Protokoll:
12163

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 163

  • date_rangeDatum: 17. Juni 1993

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:11 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/163 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 163. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13917A Nachträgliche Überweisungen von Gesetzesentwürfen an weitere Ausschüsse 13917 C Abwicklung der Tagesordnung 13918A Absetzung des Punktes 19 d von der Tagesordnung 13918A Zurückverweisung eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung an den Innenausschuß 13918A Bestimmung des Abgeordneten Dankward Buwitt als ordentliches Mitglied und des Abgeordneten Erwin Marschewski als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß 13992B Wahl des Abgeordneten Dr. Christian Neuling als Mitglied im Schuldenausschuß bei der Bundesschuldenverwaltung für den ausgeschiedenen Abgeordneten Adolf Roth (Gießen) 13992B Entsendung des Abgeordneten Ernst Hinsken für den ausgeschiedenen Abgeordneten Michael Glos in den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank 13999B Tagesordnungspunkt 4: Erklärung der Präsidentin des Deutschen Bundestages zum 17. Juni 1953 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 13918B Tagesordnungspunkt 5: Vereinbarte Debatte anläßlich des 40. Jahrestages des Aufstandes am 17. Juni 1953 und Beratung der dritten Beschlußempfehlung und des dritten Teilberichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes (Drucksachen 12/4500, 12/4832, 12/4970) Rainer Eppelmann CDU/CSU 13920B Markus Meckel SPD 13923 A Wolfgang Mischnick F.D.P. 13925B, 13930C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 13926B, 13930B Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 13927 C Steffen Heftmann, Staatsminister des Freistaates Sachsen 13928C Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13930D Dr. Dorothee Wilms CDU/CSU 13932A Dirk Hansen F.D.P. 13933 B Stephan Hilsberg SPD 13934 B Andrea Lederer PDS/Linke Liste 13935 C Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 13936C, 13942 B Hans-Dirk Bierling CDU/CSU 13937 B Dr. Christine Lucyga SPD 13939B Arno Schmidt (Dresden) F.D.P. 13941A, 13942D Ortwin Lowack fraktionslos 13943A Tagesordnungspunkt 6: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Hollerith, Arnulf Kriedner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jürgen Türk, Werner Zywietz und der Fraktion der F.D.P.: Altlasten des SED-Unrechtsregimes (Drucksache 12/5146) II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Hollerith, Arnulf Kriedner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jürgen Türk, Werner Zywietz und der Fraktion der F.D.P.: Klare Perspektiven für sanierungsfähige Treuhandunternehmen (Drucksache 12/5147) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Schwanhold, Christian Müller (Zittau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Exportkonzept für die neuen Bundesländer — Westmärkte erschließen — Osthandel überbrücken — Handelsentwicklungsgesellschaften einrichten (Drucksache 12/4270) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" für die neuen Bundesländer (Drucksache 12/4293) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Müller (Zittau), Volker Jung (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Industriegesellschaften in den neuen Bundesländern (Drucksache 12/4679) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Müller (Zittau), Hinrich Kuessner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Überbrückungs- und Modernisierungsdarlehen für Industrieunternehmen in den neuen Bundesländern (Drucksache 12/4680) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Dr. Sigrid SkarpelisSperk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: ERP-Pressekredit- und Modernisierungsprogramm für die neuen Länder (Drucksache 12/4857) h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland (Drucksache 12/4629) i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten aa) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Dr. Gerald Thalheim, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Struktur- und sozialverträgliche Verwertung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern durchführen bb) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen (Drucksachen 12/3476, 12/4103, 12/4641) j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verstärkte Berücksichtigung von ostdeutschen Betrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Drucksachen 12/737, 12/3416) k) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Werner Schulz (Berlin), Dr. Klaus-Dieter Feige, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Sanierung und Reorganisation des Treuhandvermögens (Treuhandgesetz) (Drucksachen 12/735, 12/4631, 12/4730) in Verbindung mit der Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kurswechsel bei der Treuhandanstalt und zu dem Antrag der Abgeordneten Arne Börnsen (Ritterhude), Helmut Esters, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Aufgaben der Treuhandanstalt (Drucksachen 12/2637, 12/726, 12/4631) 1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Gerd Andres, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gemeinschaftsinitiative Neue Länder (Drucksachen 12/2874, 12/4306) Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 13945B Ingrid Matthäus-Maier SPD 13947 A Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 13948 D Paul K. Friedhoff F.D.P. 13950 A Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 13952A Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 13954 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 13955 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 III Ingrid Matthäus-Maier SPD 13956B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 13957A Jan Oostergetelo SPD 13957 D Rolf Schwanitz SPD 13958D Rainer Haungs CDU/CSU 13960C Ernst Schwanhold SPD 13961A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 13963A Jürgen Türk F.D.P. 13964 A Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 13965 C Dr. Hermann Pohler CDU/CSU 13968A Christian Müller (Zittau) SPD 13969 A Josef Hollerith CDU/CSU 13971 B Hinrich Kuessner SPD 13972D Arnulf Kriedner CDU/CSU 13974A Dr. Konrad Elmer SPD 13975D Ulrich Petzold CDU/CSU 13976 A Wolfgang Weiermann SPD 13977 A Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz) CDU/CSU (zur GO) 13978D Dr. Gerhard Päselt CDU/CSU 13979B Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 13980 B Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Fragestunde — Drucksache 12/5104 vom 11. Juni 1993 — Auslaufen des Soltau-Lüneburg-Abkommens bis August 1994 MdlAnfr 4, 5 Klaus Harries CDU/CSU Antw StMin Helmut Schäfer AA 13982D, 13983 A ZusFr Klaus Harries CDU/CSU 13983 A Erhalt des deutschen Kunst- und Kulturbesitzes in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Nieder- und Oberschlesien MdlAnfr 6 Ortwin Lowack fraktionslos Antw StMin Helmut Schäfer AA 13983 C ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 13983 D ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 13984 B Zurückweisung des Antrags auf Zulassung von Deutsch als dritter Amtssprache im Europarat MdlAnfr 7 Ortwin Lowack fraktionslos Antw StMin Helmut Schäfer AA 13984 C ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 13984 D Auffassung von Lord Owen über eine friedliche Lösung für Bosnien; Haltung der Bundesregierung zum sogenannten Schutzzonen-Plan für Bosnien MdlAnfr 8, 9 Claus Jager CDU/CSU Antw StMin Helmut Schäfer AA 13985C, 13986B ZusFr Claus Jäger CDU/CSU . 13985D, 13986C ZusFr Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 13986B Beurteilung der Ergebnisse der Internationalen Walfangkommission in Japan MdlAnfr 27 Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Antw StS Dr. Helmut Scholz BML 13987B ZusFr Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 13987 C Tagesordnungspunkt 19: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, F.D.P. und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über besondere Maßgaben für die Anwendung des Parteiengesetzes (Drucksache 12/5134) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz) (Drucksache 12/5081) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften (Drucksache 12/4990) Zusatztagesordnungspunkt 3: e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" (Drucksache 12/5137) f) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Weinrechts (Drucksache 12/5138) IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Tagesordnungspunkt 20: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. März 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über Rentenversicherung (Drucksachen 12/4888, 12/5095) b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Anpassungsprotokoll vom 17. März 1993 zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) (Drucksachen 12/4738, 12/4922) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des EWR-Ausführungsgesetzes (Drucksachen 12/4790, 12/4921, 12/5148) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapitel 60 02 Titel 532 03 — Ausgleichsabgabe nach § 11 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz — (Drucksachen 12/4698, 12/4933) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft „Ehemaliges Stasi- und Ausbildungsgelände in Kallinchen/Schöneiche (Autodrom)" (Drucksachen 12/4543, 12/4934) e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer Teilfläche der ehemaligen WGT- Kaserne Herrenkrug in Magdeburg (Drucksachen 12/4642, 12/4935) f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen WGT-Kaserne Turmschanzenstraße Nord und Süd in Magdeburg (Drucksachen 12/4654, 12/4936) g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen bebauten Liegenschaft Hegelstraße 42 (Palais am Fürstenwall) in Magdeburg (Drucksachen 12/4715, 12/4937) h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Zustimmung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Erfurt-Melchendorf (ehemals „ALO-Sportplatz") (Drucksachen 12/4714, 12/4938) i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers für Wirtschaft: Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1991 — (Drucksachen 12/4063, 12/4939) j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der ehemaligen Rumbeke-Kaserne in Soest, Lübecker Ring (Drucksachen 12/4731, 12/4940) k) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Grundstücke in Frankfurt/Main (Drucksachen 12/4760, 12/4941) 1) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung (Drucksachen 12/4753, 12/4942) m) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 apl. Titel 893 02 — Förderung von Allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen — (Drucksachen 12/4699, 12/4946) n) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der Verordnung der Bundesregierung: Erste Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Rechnungslegung der Kreditinstitute (Drucksachen 12/4876, 12/5139) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 V o) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 100 zu Petitionen mit Ausnahme der lfd. Nrn. 70 bis 76 (Drucksache 12/4824) p) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 104 zu Petitionen (Drucksache 12/5048) q) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 105 zu Petitionen (Drucksache 12/5049) Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste (Erklärung nach § 31 GO) 13990 B Tagesordnungspunkt 9: Vereinbarte Debatte zum Einsatz der Bundeswehr in Somalia in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Sofortiger Rückzug aus Somalia (Drucksache 12/5136) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr in Somalia (Drucksache 12/5140) Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ CSU 13992 C Anke Fuchs (Köln) SPD 13994 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. 13994C, 13999 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 13995A Thomas Kossendey CDU/CSU 13996B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 13996 D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 13998C Dr. Eberhard Brecht SPD 13999D, 14010 D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14000 A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14000C Volker Rühe, Bundesminister BMVg 14001 B Rudolf Bindig SPD 14002 C Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD 14002D, 14009B Horst-Jungmann (Wittmoldt) SPD 14003 A Walter Kolbow SPD 14003D, 14006 A Günther Friedrich Nolting F.D.P. 14005 D Paul Breuer CDU/CSU 14006C Anke Fuchs (Köln) SPD 14006D Hans Wallow SPD 14008A Dieter Heistermann SPD 14008B Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 14009 C Ulrich Irmer F.D.P. 14010B Tagesordnungspunkt 8: a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Drucksachen 12/2453, 12/5141) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Inkrafttreten des Schengener Übereinkommens (Drucksachen 12/4057, 12/5141) c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 27. November 1990 über den Beitritt der Italienischen Republik, vom 25. Juni 1991 über den Beitritt des Königreichs Spanien und vom 25. Juni 1991 über den Beitritt der Portugiesischen Republik zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 (Gesetz zu Beitritten zum Schengener Übereinkommen) (Drucksachen 12/3804, 12/5141) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Die Beseitigung der Grenzkontrollen Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Parlament (Drucksachen 12/2144 Nr. 2.2, 12/5141) Erwin Marschewski CDU/CSU 14012B Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 14013B Wolfgang Lüder F.D.P. 14015 C Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 14017B Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14019A Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktionslos 14019D Joachim Clemens CDU/CSU 14020 C Gerlinde Hämmerle SPD 14022D Wolfgang Lüder F.D.P. 14024 C Bernd Schmidbauer, Staatsminister BK 14024 D Michael Stübgen CDU/CSU 14026D Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 14028A VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Tagesordnungspunkt 10: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften (Viertes Mietrechtsänderungsgesetz) (Drucksache 12/3254) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Rudolf Schöfberger, Renate Schmidt (Nürnberg), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung eines sozialen Mietrechts (Drucksachen 12/3013, 12/5110) b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen, des Wohnungsbindungsgesetzes und des Belegungsrechtsgesetzes (Drucksachen 12/4276, 12/5121) Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 14030A Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 14031 C Dr. Eckhart Pick SPD 14031D Burkhard Zurheide F.D.P. 14033 B Dr. Rudolf Schöfberger SPD 14034 A Stephan Hilsberg SPD 14034 D Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 14035B Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14036B Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 14037 B Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 14037 C Uwe Lambinus SPD 14037 D Dr. Walter Hitschler F.D.P. 14037 D Gabriele Wiechatzek CDU/CSU 14038 C Walter Schöler SPD 14040A Namentliche Abstimmungen 14042 A Ergebnisse 14042D, 14044D Tagesordnungspunkt 11: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde (Drucksachen 12/3477, 12/5126) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Rücknahme des Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde durch die Bundesregierung (Drucksachen 12/4480, 12/5126) Horst Gibtner CDU/CSU 14047 A Dr. Margrit Wetzel SPD 14049B Elke Ferner SPD 14050 C Dr. Klaus Röhl F.D.P. 14050D Dr. Klaus Röhl F.D.P. 14051 D Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 14053 A Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14054 A Dr. Margrit Wetzel SPD (zur GO) 14054 D Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär BMV 14055A Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14055 D Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Erklärung nach § 31 GO) 14056B Tagesordnungspunkt 12: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie (Drucksachen 12/3001, 12/4883) 14057C Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Drucksachen 12/3628, 12/4842) 14057 D Tagesordnungspunkt 14: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Lage der Frauen in den neuen Bundesländern (Drucksachen 12/3089, 12/4262) 14058A Tagesordnungspunkt 15: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Versorgungsrenten für Mitglieder der Waffen-SS (Drucksache 12/4788) 14058C Nächste Sitzung 14058 C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 VII Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 14059* A Anlage 2 Deutsche Position bei der Tagung der Internationalen Walfangkommission in Japan im Mai 1993 MdlAnfr 25, 26 — Drs 12/5104 — Dr. Wolfgang von Geldern CDU/CSU SchrAntw StSekr Dr. Helmut Scholz BML 14059* C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie) Heinz Seesing CDU/CSU 14060* A Erika Simm SPD 14061* A Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. 14063* A Anke Eymer CDU/CSU 14063* D Ursula Männle CDU/CSU 14064* C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ 14065* B Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht) Norbert Geis CDU/CSU 14066* C Dr. Hans de With SPD 14068* A Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. 