Sicherheit auch im Alter ermöglichen?Ich möchte noch einen kurzen Satz zum Antrag der SPD auf Gesetzesvorlagen sagen. Die vorgeschlagene Einbeziehung der möglichen Auswirkungen auf Entwicklungsländer sowie die getrennte Kostenaufrechnung für Bund, Länder und Gemeinden halte ich für eine sehr arbeitsaufwendige, aber sinnvolle Idee. Zumindest würden auf diese Weise Politikerinnen und Politiker aller Parteien — ich schließe uns da übrigens voll ein — und vor allem die Nicht-Entwicklungspolitiker endlich gezwungen, den immer wieder geforderten integrativen Ansatz der Entwicklungspolitik nicht nur verbal, sondern auch praktisch zur Anwendung zu bringen.Bemerkenswert finde ich den Antrag der SPD in bezug auf die Förderung von Frauen in Entwicklungsländern. Er enthält im übrigen Forderungen, die zum Teil selbst in der Bundesrepublik Deutschland nicht erfüllt sind.
Wichtig ist deshalb auch, daß dieser Antrag reflektiert,daß der Anteil von Frauen bei staatlicher Entwicklungshilfe in der Bundesrepublik erhöht werden muß.
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Dr. Ursula FischerInsgesamt würde uns die Annahme eines solchen Antrags sehr gut zu Gesicht stehen. Zwar würde sich dadurch nichts unmittelbar ändern, aber der Anspruch der Frauen, dringend und immer wieder formuliert, ist genauso wichtig.Meine Herren, an dieser Stelle ein Wort an Sie. Frauen sind der Schlüssel für die Zukunft. Ich hoffe auf eine konstruktive Diskussion gerade dieses Antrages in unserem Ausschuß.
Nun spricht der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Kollege Dr. Pinger, habe ich wirklich richtig gehört, daß Sie Bundeswehreinsätzen einen entwicklungspolitischen Aspekt abgewinnen können?
— Dann muß ich sagen: Meine Auffassung ist das nicht. Sicherheit als Voraussetzung für Entwicklung? Dafür denke ich, haben nicht wir zu sorgen. Wir haben dafür zu sorgen, daß durch Entwicklungshilfe Menschen geholfen wird. Aber nicht durch den Einsatz von Bundeswehr, mit Komißstiefeln und Stahlhelmen, auch wenn sie blau sind. Dort in Afrika haben wir nichts zu suchen.
Ich bin dafür, unsere Entwicklungshilfe urn ein Vielfaches zu verstärken. Ich bin dafür, statt dieses wirklich sinnlosen Einsatzes von deutschen Soldaten in Somalia, der auch in Somalia selbst überaus umstritten ist und bei dem die Soldaten selbst sagen, daß sie gar nicht wissen, wozu sie da sind,
die zivile Entwicklungszusammenarbeit zu vervielfachen. Das ist seit langem unsere Forderung.
Kollege Weiß, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Schönburg-Glauchau gestatten?
Ja, bitte.
Lieber Kollege Weiß, können Sie mir darin zustimmen, daß es Situationen gibt, wo die Unordnung so groß ist, daß es eines hergezeigten dicken Knüppels braucht, damit überhaupt friedliche Entwicklung möglich ist? Geben Sie zu, daß z. B. ein Dorf von einer Affenherde terrorisiert werden und keine Frau Wasser holen und Felder bestellen kann, wenn nicht jemand da ist, der die Affenherde in Schach hält? Genau das ist doch die Situation in Somalia. Können
Sie zugeben, daß es für die Vereinten Nationen sehr vernünftig ist, in einem solchen Moment erst einmal für Ruhe und Ordnung zu sorgen, damit dort Entwicklung wieder möglich wird?
Herr Kollege, ich bin nicht der Meinung, daß es Aufgabe von Soldaten aus Pirna oder Pirmasens ist, die Affenherde in Afrika in Schach zu halten.
Wir haben für die Bundeswehr einen klaren Auftrag, der die Verteidigung dieses Landes zum Inhalt hat. Ich bin sehr wohl dafür, daß junge Menschen nach Afrika gehen, um dort Entwicklungshilfe zu leisten, aber zivile. Ich bin auch der Auffassung, daß ein Konflikt noch nie dadurch gelöst worden ist, daß man ihn mit Gewalt zu lösen versucht hat.
Das verschiebt immer nur Probleme, die dann an anderer Stelle — manchmal Jahrzehnte später, wie wir das jetzt in Jugoslawien erleben — aufs neue hervorkommen.
Aber ich will jetzt auf das eingehen, worum es in den Anträgen, die wir heute behandeln, geht. Ich kann mich der Bemerkung der Kollegin Fischer anschließen: Auch ich bin der Auffassung, daß es wenig Sinn macht, einen solchen entwicklungspolitischen Bauchladen, wie wir ihn heute behandeln, ins Plenum zu bringen, eine Debatte über mehrere Anträge, die miteinander wenig zu tun haben. Ich wäre sehr dafür, sich in künftigen Debatten auf wenige Anträge zu beschränken,
diese dann eingehend zu erörtern und im Verlauf der Debatte vielleicht zu neuen Gedanken und Lösungen zu kommen.Ich möchte deshalb nur auf den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingehen, der sich mit dem Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation befaßt. Wir haben vorgeschlagen, daß die Bundesregierung dieses Abkommen endlich unterzeichnet. Die Koalitionsmehrheit hat die Absicht, das heute abzulehnen.Dieses Übereinkommen gilt für eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern und klärt deren Rechte in den Staaten, in denen sie leben. Die Bundesregierung beeinflußt durch ihr außenpolitisches, außenwirtschaftliches und entwicklungspolitisches Handeln natürlich das Leben dieser Völker.Die Ratifizierung des Übereinkommens entspräche daher den öffentlichen Bekenntnissen der Bundesregierung zur Einhaltung der Menschenrechte. Gleichzeitig würde das ihren Willen bekräftigen, die Beschlüsse der Konferenz „Umwelt und Entwick-
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Konrad WeiB
lung" in Rio de Janeiro umzusetzen, wo in der Agenda 21 die Berücksichtigung der kulturellen Identität und der Rechte eingeborener Bevölkerungsgruppen aufgenommen wurde.Weder der Agenda 21 noch den Grundsätzen des Übereinkommens 169 wurde und wird die deutsche Entwicklungspolitik bislang gerecht. Nach Art. 7 des Übereinkommens der ILO haben die eingeborenen und in Stämmen lebenden Völker das Recht, an der Aufstellung, Durchführung und Bewertung von Plänen und Programmen für die nationale und regionale Entwicklung mitzuwirken. Die Art. 14 bis 16 klären die Eigentums-, Ressourcen- und Umsiediungsrechte der betreffenden Völker. Diese Rechte zu garantieren und in das entwicklungspolitische Instrumentarium einzubeziehen wäre ein weiterer Schritt, koloniale Relikte in unserer Entwicklungspolitik abzubauen.
Allzuoft wird in unserer entwicklungspolitischen Praxis wenig oder überhaupt nicht Rücksicht auf Minderheiteninteressen genommen. Partner sind noch viel zu häufig die Regierungen, nicht aber jene, denen wir helfen wollen. Autoritäre Regime, gar Diktaturen scheren sich natürlich nicht im geringsten um unsere vorsichtig und diplomatisch vorgetragenen Vorstellungen über die Einbeziehung von Minderheiten oder eingeborenen Stämmen. Das läßt sich nur mit harten ökonomischen Bandagen erreichen.Entwicklungsminister Spranger hat doch die Konditionierung der Entwicklungshilfe zu seinem Programm gemacht; wir unterstützen das ja auch. Eine der expressis verbis genannten Konditionen ist die Menschenrechtssituation in den Empfängerländern. Es will mir nicht einleuchten, weshalb sich die Koalition so andauernd altjüngferlich gegen das Übereinkommen 169 sperrt.Ich muß Sie an wenigstens zwei Fälle erinnern, wo die Bedingungen des ILO-Übereinkommens hilfreich für eine sinnvolle Entwicklungspolitik gewesen wären. Das ist zum einen der Narmada-Staudamm in Indien und zum anderen die Ok-Tedi-Mine in Papua-Neuguinea.Zuvor aber möchte ich erwähnen, daß der Vertreter eines solchen kleinen Volkes, über das wir heute sprechen, bei dieser Debatte im Deutschen Bundestag anwesend ist. Es ist Luis Alberto Vargas, ein 16jähriger Junge aus dem Stamm der Achuar-Indianer im Amazonasgebiet, der nach Deutschland gekommen ist, um beim Kongreß „Kranke Umwelt, kranke Kinder", den BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am Wochenende in Bonn veranstalten wird, über die Vernichtung des Regenwaldes in seiner Heimat zu berichten. Auch für sein Volk würde die Unterzeichnung des Übereinkommens 169 von unmittelbarer Bedeutung sein.Am Narmada-Staudamm, einem Projekt, das uns schon oft hier beschäftigt hat, wird weiter gebaut, auch nachdem klar ist, daß die ökonomischen und ökologischen Risiken nicht abzuschätzen sind und daß sich die indische Regierung bei der Zwangsumsiedlung der einheimischen Bevölkerung schwere Fahrlässigkeit und Menschenrechtsverletzungen hat zuschulden kommen lassen. Die Warnungen waren früh genug gekommen, aus regionalen Bürgerinitiativen ebenso wie von internationalen Fachleuten.Die Weltbank läßt den Geldhahn dennoch weiter tröpfeln, auch nachdem ein gewichtiges Gutachten die Problematik des Projektes nachdrücklich festgestellt hat. Wären aber die eingeborenen Bauern und ihre Erfahrung von vornherein einbezogen worden, so wie es das Übereinkommen 169 vorschreibt, wären die Eigentums- und Landverhältnisse, die gewachsenen Strukturen berücksichtigt worden, so wäre das Projekt, das in seinem Größenwahn einem stalinschen Großbau des Kommunismus gleicht, vermutlich nie aus der Planungsphase herausgekommen.Ähnlich verhält es sich mit der berüchtigten Mine am Ok Tedi in Papua-Neuguinea. Der Erzabbau wird ohne Rücksicht auf die in dem Gebiet siedelnden Stämme durchgeführt, ohne Rücksicht auf Menschen und Menschenrechte, ohne Rücksicht auf ökologische Belange. Von der Infrastruktur, die zum Betreiben der Mine errichtet werden mußte, profitieren fast ausschließlich die Betreiber. Für die dort siedelnde Bevölkerung hat die Mine kaum einen Beschäftigungsimpuls, dafür aber den Verlust traditionsreicher Erwerbsquellen gebracht. Von diesem entwicklungspolitischen Flop profitieren nicht die Einheimischen, sondern die schürfenden Unternehmer, darunter auch die deutsche Degussa.Ähnliche entwicklungspolitische Verbrechen werden gegenwärtig in China angeschoben. Es ist unverantwortlich, sich ein Land, in dem die Menschen- und Minderheitenrechte tagtäglich aufs schlimmste verletzt werden, als entwicklungspolitischen Partner zu wählen. Weder das Selbstbestimmungsrecht der Minderheiten, beispielsweise der Tibetaner oder der Mongolen, noch das Recht auf Eigentum und dessen Schutz sind in China gewährleistet. Würde man in China die Klauseln des Übereinkommens 169 anwenden, dürfte kein Pfennig dorthin fließen. Offenbar soll deutsche Entwicklungspolitik wieder einmal bloß Pfadfinder für die deutsche Wirtschaft sein, nicht aber denen helfen, die die Hilfe vor allem brauchen. Dazu gehören auch die Schwachen und Unterdrückten, die Minderheiten, die eingeborenen und in Stämmen lebenden Völker.Kollegin Walz, mir will nicht einleuchten, wie Sie als eine überzeugte Marktwirtschaftlerin daran glauben können, daß das Wort von der sozialistischen Marktwirtschaft auch nur den geringsten Sinngehalt hat. Das ist doch etwas, was sich wie Feuer und Wasser widerspricht. Entweder bin ich für den Sozialismus, oder ich bin für die Marktwirtschaft. Aber beides läßt sich doch nicht vereinbaren. Was sich die alten Männer in China ausgedacht haben, das ist doch nichts anderes, als dem Westen Sand in die Augen zu streuen, damit das Geld fließt.
— Doch, das ist Ihr Problem, weil Sie ständig als Sendbotin der chinesischen Regierung mit diesem Modell hausieren gehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14239
Konrad Weiß
Kollege Weiß, nachdem Sie jetzt gerade sowieso unterbrochen worden sind: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinger?
Aber gern.
Herr Kollege Weiß, sind Sie bereit, mir zuzugestehen, daß die Ablehnung des Beitritts zum ILO-Abkommen von der Koalition damit begründet worden ist, daß sich dieses Abkommen an die eigene Regierung richtet und für uns indigene Völker in der Bundesrepublik nicht auszumachen waren?
Wir haben auch solche Völker. Ich denke an die Sorben, die im Westen offenbar noch nicht sehr ernst genommen werden.
Aber es geht auch darum, daß die Unterzeichnung eines solchen Abkommens natürlich Außenwirkung hat. Insofern sind wir — offenbar im Gegensatz zu Ihnen — der Auffassung, daß es sehr wohl einen Sinn macht, wenn die Bundesrepublik Deutschland dieses Abkommen unterzeichnen würde.
Die Unterzeichnung des Übereinkommens wäre ein kleiner, aber wirksamer Schritt, diesen Völkern künftig mehr Recht und Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Diese völkerrechtliche Verpflichtung könnte Deutschland helfen, tatsächlich zu einer vernünftig konditionierten Entwicklungszusammenarbeit zu kommen. Denn unter Hinweis auf die eingegangenen Verpflichtungen — das wäre als Ergänzung hinzuzufügen — könnte die Bundesregierung auch in den Verhandlungen mit schwierigen Partnern ihre Konditionen der Entwicklungszusammenarbeit mit größerem Nachdruck vertreten. Ich bitte deshalb, unserem Antrag trotz Ihrer Bedenken zuzustimmen.
Nun spricht Herr Minister Carl-Dieter Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach über 30 Jahren Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit verfügen wir über eine breite Palette von konkreten Maßnahmen, die der Armutsbekämpfung dienen. Eine Weichenstellung für den nachhaltigen Erfolg dieser Arbeit brachte — offensichtlich kann man das nicht oft genug betonen und wiederholen — die 1991 entworfene entwicklungspolitische Gesamtkonzeption der Bundesregierung, die auch in vollem
Umfang von den Koalitionsfraktionen mitgetragen wird.
Lieber Kollege Hauchler, in Ihrer Rede heute habe ich erneut selbst Ansätze einer sinnvollen Alternative zu dieser Konzeption vermißt.
Mit der Aufstellung von zum Teil schlichtweg falschen Behauptungen läßt sich eine solche Alternative auch nicht darstellen.
Sie sagen beispielsweise, militärisches Denken verdränge entwicklungspolitisches Engagement, und begründen das mit Somalia. Somalia ist das denkbar schlechteste Beispiel für diese Behauptungen.
Wir erfüllen in Somalia mit der Bundeswehr die Verpflichtungen, die eine andere Regierung 1973 durch ihren Beitritt zur UNO eingegangen ist.
Wenn es ein intensives entwicklungspolitisches Engagement der Bundesregierung gegeben hat, das insbesondere bis 1982 aus den bekannten Gründen, mit riesigem Personal- und Finanzaufwand erfolgte, und wenn sich das Ganze nun so entwickelt hat, kann man das sicherlich weder der damaligen noch der heutigen Regierung ankreiden. Wir überlegen doch geradezu wöchentlich im BMZ, ob wir bei der Sicherheitslage wenigstens einige Experten vor Ort plazieren können, die versuchen, z. B. eine Trinkwasserversorgung wiederaufzubauen, ohne daß sie dies unter Lebensgefahr tun, was wir den Entwicklungshelfern nicht zumuten dürfen. Die Reaktion der Opposition im Bundestag, wenn etwas passierte, wäre berechenbar.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hauchler?
Bitte sehr.
Herr Minister, sind Sie bereit, zur Kennntnis zu nehmen, daß ich gesagt habe, daß militärische Sicherung sinnvoll sein kann, wenn sie eingebunden ist in ein Konzept von Wiederaufbauhilfe und Entwicklung, und daß ich kritisiert habe, daß genau das nicht der Fall ist in Somalia, daß die Bundeswehr vielmehr selbst Entwicklungshelfer spielt, statt gegebenenfalls — dafür ist meine Fraktion —, einen Blauhelm-Einsatz zu machen, um in einem solchen Konzept sinnvolle sicherheitspolitische Maßnahmen zu übernehmen? Das ist unsere Position. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.
Diese Interpretation Ihrer Eingangsaussage „militärisches Denken verdrängt entwicklungspolitisches Engagement, siehe Somalia" nehme ich zur Kenntnis. Das ändert nichts daran, daß Ihre Eingangsbehauptung schlichtweg falsch ist.Ich darf zum zweiten Punkt kommen. Sie sagten, das Elend in der Dritten Welt habe sich durch Struk-
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14240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Bundesminister Carl-Dieter Spranger turanpassungsmaßnahmen verschärft und in Teilen der Entwicklungsländer zum Niedergang geführt. Herr Kollege Hauchler, wenn Sie bei den internationalen Tagungen dabei wären, zuletzt bei der Frühjahrstagung in Washington, könnten Sie hören, daß es auch bei den Entwicklungsländern völlig unumstritten ist, daß Strukturanpassungsmaßnahmen das einzig Richtige und Notwendige sind, um das Geld nicht in Fässer ohne Boden fließen zu lassen und um an die Ursachen der Fehlentwicklungen heranzukommen.
Daß man damit Erfolg hat, zeigt die Entwicklung in Ghana, in Sambia, in Marokko, in Bolivien, in Argentinien und in einer Reihe anderer Länder.Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß wir in der Zwischenzeit die durch Strukturanpassungsmaßnahmen sicherlich entstehenden sozialen Belastungen der Bevölkerung durch entsprechende Entwicklungsmittel, Entwicklungsarbeit bilateral und multilateral abzufedern versuchen.
Ihr dritter Punkt, die fehlende Koordination: Der Einsatz des Umweltministers bei UNCED, des Arbeitsministers beim Weltsozialgipfel, des Innenministers bei der Weltbevölkerungskonferenz — das weist nicht auf mangelnden Einfluß des BMZ hin, sondern auf die Tatsache, daß entwicklungspolitische Belange auch in den anderen Ressorts der Bundesregierung Berücksichtigung finden und hier ein sehr gutes Zusammenwirken innerhalb der Bundesregierung herrscht.
Wir haben überhaupt keine Probleme in bezug auf die Abstimmung. Daß auch hier Verbesserungen möglich und sinnvoll sind, ist unbestritten.
Der letzte Punkt: zuwenig Geld. Wir werden natürlich darüber in den nächsten Wochen noch öfter zu diskutieren haben. Nur frage ich mich immer wieder, Kollege Hauchler, wie viele Milliarden wir beispielsweise im Einzelplan 23 heute zusätzlich zur Verfügung hätten, wenn wir über Jahre hinweg die Möglichkeiten genutzt hätten, den Asylrechtsmißbrauch wirklich und verfassungsgemäß zu bekämpfen. Daran ist mit Sicherheit nicht die Bundesregierung schuld.
— Lieber Kollege Hauchler, ich bin auf Ihre Vorhaltung eingegangen, wir hätten zuwenig Geld. Das Geld, was in den letzten zehn Jahren wegen der nicht vorhandenen Bekämpfung des Asylrechtsmißbrauchs für bestimmte Leistungen ausgegeben wurde, fehlt uns natürlich auch bei den Beratungen für den Haushaltsplan 1994.
Zusammenfassend kann man sagen, daß es zur Konzeption der Bundesregierung und der Koalitionsparteien in bezug auf Entwicklungspolitik keine bessere Alternative gibt. Auf dieser Konzeption werden wir weiter aufbauen.Diese Konzeption hat zwei Wegmarken richtungsweisend vorgegeben, die wir auch heute in der Diskussion nicht vergessen sollten: Erstens. Armutsbekämpfung kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Partnerländer durch Eigenanstrengungen zeigen, daß sie die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen in ihren Ländern verbessern wollen. Wir dürfen die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer bei der ganzen Debatte nicht außer acht lassen
und uns nicht immer einbilden, wir könnten alles managen. Die Eigenverantwortung ist hier auch zukünftig verstärkt gefordert.
— Wunderbar, daß das jetzt unstrittig ist.Zweitens. Wirksame Armutsbekämpfung bedeutet, die schöpferischen Fähigkeiten des einzelnen zu fördern und dadurch private Initiativen als Motor von Entwicklung nutzbar zu machen. Ich hoffe, daß dies auch unstrittig ist. Wenn das so ist, können wir feststellen, daß unsere Konzeption zügig in diese Richtung umgesetzt wird.Im Rahmen der Armutsbekämpfung werden wir insbesondere der Frauenförderung gerecht, indem wir alle uns vorgelegten Projektanträge darauf prüfen, ob sie die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Situation der Frauen betreffen und unterstützen und verbessern.
Wir sind bestrebt, sie in die Vorhaben zu integrieren und bereits ihre Mitwirkung an Planung und Durchführung sicherzustellen.Ein wesentlicher Punkt unserer entwicklungspolitischen Konzeption sind die Kriterien für nachhaltige Entwicklung und sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit, die wir klar definiert haben: Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß und Rechtssicherheit, marktfreundliche Wirtschafts- und Sozialordnung und entwicklungsorientiertes staatliches Handeln. Sie sind die wesentlichen Elemente unserer Zusammenarbeit mit den Partnern in den Entwicklungsländern. Das deckt sich voll mit den Zielen des Antrags der Koalition zur Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative.Ich bin den Koalitionsfraktionen daher sehr dankbar, daß sie unsere Bemühungen durch ihre Initiative mittragen und daß sie unseren Weg durch einen Bundestagsbeschluß bekräftigen wollen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14241
Bundesminister Carl-Dieter SprangerDie meisten der im Antrag schon 1991 formulierten Vorschläge sind bereits heute fester Bestandteil unserer Arbeit auf dem Gebiet der Förderung privatwirtschaftlicher Aktivitäten. Insbesondere die Stärkung des informellen Sektors ist ein besonders Anliegen, das wir auch von einer anderen Seite, nämlich im Rahmen unseres Schwerpunktes Bildung, unterstützen.Ich kann nicht nachvollziehen, was die Opposition bewegt, ihre Zustimmung zu diesem Antrag zu verweigern. Denn immer wieder stellen wir fest, daß es die Privatwirtschaft ist, die Arbeitsplätze schafft und den armen Bevölkerungsschichten mehr Erwerbsmöglichkeiten eröffnet.
Wir müssen daher die Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative mit allen Kräften und allen Parteien unterstützen, damit sich in den Entwicklungsländern endlich Strukturen festigen, die der Bevölkerung mehr soziale Sicherheit bieten.Im übrigen ist die Bedeutung des privaten Sektors in der Zwischenzeit auch international unumstritten und voll anerkannt.
— Um so mehr könnten Sie heute dem Antrag zustimmen. — Nicht von ungefähr hat das Entwicklungskomitee der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds auf seiner diesjährigen Frühjahrstagung die Förderung des Privatsektors in den Mittelpunkt gestellt.Unser Ansatz der Förderung privater unternehmerischer Initiative sollte auch in einem größeren politischen Kontext verstanden werden; denn wir müssen den privaten Sektor im Zusammenhang mit den erforderlichen politischen und ökonomischen Strukturveränderungen in den Entwicklungsländern sehen.
Bei den Strukturanpassungsmaßnahmen verpflichten sich die Regierungen der Partnerländer, ihre überdimensionalen Staats- und Beamtenapparate abzubauen.Soziale Unruhen infolge steigender Arbeitslosigkeit vor allem in den Städten zu verhindern muß uns ein Anliegen sein! Die Forderung nach sozialer Abfederung von Strukturanpassungsprogrammen ist auch in dem zur Abstimmung vorliegenden Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments enthalten, den wir zur Kenntnis nehmen.Meine Damen und Herren, Sozialverträglichkeit im Rahmen der Strukturanpassung ist nur ein Aspekt des allgemeinen Problems der sozialen Sicherung in den Entwicklungsländern. Zwar ist es richtig, daß sich wirtschaftliches Wachstum in den Entwicklungsländern weltweit einstellt. Weltbankprognosen zufolge wird das reale Wirtschaftswachstum der Entwicklungsländer in den 90er Jahren im Schnitt 4,7 % betragen — ein Ergebnis, das das der Industrieländer übertrifft.
— Das ist aber ein wichtiger Teil, und das entlastet uns bei den ärmeren Ländern; auch das muß man sehen.Dennoch ist davon auszugehen, daß die wirtschaftliche Entwicklung so schnell vollzogen wird, daß eine gezielte Sozialpolitik damit nicht Schritt halten kann. Das würde auf Dauer bedrohliche Folgen haben.Gravierend ist, daß die traditionellen sozialen Sicherungssysteme wie der Verband der Großfamilie, der als soziales Netz diente, inzwischen zerfallen sind, ohne daß neue sie ersetzt hätten. Gemäß unserem Kriterium „Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns" ermutigen wir auch auf diesem Gebiet die Partnerregierungen, Konzepte zur Altersabsicherung zu entwerfen und Rahmenbedingungen zu fördern, in denen soziale Sicherungssysteme Sinn machen.Die Umbruchsituationen in den meisten Entwicklungsländern erleichtern diese Aufgabe nicht. Wir haben daher beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik die Studie „Soziale Sicherungssysteme für arme Bevölkerungsgruppen" in Auftrag gegeben.
Diese Analyse soll die Voraussetzungen und Möglichkeiten neuer sozialer Sicherungssysteme aufzeigen. Darüber hinaus werden wir Fallstudien zu einzelnen Ländern sowie zu Sozialsicherungssystemen in Afrika erstellen.
Das BMZ stellt sich somit auf die Förderung angepaßter sozialer Sicherungssysteme ein. Sie soll kein neuer Schwerpunkt der deutschen Entwicklungspolitik werden, sondern sich in das bisherige Koordinatensystem im Bereich Armutsbekämpfung, aber auch Bildung einordnen. Insofern unterstützt der Antrag „Entwicklung und Aufbau von sozialen Sicherungssystemen in den Entwicklungsländern" die von uns bereits begonnene Arbeit.
Mangelnde soziale Sicherheit in den Entwicklungsländern ist ein Grund für die stetig zunehmenden Flüchtlingsströme nach Europa. Menschen begeben sich jedoch nur dann auf die Flucht, wenn die Lebensbedingungen in ihren Heimatländern auf keiner Ebene irgendwelche weiterführenden Perspektiven bieten. Unsere ganze Entwicklungszusammenarbeit ist auf die herausfordernde Aufgabe ausgerichtet, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Natürlich kann das BMZ diese gigantische Aufgabe allein nicht lösen und auch nicht innenpolitische Versäumnisse ausgleichen.
Unsere Chancen liegen darin, daß die große Mehrheit der Flüchtlinge zu einer Rückkehr bereit ist, wenn sich die sozialen, politischen, wirtschaftlichen und
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Bundesminister Carl-Dieter Sprangerökologischen Bedingungen in ihren Heimatländern verbessern. Dieser Aufgabe müssen wir uns widmen.Ich möchte festhalten: Die Bundesregierung ist durch den Bundestagsbeschluß vom 14. Januar 1993 aufgefordert worden, die Repatriierung und Flüchtlingsreintegration verstärkt zu unterstützen. Wir haben bei der Aufstellung des Haushalts 1994 die Mittel für Rückkehrerprogramme um 15 % aufgestockt. Zusätzlich haben wir 1993 erstmals eine TZ-Reserve für Flüchtlingsprogramme in Höhe von 20 Millionen DM bereitgestellt. Ab 1994 soll ein Studien- und Fachkräftefonds „Flüchtlingshilfe" mit 1 Million DM gefördert werden. Das Problem ist also nicht das Geld, sondern sind sinnvolle Projekte, um hier erfolgreich zu arbeiten.Wir arbeiten natürlich, um das ressortübergreifende Gesamtkonzept besser umzusetzen, daran, die Zusammenarbeit mit BMI und AA noch enger zu koordinieren, und wir intensivieren ergänzend unsere Arbeit auch auf der Bund-Länder-Ebene.
Ich glaube, wer von uns heute noch ein Gesamtkonzept für die Repatriierung und Reintegration von Flüchtlingen fordert, der kann dies nur in Unkenntnis unserer laufenden Aktivitäten tun.Wir alle wissen, daß die Annahme oder Ablehnung dieses Antrags nur einen sehr mittelbaren Einfluß auf das An- oder Abschwellen der Flüchtlingsströme nimmt und daß wir nur über verbesserte Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern sichtbare Erfolge verzeichnen können. Dazu müssen wir immer wieder unsere sehr schnell wachsenden Erwartungen dämpfen und mit langem Atem, viel Geduld und Realismus darauf hinarbeiten, daß Not und Elend in den Entwicklungsländern durch sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritt beseitigt werden. Das in erster Linie sollte unser Ziel sein.Ich darf Sie bitten: Lassen Sie uns alle auch zukünftig mit aller Kraft gemeinsam an dieser wichtigen Aufgabe arbeiten.
Nun hat die Kollegin Verena Wohlleben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Zum Auftakt dieser entwicklungspolitischen Debatte haben Sie, Herr Professor Pinger, gesagt, daß Sie mit Ihrer Entwicklungspolitik auf dem richtigen Weg sind.
Mir stellt sich die Frage, ob Sie sich nicht eher in einer Sackgasse befinden, aus der sie nicht mehr herauskommen.
Haben Sie sich vielleicht festgefahren, oder haben Sie
sich nur in den bisherigen Ansätzen verfahren? Finden Sie noch den richtigen Weg? Wir sind Ihnen gerne dabei behilflich, den richtigen Weg zu finden.
Verschiedene Wegweiser befinden sich heute ja auf der Tagesordnung. Nehmen wir z. B. den Punkt „Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker„.
— Aber nicht jetzt hier. — Wir Sozialdemokraten verstehen nicht, warum Sie sich weigern, der Ratifizierung dieses Übereinkommens zuzustimmen. Im Bericht der Bundesregierung über die Konferenz „Umwelt und Entwicklung" der Vereinten Nationen in Rio ist festgehalten, daß im Gegensatz zu anderen Industrieländern Deutschland nur im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit von der Problematik betroffen ist. Dem geben wir recht.
In diesem Bericht haben Sie sich zwar für eine umfassendere Beteiligung der eingeborenen Bevölkerungsgruppen an den Entscheidungsprozessen und den entwicklungs- und umweltorientierten Maßnahmen der Agenda 21 ausgesprochen, aber das reicht unserer Meinung nach nicht aus.
Deutschland ist zwar nicht direkt betroffen, aber doch indirekt. Indirekt betroffen sind wir auf Grund unserer Arbeit, unserer Projektplanung und unserer gesamten Entwicklungspolitik, wie Sie selber zugeben. Ich frage Sie: Warum sollen wir nicht Wegbereiter sein, die Rechte der eingeborenen Völker anzuerkennen, und damit Fundamente setzen, die eingeborenen Völker in Entscheidungsprozesse zur Entwicklung des Landes einzubeziehen?
Warum wollen Sie nicht auf einem Feld für Zigmillionen von Menschen ein Signal setzen? Was verbirgt sich dahinter, fragen wir uns. Vor allen Dingen geschieht das gerade in einem Jahr, das die UNO als das Jahr der indigenen Völker sehen möchte. Warum wollen Sie nicht Vorbild sein für andere Staaten? Wir vergeben uns dabei überhaupt nichts.
Kollegin Wohlleben, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinger?
Mit diesem Punkt bin ich noch nicht zu Ende.
Aber später schon?
Ja.
Das Ziel dieses Übereinkommens ist doch ein besserer Schutz der sozialen und kulturellen Identität der eingeborenen und in Stämmen lebenden Bevölkerungsgruppen. Wenn wir damit den Schutz alter Traditionen erreichen — wenn auch nur mit Vorbildfunktion —, dann haben wir schon einen Teil dazu
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Verena Wohllebenbeigetragen, soziale und kulturelle Traditionen in den Entwicklungsländern zu erhalten. Und das wollen wir.
Jetzt Ihre Zwischenfrage, Herr Kollege Pinger.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, daß sich die Koalitionsfraktionen hinsichtlich der indigenen Völker am praktischen Beispiel von Narmada sehr intensiv eingesetzt haben, was mit dazu geführt hat, daß das Projekt von der Weltbank schließlich aufgegeben worden ist? Sind Sie also bereit, zuzugeben, daß jedenfalls an diesem praktischen Beispiel deutlich gemacht worden ist, daß wir indigene Völker unterstützen und uns für sie einsetzen?
Herr Professor Pinger, ich bin überhaupt nicht bereit, etwas zuzugeben. Hier geht es nämlich nicht um Einzelprojekte, sondern um das gesamte Übereinkommen, und ich frage mich: Warum stimmen Sie dem nicht zu? Warum sind Sie nicht bereit, dem zuzustimmen und hier Vorreiter zu sein?
Ich möchte mich nicht wiederholen, aber wir dürfen nicht auf Einzelprojekte ablenken, bei denen Sie vielleicht einmal ein bißchen entgegengekommen sind. Hier geht es vielmehr um das Abkommen und um nichts anderes.Ein weiterer Punkt auf der Tagesordnung ist die Entwicklung und der Aufbau von sozialen Sicherungssystemen in den Entwicklungsländern. Ihr Antrag liest sich zwar gut. Wir wissen aber, daß immer mehr Menschen in den Entwicklungsländern unter entwürdigenden Bedingungen absoluter Armut leben. Es sind die Ärmsten der Armen. Sie sind so arm, daß langfristig ihr Überleben gefährdet ist. Prognosen besagen, daß diese Gruppe weiter wächst.Die bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit sieht sich doch der Armutsbekämpfung verpflichtet. Deshalb steht sie vor der Frage, ob das herkömmliche Förderungsinstrumentarium auch wirklich die Ärmsten der Armen erreicht. Wir fragen uns, ob Ihr Konzept vielleicht sogar die Ärmsten der Armen übergeht.Es ist sicher richtig und auch notwendig, Konzepte zu schaffen, die langfristige soziale Sicherheit beinhalten. Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, daß Marktwirtschaft auf Dauer nur als Soziale Marktwirtschaft erfolgreich sein könne. Als Trugschluß empfinde ich allerdings, wenn Sie weiter formulieren und das vielleicht auch noch wirklich glauben — das unterstelle ich Ihnen jedenfalls, denn sonst wäre das im Antrag nicht nachzulesen —, daß nichtstaatliche Solidargemeinschaften zu den Erfordernissen der Existenzsicherung, Sozialverträglichkeit und Umwelterhaltung wesentlich beitragen.Wie stellt sich die Situation in den Entwicklungsländem dar? Das handeln Sie in einem Satz ab. Wir habenes doch zugelassen, daß aus den Entwicklungsländern in großem Maße Billiglohnländer wurden, ohne dabei auf die Sozialkomponente in diesen Ländern zu achten und ohne die soziale Verantwortung bei den Verantwortlichen einzufordern.
Es ist unbedingt notwendig, daß der Teufelskreis aufgebrochen wird. Immer noch ist es für die Frauen der Dritten Welt fast unausweichlich, möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, um wenigstens die geringste Altersvorsorge zu haben, ja um überhaupt ihr Leben durch die billige Arbeit dieser Kinder zu finanzieren. Eines der schwierigsten Probleme, nämlich das der Überbevölkerung, wird dadurch immer weiter verschlimmert. Wir müssen endlich dazu kommen, Alternativen für diese Menschen zu finden, damit die Ärmsten der Armen endlich auch sozial abgesichert sind.Das kann aber nicht nur die einfache Forderung nach einem sozialen Sicherungssystem sein. Wir müssen diesen Kreis vielmehr endlich durchbrechen und das Problem an der Wurzel packen. Wie berücksichtigen wir denn die Frauen in den Entwicklungsländern? Manchmal frage ich mich, ob es diese Frauen für uns überhaupt gibt. Sie sind zwar ständig in aller Munde, sie sind immer im Gespräch. Heute waren sie auch wieder im Gespräch, aber die Erkenntnis, daß es Entwicklung nur mit Frauen gibt, setzen Sie nicht definitiv um.Wie und in welche Richtung sich unsere Weltgesellschaft bewegt, hängt entscheidend davon ab, welche Möglichkeiten Frauen haben, sich am sozialen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen. Frauen haben eine Schlüsselposition. Daher ist die Förderung von Frauen in Entwicklungsländern ein wesentlicher Beitrag zur Verwirklichung von Menschenrechten und zur Wahrung der Menschenwürde.
Ohne die Förderung von Frauen ist eine vernünftige Entwicklungspolitik nicht denkbar. Deshalb müssen den Frauen endlich bessere Bildungschancen zugestanden werden. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit muß die Förderung von Frauen werden.
Auch der Lebensstandard der Menschen der Dritten Welt muß durch Verbesserung der Grundbildung, Ausbildung und Weiterbildung und der hygienischen Verhältnisse entscheidend angehoben werden. Wir dürfen nicht weiter zulassen, daß aus den Entwicklungsländern nur herausgeholt wird, daß nur verdient wird, daß Gewinne abgeschöpft werden, aber nicht von den Menschen, die dort leben, sondern von den westeuropäischen Ländern.Wir wissen auch, daß das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem nicht in der Lage ist, Hunger und soziale Verelendung in vielen Ländern dieser Erde zu stoppen. Auch ist das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem nicht in der Lage, die globale ökologische
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Verena WohllebenBedrohung abzuwenden. Deshalb kann die Lösung nur, wie meine Kollegin Brigitte Adler bereits im Juni vergangenen Jahres hier im Plenum ausführte, eine kombinierte Vorgehensweise sein: Schaffung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und Nutzung der entstehenden Freiräume für privatwirtschaftliche Initiativen.
Solange aber die internationalen Rahmenbedingungen keinen Spielraum für privatwirtschaftliche Initiativen lassen, solange das für Investitionen notwendige Kapital aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer zurückfließt, solange diese fest zementierten Weltwirtschaftsstrukturen nicht reformiert werden, so lange können unsere noch so guten, intensiv erarbeiteten und sicher auch wohlgemeinten Konzepte keinen Erfolg haben.
Es geht um mehr als nur um die Zufriedenstellung privater Investoren in den Entwicklungsländern. Es geht um mehr als um eine Exportförderung für unser Land. Es geht um Menschen, die das Recht haben, unter menschenwürdigen Bedingungen und Lebensverhältnissen zu leben. Deshalb muß unser oberstes Ziel sein, zu einer menschenwürdigen, wirtschaftlich produktiven, sozial gerechten und umweltverträglichen Entwicklung in den Entwicklungsländern und in den Ländern Osteuropas beizutragen und dabei auch einmal den privatwirtschaftlichen Nutzen der westeuropäischen Firmen außer acht zu lassen und die westeuropäischen Nutznießer in die Verantwortung zu nehmen,
damit auch in den Entwicklungsländern die Lebensbedingungen angeglichen werden — in der einen Welt, die es meiner Meinung nach nur gibt — und damit die Gleichstellung der Menschen im Norden und Süden, im Westen und Osten realisiert wird,
denn das Recht des Stärkeren ist meistens das größte Unrecht.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Ulrich Schmalz das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahre 1993 gibt es das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit seit 30 Jahren, d. h. seit 30 Jahren gibt es sozusagen amtliche deutsche Entwicklungspolitik. Ich finde es sehr sympathisch, daß eine kluge Regie es uns ermöglicht, am hellichten Tage über Entwicklungspolitik zu debattieren. Das soll ja nicht immer so gewesen sein. Das macht deutlich, daß die Entwicklungspolitik offensichtlich einen neuen Stellenwert bekommen hat.
Wer dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit angehört, der weiß aus Erfahrung, daß es in der Entwicklungspolitik eigentlich eine doch sehr breite praktische Übereinstimmung gibt. Wer diese Debatte verfolgt und dann hört, daß — das ist ein besonderes Privileg unseres verehrten Kollegen Hauchler — eine entwicklungspolitische Wüste an die Wand gemalt wird, der weiß, daß das natürlich nur möglich ist, weil hier weit offene Fenster sind, und daß das mit seinen normalen Reaktionen im Ausschuß und mit seiner breiten Zustimmung zur amtlichen Entwicklungspolitik nichts zu tun hat.
Verehrter Herr Kollege Hauchler, ich bin ja nun ganz und gar ungeeignet zu polemischen Ausfällen, aber ich erlaube mir doch einmal den Hinweis, daß wir in weiten Teilen der Welt auch deshalb Entwicklungspolitik betreiben müssen, weil wir schlimme Folgen einer bestimmten Ideologie tilgen müssen, einer Ideologie,
einer Wirtschaftsphilosophie, der wir eigentlich nicht sehr nahegestanden haben. Auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit.
Entwicklungspolitik soll keine internationale Sozialhilfe sein, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Hier ist heute nachmittag schon einmal gesagt worden, das sei ein Schlagwort. Ich finde, Hilfe zur Selbsthilfe ist richtig als Angebot,
als Philosophie vernünftiger Entwicklungspolitik. Deshalb glaube ich: Das, was richtig ist, darf und muß man immer wieder sagen.Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet die Entfaltung der in den Entwicklungsländern vorhandenen eigenen Kräfte. Dies kann mit langfristigem und nachhaltigem Erfolg nur dann geschehen, wenn unsere Entwicklungspolitik darauf gerichtet ist, die produktiven Kräfte in den Entwicklungsländern zu stärken und damit die Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bevölkerung zu vergrößern. Denn Arbeitsplätze sind erste Voraussetzung dafür, daß Einkommen erwirtschaftet werden können. Die dadurch steigende Kaufkraft ruft erhöhte Nachfrage hervor, die zu weiterem Wirt-
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Ulrich Schmalzschaftswachstum führt. Dieses Wirtschaftswachstum wiederum schafft Kapazität zu verstärkter Armutsbekämpfung aus eigener Kraft. Es hat auch etwas mit der Würde der Menschen zu tun, daß sie sich aus eigener Kraft bewähren können.
Die Förderung privater und unternehmerischer Initiative in den Ländern der Dritten Welt verspricht neben der Vermittlung von Bildung und Ausbildung am ehesten die Erlangung von langfristiger und nachhaltiger Entwicklung. Anders als die meisten staatlichen Entwicklungsprojekte erleben privatwirtschaftliche Projekte und Unternehmen nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt, bei der Übergabe an den lokalen Projektträger, ihre Stunde der Wahrheit, sondern müssen sich von Anfang an den Spielregeln und damit der Kontrolle des Marktes unterwerfen. Sie sind auf Dauer angelegt und werden von privaten Unternehmern gemanagt, die ihre persönlichen Interessen in ihren Unternehmen verfolgen und damit weitest-möglich ein Funktionieren und Fortbestehen ihres Unternehmens sicherstellen.Meine Damen und Herren, nachdem sich diese Erkenntnis nunmehr weltweit durchgesetzt hat, muß das Ziel entwicklungspolitischer Zusammenarbeit in Zukunft mehr denn je sein: more trade than aid. Dieser Zielrichtung trägt der hier zur Beschlußfassung vorliegende Antrag des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit über die Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der „Dritten Welt" in bemerkenswerter Deutlichkeit Rechnung. Dabei hat das entwicklungspolitische Instrumentarium zur Förderung der privaten unternehmerischen Initiative gleichermaßen die innere wirtschaftliche Belebung wie die internationale wirtschaftliche Kommunikationsfähigkeit der Partnerstaaten zu berücksichtigen.Zur Förderung einer inneren wirtschaftlichen Belebung sind unserer Ansicht nach vor allem drei Maßnahmen unabdingbar und für die Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative unerläßlich: erstens eine unternehmerfreundliche Investitions-und Kreditpolitik, zweitens eine aktive Mittelstandspolitik unter Berücksichtigung des informellen Sektors und drittens die Privatisierung staatlicher Unternehmen.Die Investitions- und Kreditpolitik sowohl der internationalen Geberländer wie der Entwicklungsländer selbst hat sich — das muß hier leider beklagt werden — in der Vergangenheit zu sehr an vor allem staatlichen, aber auch privaten Großbetrieben orientiert. Aus diesem Grunde blieben zahlreiche Beratungsprojekte zur Förderung der Klein- und Mittelindustrie in ihrer Wirkung eingeschränkt. Dabei sind für die Mehrzahl der Lander gerade kleine und mittlere Unternehmen kennzeichnend. Sie können als eigentliche Träger des wirtschaftlichen Wachstums gelten. Von ihrer Leistungsfähigkeit gehen entscheidende Impulse nicht nur für den wirtschaftlichen, sondern auch für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt aus.Das gilt auch für den informellen Sektor, dessen Potentiale für die Entwicklung nutzbar zu machen sind und auch nutzbar gemacht werden können, wie beispielsweise speziell angepaßte Finanzdienstleistungen in Peru und Bangladesch beweisen.Mittelständisch strukturierte privatwirtschaftlich geführte Unternehmen schaffen produktive Arbeitsplätze, vermitteln unmittelbare Ausbildung, entwikkeln Kreativität und Innovation, fördern unternehmerische Begabung und tragen zum unternehmerischen Nachwuchs bei, ohne den ein erfolgversprechender wirtschaftlicher Aufbau nicht möglich ist. Durch ihre starke Verankerung im regionalen wirtschaftlichen und sozialen Umfeld, z. B. durch geschäftliche Verknüpfung mit der Landwirtschaft, können sich positive Wachstumsanstöße für andere Sektoren ergeben. Die Entwicklungen, die sich im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen vollziehen, geben vielfältige Möglichkeiten, das entwicklungspolitische Instrumentarium, nämlich Kredit- und Beteiligungshilfen, Beratungsmaßnahmen, Partnerschaften zwischen Selbstverwaltungsorganen und Selbsthilfeeinrichtungen der Wirtschaft, einzusetzen und zu erweitern.An dieser Stelle ist besonders das erfolgreiche Engagement der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft zu würdigen und hervorzuheben. Seit ihrer Gründung im Jahre 1962 hat die DEG den Aufbau von 570 Unternehmen in Ländern der Dritten Welt gefördert. Durch Zusagen von 3 Milliarden DM hat sie ein Investitionsvolumen von insgesamt 30 Milliarden DM mobilisiert und die Schaffung von 3 Millionen Arbeitsplätzen ermöglicht.
Meine Damen und Herren, zur wirtschaftlichen Belebung innerhalb der Dritten Welt gehören schließlich auch entscheidend die Privatisierung bislang staatlicher Unternehmen und die Überführung öffentlicher Dienstleistungen in die Privatwirtschaft. Das ist eine Forderung, die im übrigen nicht nur für Entwicklungsländer Geltung beansprucht.Die weit größere Nutzung eines freien Handels durch die Entwicklungsländer wurde bisher dadurch behindert, daß ein erfolgreicher Abschluß der bereits seit 1986 laufenden Uruguay-Runde im Rahmen des GATT nicht gelang. Den anerkennenswerten Liberalisierungsschritten der Entwicklungsländer stehen auf multilateraler Ebene keine entsprechenden Maßnahmen der Industriestaaten gegenüber. Durch die noch immer bestehende Einschränkung des Zugangs zu den Industrieländermärkten insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft, Textil und Bekleidung verlieren die Entwicklungsänder schätzungsweise Exporteinnahmen von 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Der Gesamtbetrag der weltweit aus öffentlichen Quellen stammenden Entwicklungshilfeleistungen lag 1992 bedeutend niedriger, nämlich bei rund 62 Milliarden US-Dollar.
Parallel zu diesen beschämenden Behinderungen vonAusfuhren aus Ländern der Dritten Welt geht dieBeeinträchtigung der dortigen privaten unternehme-
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Ulrich Schmalzrischen Initiative durch den Export subventionierter Agrarprodukte aus Industrieländern weiter.
Meine Damen und Herren, eine solche Politik erschüttert die Glaubwürdigkeit der von den Industriestaaten erhobenen Forderungen nach marktwirtschaftlichen Reformen in den Entwicklungsländern.
Wir können von den Entwicklungsländern nicht immer die Erledigung der entwicklungspolitischen Hausaufgaben durch Schaffung marktgerechter Rahmenbedingungen verlangen, wenn wir selbst nicht bereit sind, unsere Hausaufgaben zu machen und die Rahmenbedingungen für eine faire und gleichberechtigte Beteiligung der Entwicklungsländer am Welthandel zu schaffen.Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß wir am Ende dieses Jahres am Ziel sind, daß GATT wirklich zum Abschluß kommt. Ich glaube, daß mit diesem GATT-Abschluß dann wichtige Voraussetzungen geschaffen sein werden, damit das von mir beklagte Defizit abgebaut werden kann.Wir empfehlen, die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4618 zur Entschließung des Europäischen Parlaments zur Strukturanpassung in den Entwicklungsländern nicht zu unterstützen. Die dort verwendeten Begriffe wie „Steuerung der Weltmärkte" entsprechen nicht unseren Auffassungen. Wir lehnen also die Entschließung, die dazu vorgelegt worden ist, ab. Im übrigen empfehlen wir den von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Antrag Ihrer Annahme.Vielen Dank.
Nun spricht die Kollegin Dr. Michaela Blunk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt viele Gründe, die dazu führen, daß immer noch eine steigende Zahl von Menschen ihre angestammte Heimat verläßt. Es hätte sicherlich der Sache mehr gedient, wenn Sie in Ihrem Antrag zur Repatriierung den entscheidenden Grund beim Namen genannt hätten, nämlich die dramatische Bevölkerungsentwicklung.
Armut, Landflucht, Verslummung, Umweltzerstörung und auch manche kriegerische Auseinandersetzung sind Folgeerscheinungen, weil zu viele Menschen ihre natürlichen Ressourcen überfordern. Politische Ursachen verstärken das Problem.Bislang haben weder die USA noch Europa den tatsächlichen Umfang der Flüchtlingsströme erkannt, weil nämlich zwischen 80 % und 90 % dieser Menschen in den gebeutelten Entwicklungsländern verbleiben. Ich erinnere daran, daß 1988 von 20 afrikanischen Aufnahmeländern 13 selber von Hungerkatastrophen bedroht oder befallen waren. Wie groß die Last der afrikanischen Aufnahmeländer ist, verdeutlichen einige Zahlen. In Europa kommt auf 700 Einwohner 1 Flüchtling. In Afrika liegt dieses Verhältnis bei 100: 1 und in einem armen Staat wie Malawi sogar bei 8:1.Repatriierung und Reintegration dieser Menschen stellen die Entwicklungsländer vor unlösbare Auf gaben. Sie brauchen unsere Hilfe, um die zusätzliche Last der Flüchtlinge einigermaßen zu bewältigen. Wir haben von Herrn Spranger gehört, daß die Bundesregierung diese Notwendigkeit erkannt hat und bereits dabei ist, sie umzusetzen.Auch unser Parlament befaßt sich bereits seit den 70er Jahren mit diesem Problembereich. Wir müssen zugeben, daß die zu erwartende Verdoppelung der Weltbevölkerung die Chancen auf einen Erfolg weiterhin schmälert, weil es uns bis jetzt nicht gelungen ist, ein soziales Sicherungssystem in den Entwicklungsländern aufzubauen, das die Eltern im Alter von den Kindern unabhängig macht.In Ihrem Antrag zäumen Sie nach meinem Dafürhalten das Pferd von hinten auf. Rückkehr und Wiedereingliederung sind keine losgelösten Problemf elder, sondern notwendigerweise Teile des jeweiligen nationalen Entwicklungsplanes,
mit dem ein passendes Umfeld geschaffen werden muß, in das sich die Rückkehrer eingliedern können.
Sie schieben die Verantwortung für die nachhaltige Beseitigung der Fluchtursachen außerdem einseitig den Industrieländern zu.
Meine Damen und Herren, es ist verständlich, daß die meisten Flüchtlinge — es handelt sich überwiegend um Frauen, Kinder und alte Menschen — erst in ihre Heimat zurückkehren wollen, wenn sich dort die politischen, sozialen und ökologischen Verhältnisse grundlegend geändert haben. Aber anders, als Sie es schreiben, liegt die Verantwortung für die Verbesserung der Rahmenbedingungen im wesentlichen bei den Entwicklungsländern selbst.
Dazu gehören Minderheitenschutz, Hilfe zur Selbsthilfe — ich halte dieses Schlagwort auch für richtig —, Frauenförderung, fairer Welthandel, Entwicklung der Landwirtschaft.
Die Industrieländer müssen allerdings personelle undmaterielle Hilfe leisten. Ihnen obliegt es z. B., die
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Dr. Michaela Blunk
Rückkehrwilligen so auszubilden, daß sie auf dem heimischen Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Die Wiedereingliederung der Flüchtlinge ist ein Mosaikstein unter vielen; denn wenn nur die Rückkehrer Hilfe in Form von Ausbildung, Gehaltszuschüssen u. ä. erhalten, sind Konflikte unausweichlich. Die Einrichtungen für Bildung und Ausbildung sowie die zu schaffenden Arbeitsplätze müssen für alle zugänglich sein.Sie bleiben auch die Antwort schuldig, wie Sie Mitnahmeeffekte bei den Überbrückungshilfen vermeiden wollen.Angesichts der Unterschiede in den einzelnen Entwicklungsländern erscheint es zumindest zweifelhaft, ob es sinnvoll ist, ein Gesamtkonzept zu erstellen. Ob ein „Flüchtlingskabinett", also eine neue Instanz, für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit sinnvoll ist, wage ich ebenfalls zu bezweifeln.Sie fordern eine erhebliche Aufstockung der bi- und multilateralen Mittel der Bundesrepublik und schlagen eine Umschichtung der sogenannten Ausstattungshilfe für Polizei und Militär vor. Nun erleben wir gerade in Somalia, was es bedeutet, wenn ein Staat keine funktionierende Polizei hat. In Mosambik und Angola ist die teilweise Zusammenführung der verfeindeten Truppen in einer neutralen nationalen Armee eine wichtige Voraussetzung für den inneren Frieden. Im übrigen haben auch Dritte-Welt-Länder berechtigte Sicherheitsinteressen, denen sie mit einer angemessenen Armee gerecht werden wollen.Die Repatriierung von Flüchtlingen ist ein — allerdings wichtiger — Teilaspekt der allgemeinen Entwicklungspolitik, die die Fluchtursachen beseitigen muß und damit auch den Grundstein für die Rückkehr der Flüchtlinge legt. Dem Ziel der Rückkehr und Wiedereingliederung stimmen wir zwar zu, dem von Ihnen aufgezeigten Weg im Antrag 12/4662 allerdings nicht.
Nun spricht der Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, daß sich dieses Haus wieder einmal mit dem befaßt, was auch fortschrittliche Ökologen etwas willkürlich als die Dritte Welt bezeichnen. Ich fürchte nur, das wird diese Bundesregierung dennoch nicht daran hindern, den Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe an der wirtschaftlichen Gesamtleistung dieses Landes weiter absinken zu lassen.Julius Nyerere aus Tansania hat das gestern in Bad Godesberg auf der 40-Jahr-Jubiläums-Veranstaltung von UNICEF höflich, aber deutlich kritisiert, und er hat insofern recht. Die reiche BRD, ökonomisch trotz Krise, trotz der Ostbelastung ein Riese, ist als Entwicklungshelfer nach wie vor ein Zwerg. Und obwohl in einigen der Anträge, sogar in zwei Anträgen der Koalitionsfraktionen, einige gute punktuelle Ansätze enthalten sind, wie die Förderung des informellen Sektors und der Aufbau von Systemen der sozialen Sicherung in den Entwicklungsländern, ein Kernproblem wird nicht angesprochen: die zwangsläufige und eskalierende weitere Ausbeutung und Ausplünderung der Dritten Welt über die ökonomischen und technologisch unterfütterten Austauschbeziehungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden dieses Erdballs.Wer die Länder der Dritten Welt weiterhin schutzlos den weltwirtschaftlichen Marktkräften aussetzen will, sei es auch durch Förderung der Privatinitiative, ist auf dem falschen Wege. Er nützt nicht den Armen in den armen Ländern des Südens; er nützt dagegen dem reichen Norden, er nützt insbesondere den Kräften, die hier bei uns, im reichen Norden, Probleme durch Entfesselung weiteren wirtschaftlichen Wachstums zu lösen versuchen.Privatwirtschaftliche Initiative im Süden und Wachstum im Süden, damit im Norden so weiter verfahren und weiter gewachsen werden kann wie bisher, das, fürchte ich, ist die Logik des Koalitionskonzepts insgesamt.Das aber vertieft nicht nur die Kluft zwischen den Armen im Süden und den Reichen im Norden dieser Erde, sondern führt auch zur weiteren Belastung und Zerstörung der natürlichen Umwelt. Es führt zur Zerstörung der natürlichen Umwelt im Norden durch weiter steigende Industrieproduktion und High-TechInvestitionen, es führt zur Umweltzerstörung durch Nichtentwicklung eigener, angepaßter Produktions-, Energieerzeugungs- und Verkehrsformen in den Ländern des Südens.Ich fürchte, das ist der wirkliche Effekt und auch die wirkliche Absicht der Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der sogenannten Dritten Welt. Sie zementiert — ich betone das noch einmal trotz einiger positiver Punkte — insgesamt die Aufspaltung der Erde in den armen Süden und den reichen, industriell hoch- und in einigen Bereichen vielleicht bereits überentwickelten Norden.Wer wirklich den Menschen in der Dritten Welt helfen will, der darf nicht die Verhältnisse hier im Norden dort im Süden kopieren. Wer helfen will, der muß in die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen erster und Dritter Welt aktiv gestaltend eingreifen, eingreifen erstens durch eine Politik der Schuldenstreichung, damit die armen Länder des Südens nicht weiterhin den größeren Teil und einen weiter wachsenden Teil ihres natürlichen Reichtums und ihrer Arbeitsproduktivität zur Bedienung der Finanzkapitalmassen des reichen Nordens abliefern müssen. Das ist nämlich das Grundproblem.Wer helfen will, muß zweitens eingreifen durch grundlegende Verbesserung der Terms of trade zugunsten der Entwicklungsländer durch Rohstoffabkommen, durch Ausfuhr- und Einfuhrquoten, durch Preisgarantien, durch Marktöffnung hier bei uns, durch sonstige entsprechende Maßnahmen.Der ungleiche Tausch von billigen Naturprodukten und arbeitsintensiv, zum Teil mit Kinderarbeit erzeug-
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Dr. Ulrich Briefsten Konsumgütern aus dem Süden gegen technologisch hochentwickelte und entsprechend kapitalintensiv produzierte Industrie- und insbesondere Investitionsgüter aus dem Norden darf nicht endlos weitergehen. Die Länder der Dritten Welt dürfen nicht auch auf diesem Wege noch tiefer in die Verschuldungskrise hineingetrieben werden.Aktiv gestaltend eingreifen heißt deshalb drittens auch: durch Struktur- und Industriepolitik in unsere Produktionsstrukturen eingreifen — hier liegt insbesondere das Problem —, damit hier bei uns angepaßte Produkte und Verfahren für die Bedürfnisse der Dritten Welt entwickelt und produziert werden können. Sie, diese Produkte und Verfahren, müssen an die Stelle der vereinseitigten High-Tech-Produktion und ihrer Produkte und Verfahren treten, die auch zwangsläufig in die Dritte Welt geliefert werden.Wer nämlich die Dritte Welt ohne Schuldenstreichung, ohne Verbesserung der terms of trade und der Rahmenbedingungen für die Austauschbeziehungen ungeschützt dem Wettbewerb des Weltmarktes aussetzt, der zwingt sie, teure, technologisch raffinierte, kapitalintensiv produzierte Maschinen im reichen Norden zu kaufen und bei sich zu installieren. Das heißt aber Aufbau eines High-Tech-Sektors wie bei uns, in dem immer weniger Arbeitskräfte mit immer weniger Arbeitsstunden, mit technologisch raffinierten Verfahren Produkte erzeugen, die oft nur in anderen High-Tech-Betrieben eingesetzt werden können und oft am Bedarf, insbesondere am Grundbedarf der Bevölkerung im Norden und im Süden vorbeigehen; das heißt einen Produktionskomplex aufbauen, in dem z. B. das Spektrum der eingesetzten Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe tendenziell immer giftiger wird, was uns z. B. unser Giftmüllproblem beschert hat. Daß heißt ferner, einen Produktionskomplex aufzubauen, der auch zunehmend energieintensiv wird, der auf eine hochentwickelte Technologie und Verkehrsinfrastruktur angewiesen ist und der auch immer mehr Ansiedlungsfläche für die Betriebe braucht.Einen solchen High-Tech-Produktionskomplex können die Entwicklungsländer nicht aufbauen, und wenn sie es könnten, handelten sie sich nur die ökologischen und sonstigen Folgen unserer HighTech-Produktionsweise ein. Da sie es einerseits nicht können, sich andererseits aber auf dem Weltmarkt ungeschützt behaupten müssen, werden sie von uns immer abhängiger. Die Zementierung der Unterentwicklung im Süden und der Ausbau der ökologisch und sozial problematischen High-Tech-, High-Speedund High-Performance-Wirtschaft im Norden, jener Wirtschaft, die auf geradezu abenteuerliche technologische Spitzenleistungen orientiert ist, entsprechen einander.Vor diesem Hintergrund, Frau Präsidentin — ich danke für die Geduld und komme zum Schluß —, denke ich, daß der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Strukturanpassung zuzustimmen ist, obwohl sie unzureichend ist. Zu begrüßen ist das Votum des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das im Ausschuß ja offensichtlich mit zwölfSPD- gegen elf Koalitionsstimmen zustande gekommen ist.Ebenso zu begrüßen ist der Antrag der SPD zur Repatriierung und Reintegration von Flüchtlingen, da er wenigstens einen Versuch darstellt, an wesentlichen Fluchtursachen anzusetzen. Hinzu kommt — —
Kollege Briefs, sagten Sie, wann Sie zum Schluß kommen?
Ich bin gerade im Begriff, Frau Präsidentin!
Ihnen kann man das nicht lange genug predigen, damit Sie es klar wissen.
Das Ansetzen an den ökonomischen und technologischen Fluchtursachen hier bei uns und angesichts der Beteiligung der BRD an der Ausplünderung der Dritten Welt, auch die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens über eingeborene und in Stämmen lebende Völker, wie hier vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN insbesondere gefordert, sind zu unterstützen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für die außerordentliche Geduld.
Da haben Sie aber auch wirklich recht, daß Sie sich bedanken.
Nun spricht der Kollege Andreas Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hauchler, Sie haben schon einige kritische Anmerkungen zu Ihrer Rede gehört. Auch ich will eine grundsätzliche Replik machen.Ich finde wirklich, daß Politiker wie Sie, wie die Sozialdemokraten, die durch die Klage in Karlsruhe versucht haben, Deutschland aus der Solidarität der Völkergemeinschaft herauszubrechen, jeden Anspruch verloren haben, hier als Vordenker einer globalen Verantwortungsethik aufzutreten.
Meine Damen und Herren, es ist wohl so:
Ich bin sehr glücklich, hier sagen zu können: Das Bundesverfassungsgericht verkündet wohl gerade in diesem Augenblick, daß unsere Soldaten in Somalia bleiben können.
Ich finde, dies ist eine gute Entscheidung für die Menschlichkeit und für die ärmsten Menschen in Somalia.
Ich hoffe auch, wenn es dann noch zu einer Abstimmung kommt — wir brauchen wohl die einfache
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14249
Andreas Schmidt
Mehrheit —, daß Sie dann auch im Interesse unserer entwicklungspolitischen Zielvorstellungen hier ja sagen werden, daß unsere Soldaten in Somalia einen Dienst im Sinne unserer Entwicklungshilfepolitik leisten können.