14068* D Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 14069* C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesminister BMJ 14070* B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (Lage der Frauen in den neuen Bundesländern) Petra Bläss PDS/Linke Liste 14071* B Claudia Nolte CDU/CSU 14072* D Dr. Helga Otto SPD 14074* A Dr. Sigrid Semper F.D.P. 14074* D Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14075* D Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin BMFJ 14076* D Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 15 (Antrag: Keine Versorgungsrenten für Mitglieder der WaffenSS) Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14078* A Volker Kauder CDU/CSU 14078* C Günther Heyenn SPD 14079* B Wolfgang Lüder F.D.P. 14080* A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 14080* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 13917 163. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    *) Anlage 6 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Antretter, Robert SPD 17. 6. 93* Barbe, Angelika SPD 17. 6. 93 Baum, Gerhart Rudolf F.D.P. 17. 6. 93 Berger, Hans SPD 17. 6. 93 Blunck (Uetersen), SPD 17. 6. 93 Lieselott Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 17. 6. 93 Michaela Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 17. 6. 93 Büchler (Hof), Hans SPD 17. 6. 93* Francke (Hamburg), CDU/CSU 17. 6. 93 Klaus Ganschow, Jörg F.D.P. 17. 6. 93 Gattermann, Hans H. F.D.P. 17. 6. 93 Dr. Gautier, Fritz SPD 17. 6. 93 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 17. 6. 93 Dr. von Geldern, CDU/CSU 17. 6. 93 Wolfgang Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 17. 6. 93 Gerster (Mainz), CDU/CSU 17. 6. 93 Johannes Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 17. 6. 93 Huonker, Gunter SPD 17. 6. 93 Kittelmann, Peter CDU/CSU 17. 6. 93* Kretkowski, Volkmar SPD 17. 6. 93 Lenzer, Christian CDU/CSU 17. 6. 93* Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 17. 6. 93 Marten, Günter CDU/CSU 17. 6. 93* Matschie, Christoph SPD 17. 6. 93 Dr. Matterne, Dietmar SPD 17. 6. 93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 17. 6. 93* Dr. Neuling, Christian CDU/CSU Neumann (Gotha), SPD 17. 6. 93* Gerhard Odendahl, Doris SPD 17. 6. 93 Oesinghaus, Günther SPD 17. 6. 93 Pfeifer, Anton CDU/CSU 17. 6. 93 Pfuhl, Albert SPD 17. 6. 93 Dr. Probst, Albert CDU/CSU 17. 6. 93* Reddemann, Gerhard CDU/CSU 17. 6. 93* Reimann, Manfred SPD 17. 6. 93 Reuter, Bernd SPD 17. 6. 93 Schaich-Walch, Gudrun SPD 17. 6. 93 Dr. Scheer, Hermann SPD 17. 6. 93* von Schmude, Michael CDU/CSU 17. 6. 93 Frhr. von Schorlemer, CDU/CSU 17. 6. 93 Reinhard Sehn, Marita F.D.P. 17. 6. 93 Steiner, Heinz-Alfred SPD 17. 6. 93* Thierse, Wolfgang SPD 17. 6. 93 Tietjen, Günther SPD 17. 6. 93 Voigt (Frankfurt), SPD 17. 6. 93 Karsten D. Vosen, Josef SPD 17. 6. 93 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Walter (Cochem), Ralf SPD 17. 6. 93 Welt, Jochen SPD 17. 6. 93 Wester, Hildegard SPD 17. 6. 93 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 17. 6. 93 ** Wieczorek (Duisburg), SPD 17. 6. 93 Helmut Wieczorek-Zeul, SPD 17.6.93 Heidemarie Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 17. 6. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 17. 6. 93 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage 2 Antwort des Staatssekretärs Dr. Helmut Scholz auf die Fragen des Abgeordneten Dr. Wolfgang von Geldern (CDU/ CSU) (Drucksache 12/5104 Fragen 25 und 26): Welche Position hat die Bundesregierung bei der Internationalen Walfangkommissionstagung in Kyoto, Japan (10.-14. Mai 1993) vertreten? Wie beurteilt sie vor dem Hintergrund des einstimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 29. April 1993 das Ergebnis, und welche Folgerungen zieht sie aus der Konferenz? Zu Frage 25: Die Bundesregierung hat sich auf der Jahrestagung der Internationalen Walfang-Kommission (IWC) in Kyoto (Japan) vom 10. bis 14. Mai 1993 nachdrücklich für den Schutz der Walbestände eingesetzt. Den Forderungen Norwegens und Japans nach einer begrenzten Wiederaufnahme des Fangs von Zwergwalen wurde nicht stattgegeben, weil die Voraussetzungen für eine Lockerung des weltweiten Verbots des kommerziellen Walfangs (Moratorium) derzeit nicht gegeben sind. Im übrigen hat die Bundesregierung für die von der IWC angenommene Entschließung gestimmt, mit der das Konzept der Errichtung eines Schutzgebietes für Wale in antarktischen Gewässern grundsätzlich befürwortet wird. Entsprechend dieser Entschließung sollen noch offene Fragen, u. a. die Festlegung der Grenzen eines Schutzgebietes, in einer zwischenzeitlichen Sitzung mit dem Ziel geklärt werden, auf der nächsten Jahrestagung eine abschließende Entscheidung über das Schutzgebiet zu treffen. Zu Frage 26: Das Ergebnis der Jahrestagung entspricht in vollem Umfang der Entschließung des Deutschen Bundestages zum Walfang. An der Überprüfung des Moratoriums wird sich die Bundesregierung weiterhin beteiligen. Dabei sind die Bestimmungen der WalfangKonvention zu beachten, die eine Nutzung von Wal- 14060* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 beständen unter der Voraussetzung der Bestandserhaltung vorsehen. Der Bundesregierung liegt daran, die IWC zu erhalten und auch die am Walfang interessierten Länder in einen vollen Schutz der Walbestände einzubinden. Die einseitige Wiederaufnahme des Walfangs durch Norwegen betrachtet die Bundesregierung mit Sorge. Entsprechend der Entschließung des Deutschen Bundestages hat die Bundesregierung Norwegen aufgefordert, diese Entscheidung zu überprüfen und die Legitimität der IWC für die Regelung des Walfangs nicht in Frage zu stellen. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie) Heinz Seesing (CDU/CSU): Im „Übereinkommen über die Rechte des Kindes", dem Deutschland beigetreten ist, haben wir uns verpflichtet, Kinder vor allen Formen sexueller Ausbeutung und sexuellen Mißbrauchs zu schützen. Mit das Abscheulichste auf diesem Gebiet ist die Kinderpornographie. Das geltende Strafrecht hat bisher die Entstehung und Ausbreitung des Videomarktes für Kinderpornographie nicht verhindern können. Das ist um so schlimmer, als in ihnen ein authentischer Geschlechtsverkehr mit Kindern, selbst mit Säuglingen und Kleinkindern, meist Mädchen, dargestellt wird. Es ist erkennbar, daß selbst in unserem Lande Eltern ihre Kinder gegen hohes Entgelt vermieten, wohl wissend, daß diese Kinder für Filme und Fotos sexuell mißbraucht, körperlich verletzt und gequält und seelisch erniedrigt werden. Mit dem Gesetz gegen die Kinderpornographie will der Deutsche Bundestag ein Signal setzen. Zunächst richtet sich dieses Signal an die Justizbehörden der Länder. Wenn man dieses Übel wirksam bekämpfen will, muß die Strafverfolgung entschlossen und eindeutig sein. Das Signal sollte für die Gerichte sein, daß der Gesetzgeber auch durch das Strafmaß deutlich machen will, daß es darum geht, eine verstärkte generalpräventive Wirkung zu erzielen. Deswegen ist durch den Rechtsausschuß der Strafrahmen gegenüber dem Regierungsentwurf zum Teil noch erhöht worden. Allerdings sah sich der Rechtsausschuß nicht in der Lage, den weitergehenden Vorschlägen von mitberatenden Ausschüssen auf teilweise drastische Anhebungen des Strafrahmens zu folgen. Der Rechtsausschuß hat intensiv darüber beraten. Er hat sich letzten Endes von dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit leiten lassen und dabei Bezug genommen auf verschiedene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Im einzelnen wurden folgende Entscheidungen getroffen: 1. Im Vorgriff auf andere noch zu beratende Gesetzentwürfe wurde es für dringend geboten gehalten, schon jetzt eine Regelung zu treffen, mit welcher der bisher in bestimmten Fällen straflose Sextourismus deutscher Bürger, vielleicht auch deutscher Bürgerinnen, nun wirksam bekämpft werden kann, wenn es sich bei den Opfern um ausländische Kinder handelt. Kinderpornographische Filme werden häufig im Ausland mit ausländischen Kindern hergestellt. 2. Der Strafrahmen für die Veröffentlichung und Verbreitung von kinderpornographischen Produkten erfährt jetzt eine beträchtliche Ausbreitung und wird auf eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren erhöht. Der Rechtsausschuß war bei dieser Festlegung der Auffassung, daß der Unrechtsgehalt dieses Deliktes so bedeutend ist, daß dieser Strafrahmen angemessen ist. Insbesondere soll die Anhebung der Mindeststrafe auf Freiheitsstrafe von drei Monaten und damit die Zurückdrängung von Geldstrafen ein Signal an alle sein. 3. Für den neuen Tatbestand der Bewerbs- oder bandenmäßigen Verbreitung kinderpornographischer Produkte wurde ein Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe vorgegeben, wenn es sich bei diesem Produkt um die Wiedergabe eines tatsächlichen Geschehens handelt. Gerade die Anhebung der Mindeststrafe entspricht den Vorstellungen aller Ausschüsse des Bundestages, die an der Beratung beteiligt waren. Um die Heraufsetzung der Höchststrafe auf eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren hat es Diskussionen gegeben. Ein solches Strafmaß hätte dann allerdings nicht mehr in das Sanktionensystem des Strafgesetzbuches mit den erforderlichen Abstufungen gepaßt. Die Verbreitung von kinderpornographischen Schriften wäre dann mit dem sexuellen Mißbrauch der Kinder gleichgesetzt worden. Allerdings könnte diese Problematik einmal Stoff zum Nachdenken geben. Es muß einmal die Frage erlaubt sein, ob es richtig ist, daß im Strafgesetzbuch die Beschädigung von Sachen oder ein Diebstahl oft höher mit Strafen belegt werden als die Verletzung von Menschen. 4. Auch die Besitzverschaffung und der Besitz von kinderpornographischen Produkten werden bestraft, wenn diese ein tatsächliches Geschehen wiedergeben. Auch der Konsument, der sich kinderpornographische Filme, Videofilme, Fotografien oder authentische Tonaufnahmen beschafft, trägt dazu bei, daß Kinder sexuell mißbraucht werden. Er trägt Mitverantwortung für die Existenz dieses Marktes und damit auch für den damit verbundenen Kindermißbrauch. Dieses Gesetz soll ein Signal sein an alle Menschen in unserem Lande. Denn es muß gefragt werden, warum es überhaupt einen Markt für Kinderpornographie gibt. In meiner Rede zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich auf diese Problematik schon hingewiesen. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir noch mehr tun müssen, um in die Köpfe und Seelen der Menschen hineinzukommen. Das wird nur dann gehen, wenn alle, jung und alt, eine neue Haltung zum Kind gewinnen. Das gilt für alle Lebensbereiche. Das muß weltweit, besonders aber für uns gelten. Verbote und Strafandrohungen alleine werden nur wenig bewirken. In den Köpfen der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14061* Menschen muß sich festsetzen: Unsere Erde muß ein Platz sein, an dem Kinder von Liebe und Hilfe umgeben aufwachsen können. Erika Simm (SPD): Wir werden heute das Strafrechtsänderungsgesetz Kinderpornographie — davon gehe ich aus — mit großer Mehrheit verabschieden. Wir schaffen damit in einem Bereich des Strafrechts, nämlich dem der Pornographie, neue Straftatbestände und Strafverschärfungen, der Anfang der 70er Jahre unter heftigen öffentlich ausgetragenen Kontroversen liberalisiert wurde. Es geht dabei jedoch nicht etwa darum, zu Moralvorstellungen der Jahrhundertwende zurückzukehren; es geht auch nicht darum, Menschen ihrer sexuellen Orientierung wegen zu kriminalisieren. Es geht vielmehr darum, einen neuen Typ von Straftaten, der zum Teil mit Methoden des organisierten Verbrechens begangen wird, effektiver zu bekämpfen. Und es geht darum, Kinder vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Mißbrauch zu bewahren. Denn Kinderpornographie ist heute untrennbar mit sexuellem Mißbrauch verbunden. Durch das neue Medium des Videofilmes — und um solche handelt es sich in aller Regel, wenn wir heute von Kinderpornographie reden — ermöglicht die Herstellung pornographischer Filme durch Laien, das nahezu beliebige Kopieren, den Handel ohne Vorratshaltung, macht also Herstellung und Vertrieb weitgehend risikolos und minimiert die Gefahr der Entdeckung. Das verbleibende Risiko, strafrechtlich belangt zu werden, konnten die Händler angesichts der zu erzielenden hohen Gewinne leichten Herzens eingehen, hatten sie doch allenfalls eine geringe Geldstrafe zu erwarten, die sie locker — wie ein Angeklagter es einmal formulierte — „aus der Portokasse" bezahlten. Was ist der wesentliche Inhalt der Neuregelung? Ich will es mir ersparen, noch einmal sämtliche Punkte der Neuregelung darzustellen, und mich statt dessen auf die Veränderungen beschränken, die der Gesetzentwurf der Bundesregierung im Laufe der parlamentarischen Beratungen erfahren hat. Bemerkenswert ist, daß diese Veränderungen auf einen überfraktionellen Antrag zurückgehen, der in den mitberatenden Ausschüssen „Frauen und Jugend" und „Familie und Senioren" jeweils einstimmig angenommen wurde. Im federführenden Rechtsausschuß hatte es dieser Änderungsantrag etwas schwerer, weil dort naturgemäß rechtsdogmatische Hürden zu überwinden waren. So hat dieser Antrag nicht in vollem Umfang Eingang in das abschließende Votum des Rechtsausschusses gefunden. Wichtige Punkte allerdings haben schließlich auch im Rechtsausschuß und beim BMJ Zustimmung gefunden. Worum geht es dabei? Grundsätzliche Kritik hatte der Regierungsentwurf wegen der dort vorgesehenen Strafrahmen gefunden, die von vielen als nicht ausreichend angesehen wurden, weil sie der neuen Deliktsqualität nicht Rechnung trugen und weil — auch vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen mit der Strafrechtspraxis — die Befürchtung bestand, auch in Zukunft würden überwiegend nur Geldstrafen verhängt oder gar die Mehrheit der Verfahren eingestellt werden. Daß die gesetzliche Neuregelung die von ihr erhoffte stärkere abschreckende Wirkung entfalten würde, erschien vielen angesichts der kriminellen Energie der Täter und der hohen Gewinne, die im Geschäft mit Kinderpornographie gemacht werden, zweifelhaft. Ein wesentliches Ziel der vorgeschlagenen Änderungen war es daher, die Strafrahmen so zu bemessen, daß Geldstrafe als Regelstrafe ausscheidet, also Freiheitsstrafe zur Regelstrafe wird und damit die Täter für den Fall, daß sie erwischt werden, nicht mehr eine Geldstrafe gleichsam als nebensächlichen Kostenfaktor einkalkulieren können. Dieses Ziel wurde erreicht durch die Anhebung der Mindeststrafe für die Verbreitungshandlungen auf drei Monate und für das Bewerbs- und bandenmäßige Handeln auf sechs Monate Freiheitsstrafe. Damit kann im ersten Fall nur noch in Ausnahmefällen, nämlich bei Fällen geringeren Unrechtsgehalts, in denen eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe zu verhängen wäre, auf Geldstrafe zurückgegriffen werden (§ 47 StGB). Und auch dann wird die Geldstrafe empfindlich sein, weil sie nämlich 90 Tagessätze im Mindestmaß betragen muß. Beim gewerbsmäßigen und bandenmäßigen Handeln wird es künftig Geldstrafe überhaupt nicht mehr geben. Wer also künftig mit Kinderpornographie handelt, steht mit einem Bein im Gefängnis. Dies ist die Botschaft, die mit diesem Gesetz an den einschlägigen Täterkreis geht. Bedauerlich finde ich, daß es für den Fall des nun erstmals unter Strafe gestellten Besitzes von Kinderpornographie beim Strafrahmen des Regierungsentwurfs — ein Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe — geblieben ist. Dieses Strafmaß bewegt sich auf der absolut untersten Ebene des Strafensystems unseres Strafrechts und entspricht z. B. dem, was dem "Schwarzfahrer" in der Straßenbahn an Strafe droht. Der Diebstahl geringwertiger Sachen, also etwa einer Tafel Schokolade im Kaufhaus, ist demgegenüber mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren im Höchstmaß bedroht! Ich verstehe die in den Beratungen geäußerten Bedenken, man dürfe sich nicht dem Vorwurf aussetzen, angesichts vielfach bestehender Beweisschwierigkeiten, für den Auffangtatbestand des bloßen Besitzes eine Verdachtsstrafe schaffen zu wollen. Aber darum ging es uns mit unserem Vorschlag für ein höheres Strafmaß auch beim Besitz wirklich nicht. Sondern es geht darum, daß die Konsumenten von Kinderpornographie die Rolle des Anstifters zum sexuellen Mißbrauch von Kindern einnehmen. Ohne ihre Nachfrage gäbe es keinen Markt für Kinderpornographie und ohne sie nicht den sexuellen Mißbrauch von Kindern zur Herstellung kinderpornographischer Videos. Diese Zusammenhänge liegen offen zutage und jeder, der Kinderpornos erwirbt oder sonst in seinen Besitz bringt, weiß das. Ich bin deswegen der Meinung, daß die Abnehmer und Konsumenten von Kinderpornographie keineswegs nur — wie es in der Begründung zum Votum des Rechtsausschusses heißt — eine "mittelbare Verantwortung" in bezug auf den mit der Herstellung von Kinderpornographie zwangsläufig gegebenen sexuellen Mißbrauch haben. Jedermann weiß, daß den Videos ein reales 14062* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Geschehen zugrundeliegt, ja es kommt den Konsumenten gerade hierauf an. Je realistischer und härter die Darstellung, desto höhere Preise sind sie bereit zu zahlen. Sie billigen damit auch den sexuellen Mißbrauch und haben diesen durch ihre Nachfrage auch unmittelbar mitzuverantworten. Ähnlich wie der Hehler im Verhältnis zum Dieb sind sie Nutznießer der vorausgegangenen Tat, des sexuellen Mißbrauchs, der zudem durch die Vervielfältigung der Darstellung und deren bildliche Wiederholung perpetuiert wird. Dem trägt das Strafmaß in der jetzigen Höhe nicht hinreichend Rechnung. Ich kann wohl im Namen der Kollegen sprechen, die mit mir den überfraktionellen Antrag unterstützt haben, wenn ich sage, daß wir die Strafverfolgung des Besitzes von Kinderpornographie kritisch verfolgen und erforderlichenfalls auf Nachbesserung des Gesetzes in diesem Punkt dringen werden. Erfreulich ist, daß nun für die Fälle des § 184 Abs. 4 der erweiterte Verfall vorgesehen wurde. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß der Handel mit Kinderpornographie zum Teil den für das Organisierte Verbrechen geltenden Regeln folgt. Ich halte dies aber noch nicht für ausreichend und hoffe, daß die vom BMJ zugesagte Prüfung, z. B. die Telefonüberwachung auch beim Vorliegen des Verdachts einer Handlung nach § 184 Abs. 4 für zulässig zu erklären, zu einem positiven Ergebnis führen wird. Kripobeamte, mit denen ich gesprochen habe, fordern dies einhellig. Ein überaus positives Ergebnis der ja recht intensiven und langwierigen Beratungen zum vorliegenden Gesetzentwurf ist seine Ergänzung um eine Änderung auch des § 5 StGB, mit der die Anwendung deutschen Strafrechts auf die Fälle des sexuellen Mißbrauchs ausgedehnt wurde, wo deutsche Täter die Tat an ausländischen Kindern in deren Heimatland begehen. Eine solche Regelung hatte bereits die Aids-EnqueteKommission in ihrem Abschlußbericht gefordert. Das Bundesjustizministerium wollte dem erst in Verbindung mit der Neuregelung des strafrechtlichen Jugendschutzes entsprechen. Da letzterer in seiner konkreten Ausgestaltung durchaus kontrovers ist und seine Verabschiedung sicher noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, hätte dies eine unnötige Verzögerung dieser Regelung bedeutet, über deren Notwendigkeit seit langem breite Einigkeit besteht. Der Sachzusammenhang mit den Strafbestimmungen zur Kinderpornographie ist auch durchaus gegeben: Die heute interessierenden kinderpornographischen Darstellungen sind ganz überwiegend Videofilme, die den tatsächlich ausgeführten sexuellen Mißbrauch von Kindern in jeder nur denkbaren Form und Intensität wiedergeben. Ein Teil der im Handel befindlichen kinderpornographischen Videofilme wird in den bekannten Sex-Tourismus-Ländern der Dritten Welt mit dort lebenden Kindern hergestellt. Die sexuelle Ausbeutung dieser Kinder durch sogenannte Sextouristen und Pornohändler muß gesellschaftlich geächtet werden. Dies hat zu geschehen durch Aufklärungskampagnen, Werbeverbote für entsprechende Reiseangebote und andere auf eine Bewußtseinsänderung der Menschen abzielende Maßnahmen. Das deutsche Strafrecht kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, indem es diejenigen mit Strafe bedroht, die sich als unmittelbare Täter an der sexuellen Ausbeutung von Kindern in der Dritten Welt beteiligen. Sie tun das bisher auch dort, wo in den Heimatländern der Kinder entsprechende Strafbestimmungen bestehen, in aller Regel relativ gefahrlos, weil ihnen meist nichts Schlimmeres als die Abschiebung droht. Aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung, die der Massentourismus für die betroffenen Staaten hat, ist deren Interesse an einer nachhaltigen Strafverfolgung in aller Regel gering. Halten wir uns nochmal vor Augen, worum es geht: Da reisen „gute" Bürger — ganz überwiegend sind es Männer — nach Thailand, auf die Philippinen, nach Kenia, Brasilien und in die Dominikanische Republik, um ihre Wünsche nach außeralltäglichen Sexualerfahrungen zu geringem Preis auszuleben. Daß es sich hier nicht um vereinzelte Fälle handelt, läßt sich am Beispiel Thailands ablesen, das heute der größte internationale Markt für Sextourismus ist. Ca. 5,3 Millionen Touristen haben 1990 allein Thailand besucht. An der Spitze der europäischen Besucher standen 243 000 Deutsche, davon 70 % Männer. 50- 70 % der männlichen Besucher (nach Thailand also jährlich mehr als 100 000 Deutsche) kommen vorrangig wegen der sexuellen Kontakte. Die Zahl der Prostituierten wird in Thailand auf ca. 1,5 Millionen Frauen geschätzt. Die Schätzungen für die Zahl der Kinderprostituierten schwanken zwischen 30 000 und 800 000 Mädchen. Auf den Philippinen wurde festgestellt, daß in den 80er Jahren die Kinderprostitution in einem alarmierenden Ausmaß zugenommen hat. Die Zahl der Kinderprostituierten dort wird z. Zt. auf 50 000 geschätzt. Auffällig war, daß wegen der Angst vor Aids insbesondere die Nachfrage der Touristen nach sehr jungen Mädchen und Jungen gestiegen ist. Inzwischen sind Fälle bekannt, in denen zur Befriedigung dieser Nachfrage bei Mädchen die Defloration operativ revidiert wurde, um den Freiern vorzutäuschen, es handle sich bei der Sexualpartnerin um ein unberührtes Mädchen. „Terre des hommes" schätzt, daß sich weltweit ca. 10 Millionen Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren prostituieren und jährlich 1 Million hinzukommen. Wie die in diesem Gewerbe arbeitenden Frauen und Männer stammen sie aus Familien mit niedrigsten Einkommen. Die meisten Kinderprostituierten gehen dieser Beschäftigung nach, um etwas Geld zum Familieneinkommen beizusteuern. Insofern kann die Prostitution von Kindern als Symptom für wachsende Armut, aber auch für einen zunehmenden Kulturverfall durch die Überlagerung mit Sitten der Herkunftsländer von Sextouristen gewertet werden. Der sexuelle Mißbrauch dieser Kinder auch durch deutsche Sextouristen ist vor diesem Hintergrund auch eine besondere Form der Ausbeutung, die mit den Mitteln des Strafrechts zu verfolgen und zu unterbinden auch dann unsere Pflicht ist, wenn die Heimatstaaten dieser Kinder dazu nicht in der Lage oder willens sind. Mit der Ergänzung des § 5 StGB schaffen wir heute eine wichtige Voraussetzung, die es uns ermöglicht, diese Verpflichtung einzulösen. Weitere Schritte müssen folgen. So müssen insbesondere mit den betreffenden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14063* Staaten Abkommen getroffen werden, die sicherstellen, daß die deutschen Strafverfolgungsbehörden den Strafanspruch, den wir für diese Auslandstaten heute gesetzlich verankern, auch durchsetzen können. Mit dem heute zu verabschiedenden Strafrechtsänderungsgesetz haben wir, meine ich, einen wichtigen Schritt getan, um den Schutz der Kinder in unserem Land, aber auch der Kinder in der Dritten Welt, vor sexuellem Mißbrauch und sexueller Ausbeutung zu stärken. Werfen wir einen Blick in unseren einstimmig verabschiedeten überfraktionellen Antrag „Maßnahmen gegen Kinderpornographie", so stellen wir aber fest, daß er noch eine ganze Reihe von unerledigten Punkten enthält. Die positiven Erfahrungen in der Zusammenarbeit über die Fraktionen hinweg, die ich mit den Beratungen zum Gesetzentwurf Kinderpornographie verbinde, ermutigen mich zu der Hoffnung, daß wir bei der Lösung der noch unerledigten Aufgaben auch weiterhin zusammenarbeiten werden. Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Es war an der Zeit, daß die bisherigen Strafen bei Kinderpornographie verschärft und ausgeweitet wurden. Durch neue Vertriebsnetze und Kommunikationstechniken, vor allem die Videotechnik, ist in dem bisherigen Gesetz eine Lücke entstanden, und dadurch hat die Kinderpornographie immer mehr zugenommen. Es ist zu einer explosionsartigen Verbreitung dieser Machwerke gekommen, immer mehr Pomos mit immer jüngeren Opfern. Eine wirkungsvolle Bekämpfung ist schon lange überfällig. Mit diesem Gesetz werden die Hersteller und Vertreiber nicht mehr mit einem blauen Auge davonkommen. Dieses Gesetz ist entstanden aus einer Initiative von Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen und geht zurück auf eine Anhörung der Kinderkommission und der Initiative von engagierten Frauen in diesem Parlament. Obwohl dieses Gesetz in erster Linie Sozialpolitiker und Familienpolitiker bewegt, lag die Federführung beim Rechtsausschuß. So möchte ich mich bei unseren Juristen dafür bedanken, daß sie unser Anliegen angenommen haben und wir heute dieses Gesetz in der Dritten Lesung verabschieden können. Neben der Herstellung und dem Vertrieb wird dieses Gesetz erstmals auch den Besitz von Kinderpornographie unter Strafe stellen. Händler haben nicht mehr Handelsware vorrätig, sondern ein Masterband, von dem sie bei Bedarf Kopien ziehen. Die Polizei war machtlos. Jeder, der solch abscheuliche Filme und Hefte erwirbt, macht sich mitschuldig an dem Verbrechen, das den Kindern angetan wird. Erst durch den Kauf entsteht der Markt, durch die Nachfrage wird der Anreiz der Produzenten zur Herstellung geschaffen. Die Konsumenten tragen also eindeutig Mitschuld am Leiden dieser Kinder. Das neue Gesetz bedrängt den Markt nicht nur von der Angebotsseite, sondern auch von der Nachfrageseite. Eine Bekämpfung der Kinderpornographie von beiden Seiten halte ich für besonders effektiv. Aber auch das Strafmaß für die Verbreitung wurde angehoben, war es bisher ein Jahr, so können in Zukunft Strafen bis zu fünf Jahren ausgesprochen werden. Wichtig ist auch die Anhebung der Mindeststrafe auf sechs Monate, wenn die Täter gewerbsmäßig oder als Mitglieder einer Bande handeln. Damit ist der Rechtsausschuß in einem wesentlichen Fall dem Wunsche der mitberatenden Ausschüsse gefolgt. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ganz besonders bei meinem Kollegen van Essen bedanken, der unsere Anregungen immer sehr unterstützt hat. Auch ausländische Kinder sind in Zukunft besser durch dieses Gesetz vor deutschen Straftätern geschützt. Wer den interfraktionellen Antrag zu diesem Themenbereich noch im Kopf hat, weiß, daß dieses Gesetz nicht alles löst. So sind eine Reihe von Maßnahmen durch die Länder zu lösen, z. B. die Frage der presserechtlichen Verjährung. Auch eine Klarstellung im Bereich BTX ist notwendig. Aber die wichtigste Lücke in unserem Gesetz ist geschlossen. Bei all den Überlegungen um das Strafmaß dürfen wir allerdings einiges nicht vergessen. Strafe allein genügt nicht. Ich denke an unsere Diskussion zum Thema Gewalt gegen Ausländer, die wir gestern im Plenum hatten. Die Gesinnung unserer Gesellschaft muß sich wieder ändern. Da waren sich alle einig. Wenn eine Gesellschaft glaubt, daß alles nur vom eigenen Standpunkt, von der eigenen Interessenlage aus gesehen werden kann, wenn man das Propagieren und Beharren vom Klassenstandpunkt aus als Grundlage seines Denkens und Handelns macht, führt dies auf allen Ebenen zum Egoismus. Ich möchte uns alle erinnern an den wichtigsten Grundsatz für ein friedliches Zusammenleben der Menschen: „Meine Freiheit hört dort auf, wo die des Nächsten beginnt", und der Nächste ist der Mitbürger, der Ausländer, ist aber auch das Kind. Meine Freiheit hört dort auf, wo die des Nächsten beginnt. Wenn man dies berücksichtigt, dann wird man auch mehr Gefühl, mehr Rücksicht, mehr Hilfsbereitschaft und Sicherheit gerade für die Schwächsten unserer Gesellschaft, für die Kinder, entwickeln. Anke Eymer (CDU/CSU): Mit der heutigen abschließenden Beratung der geplanten Strafrechtsänderung zur Kinderpornographie ist ein wichtiger Schritt zur effektiveren Bekämpfung eines wahrhaft abscheulichen Tatbestandes getan. Die gewerbsmäßige Verbreitung sowie der Besitz von Schriften und Kassetten, die den Mißbrauch von Kindern zum Inhalt haben, wurden erstmals als Straftatbestand erfaßt. Das Strafmaß für weitere Vergehen in diesem Zusammenhang hat sich deutlich erhöht. Sextourismus, meine Damen und Herren, enttabuisiertes Sexvergnügen mit Kindern aus der dritten Welt, ist lange genug als männliche „Heldentat" verherrlicht worden! Die sexuelle Ausbeutung von Kindern, gleich welcher Nationalität, ist kein Kavaliersdelikt. Sie schließt vielmehr den Teufelskreis von Armut, Abhängigkeit und vorbestimmter weiterer Verelendung. Die Kinderprostitution ist keine innere Angelegenheit der sog. Entwicklungsländer; sie liegt vor allem in der Verantwortung der Industriestaaten. Die Strafandrohung auch für Untaten im Ausland wird 14064* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 in Verbindung mit entsprechenden Rechtshilfeabkommen mit den besonders betroffenen Ländern seine Wirkung hoffentlich bald zeigen. Nicht in allen Punkten entspricht die Höhe des Strafmaßes den Voten der mitberatenden Ausschüsse; wir hätten uns im ein oder anderen Fall mehr abschreckende Wirkung durch eine drastischere Höchststrafe gewünscht. Strafandrohung allein jedoch — das habe ich schon in meiner Rede vom Oktober 1992 zu diesem Thema betont — verändert die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht. Die gesamte Bevölkerung muß ein umfassendes Bewußtsein dieser Problematik entwickeln. Aktionen wie der kürzlich zum zweiten Mal begangene Jahrestag der internationalen Kampagne gegen Kinderprostitution tragen hierzu in wichtigem Maße bei. Kürzlich erhielt ich das Votum eines württembergischen Kreisverbandes, der sich auf seinem Parteitag vor allem für eine vorbeugende Aufklärung der Bevölkerung mittels entsprechender Fernsehspots, ähnlich der AIDS-Kampagne, ausgesprochen hat. Solche Zeichen „öffentlichen Betroffenseins" ermutigen dazu, weitere Maßnahmen auf den Weg zu bringen: Maßnahmen, die helfen, die Ursachen der Kinderpornographie zu erforschen, um sie auch präventiv bekämpfen zu können. Vor jeglicher Ursachenforschung aber steht die Fürsorge für die aktuell betroffenen Opfer. Sie aus der Umklammerung durch ihren oder ihre Peiniger zu lösen, ihnen Vertrauenspersonen an die Hand zu geben, kann ihnen helfen, das Erlittene zu überwinden: Vertrauenspersonen, die Mißhandlungen erkennen und unbeschadet falscher, wenn auch verständlicher Scham, beim Namen nennen. Wir benötigen Menschen, die die Notsignale mißhandelter Kinder aufnehmen und ihnen den Mut zur Offenheit geben. Viele Betroffene sind abhängig von ihrem Peiniger, wollen durch ihre Anzeige nicht einen guten Bekannten der Familie — nicht selten sogar ein Familienmitglied — der Strafverfolgung aussetzen. Wie kann man von einem mißhandelten Kind erwarten, daß es seinen eigenen Vater anzeigt — der es oftmals noch mit gezielter Androhung von Liebesentzug jahrelang emotional an sich bindet und zum Schweigen zwingt? Gerichte und Richter, die kindliche Aussagen, wenn sie ihnen wegen ihrer oft unglaublichen Details nicht plausibel erscheinen, in den Bereich kindlicher Phantasie verweisen, machen ein Manko in der juristischen Ausbildung deutlich, die keinerlei spezielle Schulung in der Gesprächsführung mit kindlichen Opfern vorsieht. Ich bin überzeugt, daß auch in diesem Bereich die Bereitschaft besteht, Änderungen einzuleiten, die den Kindern weitere seelische Torturen im Rahmen der Ermittlungsverfahren ersparen. Die Tatsache, daß Kinder nach geltenden Verfahren wie Erwachsene mehrfach während der Ermittlungen und in der Hauptverhandlung verhört werden, stellt nach übereinstimmender Meinung von Experten einen Hauptgrund dafür dar, daß nur ein Bruchteil der Fälle von sexuellem Mißbrauch zur Anzeige kommt. Das Geschäft mit der Kinderprostitution ist der Ausverkauf zwischenmenschlicher Gefühle und Beziehungen an den scheinbaren Liberalismus einer Überdrußgesellschaft, die auf der Suche nach neuen Dimensionen sogenannter Unterhaltung auch vor dem Schmutzigsten, dem Vergewaltigen von Kinderseelen, nicht zurückschreckt. Lassen Sie uns dem mit aller Entschlossenheit entgegentreten! Ursula Männle (CDU/CSU): Heute sprechen wir über Kinderpornographie, über die Mißachtung von Kinderrechten, über die Verletzung der Menschenwürde von Kindern. Sexueller Mißbrauch von Kindern ist eine der schlimmsten Formen der Menschenverachtung. In diesen Tagen wird in Wien über die Geltung von Menschenrechten in aller Welt debattiert, wird darüber gestritten, wie Menschenrechte im Alltag garantiert werden können. Wien sollte uns ermahnen, den Blick über die eigenen Staatsgrenzen hinaus zu richten und unsere Verantwortung für die weltweite Sicherung von Menschenrechten wahrzunehmen. Vor allem in den Ländern der Dritten Welt zwingt Armut viele Kinder, ihren Körper zu verdingen und ihre sexuellen Dienste feilzubieten. Die Nachfrage von Sextouristen aus den Industrie- und Wohlstandsgesellschaften, vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland, Japan und den USA ist erschreckend hoch. Insbesondere das Verlangen nach immer jüngeren Kindern steigt, bedingt auch durch die Angst vor AIDS. Schon seit Jahren fordern Parlamentarierinnen aller Fraktionen rechtliche Maßnahmen, um dieses verabscheuungswürdige Verhalten wirksam zu bekämpfen und bestehende Strafbarkeitslücken zu schließen. Nach dem einstimmigen Votum des Rechtsausschusses vom 21. April 1993 soll sexueller Mißbrauch von Kindern zukünftig auch dann bestraft werden, wenn er durch Deutsche an ausländischen Kindern im Ausland begangen wird. Bislang können deutsche Strafverfolgungsbehörden im Falle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nur dann tätig werden, wenn Opfer und Täter Deutsche sind. Der sexuelle Mißbrauch von ausländischen Kindern durch Deutsche im Ausland kann nur dann geahndet werden (§ 176 StGB), wenn die Tat auch am ausländischen Tatort mit Strafe bedroht ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB). Dies trifft zwar in vielen Fällen zu, aber durch bestehende unterschiedliche Schutzaltersgrenzen in den ausländischen Rechtsordnungen bleiben entsprechende Taten Deutscher im Ausland straflos. Der Beschluß des Rechtsausschusses ist ein Erfolg interfraktioneller Zusammenarbeit von Parlamentarierinnen, die insbesondere nach einem Kongreß in Bangkok zum Thema Kinderprostitution und Tourismus im vergangenen Jahr darauf drängten, die geplante Gesetzesreform zügig zu verabschieden. Deshalb wird heute im Rahmen des Strafrechtsänderungsgesetzes Kinderpornographie auch das deutsche Strafanwendungsrecht bezüglich des sexuellen Mißbrauchs von Kindern erweitert — nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, erst im Rahmen des umfassenden Strafrechtsänderungsgesetzes zum Schutz Jugendlicher vor sexuellem Mißbrauch. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14065* Wesentliches Anliegen der Erweiterung ist, noch bestehende Strafbarkeitslücken zu schließen und eine klare Botschaft an die zu senden, die für Sextourismus offen und auch versteckt werben, sowie an die, die sich auf ihren Urlaubstrips des sexuellen Mißbrauchs schuldig machen. Deutlich werden muß: Sextourismus ist kein Kavaliersdelikt, Sextourismus ist eine schönfärberische Umschreibung für sexuellen Mißbrauch, für eine neue Form von privatem Kolonialismus, von Ausbeutung. Recht schafft Rechtsbewußtsein. Organisationen im In- und Ausland, die sich mit Fragen der Kinderprostitution und des sexuellen Mißbrauchs von Kindern beschäftigen, verbinden mit der Reform die Hoffnung, daß ein Bewußtseinswandel initiiert wird, daß die öffentliche Meinung diese ausbeuterischen Sexualpraktiken ächtet und sich dadurch langfristig das Verhalten von Wohlstandstouristen ändert. Das heute zu verabschiedende Gesetz wird von allen Vereinigungen, die sich mit Fragen der Kinderprostitution beschäftigen, positiv aufgenommen. Auch die Teilnehmer der Anfang Mai in Stuttgart stattgefundenen Internationalen Konsultation der Kampagne zur Beendigung von Kinderprostitution betonten die weltweite Signalfunktion. Die Wirksamkeit der Reform wird auch von einer effektiven Strafverfolgung abhängen. Kooperation mit den Behörden vor Ort, Sensibilisierung der Bevölkerung, Aufklärung in Schulen und Medien sind wesentliche Voraussetzungen. Langfristig verhindert werden können Verletzungen der Menschenrechte von Kindern jedoch nur durch grundlegende gesellschaftlich-wirtschaftliche Strukturveränderungen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Armutsbekämpfung ist der wirksamste Weg zur Sextourismusbekämpfung. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Kinderpornographie ist eine ganz besonders verabscheuungswürdige Erscheinungsform der Gewalt gegenüber Kindern. Mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes der Bundesregierung wollen wir einen Beitrag zur wirkungsvolleren Bekämpfung dieses Mißbrauchs mit den Mitteln des Strafrechts leisten. Ziel ist, die Verbreitung und den Besitz kinderpornographischer Produkte und nicht zuletzt auch ihre Herstellung so weit wie möglich zu unterbinden. Ich erinnere daran, daß gerade erst das zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene Zollrechtsänderungsgesetz die notwendige gesetzliche Grundlage dafür geschaffen hat, daß der Zoll auf dem Postweg verbotswidrig ein- oder ausgeführte Kinderpornographie an die Staatsanwaltschaft weiterleiten kann. Ich begrüße es auch, daß die vorliegende Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses einstimmig von allen Fraktionen und Gruppen unterstützt wird. Die intensive Diskussion in den Ausschüssen hat dazu beigetragen, den strafrechtlichen Schutz noch wirksamer auszugestalten. Schon bisher drohten denjenigen, die für diese üblen Machwerke verantwortlich sind, hohe Strafen. Bei sexuellem Mißbrauch von Kindern — und um nichts anderes geht es hier — sieht das Strafgesetzbuch schon jetzt Freiheitsstrafen bis zu zehn Jahren vor. Ich mache hierauf aufmerksam, weil es in der Vergangenheit gelegentlich zu Mißverständnissen gekommen ist. Vor allem in den Medien war der falsche Eindruck entstanden, auch der Produzent von kinderpornographischen Videos, der Kinder vor der Kamera sexuell mißbrauchen läßt, um seine Machwerke herzustellen, könne nach geltendem Recht nur mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden. Das ist natürlich falsch. So erinnere ich daran, daß im letzten Jahr ein Produzent von Kinderpornographika in Göttingen zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde — ebenso wie die Eltern der mißbrauchten Kinder, die bei den Aufnahmen mitgewirkt hatten. Mit dem neuen Gesetz wird man nun aber auch diejenigen angemessen bestrafen können, die sich nicht unmittelbar an der sexuellen Gewalt beteiligen, die aber letztlich erst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß diese fürchterlichen Taten begangen werden. Dabei meine ich in erster Linie diejenigen, die solche Produkte vermarkten. Wir sind uns alle einig, daß die Strafdrohung des geltenden Rechts — Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe — völlig unzulänglich ist. Sie berücksichtigt nicht, daß mit dem Vertrieb kinderpornographischer Videobänder enorme Gewinne zu erzielen sind. Nach Erkenntnissen der Polizei werden bis zu 1 200 DM für ein einziges kinderpornographisches Videoband gezahlt. Im Sinne einer wirkungsvollen Abschreckung müssen hier deutliche Freiheitsstrafen drohen. Der Täter darf sich nicht ausrechnen, eine etwaige Strafe aus der „Portokasse" bezahlen zu können, wenn er den Strafverfolgungsbehörden auffallen sollte. Außerdem muß durch die Strafdrohung deutlich werden, daß es hier um den Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch geht. Gäbe es die Vertreiber solcher Videobänder nicht, hätten wir keinen „Markt" für solche Produkte; sexuellen Mißbrauch von Kindern im Zusammenhang mit der Herstellung solcher kinderpornographischen Produktionen würde es damit nicht geben. Schon die erhöhten Strafdrohungen des Regierungsentwurfs haben diese Gesichtspunkte — insbesondere bei der gewerbs- oder bandenmäßigen Verbreitung kinderpornographischer Schriften — berücksichtigt. Die jetzt vom Rechtsausschuß vorgeschlagenen Strafdrohungen — Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren für den Grundtatbestand und Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren für die qualifizierte gewerbs- oder bandenmäßige Begehung — machen dies noch deutlicher. Ein ganz zentraler Punkt bei der effektiven Bekämpfung der Kinderpornographie ist eine wirkungsvolle Gewinnabschöpfung. Bereits in der ersten Lesung habe ich mich dafür ausgesprochen, das zwischenzeitlich durch das OrgKG neu eingeführte Institut des Erweiterten Verfalls auch zur Abschöpfung von Gewinnen aus diesem schmutzigen Geschäft einzusetzen. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, daß der Erweiterte Verfall nun auch bei der gewerbs- oder 14066* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 bandenmäßigen Verbreitung von Kinderpornographie die Gewinnabschöpfung erleichtern soll. Ein Kernstück des Gesetzentwurfs und damit besonders wichtig ist auch die Einführung der Strafbarkeit des bloßen Besitzes und der Besitzverschaffung von Kinderpornographie. Durch diese Strafbarkeit wird auch dem Konsumenten deutlich gemacht, daß er durch seine Nachfrage nach kinderpornographischen Produkten mitverantwortlich dafür ist, daß diese produziert und zu diesem Zweck Kinder sexuell mißbraucht werden. Eine wichtige Funktion hat die Strafbarkeit des Besitzes auch deshalb, weil der Gesetzentwurf — hieran anknüpfend — nunmehr zwingend die Einziehung solcher kinderpornographischer Produkte vorschreibt. Bisher war eine Einziehung nur möglich, wenn festzustellen war, daß die Produkte noch weiterverbreitet oder zugänglich gemacht werden sollten. Hier bringt das neue Gesetz eine entscheidende Verbesserung. Doch damit ist längst nicht alles getan, was es im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen zu tun gibt. Wir können es nicht länger zulassen, daß deutsche Touristen in ferne Länder reisen, um sich dort an einheimischen Kindern sexuell zu vergehen, in Deutschland aber nicht bestraft werden können, weil ihr Verhalten am Tatort selbst nicht mit Strafe bedroht ist. Ich habe deshalb schon im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Änderung der §§ 175, 182 StGB vorgeschlagen, diesen deutlich geringeren Schutz ausländischer Kinder durch eine Ausweitung des deutschen Strafrechts zu verbessern. Ich begrüße es, daß diesem Anliegen einer besseren Bekämpfung dieses abscheulichen Kinder-Sextourismus bereits in diesem Gesetzgebungsverfahren Rechnung getragen werden kann. Dies ist aus meiner Sicht auch ein wichtiger Beitrag zur innerstaatlichen Umsetzung der UN-Kinderkonvention. Ich freue mich, daß es hier im Hause zu allen diesen Punkten einen breiten Konsens über alle Fraktionen hinweg gibt. Ich hoffe zuversichtlich, daß auch der Bundesrat das Gesetz mit möglichst breiter Mehrheit passieren läßt, so daß es schnellstmöglich in Kraft treten kann. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, auch in anderen Bereichen weitere Maßnahmen zur verbesserten Bekämpfung der Kinderpornographie und damit des sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu ergreifen. Ich möchte hier nur an das Problem der kurzen presserechtlichen Verjährung bei der Verbreitung kinderpornographischer Produkte erinnern, das die Bundesregierung schon im letzten Jahr an die insoweit zuständigen Länder herangetragen hat. Wir müssen mit einem Bündel von Maßnahmen — auch außerhalb des Strafrechts — darangehen, Verbreitung, Besitz und Herstellung von Kinderpornographie zu verhindern. Der überfraktionelle Entschließungsantrag „Maßnahmen gegen Kinderpornographie" enthält einen Katalog wertvoller Anregungen, anhand dessen wir weiteren gesetzgeberischen Handlungsbedarf überprüfen können und müssen. Lassen Sie mich im Lichte der gestrigen Debatte zu Fremdenfeindlichkeit und Rassismus zum Abschluß noch eine allgemeine Erklärung abgeben. Auch gestern wurden von allen Rednerinnen und Rednern die Gewaltherrschaft, die Aggressivität und auch die Verrohung insbesondere von Kindern und Jugendlichen beklagt. Wir alle suchen nach Ursachen, die bestimmt nicht monokausal sind. Aber kann nicht eine Ursache auch die Mißhandlung, der sexuelle Mißbrauch, die Ausnutzung von Kindern und Jugendlichen sein, die diese Geschändeten aus Hilflosigkeit, wegen fehlender Liebe und Zuneigung und aus einem Mangel an Familienbindung in die Arme von Skinheads, von Vereinigungen, losen Gruppierungen von Jugendlichen treiben, die ihren Haß auf die noch Schwächeren in unserer Gesellschaft — Ausländer, Behinderte, alte Menschen — durch Brandstiftung und Anschläge zum Ausdruck bringen? Vielleicht können wir mit diesem Gesetz einen Beitrag zur Ursachenbekämpfung leisten. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 13 (Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht) Norbert Geis (CDU/CSU): Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung hohes Ansehen. Es hat sich in mehr als 40jähriger Rechtsprechung hervorragend bewährt. Dies gilt sowohl für die Bewahrung des objektiven Verfassungsrechtes, als auch für den Schutz der Grundrechte des je einzelnen Bürgers. Immer mehr Bürger wenden sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das höchste deutsche Gericht. Dieses Rechtsmittel ist die einzige Klage vor dem Bundesverfassungsgericht, die von „jedermann„, der behauptet, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein, erhoben werden kann. Nicht also nur Verfassungsorgane haben das Recht, das Verfassungsgericht anzurufen, sondern jede natürliche und juristische Person kann ihren individuellen Anspruch geltend machen. Tatsächlich wenden sich auch immer mehr Bürgerinnen und Bürger an das Bundesverfassungsgericht. Nicht zuletzt deswegen, weil jeder einzelne sich mit einer Beschwerde an das höchste deutsche Gericht wenden kann, genießt das Gericht solches Ansehen. Dabei ist das Verfassungsgericht nicht als eine Superrevisionsinstanz gedacht. Es geht also nicht darum, die rechtlichen und tatsächlichen Wertungen der Gerichte der Vorinstanzen zu überprüfen. Es geht vielmehr darum, dem Bürger die Möglichkeit zu geben, Grundrechtsverletzungen zu rügen, die erst durch das Verhalten der Vorinstanzen entstanden sind. Erst nach Abschluß des Rechtsweges ist also die Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht möglich. Das Bundesverfassungsgericht ist auch nicht ein zusätzlicher Petitionsausschuß neben den Petitionsausschüssen der Landtage und des Deutschen Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14067* destages. Ganz abgesehen, daß diese Ausschüsse keine unmittelbare rechtsgestaltende Macht haben, befassen sie sich mit staatlichen Akten, durch die der einzelne betroffen ist, die aber nicht ausschließlich Grundrechtsverletzungen sein müssen. Durch diesen Individualschutz des Verfassungsgerichtes wird in einem großen Umfang eine einheitliche Rechtsprechung hinsichtlich der gesamten Grundrechte gewährleistet. Außerdem dient so die Verfassungsbeschwerde auch der Wahrung, Auslegung und einheitlichen Fortbildung des gesamten Verfassungsrechtes, weil das Verfassungsgericht bei Zulassung der Beschwerde im Rahmen der Begründetheit alle verfassungsrechtlichen Aspekte überprüft. Es ist also nicht nur zentrale Aufgabe des Verfassungsgerichtes, sich mit den Verfahren zu beschäftigen, welche von Bonn oder von einer Landesregierung aus im Wege der Organklage nach Karlsruhe gebracht werden. Durch diese Doppelaufgabe aber, die Befassung mit Organklagen und die Befassung mit Beschwerden einzelner Bürger entsteht eine immer größer werdende Belastung des Verfassungsgerichtes. Dies vor allem auch deshalb, weil das Verfassungsgericht gerade mit Organklagen aus Bonn immer stärker in Anspruch genommen wird. Gerade jetzt erleben wir ja wieder, daß die Opposition sich erneut nach Karlsruhe wendet, um wegen des Einsatzes der Bundeswehr in Somalia den angeblichen Verfassungsbruch der Regierung zu rügen. Hier ist tatsächlich einmal der Hinweis notwendig, daß die Politik vornehmlich in Bonn und nicht in Karlsruhe entschieden werden sollte. Die Opposition scheint den Ort der politischen Entscheidung immer mehr nach Karlsruhe verlegen zu wollen. Dies ist kein Zeichen von Stärke und nicht geeignet, die Autorität des Parlamentes zu stärken. Aber nicht nur — wie vorgetragen — für die Politik, sondern für alle 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger steht in Karlsruhe eine Klagemauer. Die Zahl derer, die in Karlsruhe Hilfe suchen, steigt. Im Jahre 1992 waren es 4 000 Verfassungsbeschwerden. In diesem Jahr nimmt die Zahl weiter zu. Mit der Erweiterung des Rechtswegebewußtseins in den neuen Bundesländern wird es zu weiteren Steigerungen kommen. Die Verfassungsrichter beklagen diese Belastung. Insbesondere beklagen sie, daß die vorgelegten Verfassungsbeschwerden zu einem erheblichen Teil „völlig unqualifiziertes Zeug" seien, wie der Verfassungsgerichtspräsident es bezeichnet hat. Tatsächlich, so führen die Verfassungsrichter aus, tragen von 10 Verfassungsbeschwerden 9 bereits den Stempel der offensichtlichen Unbegründetheit auf der Stirn. Das heißt, nur 10 von 100 Verfassungsbeschwerden können überhaupt als ernsthaft bezeichnet werden. So war es notwendig, daß schon in der Vergangenheit Überlegungen über verschiedene Entlastungsmaßnahmen angestellt wurden. So wurden sogenannte Kammern eingerichtet, die den Senaten vorgeschaltet sind und die Möglichkeit haben, Verfassungsbeschwerden bei offensichtlicher Begründetheit stattzugeben oder sie mangels hinreichender Erfolgsaussichten durch einstimmigen Beschluß nicht zur Entscheidung anzunehmen. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses System modifiziert: Eine Verfassungsbeschwerde wird dann angenommen, wenn sie grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat oder wenn die Durchsetzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten „angezeigt" erscheint. Mit dem Wort „angezeigt" hatten wir unsere Schwierigkeiten. Nach der gewissermaßen höchstrichterlichen Auslegung durch den Verfassungsgerichtspräsidenten bedeutet das Wort „angezeigt", daß beispielsweise die Annahme dann zu erfolgen hat, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung ein besonders schwerer Nachteil entstehen würde. Wir meinen, daß wir mit der Formulierung „angezeigt" einverstanden sein können. Sinn der Gesetzesvorlage ist es, dem Gericht einen gewissen Spielraum im Annahmeverfahren einzuräumen. Um aber Fahrlässigkeit, die auch bei dem höchsten Gericht vorkommen kann, oder gar den Verdacht der Willkür auszuschließen, müssen die Kammern durch einstimmigen Beschluß entscheiden, wenn sie beispielsweise eine Verfassungsbeschwerde ablehnen. Fehlt es an der Einstimmigkeit, so entscheidet der Senat. Hierbei bedarf es zur Annahme lediglich der Stimmen von drei Richtern des Senats. Es bleibt abzuwarten, ob bei dieser neuen Regelung nicht der Eindruck entsteht, es würden letztlich die Mitarbeiter des einzelnen Verfassungsrichters die Entscheidungen treffen. Die sogenannten Vorvoten der wissenschaftlichen Mitarbeiter werden ja in der Öffentlichkeit bereits heftig kritisiert. Jedenfalls können diese Vorvoten niemals den einzelnen Richter davon entbinden, sich eingehend mit der Verfassungsbeschwerde zu beschäftigen. Es darf in gar keinem Fall die Meinung entstehen, die Vorprüfung, ob eine Verfassungsbeschwerde angenommen oder nicht angenommen wird, werde letztlich von dem viel berühmten und deshalb auch etwas berüchtigten sogenannten Dritten Senat vorgenommen. Richtig ist, daß die sogenannte Nichtannahmegebühr oder, wie sie oft bezeichnet wurde, die Bestrafungsgebühr mit diesem Gesetz abgeschafft wird. Nicht selten hatten Bürger, deren Verfassungsbeschwerde nicht angenommen wurde, den Eindruck, daß sie aus einer unanfechtbaren Machtposition heraus abgestraft werden, weil sie es gewagt haben, das höchste deutsche Gericht anzurufen. Tatsächlich ist eine solche Bestrafungsgebühr nicht nur bei Beschwerden verhängt worden, die von vornherein offensichtlich unbegründet waren, die — wie es der Verfassungsgerichtspräsident bezeichnet hat — von vornherein für jeden erkennbar „Schrott" beinhalteten. Vielmehr kam es auch vor, daß Verfassungsbeschwerden, die umfänglich begründet und zudem mit gutachtlichen Äußerungen angesehener Strafrechtslehrer versehen waren, mit der Festsetzung einer Bestrafungsgebühr abgelehnt wurden. In solchen Fällen muß der Eindruck der Willkür entstehen. Deshalb ist es richtig, daß diese unselige Nichtannahmegebühr, die ihren Zweck zudem völlig verfehlt hat, weil ja die Verfassungsbeschwerden nach wie vor nicht zurückgehen, sondern zunehmen, mit diesem Gesetz abgeschafft wird. 14068* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Immer wieder wird überlegt, ob angesichts der hohen Belastung des Verfassungsgerichtes es nicht richtig wäre, einen weiteren Senat einzurichten. Das Verfassungsgericht ist aber, wie bereits vorgetragen, keine Superrevisionsinstanz. Ihm obliegt die Wahrung der Verfassung. Wenn dieser Auftrag deshalb nicht mehr geleistet werden kann, weil die Arbeitsbelastung übermäßig steigt, müssen Regelungen gefunden werden, um die Belastung zu verringern, statt einen neuen Senat zu errichten. Diesem Ziel dient das vorgelegte Gesetz. Dr. Hans de With (SPD): Die Entscheidung, die der Deutsche Bundestag heute in zweiter und dritter Lesung zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht treffen muß, ist ganz sicher keine Haupt- und Staatsaktion. Es gibt auch keinen Parteienstreit. Es geht ganz einfach darum, dem Bundesverfassungsgericht einen größeren Spielraum bei der Annahme von Verfassungsbeschwerden zu gewähren. Damit soll das Gericht die Möglichkeit erhalten, die Zahl der Entscheidungen seiner Senate zu vermindern, den Verfahrensgang zu beschleunigen, kurz: sich zu entlasten. Die Verfassungsbeschwerden machen rund 95 % aller Eingänge aus. Sie haben sich von 1975 bis 1985 verdoppelt: Seitdem sind sie — von zwei Ausnahmen abgesehen — kontinuierlich weitergestiegen. Die Folge davon ist, daß das Bundesverfassungsgericht Ende 1991 insgesamt 2 188 anhängig gebliebene Verfahren vor sich herschob. Wenn dann noch bedacht wird, daß demnächst weitere Verfassungsbeschwerden aus den neuen Ländern hinzukommen, war es angezeigt, wieder einen Versuch zu unternehmen, dem Gericht zu einem rascheren Verfahrensgang zu verhelfen. Denn nicht übersehen werden darf, daß spektakuläre Vorgänge wie § 218 StGB, AWACS oder Somalia — um Kürzel zu gebrauchen — Zeit benötigen und gleichwohl eine rasche Entscheidung verlangen. Das Bundesverfassungsgericht ist eben nicht nur ein Gericht, das wie jedes andere von dem einzelnen Bürger im Sinne eines außerordentlichen Rechtsbehelfs angerufen werden kann. Es ist auch und insbesondere ein Verfassungsorgan, das wie der Bundestag Politik macht im Sinne einer allgemein gültigen, vom Volk erwarteten Rechtsetzung. Es handelt sich bei dem heutigen Versuch nicht um den ersten. Und irgendwann einmal werden wir möglicherweise weiter novellieren müssen in Richtung auf wiederum mehr Spielraum für das Gericht bei der Annahme von Verfahren. Jeder von uns weiß, daß das amerikanische Verfassungsgericht, der Supreme Court, hier völlig frei ist und deshalb mit diesen Schwierigkeiten nicht zu kämpfen hat. Bei uns gibt es nun aber einmal eine andere Rechtstradition. Und außerdem besteht unser Verfassungsgericht noch keine zweihundert Jahre. Das Verfassungsorgan Bundestag war immer hilfreich, wenn es darum ging, dem Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit zu verschaffen, der steigenden Prozeßflut besser Herr zu werden. So ist es auch diesmal. Dabei ist gesichert, daß die Verfassungsbeschwerde als ein ,Jedermannsrecht' zum Gang nach Karlsruhe erhalten bleibt. Wir können nur hoffen, daß mit dieser Gesetzesänderung der erwartete Spielraum des Gerichts zur Beschränkung der Annahme von Verfassungsbeschwerden lange genug tragen wird. Lassen Sie mich die Gelegenheit nehmen, einen Punkt anzusprechen, der ein generelles Ärgernis praktisch aller Bürger gegenüber fast allen staatlichen Einrichtungen darstellt: die Länge und die Verständlichkeit staatlicher Entscheidungen. Ich habe gestern in der Aktuellen Stunde zu den Folgen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 StGB diese Problematik schon angesprochen. Mit über 200 Schreibmaschinenseiten — die abweichenden Meinungen eingeschlossen — stellt diese Entscheidung schon ein Konvolut dar. Ein Normalleser versteht sie beim mehrmaligen Lesen kaum oder gar nicht. Auch die Juristen zucken die Schulter. Die unterschiedlichen Stellungnahmen und Korrekturen von Stellungnahmen von Zeitungen und Zeitschriften, Professoren, Kommentatoren und auch Abgeordneten belegen das. Natürlich sind auch wir Abgeordneten hier nicht frei von Schuld. Manches Gesetz liest sich schwer. Und bei den jüngsten Verfassungsänderungen haben viele wegen deren Länge und Lesbarkeit die Stirn gerunzelt. Über jedem Urteil, auch dem des Bundesverfassungsgerichts, steht „Im Namen des Volkes". Das Volk muß es auch verstehen. Im übrigen müßte geprüft werden, ob nicht Rundfunk und Fernsehen im Bundesverfassungsgericht zugelassen werden sollten, wenn es sich nicht um Individualklagen handelt, also nicht einzelne Bürger betroffen sind. Vielleicht wird manche Entscheidung dann verständlicher. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Unser sechsjähriger Sohn, der sich offenbar mit anderen politisch interessierten Altersgenossen über diese Fragen unterhält, hat mich kürzlich mit der Mitteilung überrascht, Politik sei, sich Gedanken über die Staatsgeschäfte zu machen. Diese Bemerkung, wo er sie auch herhaben mag, trifft den Kern der Sache auch in Bezug auf die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts. Das Umblättern unendlich vieler Seiten, sowohl in den Akten wie in den Kommentaren, womöglich auch noch unter Termindruck, wird die Gedanken, die wir eigentlich von diesem in unserer Verfassungslandschaft so sehr besonderen Gericht erwarten, sicher nicht hervorbringen. Zum Fassen von Gedanken, noch mehr zu ihrer Reifung, gehört tatsächlich etwas sehr Altmodisches, nämlich Muße. Dem Bundesverfassungsgericht gegenüber sind wir aus Überzeugung und aus Einsicht in diesen Zusammenhang bereit, das, was sich organisatorisch im Wege der Gesetzgebung dazu tun läßt, auch angedeihen zu lassen. Darum sind wir sehr froh, daß heute eine lang diskutierte, also einigermaßen in Muße zustande gekommene Novellierung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes hier verabschiedet werden kann. Die Belastung des Bundesverfassungsgerichts mit einer ständig größer werdenden Fülle von Beschwerden hat zu mehreren Vorschlägen, wie mindestens eine gewisse Entlastung herbeigeführt werden könne, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14069* geführt. Ein etwas erschreckender Gedanke war es, eine Vorprüfung der eingehenden Verfassungsbeschwerden durch die neu zu schaffende Institution von Generalanwälten beim Bundesverfassungsgericht herbeizuführen. Dies hätte dann wiederum mit dafür besonders zuständigen Richtern des Bundesverfassungsgerichts abgestimmt werden und bei Nichteinigung wie bisher dem Gericht vorgelegt werden sollen. Eine solche Komplizierung und Vermehrung der Stellen für Hauptverantwortliche trägt den Stempel der Unzulänglichkeit deutlich auf der Stirn. Vermeiden wollten die Erfinder dieses Gedankens wohl in erster Linie den Geruch, das Bundesverfassungsgericht wolle von sich aus den unmittelbaren Zugang durch den Staatsbürger zum Gericht abschaffen oder reduzieren. Weil seit einer Reihe von Jahren das Vertrauensverhältnis zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen erfreulicherweise wieder gewachsen ist, hat es darüber offizielle und noch mehr inoffizielle Unterhaltungen gegeben. Das Ergebnis liegt nun in der Weise vor, daß das Gericht selbst über die Annahme der Beschwerden unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Recht und die Rechtsentwicklung in unserem Lande entscheiden kann. Ähnliches wird von allen oberen Bundesgerichten für ihre Entscheidungen seit längerem begehrt. Der Unterschied liegt darin, daß alle oberen Bundesgerichte zur Fallentscheidung, führt sie im einzelnen auch zur Rechtsvereinheitlichung oder gar zu einer gewissen Rechtweiterentwicklung, nicht zur Arbeit in Konkurrenz zum Gesetzgeber, in erster Linie zur Rechtsentwicklung, was ja auch Rechtsetzung bedeutet, berufen sind. Ähnliches hat das Grundgesetz über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beschrieben. Hier ist nicht Fallentscheidung, sondern die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Handelns anderer Organe das Ziel. Das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts und der anderen beteiligten Verfassungsorgane hat sich in einem stetigen, einem natürlichen Auf und Ab durch die Jahrzehnte hindurch entwickelt. Es ist eigentlich erstaunlich, daß bei der Vielzahl der denkbaren Konfliktmöglichkeiten nur wenige Konflikte wirklich spürbar geworden sind. Zur Zeit unterliegt die Rechtsprechung des Gerichts, soweit ich sehen kann, keiner grundsätzlichen Kritik von Aufgabe und Inhalt her. Es stellt sich vielmehr eher die Frage nach der Vereinbarkeit der Entscheidungsdichte, der Detailliertheit der Entscheidungen im Verhältnis zu der von der Verfassung gestellten Frage, ob eine Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar sei oder nicht. In diesem Zusammenhang bitte ich es nicht als respektlos anzusehen, wenn ich die Geschichte in Erinnerung rufe, nach der bei Vorlage eines Urteilsentwurfs der Landgerichtsrat von dem Landgerichtsdirektor — so hieß das früher — gefragt wurde, warum er diesmal ein so langes Urteil geschrieben habe. Er würde sonst doch so unglaublich kurze konzentrierte Urteile schreiben. Der Landgerichtsrat soll darauf erwidert haben, es täte ihm sehr leid, aber er habe wirklich zu wenig Zeit gehabt, um ein kurzes Urteil abzugeben. Wir wünschen uns für das Bundesverfassungsgericht die Muße, die zu schöpferischer Kraft für die Entscheidung in den wenigen zentralen Fragen unseres Verfassungsverständnisses führen soll. Deshalb glauben wir, mit dieser offenen und ehrlichen Lösung zur Verringerung der Arbeitslast des Gerichtes einen guten Beitrag geleistet zu haben. Detailregelungen mehr technischer Art, die das Gesetz im Einvernehmen aller Beteiligter vorsieht, wollte ich nicht besonders ansprechen. Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Eine ganze Reihe von Änderungen im vorliegenden Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes finden meine Zustimmung: so der Wegfall einer Nichtannahmegebühr und die Neuregelung der Einspruchsfrist bei Wahlprüfungsbeschwerden. Kernproblem des Entwurfs ist jedoch, wie mehrfach schon gesagt wurde, die Modifizierung des Vorprüfungsverfahrens nach verbindlichen Maßstäben. Und das sehe ich keineswegs so problemlos und positiv wie hier dargestellt. Ich habe ernste Bedenken hinsichtlich der Art und Weise, wie der Überlastung des Bundesverfassungsgerichts mittels einer veränderten Ausgestaltung der Vorprüfung begegnet werden soll. Bei der Verfassungsbeschwerde geht es um nichts Geringeres als um das entscheidende grundrechtsähnliche Recht prozessualer Natur in unserer Rechtsordnung, um einen subjektiven Rechtsbehelf von außerordentlicher Bedeutung. Schon heute haben wir jedoch den Zustand, daß die Kammern ein durch Ermessensbegriffe und unbestimmte Rechtsbegriffe fundiertes Filtersystem bilden, das die weitaus überwiegende Zahl von Verfassungsbeschwerden aussortiert. Real sind es im Durchschnitt immerhin 97 Prozent, die gar nicht erst zur inhaltlichen Entscheidung kommen. Und nur 1,3 Prozent werden positiv entschieden. In der Literatur (so Alfred Rinken im Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, S. 1064) wird bereits im Zusammenhang mit dem geltenden Vorprüfungsverfahren von der Tendenz einer Entartung der Tätigkeit der Kammern zur unkontrollierten Dezision gesprochen. Ganz offensichtlich sollen heute gesetzgeberische Voraussetzungen geschaffen werden, um diese Tendenz zu verstärken. Damit steht die Frage, wieweit wir den Prozentsatz der im Vorprüfungsverfahren abgelehnten Verfassungsbeschwerden noch erhöhen können (auf 99 Prozent, auf 99,8 Prozent ???), ohne daß die Verfassungsbeschwerde als wichtiger subjektiver Rechtsbehelf selbst auf der Strecke bleibt. Natürlich sehe auch ich das Problem der Vereinbarkeit der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts mit seiner objektiven und subjektiven Rechtsschutzfunktion. Aber die Lösung kann doch nicht so aussehen, daß der Funktionsfähigkeit die Dominanz zukommt und eine Vergrößerung des Bundesverfassungsgerichts von vornherein abgelehnt wird. Warum eigentlich? Hundert Millionen DM werden für die Gauck-Behörde, für die Treuhand, für die Zentralstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität ausgegeben. Nur für die 14070* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Vergrößerung des Bundesverfassungsgerichts ist angeblich kein Geld da, obwohl sich die Zahl derjenigen, die zur Verfassungsbeschwerde berechtigt sind, mit dem 3. Oktober 1990 nun einmal um etwa 25 Prozent erhöht hat. Wenn die Fassung des vorgeschlagenen § 93 a Abs. 2 in Kraft tritt, würde die Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf unzweifelhaft weiter abgeschwächt. Danach wird es so sein: Verfassungsbeschwerden sind zwar begründet; sie sind auch von Bedeutung (nur nicht von grundsätzlicher Bedeutung); den Betroffenen entsteht auch im Falle ihrer Ablehnung ein schwerer Nachteil (aber eben kein besonders schwerer Nachteil), dennoch werden sie bereits im Vorprüfungsverfahren abgelehnt. Ich stimme mit der Stellungnahme des Bundesrates darin überein, daß gerade auch das Wort „besonders" in Artikel 93 a eine „unangemessen" hohe Schwelle ist, die nicht mit der Gefahr einer Überlastung gerechtfertigt werden kann. Auch die Bestimmung in § 93 d Satz 3: „Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung", ist für mich nicht annehmbar. Wie wollen sie das den Ostdeutschen erklären, die in aller Regel eine Ablehnung ihrer Verfassungsbeschwerde ohne jede Begründung erhalten und denen gleichzeitig erzählt wird, das Bundesverfassungsgericht sei die Krone des Rechtsstaates oder der Flirte aller Rechtsgenossen. Im übrigen ist es immer unbefriedigend, wenn man nur auf ein Teilproblem einer Sache — und nicht einmal auf das wichtigste — gesetzgeberisch reagiert. Weitaus gravierender als die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts sind zwei weitere Probleme. Zum einen ist es so, daß es in Ostdeutschland eine Fülle von ungelösten Rechtsfragen mit Verfassungsrang gibt, ohne daß das Bundesverfassungsgericht erkennbar adäquat auf diese Problemlage reagiert. Im Gegenteil, hochbrisante Verfassungsbeschwerden, bei denen höchste Dringlichkeit vorliegt, aber der Rechtsweg noch nicht erschöpft ist (wie die zu dem Zusatzversorgungssystem) werden vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen. Zum anderen wächst das Bundesverfassungsgericht — ganz offensichtlich mit seiner Entscheidung zu § 218 — in eine politische Rolle hinein, die es in Gegensatz zur Parlamentssouveränität, aber auch zum Rechtsempfinden der großen Mehrheit der betroffenen Bürgerinnen bringt. Beides sind Probleme, auf die der Bundestag gegebenenfalls auch mit geeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen reagieren sollte. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin der Justiz: Es ist 42 Jahre her, daß der Deutsche Bundestag das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht verabschiedet hat. Carlo Schmid, damals Vizepräsident des Bundestages, begrüßte dies mit den Worten, der Bundestag habe damit „einen mächtigen Pfeiler in den Bau der Bundesrepublik eingezogen". Die heutige abschließende Beratung einer Novellierung dieses Gesetzes soll dazu beitragen, daß dieser „Pfeiler" stabil bleibt und seine Aufgabe, die freiheitliche Ordnung unseres Grundgesetzes zu schützen, weiterhin in der bisherigen Form wahrnehmen kann. Es geht um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts angesichts des außergewöhnlichen Anstiegs seiner Geschäftsbelastung, vor allem der Verfassungsbeschwerden. Ihre jährliche Zahl hat gegenüber dem Jahre 1981 um mehr als 25 % zugenommen. Dabei hat sich die Wiedervereinigung — das Hinzukommen von potentiellen Beschwerdeführern in den neuen Ländern und in Berlin — noch nicht ausgewirkt. Die Überlastung des Gerichts, insbesondere durch Verfassungsbeschwerden, hat zu der paradoxen Situation geführt, daß in offensichtlich aussichtslosen Verfahren sehr schnell, über wichtige Fragen jedoch spät entschieden wird. Die Diskussion urn eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts ist natürlich nicht neu; sie begann schon mit der Einführung eines Vorprüfungsverfahrens für Verfassungsbeschwerden durch das erste Änderungsgesetz von 1956. Dieses Vorprüfungsverfahren ist seither mehrfach modifiziert worden. 