Die heutige entwicklungspolitische Debatte ist ein hoffnungsvolles Signal. Entwicklungspolitische Themen finden jetzt spürbar ein größeres Interesse in den Medien, in der Öffentlichkeit und auch in der Politik. Nach der Beendigung des Ost-West-Konfliktes schärft sich unser Blick für die Nord-Süd-Problematik. Wir erkennen, daß es keine sogenannte Dritte Welt gibt, sondern daß wir alle in einer Welt leben.Während Gorbatschow noch vor einiger Zeit von einem europäischen Haus gesprochen hat, wird immer deutlicher, daß die gesamte Menschheit in einem Haus lebt und daß wir zu begreifen beginnen, daß es die Statik dieses Hauses auf Dauer nicht zuläßt, wenn wenige Zimmer immer pompöser ausgestattet werden, während andere Zimmer Feuer fangen.Die Fakten, die uns herausfordern, werden immer offensichtlicher: Täglich sterben 40 000 Kinder an Unterernährung. 500 Millionen Menschen leiden an Hunger und Mangelerscheinungen. Die im Norden lebende Weltbevölkerung von 13 % verbraucht 85 % aller produzierten Waren. 15 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Hunger, Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Umweltkatastrophen. Diese Fakten, meine Damen und Herren, sprechen eine klare Sprache.Ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungshilfepolitik ist es daher zu Recht, daß wir die Armutsbekämpfung in den Mittelpunkt gestellt haben. Mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. zum Thema „Entwicklung und Aufbau von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern" wollen wir die bisherigen Strategien zur Armutsbekämpfung um einen wichtigen und entscheidenden Punkt ergänzen.Wir erkennen zusehends, daß nicht nur Bürgerkriege, Naturkatastrophen und wirtschaftlicher Niedergang für das Anwachsen der Armut ursächlich und verantwortlich sind. Ein Grund dafür, daß trotz aller bisherigen entwicklungshilfepolitischen Anstrengungen die Zahl der Armen weiterhin zunimmt, ist auch darin zu sehen, daß traditionelle Sicherungssysteme in den Entwicklungsländern zusehends zerbrechen und dadurch die bedrohliche Bevölkerungsexplosion verursachen. Die einzige Altersvorsorge für die Ärmsten der Armen ist nämlich in der Regel der Kinderreichtum.Der damit verbundene Teufelskreis ist offensichtlich: Bevölkerungswachstum, Verelendung, Umweltzerstörung, Armutswanderung.Machen wir uns bewußt, meine Damen und Herren, welches Ausmaß die Bevölkerungsexplosion auf unserem Planeten hat! Während um Christi Geburt 300 Millionen Menschen die Erde bevölkerten, im Jahre 1900 1,65 Milliarden Menschen auf unserem Planeten ein Zuhause fanden, leben 1993 etwa 5,4 Milliarden Menschen auf unserer Erde. Jährlich wächst diese Zahl um 90 Millionen Menschen, wobei 90 % von Ihnen in Entwicklungsländern geboren werden.Nach einer seriösen Prognose der UNO werden im Jahr 2025 zehn bis elf Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Wenn Entwicklungshilfepolitik überhaupt eine Chance im Sinne der Wahrnehmung globaler Verantwortung haben soll, muß es uns gelingen, Konzepte für eine adäquate Altersversorgung in den Entwicklungsländern zu entwickeln, um so eine Alternative zur Alterssicherung durch Kinderreichtum aufzuzeigen.Um Mißverständnissen vorzubeugen, meine Damen und Herren: Die Idee unseres Antrages ist nicht, die sozialen Sicherungssysteme der Industrienationen als Vorbild zu exportieren. Es geht vielmehr darum, informelle Solidargemeinschaften innerhalb von Familien, Großgruppen, Nachbarschaften oder Selbsthilfeinitiativen, die in Entwicklungsländern über Jahrzehnte gewachsen sind, vor dem Zerfall zu retten und zu stärken. Wir legen mit unserem Antrag kein Patentrezept zur Lösung dieser Probleme vor, aber wir versuchen, eine Initialzündung für eine Denkoffensive zu setzen. Wir bitten die Bundesregierung, gemeinsam mit einheimischen Forschungseinrichtungen wissenschaftliche Konzepte zu entwickeln, um bereits vorhandene traditionelle soziale Sicherungssysteme in den Entwicklungsländern zu stärken und auszubauen.Wir fordern nichtstaatliche Trägerorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit auf zu prüfen, inwieweit sie einen beratenden Beitrag zum Aufbau sozialer Dienste im Sinne der Grundversorgung auch im Rahmen genossenschaftlicher Strukturen in Entwicklungsländern leisten können.Meine Damen und Herren, in dieser entwicklungspolitischen Debatte werden zu Recht verschiedene Themenbereiche angesprochen. Ich will daher für meine Fraktion auch zu zwei weiteren Anträgen in aller Kürze Stellung nehmen.In dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3824 soll die Bundesregierung aufgefordert werden, daß Übereinkommen 169 der ILO zu unterzeichnen und dem Deutschen Bundestag unverzüglich zur Ratifizierung vorzulegen. Das Anliegen des Übereinkommens 169 ist zweifellos positiv zu bewerten, da es die Rechte von eingeborenen und in Stämmen lebenden Völkern in unabhängigen Ländern schützen soll. Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN basiert aber offensichtlich auf einem Mißverständnis. Das ist schon deutlich gesagt worden.Das ILO-Übereinkommen 169 richtet sich nämlich an diejenigen Staaten, auf deren Territorium indigene Völker leben. Da es in der Bundesrepublik Deutschland keine eingeborenen und in Stämmen lebende Völker gibt, sind wir von diesem Übereinkommen nicht betroffen, Herr Kollege Weiß.
Ohne Ihren Einsatz für die Rechte der indigenenVölker aufzugeben, sollten Sie sich überlegen, aus
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14250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Andreas Schmidt
sachlichen Erwägungen Ihren Antrag zurückzuziehen.Ich will abschließend zum Antrag der sozialdemokratischen Fraktion — Gesetzesvorlagen auf — Drucksache 12/4350 — kurz Stellung nehmen. In diesem Antrag schlagen Sie vor, das Vorblatt bei der Gesetzesvorlage urn einen Punkt D — mögliche Auswirkungen auf Entwicklungsländer — zu ergänzen. Ich plädiere dafür, daß wir über das Anliegen, das mit diesem Antrag verbunden ist, sehr schnell in eine breite Diskussion eintreten. Ich bin jedoch der Auffassung, daß wir die zu führende Diskussion nicht auf eine zweitrangige Frage beschränken sollten.Was wir dringend brauchen, ist eine umfassende Strategie zur Schaffung einer Kohärenz in der Entwicklungshilfepolitik, denn zweifellos mangelt es zu Lasten der Effektivität unserer Entwicklungshilfepolitik an dieser Kohärenz in der nationalen Politik. Das ist keine Frage. Hinzu kommt auch ein Defizit an Koordinierung zwischen gemeinschaftlicher und einzelstaatlicher Entwicklungshilfezusammenarbeit. Es ist ein unerträglicher Zustand, wenn z. B. ein mit deutscher Hilfe erfolgreich aufgebautes Rinderzuchtprojekt in Afrika durch billige EG-Rindfleischexporte in eben dieses afrikanische Land wieder zerstört wird.
Das ist überhaupt keine Frage, und hier müssen wir schnell nachdenken. Die Diskussion, Herr Kollege Hauchler, muß breiter angelegt werden als in Ihrem Antrag.Ich sage noch einmal: Wir müssen in diese Diskussion eintreten, um eine Kohärenz zu schaffen. Wenn Entwicklungshilfepolitik auf Dauer Erfolg haben soll, müssen wir in der Tat Entwicklungshilfepolitik als Querschnittsaufgabe aller Politikfelder verstehen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Werner Schuster das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen entwicklungspolitischen Debatte möchte ich zu zwei Anträgen der SPD-Fraktion Stellung nehmen: zu dem schon zitierten Antrag zur Reintegration und Repatriierung von Flüchtlingen und zu dem anscheinend so unscheinbaren Thema des Gesetzesvorblattes.Lassen Sie mich mit den Flüchtlingen beginnen. Sie erinnern sich sicher noch an die wohlklingenden Worte der Sprecher aller Fraktionen anläßlich der Asyldebatte vor einem Monat hier in diesem Hohen Hause. Damals haben die Redner aller Fraktionen unabhängig von ihrer Einstellung zur Grundgesetzänderung betont, wie wichtig darüber hinaus eine Fluchtursachenbekämpfung sei. Mit dem hier vorgelegten Antrag bieten wir Ihnen, meine Damen undHerren von der Regierungskoalition, für einen Teilaspekt die Nagelprobe.In Deutschland leben zur Zeit sicher mehr als 1 Million Asylbewerber, Asylberechtigte und Bürgerkriegsflüchtlinge. Bei einer grundlegenden Veränderung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verhältnisse in ihren Heimatländern wäre eine Mehrheit dieser Flüchtlinge zu einer Rückkehr bereit. Dazu allerdings benötigen sie unsere systematische, qualifizierte Unterstützung.Über den Prozentsatz der Rückkehrwilligen, Herr Minister, mag man sich trefflich streiten. Ganz sicher aber liegt dieser Prozentsatz bei deutlich über 50 % bei den reinen Bürgerkriegsflüchtlingen. So leben in Deutschland zur Zeit mindestens 300 000 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien. So schrecklich, grausam und für die Europäische Gemeinschaft beschämend dieser genozidähnliche Krieg zur Zeit immer noch wütet, er wird — so ist für die dort lebenden Menschen zu hoffen — in absehbarer Zeit beendet sein.
Spätestens dann aber, Herr Minister, stellt sich die Frage, wie professionell wir — der Bundestag und vor allem die Bundesregierung — auf dieses Ereignis vorbereitet sind. Ex-Jugoslawien, meine Damen und Herren, ist für mich nur ein Beispiel für das Problem.Nun gab es bereits in der Vergangenheit u. a. mit den Rückführungsprogrammen REAG und GARP positive einschlägige Erfahrungen. Auch jetzt kann man der Presse entnehmen — Sie haben es ja bestätigt —, daß in den verschiedenen Ministerien an solchen Wiedereingliederungsprogrammen gebastelt wird, aber eben nur gebastelt. Jedes Ministerium plant so vor sich hin, eifersüchtig auf seine Ressortgrenzen achtend. Von einer wirklichen systematischen, konzentrierten Anstrengung nach dem Motto „alle gemeinsam an einem Runden Tisch" ist nichts zu vernehmen.
Hier, Herr Minister, stört mich Ihre vorhin praktizierte Selbstgefälligkeit schon erheblich. Wer hindert Sie eigentlich daran, im Bundeskabinett im Zusammenhang mit den Fragen der Flüchtlingsrückführung die Federführung im Sinne eines Flüchtlingskabinetts energisch einzufordern? Schließlich sind es die Ihnen nachgeordneten Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit und die Vielzahl von NGOs, also Nichtregierungsorganisationen, welche für die praktische Umsetzung solcher Maßnahmen verantwortlich in Frage kämen.Nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion würde dies begrüßen, sondern auch der inzwischen in den Ruhestand gegangene deutsche Vertreter des UNHCR, Herr Koisser, hält eine bessere Koordinierung für eine überfällige Maßnahme.Details der Antragsforderungen werden wir, Frau Blunck, sicher noch einmal im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit diskutieren müssen, so z. B. die Aufstockung des Regelbeitrags für den
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Dr. R. Werner SchusterUNHCR selbst oder die Umsetzung solcher Maßnahmen gemeinsam mit den Partnerländern.Lassen Sie mich an dieser Stelle vorab kurz einige Punkte vertiefen.Erstens. Eine ganz wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche persönliche und berufliche Reintegration von Flüchtlingen, die heimkehren wollen, ist der Erwerb einer soliden beruflichen Qualifikation. Auf dem Gebiet der Qualifikation- und Bildungsmaßnahmen für Flüchtlinge wird in den Bundesländern von öffentlichen und privaten Trägern schon viel Unterstützenswertes geleistet. Aber immer wieder höre ich die gleiche Klage: Die derzeit geltenden differenzierten Zugangsmöglichkeiten z. B. zu Sprachkursen oder Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz entsprechen in keiner Weise flüchtlingspolitischen, geschweige denn entwicklungspolitischen Zielsetzungen und Notwendigkeiten. Eine Novellierung genau dieser Regelungen, durch die allen ausländischen Flüchtlingen Zugang zu diesen Qualifikationsmaßnahmen eröffnet wird, ist überfällig. Das ist doch eine typische Aufgabe für die gesamte Bundesregierung.Zweitens. Ein Grundsatz ist bei allen Rückführungsprogrammen strikt zu beachten: Repatriierung darf nicht zur Abschiebung mißbraucht werden. In allen Fällen müssen die Grundsätze des UNHCR voll zur Anwendung kommen; das gilt vor allem für den Grundsatz der Freiwilligkeit jedes einzelnen Flüchtlings bei der Entscheidung für eine Rückkehr. Durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen muß ein ausreichendes Beratungsangebot über diese Möglichkeiten gesichert werden.Drittens. Viele der in den Bundesländern geplanten und durchgeführten Ausbildungs- und Hilfsprogramme für ausländische Flüchtlinge sind in ihrer Realisierung leider durch fehlende Mittel akut gefährdet. Eine Aufstockung der Mittel für das REAGProgramm und andere bestehende bzw. in Planung befindliche Programme ist trotz knapper Kassen notwendig, denn wir sind uns einig: Nichtstun in dieser Frage hat allemal höhere Folgekosten.Um hier Mißverständnissen vorzubeugen: Die SPD-Fraktion geht davon aus, daß man die hierfür benötigten finanziellen Mittel durch Umschichtungen aus Haushaltsmitteln sowohl des Auswärtigen Amtes — z. B. der Ausstattungshilfe — als auch des BMZ — beispielsweise bei der FZ — freischaufeln kann. Wir sollten nicht vergessen, daß ein lebenswertes Leben in den Entwicklungsländern für einen Bruchteil der Summe möglich ist, welche wir hier bei uns in Deutschland für die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge benötigen.
Gefragt sind also ein qualifziertes, systematisches Gesamtkonzept und der politische Wille, auch gestalten zu wollen.Damit bin ich bei dem zweiten Antrag. Dessen Umsetzung kostet nun wirklich finanziell gar nichts, er kostet „nur" den guten Willen aller Betroffenen.
Herr Dr. Schuster, diese Ihre letzte Bemerkung hat offensichtlich das Bedürfnis des Grafen von Waldburg-Zeil geweckt, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Graf.
Herr Kollege Schuster, bevor Sie zum zweiten Teil übergehen: Würde es Sie beschweren, wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihren Antrag ganz ausgezeichnet finde, vorbehaltlich einzelner Punkte, die wir im Ausschuß sicher noch besprechen werden? Würde es Sie weiterhin beschweren, wenn ich im Zusammenhang mit einem Antrag, den wir bereits 1989 als „ entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen" bezeichnet haben, feststelle, daß die Tradition in diesem Ausschuß, kontinuierlich zu arbeiten und manchmal gemeinsame Auffassungen zu vertreten, eine gute ist?
Herr Kollege, dem widerspreche ich überhaupt nicht. Deswegen bin ich ja über die Schelte durch den Herrn Minister so überrascht. Ich habe mich natürlich kundig gemacht, Herr Minister. Ich könnte Ihnen unter vier Augen im Detail sagen, wo es Koordinierungsbedarf gibt. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Anliegen, Herr Kollege.
Ich komme nunmehr — ich bitte um Verständnis — zu dem sogenannten Gesetzesvorblatt. Der entsprechende Antrag sieht vor, daß in Zukunft bei allen Gesetzesvorlagen auf diesem Vorblatt nicht nur wie bisher die Problemdarstellung, die Lösung, die Kosten für den Bund und die Alternativen ausgewiesen werden, sondern zusätzlich auch die Folgekosten für die Kommunen und die Auswirkungen für die Entwicklungsländer. Ich bestreite nicht, daß gerade diese Kombination von zwei völlig heterogenen Politikbereichen, nämlich Kommunal- und Entwicklungspolitik, den besonderen Charme dieses Antrags ausmacht.Zunächst kurz zum kommunalpolitischen Aspekt. Nicht selten — das wissen Sie — beschließen wir im Bundestag Gesetzesvorlagen, bei denen aufgeführt ist: „Kosten: keine"; denn die Folgekosten tragen andere, nämlich die Länder und Kommunen. Damit in Zukunft bereits vor der Beschlußfassung die Folgekosten für Länder und Kommunen abgeschätzt und dem Parlament bekanntgemacht werden, sollen sie in Zukunft getrennt ausgewiesen werden. Vielleicht kann man es so den Gesetzesinitiatoren erleichtern, rechtzeitig über einen finanziellen Ausgleich für die von den Folgekosten von Bundesgesetzen betroffenen Haushalte der Länder und Kommunen nachzudenken. — Hier erwarte ich Beifall von allen Kommunalpolitikern.
Eine „neue Nachdenklichkeit" über die Folgewirkungen politischen Handelns ist aber auch unter dem entwicklungspolitischen Aspekt angebracht. Er entspricht einer uralten Forderung des von mir hochgeschätzten ehemaligen Entwicklungsministers Erhard
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14252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. R. Werner SchusterEppler, welcher seit Jahrzehnten fordert, daß bei Gesetzentwürfen neben den finanziellen Auswirkungen als zusätzliche Dimension immer auch die mögliche Betroffenheit der Entwicklungsländer explizit dargestellt wird.
Das systematische Nachdenken über die Entwicklungsverträglichkeit von politischen Entscheidungen bei uns in Deutschland ist längst überfällig und, wie ich weiß, Bestandteil entwicklungspolitischer Forderungen aller politischen Parteien. Nur, geschehen, meine Damen und Herren, ist bislang wenig oder nichts.Stellen Sie sich einmal vor, die Beamten im Verkehrsministerium von Herrn Wissmann, welche jetzt wahrscheinlich über der Lkw-Steuer und der Vignettenlösung brüten, wären gezwungen, die Entwicklungsverträglichkeit dieser scheinbar nur die EG betreffenden Verkehrsgesetzgebung zu reflektieren. Sie werden mir sicher zustimmen, die gesetzliche Lösung würde anders ausfallen, als sie dieser Tage in den Medien dargestellt wird.
Herr Dr. Schuster, nochmals der Wunsch eines Grafen, eine Frage an Sie zu richten.
Lieber Kollege Schuster, können wir nicht auch bei Tarifabschlüssen einführen, daß die entwicklungspolitischen Folgen berücksichtigt werden müssen?
Ich stimme Ihnen zu, da ich im Gegensatz zu manchen meiner Vorredner nicht einäugig bin.
Oder, meine Damen und Herren, noch frivoler: Die unzähligen Heerscharen von Beamten und Angestellten der verschiedensten Bundes- und Länderministerien, welche in den letzten Monaten mit dem Asylkompromiß beschäftigt waren, hätten ihre Vorschläge unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsverträglichkeit schreiben müssen. Ich bin ganz sicher, meine Damen und Herren, aus diesem Apparat wäre eine Reihe Anregungen an die politisch Verantwortlichen herangetragen worden, welche zu anderen Konsequenzen bei uns geführt hätten.
Es ist das Fehlen solcher verbindlichen Vorschriften, Herr Schmidt, immer auch an die 41/2 Milliarden Menschen im Süden denken zu müssen, welches bei uns im Norden zu so abgeschotteten, einseitigen Entscheidungen führt.
Muß es uns nicht nachdenklich machen und beschämen, daß wir voraussichtlich die Verfassung ändern werden, um militärische Interventionen im Süden, wie jetzt in Somalia, rechtsstaatlich abzusegnen, daß aber die Forderung, in die Präambel unserer neuen Verfassung auch die Solidarität mit der einen Welt festzuschreiben, an sogenannten Sachzwängen zu scheitern droht? Stimmt da unser Weltbild noch? Entspricht das unseren Vorstellungen von Verantwortungsethik?
Meine Damen und Herren, nichts anderes will dieser Antrag, als hier in der politischen Bürokratie, in der Exekutive, aber auch bei uns in der Legislative eine neue „Denke" einzufordern. Dazu brauchen wir allerdings Ihre Unterstützung.
Danke schön.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Erika Reinhardt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was kann, soll und muß Entwicklungspolitik heute und in der Zukunft leisten? Die heutige Debatte gibt uns erneut Gelegenheit, Maßgaben und Ziele der Entwicklungspolitik klar zu definieren. Sie macht aber auch deutlich, wie sehr Entwicklungspolitik ein Schwerpunkt in unserer Politik geworden ist. Ich bin nicht Ihrer Meinung, Herr Weiß, daß das, was wir heute hier machen, mit einem Bauchladen zu vergleichen wäre.Der von der SPD vorgelegte Antrag ist deshalb von der Thematik her auch nicht neu.
Ich erinnere an den Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. im November 1992, der alle diese Punkte, die Sie heute ansprechen, bereits enthalten hat, oder an die große entwicklungspolitische Debatte im Januar. Auch da war die Rückführung und Integration ein Schwerpunkt.Meine Damen und Herren, 4,2 Milliarden Menschen leben in Entwicklungsländern. Ihnen stehen 1,2 Milliarden Menschen in den Industriestaaten gegenüber. Berichten zufolge wird die Bevölkerung in den Entwicklungsländern bis zum Jahre 2025 auf 7,65 Milliarden ansteigen. Allein diese Zahlen machen deutlich, wo die Probleme liegen. Die Flüchtlings- und Wanderungsbewegungen, die Umweltzerstörung, fortschreitende Überbevölkerung und die Armutsbekämpfung sind die großen Herausforderungen an die Industriestaaten.Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten Jahre müssen wir alte Denkmuster begraben und neue Sichtweisen akzeptieren. Hierbei ist die wichtigste Erkenntnis: Wir leben in einer Welt. Längst gelingt es niemandem mehr, sich abzuschotten. Die wirtschaftliche Verflechtung auf europäischer und internationaler Ebene verpflichtet uns zur Zusammenarbeit. Wir tragen alle Verantwortung für diese eine Welt.
Vermeidung von Fluchtursachen durch eine wirksame Entwicklungspolitik ist unser Ziel. Die Koalitionsfraktionen haben dazu in ihrem Antrag klare
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Erika ReinhardtAussagen gemacht. Dazu gehört die Fortschreibung der Flüchtlingskonzeption. Dies wurde von der Regierung zugesagt. Minister Spranger hat es auch hier noch einmal deutlich gemacht: die Unterstützung von Reformprozessen, die Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit, Menschenrechtsorientierung, Umweltschutz und Armutsbekämpfung, um nur einige Punkte hier herauszugreifen.Bedenkt man, daß sich 1991 rund 17,3 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht befanden, wird deutlich, wie wichtig es ist, sich der Fluchtursachen anzunehmen und sie zu bekämpfen. Doch die besten Programme verfehlen ihre Wirkung, wenn im Entwicklungsland selbst der Wille zur Umstrukturierung nicht vorhanden ist.
Hierzu gehören die Demokratisierung, die Achtung der Menschenwürde und die Schaffung von Strukturen, die den Menschen eine Zukunftsperspektive eröffnen und damit auch eine Rückkehr ermöglichen — Kriterien, die bei der Entscheidung über die Vergabe von Entwicklungshilfe eine wichtige Rolle spielen, und ich bin dankbar, daß die Regierung diese Maßstäbe ansetzt. Denn Länder, die doppelt soviel für Waffen und Soldaten ausgegeben wie für Gesundheit und Erziehung zusammen, können in der Entwicklungspolitik nicht auf unsere Hilfe rechnen.
In der heutigen entwicklungspolitischen Debatte wurde bereits auf die vielfältigen Aufgaben, die vor uns liegen, hingewiesen, ob es die Förderung von privaten unternehmerischen Initiativen, die Schaffung von sozialen Sicherheitssystemen oder die Entschließung zur Strukturanpassung ist — alles Punkte, die für die Repatriierung und Reintegration eine wichtige Rolle spielen. Sie sind sozusagen die Begleitmusik, die die Rückkehr ermöglicht, oder — man könnte auch sagen — das Salz in der Suppe.Wesentliche Elemente der Rückkehrprogramme sind sicherlich neben der materiellen Sicherung für eine Übergangszeit oder der finanziellen Starthilfe bei der Existenzgründung im Heimatland die Beratung und Vorbereitung der Rückkehrwilligen auf ihre Heimatländer.In diesem Zusammenhang ist zu begrüßen, daß sich z. B. auch Baden-Württemberg durch Ausbildungsmaßnahmen an Rückkehrprogrammen beteiligt.
Vielleicht ist dies ein Ansporn für andere Bundesländer, dies ebenfalls zu tun. Wir würden so eine Hilfe jedenfalls sehr begrüßen.
— Wunderbar.Rückführungsprogramme bestehen seit 1990 mit Chile, Vietnam, Slowenien, Kroatien und Eritrea. Ich bin sicher, daß weitere folgen werden. Es wäre durchaus denkbar, daß Rumänien oder Albanien hierzu gehören werden.Interessant wäre allerdings, wie die Programme angenommen werden, wie effektiv sie sind und wo Korrekturen angebracht wären. Hier sind eine Analyse und ein intensiver Gedankenaustausch notwendig. Wir werden sicherlich im Ausschuß dazu Gelegenheit haben. Rückkehrhilfen müssen so gestaltet werden, daß sie entwicklungsfördernde Effekte auslösen. Beim Angebot individueller materieller Rückkehranreize muß sichergestellt werden, daß durch eine zweckmäßige Ausgestaltung der Vergabekriterien diese Anreize nicht zu einer Sogwirkung im Heimatland führen. Andernfalls kann es zu Fehlentwicklungen kommen und dazu, daß Gelder in falsche Kanäle fließen oder ganz versanden.Wir brauchen ein zielorientiertes Konzept. Der Herr Minister hat bereits zugesagt, daß das vorhandene Konzept erweitert wird.
— Nein, daß es erweitert, daß es den Gegebenheiten inzwischen angepaßt wird.
Die Entwicklung von Lebensperspektiven in den Heimatländern muß dabei den entscheidenden Ansatzpunkt für eine langfristige Lösung bilden.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 6a: Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der Dritten Welt, Drucksachen 12/1356 und 12/4098. Der Ausschuß empfiehlt die Annahme des Antrags in der Ausschußfassung. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Mehrheit der Koalition angenommen.Ich komme nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 6 b: Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Entschließung des Europäischen Parlaments zur Strukturanpassung in den Entwicklungsländern, Drucksachen 12/2786 und 12/4618.Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. vor, und zwar auf Drucksache 12/5232. Ich lasse zunächst über die Änderungsanträge abstimmen. Wer stimmt diesen Änderungsanträgen zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Keine. Dann sind die Änderungsanträge mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung in der jetzt geänderten Fassung abstimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?
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14254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg— Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung mit der gleichen Mehrheit angenommen.Ich komme nunmehr zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 6 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker, Drucksachen 12/3824 und 12/4786. Der Ausschuß empfiehlt Ihnen, diesen Antrag abzulehnen. Wer dieser Empfehlung folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Zwei Enthaltungen aus der Unionsfraktion. Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 6 d bis 6f und zum Zusatzpunkt 6. Die Vorlagen auf den Drucksachen 12/4553, 12/4662, 12/4350 und 12/5229 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu Änderungsvorschläge? Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen vom 12. Juni 1992 über Klimaänderungen— Drucksache 12/4489 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/5093 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold
Monika GanseforthKlaus Beckmannbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/5107 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Georg Wagner Michael von SchmudeDr. Sigrid Hothb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 5. Juni 1992 über die biologische Vielfalt— Drucksache 12/4473 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/5112 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Ulrike MehlGerhart Rudolf Baum Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Kübler, Monika Ganseforth, Dr. Liesel Hartenstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFollow-Up der UNCED-Konferenz Umwelt und Entwicklung— Drucksachen 12/3739, 12/5092 — Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Klaus KüblerGerhart Rudolf Baumm) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Monika Ganseforth, Dr. Liesel Hartenstein, Dr. Klaus Kübler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Monika Ganseforth, Dr. Liesel Hartenstein, Dr. Klaus Kübler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDUmsetzung der Empfehlung der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" durch die Bundesregierung— Drucksachen 12/4527, 12/5094 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold
Monika GanseforthGerhart Rudolf BaumDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. So kann ich dies als beschlossen feststellen.Ich erteile der Frau Abgeordneten Trudi Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Rahmen dieser Debatte zur Klimakonvention und zur Konvention über die biologische Vielfalt werde ich mich auf die Themen Landwirtschaft und Wälder beschränken.Klima und Landwirtschaft stehen in vielfacher wechselseitiger Beziehung zueinander. Landwirtschaft beeinflußt nicht nur unser Klima. Es sind vor allem die Landwirtschaft und die Wälder, die unmittelbar und direkt von den Auswirkungen einer drohenden Klimaänderung betroffen sein werden. Die Landwirtschaft ist der volkswirtschaftliche Sektor, der am deutlichsten und intensivsten von Klima, Witterung und Wetter abhängig ist. Somit treffen sie die prognostizierten Klimaänderungen am empfindlichsten. Man denke hier nur an die Auswirkungen der Dürre in Nord- und Ostdeutschland.Die weltweite Klimaänderung geht nach Aussage der weit überwiegenden Zahl der Wissenschaftler mit der Zunahme der Dürren, der Stürme und anderer extremer Wetterereignisse einher, die die Sicherheit der Welternährung zunehmend gefährden werden.
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Truth Schmidt
Neben den durch die Klimaänderung drohenden Gefahren wird die Landwirtschaft auch direkt durch die Spurengaszunahme, also durch die erhöhte Kohlendioxidkonzentration, die erhöhte UV-B-Strahlung und weitere Luftschadstoffe beeinträchtigt. Landwirtschaftliche Aktivitäten bedingen aber auch in nicht zu vernachlässigender Weise Schadstoffemissionen. N20, Methan und auch CO2 tragen zur Klimaproblematik bei.Die Landwirtschaft muß deshalb ebenso wie alle and eren Verursacherbereiche die Emissionen der Treibhausgase reduzieren, damit die Klimaänderung gar nicht erst die katastrophalen prognostizierten Ausmaße erreicht. Gerade in den Industrieländern muß der enorme Ressourcenverbrauch verringert werden, Kreisläufe müssen wieder geschlossen, Energie mull effizienter eingesetzt werden, und wenn dies nicht ausreicht, muß verzichtet werden. Dies gilt für die industrielle Produktion, den Konsum, den Energieverbrauch und die Mobilität genauso wie für die landwirtschaftliche Produktion.
Im Hinblick auf ihre Ernährung lebt die Weltbevölkerung derzeit von der Hand in den Mund. Selbst wenn sie insgesamt noch ernährt werden könnte, scheitert dies an dem Problem der Verteilung zwischen Arm und Reich. Bis zum Jahr 2025 wird die Bevölkerung von jetzt 5 Milliarden auf 8,5 Milliarden wachsen.In Anbetracht der enormen Überschüsse der EGLandwirtschaft und der notwendigen Marktordnungskosten gilt die Forderung nach einer Reduzierung der Produktionsintensität insbesondere für die Landwirtschaft in unseren Breiten. Eine Agrarreform, die zu einer deutlichen Extensivierung der Überschußlandwirtschaft führt, könnte mehrere Probleme gleichzeitig lösen. Die Umweltbelastungen aus dem Landwirtschaftssektor würden deutlich reduziert, was zugleich die Gefahr einer Klimaänderung nicht abwenden, aber doch verringern würde. Die teuer subventionierten Überschüsse könnten abgebaut, der Preisdruck auf dem Weltmarkt könnte reduziert werden.Ein weiteres wichtiges Betätigungsfeld der Landwirtschaft liegt im Energiebereich. Zur Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit der nachwachsenden Rohstoffe und Energieträger bzw. allgemein der regenerativen Energiequellen ist eine europaweite kombinierte CO2-Energiesteuer baldmöglichst einzuführen, um damit alle nicht erneuerbaren Energien zu verteuern. Hierzu ist der Aufbau einer dezentralen Energieversorgung des ländlichen Raumes durch kleine Blockheizkraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung notwendig. Biogene Abfälle wie Biogas aus Wirtschaftsdüngern, Stroh, Restholz usw. aus der Land- und Forstwirtschaft können sinnvoll zur Energieerzeugung genutzt werden,Das globale Leitziel muß eine dauerhafte Landwirtschaft sein, die jeweils regional die Selbstversorgung sicherstellt und in einer Kreislaufwirtschaft ressourcenschonend und umweltverträglich wirtschaftet. Die drohende Klimaänderung stellt neben allen Umweltbelastungen der Landwirtschaft ein weiteres, nun aber globales Problem dar, das eine Reform der Landbewirtschaftung zwingend notwendig macht.Der Wald als sehr komplexes und für die Menschheit überlebensnotwendiges terrestrisches Ökosystem ist ebenfalls unmittelbar von Umweltverschmutzung und Klimaveränderung betroffen und bedroht. Er dient als Schutz von Boden und Wasser, speichert Kohlenstoff und bewahrt die Artenvielfalt. Wälder stellen sehr spezifische Ansprüche an klimatische Bedingungen. Ihre Anfälligkeit gegenüber Schadstoffen erhöht sich bei veränderten Lebensbedingungen. Die Anpassungszeit von Bäumen als sehr langlebigen Pflanzen beträgt mehrere Jahrzehnte.Alle Maßnahmen zum Schutz der Wälder müssen also darauf abzielen, die prognostizierten Klimaveränderungen zu verlangsamen bzw. einzudämmen. Die Reduktion klimarelevanter Spurengase, die Verminderung aller Luftschadstoffe, die Förderung der nachhaltigen Bewirtschaftung von Waldgebieten besonders in Gebieten des Regenwaldes sowie die Wiederaufforstung brachliegender Flächen zur Kohlenstoff-Fixierung gehören zu den dringenden Aufgaben der Zukunft.Einen Beitrag zur Erfüllung dieser Anforderungen leistet die Bundesregierung durch nationale und internationale Maßnahmen, wie z. B. durch die Unterzeichnung der Klima- und Artenschutzkonvention, durch Reduktionsprogramme für Klimagase und Wiederaufforstungsprogramme. Die Menschheit muß erkennen, daß ein Wald ein sehr kostbares Gut ist, das unersetzliche Dienste für Mensch und Umwelt leistet, anderereits aber durch den Menschen und die durch ihn verursachten Umweltbelastungen existentiell gefährdet ist.
Frau Kollegin Schmidt, ich versuche immer, Ihnen Signale zu gehen; aber ich habe den Eindruck, das beeindruckt Sie relativ wenig
Die eine Minute habe ich noch. Dafür spricht der Kollege Dr. Lippold schneller.
Es wird ein zunehmendes Umdenken in unserer Gesellschaft notwendig. Die immer komplexer werdenden Probleme versetzen den Menschen in die Situation, daß er nur noch reagieren und reparieren kann. Er läuft einer dramatischen Entwicklung mehr oder weniger unwissend hinterher und bekämpft meist nur die Symptome.
Wir müssen aber die Ursachen unserer Probleme bekämpfen und den Verursachern, also uns selbst, Einhalt gebieten. Dies gilt nicht zuletzt für die Landwirtschaft, die bereits in einer tiefen Krise steckt und durch die Unwägbarkeiten der drohenden Klimaänderung empfindlich getroffen wird.
Ich danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Monika Ganseforth.
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14256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Schmidt, ich hätte es schön gefunden, wenn das, was Sie soeben gesagt haben, heute nachmittag der Landwirtschaftsminister Borchert gehört hätte.
Der weiß das nämlich alles noch gar nicht, was Sie über die Landwirtschaft als Täter und auch als Opfer der möglichen Klimaänderung gesagt haben. Also da muß noch einmal der Draht kürzer geschlossen werden.
Vor über fünf Jahren ist die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" eingesetzt worden. Sie hat auftragsgemäß Maßnahmen und Empfehlungen erarbeitet, die die Atmosphäre vor weiterer Störung schützen sollten. Ozonschichtschwund, Klimaveränderungen und die Abholzung der Regenwälder standen im Mittelpunkt der fünfjährigen Arbeit. Heute debattieren wir auch über die Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission durch die Bundesregierung. Das ist ein doch ziemlich trauriges Kapitel.Wir werden auch heute darüber sprechen, daß vor einem Jahr die Konferenz „Umwelt und Entwicklung" in Rio stattgefunden hat, die einen etwas breiteren Ansatz hatte, nämlich das Artensterben als wichtiges Thema, die Ausdehnung der Wüste, die weltweiten Trinkwasserprobleme, die zunehmende Verelendung und Unterentwicklung der Länder des Südens und die Bevölkerungsentwicklung. Diese Themen sind inzwischen stärker ins Blickfeld geraten. Wir haben heute die Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und zu sehen, was an Maßnahmen eingeleitet wurde und ob das ausreichend ist.Ich habe soeben schon angedeutet: Die Bilanz ist vernichtend. Die Bundesregierung hat die Umweltpolitik — so kann man es sagen — an die Wand gefahren. Umweltminister Töpfer hat sich inzwischen vom Ankündigungsminister zum notorischen Schönredner wider besseres Wissen entwickelt. Jeden Mißerfolg hat er bis zur Selbstverleugnung als Erfolg verkauft. Beim Dualen System erleben wir das derzeit wieder.
Inzwischen nimmt er es auch mit der Wahrheit nicht mehr so genau. Als Beispiel nehme ich seine Aussage in der Mai-Debatte hier im Bundestag über die verkehrsbedingten Stickoxidemissonen, die zurückgegangen sein sollten, wofür er aber bisher den Nachweis schuldig geblieben ist.In der letzten Sitzung der Enquete-Kommission im Juni hat er auf meine Frage in bezug auf CO2 gesagt, daß das CO2-Reduktionsziel von 25 bis 30 % bis zum Jahr 2005, bezogen auf 1987, für die gesamte Bundesrepublik gelte. Dabei ist noch im Kabinettsbeschluß vom 7. November 1990 ausdrücklich davon die Rede gewesen, daß die mindestens 25 %ige CO2-Reduktion nur für die alten Bundesländer gelte und daß es für die neuen Länder — wörtlich — um eine „deutlich höhere prozentuale Minderung" gehe. Daß das auf einmal nicht mehr getrennt gerechnet wird, sondern zusammengerechnet wird, obwohl wir wissen, daß die Emissionen in den neuen Ländern durch den Zusammenbruch der Wirtschaft enorm zurückgegangen sind, nicht aber durch eine Klimaschutzpolitik, ist eine Vernebelung, die wir uns eigentlich nicht gefallen lassen sollten.
Schließlich hat der Umweltminister uns auf unsere Frage, was zum Klimaschutz gemacht worden ist, einen Katalog mit 30 Maßnahmen vorgelegt. Das ist nun geradezu ein Witz. Ein Drittel der Maßnahmen sind vom Bundestag beschlossen worden, bevor die Reduktionsziele festgelegt wurden. Das zweite Drittel sind die Maßnahmen, über die wir nun schon Monate und Jahre reden, die aber nicht auf den Weg kommen: z. B. die Wärmenutzungsverordnung, eine CO2-Energiesteuer oder Flottenverbrauchsregelungen. Das dritte Drittel sind Maßnahmen, bei denen man sich fragt, was sie mit der CO2-Reduzierung zu tun haben: z. B. die Vignette, die TA Siedlungsabfall und die Verpackungsverordnung. So kann man das nun nicht machen.
Das ist nun wirklich eine Schönrednerei, über die wir langsam hinausgekommen sein sollten.In der Liste fehlen allerdings die Maßnahmen, die inzwischen eingestellt worden sind, die aber dem Klimaschutz und der Energieeinsparung galten: z. B. die Möglichkeit der Absetzung von Kosten für Energiesparmaßnahmen bei der Einkommensteuer. Das ist ausgelaufen. Solche Maßnahmen stehen natürlich nicht in diesem illustren Katalog.Der Umweltminister stellt für meine Begriffe die personifizierte „Als-ob-Politik" dar, die nicht nur unverantwortlich ist, sondern die die Bürgerinnen und Bürger inzwischen übersatt haben. Das kann ich Ihnen sagen. Wir haben diese Politik im übrigen auch satt.
Nun lassen Sie mich noch etwas über die Arbeit in der Enquete-Kommission sagen. Dort sieht es nicht viel besser aus. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen nicht mehr die Überlegungen, wie wir die großen Probleme der Klimaverschiebungen in den Griff bekommen können, sondern in der Enquete-Kommission tummeln sich Interessengruppen und Interessenverbände. Die Arbeit ist zum Schwarzer-Peter-Spiel degeneriert. Jede Interessengruppe versucht, ungeschoren davonzukommen oder Zeit zu gewinnen.
— Sie, Herr Lippold.
Die Überlebensfragen, vor denen wir stehen, sind unter dem Gewusel kleinlicher Besitzstandsdiskussio-
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Monika Ganseforthnen in Vergessenheit geraten. Gerade heute haben wir dies mit dem Verkehrsbericht wieder erlebt. Da wird getrickst. Da wird alles mögliche versucht, nicht allen Mitgliedern der Enquete-Kommission einen fairen Zugang zu diesen Diskussionen zu gewährleisten.Die notwendige Kooperation — das Geheimnis des Erfolges von Enquete-Kommissionen ist ein Diskurs zwischen Politik und Wissenschaft sowie zwischen den verschiedenen politischen Parteien —, diese notwendige übergreifende Diskussion wird durch diese Art der „Zusammenarbeit" — denn das ist keine Zusammenarbeit — zerstört. Das werfe ich Ihnen — ganz besonders Herrn Lippold — vor. Sie haben durch Ihren Schlingerkurs, durch die Halbherzigkeit und dadurch, daß Sie Lobbyisten viel zuviel Raum einräumen, die Umweltpolitik in der Enquete-Kommission zum Stillstand gebracht.
Das heißt nicht, daß Vertreter bestimmter Interessengruppen nicht zu Wort kommen sollen und gehört werden dürfen. Das ist selbstverständlich. Aber entscheiden müssen wir am Ende, und zwar in Verantwortung für alle. Dafür sind wir gewählt. Dabei können wir es nicht allen recht machen. Wenn man eine Umstrukturierung beabsichtigt — wie wir dies tun —, dann kann man es nicht allen recht machen, sondern dann muß man auch an der einen oder anderen Stelle jemandem weh tun. Wenn man nichts tut — das sehen wir im Augenblick bei der Automobilindustrie —, dann geht das auch nicht ohne Probleme. Die Automobilindustrie leidet nicht daran, daß zuviel getan worden ist, sondern sie leidet, weil die Rahmenbedingungen von der Politik überhaupt nicht gesetzt wurden.
Lassen Sie mich aus einem Brief zitieren, den ein Wissenschaftler der Enquete-Kommission vor fast einem Jahr geschrieben hat. Das war Professor Graßl, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Er schrieb:... der Nimbus unserer Enquete-Kommission scheint gefährdet, weil wir uns in der Produktion von Papier erschöpfen.
Ich spreche damit nicht gegen unsere Berichte, sondern eher gegen die Fülle der Studien und Anhörungen, aber vor allem beklage ich die politische Lähmung.Recht hat er, und er steht mit dieser Kritik nicht allein. Wir haben dies damals ausführlich diskutiert.
Zur Klimakonvention und zur Nachf olgekonferenz, die in Deutschland stattfinden soll, hat er gesagt:Wir müssen bis dahin ... mehr als die alte 25 bis 30 %-Leier vorweisen können. Ich schlage deshalb vor, daß wir uns bis dahin auf folgende Aufgaben konzentrieren bzw. die Beschlüsse dazu herbeiführen helfen:1. Einführung von Flottenverbrauchsregeln für Automobile.2. Verabschiedung der neuen Wärmeschutzverordnung.3. Vermeidung eines neuen Kraftwerkes durch Least-Cost-Planning in Zusammenarbeit mit einer Region und dem EVU.Ich schlage Erlangen vor. Da wäre das sehr gut möglich.Weiter schrieb er:4. Bundesweite Einspeisevergütung für elektrischen Strom zum mittleren Gestehungspreis für alle erneuerbaren Energien und die Stromüberschüsse bei der Wärmekraftkoppelung in der Industrie.Das wäre dringend nötig. Soviel ich weiß, gibt es von Brandenburg inzwischen einen entsprechenden Gesetzentwurf über den Bundesrat. Was wäre es schön, wenn wir da an der Spitze der Bewegung wären und nicht getrieben werden müßten.
— Sie wissen, daß die Energiepreise viel zu niedrig sind, wenn wir Klimaschutz betreiben wollen. Aber vielleicht wollen Sie das gar nicht mehr.
Schließlich heißt es weiter:5. Abschluß eines Vertrages mit einem Schwellenland für den Bau eines G. u. D.-Kraftwerks .. .Der entscheidende Punkt ist der sechste Punkt. Das trifft auf das zu, was Sie sagen, Herr Harries. Ich zitiere:6. Erhöhung der Energiepreise aus Umweltgründen, d. h. Internalisierung eines ersten Teils der externen Kosten ohne die ziemlich nutzlose Diskussion über die wahre Höhe des gerechten Preises.Was tun wir aber in der Enquete-Kommission? Wir diskutieren weiter darüber, was besser ist: Energiesteuer, CO2-Steuer, welche Randbedingungen, Kompensation usw.?Es liegt auf der Hand, was getan werden muß: in der Verkehrspolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Agrarpolitik und in der Entwicklungspolitik. Fangen wir endlich an!Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Marita Sehn.
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14258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor etwas mehr als einem Jahr, am 14. Juni 1992, ging die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio zu Ende. Trotz der Kritik im Vorfeld, die auch hier ganz besonders von der linken Seite kam, hat diese Konferenz nicht nur das Bewußtsein für ökologische Fragen geschärft. Rund 180 Staaten und 35 000 Delegierte nahmen an dem Umweltgipfel teil.
-- Ein ernsthafter Dialog, Herr Feige, hat über die zukünftige Entwicklung unserer Erde in Rio begonnen. Ich glaube, das bezweifeln auch Sie nicht.Die Bundesrepublik Deutschland hat so wie 150 andere Staaten sowohl die Klimakonvention als auch die Artenschutzkonvention in Rio unterzeichnet. Ich freue mich darüber, daß wir heute, also noch vor der Sommerpause, die beiden Gesetzentwürfe zur Ratifizierung der Klimakonvention und der Konvention zur Erhaltung der biologischen Vielfalt in zweiter und dritter Lesung beraten und, wie ich hoffe, gemeinsam verabschieden werden.Die erste Lesung im April hat die unterschiedlichen Standpunkte deutlich gemacht. Wer allerdings glaubte, daß auch die Diskussion im Umweltausschuß soviel Zeit in Anspruch nehmen würde, sieht sich beim Durchlesen des Protokolls enttäuscht. Im Wirtschaftsausschuß, der ebenfalls mitberaten hat, haben die Kolleginnen und Kollegen der SPD sehr zu meiner Verwunderung noch nicht einmal das Wort ergriffen. Liegt es vielleicht daran, daß die öffentliche Medienlandschaft dort nicht vertreten ist?Frau Ganseforth, Sie haben recht, wenn Sie vermuten, daß wir uns über den Verkehrsbericht in der Enquete-Kommission nicht einigen werden; aber das liegt nicht nur an uns, sondern ich glaube, das liegt auch an der anderen Seite.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben bestimmt großes Verständnis dafür, daß wir heute, wie im Umweltausschuß bereits geschehen, Ihre beiden Anträge ablehnen werden. Es kann und darf doch nicht sein, daß wir ein immer dichteres Netz von ordnungspolitischen Maßnahmen beschließen, also Ge- und Verbote, deren Einhaltung wir dann nicht einmal kontrollieren und die uns auf der anderen Seite zur Unbeweglichkeit führen.
Wir müssen hier neue Wege gehen. Wir müssen die Rahmenbedingungen in Richtung ökologische Marktwirtschaft verändern, und zwar nicht durch Kommando und Befehl, sondern durch Veränderung des Steuerrechts.
Wir haben auf unserem Bundesparteitag in Münster unsere Vorstellungen in einem Beschluß, Herr Feige, zum Ausdruck gebracht. Die F.D.P. fordert zu Recht, daß zukünftig marktwirtschaftliche Instrumente die Umweltpolitik prägen müssen.
Die Reform des Steuer- und Abgabensystems muß zugleich für Vereinfachungen und effizienteren Umweltschutz genutzt werden.
Verursachergerechte Umweltsteuern und -abgaben müssen durch steuerliche Entlastungen von Bürgern und Wirtschaft an anderer Stelle kompensiert werden. Damit bietet sich die Chance, langfristig verläßliche Anreize für umweltverträgliches und innovatives Produktions- und Wirtschaftsverhalten zu setzen.Wir alle kennen den Beschluß der Bundesregierung und auch des Parlamentes zur Reduzierung der CO2-Emissionen aus dem Jahre 1990 mittlerweile auswendig. Oft genug hat er Eingang in unsere Reden gefunden. Um 14,5 % hat sich der CO2-Ausstoß bis Ende 1992 vermindert, und ein klarer Trend zur weiteren Reduzierung ist eindeutig erkennbar, selbst wenn es in einzelnen Bereichen wie dem Verkehr aus heutiger Sicht wahrscheinlich zu keiner Reduzierung kommt.
— Sicher, Frau Ganseforth, ist es richtig, daß in den alten Bundesländern ein Anstieg um etwa 3 % zu verzeichnen ist. Aber hier muß auch deutlich gesagt werden, daß gerade in den letzten drei Jahren die Produktion in den alten Bundesländern, vor allem die energieintensive Produktion, durch die Wiedervereinigung enorm gesteigert worden ist.Die Maßnahmen, die für die neuen Bundesländer beschlossen worden sind, beginnen doch jetzt erst langsam zu greifen. Ich möchte hier einmal an den Bereich des Gebäudebestandes erinnern. Fast alle Wohnungen in den neuen Bundesländern müssen renoviert werden. Hier verweise ich auch auf das im Rahmen des Solidarpakts beschlossene 10-Milliarden-DM-Plattenbausanierungsprogramm. Dort liegt ein großes CO2-Einsparungspotential.
Ebenfalls erwähnenswert ist die starke Entwicklung weg von der Braunkohlen-Einzelfeuerung hin zur Gasheizung. Auch hier werden wir unserem — zugegebenermaßen sehr ehrgeizigen — Reduktionsziel näherkommen.Meine Frage an Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, lautet: Wie hoch hätte nach Ihren Vorstellungen jetzt, nachdem zweieinhalb Jahre seit diesem Beschluß vergangen sind, das Ergebnis eigentlich ausfallen müssen, um Sie zufriedenzustellen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14259
Marita SehnKann die jetzige Regierung überhaupt mit einem Ergebnis Ihre Zustimmung erreichen?
Gestatten Sie mir, daß ich hier viele Zweifel habe.Die Bundesregierung hat bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen, die ich heute nicht mehr alle aufzählen will. Erwähnen möchte ich hier nur die Heizungsanlagenverordnung und die Wärmeschutzverordnung. Letztere liegt dem Bundesrat vor. Hier, meine Damen und Herren, kommt es auf die Bundesländer an, wie schnell sie dieser Verordnung zustimmen. Bei konsequenter Umsetzung der neuen Wärmeschutzverordnung wird dies zu einer Einsparung von 100 Millionen Tonnen CO2-Emissionen führen. Das sind 10 % der CO2-Gesamtemissionen.Ich halte es allerdings für einen Skandal, daß zur Zeit nur etwa jeder siebente Neubau den geltenden Wärmeschutzanforderungen entspricht.
— Nein, Frau Ganseforth, heute nicht; am Rande vielleicht, aber nicht jetzt.Wir wollen also noch mehr erreichen und haben es im Augenblick noch nicht einmal geschafft, die bestehenden Anforderungen umzusetzen. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind die Länder gefordert. Dort warte ich noch auf Ihre Vorschläge, wie man neue Instrumente zur Behebung des Vollzugsdefizites entwickelt. Hier können Sie vielleicht auch einmal Ihre Kraft einsetzen.
Der Erhöhung der Mineralölsteuer, der Einführung der Lkw-Vignette und der Erhöhung der Kilometerpauschale für die Berufspendler wird die F.D.P.-Bundestagsfraktion morgen in der Fraktionssondersitzung zustimmen. Damit ist die Pkw-Vignette, die ökologisch sinnlos ist, vom Tisch.Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal wiederholen — —
— Herr Feige, hören Sie mir doch zu —, daß ich mir gerade bei der Mineralölsteuer, um eine ökologisch vernünftige Lenkungswirkung zu erzielen, eine verläßliche, vorhersehbare Stufenlösung vorstellen kann.
Die jetzige Erhöhung betrachte ich als erste Stufe, die wir brauchen, um die Bahnreform zu finanzieren.Die zweite Stufe sollte die Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer sein. Dies würde noch zwei weitere positive Effekte mit sich bringen.
Es wäre ein Schritt zur Vereinfachung des Steuerrechts, und die derzeit mit der Kfz-Steuer beschäftigten Beamten könnten an anderer Stelle eingesetzt werden.Um auch der Industrie Anreize zu geben, verbrauchsärmere Fahrzeuge zu bauen, um die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu entlasten und auch das Ziel des Umweltschutzes weiter voranzutreiben, stelle ich mir eine dritte Stufe vor. Also ökologisch vernünftig, verläßlich und kalkulierbar — damit, so meine ich, kann auch die Bevölkerung in den ländlichen Regionen leben.Die von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt vorgeschlagene Kohlefinanzierungssteuer ist ökologisch sinnvoll und ein nationaler Einstieg in die EG-weite CO2-Energiesteuer, die sich zur Zeit in einer Sackgasse befindet. Spätestens im zweiten Halbjahr 1994, wenn die Bundesrepublik Deutschland die EG-Präsidentschaft übernimmt, erwarte ich hier eine positive Wende.Die Einführung der Energiesteuer in den USA, so wie von Präsident Clinton im Frühjahr angekündigt, wird es aus heutiger Sicht nicht geben. Es wird wohl nur eine ganz geringe Erhöhung der Mineralölsteuer, wie ich höre, um noch nicht einmal zwei Pfennige pro Liter, übrigbleiben. Ich bedauere dies außerordentlich und hoffe, daß auf EG-Ebene trotzdem weiterverhandelt wird.Die Konvention zur Erhaltung der biologischen Vielfalt strebt die Erhaltung des Lebens in seiner ganzen genetischen Vielfalt an. Diese Konvention hat meiner Auffassung nach in der öffentlichen Diskussion zuwenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Beeinträchtigung oder gar der Verlust von Arten und ihren Lebensräumen bedroht auch die Lebensgrundlage des Menschen, da sie zu einer Verarmung der Natur führen, die nicht mehr rückgängig zu machen ist.An dieser Stelle möchte ich auf das Problem des Ferntourismus in unberührte Gebiete aufmerksam machen. Hier werben Veranstalter mit Reisen in bisher von Menschen unbenutzte Gebiete. Erstaunlich ist, daß oft gerade sehr umweltbewußte Menschen diese Angebote wahrnehmen. Man ist sich scheinbar dessen nicht mehr bewußt, daß mit solchen Reisen, die dann auf immer mehr Menschen einen Reiz ausüben, gerade diese noch erhaltene Natur zerstört wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer Veränderungen im Bereich der Umweltpolitik — und dies auch international — will, muß die kleinen Schritte akzeptieren, ohne die große nicht denkbar sind.
Frau Kollegin Sehn, ich möchte mich nicht dem Verdacht aussetzen, Sie bevorzugt zu behandeln, und diesen Verdacht nähre ich, wenn ich Sie noch sehr lange weiterreden lasse.
Noch einen letzten Satz. — Aber wer schimpft, weil zuwenig zu langsam geschieht, der sollte zuerst darüber nachdenken, welchen Beitrag er selber leistet.
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14260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Marita SehnIch bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. — Mit Schimpfen habe ich nicht den Präsidenten gemeint.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Prinzipiell gibt es zwei mögliche Herangehensweisen an internationale Konventionen, die man in ihrem Gehalt nicht unterstützen will: Entweder nimmt man sie ernst und verzichtet wie die USA unter George Bush bei der Klimakonvention auf deren Ratifizierung, oder man läßt sich vor der internationalen Öffentlichkeit für die Unterstützung einer Konvention bejubeln und verweist dann bei ausbleibender Umsetzung auf vermeintlich unüberwindliche Schwierigkeiten im Inland, und sei es bloß das fehlende Geld.Die Bundesregierung hat sich bei der Konvention von Rio offensichtlich für die zweite Variante entschieden. Sie schadet damit aber nicht nur der Sache, in diesem Fall dem Schutz der biologischen Vielfalt und des Klimas auf unserem Planeten, sondern unterhöhlt auch die Glaubwürdigkeit von internationalen Konventionen selbst. Denn seit einem Jahr steht die Bundesrepublik durch die Unterstützung der Klimakonvention von Rio international in der Pflicht, die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird, wie der Art. 2 des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderung besagt.Allen regierungsoffiziellen Bekundungen vor und nach Rio zum Trotz ist in der Bundesrepublik jedoch bislang nichts erfolgt, was uns der Erfüllung dieser Ziele näherbringen könnte. Im Gegenteil: In beinahe allen Politbereichen werden heute Weichenstellungen vorgenommen, die dem in Rio vereinbarten Ziel eines umwelt-, klima- und generationenverträglichen — kurz: nachhaltigen — Wirtschaftens entgegenlaufen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit wären dabei allein aus der jüngsten Zeit vor allem das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, das Kreislaufwirtschaftsgesetz, der Bundesverkehrswegeplan 1993 und die geplante Kohlefinanzierungsbzw. Effizienzsteuer zu nennen. All dies konterkariert das, was Sie sagen.
Lassen Sie mich in der kurzen Zeit, die Sie mir zur Verfügung stellen, zu den beiden heute zur Ratifizierung anstehenden Konventionen Anspruch und Wirklichkeit der Politik der Bundesregierung miteinander vergleichen. So hat sie in Rio das Übereinkommen über die biologische Vielfalt unterschrieben; doch weniger als die Hälfte der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Tiere und Pflanzen gelten heute noch als nicht gefährdet. Knapp 10 % sind bereits ausgestorben. Von insgesamt 500 Wirbeltierarten sind 31 bereits ausgerottet, 62 unmittelbar vom Aussterben bedroht, 63 stark gefährdet, 55 gefährdet und 42 potentiell gefährdet. Das gleiche Bild bietet sich bei Fischen, Kriechtieren, Lurchen, Vögeln, Pflanzen, Farnen und Pilzen.Die Menschen sind im vielfachen Sinne für diese Situation verantwortlich, nicht nur die Regierung. Als Teil der Natur haben wir ein paar Jahrtausende von der Natur gelebt, ohne größeren Schaden anzurichten. Aber in den letzten Jahrzehnten haben wir sie so in die Enge getrieben, daß sie zu ersticken droht. Hauptursache dieser Entwicklung ist die rasch fortschreitende Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen durch die Intensivierung und Industrialisierung der Land- und Forstwirtschaft, durch die ständig zunehmende Bodenversiegelung durch Industrie, Straßenbau und Zersiedlung, durch eine zunehmende Belastung von Luft, Wasser und Boden mit chemischen Schadstoffen, durch einen gnadenlosen Gewässerabbau — nur Stichworte wie Flußkanalisierung, Begradigung und Stauseen seien genannt — und nicht zuletzt auch durch einen zunehmenden zentralisierten Naturverbrauch für Tourismus, Freizeit- und Sportbedürfnisse.Diesen Raubbau müssen wir sofort stoppen und gleichzeitig darangehen, den entstandenen Schaden, wenn das denn überhaupt noch möglich ist, wiedergutzumachen. Das heißt aber, wirklich keine weitere Vernichtung bislang unberührter Biotope zuzulassen. Ich denke an den Bundesverkehrswegeplan, in dem die Zerstörung von Biotopen in einem Riesenausmaß vorgeplant wird. Dieser Schutz der Natur und Umwelt läßt sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn wir endlich zu einer Form des Wirtschaftens und des Fortschritts finden, die die Bedürfnisse der Gegenwart deckt, ohne zukünftigen Generationen die Grundlage für deren Bedürfnisbefriedigung und der Natur und Umwelt die Existenzgrundlagen zu nehmen.Auf seiten der Bundesregierung ist dazu jedoch nur verbale Bereitschaft erkennbar. Seit vielen Jahren kündigt das Bundesumweltministerium die Vorlage einer Novelle des Naturschutzgesetzes an, die jedoch wegen des hinhaltenden Widerstandes von Industrie-und Agrarlobby auf Eis liegt.
— Fragen Sie bitte Herrn Töpfer, der das bestehende Gesetz selbst kritisiert; sonst hätte er keinen Referentenentwurf im Kabinett eingebracht, mit dem einiges geändert werden soll. Er ist schließlich mit einem vorhergehenden Entwurf schon einmal auf die Schnauze geflogen.Nicht umsonst hat die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Bundestag wegen dieses Versagens des Töpfer-Ministeriums einen Gesetzentwurf vorgelegt, der wirklich dem Geist von Rio entspricht und der auch zu Beginn des kommenden Jahrtausends bestehen kann. Die Natur braucht auch im Kabinett des Kanzlers Kohl endlich eine Lobby.
Herr Töpfer selbst ist dort nie ein glaubhafter Anwalt für die Umwelt gewesen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14261
Dr. Klaus-Dieter FeigeSchönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Wir werden jetzt den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zu diesem Thema hören.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Schutz der Erdatmosphäre gehört zu den prioritären Aufgaben der Umweltpolitik der 90er Jahre. Dies zieht sich hier ja auch durch die Debatte hindurch. Wirksamer Klimaschutz bedeutet, daß die Umweltpolitik intensiv in die Energie- und Verkehrspolitik, die Bau- und Forschungspolitik, die Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Entwicklungs- und Landwirtschaftspolitik integriert werden muß.
Wenn wir an der Bewältigung übrigens keines nationalen Problems, wie es Frau Ganseforth hier stellenweise verkaufen wollte, sondern eines globalen Problems arbeiten wollen, dann sollten wir hier nicht künstlich Fronten aufbauen. Ökologische Nestbeschmutzerei in Deutschland bringt gar nichts und zweckgebundener Optimismus auch nichts.
Die Bundesregierung hat begonnen, die in Rio behandelten globalen Umweltthemen umzusetzen. Das heißt konkret zunächst einmal die Umsetzung der Agenda 21. Wir wollen hier auch konkret werden: Deutschland wird bis zum Ende des Jahres ein entsprechendes nationales Aktionsprogramm vorlegen. Das bedeutet des weiteren intensive Mitarbeit in der neu gegründeten Kommission zur nachhaltigen Entwicklung, die die Umsetung der Rio-Beschlüsse überwachen soll, die Weiterentwicklung der Wald-Grundsatzerklärung zu einer internationalen Wald-Konvention — das ist ja einer der großen Defizite von Rio gewesen —, die Ratifizierung der Klima- und Biodiversitätskonvention spätestens bis zum Jahresende 1993 und schließlich die Vorbereitung der ersten Vertragsstaatenkonferenz zur Klima-Rahmenkonvention, die Deutschland voraussichtlich Anfang 1995 ausrichten wird.Die Sitzung des Deutschen Bundestages heute ist für mich ein Anlaß, eine Zwischenbilanz über den Stand der nationalen und internationalen Arbeit zum Schutz der Erdatmosphäre zu ziehen.Die zentralen Grundlagen für einen wirksamen Klimaschutz, soweit dies deutsche Politik im weltweiten Kontext vermag, sind in einer ersten Phase im Zeitraum von 1987 bis 1992 erarbeitet worden. An zentraler Stelle — das möchte ich hier durchaus noch einmal im Gegensatz zu der Einschätzung der Kollegin Ganseforth betonen — steht hier die Arbeit der Enquete-Kommission, insbesondere mit ihrem dritten Bericht vom Oktober 1990 und durch den dazugehörigen Beschluß des Deutschen Bundestages vom 27. September 1991.Weitere Grundlagen wurden durch die Beschlüsse der Bundesregierung vom Juni und November 1990 sowie vom Dezember 1991 für ein nationales CO2-Minderungsprogramm, durch die Beschlüsse des gemeinsamen Umwelt- und Energieministerrates der Europäischen Gemeinschaft vom Oktober 1990 und Dezember 1991 gelegt. Zu nennen ist schließlich die Arbeit verschiedener Gremien wie etwa der IPCC und der INC-Klima die Aushandlung und Ratifizierung der Klima-Rahmenkonvention.Die Zwischenbilanz lautet aber auch: Wir benötigen eine zweite Phase intensivster Anstrengungen, national, EG-weit und auch weltweit, wenn wir die notwendige Trendwende hin zu einer ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung erreichen wollen. Die Arbeit der kommenden Jahre wird entscheidend dafür sein, wann die gesetzten Ziele erreicht werden. Hier sind die Verminderung der CO2-Emissionen in Deutschland, und zwar in Gesamtdeutschland, um 25 bis 30 %, bezogen auf das Jahr 1987, die Stabilisierung der CO2-Emissionen im Rahmen der EG als Ganzes bis zum Jahr 2000, bezogen auf das Jahr 1990, sowie die Konkretisierung und Umsetzung der Klima-Rahmenkonvention zu nennen. Wir haben einen Klimabericht bereits vor Inkrafttreten der Konvention erarbeitet, der im August dieses Jahres dem INC-Klima vorgelegt wird. Damit wollen wir international ein Beispiel geben.