1985 erfuhr es eine für erfolgreiche Beschwerdeführer wichtige Ergänzung. Seither konnten viele offensichtlich begründete Verfassungsbeschwerden ohne mündliche Verhandlung durch die mit drei Richtern besetzte Kammer wesentlich schneller entschieden werden, als wenn der volle Senat mit acht Richtern hätte tätig werden müssen. Der ihnen jetzt vorliegende Gesetzentwurf enthält in seinem Schwerpunkt weitere Maßnahmen zur effektiveren Durchsetzung des Grundrechtschutzes. Er ist in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesverfassungsgericht vorbereitet worden. Dies gibt die Gewähr dafür, daß das Gericht die neuen Regelungen so anwendet, daß der damit verfolgte Zweck auch erreicht wird. Die Einführung präziser Kriterien für die Annahme von Verfassungsbeschwerden wird das Gericht in die Lage versetzen, die Vielzahl der von vornherein aussichtslosen Verfahren mit einem geringeren Zeitaufwand zu erledigen. Es kann seine Arbeit deshalb stärker auf die Auslegung und Interpretation des Verfassungsrechts konzentrieren und im Ergebnis erfolgreiche Verfassungsbeschwerden rascher als bisher entscheiden. Es wird dann in der Lage sein, den Schwerpunkt seiner Arbeit mehr auf Bereiche zu legen, in denen die Verbindlichkeit der Verfassung nicht sorgfältig genug beachtet wird oder in denen sich verfassungsrechtliche Fragen für neue Lebens- und Problembereiche stellen. Lassen Sie es mich noch einmal betonen: Das Bundesverfassungsgericht bedarf dieses Freiraums, damit es seine ihm vom Grundgesetz zugewiesene Funktion — im Bereich der dem Grundrechtschutz des Bürgers dienenden Verfassungsbeschwerden, aber auch in den anderen Verfahren — erfüllen kann. Die hohe Zahl von Verfassungsbeschwerden ist ein Spiegel des Vertrauens der Bürger in dieses Gericht als den obersten Hüter der Verfassung. Es hat die Grundrechte als bestimmende Wertordnung im Bewußtsein der Bevölkerung verankert. Diesen hohen Standard des Grundrechtsschutzes gilt es aufrechtzuerhalten. Das Bundesverfassungsgericht wird mit vollem Recht immer wieder als eine besondere Errungen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14071* schaft der Verfassungsentwicklung in Deutschland nach dem letzten Kriege angesehen. Es ist — darauf können wir ruhig ein wenig stolz sein — Vorbild für viele Verfassungsgerichte gewesen, die in anderen Staaten in den letzten Jahrzehnten errichtet worden sind. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur Hüter der Verfassung. Es hat in der Vergangenheit zunehmend auch eine wichtige Integrationsfunktion übernommen. Diese kann es aber nur dann wahrnehmen, wenn seine Tätigkeit von einem allgemeinen Konsens getragen ist. Das Grundgesetz selbst hat dem Bundesverfassungsgericht umfassende Kompetenzen zugewiesen. Macht man sich dies klar, dann gehört zu diesem allgemeinen Konsens auch das Einverständnis mit der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, auf Antrag durchaus auch in politisch umstrittenen Fragen tätig zu werden. Ein solcher Konsens zusammen mit der Qualität seiner Rechtsprechung gibt dem Bundesverfassungsgericht seine nicht anzuzweifelnde Autorität. Dies schließt Kritik an einzelnen Entscheidungen selbstverständlich nicht aus. Die Legitimität des Gerichts als Organ im politischen Prozeß wird trotzdem gelegentlich von denen in Zweifel gezogen, die mit dem Ausgang eines konkreten Verfahrens unzufrieden sind. Das ist vielleicht jeder Gruppierung in diesem Hohen Hause zu irgendeiner Zeit so gegangen. Das Pendel neigt sich mal nach der einen und mal nach der anderen Seite. Unabhängige und hochqualifizierte Richter bieten die Gewähr dafür, daß der Pendelschlag von einer verantwortlichen und gewissenhaften Interpretation des Grundgesetzes gesteuert wird. Der vorliegende Gesetzentwurf, für dessen zügige Beratung die Bundesregierung dem Rechtsausschuß dankt, soll dazu beitragen, daß das Bundesverfassungsgericht seiner wichtigen Aufgabe im Dienst gegenüber dem Bürger und zur Bewahrung unseres Grundgesetzes weiterhin gerecht werden kann. Ich bitte Sie, ihm zuzustimmen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 14 (Große Anfrage: Lage der Frauen in den neuen Bundesländern) Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Es ist ja erst wenige Wochen her, daß wir in diesem Hause auch auf unsere Initiative hin zur Lage der Frauen in den neuen Ländern, die auf dem Lande leben, diskutiert haben. Schon damals habe ich meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Probleme heruntergespielt werden und statt einer schonungslosen Offenlegung Schönfärberei die Bestandsaufnahme der Bundesregierung durchzieht. Ähnlich geht es mir heute. Schon die Vorbemerkungen zu der Antwort auf unsere Anfrage sind eine Mischung aus Wahrheit und Verschleierung. Wahr ist, daß der Abbau gerade von Frauenarbeitsplätzen besonders dadurch begünstigt war, daß der Frauenanteil in solchen Branchen und Bereichen überproportional hoch war, die im Zuge von Umstrukturierung und Rationalisierung aus Unwirtschaftlichkeit zuallererst vernichtet wurden. Gleichzeitig ist aber auch wahr, und darüber schweigen Sie sich aus, daß Frauen gezielt aus dem Erwerbsleben verdrängt und erneut für Kindererziehung und Familienarbeit zuständig gemacht werden. Und das ist nicht allein Folge wirtschaftlicher Zwänge, sondern dahinter steckt Prinzip. Es geht dabei darum, auch in Ostdeutschland die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung zu zementieren, als beschönigenden Nebeneffekt die Arbeitslosenstatistik zu bereinigen und Frauen zur Manövriermasse des Arbeitsmarktes zu degradieren. Eine Erwerbsarbeitsquote von über 90 % paßt nicht in das traditionelle Frauenbild der Bundesrepublik, es soll die Frauen benachteiligende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verfestigt werden. Nur eben diesem Frauenbild will sich ein Großteil der ostdeutschen Frauen nicht unterwerfen. Nun zu den Antworten im einzelnen. Der erste Komplex behandelt die Frage der Erstausbildung junger Frauen. Aus allen uns zur Verfügung stehenden Statistiken geht unübersehbar hervor, daß geschlechtsdifferenzierende Mechanismen, wie sie schon in der DDR bestanden, unter bundesrepublikanischen Verhältnissen zu Mechanismen des Ausschlusses mutierten. Ausbildungsplätze insgesamt sind knapp, junge Frauen haben fast überall das Nachsehen. In den Fertigungsberufen klaffte zwischen Angebot und Nachfrage nur ein Ausbildungsplatzdefizit von 15 %, bei den eher frauentypischen Dienstleistungsberufen betrug es dagegen 53 %. Dies deutet doch an, daß sich bei den jungen Frauen zwar das gesellschaftlich gewünschte Rollenbild durchzusetzen beginnt, sie aber gerade dafür hinsichtlich ihrer beruflichen Ausbildungschancen massiv bestraft werden. Diese Tendenz bestätigt sich 1992, wo über 70 % der Nachfrage nach Ausbildung in Gesundheits- und Sozialberufen oder Körperpflege, Gästebetreuung, Hauswirtschafts- und Reinigungsberufen nicht befriedigt werden konnte. Die Hoffnungen der jungen Frauen auf die Dienstleistungsbereiche zu lenken, wie es die Bundesregierung tut, ist angesichts solcher Mängel völlig verfehlt. Verantwortungslos gerade auch angesichts der gestrigen Debatte ist die Tatsache, daß über ein Drittel der Jugendlichen Ostdeutschlands ohne Ausbildungsplatz bzw. arbeitslos sind, und über 50 % davon sind junge Frauen. Ihnen allen wird die Chance einer eigenen Lebensplanung vorenthalten, diese Perspektivlosigkeit befördert Ausländerfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft. Viel zu rosig ist auch die Situation der Frauen in Weiterbildungsmaßnahmen dargestellt. Hier gilt, daß Frauen nicht so sehr durch Quantität, sondern vor allem durch Qualität benachteiligt sind. Zu 90 % absolvieren Frauen Kurse zur Feststellung, Erhaltung, Erweiterung und Anpassung beruflicher Kenntnisse bzw. berufliche Orientierungskurse. Nur 10 % des Fortbildungsangebots dient der direkten beruflichen Qualifizierung. Deutlich unterrepräsentiert sind Frauen auch bei bezuschußter betrieblicher Einarbei- 14072* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 tung, ihr Anteil dort ist 1993 sogar noch gesunken. Damit hängt sicher auch zusammen, daß Frauen nach Qualifizierungsmaßnahmen seltener einen Arbeitsplatz finden. So waren Ende März 1992 knapp 80 % jener Ostdeutschen, die im 3. Quartal 1991 typische Weiterbildungsmaßnahmen erfolgreich absolviert hatten und sich Ende März 1992 noch oder schon wieder in Arbeitslosigkeit befanden, Frauen. Kein Grund zum Jubeln also. Was die Beschäftigungslage von Frauen insgesamt angeht, so haben allein die dramatischen Entwicklungen des letzten halben Jahres alle positiven Prognosen eindeutig widerlegt. Im März 1992 waren noch etwa 2,8 Millionen Frauen in regulärer Erwerbsarbeit, das bedeutet, daß gegenüber Ende 1989 bereits knapp 2 Millionen Frauen entweder ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben verdrängt sind. Die offiziell genannte Erwerbslosenquote für Frauen von 20,2 % entspricht nicht der Wirklichkeit, ehrlicher ist es, davon auszugehen, daß die Arbeitslosenquote ostdeutscher Frauen heute bereits bei ca. 33 % liegt. Der Hoffnung der Bundesregierung, daß der Einsatz neuer Technologien und die Einführung des EG-Binnenmarktes „Wachstumsimpulse und damit positive Beschäftigungswirkungen" auch für Frauen haben werden, fehlt jede Substanz. Erstens haben die letzten zehn Entwicklungsjahre im Westen gezeigt, daß technologische Umstrukturierungsprozesse Massenarbeitslosigkeit nicht bewältigen, und zweitens sind die im High-tech-Bereich zu erwartenden Zuwächse ausgesprochene Männerdomänen, die sich nicht im Selbstlauf für arbeitswillige Frauen öffnen werden. Da braucht es schon Konzepte, die ernsthaft beitragen, der Diskriminierung von Frauen entgegenzuwirken. Doch genau auf diesem Gebiet ist die Politik der Bundesregierung, inzwischen leider auch der Mehrheit des Bundestages, ausgesprochen kontraproduktiv. Mit der 10. Novelle des AFG ist der Zugang bzw. der Wiedereinstieg von Frauen ins Erwerbsleben erheblich erschwert. Eine Reihe von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die die besondere Förderung von Frauen zum Ziel hatten, sind damit vollständig beseitigt bzw. radikal eingeschränkt worden. Noch dramatischer für die Beschäftigtensituation von Frauen hat sich allerdings die drastische Mittelkürzung bei ABM bzw. der ABM-Stopp vom Februar 1993 ausgewirkt. Zwar hat sich der Anteil der Frauen an ABM von 41 % im März 1992 auf 46 % im März 1993 erhöht. Aber erstens entsprach auch dieser Anteil nie dem der Frauen an den Erwerbslosen, und zweitens gehen die Maßnahmen kontinuierlich zurück, so daß inzwischen nur noch jede 5. arbeitslose Frau Aussicht auf eine ABM-Stelle hat. Die gern verbreitete Zuversicht, daß durch den neuen § 249h AFG, die durch ABM-Kürzungen gerissenen Löcher gestopft werden könnten, erweist sich als ausgesprochen trügerisch, weil durch Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern und Mittelknappheit auch hier kaum etwas in Gang gesetzt wird. Völlig ausgeblendet wird bei den Antworten der Bundesregierung, daß mit den Einschränkungen der AB-Stellen nicht nur Arbeitsplätze wegfallen, sondern ganze Strukturen zerschlagen werden, die gerade für eine emanzipatorische Lebensweise von Frauen große Bedeutung haben. Beratungseinrichtungen, Selbsthilfeinitiativen, sozialen Netzwerken, kulturellen Angeboten zur besseren Bewältigung des Frauenalltags in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft geht die Puste aus, wenn die Kahlschlagpolitik systematisch fortgesetzt wird. Natürlich betrifft dies alles auch den ganzen Komplex der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit mit Haus-, Erziehungs-, Versorgungs- sowie Pflegearbeit. Leider müssen Frauen in Ostdeutschland feststellen, daß mit der Dauer der Einheit Strukturen, die es zur besseren Vereinbarkeit von Tätigkeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen in der DDR gegeben hat, beseitigt werden. Und das hat durchaus Methode, ich habe bereits am Anfang darauf hingewiesen. Die Behauptung, es gäbe ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen in Ostdeutschland, mag oberflächlich betrachtet sogar stimmen. Eine andere Sichtweise bekommt man, wenn die veränderten Bedingungen dieser Einrichtungen mitreflektiert werden. Sie sind so teuer geworden, daß viele sie nicht mehr bezahlen können, Plätze sind abgebaut oder zentralisiert worden, und schließlich passen auch die veränderten Öffnungszeiten nicht mehr zu den Arbeitsbedingungen der Eltern. Der Rückgriff auf individuelle Lösungen ist wieder an der Tagesordnung und erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie massiv. Und wenn es hier um die Lage der Frauen in den neuen Ländern geht, dann gehört dazu auch die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum § 218. Sie ist geradezu symptomatisch dafür, daß Frauen in den NBL nichts von dem erspart werden soll, was Frauen in Westdeutschland seit langem an Diskriminierung, Entmündigung und vorenthaltener Selbstbestimmung zugemutet wird. Claudia Nolte (CDU/CSU): Es ist richtig und wichtig, wenn sich der Deutsche Bundestag — wie schon wiederholt in der Vergangenheit — mit der Lage der Frauen in den neuen Bundesländern beschäftigt. Der Umstrukturierungsprozeß von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft hat den desolaten Zustand der hoffnungslos veralteten DDR-Wirtschaft deutlich gemacht. Die wirtschaftliche Situation der ehemaligen DDR war noch schlimmer und die verdeckte Arbeitslosigkeit weit höher als befürchtet. Fast 70 % der Beschäftigten in der ehemaligen DDR arbeiteten in der Produktion. In Zukunft wird in den jungen Bundesländern mit etwa 25 % der Beschäftigten im produktiven Bereich weit mehr produziert werden als in den Zeiten Ulbrichts und Honeckers. Der notwendige Arbeitsplatzabbau hat die Frauen in besonderem Maße getroffen. Neue Arbeitsplätze im Handels- und Dienstleistungssektor wurden noch nicht in dem Ausmaß geschaffen, wie sie in der Industrie verlorengingen. Daß Frauen aber zuerst entlassen werden, liegt vor allem auch an den Strukturen in der ehemaligen DDR, die die heutigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14073* Fragesteller zu verantworten haben. Deshalb müssen strukturelle Veränderungen erfolgen. Die Bundesregierung ist in dieser schwierigen Situation mit gezielten Anstrengungen für die Frauen in den jungen Bundesländern ihrer Verantwortung gerecht geworden, was auch durch die Antwort der Großen Anfrage zur Lage der Frauen in den neuen Bundesländern deutlich wird. Angela Merkel hat durch ihr besonnenes und seriöses Agieren mehr für die Frauen in unserem Land erreicht als die Repräsentantinnen — ich denke da besonders an eine Ministerin aus Brandenburg —, die durch ihr lautes, schnelles und nicht enden wollendes Reden den Eindruck verfestigen, sie kämen gar nicht mehr zum Nachdenken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bemüht sich — soweit das vom Gesetzgeber zu leisten ist — um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir machen aber nicht mit, wenn die Arbeit zu Hause diskriminiert wird. Familienarbeit ist echte Arbeit. Eine Frau kommt auf eine durchschnittliche Hausarbeitszeit von 50 Stunden in der Woche, ihr erwerbstätiger Mann dagegen auf nur 40 Arbeitsstunden im Betrieb. Ich will nicht Familienarbeit gegen außerhäusliche Erwerbsarbeit aufrechnen oder umgekehrt. Aber heute ist Familienarbeit wichtiger denn je und ihre umfassende Wertschätzung dringend geboten. Die Anerkennung von Kindererziehungs-, aber auch von Pflegezeiten im Rentenrecht sind Schritte in die richtige Richtung. Mit 950 DM netto im Monat ab Juli liegen die versicherten Rentnerinnen in den neuen Bundesländern heute bereits über der durchschnittlichen Versicherungsrente von Frauen in den alten Bundesländern. Dies liegt unter anderem daran, daß gut 97 % der Frauen eine Rente aus eigener Versicherung beziehen. 44 % erhalten zusätzlich noch eine Witwenrente, 2 % ausschließlich Witwenrente, obwohl kein eigener Rentenanspruch besteht, d. h. knapp die Hälfte der Rentnerinnen erhält durch die Einführung der Witwenrente zusätzliche Leistungen, die ihnen zu DDR-Zeiten vorenthalten wurden. Die alten Menschen, die zwei Weltkriege und zwei Diktaturen durchlitten, haben es verdient, daß ihre Renten zügig angepaßt werden. Zum 1. Juli d. J. werden die Renten erneut um gute 14 % erhöht. Es ist zu erwarten, daß auch die nächste Rentenerhöhung in den neuen Bundesländern nicht unter 10 % bleibt. Wenn mich etwas ärgert, dann der Spruch, Frauen seien die Verliererinnen der Deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit war ein Gewinn für alle Deutschen. Noch schlimmer finde ich es, wenn in diesem Zusammenhang mit dem unterschiedlichen Abtreibungsrecht argumentiert wird. Es ist falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, alle Frauen in den jungen Bundesländern stünden zu dem DDR-Abtreibungsrecht, das die Tötung ungeborener Kinder als Mittel der Familienplanung ansah. Zu diesem Thema ist soviel Desinformation gestreut worden, daß man glauben könnte, einer sachlichen Auseinandersetzung soll aus dem Weg gegangen werden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die durch die Klage von Abgeordneten der CDU/CSU möglich wurde, wird den Interessen der Frauen in den neuen Bundesländern gerecht. Sie entspricht dem vielfachen Wunsch nach besserer Beratung und sie läßt jeden Schwangerschaftsabbruch bis zum dritten Monat straffrei. Ja, wer genug verdient, muß in Zukunft den Schwangerschaftsabbruch selbst bezahlen. Ein ambulanter Abbruch kostet zwischen 280,—DM und 300,— DM. Bei sozial Schwachen zahlt die Sozialhilfe. Die Kostendiskussion ist ein Nebenkriegsschauplatz. Den Frauen ist bewußt, daß ein Kind in ihnen heranwächst. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und die damit verbundene Feststellung der Unverfügbarkeit des Lebens und der Würde des Menschen ist im Interesse aller in diesem Lande. Die Hetze gegen die Verfassungsrichter und das grundgesetzlich geschützte Lebensrecht ist skandalös. Heute vor 40 Jahren erhoben sich die Menschen in der gesamten ehemaligen DDR und Ostberlin, um für bessere Arbeitsbedingungen, aber insbesondere, um für die Einheit und Freiheit Deutschlands zu demonstrieren. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen. Es dauerte über 37 Jahre bis der Wunsch der Menschen in beiden Teilen Deutschlands auf Einheit und Freiheit Wirklichkeit wurde. Hunderte von Frauen und Männern unterschiedlichsten Alters aus allen Schichten der Bevölkerung haben — oft unter großer Gefahr für ihr Leben — über vier Jahrzehnte hinweg deutlich gemacht, daß sie auch den linken Totalitarismus ablehnen. Sie forderten Freiheit und eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Wir werden es nicht zulassen, daß diejenigen, die die deutschen Länder östlich von Elbe und Werra heruntergewirtschaftet haben, heute diejenigen anklagen, die für den Aufbau sorgen. Es ist unverfroren, wie diejenigen, die den Karren in den Dreck zogen, heute diejenigen angreifen, die ihn hinausziehen. Obwohl die Schwierigkeiten größer waren als gedacht, hat es eine vernünftige Politik der Bundesregierung mit der Unterstützung der Menschen vermocht, daß die Lebensverhältnisse zwischen den ehemals getrennten Teilen Deutschlands sich auf hohem Niveau immer mehr angleichen und von einer Vergleichbarkeit mit den Ländern des ehemaligen Ostblocks zu Recht gar nicht mehr gesprochen wird. Die jungen Bundesländer stehen heute besser da als manche Staaten, die seit Jahrzehnten der EG angehören. Diese Entwicklung wäre ohne die Frauen nicht möglich gewesen. 40 % aller Existenzgründungen in den jungen Ländern gehen von ihnen aus. Viele Frauen haben in Politik und Verwaltung in den neuen Bundesländern an gehobenen Stellen Verantwortung übernommen. Ich denke, wenn wir über die Lage der Frauen in den neuen Bundesländern sprechen, sollten wir die Leistungen dieser Frauen nicht unerwähnt lassen. Das ist Engagement für die Zukunft Deutschlands. 14074* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Dr. Helga Otto (SPD): Die Antwort auf die Große Anfrage der PDS/Linke Liste zur Lage der Frauen in den neuen Bundesländern ist nur ein Stück Papier, auf dem zwischen den Zeilen zu lesen ist, was mit den Frauen im Osten Deutschlands passiert ist. Aber bei zu vielen Fragen steht die Antwort: „Der Bundesregierung liegen hierüber keine Erkenntnisse vor", zum Beispiel bei der Frage, in welchem Ausmaße Frauen aus den Führungsgremien verdrängt wurden. In Wahrheit ist der Vorgang der Vereinigung für zu viele Frauen eine tragische Geschichte. Mit unendlich viel mehr Engagement und Kraftaufwand als Männer haben sie trotz guter Rahmenbedingungen den Aufstieg durch Qualifizierung geschafft. Viele Tausende haben mit Liebe und mit Sorgfalt in ihren Instituten und Fabriken gearbeitet, nicht nur weil das Geld nicht reichte, sondern auch um das Gelernte im Leben anzuwenden. Die Schließung von Instituten und Betrieben, das Ausräumen, ja die Vernichtung ihrer Arbeitsstätte und -mittel bedeutet oft das Ende ihrer Berufslaufbahn oder den Anfang einer Umschulung zur Floristin, Bürokauffrau oder Hausgehilfin, wohlwissend, daß dies nur eine rein formale Angelegenheit ist. Eine Professorin sagte auf einer Tagung in Leipzig: „Wie man früher seine Qualifizierung zielstrebig anstreben und auch durchsetzen konnte, das wußten wir, aber diesem hier sind wir ziemlich hilflos ausgeliefert" . Das ist ein trauriges Zeugnis für die Bundesregierung und eine Gesellschaft. Die relativ große Zahl alleinerziehender Frauen kommt bei ständig steigenden Mieten, Preisen in Kindereinrichtungen, Fahrpreisen und anderen Preiserhöhungen in finanzielle Nöte. Die Frauenarbeitslosigkeit in meinem Wahlkreis beträgt mitten in einer ehemaligen Industrieregion 72,5 %. Das ist eine Katastrophe! Und da wartet die Regierung immer noch auf die Wunder der Marktwirtschaft. Daß 97 % der Frauen eine Rente aus eigener Versicherung haben und durchschnittlich 30,4 Versicherungsjahre ohne Kindererziehungszeiten erarbeitet haben, ist doch ein Zeichen dafür, was Frauen alles leisten können und wollen. (Man muß sie nur lassen.) Morgen kommen die Textilarbeiterinnen nach Bonn, um nachzufragen, warum, bezogen auf den Umsatz, nur noch 4 % der Gesamttextilproduktion in den neuen Ländern stattfindet? Am härtesten betroffen sind hier wiederum die Frauen. Strukturwandel mußte sein, aber nicht ohne Kopf. Aktive Strukturpolitik Hand in Hand mit Arbeitsmarktpolitik heißt das Gebot der Stunde und das ist eindeutig Aufgabe der regierenden Parteien. Die Verdrängung erstklassiger Frauen durch zum Teil zweitklassige Männer ist auf allen Ebenen zu verzeichnen. In Sparkassen, Ämtern, Instituten werden sie schuldlos von ihren Posten vertrieben. Ihre Geduld ist nun zu Ende. Sie fordern aktive Frauenpolitik. Im neuen Gleichstellungsgesetz fordern sie die tatsächliche Gleichberechtigung sowohl im öffentlichen Dienst, in den öffentlichen Unternehmen wie in der Privatwirtschaft, paritätische Besetzung in Betriebs- und Personalräten, aber auch in Führungsgremien, Auswahlgremien und Parlamenten. Frauenbeauftragte müssen mehr Kompetenzen erhalten, von der weiblichen Belegschaft gewählt werden und eine unabhängige Stellung im Betrieb haben. Belohnung der Betriebe, die aktive Gleichstellungspolitik betreiben, ist ohne weiteres z. B. mit der Fördermittelvergabe zu verknüpfen. Die Frauen fordern ein Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligungen und Beweislastumkehr bei Geltendmachung der Benachteiligungen. Nur eine verbindliche Vorschrift bei der Vergabe von Ausbildungs-, Qualifizierungs- und Umschulungsplätzen sowie ABM-Maßnahmen schafft die Voraussetzung, daß Frauen die Gleichberechtigung auch spüren. Wenn das Parlament die Kraft hatte, den schlichten Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl" aus politischen Erfordernissen der Zeit heraus zu ergänzen, dann kann es doch keine Unmöglichkeit sein, wenn die Frauen angesichts der offenbar ungenügenden Formulierung im Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ebenfalls durch den neuen Satz „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin" ergänzen wollen, um nichts anderes zu erreichen, als gleichberechtigte Partnerinnen und Mütter ihrer Kinder in allen gesellschaftlichen Fragen ihren weiblichen Sachverstand einzubringen. Es ist auch eine Frage der Humanität und des Umdenkens in einer Gesellschaftsordnung, daß man den Frauen im Osten Deutschlands ihre Würde nicht nimmt. Darum denke ich, daß die lang ersehnte Einheit Deutschlands ein Grund ist, auch um der Würde dieser Frauen in Ostdeutschland willen das Grundgesetz im Artikel 3 zu ändern. Dr. Sigrid Semper (F.D.P.): Frauen sind durch die Umstrukturierungsprozesse besonders betroffen und stellen gegenwärtig mindestens 60 % der Arbeitslosen. In der ehemaligen DDR gehörte Erwerbstätigkeit zum Alltag der Frauen. Sie hatten einen Anteil von 48,9 % an allen Erwerbstätigen im Gegensatz zu 38 % in den alten Bundesländern. Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit sind nun alleinerziehende Frauen und junge Mütter allgemein (u. a. durch den Wegfall von Einrichtungen der Kinderbetreuung), Akademikerinnen und Frauen über 40 Jahre. Gleichzeitig muß in den neuen Bundesländern das Familieneinkommen in noch höherem Ausmaß als im alten Gebiet der Bundesrepublik von beiden Partnern erwirtschaftet werden. In ihrem Streben nach Arbeit sind Frauen daher gegenwärtig besonders erpreßbar und bereit, auch ungünstige Arbeitsverhältnisse anzunehmen, insbesondere solche ohne soziale Sicherung. Durch die schwierige Arbeitsmarktlage drängen immer mehr Männer in bisher fast ausschließlich von Frauen belegte Berufsgruppen, wodurch die Luft für Frauen noch dünner wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14075* Die Lage der ostdeutschen Frauen ist äußerst kritisch! ! ! Neben der finanziellen Notlage von Frauen tritt noch eine weitere, viel zerstörerische ein, daß Bewußtsein, nicht „gebraucht" zu werden. Ich möchte ein Beispiel nennen, das deutlich macht, wo die Defizite liegen. Ich referiere aus der Statistik des Arbeitsamtes meines Heimatwahlkreises Leipzig vom Monat Mai 1993: In Leipzig waren im Monat Mai 52.500 Menschen arbeitslos, davon 34 820 Frauen. Das entspricht einem Anteil von 66,3 %. Die Arbeitslosenquote von Frauen betrug 16,6 %. Gleichzeitig wurden 2 907 Pesonen erfolgreich vermittelt. Darunter befanden sich lediglich 1 516 Frauen. Beschämend ist auch die Situation im Hochschulbereich. Zwar sind 52,1 % aller Beschäftigten der Universität Leipzig Frauen. Unter den 200 Professoren sind jedoch nur 8 weiblichen Geschlechts. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Grund hierfür in der mangelnden Qualifikation der Frauen liegt. Überhaupt stelle ich immer wieder verwundert fest, wie gering der Anteil von Frauen in Führungspositionen im Vergleich zum Gesamtbevölkerungsanteil ist. Nicht viel besser auch die Lage bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 1992 waren es gerade mal 44,6 % aller arbeitslosen Frauen, die eine ABM-Stelle erhielten. Man braucht nicht viel Scharfsinn, um zu erkennen, wo es im argen liegt. Es ist nicht zu begreifen, warum Frauen in den ABM so deutlich hinter ihren männlichen Mitbewerbern zurückliegen müssen. Daher stellt sich für mich die Frage, wie wir das Problem lösen können. Nach meiner Auffassung müssen hier die Förderprogramme der Bundesregierung und der Lander ansetzen, Programme, die in manchen Bereichen schon Wirkung gezeigt haben. Und ganz wichtig: das persönliche Engagement jeder Frau, die eigene Aktivität. Bei den Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, sowie im Ausbildungsbereich gibt es Anreize, die eine Frauenförderung beinhalten. Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen besuchten 1992 550 500 ostdeutsche Frauen, oder anders ausgedrückt 62,0 %. Eine erfreuliche Zahl, wie ich meine. Aber bei der Arbeitsplatzfindung und -vermittlung sind Frauen wieder benachteiligt. Die Erwerbstätigkeit hat für Frauen in den neuen Bundesländern einen unverändert hohen Stellenwert. Daran hat sich auch nach der Wende nichts geändert. Die Berufsansprüche hingegen haben sich durch die Wiedervereinigung verändert. Frauen wollen heute mehr, mehr Führungskräfte stellen, mehr Einfluß haben. Die Qualifikation muß endlich über die Anstellung entscheiden und nicht das Geschlecht. Noch eine Frage bewegt mich: Wie gehen wir, Politiker, mit den Problemen der ostdeutschen Frauen um? Beispiel: 1. Frauen ehemaliger NVA-Soldaten und Offiziere und Zivilangestellter der NVA fühlen sich als Menschen 2. Klasse und sträuben sich, immer die Verfolgten der Nation zu sein, unter den Stichworten Angehörige einer fremden Armee, Altlasten, Schuldige einer 40jährigen Fehlentwicklung. 2. Dazu zählen Dinge, wie die Nichtanerkennung von Dienstjahren und die Benachteiligung im undurchsichtigen Gewirr der Rentenberechnung. 3. Wer heute z. B. noch in einer Dienstwohnung der Bundeswehr wohnt, wie viele Witwen und Alleinerziehende der NVA, kann nicht in eine kleinere Wohnung ziehen, weil er darauf kein Anrecht hat. Die Antwort der Bundesregierung zur Lage der Frauen in den neuen Bundesländern hat die Probleme deutlich gemacht. Ich bin zuversichtlich, daß wir sie langfristig mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen lösen können. Bei einem anderen Hemmnis wird der Gesetzgeber aber versagen müssen, wenn sich in unserer Einstellung nichts verändert. Auch in den ostdeutschen Familien wird die Haushaltsarbeit und Kindererziehung hauptsächlich von Frauen ausgeführt. Lediglich 1,4 % aller Männer nutzen die vom Gesetzgeber angebotene Chance eines Erziehungsurlaubes. Was nützt da aller gesetzgeberischer Wille, wenn sich in den familiären Strukturen und den Köpfen der Männer, aber auch der Frauen, nichts ändert? Aufklärungsbedarf — vom Kindergarten an! Ich kann auch nicht verhehlen, daß wir Frauen durch unser Verhalten zu dieser Entwicklung beitragen. Solange die Wirklichkeit des männlichen Denkens und weiblicher Erwartungshaltung an den Mann impliziert, daß nur ein beruflich erfolgreicher Mann etwas gilt, wird es in der Familie eine vernünftige Arbeitsteilung niemals geben. Viele Frauen in den NBL resignieren. Dem muß entgegengewirkt werden. Die Frauen in den NBL schätzen mehrheitlich ein, daß sich ihre Situation hinsichtlich Geleichberechtigung verschlechtert hat und sich noch weiter verschlechtern wird. Zitate aus der Befragung von Akademikerinnen in einer Umschulungsmaßnahme: Junge Frau, 32, verheiratet, zwei kleine Kinder: „Mit meinen zwei kleinen Kindern habe ich kaum Hoffnung einen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Arbeitgeber befürchten den Arbeitsausfall." Frau, 36, verh., ein Kind: „Die Regelungen zum § 218 sind ein deutlicher Rückschritt. Es herrscht absolute Rechtsunsicherheit. Die Berufschancen haben sich für Frauen mit Kindern deutlich verschlechtert. Das Arbeitsamt verlangt einen ganztägigen Betreuungsnachweis zur Vermittlung in einen Vollzeitjob. Kann der nicht vorgelegt werden, ist nur Teilarbeit möglich, und Teilarbeitszeitplätze gibt es erst recht nicht." Frau, ledig, 26: „Wegen der schlechten Berufschancen habe ich Angst, Kinder zu kriegen." Christina Schenk, (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sieht man die Antwort der Bundesregierung, präziser: des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, auf die große Anfrage der PDS zur „Lage der Frauen in den ostdeutschen Bundesländern" im Zusammenhang mit den beiden Initiativen dieses Ministeriums, die den Anspruch haben, die Chancengleichheit von Frauen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, sowohl im Arbeits- als auch im familialen Bereich, zu verbessern, erlangt man Aufschluß über die Ernsthaftigkeit, mit der die Bundesregierung sich 14076* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 für die Frauen in den ostdeutschen Bundesländern einsetzt. Ich meine zum einen das Gleichstellungsgesetz, zu dessen Wirkungslosigkeit in bezug auf das vorgegebene Ziel an dieser Stelle bereits einiges gesagt worden ist, und zum anderen die vom Bundesministerium initiierte Kampagne „Wir machen gemeinsame Sache — Gleichberechtigung gleich jetzt", eine Kampagne, die den Männern Mut machen soll, sich von traditionellem Rollenverhalten zu trennen und sich u. a. die Erfahrungswelt der Familie zu erschließen. Es muß leider konstatiert werden, daß die Bundesregierung nichts Ernsthaftes unternimmt, um die gegenwärtige Lage von Frauen in den ostdeutschen Bundesländern grundlegend zu verbessern. Die beiden genannten Initiativen sind in keiner Weise dazu geeignet, die umfassende Diskriminierung von Frauen im Erwerbsbereich abzubauen, die Realisierung ihres Anspruchs auf Erwerbsarbeit und damit auf eine eigenständige ökonomische Existenzsicherung zu ermöglichen. Kann-Bestimmungen und Appelle an Partner und Arbeitgeber als Hauptinstrumente ministerieller Gleichstellungspolitik garantieren nur eins: grünes Licht für alle diejenigen, die die bundesdeutsche Arbeitsmarktkrise vor allem durch die Herausdrängung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt lösen wollen. Mit Kann-Bestimmungen und Appellen ist dieses Problem nicht zu lösen, und ich frage mich, was noch alles passieren muß, ehe die Regierung das begreift — oder, und der Verdacht drängt sich in zunehmendem Maße auf, das, was gegenwärtig in Ostdeutschland massenhaft mit Frauen geschieht, ist von Regierungsseite so gewollt. Zur Zeit erleben die Frauen in den ostdeutschen Bundesländern, wie mit Brachialgewalt versucht wird, ihnen eine Rolle als Hausfrau, Mutter und Dazuverdienerin zuzuweisen. Nach wie vor lehnen das die Frauen dort mehrheitlich ab. Versucht wird dies zum einen durch die Implantation des bundesdeutschen Normalarbeitsverhältnisses, dessen Lohngefüge so ausgerichtet ist, daß der Mann als Alleinverdiener und Ernährer der Familie fungiert. Die in dem Urteil von Karlsruhe formulierte grundsätzliche Rechtspflicht von Frauen, eine Schwangerschaft auszutragen, die gerade die Ostfrauen in für sie kaum faßbarer Weise auf die Rolle von Gebärmaschinen, Hausfrauen und Müttern reduziert, ordnet sich ebenfalls in diesen Zusammenhang ein. Die vorliegende Antwort der Bundesregierung und die von ihr ausgehende praktische Politik, vorneweg des Ministeriums von Frau Merkel, lassen keinerlei ernsthafte Bemühungen erkennen, um diesen frauenpolitischen Rückschritt zu bremsen. Man besitzt sogar die Stirn, das Ehegattensplitting als eine „sachgerechte Form der Besteuerung" zu bezeichnen. Das zeigt doch überdeutlich, wohin die Entwicklung gehen soll! Von Überlegungen gar, wie der Bund für ein bedarfsdeckendes Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen in die Verantwortung genommen werden könnte, ist keine Spur zu finden. Weder die bittstellerischen Appelle an die Arbeitgeber, doch „vermehrt Frauen bei den Neueinstellungen zu berücksichtigen" noch die aufmunternden Worte an den sich korrekt marktwirtschaftlich verhaltenden Mann sind dazu geeignet, Männer und Frauen zu einer wirklich gleichberechtigten Entwicklung zu verhelfen. Sie sind völlig untauglich, den strukturellen Zwängen, die von dieser Gesellschaft ausgehen, entgegenzuwirken. Und darauf