Die Vorbereitungen zur Umsetzung der Biodiversitätskonvention sind im Gange, insbesondere im Hinblick auf die erste Vertragsstaatenkonferenz. Es ist besonders erfreulich, daß diese für das Leben der Erde wichtige Konvention so große Resonanz gefunden hat. Kollege Feige, auch das gehört zu der Bilanz von Rio. Natürlich haben wir einen dramatischen Rückgang biologischer Vielfalt auf dieser Erde zu verzeichnen. Ich persönlich hoffe, daß man die diesbezüglichen Beschlüsse in Rio nicht erst um fünf nach zwölf verabschiedet hat. Aber die Unterzeichnung durch 161 Staten, auch den USA — das soll man hier mal sagen dürfen —, und die Ratifizierung durch jetzt bereits 18 Staaten zeigt doch, daß die Weltgemeinschaft dieses Problem richtig erkannt hat und hier hoffentlich auch zum Handeln fähig sein wird.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß der Zwischenbilanz die bisherige Entwicklung der CO2-Emissionen von 1987 bis Ende 1992 nennen. Sie wissen, daß die Grundlagen unserer Datenaussagen die des Umweltbundesamtes sind. Ich will sie hier nicht noch einmal wiederholen. Ich will aber sagen, meine Damen und Herren, daß natürlich die Reduzierung der Schadstoff- und der CO2-Emissionen in den neuen Bundesländern nicht isoliert zu betrachten ist, Frau Kollegin Ganseforth. Wenn die alte Bundesrepublik auch gesagt hat, wir wollen 1987 als Grundlage nehmen und die damaligen Emissionen der ehemaligen DDR einbeziehen, so ist das doch schon ein wesentlicher Fortschritt, der erreicht wurde. Wir haben — ich sage es noch einmal — ein globales Problem zu bewältigen. Und da interessiert die Erdatmosphäre nicht, ob die CO2-Minderung in Ostdeutschland, in Westdeutschland oder sonstwo stattgefunden hat.
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14262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram WieczorekDieser Prozeß, der in den neuen Bundesländern auch durch die Schließung völlig überalterter und damit auch menschenunwürdiger Arbeitsstätten stattgefunden hat, sollte bitteschön nicht in das Gegenteil verkehrt werden und den Bürgern in den neuen Bundesländern vielleicht noch das Signal geben, daß sie da etwas Falsches unterstützt haben.Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite — das darf man auch nicht vergessen — gehört natürlich dazu — wir haben es von mehreren Rednern gehört —, daß in den alten Bundesländern die CO2Emissionen um etwa 3 % zugenommen haben. Was bedeutet das für die Umweltpolitik? Das bedeutet: Die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch muß weiter fortgesetzt werden. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen.
Dies gilt auch und gerade für den Sektor Verkehr. Die Entkoppelung von Wachstum und Energieverbrauch muß man auf diesen Bereich übertragen.Meine Damen und Herren, die Umsetzung des im CO2-Minderungsprogramm beschlossenen Maßnahmenbündels muß nun so optimiert werden, daß in den neuen Ländern das Emissionsniveau bei dem dort angestrebten hohen Wirtschaftswachstum niedrig gehalten werden kann und in den alten Ländern die möglichen CO2-Minderungspotentiale ausgeschöpft werden.Wenn wir uns die Energieplanung in den neuen Bundesländern anschauen, werden dort nicht mehr Kraftwerke mit Wirkungsgraden von lediglich 30 bis 35 % entstehen. Hier werden vielmehr Kraftwerke gebaut, die die Forderungen erfüllen, die wir als Umweltpolitiker haben, nämlich volle Ausschöpfung des Energiepotentials und volle Nutzung der Energie, die bei der Energieumwandlung entsteht.Dazu gehört natürlich auch die Kraft-Wärme-Koppelung, die Nutzung der Fernwärme. Wir haben eine andere, günstige Situation in den neuen Bundesländern, und wir müssen diese günstige Situation auch nutzen. Das heißt, die Kraftwerke müssen dorthin, wo wir dann auch den Dampf und die Wärme nutzen können, wo die Neubausiedlungen stehen, wo neue Wohngebiete entstehen, und nicht weit entfernt. Das sind eben die Erfahrungen, die man hier gemacht hat. Kraftwerke liegen von den Städten zu weit entfernt und arbeiten mit zuviel Megawattleistung, so daß eine Femwärmeversorgung mit der jetzigen Konstruktion schwer erreichbar sein wird.Meine Damen und Herren, über die Umsetzung des CO2-Minderungsprogramms hat die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage berichtet. Sie wird den Bundestag auch weiterhin — das möchte ich hier noch einmal versichern — aktuell auf dem laufenden halten. Die interministerielle Arbeitsgruppe „CO2-Reduktion" wurde beauftragt, ihre Arbeiten an einem Gesamtkonzept zur CO2-Reduktion auch unter Berücksichtigung weiterer klimarelevanter Treibhausgase fortzusetzen und dem Bundeskabinett bis Herbst 1993 einen Fortschrittsbericht — nicht einen Bericht — vorzulegen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß zum nationalen Minderungsziel ergänzen. Die 25- bis 30prozentige CO2-Minderung bis zum Jahr 2005 wird immer wieder angezweifelt. Ich betone an dieser Stelle noch einanal: Es bleibt bei diesem Ziel. Das Bundeskabinett hat dieses Ziel beschlossen. Es ist Bestandteil der Koalitionsvereinbarungen, der Regierungspolitik, es entspricht den Empfehlungen der Enquete-Kommission, und es ist erneut in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion bekräftigt worden.Meine Damen und Herren, in allen Politikbereichen, die ich eingangs aufgezählt habe, müssen wir nun die zweite Etappe der Klimaschutzpolitik beginnen. Dies gilt analog auch für die anderen in Rio beschlossenen Handlungsfelder. Sie bilden einen einheitlichen Komplex, der als eine Gesamtheit betrachtet wird.Abschließend möchte ich Ihnen -- das sei mir an dieser Stelle gestattet -- für die zügige und vor allem sehr konstruktive Beratung der Gesetzentwürfe, vor allen Dingen auch in den Ausschüssen, zu den Konventionen danken.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit,
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Ulrike Mehl das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Naturschutzpolitiker müßten sich eigentlich über das Gesetz über die biologische Artenvielfalt freuen, weil nämlich sehr viel Gutes und Richtiges darin steht. Deshalb haben wir diesem Gesetzentwurf im Ausschuß auch zugestimmt.Wer aber die Realitäten kennt, der weiß, daß wir hier ganz schön Fensterreden halten. Wer weiß, wie es um den Naturschutz bestellt ist, und zwar schon bei uns, geschweige denn in den Entwicklungsländern, der weiß genau, daß insbesondere auf Bundesebene Politik gar nicht in der Lage oder auch nicht gewillt ist, das alles, was in diesem Gesetz, das wir hier beschließen wollen, steht, umzusetzen.Und wer auf die drückenden Probleme der nächsten Jahre sieht, dem ist klar, daß Naturschutz auf der politischen Prioritätenliste weiter nach hinten rutschen wird.Ich frage mich, warum in unserer Gesellschaft absolut selbstverständlich über die Nutzung der Natur diskutiert werden kann, man aber immer noch halbwegs als Spinner gilt, wenn man von kreatürlichem Leben spricht. Warum geht es nicht in unsere Köpfe, daß unser Leben und Tun verträglich in dieses Gesamtgefüge eingebettet sein muß und daß in dem Zusammenhang auch ein Eigenleben und ein Eigenrecht der Natur bestehen muß?
Dieses Nutzbarkeitsdenken findet sich leider auch in diesem Gesetz wieder. Da ist in Art. 1 unter der Überschrift „Ziele" zu lesen: Ziele sind die Erhaltung der biologischen Vielfalt. Wenn es hier einen Punkt gäbe, wäre das prima. Aber dann folgen überwiegend
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Ulrike Mehlnoch die Worte: „Nutzung", „Ressourcen", „Vorteile" und „Finanzen".Man fragt sich, ob es hier nicht tatsächlich um die Sicherung lukrativer Geschäfte geht — weltweit. Das einzige, was in diesem Zusammenhang für mich nachvollziehbar und verständlich ist, ist die Tatsache, daß sich die Entwicklungsländer nicht weiterhin von den westlichen reichen Ländern ausbeuten lassen wollen.Würde man nur den Gesetzestext lesen und vergäße die Naturschutzwirklichkeit, dann könnte dieses Gesetz ein wirklicher Fortschritt sein. Die Wirklichkeit sieht aber völlig anders aus. Allein der illegale Artenhandel wird auf rund 5 Milliarden DM Gewinne geschätzt. Wenn man sich den Entwurf der anstehenden EG-Artenschutzverordnung ansieht, dann ist klar, daß die Reise im Naturschutz nur auf dem Weg weitergeht, auf dem Nutzen zu schlagen ist.Übrigens sind wir uns auf internationaler Ebene mit den Regierungsparteien und der Regierung in vielen Punkten sehr häufig einig. In einem, für mich aber sehr wichtigen Punkt leider nicht, nämlich dem, daß die Erhaltung der Natur eine Überlebensfrage für die Menschen ist und nicht die eines wachsenden Bruttosozialproduktes.
Während wir im Weltvergleich — nicht im Vergleich unserer eigenen gesellschaftlichen Ebene, sondern im Weltvergleich — aus dem Vollen schöpfen, fordern wir von den Entwicklungsländern, die voller hungernder Menschen sind, sie sollen doch ihren Urwald stehen lassen, weil der für die Erhaltung des Weltklimas und damit für unseren Wohlstand wichtig ist. Oder wenn ich mir Länder wie Rumänien ansehe, dann kann man sich eigentlich nur schämen, wenn wir sagen: Naturschutz können wir uns im Moment nicht leisten. Wer, bitte, wenn nicht wir, soll mit dem Schützen von Natur und Umwelt anfangen?
Wer, wenn nicht wir, muß diesen Ländern helfen, ihre Umwelt und die Natur zu erhalten, damit die Menschen dort in ihrer Heimat eine Chance auf Zukunft haben?Ich sage das sehr wohl an alle politischen Kräfte, weil mir sehr bewußt ist, daß diese Überlegung in allen Parteien vorkommt, in den einen allerdings mehr und in den anderen weniger.Wenn wir international glaubwürdig sein wollen, dann müßten wir bei uns anfangen, und zwar mit der Umsetzung, nicht mit dem Produzieren weiterer Papierberge.Wenn wir begreifen können, daß wir den Urwald zum Leben brauchen, dann müßten wir auch begreifen können, daß bei uns der Wald in immer schnellerem Tempo stirbt. Es gibt Fachleute, die sagen, daß wir in 15 bis 20 Jahren in Deutschland keinen Wald mehr haben werden. Wenn das so ist, dann müßten wir begreifen, daß insgesamt, aber auch in den Naturschutzgebieten, heimische Tier- und Pflanzenarten ungebremst auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Dann müßten wir endlich zur Kenntnis nehmen, daß wir über die ökologischen Zusammenhänge in unserer Natur sehr, sehr wenig wissen. Deshalb wäre es auch so wichtig, daß der Art. 8 dieses Gesetzes tatsächlich umgesetzt würde; das sind nämlich die Maßnahmen, die wir hier bei uns treffen müssen.Wenn auch die Länder die Hauptzuständigkeit für den Naturschutz haben, so trägt trotzdem auch der Bund erhebliche Verantwortung für diesen Bereich, und nicht nur im reinen Naturschutzbereich, sondern in allen anderen Politikbereichen auch.Ich will die Gelegenheit nicht auslassen, den für den Naturschutz ganz besonders problematischen Punkt zu nennen: nämlich die Landwirtschaft. Jeder kennt diesen Konflikt, und trotzdem wird an der Landwirtschaftsklausel im Bundesnaturschutzgesetz festgehalten, von der Horst Stern sagt, dies sei die größte Gesetzeslüge, die er kenne. Dies ist sicher keine leicht zu lösende Frage, das ist mir klar, aber wenn wir schon an diesem Problem scheitern, dann frage ich mich, wie Sie die in diesem Gesetz beschriebenen Maßnahmen realisieren wollen. Aber ich kann Sie beruhigen: Ich werde Sie danach fragen.
Ich weiß, es macht wenig Sinn, daß dies alles im trauten, vertrauten und bekannten Kreise hier im Plenum gesagt wird. Aber ich bitte Sie, das vielleicht auch einmal an Herrn Kohl weiterzutragen, so daß selbiger, wenn er vorhat, das Wort „Schöpfung" in den Mund zu nehmen,
vorher einmal die Luft anhält. Das ist einmal ein Beitrag zur CO2-Minderung, aber auch eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, was Schöpfung eigentlich ist.Vielen Dank.
Herr Kollege Klaus Harries, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die UNCED-Konferenz in Rio vor einem Jahr hat weltweit, insbesondere in der Dritten Welt, immense Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Daß die Konferenz in Rio vor einem Jahr nicht nur Sprechblasen erzeugt hat, sondern konkrete Ergebnisse erarbeitet hat, ist — ich glaube, darüber sind wir uns einig — insbesondere auf die Aktivität und den Einsatz der Bundesregierung, des Kanzlers und des Bundesumweltministers, in Rio zurückzuführen.
Daß konkrete Ergebnisse vorliegen, können wir auch daran ermessen, daß wir als Folge von Rio in wenigen Minuten voraussichtlich einstimmig zwei wichtige Gesetze zum Klimaschutz und zur Artenvielfalt verabschieden werden. Die Bundesrepublik Deutschland war in Rio das einzige Land, das dort vor der Weltöffentlichkeit erklärt hat, bis zum Jahr 2005 die schäd-
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Klaus Harrieslichen und gefahrbringenden CO2-Emissionen um 25 bis 30 % zu minimieren.Inzwischen sind — das ist überhaupt nicht zu leugnen — in vielen Bereichen der Welt Resignation, Frustration, man kann es freundlicher ausdrücken: auch Nüchternheit eingetreten. Wenn ich daran denke, daß Hunger und Armut in der Welt andauern, auch zugenommen haben, daß die Flüchtlingsbewegungen nicht weniger geworden sind, so sind das zwei Beweise, daß dringender Handlungsbedarf besteht. Tropenwälder werden weiterhin abgeholzt, das wissen wir. Die Industrieländer, die in erster Linie Verantwortung tragen, als Vorbild voranzugehen, gehen mit einem sehr verhaltenen Tempo an die Aufgaben heran, die in Rio diskutiert worden sind. Die USA allerdings, die in Rio nicht in allen Punkten, aber weitgehend noch im Abseits standen, haben jetzt zumindest die Ziele von Rio akzeptiert, wenn auch die Umsetzung — Frau Sehn, Sie haben darauf mit Recht hingewiesen — nur sehr langsam erfolgt. Die GATTVerhandlungen stagnieren. Dies alles sind Punkte, die bestätigen — was überhaupt nicht zu leugnen ist —, daß Nüchternheit und Resignation Platz gegriffen haben.Ein weiterer wichtiger Punkt: Es gibt für die Industrieländer seit Jahren die moralische Verpflichtung — sie wurde in Rio nochmals bestätigt und unterstrichen —, 0,7 % des jährlichen Haushaltsplans für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Auch wir in der Bundesrepublik können die diesem Wert entsprechenden Summen nicht aufbringen, wobei wir uns aber sehr schnell darauf verständigen müßten und sollten, daß es dafür Gründe gibt.
Wenn wir anerkennen — das sollten wir tun, denn auch das gehört zu dem Thema Umwelt und Entwicklung —, daß wir Milliarden in die GUS-Länder gegeben haben, daß wir viele Hunderte von Millionen in die östlichen Länder gegeben haben, so ist auch das eine Entwicklungshilfe, die für die Tätigkeit und die Politik der Bundesrepublik Deutschland spricht.
Auf einen Punkt, der die Politik von Rio zur Zeit etwas erschwert, möchte ich nochmals hinweisen. Es gibt eine vorherrschende wissenschaftliche Meinung, von deren Richtigkeit wir hier, insbesondere als Angehörige der Enquete-Kommission, überzeugt sind. Es gibt aber durchaus renommierte Wissenschaftler in der Welt, die sagen: „Freunde, das ist alles gar nicht so; nun wartet einmal ab, da ist vieles noch nicht nachgewiesen. " Es gibt genug Repräsentanten, Herr Feige, der Wirtschaft und anderer Verbände, die sagen: „Hört, hört, nun einmal langsam!" War also alles vergebens? frage ich an dieser Stelle. Dann sage ich: Nein. Man muß aber ehrlich anerkennen, daß wir seit Jahr und Tag zumindest auf der Ebene der Industrieländer weltweit in einer Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit und mit Nullwachstum leben. Von daher ist es zumindest für uns auch einsehbar, daß die Industrieländer versuchen, ihre Wirtschaften, ihre Industriebetriebe, die dümpeln, nun wieder auf Fahrt zu bringen.Ich bin der Meinung: Wichtig ist — das bedarf hier herausgestellt zu werden —, Rio bleibt mit seinen Verträgen, seinen Zielen international auf der Tagesordnung. Die Follow-up-Konferenz in zwei Jahren wird folgen und wird bestätigen, daß es auf der Tagesordnung ist. Wir halten an unserem Ziel der Reduzierung der CO2-Emission um 25 bis 30 % bis zum Jahr 2005 fest. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Bei allem Einsatz, den wir brauchen, sollten wir das sozialverträglich und auch so umsetzen, daß es in volkswirtschaftliche Rahmendaten hineinpaßt. Die Bundesregierung hat von der langen Liste der Maßnahmen, die noch nicht umgesetzt sind, einige wichtige ergriffen; sie sind hier genannt worden. Das weitere wird folgen. Ich habe Vertrauen in unsere Arbeit und finde es nicht gut, wenn man die EnqueteKommission hier in großer Intensität abqualifiziert.Ich meine, meine Damen und Herren, wir sind absolut auf dem richtigen Weg. Ich sage aber auch: Das meiste ist noch zu tun. Wir haben die Chance, daß wir es auch vollenden.Ich bedanke mich.
Meine sehr verehr- ten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Klaus Kübler das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Zielrichtung ist heute nicht die Regierung oder die Koalitionsfraktionen, sondern die Wirtschaft. Ich sage zu Beginn deshalb nur einen Satz, in erster Linie an die Koalitionsfraktionen gerichtet: Die voraussehbare Ablehnung unseres Rio-Follow-up-Antrags ist nach den Reden, die hier gehalten worden sind, wirklich schwer zu verstehen. Genauso schwer — ich sage es ganz normal — ist nach den Worten, die hier gefallen sind, die Ablehnung des Entschließungsantrags zur Großen Anfrage der SPD zu verstehen.
Mein Hauptaugenmerk ist heute aber auf die Wirtschaft gerichtet. Ich möchte auch die Verantwortung der Wirtschaft für den Rio-Follow-up-Prozeß herausstellen. In Richtung der Wirtschaft ist zu Beginn noch einmal zu sagen, daß die Ergebnisse der internationalen Klimaforschung und die grundlegenden Erklärungen zum anthropogenen Treibhauseffekt wirklich außer Zweifel sind. Es gibt deshalb auch keinen wissenschaftlichen und objektiven Grund für die Wirtschaft für ein Zuwarten. Außer Zweifel steht auch — auch dies in erster Linie an die Wirtschaft gerichtet —, daß die Kosten bei einem weiteren Aufschieben von Maßnahmen gegen den Klimawandel überproportional ansteigen werden. Das heißt, wenn wir heute nicht handeln, wird uns dies morgen teuer zu stehen kommen. Wir können uns deshalb im Umwelt-und Klimabereich in der Tat schon rein finanziell und wirtschaftlich kein Moratorium, geschweige denn ein Rollback leisten. Es besteht — auch wieder an die Wirtschaft gerichtet — zumindest ein politischer Konsens darüber, daß die Industrieländer — unter ihnen die Bundesrepublik Deutschland und damit auch die
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Dr. Klaus Küblerdeutsche Wirtschaft an vorderer Stelle — auf Grund ihres hohen Energieverbrauchs in besonderer Weise verpflichtet sind, bei Maßnahmen zum Klimaschutz eine Vorreiterrolle zu übernehmen.Deshalb spielt die Wirtschaft in dem Follow-up-Prozeß von Rio eine ganz zentrale Rolle. Deshalb sind — dies ist das erneute Angebot zur Zusammenarbeit — Industrie und vor allen Dingen die Energiewirtschaft potentielle zwangsläufige Partner für eine konstruktive zukunftsweisende Umwelt- und Klimapolitik.Wichtige Teile der Wirtschaft haben allerdings derzeit Positionen eingenommen, die ein sinnvolles Follow-up von Rio erschweren, wenn nicht schlicht-weg unmöglich machen. Sie schaden jedoch nicht nur sich selbst, sondern uns allen, wenn sie konsequenten Umwelt- und Klimaschutz lediglich als eine Bedrohung ihrer betriebswirtschaftlichen Interessen empfinden und ablehnen, anstatt die unternehmerischen Chancen zu sehen und zu ergreifen. Langfristigkeit ist in der Tat gefragt. Unsere bisherige Form des Wirtschaftens hat uns an einen kritischen Punkt geführt. Es wäre ein fataler Fehler, wenn in der derzeitigen Rezession Umwelt- und Klimaschutz zurückgestellt würden.Der Bundeskanzler hat erst kürzlich bei der Entgegennahme des ersten Jahresgutachtens des wissenschaftlichen Beirats globale Umweltveränderungen eingeräumt. Es wäre kurzsichtig und ein verhängnisvoller Fehler, wenn Deutschland seine Bemühungen um den globalen Umweltschutz angesichts innenpolitischer Probleme vernachlässigen würde. Wir kommen immer wieder zu demselben Punkt: Unheimlich gute Worte, und was folgt daraus? Die Ablehnung unseres Follow-up-Antrages — Herr Lippold, ich sage das wirklich ganz bewußt in Ihre Richtung gerichtet — und die Ablehnung des Entschließungsantrags zur Großen Anfrage der SPD.Die momentane Standortdiskussion leidet unter der Fehleinschätzung, daß Umweltschutz der Wettbewerbsfähigkeit schade und den Standort Deutschland gefährde. Das Gegenteil trifft zu: Nur ein ernsthafter, substantieller Umweltschutz kann unserer Wirtschaft mittel- und langfristige Perspektiven bieten.
Ein anschauliches Beispiel, das gegen die Wirtschaft durchgeboxt werden mußte, ist die Großfeuerungsanlagenverordnung, die 22 Milliarden DM Investitionen herauslockte. Umwelt- und Energiespartechnologien sind investitionsintensiv und schaffen Arbeitsplätze. Sie erschließen wichtige Zukunftsmärkte. Man muß den Begriff des Umweltschutzes auch von der Wirtschaft viel positiver nehmen. Wenn ich ein energiesparendes Auto konstruiere, dann schaffe ich mir neue Weltmärkte, nicht wenn ich noch etwas mehr Chrom oder eine höhere PS-Zahl einbaue.
Umwelt und Klimaschutz sind daher auch Gebote der wirtschaftlichen Vernunft.Der Präsident der EG-Kommission Delors hat gerade auf dem Kopenhagener Gipfel in dieser Woche darauf hingewiesen, daß Umweltpolitik ein wirtschaftlicher Aktivposten ist. Mit einiger Befriedigung nehmen wir zur Kenntnis, daß die Bundesregierung diesem prinzipiell zugestimmt hat.Lassen Sie mich deshalb mit dem Satz schließen: Gefragt ist jetzt eine Politik, die über den nächsten Wahltermin hinausschaut, und eine Wirtschaft, die über die nächste Jahresbilanz hinauszudenken vermag und die die Chancen, die uns ein ernsthafter und konsequenter Umwelt- und Klimaschutz eröffnet, auch wirklich ergreift.
Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat unser Kollege Dr. Klaus W. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten vor einem Jahr die Konferenz in Rio. Diese Konferenz hat Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Wir sind diesen Hoffnungen und Erwartungen verpflichtet. Wir sind — ich will das betonen — einem vorsorgenden Umweltschutz verpflichtet. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Ereignisse eingetreten sind; dann ist es zum Handeln zu spät. Deshalb brauchen wir — ich sage das noch einmal deutlich — die wissenschaftliche Fundierung der politischen Arbeit, weil ohne die wissenschaftliche Fundierung der politischen Arbeit die Argumentation fehlt und die Gegner einer Klimaschutzpolitik sich daran festmachen werden.
Das ist der Part, der der Enquete-Kommission zukommt. Diesen Part leistet die Enquete-Kommission mit der wissenschaftlichen Beratung des Bundestages und der Bundesregierung. Sie tut dies mit ausgesprochenem Erfolg. Dies in Frage zu stellen ist töricht. Dies in Frage zu stellen ist wenig hilfreich. Dies sollten wir nicht tun. Vor allen Dingen sollten wir uns dann immer an den eigenen Taten messen lassen, wenn wir dies tun und nicht auf der einen Seite 25 Gutachten fordern und hinterher diejenigen zitieren, die sie erarbeiten. Das kann nicht angehen, daß muß man ganz deutlich sagen. Ich kann nicht in die Richtung sagen, ich will die Gutachten zur wissenschaftlichen Qualifikation, und mich dann hinstellen und diese Vorgehensweise kritisieren. Das geht nicht. Das ist nicht widerspruchslos. So kann man das schlicht und ergreifend nicht machen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, nun ist aber der Schutz des Klimas eine weltweite Aufgabe. Wir brauchen 50 Ratifikationen, die vorliegen müssen, damit die Klimakonvention weltweit in Kraft tritt. 22 liegen aktuell vor. Die 23. Ratifikation werden wir heute beschließen. Ich bin sehr froh darüber, denn das ist ein weiterer notwendiger Schritt auf dem Weg zur Klimavorsorgepolitik.In dieser Ratifikation müssen wir allerdings auch sehen, daß wir mit dazu beitragen, daß das Verhältnis
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Dr. Klaus W. Lippold
Nord-Süd, daß das Verhältnis zu den armen Staaten dieser Erde mit berücksichtigt wird. Die Konferenz in Rio war nicht nur dem Umweltschutz, sondern auch der Entwicklung verpflichtet. Ich sage noch einmal deutlich, ohne daß wir die Positionen der Entwicklungsländer berücksichtigen, werden wir diese weltweite Klimaschutzvorsorgepolitik nicht durchsetzen, nicht realisieren können. Das heißt Technologietransfer. Das heißt Zusammenarbeit. Das heißt gemeinsames Handeln, wie es UNCED vorgesehen hat. Gemeinsames Handeln heißt auch, daß wir in verschiedenen Fragen marktwirtschaftlich gemeinsam vorgehen, um die Probleme nicht nur schnell, sondern schneller zu lösen.
Wir dürfen nicht verkennen, daß wir auch national handeln müssen; denn wer eine Vorreiterrolle in Rio spielt, muß deutlich machen, daß er sie auch zu Hause zu realisieren bereit ist. Wir haben — ich sage das sehr deutlich — bislang im internationalen Vergleich mehr Maßnahmen beschlossen und eingeleitet als andere vergleichbare Industriestaaten. Jetzt kann man von uns nicht erwarten, daß wir anderen Ländern und Staaten die Hände bei ihren politischen Entscheidungen führen und uns für deren Entscheidungen mitverantwortlich machen.Wenn die EG-0O2-Steuer nicht da ist, ist das nicht Fehlverhalten der Bundesregierung, die nur eine Regierung von zwölf ist, sondern man muß immer wieder sehen, daß es elf andere Staaten gibt, die bedauerlicherweise nicht unserer Auffassung sind. Ich will deutlich machen, daß wir in verschiedenen Punkten im internationalen Vergleich mehr tun.Gerade wurde der Kanzler als derjenige angesprochen, der in Sachen Umweltschutz und Nord-SüdKonflikt etwas tun soll. Vor wenigen Tagen haben Wissenschaftler dem Kanzler ein Gutachten übergeben. Das sind die Wissenschaftler des Beirats Globale Umweltfragen. Sie haben darin ganz aktuell gefordert, daß wir für die Entwicklungsländer und für die GUS-Nachfolgestaaten, also die früheren Ostblockländer, jährlich mindestens 1 % Entwicklungshilfeleistung — gemessen am Sozialprodukt — leisten müßten. So ist die Forderung dieser Wissenschaftler an die Bundesregierung. Der Kanzler konnte dem entgegenhalten, daß diese Forderung mit der Drucklegung schon überholt ist, weil wir, wenn wir die Leistungen an die GUS-Nachfolgestaaten und an die Entwicklungsländer zusammenrechnen, bereits 1,3 % des Bruttosozialproduktes leisten. Das ist 30 % mehr, als die Wissenschaftler in ihrem taufrischen Gutachten gefordert haben.
Ich sage, das ist doch wohl ein Punkt, bei dem man sagen muß, wer so schnell übererfüllt, dem kann man doch nur dankbar sein.Um einen anderen Punkt aufzugreifen, sage ich: Wir haben erst vor wenigen Wochen an den Bundeskanzler geschrieben, daß wir Biomasse verstärkt einsetzen, um hier einen zusätzlichen Beitrag zur Spurengasreduktion zu leisten. Der Bundeskanzler hat geantwortet und gesagt, daß er dies aufgreift, daß ein Teil der Maßnahme von uns umgesetzt werden wird und daß wir auch in den anderen Punkten, die nicht sofort umgesetzt werden, mit einer sofortigen Prüfung der Frage beginnen werden, damit auch diese anderen Punkte in Angriff genommen werden. Schneller geht es doch nicht von der Politikberatung der EnqueteKommission zur Handlung dieser Bundesregierung. Ich bin dafür dankbar. Das sage ich sehr deutlich. Ich hoffe, daß das auch in Zukunft der Fall sein wird.
Ich bitte noch einmal darum, daß wir die Dinge in Zukunft mit mehr Geschlossenheit angehen; denn die Bevölkerung wird den Gedanken der vorsorgenden Klimapolitik nicht stützen, wenn sie dahinter nichts anderes sieht oder wittert als kleinkarierten parteipolitischen Streit. Den sollten wir da heraushalten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 7 a: Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen, Drucksachen 12/4489 und 12/5093. Ich rufe den Gesetzentwurf in der Ausschuß-fassung auf und bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b: Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt, Drucksache 12/4473. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/5112, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 7 c. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Follow-up der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro, Drucksachen 12/3739 und 12/5092, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Nach Stimmenthaltungen brauche ich nicht zu fragen. Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 d. Wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Umsetzung der Empfehlung der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre", Drucksachen 12/4527 und 12/5094, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Nach Stimmenthaltungen brauche ich nicht zu fragen. Damit ist auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-
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Vizepräsident Helmuth Beckerfraktionen gegen die übrigen Fraktionen und Gruppen dieses Hauses angenommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFür einen verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienlastenausgleich— Drucksache 12/4128 —Überweisungsvorschla g:Ausschuß für Familie und Senioren Finanzausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Habermann, Ingrid Becker-Inglau, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDBericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien— Drucksache 12/4653 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Frauen und Jugendc) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Habermann, Christel Hanewinckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFür einen gerechten Lastenausgleich zwischen Bund und Ländern zur Sicherung des Anspruchs unserer Kinder auf einen Kindergartenplatz ab 1996— Drucksache 12/4127 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Frauen und Jugend FinanzausschußAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Bildung und WissenschaftNach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die gemeinsame Aussprache eine Stunde dauern. — Ich höre und sehe keinen Widespruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Michael Habermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf es zu Beginn meiner Ausführungen auf den Punkt bringen: Die heutige Debatte über die vorliegenden Anträge muß hier insbesondere deshalb geführt werden, weil sich die Bundesregierung aus einer Politik für Familien verabschiedet hat.
Aus dem vielbeschworenen Goldenen Kalb wurde mittlerweile ein Lastesel. Gemeint ist die Familienpolitik. Die Familien sind zum Lastesel der Nation geworden, der schlecht gepflegt und zum Teil auchnoch diskriminiert wird. Um im Bilde zu bleiben: Das Futter wird immer magerer und weniger, die zu tragenden Lasten werden immer schwerer.
Diese Bundesregierung hat eine familienpolitische Krise ausgelöst und zu verantworten, die in der jüngsten Geschichte ohne Beispiel ist. Die Politikfelder, in denen die Bundesregierung versagt hat, kumulieren in ihren Auswirkungen in den Familien:
fehlende Arbeitsplätze, fehlender bzw. zu teurer Wohnraum, Abbau von Sozialleistungen, Erhöhung von Steuern und Abgaben und fehlende Plätze in Kindertageseinrichtungen.
Familien in diesem Land partizipieren an allen Mißerfolgen dieser Regierung auf grausamste Art und Weise.
Familien vor allem mit mehreren Kindern geraten zunehmend ins Abseits.
In den neuen Bundesländern ist es als Ergebnis Ihrer Politik zu einem Geburtenrückgang gekommen, der schon jetzt größer ist als die jeweiligen Folgen der beiden Weltkriege.Liebe Kollegen von der CDU, Rheinland-Pfalz, das Land, in dem Sie 40 Jahre Regierungsverantwortung hatten,
mag für mich als unverdächtiges Beispiel dienen, um Ihnen die Entwicklung der finanziellen Situation von Familien auf Grund Ihrer damaligen Landespolitik und Ihrer Bundespolitik zu verdeutlichen.In den letzten zehn Jahren Ihrer Regierungsverantwortung in Mainz ist die Zahl der Haushalte, die Sozialhilfe beziehen mußten, von 34 000 auf 68 000, also um 100 %, gestiegen. Die höchsten Steigerungsquoten verzeichneten die Haushalte, in denen Kinder lebten. 250 % betrug diese Steigerungsrate — und dies, obwohl die Zahl der Haushalte mit Kindern um 5 % sank. Betroffen ist auch die Gruppe der Alleinerziehenden in Rheinland-Pfalz. Mußten 1980 6 500 Alleinerziehende auf Sozialhilfe zurückgreifen, waren es 1990 bereits 13 000. Dabei ist die Gesamtzahl der Haushalte von Alleinerziehenden nur um 24,3 % gestiegen.In keinem Fall wurden die Kinder und Jugendlichen in Rheinland-Pfalz von Ihrer Politik begünstigt. 1980 bezogen lediglich 2,3 % der unter 18jährigen Sozialhilfe. 1990 waren es fast dreimal so viel: 6,2 %.
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14268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Michael HabermannFrau Ministerin, wie können Sie angesichts solcher Entwicklungen von einer erfolgreichen Familienpolitik sprechen?
Sie haben in Ihrem Haus Ergebnisse über Einkommensschichtungen von Familien. Rechnen Sie es sich als Erfolg an, daß die Hälfte der alleinerziehenden Eltern in den neuen wie in den alten Bundesländern mit ihrem Einkommen unter der erklärtermaßen viel zu niedrigen Besteuerungsgrenze der Einkommensteuer liegt?Ich darf aus einem Papier Ihres Hauses zitieren:Es überrascht nicht, — so ist dort zu lesen —daß das bereits 1990 vorgestellte Gutachten über Überschuldungssituation und Schuldnerberatung in der Bundesrepublik Deutschland zu dem Fazit kam: Es ist deshalb zweifelsohne berechtigt, zu sagen, daß Überschuldung in erster Linie ein Problem von Einkommensarmen, psychosozial Hilfebedürftigen und Familien ist. Nach den Klientendaten der Beratungsstellen— so formulieren Sie weiter —werden von Überschuldung in erster Linie Alleinerziehende und Familien mit Klein- und Schulkindern getroffen.Auch der im November 1992 veröffentlichte Forschungsbericht über die familienpolitischen Fördersysteme in der Europäischen Gemeinschaft hebt als Gründe für Armut von Familien — da wird übrigens von Armut gesprochen — vier Kriterien in Rangfolge hervor: Kinderreichtum, Alleinerziehung, Arbeitslosigkeit und soziale Randständigkeit. Weiter wird formuliert:Arbeitslosigkeit wie Alleinerziehung nehmen eher zu. Zu beobachten ist: Nachdem sich die Altersarmut in Deutschland zurückgebildet hat, sind es die Kinder, die das größte Armutsrisiko bilden.Man kommt dann zu einer interessanten Schlußfolgerung:Die bisher erörterten Lösungskonzepte für den Kinderlastenausgleich reichen für diese einkommensschwachen Familien nicht aus.Dazu dürfen Sie ruhig etwas sagen, Frau Ministerin. Wer Sie und Ihre Kollegen aus Ihrer Fraktion kennt, weiß, was nachher kommen wird: Es ist wieder ein Abgesang auf erfolgreiche Familienpolitik und der Versuch, durch historische Schuldzuweisungen zum 115. Mal das aufzubereiten, was Sie schon öfters hier gesagt haben.
Aber Familien wollen etwas ganz anderes von Ihnen. Sie wollen eine Ministerin, die ihre Nöte und Sorgen wahrnimmt
und die ihre Interessen innerhalb der Bundesregierung verteidigt.
Die Familien wollen eine Ministerin, die nicht schönredet, was nicht schönzureden ist.
Sie wollen eine Ministerin, die sich in der Öffentlichkeit vor die Familien und vor die familienpolitischen Leistungen stellt, wenn der Wirtschaftsminister z. B. das Erziehungsgeld als Geburtsprämie diffamiert, die sich ein Staat nur in fetten Jahren leisten könne.
Sie wollen eine Ministerin, die sich nicht nur um die Bekämpfung des Mißbrauchs sozialer Leistungen kümmert, sondern sich für die von ihr mehrfach angekündigte Weiterentwicklung des Lastenausgleichs einsetzt.
Sie wollen eine Ministerin, die sich vor allem für ihre verfassungsrechtlich geschützten Rechte einsetzt und endlich zumindest das Existenzminimum steuerfrei stellt.Es kann niemand verstehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das gleiche Ministerium das Existenzminimum auf 588 DM beziffert, den steuerfrei gestellten Betrag auf 517 DM angibt und die Ministerin behauptet, damit sei das Existenzminimum eines Kindes steuerlich nicht belastet.Frau Ministerin, Sie sind in der letzten Zeit bei zu vielen wichtigen, die Familien berührenden Fragen abgetaucht, und Sie sind leider allzuhäufig zum unpassenden Zeitpunkt an der falschen Stelle wieder aufgetaucht.
Um es deutlicher zu formulieren: Die Familien in Deutschland erwarten von Ihnen, daß Sie Familien mit mehreren Kindern nicht die Sozialhilfe kürzen und dies als gerecht bezeichnen, sondern daß Sie den Verarmungsprozeß von Familien stoppen.Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben dazu ein Konzept.
Wir wollen sofort für jedes Kind — ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören, aber es ist das bessere Konzept — 250 DM Kindergeld zahlen, und zwar ohne Anrechnung auf das Einkommen, weil jedes Kind unserer Gesellschaft gleich viel wert sein muß
und weil diejenigen, die mit Kindern leben, nicht schlechtergestellt werden dürfen als diejenigen, die ohne Kinder leben. Von diesem verfassungsrechtlich bestätigten Grundsatz läßt die SPD-Fraktion keinen Deut Abweichung zu.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14269
Michael HabermannAber wir wissen auch, daß wir den Kinderlastenausgleich weiterentwickeln müssen. Er muß sich in einem ersten Schritt an den Kosten des Existenzminimums eines Kindes orientieren. Er muß in Zukunft stärker auf die unterschiedlichen Situationen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Familienhaushalten reagieren. Der Kinderlastenausgleich muß um so größer sein, je niedriger das Einkommen und je höher die Zahl der Kinder ist.Sowohl die Finanzierung als auch die Organisation des Kinderlastenausgleichs bedürfen neuer Lösungen. Dazu ist es zwingend notwendig, daß die Bundesregierung im Parlament jährlich über die Entwicklung des Existenzminimums berichtet.
Meine Damen und Herren, wenn es in Frankreich möglich ist, das Existenzminimum für Kinder und Familien zweimal pro Jahr anzupassen, sollte es doch dieser Bundesregierung möglich sein, mindestens einmal im Jahr über die Entwicklung des Existenzminimums wenigstens zu berichten.
Verfassungsrechtlich, aber vor allem sozialpolitisch ist es auch für uns zwingend geboten, eine zumindest jährliche Anpassung der Leistung des Kinderlastenausgleichs vorzunehmen. Aber wir werden zukünftig nicht nur diese Dynamisierung sicherstellen müssen, sondern werden auch die horizontale und vertikale Einkommensumverteilung von Haushalten ohne Kinder zu Haushalten mit Kindern angehen.
Denn wir Sozialdemokraten vertreten den Standpunkt, daß kinderlose Personen dazu beitragen müssen, daß Eltern die ihnen durch Kinder erwachsenden Lasten und Verzichte besser zu tragen vermögen.
Frau Ministerin, die finanzielle Situation vieler Familien und Alleinerziehenden ist bedrohlich. Die Ergebnisse der Caritas-Armutsuntersuchung sind erschreckend. Der Geburtenrückgang insbesondere in den neuen Bundesländern ist alarmierend. Seit Übernahme Ihres Ministeramts haben Sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit wortreich und mit sehr viel Pathos den Wert der Familie als Hort der Tugend und der Werte beschworen. Daß die wirtschaftliche Situation von Personen mit Kindern so erschreckend ist, liegt daran, daß sich diese Ihre Wertschätzung zu meinem Bedauern in Worten und Ankündigungen erschöpft. Ich hätte mir gewünscht, Sie als Vertreterin von Famlieninteressen einmal so engagiert und informiert zu erleben wie in der Diskussion um den sogenannten Leistungsmißbrauch bei der Sozialhilfe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen Sie unsere Anträge als neue Chance für eine sozial gerechte Politik für Familien, und Sie, Frau Ministerin, werdenSie Ihrer Verantwortung als Familienministerin endlich gerecht!
Meine Damen und Herren, nun hat unser Kollege Herbert Werner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Habermann, ich glaube, Sie haben hier eindrucksvoll vorgemacht,
wie man sich mit dem Thema Familienpolitik nicht auseinandersetzen sollte.
Denn ganz so einfach ist es ja nicht, daß man alles, was an Schutt in der politischen Landschaft liegt, auf die eine Seite, nämlich auf die Ministerin abschiebt,
sich selber, der man sich fast stetig überall in der Vergangenheit verweigert hat, in ein blankes, hehres Gewand hierherstellt
und dann mit keinem Wort im Hinblick auf die Realisierbarkeit und Finanzierbarkeit dessen, was man nur so nebenbei anspricht, auch eine Perspektive für die Zukunft gibt.
Herr Kollege, zu Ihren Zahlen über die Sozialhilfe. Ich stehe nicht an, hier zu erklären, daß sie nicht stimmen. Aber Sie haben dabei einen entscheidenden Hinweis vergessen, nämlich daß die Sozialhilfesätze noch nie so stark angestiegen sind wie in den vergangenen zehn Jahren und gerade deshalb immer mehr Familien einen Anspruch auf Sozialhilfe haben.
Ich will hier keine Schwarzweißmalerei betreiben, und wir wissen, daß wir die Freistellung des Existenzminimums von der Steuer bisher nicht für alle Kinder haben erreichen können. Aber ich möchte ganz ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Weg, den Sie vorschlagen, nach meiner persönlichen Überzeugung nicht gangbar ist. Sie wollen den Kinderfreibetrag
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14270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Herbert Werner
und das Kindergeld gleichbehandeln und als Einheit gegeneinander aufrechnen.
— Dieses Prinzip der kommunizierenden Röhren meint Karlsruhe, Frau von Renesse, gerade nicht. Denn Karlsruhe hat darauf hingewiesen, daß der Kinderfreibetrag eine ganz spezielle Funktion hat, nämlich das Einkommen und die Unterhaltsleistung der Eltern für Kinder von der zusätzlich einkommensteuerbezogenen steueranteiligen Belastung freizustellen. Das ist der Sinn.
Das ist auch der Grund, warum wir uns alle miteinander so schwertun, einfach nach dem Motto „Eins ist gleich eins" das reine Familiensplitting in den Raum zu stellen.Wir müssen denjenigen, der Unterhaltsleistungen als Steuerzahler für Kinder erbringt, gegenüber dem kinderlosen Steuerzahler entlasten, und gerade dazu dient der Steuerfreibetrag, meine Damen und Herren.
Das Kindergeld nun ist eine unmittelbare Leistung zur direkten Unterstützung der Familien.
Herr Kollege Werner, Frau von Renesse hat eine Zwischenfrage. — Bitte sehr.
Herr Kollege Werner, wenn Sie sich daran erinnern, wie das Familienministerium und das Finanzministerium im Zusammenwirken beider Systeme, Kindergeld und Kinderfreibetrag, versucht hat, den beiden Urteilen des Verfassungsgerichts in Sachen Lastenfreiheit des Unterhalts gerecht zu werden, würden Sie mir dann recht geben, daß zumindest vom System her beide gemeinsam gesehen werden müssen und daß das Existenzminimum von Kindern in diesen beiden Systemen aufgefangen werden muß?
Verehrte Frau Kollegin, das ist doch gar kein Widerspruch zu dem, was ich sage. Ich sage nur, daß Kinderfreibetrag und Kindergeld nicht gleichermaßen gegengerechnet werden können; denn sonst würde das BVG nicht nachdrücklich darauf hinweisen, daß das Kindergeld für alle Kinder nicht unter einen bestimmten Sockel abgesenkt werden darf. Dies weist darauf hin, daß das Kindergeld eine unmittelbare, direkte Förderungsfunktion für alle in gleichem Maße hat.Man muß sehen, daß auch und gerade diese Funktion des Kindergeldes im Hinblick auf die Einkommensgrenzen zu beurteilen ist, die wir beim Kindergeld haben und die ihrerseits bestimmte Einkommenszonen umfassen.
— Denken Sie doch einmal mit, und plappern Sie nicht dauern dazwischen, lieber Kollege!Die SPD möchte jetzt mit dem einheitlichen 250-DM-Betrag vorgehen. Sie schlagen wiederum eine Finanzierung vor, die erneut die Familien zu erbringen haben; denn Sie schlagen nichts anderes als eine gigantische Umverteilung dessen vor, was wir bisher haben, während wir nachdrücklich dafür plädieren, innerhalb der bestehenden Fördersysteme Verbesserungen vorzunehmen.
Diese Verbesserungen — ich sage dies ganz offen — werden und können nicht kostenneutral sein. Aber wir sagen auch: Wir wissen, wie es um die finanzielle Lage im Bereich des Haushalts der nächsten Jahre stehen wird.Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, daß der Familienlastenausgleich natürlich eine Vielzahl von Leistungen, angefangen vom Wohngeld über BAföG und Erziehungsgeld bis hin zu Ortszuschlägen etc., umfaßt. Es ist deswegen nicht richtig, davon zu reden, daß pauschal reduziert worden sei.Ich möchte hier auch nicht die große Sorge, die ich persönlich habe, die auch von vielen Kolleginnen und Kollegen geteilt wird, verschweigen. Es ist die Sorge, daß wir in Anbetracht dieser Finanzlage, über die wir in diesen Tagen diskutieren, befürchten müssen, daß Kinderfreibetrag, Kindergeld und auch andere kinderbezogene Leistungen eingefroren werden. Ich hoffe, daß sie nicht zusätzlich abgesenkt werden!Aber ich muß gleichfalls darauf hinweisen, daß wir diese schwierige Situation als Chance begreifen sollten, innerhalb des gesamten Familienlastenausgleichs stärker den Gerechtigkeitsgesichtspunkt zu sehen und dabei auch zu berücksichtigen, daß es ganz dringend einer Harmonisierung der Einkommensbegriffe bedarf. Denn gerade durch diese unterschiedlichen Einkommensbegriffe entstehen zuweilen im Verfügungseinkommen der Familie sprunghaft Unterschiede,
die sich im konkreten Einzelfall unvorhersehbar sogar in einer Verringerung des Verfügungseinkommens niederschlagen können. Dies gilt es zu korrigieren, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der Vorgaben, die uns Karlsruhe in Verbindung mit dem § 218 StGB für mütterbezogene, kinder- und familienbezogene Leistungen gemacht hat.Wir wissen, wie schwierig die Situation ist, in der wir uns befinden, auch und gerade für Familien, wenn wir die demographische Entwicklung sehen, wenn wir die Rentenlastquote sehen, wenn wir sehen, wie sich die Kosten- und die Personalseite im Bereich der Altenpflegemaßnahmen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln werden. Dann können wir nichts anderes tun, als alle miteinander in dieser schwierigen Situation zusammenzustehen und gemeinsam alle Energie darauf zu verwenden, auch in Zukunft familien-, mütter- und kinderbezogene Leistungen nicht zu reduzieren, nicht einzufrieren, son-
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Herbert Werner
dem im Rahmen des finanziell irgendwie Möglichen zu erhöhen.
Ein letztes Wort zu Ihrem familienähnlichen Bericht, den Sie da wollen.
Wir sind der Auffassung, daß es durchaus einen Sinn gibt, wenn wir uns jährlich oder in Zweijahresschritten mit der finanziellen Situation insbesondere der Familien befassen. Deswegen werden wir hier mit Ihnen die Beratungen konstruktiv führen.Nur eins werden wir nicht machen, nämlich Ihnen in diesem Bereich ein Podium bieten, auf dem Sie, ausgehend von Zeiten eigenen Versagens, ohne Rücksicht auf die Realitäten, wie sie sich heute darstellen, bedingungslos und beliebig hohe Forderungen erheben können.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin für diese Debatte sehr dankbar, wenngleich ich nicht glücklich darüber bin, daß sie so spät stattfindet und nicht mehr Zeit zur Verfügung steht. Aber die Tagesordnung ist das Ergebnis der Beratungen des Ältestenrats. Im Altestenrat sind alle Fraktionen vertreten, und alle sind dafür verantwortlich.Uns liegen drei Anträge der SPD vor, die wir im Ausschuß sehr intensiv diskutieren und beraten wollen. Ich kann nur hoffen, daß wir uns darüber im klaren sind, daß wir nur dann etwas erreichen, Herr Kollege Habermann, wenn wir dies nicht zur parteipolitischen Profilierung mißbrauchen. Ihre Rede war dazu kein Beitrag. Ich will versuchen, auf Ihre drei Anträge einzugehen.Es geht zunächst einmal um die Forderung nach einem Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien. Nach Aussagen unserer Kollegen aus dem Finanz- und Wirtschaftsbereich liegt hierzu eine Ausarbeitung vor, auf die sich das Familien- und das Finanzministerium geeinigt haben. Ich kenne diese Ausarbeitung nicht. Im Ausschuß werden wir dazu hoffentlich etwas erfahren. Dann wollen wir entscheiden, ob ein derartiger Bericht noch nötig ist oder nicht. Ich mache keinen Hehl daraus: Ich habe sehr viel Sympathie für einen solchen Bericht.Der zweite Antrag, den ich ansprechen will, beschäftigt sich mit dem geforderten Lastenausgleich zwischen Bund und Ländern zur Sicherung von Kindergartenplätzen. Hierfür kann ich keine Sympathie aufbringen. Die Aufgabenverteilungen zwischen Bund und Ländern liegen fest. Gerade die Länder achten sehr eifersüchtig darauf, daß der Bund nicht in ihre Kompetenzen pfuscht.Man darf meiner Überzeugung nach nicht einen Punkt herauslösen und an Hand dieses Punktes versuchen, zu einer Änderung der Lastenverteilung zu kommen. Auch der Bund finanziert nur über Steuergelder, und die Haushalte der Lander sind nicht höher belastet als die des Bundes.Damit die Länder durch den Bundesgesetzgeber nicht überfahren werden können, bedürfen Gesetze, die die Länder betreffen, der Zustimmung des Bundesrates. Das ist geschehen.Wir müssen zu einem gerechten Ausgleich zwischen Bund und Ländern kommen, aber nicht an Hand von Einzelpunkten, sondern auf der Grundlage der Gesamtausgaben. Der Lastenausgleich steht ohnedies zur Neuverteilung an. In diesem Rahmen kann man darüber sprechen.Kommen wir zum dritten Antrag, zum Familienlastenausgleich. Da schreiben Sie in Punkt 1: Das Existenzminimum soll steuerfrei sein. — Ja, liebe Kollegen von der SPD, diesem Antrag kann ich nur zustimmen. Das Bundesverfassungsgericht fordert ja gerade das von uns.Die Familienpolitiker aller Fraktionen werden sich einig sein: Erst danach beginnt eigentlich der Familienlastenausgleich.
— Nein, so weit ist es nicht. — Aber diese Umsetzung bedeutet: Ich muß das Existenzminimum, damit es nicht versteuert wird, von meinem steuerpflichtigen Einkommen zunächst abziehen und danach den Rest versteuern. Dies, meine Kollegen von der SPD, ist aber — umgesetzt — nichts anderes als die von Ihnen so sehr gescholtene Freibetragsregelung.
Hier stimmt die Forderung der SPD in Punkt 1 nicht mit dem überein, was sie in anderen Punkten oft genug sagt.Wie sieht es heute aus? Das Existenzminimum über Kinderfreibeträge genügt in der Höhe nicht den Forderungen des Verfassungsgerichts. Deswegen muß das gezahlte Kindergeld in einen fiktiven Freibetrag umgerechnet werden. Erst damit wird die Forderung des Verfassungsgerichts einigermaßen erfüllt.Von der Systematik des Antrags der SPD her müßte jetzt eigentlich der Punkt 3 des Antrags kommen: Das Existenzminimum sollte — ich formuliere das etwas anders — mit der Sozialhilfe korrelieren. Was jetzt wem angepaßt werden sollte, das wird die Diskussion im Ausschuß zeigen.Der vierte Punkt Ihres Antrags zeigt die Grundsätze des Familienlastenausgleichs auf. Auch dem kann ich zustimmen. Personen mit Kindern müssen mehr haben als Personen ohne Kinder. Aber das muß doch heißen: Kleinverdiener ohne Kinder und Kleinverdiener mit Kindern müssen in diesem Zusammenhang verglichen werden, ebenso Großverdiener mit Kin-
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-Norbert Eimer
dern und Großverdiener ohne Kinder. Aber genau das macht die SPD nicht.
Ich bezweifle nicht — ich betone das —, daß selbstverständlich die steuerliche Belastung nach Fähigkeit damit nicht vergessen werden darf.Von der Systematik her müßte jetzt eigentlich Punkt 2 des Antrags der SPD kommen. Sie fordert statt der Steuerfreiheit des Existenzminimums — wie in Punkt 1 beschrieben — Kindergeld von monatlich 250 DM für jedes Kind und für Kinderreiche 100 DM mehr. Damit aber die Forderung nach Steuerfreiheit des Existenzminimums erfüllt wird, bleibt jetzt nichts anderes übrig, als dieses Kindergeld — das kritisiere ich auch beim jetzigen System — in einen fiktiven Kinderfreibetrag umzurechnen.Abenteuerlich wird es aber erst, wenn es um die Finanzierung dieser Ausgaben geht. Die SPD will eine Kappung des Splittings vornehmen. Sie hat immer noch nicht nachgerechnet, was diese Kappung bedeutet. Sie führt dazu, daß zwei Paare — ich wiederhole mich —, die beide zusammen das gleiche Einkommen haben, verschieden hohe Steuern zahlen müssen: Die Paare mit Kindern, bei denen heute normalerweise immer noch die Frau zu Hause bleibt, werden mehr Steuern zahlen müssen als ein Paar, bei dem sich das Einkommen gleichmäßig auf beide Partner verteilt. Anders ausgedrückt: Die SPD will ihr Kindergeld von den Familien mit Kindern, vor allem von den kinderreichen Familien, finanzieren lassen.
Genau denen soll der Splittingvorteil genommen werden. Diese Paare werden dann mehr Steuern zahlen müssen als Paare mit vergleichbaren Einkommen ohne Kinder. Das wird durch Ihre Forderungen nur zum Teil ausgeglichen.Wenn man davon ausgeht, daß in einer Ehe eine gleichberechtigte Partnerschaft herrschen sollte und daß das Einkommen von Mann und Frau gemeinsames Einkommen ist, worüber sie gemeinsam verfügen sollen, dann muß man sie steuerlich so behandeln, daß jeder die Hälfte des gemeinsamen Einkommens versteuert. Genau das ist Splitting.Meine Kollegen von der SPD, weil Sie sich so sehr erregen: Ein kluger Mann hat einmal gesagt: Man kann Politik gegen alle machen, nur nicht gegen Adam Riese.
Liebe Kollegen, genau das werfe ich Ihnen vor. Ich habe mehreren von Ihnen ja schon die Rechnung vorgelegt, und sie konnten nichts dagegen sagen. Alle Gesetze, die wir im Bundestag zur Sozialpolitik machen, sind im Grunde genommen Textaufgaben zu einer Rechenformel, nach der dann Gelder eingesammelt oder verteilt werden. Wer diesen Zusammenhang nicht sieht, macht mathematische Fehler. Ich wiederhole mich: Genau das werfe ich der SPD vor. Es sind mathematische Fehler und gar nicht sosehr Fehler im Grundsatz.Ich mache keinen Hehl daraus, daß mir das heutige System auch nicht gefällt. Es ist zu kompliziert; vor allem dann, wenn es um die Einkommensgrenzen geht, ist es ungerecht. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wenn jemand vier Kinder hat und genau an der Einkommensgrenze liegt, bekommt er das Kindergeld voll. Verdient er eine Mark im Jahr mehr, dann hat er im Jahr netto 2 880 DM weniger. — Sie schütteln den Kopf. Lesen Sie doch die Gesetze!Ich will mit diesem Beispiel nur sagen: Die Probleme sind sehr viel vielschichtiger, als dies in einer kurzen Debatte angesprochen werden kann. Ich sage Ihnen: Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuß. Ich kann nur hoffen, daß wir uns dazu genügend Zeit nehmen.Vielen Dank.
Lieber Herr Kollege Eimer, Sie haben sich eingangs darüber beschwert, daß der Ältestenrat die Debatte erstens so spät angesetzt hat und daß zweitens die Zeit viel zu kurz ist. Da wir uns im Ältestenrat im Moment mit dem Präsidium und mit den Fraktionsgeschäftsführern in einer Dauerdebatte darüber befinden, wie wir solche Debatten besser strukturieren können, wäre es gar nicht schlecht, wenn Sie einen Vorschlag machen würden, wie man die heutige Tagesordnung anders hätte gestalten können. Das würde vielleicht bei den Beratungen helfen.
Nun erteile ich unserer Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste unterstützt die drei Anträge der SPD und auch die Rede von Herrn Habermann nachdrücklich. Ich muß sagen: Ich bin doch etwas entsetzt darüber, mit welch hanebüchenen Begründungen von seiten der CSU, der CDU und der F.D.P. dazu Stellung genommen wird. Wenn man Sozialpolitik auf Rechenaufgaben reduziert, frage ich mich, wozu wir dann überhaupt noch Ausschüsse haben und an diesem Thema arbeiten.
— Insbesondere, um Grundlagen zu haben, aber man kann Sozialpolitik nicht auf Rechenaufgaben reduzieren. Das ist ja wohl ein wesentlicher Unterschied.Wir unterstützen den Antrag auf eine jährliche Berichterstattung, wie es im Antrag ausgeführt ist. Das ist ja eine wesentliche Voraussetzung für die Transferleistungen für Kinder und Familien, für das Einkommensteuerrecht und ist auch von Bedeutung als Berechnungsgrundlage sowohl des Bundesverfassungsgerichts in Zusammenhang mit dem Familienlastenausgleich als auch der Bundesregierung für die Bestimmung der Sozialhilfe.Andererseits, so muß ich sagen, ist es schon erstaunlich, das Hickhack der Bundesregierung um den von den Wohlfahrtsverbänden schon lange geforderten
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Dr. Barbara HöllArmutsbericht zu verfolgen. In dieser Frage tritt man folgendermaßen auf: Einen Armutsbericht wollen wir nicht. Die Sozialhilfe ist eine anscheinend fast luxuriöse finanzielle Ausstattung für Menschen, die nur zum Mißbrauch verleitet, wie uns in der Asyldebatte j a immer wieder ausdrücklich gesagt wurde. Andererseits wird ein Existenzminimum ohne eine klare Darlegung der Ausgangsdaten festgelegt.Interessanterweise sah sich das Bundesverfassungsgericht ja bereits im Jahre 1968 genötigt, festzustellen, daß Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes sind. Kinder und Jugendliche als eigenständige Persönlichkeiten mit spezifischen Bedürfnissen und Interessen anzuerkennen bedeutet für sozialistisches Denken Mitbestimmung und Teilhaberecht, auch politische Handlungsmöglichkeiten, Förderung von Bildung und Kultur, aber auch — als notwendige Voraussetzung für all dies — eine eigenständige elternunabhängige soziale Grundsicherung für Kinder und Jugendliche. Deshalb ist die PDS nachdrücklich gegen die Unterordnung der Kinder- und Jugendpolitik unter Familienpolitik und fordert ein umfassendes Entwicklungsprogramm für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen.Die PDS/Linke Liste hat dem Bundestag deshalb ein Gesetz zur Sozialen Grundsicherung unterbreitet, in dem die materielle Absicherung von Kindern und Jugendlichen als Subjekte einen wesentlichen Stellenwert einnimmt. Wir schlagen vor, das duale System des Familienlastenausgleichs aufzuheben. Ich muß Ihnen sagen: Wenn man so weit gehen muß, das Grundgesetz entsprechend zu andern, dann muß man das auch tun.
Wir schlagen die Aufhebung des dualen Systems des Familienlastenausgleichs vor, da es erstens in sich viel zu kompliziert, undurchschaubar und bürokratisch ist, was bekanntermaßen dazu führt, daß Eltern nicht einmal in der Lage sind, das ihnen für die Kinder rechtmäßig zustehende Geld in vollem Umfang vom Staat abzufordern, und zweitens eindeutig Besserverdienende bevorteilt und die vom Grundgesetz in Art. 6 Abs. 5 vorgeschriebene Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder nicht gewährleistet. Wenn man dies — drittens — im Zusammenhang mit dem Ehegatten-Splitting betrachtet, tut man einem völlig überalterten, realitätsfernen Familienbegriff Genüge, der Ehepaare ohne Kinder nur für den Trauschein überproportional belohnt,
während Menschen, die Kinder erziehen, trotz nachgewiesener zeitlicher, beruflicher, psychischer und anderer Mehrbelastungen nur zu einem geringen Teil von der Gesellschaft unterstützt werden.Die strukturelle Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Familien — hier verstanden als ein Leben mit Kindern — führt, so Professor Kaufmann in einer Anhörung des Ausschusses für Familie und Senioren, zu einer kumulativen Benachteiligung vonFamilien, die sich nach ökonomischen Schätzungen an Zahlen festmachen läßt. Danach beträgt der ökonomische Wert der Versorgung und Erziehung von drei Kindern in einer durchschnittlichen westdeutschen Familie etwa 1,5 Millionen DM. Durch staatliche Leistungen werden nach geltendem Recht nicht einmal 15 % abgedeckt. Ich frage mich, inwieweit der Begriff „Familienlastenausgleich" hier tatsächlich eine reale Bedeutung hat oder inwieweit Sprache zur Verschleierung von Tatsachen dient.Die PDS/Linke Liste schlägt deshalb bei entsprechender Änderung des Steuersystems vor, die direkte, unbürokratische Zahlung von Kindergeld — in Anlehnung an die EG-Orientierung, wonach Einkommensarmut bei Unterschreitung von 50 % des durchschnittlichen Nettoverdienstes der Bevölkerung beginnt — altersmäßig gestaffelt wie folgt vorzunehmen: für Kinder von 0 bis 6 Jahren 20 % des Durchschnitts — das sind nach unseren Schätzungen etwa 500 DM —, für Kinder von 6 bis 12 Jahren 25 % des Durchschnitts — gleich 625 DM — und für Kinder von 12 bis 16 Jahren 30 % des Durchschnitts — gleich 750 DM —.Dies erforderte einen finanziellen Mehrbedarf von etwa 81 Milliarden DM pro Jahr. Mir ist sehr wohl bewußt, daß dies natürlich eine gewaltige Summe ist und tatsächlich umfassende Änderungen erfordern würde. Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD, das Existenzminimum der Kinder tatsächlich von Steuern zu befreien und in einem ersten Schritt die Kinderfreibeträge zu streichen und das Kindergeld pro Kind auf 250 DM anzuheben. Dies wäre nach den Berechnungen der SPD ja auch kostenneutral möglich.Allerdings verwundert mich hierbei, daß sich die SPD bei ihren Forderungen dem von der Bundesregierung nicht nachvollziehbar definierten Gesichtspunkt des Existenzminimums bzw. des Sozialhilfeniveaus beugt und nur den Aspekt der Preisentwicklung einbezieht. Wir halten hier eine Basisüberprüfung des Existenzminimums für unabdingbar, gerade im Hinblick auf die EG-Orientierung, wonach die Einkommensarmut eben bereits bei Unterschreiten von 50 % des durchschnittlichen Nettoeinkommens beginnt.
Frau Kollegin Barbara Höll, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen. Bitte machen Sie noch einen Schlußsatz.
Herr Präsident, ich möchte nur noch einen letzten Satz sagen.Wir unterstützen im Zusammenhang mit dem skandalösen Karlsruher Urteil zu § 218 den Antrag der SPD auf einen Lastenausgleich zwischen Ländern, Kommunen und Bund ausdrücklich. Man kann nicht nur etwas für das ungeborene Leben tun wollen, sondern man muß sich endlich auch einmal zu dem geborenen Leben und zum Recht der Kinder auf einen Kindergartenplatz bekennen. Das ist der Grund für unsere nachdrückliche Unterstützung.
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Dr. Barbara HöllIch danke Ihnen.
Herr Kollege Eimer, ich konnte Ihre Wortmeldung vorhin leider nicht zulassen, weil wir hier keine Diskussion führen können, aber nach Beendigung dieser Debatte tue ich das gerne. Mein Vorschlag war wirklich ernstgemeint.
Nun hat unser Herr Kollege Wilfried Seibel das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat am 25. September 1992 die Verfassungswidrigkeit des Grundfreibetrages und — daran anknüpfend — der gesamten Tarifvorschrift des § 32a Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes festgestellt. Dem Urteil nach ist der Gesetzgeber aufgefordert, spätestens ab 1996 den Einkommensteuertarif neu zu gestalten. Für die Jahre 1993 bis 1995 ist eine gesetzliche Übergangsregelung nötig.Nach dem Beschluß des Gerichts muß der Steuergesetzgeber dem Einkommensbezieher von seinen Erwerbsbezügen zumindest das belassen, was er dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, das sogenannte Existenzminimum. Entgegen vielen Erwartungen traf die Entscheidung des Gerichts somit nicht alle Steuerzahler, sondern im Kern nur die sogenannten Grenzsteuerzahler, also diejenigen, deren Erwerbsbezüge am Rande des Existenzminimums liegen. Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab, dem sogenannten sozialhilferechtlichen Existenzminimum.Diesen Anforderungen wurde der Grundfreibetrag in den Jahren 1978 bis 1991 nicht gerecht und war deshalb mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Das Gericht hielt es für gerechtfertigt, eine Korrektur nur für die Zukunft vorzunehmen. Somit bleibt der geltende Einkommensteuertarif bis einschließlich 1995 weiter anwendbar. Für die Übergangsregelung der Jahre 1993, 1994 und 1995 ist sicherzustellen, daß niemandem Lohn- oder Einkommensteuer abverlangt wird, der unterhalb des Existenzminimums liegt, und ihm nur so viel abverlangt wird, daß sein Existenzminimum nicht unterschritten wird.Damit beim Steuerpflichtigen die Erwerbsbezüge belassen werden, die er zur Deckung seines existenznotwendigen Bedarfs benötigt, waren kurzfristige Verwaltungsregelungen für Anfang 1993 nötig, die im Dezember 1992 verabschiedet wurden. Darin war vorgesehen, das Existenzminimum für Alleinstehende auf 12 000 DM und für Verheiratete auf 19 000 DM festzusetzen.In den Beratungen des Gesetzes zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, dem sogenannten FKP-Gesetz, ist die Debatte in den zuständigen Ausschüssen über dieses Thema intensiv geführt worden. Eine Anhörung der Experten hat stattgefunden. Schließlich hat sich die Bundesregierung mit denBundesländern darauf geeinigt, in § 9 des FKPGesetzes, das Existenzminimum wie folgt festzusetzen: für Alleinstehende 1993 10 500 DM und für Ehegatten 1993 21 000 DM.Ich habe mich bemüht, eine möglichst wertungsfreie und rein sachliche Darstellung des jetzt erreichten Ist-Zustandes zu geben. Ich denke, eine derartige Wiedergabe der Beschlußlage ist insbesondere geeignet, den Bürgern Einsicht in Entscheidungsabläufe und deren Ergebnisse zu geben. Natürlich ist die im FKP-Gesetz vorgenommene Absenkung der Sätze keine Wunschlösung, sondern eine Notwendigkeit, sich den veränderten ökonomischen und finanziellen Rahmenbedingungen anzupassen.Unseren heutigen Beratungen liegt die Drucksache 12/ 4128, der Antrag der SPD-Fraktion vom 15. Januar 1993, zugrunde. Insbesondere Herr Kollege Poß und die anderen SPD-Kolleginnen und -Kollegen des Finanzausschusses waren intensiv bemüht, diese Aspekte sozialer Politik zu akzentuieren. Sie dienten damit dem Anliegen, aber auch einer taktischen Linie. Gerade wenn man sich intensiv bemüht hat, so wie die Kolleginnen und Kollegen der SPD, ist es natürlich schmerzlich, wenn die eigenen Genossen aus den Reihen der SPD-regierten Bundesländer so wenig Rücksicht auf den akkumulierten Sachverstand der Bundestagsfraktion genommen haben,
obwohl für jedermann erkennbar ist, daß sich die Summe der guten Argumente zuallererst in der SPD-Fraktion im Bundestag findet.Zur Zeitersparnis wäre es natürlich gut gewesen, wenn die SPD ihren Antrag heute zurückgezogen hätte.
— Jetzt kommt das Lob; hören Sie doch zu! —
Daß wir ihn heute beraten, kann natürlich nicht schaden. Die wichtigsten Gesichtspunkte für neue Regelungen im Einkommensteuergesetz zum Existenzminimum sollten schon in der Diskussion gehalten werden und liefern auch Argumente und Nachdenklichkeiten.Wir sollten jedoch zukünftige Erörterungen zu diesem Thema nicht mit der Erwartung garnieren, daß für die Zukunft mit deutlich höheren Sätzen zu rechnen sei. Die konjunkturelle und finanzpolitische Situation verlangt ihre Opfer. Es entspricht daher verantwortungsgerechter Tätigkeit aller Mitglieder des Bundestages, nicht Erwartungen zu wecken, die nicht erfüllt werden können.Unser Staat und unsere Gesellschaft sind in der Lage — und werden es bleiben —, den wirklich Bedürftigen die notwendige Hilfe zu gewähren. Dazu zählt die angemessene Ausstattung von Sozialhilfesätzen, daraus abgeleitet ein Existenzminimum in den
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Wilfried SeibelSteuergesetzen. Wer hier deutliche Verbesserungen realisieren will, muß wissen, daß auch die Kassen der Länder und Gemeinden berührt werden. Es steht demjenigen, der solche Vorschläge erwägt oder gar macht, gut an, dafür auch Deckungsvorschläge durch Streichungen an anderer Stelle zu machen.
Frau Kollegin Christina Schenk, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte gibt mir Gelegenheit, über die Frauenfeindlichkeit und die Ungerechtigkeit zu sprechen, die dem bundesdeutschen Steuerrecht immanent sind. Das ist auch deswegen wichtig, weil die vielen neu hinzugekommenen Frauen aus dem Osten darüber noch relativ wenig wissen.
Die Steuerprogression, derzufolge diejenigen, die ein hohes Einkommen haben, mehr abgeben müssen, ist gerecht. Absolut ungerecht ist es hingegen, wenn Personen mit höherem Einkommen jede Menge Steuerentlastungen in Anspruch nehmen können, von denen diejenigen, die weniger einnehmen, ausgeschlossen sind. Absolut grotesk ist es, wenn diese Verfahrensweise als sozial bezeichnet wird.
Das gilt insbesondere für das sogenannte Ehegatten-Splitting. Die Steuerbegünstigung für Ehepaare — sie erfolgt unabhängig davon, ob diese Ehepaare Kinder haben oder nicht — muß aus zwei Gründen kritisiert werden.
Erstens wird dieser Vorteil — wie so vieles in dieser Bundesrepublik — nach dem Motto „Wer viel hat, dem wird viel gegeben" gewährt. Steuerpflichtige, die mit einer nicht erwerbstätigen Person verheiratet sind, sparen bei einem Bruttojahresgehalt von 30 000 DM durch das Ehegatten-Splitting ganze 1 730 DM, bei einem Bruttoeinkommen von 90 000 DM schon 7 440 DM, und Spitzenverdienern mit einem Bruttojahreseinkommen von 250 000 DM schenkt Vater Staat großzügig knapp 25 000 DM.
Das ist aber nur der eine Kritikpunkt.
Der zweite ist der, daß mit Hilfe des EhegattenSplittings die Ungleichheit unter den Verheirateten gefördert wird und damit eine Lebensform, in der eine Person von der anderen — in den meisten Fällen die Frau vom Mann — ökonomisch abhängig ist. Insofern wäre es weitaus exakter, nicht vom Ehegatten-Splitting zu sprechen, sondern von einer Prämie für patriarchalische Lebensweise.
Frau Kollegin Schenk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eimer?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege Eimer.
Frau Kollegin, halten Sie es für richtig, daß zwei Paare, die jeweils zusammen das gleiche Einkommen haben, nur deswegen unterschiedlich viel Steuern zahlen, weil die Einkommenverteilung innerhalb dieser Partnerschaft unterschiedlich ist, und halten Sie es vor allem für richtig, daß in diesem Falle gerade diejenigen, die Kinder erziehen und von denen ein Partner zu Hause ist, mehr Steuern zahlen müssen als solche Paare, bei denen beide arbeiten? Das Ganze steht, wie gesagt, unter der Voraussetzung, daß beide Paare ein Einkommen in gleicher Höhe haben.
Herr Kollege, ich bin der Auffassung, daß jede einzelne Person ihr Einkommen für sich versteuern soll und daß sich der Staat nicht über das Steuerrecht in die Lebensform einmischen darf. Allenfalls ist zu überlegen — hier gebe ich Ihnen völlig recht —, wie das Zusammenleben mit Kindern oder beispielsweise auch mit Pflegebedürftigen steuerlich besser berücksichtigt werden kann.
Unverheiratete Paare, bei denen Frau und Mann ein aasnährend gleiches Einkommen haben — damit komme ich auf Ihre Frage zurück —, bekommen keine oder nur sehr kleine Steuerermäßigungen und sind durch verschiedene Vergünstigungen, die Alleinlebenden mit Kindern zustehen, bessergestellt, als wenn sie heiraten. Deshalb würde ich diesen Leuten tunlichst empfehlen, das nicht zu tim — wofür es auch noch eine Reihe von anderen Gründen gibt.
Frau Kollegin Schenk, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Dr. Babel?
Wenn die Uhr angehalten wird.
Die Zeit ist gestoppt. — Bitte sehr.
Frau Kollegin Schenk, nur um sicher zu sein, daß ich Sie richtig verstanden habe: Wenn es sich um einen dieser hochverdienenden Ehemänner mit einer Frau handelt, die zu Hause bleibt, in welcher Höhe würden Sie dieser Frau einen Unterhaltsanspruch einräumen: in Höhe des Sozialhilfesatzes oder in Höhe der Hälfte des Einkommens ihres Mannes?
Ich bleibe bei meinem Standpunkt: daß sich der Staat
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Christina Schenküber das Steuerrecht nicht in das Zusammenleben von Menschen einmischen sollte.
Es ist natürlich die Frage, wie in diesem Land gewährleistet werden kann, daß jeder Mensch durch eigene Arbeit ein eigenes Einkommen erzielen kann. Ich finde es beschämend, daß eine Arbeitsteilung, wie Sie sie geschildert haben, noch immer gang und gäbe ist. Es soll jeder Mensch die Möglichkeit zu ökonomischer Selbständigkeit durch eigene Arbeit haben, und wenn dies nicht möglich ist, dann eben über entsprechende Sozialsysteme.
— Aber es hat doch offensichtlich für Sie gereicht.
Ich darf nun vielleicht doch meine Rede fortsetzen. Ich war bei den Gründen, die gegen die Ehe sprechen.Also noch einmal: Die Ideologie, die dem Ehegattensplitting zugrunde liegt, ist die Ideologie von der Familie, die ein männliches Oberhaupt hat, das von seinem Arbeitgeber in völlig asozialer Weise von morgens bis abends in Anspruch genommen wird, völlig ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß ein Mensch neben der Erwerbstätigkeit auch Kinder zu versorgen, zu betreuen oder erzieherisch zu begleiten hat oder sich um seine alten Eltern kümmern sollte oder kümmern müßte.Dafür sind dieser Ideologie zufolge dann die Frauen da, die dies selbstverständlich unbezahlterweise, sozusagen für Kost und Logis, machen und vielleicht nebenher auch noch in Teilzeitarbeit dazuverdienen, aber doch eben keine Perspektive auf ökonomische Unabhängigkeit oder eigenständige Altersversorgung haben.Leider — und das muß ich auch an die Adresse der SPD sagen — hat sich die SPD mit ihrer Kritik am Ehegattensplitting von dieser Ideologie ebenfalls nicht entfernt; denn sie will das Ehegattensplitting nicht abschaffen, sondern sie will es nur kappen. Ehegatten, die weniger als 100 000 DM brutto im Jahr verdienen, sollen ihre Splittingvorteile in voller Höhe behalten dürfen. Mit der bloßen Kappung auf 100 000 DM ändert sich auch nichts am Gerechtigkeitsdefizit. Die Steuergeschenke an die, die nur 30 000 DM brutto verdienen, und an die, die 90 000 DM verdienen — ich erinnere an das eingangs geschilderte Beispiel —, bleiben höchst verschieden. Mit dieser Kappung ändert sich vor allem nichts an der staatlichen Förderung bzw. an der Subventionierung der Hausfrauenehe.Das Ehegattensplittung führt zu einem jährlichen Steuerausfall von mindestens 50 Milliarden DM. Ich betone: mindestens 50 Milliarden DM. Die genaue Summe wird die Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine Anfrage hoffentlich demnächst bekanntgeben. Die Abschaffung dieser Steuervergünstigung würde also nicht nur die Einführung eines Kindergeldes von 250 DM monatlich, sondern viel, viel mehr frauen- und kinderfreundliche Maßnahmen in diesem Land ermöglichen. Zum Beispiel könnte auch das Recht auf einen Kindergartenplatz zum großen Teil mit Hilfe dieser Summe verwirklicht werden, wenn es politisch gewollt wäre.
Der Unabhängige Frauenverband tritt nicht nur für die Abschaffung des Ehegattensplittings ein, sondern auch für die Abschaffung des Familienlohns, durch den der Ehemann in die Ernährerposition gebracht wird, in der er seine Wäsche von der Ehefrau zum Nulltarif waschen läßt und auch noch glaubt, darauf einen Anspruch zu haben.Wir sind für eine radikale Arbeitszeitverkürzung, für eine gerechte, d. h. gleichmäßige, Verteilung der bezahlten und der unbezahlten Arbeit unter Männern und Frauen. Alles andere — und das sage ich und muß ich leider sagen auch in die Richtung der Frauenpolitiker und Frauenpolitikerinnen der SPD —, alles andere ist Flickschusterei am Patriarchat. Wir aber wollen diesen Stiefel nicht mehr flicken, sondern es geht jetzt darum, ihn endlich zu entsorgen.
Vizepräsident Helmuth Becker. Ich erteile das Wort der Frau Bundesministerin für Familie und Senioren, unserer Kollegin Hannelore Rönsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die drei Anträge, über die wir heute abend diskutieren, gehen die Grundprobleme im Familienlastenausgleich an. Ich möchte sagen: Es ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen.Wir haben in den vergangenen Jahren verschiedentlich darüber diskutiert, und wir werden uns an dieser Stelle nicht einig werden, weil wir von unterschiedlichen Grundpositionen ausgehen. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren und liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, einig waren wir uns in einer ganzen Reihe von familienpolitischen Maßnahmen, bei denen Sie zugestimmt haben.Deshalb erstaunt es, daß der Kollege Habermann heute fragt, wieso wir von einer erfolgreichen Familienpolitik reden. Ich will dann doch noch einmal einiges in Erinnerung rufen, Herr Kollege Habermann, weil offensichtlich schon in einer Zeit von vier bis fünf Jahren sehr viel vergessen wird.Vergessen möchten Sie vielleicht sehr schnell, was ich verstehen kann, daß Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub bei der SPD immer in Programmen standen, aber nie verwirklicht wurden. Wir haben 1986 beides eingeführt und
— aber selbstverständlich, Herr Kollege Habermann— und 1992 ausgebaut. Und, Herr Kollege Habermann und meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, es gab auch keine Kürzungen bei
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Bundesministerin Hannelore RönschErziehungsgeld und Erziehungsurlaub, wie Sie es der Bevölkerung noch in den letzten Wochen und Monaten weismachen wollten.
Das ist nicht passiert. Sie haben vorschnell eine Presseerklärung nach draußen geschossen, und Sie haben sie nicht einmal zurückgeholt. Das ist das Schlimme daran, und das nehme ich Ihnen übel. Denn die Frauen und die Männer, die Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, haben ein Recht darauf, auch von der Opposition vernünftig informiert zu werden.
Ich will sie auch noch darüber informieren, daß Sie z. B. mit uns gemeinsam im vergangenen Jahr beim Schwangeren- und Familienhilfegesetz beschlossen haben, bei Krankheit von Kindern die Freistellung von der Arbeit von 10 auf 20 Tage für Alleinerziehende und 10 Tage für die Mutter oder 10 Tage für den Vater mit einer Obergrenze von 50 Tagen festzulegen. Ich meine, daß dies eine familienpolitische Leistung für Eltern, aber ganz besonders für Alleinerziehende ist.
Erinnern will ich Sie auch noch daran, daß wir mit der Anerkennung von Kindererziehungszeiten im Rentenrecht 1986 eine ganz alte SPD-Forderung in die Wirklichkeit umgesetzt haben. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie auch da mitgestimmt.Ich freue mich darüber. Ich bedauere nur ein bißchen, daß man Sie immer wieder daran erinnern muß.Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, mitgestimmt haben Sie im vergangenen Jahr auch beim Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Schwangeren- und Familienhilfegesetz. Und mitgestimmt haben Sie vor einigen Wochen auch beim Solidarpakt.
— Das finde ich ganz hervorragend, Frau Kollegin Hanewinckel. Sie haben dieses Gesetz vorrangig gemacht und wollen sich heute davon verabschieden, indem Sie dem Bund Verpflichtungen daraus zuweisen. Wir haben vor vier Wochen hier in diesem Hause den Solidarpakt — das FKP— verabschiedet. Damit ist sehr deutlich geworden, daß durch die Verteilung auch der Steuern die einzelnen Bundesländer ihre entsprechenden Zuweisungen erhalten haben.Das heißt aber nicht nur, daß sie die Finanzmittel bekommen und der Bund weiterhin für die Finanzierung z. B. der Kindergartenplätze zuständig ist, sondern das heißt natürlich auch, daß die Bundesländer ihren finanziellen Verpflichtungen nachkommen müssen.
Es kann nicht sein, daß Sie sich von Aufgaben, die vom Grundgesetz für die Bundesländer vorgeschrieben sind, jetzt plötzlich verabschieden wollen und der Bund die Finanzierung von Aufgaben übernehmen soll, die eindeutig von den Bundesländer zu übernehmen sind.Ich gestehe Ihnen zu, daß es ausgesprochen schwierig ist, zum 1. 1. 1996 diesen Rechtsanspruch zu verwirklichen. Deshalb haben wir immer wieder darüber diskutiert, daß man auch andere Modelle, z. B. die Tagesmütterbetreuung oder Kinderbetreuungseinrichtungen bei großen Firmen oder zusammen mit Pflegeeinrichtungen, installieren sollte. Ich sehe die Schwierigkeiten der Kommunen und der einzelnen Bundesländer durchaus. Aber ich meine, daß gerade durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai dieses Jahres eine ganz besondere Verpflichtung auch auf die Kommunen zugekommen ist. Wir können uns, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, aus dieser Verpflichtung nicht verabschieden. Ich lade Sie dazu ein, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, daß Sie sich zu dieser Verpflichtung bekennen.
Den Antrag auf einen verfassungsgemäßen und sozialgerechten Familienausgleich haben wir hier, wie gesagt, schon verschiedentlich diskutiert. Das ist mittlerweile ein alter Hut. Aber es bleibt dabei, daß das von Ihnen geforderte Kindergeld von 250 DM für jedes Kind zur Zeit nicht zu finanzieren ist. Sie unterscheiden sich dabei in sehr erfreulicher Weise von der PDS, die hier mit ganz abenteuerlichen finanziellen Forderungen gekommen ist.
Wenn man das jetzt unterscheidet, sind natürlich Ihre Forderungen noch recht bescheiden. Nur, sie sind momentan nicht zu verwirklichen.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Höll? — Bitte.
Nein, ich verkaufe Ihnen jetzt nicht den Jäger 90; das ist Ihre Aufgabe. Wir sind auch gegen die Verschwendung von Mitteln für angeblich humanitäre Ausgaben im Ausland.Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, daß nach seriösen Angaben die jährlichen Steuerhinterziehungen zwischen 120 und 150 Milliarden DM betragen? Ist Ihnen auch bekannt, daß ich z. B. eine Reihe von Anfragen gemacht habe, was die Bundesregierung hinsichtlich der Steuerbeamten zu tun gedenkt, wie sie durch weitere Ausbildung von Steuerbeamten und die Verhinderung des Abzugs von Steuerbeamten in die freie Wirtschaft auf diesem Gebiet tätig werden will.Wie gedenken Sie vielleicht einmal diese Summe zur Kenntnis zu nehmen und mit heranzuziehen? Dann hätten wir immer noch einen Spielraum von
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14278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Barbara Höll40 Milliarden DM gegenüber der Zahl, die ich für das Kindergeld genannt habe, wofür wir 81 Milliarden DM brauchen.
Liebe Frau Kollegin Dr. Höll, ich bin vorhin vom Kollegen Habermann ein wenig gerügt worden, daß wir Mißbräuche in allen Bereichennicht nur in der Sozialgesetzgebung, sondern in allen Bereichen und ganz besonders im Steuerrecht — sehr verschärft verfolgen wollen, ihnen nachgehen wollen,
und daß wir diese Mittel, die sich aus den Mißbräuchen ergeben, dann natürlich an anderer Stelle brauchen. Ich wäre jedem dankbar, wenn er weitere Mißbräuche aufdeckte und dies sehr deutlich nach außen sagte, damit man da nicht so sehr allein ist; denn es macht auch nicht nur Freude, permanent gescholten zu werden, weil man Möglichkeiten des Mißbrauchs entdeckt hat, die sich zu Zeiten voller Kassen eingeschlichen haben und dann auf allen Ebenen immer wieder toleriert worden sind.
Ich würde mir wünschen, daß wir uns alle in Zeiten knappen Geldes uns darüber Gedanken machen, egal auf welcher staatlichen, privaten oder wirtschaftlichen Ebene Leute die Solidargemeinschaft ausnutzen.
Ich lade Sie alle dazu ein, diese Mißbräuche tatsächlich dann mit aufzudecken.
Ich hätte mich gefreut, wenn der Kollege Struck noch im Saal gewesen wäre. Er hatte in den vergangenen Tagen versucht, einen konstruktiven Vorschlag zu machen.
— Das habe ich mir gedacht.
Herr Kollege Struck wollte das Kindergeld vom Einkommen abhängig machen und es eigentlich schon ganz streichen. Ich wollte ihn heute nur darauf aufmerksam machen, daß wir nun zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus Mai und Juni 1990 haben, und diese Urteile besagen eindeutig, daß die Sicherstellung des Existenzminimums durch die steuerliche Freistellung und ein Kindergeld von mindestens 70 Mark erfolgen kann. Indem ich sage „kann", weise ich darauf hin, daß auch das Bundesverfassungsgericht sehr eindeutig gesagt hat, daß es demGesetzgeber freisteht, welchen Weg er wählt. Das wollte ich dem Kollegen Struck heute abend gern noch einmal auch von dieser Stelle aus sagen;
aber ich kann es auch noch einmal in einem privaten Gespräch tun.Da ich schon über den dualen Weg gesprochen habe, will ich mich auch noch einmal sehr deutlich dazu bekennen: Auch in Zukunft werden wir am dualen Familienlastenausgleich festhalten,
nämlich am Kinderfreibetrag, momentan 4 104 DM, und am Kindergeld.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unabhängig von momentanen aktuellen Haushaltszwängen weiterhin unser erklärtes Ziel, mittelfristig auch den dualen Familienlastenausgleich fortzuentwickeln. — Ich begrüße den Kollegen Struck; Sie werden ihm das Gesagte sicher nachher mitteilen.
— Dazu kann ich Ihnen, Herr Kollege Habermann, gern noch etwas sagen. Ich empfinde es als unwürdig, wenn man Erziehungsgeld mit Gebärprämien vergleicht. Dieses Wort, meine ich, sollte man nicht wählen; denn wer sich mit der Materie tief befaßt und weiß, wie Erziehungsgeld gerade jungen Frauen, jungen Müttern, jungen Familien hilft, der sieht, daß es notwendig ist, daß dieses Erziehungsgeld auch in seiner vollen Höhe erhalten bleibt. Deshalb habe ich seinerzeit auch so darum gekämpft, daß es dort keine Abstriche gibt, und wir haben, wie Sie bitte spätestens heute zur Kenntnis nehmen müssen bei diesem Kampf gewonnen. Es gab keinen Abstrich beim Erziehungsgeld.
Aber lassen Sie mich bitte zum Abschluß sagen, und ich wiederhole es gern noch einmal: Wir sind momentan in Haushaltszwängen, aber wir wollen unabhängig von diesen Haushaltszwängen bei der mittelfristigen Fortentwicklung des dualen Familienlastenausgleichs darauf Wert legen, daß die Förderung den Familien zugute kommt, die viele Kinder haben, und je niedriger das Einkommen und je höher die Kinderzahl ist, desto stärker muß die Förderung auch durch die Finanzierung der Bundesregierung geschehen. Es ist unser erklärtes Ziel, daß die steuerliche Freistellung des Existenzminimums komplett erfolgt; denn ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die eigentlichen Leistungen des Staates erst nach der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums erfolgen. Ich würde mir wünschen, daß wir dann bedarfsgerecht das Kindergeld so schnell wie möglich gestalten können.Wir brauchen allerdings dazu auch Ihre Vernunft und Ihre Hilfe, denn in Zeiten, in denen die Kassen leer sind, ist natürlich auch die Sozialpolitik gefordert,
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Bundesministerin Hannelore Rönschdort, wo sich vielleicht Mißbräuche eingeschlichen haben, Einsparungen vorzunehmen, damit man denen, die tatsächlich Hilfe und Unterstützung vom Staat brauchen, diese entsprechend gewähren kann.
Ich erteile unserer Frau Kollegin Hildegard Wester das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Zitat:Der Staat genügt seiner Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen menschlichen Leben nicht allein dadurch, daß er Angriffen wehrt, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muß auch denjenigen Gefahren engegentreten, die für dieses Leben in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen der Frau und der Familie begründet liegen und der Bereitschaft zum Austragen des Kindes entgegenwirken.
Dieses Zitat aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Familien- und Schwangerenhilfegesetz zeigt deutlich den großen Stellenwert des Maßnahmeteils dieses Gesetzes. Es verdeutlicht aber auch, welche Verantwortung die Frauen- und Familienpolitik bei der Gestaltung einer Gesellschaft, die das Ja zum Kind ermöglicht, trägt.Die Richter führen weiter aus, der Schutz des ungeborenen Lebens verpflichte den Staat und den Gesetzgeber, Grundlagen dafür zu schaffen, daß Familien- und Erwerbstätigkeit vereinbar seien.Das macht das deutlich, daß es allerhöchste Zeit ist, unseren heute vorliegenden Antrag zu verabschieden und damit zu gewährleisten, daß durch eine gerechte Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern das Recht auf einen Kindergartenplatz realisiert werden kann.
Hier können die Bundesregierung und mit ihr die Familienministerin deutlich machen, wie ernst es ihnen mit der Schaffung einer kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft ist.
Die Förderung einer solchen wird von den Verfassungsrichtern ebenfalls dem Staat abverlangt.
Häufig genannte Ursache für den Wunsch nach einem Schwangerschaftsabbruch ist nämlich die subjektiv empfundene und tatsächlich für einzelne Frauen existierende Unmöglichkeit, Erziehung des Kindes und Erwerbstätigkeit — und damit wird häufig auch der Lebensunterhalt abgedeckt — zu vereinbaren. Es ist nicht immer ein Mann da, der dazuverdient.Auch die Leistungen im Rahmen des Familienlastenausgleichs, insbesondere das Erziehungsgeld, zählen zu den Maßnahmen des Staates, die geeignet sind, Familien einen Rahmen zu ermöglichen, in dem Kinder leben können.Es folgt ein weiteres Zitat:Die Bedeutung solcher Leistungen als Maßnahmen präventiven Lebensschutzes hat der Gesetzgeber in Rechnung zu stellen, wenn es erforderlich wird, staatliche Leistungen im Hinblick auf knappe Mittel zu überprüfen.Ausgerüstet mit diesem weiteren Zitat, Frau Rönsch, aus dem Verfassungsgerichtsurteil, müßte es Ihnen möglich sein, jedem weiteren Versuch der Minister Waigel und Rexrodt, im Familienetat zu wildern, erfolgreich Widerstand zu leisten.
Statt dessen erleben wir zum wiederholten Male, daß Sie schweigend hinnehmen, daß da geknapst und abkassiert werden soll, wo gesellschaftlich unverzichtbare Aufgaben geleistet werden und wo sowieso die Belastungen am höchsten sind, nämlich bei Lebensgemeinschaften mit Kindern, bei Familien.
— Ich werde Ihnen das an einigen Beispielen deutlich machen. Die Leistungen für Familien wie das Erziehungsgeld und das Kindergeld werden von Herrn Rexrodt als „staatliche Geburtsprämie" bezeichnet. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß ich außer heute bis jetzt von der Frau Ministerin in der Öffentlichkeit keine Gegendarstellung dazu gehört habe.Es ist erstens eine unglaubliche Ahnungslosigkeit, wenn Herr Rexrodt glaubt, diese Leistungen seien in ihrer Höhe und sonstigen Wirkungsweise geeignet, einen Kinderwunsch zu realisieren; denn nach wie vor klafft eine große Lücke zwischen dem geäußerten Kinderwunsch und dem realisierten.Von der Entwicklung in den neuen Ländern will ich gar nicht reden; Sie wissen, daß hier ein erheblicher Rückgang bei den Geburtenzahlen zu verzeichnen ist.Zweitens ist es eine ebenso schlimme Schnodderigkeit im Umgang mit Familien und ihrem Recht auf einen Lastenausgleich. Wie müssen sich die Familien fühlen, die tagtäglich an ihrem Portemonnaie spüren, daß sie durch die Entscheidung zu Kindern einen größeren Teil der Lasten in unserer Gesellschaft tragen als die, die ohne Kinder leben, wenn sie so etwas zu Ohren bekommen?
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Hildegard WesterFamilienlastenausgleich ist keine Sozialleistung, sondern ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht.
Das Existenzminimum eines jeden Kindes ist sicherzustellen.
Derzeit ist selbst dies nicht gewährleistet. Das haben wir heute bereits verschiedentlich gehört; ich weise noch einmal darauf hin. Augenblicklich werden 517 DM monatlich steuerlich freigestellt. Dem steht aber ein Existenzminimum von ca. 600 DM gegenüber. Auf diese Art und Weise tragen die Familien neben ihrer sonstigen Belastung schon seit Jahren dazu bei, den Haushalt zu sanieren.Wir fordern daher die Bundesregierung auf, umgehend einen Bericht über die Höhe von Existenzminima von Kindern und Familien vorzulegen. Es muß möglich sein, an Hand von eigenen Zahlen zustehende Leistungen zu überprüfen. Darüber hinaus müssen diese Berichte jährlich aktualisiert werden, damit nicht Leistungen der Preisentwicklung jahrelang hinterherhinken, wie z. B. beim Erziehungsgeld. Genau da ist der Einspareffekt; das ist letzten Endes eine Kürzung.Hier mahnen wir schon seit Jahren eine Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten an. Seit 1986 hat sich die Einkommensgrenze für den Bezug des Erziehungsgeldes ab dem siebten Lebensmonat des Kindes nicht geändert. Sie liegt bei einer Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern bei 33 600 DM pro Jahr. Zum Vergleich: Bis zu einem jährlichen Einkommen von 32 137 DM hätte eine Familie in dieser Konstellation Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe. 1991 haben 76,5 % aller Eltern ungekürztes Erziehungsgeld bezogen, weil sie ein Einkommen unterhalb dieser Einkommensgrenze hatten.
In einer solchen Situation spricht Frau Ministerin Rönsch von einer gerechten Korrektur des Erziehungsgeldes, während sie im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms zustimmt, die Einkommen zur Feststellung der Berechtigung nicht mehr wie bisher aus dem vorvergangenen Kalenderjahr zugrunde zu legen, sondern die aktuellen heranzuziehen.Ein größerer Teil der Eltern wird gekürztes Erziehungsgeld erhalten. Hier liegt ja gerade der erwünschte Einspareffekt.
— Der eine Teil ist gerecht, aber der Teil, der die Gerechtigkeit komplett machen würde, fehlt, nämlich die Angleichung.Damit werden immer mehr Familien in die Nähe der Sozialhilfe rutschen. Diese Maßnahme bezeichnet Frau Rönsch als Korrektur. Eine Korrektur wäre gewe- sen, die Leistung in ihrer Höhe an die tatsächlichen Preissteigerungen anzupassen und gleichzeitig den Berechnungszeitpunkt zu aktualisieren. Aber eine halbherzige Korrektur ist nicht nur gar keine Korrektur, sondern sie ist eine Verschlechterung und eine Ungerechtigkeit.
Das gleiche Verfahren hat sich der Finanzminister für den Bezug von Kindergeld für das zweite Kind vorgestellt. Auch hier gilt: Wenn man solche Korrekturen an einem System vornimmt, bevor es richtig und gerecht greift, trägt man zur Verunsicherung und Schlechterstellung der Betroffenen bei.
Wie soll ein Kindergeldbezieher begreifen, daß man ihm etwas wegkürzen will, wenn er auf der anderen Seite hört, daß ihm das Existenzminimum für seine Familie steuerlich immer noch nicht freigestellt ist?
Um so notwendiger brauchen wir verläßliche Angaben zum Existenzminimum. Wir müssen endlich verbindlich wissen, von welchen Zahlen wir reden und wie die Lasten der Familien für die Sicherung des Existenzminimiums aussehen. Erst dies ermöglicht eine gerechte Entlastung von Familien.Wir fordern Sie auf, endlich etwas dazu beizutragen, indem Sie unserem Antrag zustimmen.Ich danke Ihnen.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nunmehr unsere Frau Kollegin Dr. Sissy Geiger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 25. Juni 1992 beschloß der Deutsche Bundestag im Schwangeren- und Familienhilfegesetz den Rechtsanspruch von Frauen auf einen Kindergartenplatz für alle Kinder ab drei Jahren mit den Stimmen aller Fraktionen.
— Da war ich noch nicht hier, Frau Kollegin.Diese Entscheidung war überfällig. Kinder brauchen den Umgang mit Gleichaltrigen. Das gehört zur sozialen Erziehung. Hier werden entscheidend die sozialen Fähigkeiten geprägt; denn Einzelkinder, die in den heute üblichen Kleinfamilien aufwachsen, haben oft nicht die Spiel- und Erfahrungsräume in unmittelbarer Umgebung.Andererseits: Durch die Entwicklung unserer Bevölkerung ergibt sich, daß immer mehr junge Frauen beides haben wollen, Kinder und Beruf. Außerdem entscheiden sich immer mehr Paare zu nur einem Kind, höchstens zwei Kindern; denn nach wie vor wird von den Frauen erwartet, auch wenn sie voll
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14281
Dr. Sissy Geiger
erwerbstätig sind, daß sie Haushaltsführung und Kindererziehung zusätzlich leisten.
Freilich werden Frauen so gut wie gar nicht von den männlichen Partnern bei dieser Haushalts- und Erziehungsleistung unterstützt. Viele Frauen, die arbeiten müssen, sind daher auf einen Kindergartenpatz angewiesen.Für die SPD wie die übrigen Initiatoren des Gruppenantrags ist die Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Zusammenhang mit der Neuregelung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs überdies eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit. Er ist nämlich wesentlicher Bestandteil der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen, die überhaupt erst den weitgehenden Verzicht auf das Strafrecht zu rechtfertigen vermögen.
Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist in Art. 5 — Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes — des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes vom 27. Juli 1992 geregelt. Nach § 24 SGB VIII hat ein Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter sind nach Bedarf Plätze in Tageseinrichtungen und, soweit für das Wohl des Kindes erforderlich, Tagespflegeplätze vorzuhalten. Der Rechtsanspruch tritt nach Art. 10 des Kinder-und Jugendhilfegesetzes am 1. Januar 1996 in Kraft.Von den Initiatoren des Gesetzentwurfs ist die Verwirklichung des Anspruchs bis spätestens zu diesem Zeitpunkt als Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes bezeichnet worden. In der Zwischenzeit richtet sich der Anspruch nach dem aktuellen Stand der Kindergarten- bzw. Tagesbetreuungsgesetze der Länder.Die Bundesländer haben dem Gesetz im Bundesrat bei nur einer Gegenstimme zugestimmt.
— Dreimal dürfen Sie raten.
Der Bundesrat war sich dabei über die durch die sozialen Begleitmaßnahmen entstehenden erheblichen Kosten für Länder und Gemeinden im klaren. Jedoch wurden finanzpolitische Bedenken im Hinblick auf die rechtspolitisch gewünschte strafpolitische Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zurückgestellt.Die Vorstellungen der SPD zur Kinderbetreuung gingen ursprünglich noch über die letztlich getroffene Regelung hinaus. Der SPD-Entwurf eines Schwangeren- und Familienhilfegesetzes enthielt einen altersunabhängigen Rechtsanspruch des Kindes auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Eine Übergangsfrist war nicht vorgesehen. Ganz Ähnliches galt auch noch für den Gruppenantrag in seiner ursprünglichen Fassung.Demgegenüber war im Gesetzentwurf der CDU/ CSU-Fraktion der Betreuungsanspruch des Kindes außerhalb von Kindergärten auf Fälle beschränkt, in denen die Betreuung durch die Familie nicht gewährleistet ist. Wir brauchen aber dringend zunächst Kindergartenplätze für diese Fälle, in denen die Betreuung durch die Familie nicht gegeben ist.
Es muß bei der Verwirklichung dieser Kindergartenplätze aber doch nicht immer der deutsche Perfektionismus Maßstab sein.
Die Berechnungen der enormen Investitionskosten von 40 Milliarden DM kommen auch deshalb zustande, weil ganz seriöse Beamte nach seriösen geltenden Bestimmungen und seriösen statistischen Angaben eine Planung nach den voraussichtlichen demographischen Entwicklungen angestellt haben. Sie haben ideale Bedingungen zugrunde gelegt, was die Ausstattung in räumlicher, sächlicher und personeller Hinsicht bedeutet.
Aus diesem Grund — weil es zu teuer ist, wenn alles perfekt sein muß — sind z. B. die Richtlinien für Kindertagesstätten in Hessen von 1979 noch immer nicht verabschiedet worden, weil man nämlich ein Kindergartengesetz immer noch nicht verwirklicht hat. Auch im Bundesjugendministerium beschäftigt man sich inzwischen mit der Frage, ob die Richtlinien der Länder für den Bau und die Ausstattung von Kindergarten wirklich in allen Punkten erforderlich sind, um das Wohlbefinden der Kinder in den Einrichtungen zu gewährleisten. Schließlich muß man nicht immer Architektenpreise einheimsen, wenn man einen Kindergarten entwerfen will.
Es kann einfach nicht sein, daß ein Kindergarten mit vier Gruppen 2 Millionen DM, ein Kindergarten mit sechs Gruppen 4 Millionen DM kosten muß. Es gibt auch andere Beispiele, die als Notlösungen entwickelt wurden und hervorragend funktionieren, z. B. Pavillons, die nicht mehr gebraucht worden sind, oder Garagenfertigteile als Kindergärten umzufunktionieren. Mit viel Überredungskunst kann man auch Betriebe dazu gewinnen, mit der Gemeinde zusammen Kindergärten oder Pools einzurichten. Man kann klein anfangen. Man kann auch die Privatinitiative unterstützen. Man kann außerdem auch verlangen, daß gut verdienende Eltern oder auch gut verdienende alleinerziehende Mütter für den Kindergartenplatz etwas bezahlen.
— Doch, das gibt es auch! Ich habe in Darmstadt genügend Beispiele dafür.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß, indem ich noch anmerke: Wenn sich die Eltern, besonders aber die Väter stärker um ihre Kinder kümmern würden, dann würde so mancher Betreu-
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14282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Dr. Sissy Geiger
ungsfall nicht der Allgemeinheit übertragen werden müssen.
Liebe Frau Kollegin Dr. Geiger, Sie haben Ihre Redezeit um zwei Minuten überzogen. Ich sage das nur deswegen: Selbst wenn hier jemand neu ist, dann muß er wissen, daß er sich ungefähr an die Regeln halten muß.
Wir sind am Ende der Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/4128, 12/4653 und 12/4127 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu überweisen. Beim Antrag der SPD für einen verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienlastenausgleich soll die Federführung beim Ausschuß für Familie und Senioren liegen. Der Antrag der Fraktion der SPD zu einem Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien soll, abweichend vom Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung, dem Finanzausschuß zur federführenden Beratung überwiesen werden. Dies ist interfraktionell inzwischen so vereinbart. Sind Sie alle damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beibehaltung der Mitbestimmung beim Austausch von Anteilen und der Einbringung von Unternehmensteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften betreffen
— Drucksache 12/4532 —Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Hans Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten bringen heute einen Gesetzentwurf zur Mitbestimmungsbeibehaltung ein. Dieses ist notwendig, weil der Entwurf der Koalitionsfraktionen, der mit dem, den wir heute einbringen, wortgleich ist, bisher leider nicht weiterverfolgt worden ist.Wir beziehen uns insbesondere darauf, daß in diesem Hause Klarheit geherrscht hat, daß sich im Zuge des europäischen Binnenmarktes Einbußen in der Mitbestimmungssubstanz, die wir in der Bundesrepublik Deutschland kennen, nicht vollziehen sollten; denn in der Zwischenzeit ist mit dem Binnenmarkt eine Reihe von steuerrechtlichen Vorschriften erlassen worden, die es ermöglichen, die Konzentration wirtschaftlichen Geschehens durch Übertragung und Spaltung von Unternehmen, Übertragung von Belegschaftsmitgliedern auf entsprechende Gesellschaften im europäischen, d. h. sozusagen im EG-Ausland, aber im Binnenmarkt mit der Folge vorzunehmen, daß wir aus den Mitbestimmungsregeln, die wir selber geschaffen haben, herausfallen.Dieses wollen wir nicht.
Dies, meine ich, wollen Sie auch nicht; denn das haben Sie ja mit Ihrem eigenen Antrag ziemlich klar dokumentiert.
Ich verweise darauf, daß wir am 8. November 1991 eine Entschließung verabschiedet haben. Der Bundestag hat seinerzeit gesagt, daß es bei den Regelungen, die im Rahmen der steuerlichen Harmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft notwendig sind, nicht zu einer Schmälerung der Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmern kommen darf. Es ist die Auffassung des Hauses, daß die Erhaltung der Mitbestimmungsrechte besser und wirksamer in einer Mitbestimmungsregelung, also Mitbestimmungsrecht, geklärt werden soll. Daher hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, entsprechende Gesetzesinitiativen vorzulegen, um bei der Umsetzung der EG-Fusionsrichtlinie eine effektive Sicherung der Mitbestimmungsrechte auch durchzusetzen.Dieses haben Sie bis zum Entwurf gemacht. Wir haben es im Bundestag und in den Ausschüssen angemahnt. Warum verfolgen Sie Ihren Entwurf eigentlich nicht weiter?
Soll die Mitbestimmung ausgehöhlt werden? Ist es so, daß die CDU/CSU durch die F.D.P. bedrängt wird, diesen Kurs der Demontage der Mitbestimmungsrechte zu verfolgen? Dieses wäre nicht nur unredlich, bezogen auf die Entschließung, sondern stößt auf den erbitterten Widerstand der Sozialdemokraten. Darüber müssen wir uns klar sein.
Wir müssen Sie daher auffordern, den Ausgangspunkt des Gesetzentwurfes, was die Entschließung des Deutschen Bundestages angeht, ernst zu nehmen und den mitbestimmungsrechtlichen Ansatz nun auch tatsächlich zu realisieren. Denn es kann doch nicht richtig sein, wenn Unternehmen, die entsprechende Dispositionen im europäischen Binnenmarkt vornehmen, dadurch steuerliche Entlastungen erfahren und gleichzeitig dabei auch noch die Mitbestimmung kappen. Dies wäre ja wohl ein Holm auf die deutsche Mitbestimmungsregelung.
Aus diesem Grunde ist es notwendig, daß wir jetzt sehr schnell zu einer Übereinstimmung kommen, daß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14283
Hans-Eberhard Urbaniakwir den Text noch einmal gründlich im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beraten, d. h. den Konsens finden, den wir seinerzeit mit der Entschließung schon gefunden haben; denn man muß ja auch in dieser Frage glaubwürdig bleiben. Soweit ich das sehe, haben die F.D.P.-Kolleginnen und -Kollegen dem Betriebsverfassungsgesetz mit dem Mitbestimmungsteil, der dort installiert ist, aber auch der 76er Mitbestimmung ihre Zustimmung gegeben.
Darum kann ich gar nicht begreifen, warum man hier nicht auf die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages zurückkommt und sich in den seinerzeitigen Beschluß eingebunden fühlt.
Am 18. Januar 1989 haben wir dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf „Europäischer Binnenmarkt und soziale Demokratie„ vorgelegt. Wir haben damals schon darauf aufmerksam gemacht, was es bedeutet, wenn dieser Binnenmarkt kommt und der Sozialraum nicht konkret ausgestaltet wird. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, daß unbedingt Initiativen notwendig sind. Wir haben mit Interesse verfolgt, daß die EG-Kommission vor allen Dingen auf dem Feld der europäischen Aktiengesellschaft Maßstäbe setzen wollte. Aber dies geht in Brüssel einfach nicht weiter.Man kann der einseitigen wirtschaftlichen Konzentration nicht das Wort reden. Man braucht eine Begleitung von Arbeitnehmerrechten in der Europäischen Gemeinschaft. Wir müssen unseren Mitbestimmungsstatus in der Bundesrepublik Deutschland auf jeden Fall erhalten, meine Damen und Herren.
Dabei haben wir, wie gesagt, am 18. Januar 1989 auf diese Tatbestände schon hingewiesen. Wir haben die möglichen Modelle, die uns aus der europäischen Debatte bekannt sind, herausgearbeitet. Wir haben auch vor der Gründung einer europäischen Aktiengesellschaft einen Konsens über die Arbeitnehmermitbestimmung zwischen den Konzernleitungen, den Unternehmungen und den vertretenden Arbeitnehmerorganisationen angemahnt. Wir haben mit unserem Antrag den Status der europäischen Aktiengesellschaft sehr stark herausgestellt. Die bestehenden nationalen Arbeitnehmerrechte, die Tariffähigkeit der europäischen Aktiengesellschaft sollten auf jeden Fall im Gesetz verankert werden. Schließlich sollten die Arbeitnehmerorganisationen auf nationaler und europäischer Basis selbstverständlich alle diese Dinge in einem vernünftigen Konsens miteinander beraten und weiter voranbringen.Heute warten wir sogar, obwohl sich die Konzentration ja mit einer Schnelligkeit vollzieht, die wir damals schon eingeschätzt haben, nicht einmal auf den europäischen Betriebsrat; wir kennen die Konzentrationsbewegung der Gesellschaften, die Arbeitsteilung, die wir ja auch gar nicht in Frage stellen. Aber wo ist da die Informationspflicht? Wo ist da die Mitwirkung der Betriebsräte, der Gewerkschaften, der Belegschaften überhaupt? Hier hat man auf dem Felde des Zusammenschlusses, des Zusammenwachsens der Europäischen Gemeinschaft — das sage ich Ihnen ganz offen — versagt, und die Bundesregierung hat ihren Anteil daran. Ich muß dies leider feststellen, meine Damen und Herren.Ich bitte daher, daß wir mit der Beratung dieses Gesetzesvorhabens nun sehr bald zum Abschluß kommen, damit hier ein Gleichklang der Einflußmöglichkeiten zumindest versucht wird. Denn darüber müssen wir uns klar sein: Belegschaften zu erklären, daß sie aus der Mitbestimmung fallen oder in eine ungünstigere Lage kommen, weil Konstruktionen im Rahmen der Fusionsrichtlinie in der Europäischen Gemeinschaft dieses auslösen, ist schwer. Das wird man in den Betrieben und Unternehmungen nicht verstehen, zumal wir traditionell unsere Zusammenarbeit in den Unternehmen auch auf das Zusammenwirken abgestellt haben. Dieses Zusammenwirken in den entsprechenden Institutionen hat sich wohl in der Bundesrepublik Deutschland hervorragend bewährt.Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben also auch heute die Frage zu beantworten: Wollen sie den Erhalt des Status an Mitbestimmung, wie wir das im Deutschen Bundestag über Jahre debattiert und auch erreicht haben? Die Vorstellungen der SPD gehen natürlich viel weiter, was die paritätische Mitbestimmung angeht. Aber hier geht es heute um das Beibehaltungsgesetz. Sie sind aufgefordert, mit uns gemeinsam diese so bitter notwendige Regelung jetzt zum Abschluß zu bringen, im Sinne eines friedlichen Konsenses, der sich beim Zusammenwachsen in der Europäischen Gemeinschaft zwischen Unternehmens- und Konzernleitungen, den Betriebsräten und den Gewerkschaften vollziehen soll.Wir bleiben bei der Entschließung und wollen dieses Beibehaltungsgesetz. Es ist notwendig, daß wir das erfüllen, was wir im Bundestag selber gemeinsam beschlossen haben.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, unser nächster Redner ist der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich brauche den Gesetzentwurf der SPD vom 10. März 1993 nicht mehr zu erläutern. Das haben wir bereits am 24. September 1992 gemacht. Damals haben wir unseren Gesetzentwurf vorgelegt. Der Kollege Hörsken hat ihn erläutert, so daß ich das in der Sache gar nicht mehr zu erklären brauche.Zur Mitbestimmung brauche ich auch keine so ausführlichen Erklärungen wie Kollege Urbaniak abzugeben, weil unter einer Unions- geführten Regierung Mitbestimmung noch nie abgebaut worden ist. Daher möchte ich mich auf die Geschichte des Vor-
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Heribert Scharrenbroichgangs, mit dem wir uns heute zu beschäftigen haben, konzentrieren.Ich verstehe das Unternehmen, das die SPD mit diesem Gesetzentwurf gestartet hat, so: Wir sind uns einig, daß die Richtlinie des Rates vom 23. Juli 1990, die vom damaligen Außenminister, Herrn Hans-Dietrich Genscher, ehemaliger Vorsitzender der F.D.P., eingebracht worden ist, auch in Deutschland Gesetz werden soll. Das wollen wir machen.Ich verstehe das Unternehmen der SPD so — darin sind wir uns auch einig —, daß die Beschlüsse des Bundestages zu respektieren sind und daß sie in einem angemessenen Zeitraum umzusetzen sind. Ich beziehe mich damit auf die Entschließung vom 8. November 1991. Diese Entschließung ist einstimmig gefaßt worden. Daß sie, nach der dieses Gesetz jetzt zu verabschieden ist, uns sehr wichtig ist, geht daraus hervor, daß beide Gesetzentwürfe, der Koalitionsgesetzentwurf wie der SPD-Gesetzentwurf, diese Entschließung in der Begründung in vollem Wortlaut abdrucken.Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß die Koalitionsfraktionen beim Entwurf für das Steueränderungsgesetz 1992 lediglich aus rechtssystematischen Gründen diese Sicherung der Mitbestimmung herausgeholt haben. Ich möchte noch einmal unsere Position mit den Worten des Kollegen Faltlhauser darlegen, der in jener Zeit finanzpolitischer Sprecher war und heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender ist. Er sagte — ich zitiere aus dem Protokoll —:Die Kollegen der Koalition im Finanzausschuß waren übereinstimmend der Auffassung, daß dieses Gesetz— gemeint war das Steueränderungsgesetz —und das Steuerrecht überhaupt unter dem Gesichtspunkt der Systematik nicht der richtige Ort, nicht der richtige Rahmen sind, Mitbestimmungsregelungen aufrechtzuerhalten. Aber wir waren uns in dem Ziel völlig einig: Die Mitbestimmungsregelungen sollten unbedingt erhalten bleiben. Sie sind eine große deutsche Errungenschaft, die wir nicht schwächen und dem Binnenmarkt nicht opfern wollen.Genau darum geht es.Aus der Entschließung möchte ich noch den zweiten Satz zitieren, der lautet, einstimmig verabschiedet:Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, daß die Erhaltung der Mitbestimmungsrechte besser und wirksamer im Mitbestimmungsrecht selbst geregelt werden kann.Der Kollege Faltlhauser hat diesen Satz auch noch einmal vorgelesen. Danach heißt es im Protokoll: „Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.".
— Ich freue mich, daß die F.D.P. dies bestätigt. Damit ist die Gefechtslage klar, daß wir das jetzt im Ausschuß bald behandeln und verabschieden.Ich habe volles Verständnis dafür, daß die SPD unseren Gesetzentwurf wortgetreu einbringt, und zwar einmal, weil er gut ist, aber auch, um — das ist deutlich geworden — den Druck für die Beratung zu erzeugen.Ich stelle aber auch mit Interesse fest, daß die SPD Abs. 2 unseres § 2 wortwörtlich übernimmt.
Es ist schon erstaunlich, so etwas in einem Oppositionstext zu lesen. Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß das, was der Koalitionsentwurf — zu dem ich natürlich stehe — und jetzt auch der Entwurf der SPD vorsieht, weniger ist als das, was die Koalitionsfraktionen in Art. 14 Nr. 3 ihres Entwurfes für das Steueränderungsgesetz vorgesehen hatten.
— Wenn Sie Gesetzentwürfe einbringen, dann haben Sie wohl auch die Absicht, daß sie verabschiedet werden.Nach den Gesetzentwürfen zur Mitbestimmungssicherung gilt die Mitbestimmung dann nicht mehr für Betriebe — wenn ich bei dem Beispiel des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 bleibe —, die weniger als 500 Beschäftigte haben. Ich finde es schon beachtlich, daß die SPD als Opposition so etwas übernimmt. Das wir uns mit der F.D.P. geeinigt haben, ist im Rahmen einer Koalition selbstverständlich. Herr Kollege Urbaniak, ich glaube, Betriebsräte haben in Ihrer Fraktion auch nicht mehr das Gewicht, wie das früher einmal war. Wie weit ist es mit dieser ehemaligen Arbeiterpartei gekommen, daß man so etwas einfach übernimmt?
Herr Kollege Scharrenbroich, nun möchte natürlich Herr Kollege Hans Büttner eine Zwischenfrage stellen.
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Scharrenbroich, darf ich aus Ihren Äußerungen schließen, daß die Sozialausschüsse in dieser Frage nicht mehr an Koalitionsabsprachen usw. gebunden sind und in der Lage gewesen wären, mit der SPD gegen Koalitionsvereinbarungen zu stimmen?
Lieber Kollege Büttner, ich habe, weil ich diese Zwischenfrage fast erwartet habe, eingefügt: In dem Koalitionsentwurf — zu dem ich selbstverständlich stehe —, heißt es — — Daß wir uns mit der F.D.P. in solchen Fragen, die übrigens auch relativ sinnvoll sind, einigen, gebe ich durchaus zu. Das ist selbstverständlich.Wir bleiben bei dem Koalitionsentwurf. Sie werden erleben, daß dieser Koalitionsentwurf Gesetz wird. Ich freue mich, daß dann auch Sie gegen diese Minderung der Mitbestimmung nicht zu Felde ziehen können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993 14285
Heribert ScharrenbroichLassen Sie mich mit folgender Feststellung schließen: Koalitionsfraktionen und SPD-Opposition haben gleichlautende Gesetzentwürfe eingebracht, wie die einmütig gefaßte Entschließung vom 8. November 1991 umgesetzt werden soll. Ich meine — und das ist mir sehr ernst —, was die übergroße Mehrheit des Deutschen Bundestages will, ist also jetzt eindeutig schwarz auf weiß aus-, ab- und nachgedruckt. Der Respekt vor dieser übergroßen Mehrheit, der Respekt vor der einmütig gefaßten Entschließung des Hohen Hauses vom 8. November 1991 läßt nicht zu, daß die Umsetzung von Beschlüssen weiter verzögert wird. Deswegen glaube ich, daß es an der Zeit ist, die Gesetzentwürfe zügig zu beraten und den Willen des Parlaments zu respektieren.Danke schön.
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort unserer Kollegin Frau Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein feines Stück Oppositionskunst haben Sie sich diesmal einfallen lassen.
Jedenfalls weist die heutige Debatte über den SPD-Entwurf eines Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes zwei Neuerungen auf. Zum einen ist der Entwurf handwerklich sehr gut gelungen — beinahe wie aus dem Formularhandbuch zur Erarbeitung eines Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetzes. Zum anderen kann ich ausnahmsweise einmal einen Gesetzentwurf der SPD wenigstens ein bißchen loben, weil er auch inhaltlich mit den Vorstellungen der Koalition sehr gut übereinstimmt.
Es geht darum, die EG-Fusionsrichtlinie so umzusetzen, daß es nicht zu einem Abbau von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer kommt. Fusionen, Spaltungen oder der Austausch von Gesellschaftsanteilen über die Grenze der EG-Mitgliedstaaten hinweg sollen Mitbestimmungsrechte nicht schmälern. Das Montan-Mitbestimmungsgesetz, das Mitbestimmungsgesetz und das Betriebsverfassungsgesetz schreiben die Rechte, aber damit zugleich auch die Pflichten und die Verantwortung der Arbeitnehmer fest. Dies soll aufrechterhalten werden.
Die Koalition hat sich daher dafür entschieden, die steuerliche Begünstigung von Unternehmen davon abhängig zu machen, daß es auch bei der Übertragung von Betriebs- oder Anteilsteilen über Ländergrenzen hinweg bei der Aufrechterhaltung des Mitbestimmungsstatus bleibt. Dem Unternehmen wird also ein Wahlrecht eingeräumt. Es steht ihm frei, die steuerlichen Erleichterungen in Anspruch zu nehmen und sich den Mitbestimmungsregelungen weithin zu unterwerfen.
Die unternehmerische Entscheidung kann aber auch dahin gehen, steuerliche Vorteile auszuschlagen und sich den Mitbestimmungsrechten damit zu entziehen. So weit, so gut, und so ist es in dem Entwurf von CDU/CSU und F.D.P. geplant. Jetzt hat sich ja auch die SPD angeschlossen.
Ich will aber doch hinzufügen — es ist kein Geheimnis — daß dieses Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz nicht gerade ein Lieblingskind der F.D.P. ist; denn schließlich handelt es sich nicht nur um die Beibehaltung, sondern es handelt sich auch um die Ausdehnung von Mitbestinunungsrechten, dann nämlich, wenn die Restbetriebe mit einer kleineren Belegschaft die Mitbestimmungsregelungen für die größere Betriebseinheit beibehalten.
Wir sehen also bei der Verabschiedung auch den Zusammenhang mit einem anderen Gesetz. Ich spreche — das ist auch am 24. September 1992 angesprochen worden — von der kleinen Aktiengesellschaft, die wir zur Deregulierung des Aktienrechts dringend brauchen und deren Schaffung wir in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben. Stichtag war der 1. Januar 1993.
Ich fordere die Bundesregierung daher auf — sie weiß schon, wen ich dabei im Auge habe —, nicht länger zu zögern und einen abgestimmten Gesetzentwurf einzubringen.
Hinauszögern und Tatenlosigkeit werden uns hier mit Sicherheit nicht weiterbringen. Den SPD-Antrag wollen wir dann im Zusammenhang mit unserem Gesetzentwurf im Ausschuß beraten.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
— Herr Kollege Scharrenbroich, wenn Sie nach § 27 unserer Geschäftsordnung eine Kurzintervention machen wollen, dann ist das gestattet. Sie haben das Wort, bitte sehr.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lege Wert darauf, daß es nach unserer Auffassung kein Junktim zwischen der kleinen Aktienrechtsreform und diesem Mitbestimmungs-Beibehaltungsgesetz gibt. Es gibt eine einstimmig verabschiedete Erklärung des Deutschen Bundestages, und die ist zu respektieren.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/4532 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es
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14286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 165. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Juni 1993
Vizepräsident Helmuth Beckerdazu noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Punkt 10a und b der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht
— Drucksache 12/4994 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußFinanzausschußAusschuß für Arbeit und SozialordnungHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verbesserung der Situation von Opfern beruflicher Verfolgung und Verwaltungsunrecht im Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz
— Drucksache 12/5219 — Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Nach den Mitteilungen, die mir zugegangen sind, wollen alle vorgesehenen Rednerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll geben.• ) Ich muß das aber bestätigen lassen. Sind alle damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/4994 und 12/5219 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 24. Juni 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.