kommt es an! Männer in der DDR haben sich in erheblich umfangreicherer Weise als in der Alt-BRD an der Familienarbeit beteiligt, nicht etwa weil sie von den Frauen dazu ermutigt wurden, sondern weil die Tatsache der Vollerwerbstätigkeit von Frauen sie dazu zwang. Frauen konnten die Übernahme von Reproduktionsarbeit durch die Männer einfordern, weil sie nicht mehr existentiell von ihren Partnern abhängig waren und weil die Tatsache, daß sie zu ca. 40 % zum Familieneinkommen beitrugen, ihnen dafür auch das nötige Selbstbewußtsein gab. Entscheidend ist demzufolge die Möglichkeit für Frauen, sich über die Erwerbstätigkeit eine eigenständige Existenz zu sichern. Es ist zu verhindern, daß Frauen nur wegen ihrer Gebärfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden, daß das Geschlecht über die Chance bestimmt, einen Erwerbsarbeitsplatz zu bekommen. Da helfen keine teuren Kampagnen, sondern nur klare Vorgaben an die öffentliche und private Wirtschaft. Die Quotierung ist eine der Voraussetzungen, damit Frauen entsprechend ihrem Leistungsvermögen, zu dem u. a. ein hohes Qualifikationsniveau und umfassende Berufserfahrungen gehören, erwerbstätig sein können. Die Verknüpfung von Frauenförderung und Wirtschaftsförderung ist eine weitere. Die Situation von Frauen ändert sich auch nicht dadurch, wie es die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage schreibt, daß Frauen verstärkt Beratungsmöglichkeiten angeboten werden. Ich möchte betonen: Frauen sind keinesfalls „in besonderer Weise auf Beratung angewiesen" . Sie sind dies weder in bezug auf die Frage, ob sie eine Schwangerschaft austragen wollen oder nicht, sie sind dies auch nicht in der Frage der Wahl ihrer individuellen Lebensperspektive. Es müssen endlich klare, überschaubare und für alle verständliche rechtliche Regelungen geschaffen werden, sowohl im Arbeitsrecht als auch bei den Sozialleistungen, im Familienrecht wie auch im Steuerrecht. Frauen brauchen nicht in erster Linie Beratung, sondern klar definierte Möglichkeiten und einklagbare Rechte. Nur ein Gleichberechtigungsgesetz, das diesem Anspruch gerecht wird, verdient diesen Namen auch. Alles andere ist einzuordnen unter dem Stichwort Gleichberechtigungsverhinderungspolitik. Cornelia Yzer, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Frauen und Jugend: Frauen in den neuen Bundesländern sind von den Folgen sozialistischer Mißwirtschaft in besonderer Weise betroffen. Nachdem ihnen in der staatlich gesteuerten Planwirtschaft keine gleichberechtigte Stellung im Erwerbsleben eingeräumt wurde, sehen sie sich heute in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14077* Übergangsphase zur sozialen Marktwirtschaft vielfach mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Nach dem neuesten „Arbeitsmarkt-Monitor" für die neuen Bundesländer ist die Arbeitslosenquote der Frauen mit 21 % mehr als doppelt so hoch wie bei Männern mit 9 %. Dabei spielen Bildungsabschluß und Alter eine entscheidende Rolle. So liegt die Arbeitslosenquote bei Frauen mit 8./9.-KlasseAbschluß bei 37 % (Männer: 13 %) und bei Frauen mit Abitur bzw. Hochschulabschluß bei 7 %. Interessant ist, daß bei Frauen mit hohem Bildungsabschluß die Arbeitslosenquote die der Männer (7 %) nicht übersteigt. Arbeitsmarktprobleme, die für die Frauen in den neuen Bundesländern eines der gravierendsten Probleme darstellen, dürfen nicht unter den Tisch gekehrt werden. Es ist aber kontraproduktiv, Frauen pauschal in die Ecke der Verliererinnen zu drängen, indem man ein so düsteres Bild zeichnet, wie es die PDS/Linke Liste hier tut. Damit wird Pessimismus gefördert, mit dem kein Vorankommen möglich ist. Die soziale Marktwirtschaft, die auf Eigeninitiative baut, hängt in ihrem Erfolg nun einmal auch von Stimmungen ab. Der Bericht der Bundesregierung zur „Frauenerwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern" vom März 1993, weist eindrucksvoll nach, was Bund und Länder in ihren normalen und ihren Sonderprogrammen tun, um Frauen ihren berechtigten Anspruch, erwerbstätig sein zu können, zu erfüllen. Die Palette umfaßt nicht nur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Vorruhestand und Qualifizierungsangebote, sondern erstreckt sich auch auf die Unterstützung für Existenzgründerinnen sowie auf besondere Hilfen für Frauen im ländlichen Raum und für ältere Frauen. Die Bundesregierung hat — wie auch in der Antwort auf diese Große Anfrage — wiederholt darauf hingewiesen, daß Erwerbstätigkeit für Frauen in den neuen Bundesländern nach wie vor einen hohen Stellenwert hat, und zwar unabhängig von materiellen Notwendigkeiten. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen auf den verschiedenen Ebenen ihren Beitrag leisten, Chancengleichheit von Männern und Frauen im Erwerbsleben herzustellen. Nach wie vor übernimmt die Arbeitsmarktpolitik neben der Wirtschaftspolitik eine wichtige Aufgabe, Frauen beim Übergang in die Marktwirtschaft zu helfen. Sie trägt dazu bei, daß es für einen breiten Rückzug von Frauen mittleren und jüngeren Alters in die stille Reserve bisher zum Glück keine Anhaltspunkte gibt. Um zu verhindern, daß Frauen ins soziale Abseits geraten, ist eine gezielte Frauenförderung jetzt besonders wichtig. Für die Arbeitsmarktpolitik ist seit 1. Januar 1993 § 2 Nr. 5 des Arbeitsförderungsgesetzes Richtschnur. Darin wird verbindlich erklärt: „Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil an den Arbeitslosen gefördert werden." Es ist auch gelungen, Frauen in die Förderung der arbeitsplatzunabhängigen Fortbildung und Umschulung in etwa anteilmäßig einzubeziehen. Bei den arbeitsplatzbezogenen Förderungen dagegen, wie z. B. ABM, Einarbeitungszuschüsse und Anpassungsfortbildungen, nach deren Teilnahme überdurchschnittliche Beschäftigungschancen bestehen, gibt es noch besonderen Förderungsbedarf für Frauen. Ich bin der Bundesanstalt für Arbeit dafür dankbar, daß sie sich mit ihrem umfassenden Runderlaß zur besseren Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt vom April 1993 verpflichtet, nach besten Kräften auf die vorgegebene Zielsetzung hinzuarbeiten. Letztlich entscheidet aber der einzelne Betrieb, das einzelne Unternehmen, welche Arbeitsplatzchancen Frauen tatsächlich haben. Unternehmen und Arbeitnehmervertretungen sind aufgefordert, das gesetzliche Gleichbehandlungsgebot strikt zu beachten. Frauen sind genauso motiviert und leistungsbereit wie Männer. Ihr Qualifikationsniveau ist in der Regel hoch und ihre Bereitschaft, sich weiterzuqualifizieren, ist groß. Mehr Beschäftigungschancen für Frauen bedeuten daher mehr Chancen für den wirtschaftlichen Aufbau. Mädchen und junge Frauen, die einen Ausbildungsplatz suchen, brauchen ebenfalls die Akzeptanz und die Unterstützung durch die Betriebe. Die Wirtschaft hat im Rahmen des Solidarpaktes eine mehrjährige Ausbildungsstellengarantie gegeben. Die Wirtschaft muß jetzt der Bereitstellung von Ausbildungsplätzen für junge Frauen in den neuen Bundesländern ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Wir brauchen Ausbildungsplätze in zukunftsträchtigen Berufsfeldern, also insbesondere auch im Handwerk und Mittelstand. Dabei wird es eine besondere Herausforderung sein, gerade auch junge Frauen zur Mobilität zu ermuntern, um ansonsten brachliegende Ausbildungskapazitäten zu erschließen. Auch gilt es, Frauen zur Ausbildung in frauenuntypischen Berufen zu motivieren. Die Bundesregierung nimmt sich der Ausbildungsprobleme junger Menschen in Ostdeutschland an. Sie war ein Themenschwerpunkt bei der Wirtschaftskonferenz des Bundeskanzlers in dieser Woche. Über die akute Situation und mögliche weitergehende Lösungen wird das Kabinett in allernächster Zeit beraten. BMBW, BMWi, BMA und BMFJ sind mit der Vorbereitung spätestens bis zum 1. Juli 1993 beauftragt. Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sind an der Vorbereitung beteiligt. Zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation von Frauen in den neuen Bundesländern ist das stärkere Zusammenwirken aller Verantwortlichen notwendig. Frau Bundesministerin Merkel hat deshalb für den 22. Juni 1993 einen Kreis von Spitzenvertretern und -vertreterinnen aus Politik, Wirtschaft und der Frauenverbandsarbeit eingeladen. Wir wollen mit dieser Konzertierten Aktion ein Signal setzen und die Verantwortlichen auf den verschiedenen Ebenen zur verstärkten Unterstützung der Arbeitsmarktinteressen von Frauen auffordern. Vorhandene Aktivitäten müssen gebündelt werden und mehr Schubkraft bekommen. Die Belange von Frauen müssen in allen arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Gremien auf den verschiedenen Ebenen und in den verschiedenen Regionen stärker thematisiert und berücksichtigt werden. Die Arbeitslosigkeit von Frauen kann nur dann effektiv bekämpft werden, wenn ein entsprechendes Pro- 14078* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 blembewußtsein und Bereitschaft zur aktiven Unterstützung von Frauen bei allen am Arbeitsmarkt Beteiligten und in der Öffentlichkeit vorhanden ist. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 15 (Antrag: Keine Versorgungsrenten für Mitglieder der Waffen-SS) Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was uns heute morgen beschäftigt hat, war die gespaltene deutsche Geschichte. Gegenstand der jetzigen Debatte ist gemeinsame Verantwortung für Opfer einer Unmenschlichkeit, die in unser aller Namen begangen worden ist. Die in Berlin und anderswo an die Häuserwände sprühen: „Deutschland, mir graut vor Dir" , die sind zu fragen, ob sie bereits verstanden haben, daß sie selbst sich in dieses Grauen einbeziehen und es auf sich selbst mitanwenden müssen. Denn auch in ihrem Namen ist in Lettland und anderswo gemordet und entwürdigt worden. Wer auch nur einen flüchtigen Blick in die vorliegenden Dokumentationen zu den Massenmorden an Juden in Lettland geworfen hat, der wird sofort verstehen, warum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an ihrem Antrag festhalten, auch nachdem die Bundesregierung in der Fragestunde vom 15. April 1993 durch Staatssekretär Günther ihre abweichende Position dargetan hat. Es geht um Rechtsunklarheiten und Rechtswidersprüche, die angesichts ihres historischen Kontextes auf jeden Fall bereinigt werden müssen. Niemand in der internationalen Öffentlichkeit, am allerwenigsten aber die betroffenen Opfer können verstehen, warum sie in Polen und den GUS-Staaten anders als in der Tschechischen Republik behandelt, in den Baltischen Staaten aber bisher überhaupt nicht berücksichtigt werden. Als eine schwer erträgliche Provokation muß es demgegenüber wirken, wenn lettische Legionäre der Waffen-SS Entschädigungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz erhalten. Die Erklärung der Bundesregierung, solche Leistungen würden nur denen zuteil, die Kriegsschäden im Dienst unter dem Befehl der Wehrmacht erlitten hätten, kann den skandalösen Widerspruch in dieser Rechtspraxis keinesfalls rechtfertigen, ja, noch nicht einmal mildern. Die reichlich vorhanden Unterlagen dokumentieren ganz eindeutig, daß Letten nur dann in WaffenSS-Verbände aufgenommen wurden, wenn sie sich zuvor als Kollaborateure an den Massenmordaktionen der Deutschen beteiligt hatten. Es kann unter solchen Umständen den lettischen SS-Legionären gegenüber keineswegs von einer Unschuldsvermutung ausgegangen werden. Der abweichende Rechtsstandpunkt der Bundesregierung folgt der freilich fast ungebrochen herrschenden Lehre, durch die Unterstellung unter die Deutsche Wehrmacht habe sich die Waffen-SS in einen normalen Truppenteil einer nationalen Armee verwandelt. Das ist eine Fiktion, die nicht nur im lettischen Fall an der historischen Realität scheitert. Sie steht auch im Widerspruch zum internationalen Recht, das im Urteilsspruch des Nürnberger Tribunals die SS als verbrecherische Organisation eingestuft und damit die, die ihr angehörten, allesamt unter den Verdacht der Mitschuld an Verbrechen gegen die Menschlichkeit gestellt hat. Wie lange noch will der gleiche Staat, der DDR-Rentner, die weder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben noch Mitglieder einer verbrecherischen Organisation waren noch mit der Stasi kollaboriert haben, wegen sogenannter „Systemnähe" mit Rentenkürzungen bestrafen, gleichzeitig SS-Legionäre als normale Entschädigungsberechtige, die Opfer der gleichen Legionäre aber bestenfalls als Almosenempfänger behandeln oder gar gänzlich mißachten? Volker Kauder (CDU/CSU): Am 29. März 1993 berichtete das Nachrichtenmagazin Panorama, daß lettische SS-Veteranen für ihren Dienst in der WaffenSS eine Kriegsversehrtenrente erhielten. Damit wurde der Eindruck erweckt, als ob allein die Zugehörigkeit zur Waffen-SS zu einer Kriegsversehrtenrente führe. Dies ist aber falsch. Richtig ist vielmehr, daß nach dem Bundesversorgungsgesetz eine Kriegsbeschädigtenrente gewährt werden kann, wenn während eines militärischen Dienstes eine erhebliche gesundheitliche Schädigung eingetreten ist. Eine solche gesundheitliche Schädigung kann bei einem ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS nur dann in Betracht kommen, wenn sie im Kriegseinsatz und unter dem Befehl der Wehrmacht entstanden ist. All die im Zusammenhang mit dieser Fernsehsendung in der Öffentlichkeit geäußerten Vermutungen, daß auch Gesundheitsschäden bei Dienst in speziellen SS-Verbänden, beispielsweise den SS-Totenkopfverbänden, zu einem Bezug von Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz führen könnten, sind deshalb abwegig. Die Diskussion um die Funktion der Waffen-SS kommt immer wieder auf. Wir, die Nachkriegsgeneration, sind auf Dokumente und Zeugnisse von Historikern angewiesen. Danach kann die Waffen-SS nicht pauschal verurteilt werden. Es gab schlimme Greueltaten vor allem der Spezialverbände. Die Waffen-SS war aber auch als kämpfende Einheit unter Führung der Wehrmacht tätig. Und wer während diesem Dienst eine bleibende gesundheitliche Schädigung erlitten hat, soll, so der Wille des damaligen Gesetzgebers, wie jeder andere Soldat entschädigt werden. Es kommt deshalb darauf an, den Einzelfall genau zu prüfen. Denn das Bundesversorgungsgesetz sieht vor, Leistungen dann zu entziehen oder nicht zu gewähren, wenn Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit vorliegen. Hier gibt es bereits eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und den das Bundesversorgungsgesetz ausführenden Ländern. Für die Beurteilung werden Auskünfte des Berlin-Document-Center und der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Lud- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 14079* wigsburg eingeholt. Wir werden im Rahmen der Ausschußberatungen prüfen, ob dies ausreichend ist, oder ob, wie es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern, eine weitergehende gesetzliche Regelung erforderlich ist. Wir sind uns aber einig darin, daß Verstöße gegen die Menschlichkeit und die Teilnahme an Ermordung von Juden zum Ausschluß von Leistungen führen müssen. Wichtig ist auch noch ein Hinweis zur Größenordnung: Zur Zeit werden in 129 Fällen Kriegsopferrenten nach Lettland gezahlt. Etwa die Hälfte der Empfänger sind Witwen. Der Durchschnitt der Leistungen beträgt im Einzelfall etwa 200 DM. Die in der Fernsehsendung genannte Zahl von 12 000 möglichen Antragstellern ist falsch. Vermutlich waren etwa 35 000 Letten im Dienst der Waffen-SS. Nur ein Teil von ihnen hat Kriegsschädigungen erlitten. Ein erheblicher Teil ist bereits verstorben. Gerade bei diesem sensiblen Thema ist es wichtig, nicht zu spekulieren, sondern von Fakten auszugehen. Wir werden prüfen, ob wir für die Neuanträge schärfere Bewilligungsvoraussetzungen schaffen können. Richtig ist, daß die Frage der Entschädigung der Opfer noch nicht abschließend geklärt ist. Hier gibt es Gespräche mit der lettischen Regierung, weil hier Regierungsabkommen notwendig sind. Es gibt aber bemerkenswerte private Initiativen, bei denen ich mich ausdrücklich bedanke. Wir werden auch diesen Themenkomplex in unsere Beratungen einbeziehen. Günther Heyenn (SPD): Die Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen die Angehörigen der Waffen-SS, die zur Waffen-SS nicht zwangsrekrutiert worden sind, von Ansprüchen nach dem Bundesversorgungsgesetz ausschließen. Hintergrund für diese Initiative ist ein Beitrag in der Panoramasendung vom 29. März 1993 und zahlreiche darauf basierende Presseberichte. Übereinstimmend berichten die Medien, daß derzeit 129 lettische Staatsbürger als ehemalige Angehörige der Waffen-SS Renten nach dem Bundesversorgungsgesetz beziehen. Über die Bewertung der Waffen-SS sollte eigentlich Einigkeit herzustellen sein. Die Waffen-SS, gegen Kriegsende an die 600 000 Mann stark, war eine ideologisch eingeschworene und elitäre Formation des Führers und alles andere als nur zufällig in Kriegsverbrechen und in die NS-Vernichtungsmaschinerei eingebunden. Sie war entscheidend beteiligt, wenn es galt, Hunderttausende von Juden und Kommunisten zu liquidieren. Die Waffen-SS war für die Belieferung der KZs mit Zyklon-B verantwortlich. Zwischen ihr und dem Wachpersonal in den KZs konnte ohne Bedenken das Personal getauscht werden. Deshalb: Sie, die Angehörigen der Waffen-SS, als normale Soldaten zu bezeichnen, wie Konrad Adenauer dies im August 1953 erstmals getan hat, ist falsch und hat mit der historischen Wahrheit und der Verantwortung dieser Elitegruppe für Verbrechen nichts gemein. Gleichwohl: Genau dies, die Behandlung der Mitglieder der SS als normale Zugehörige zur Wehrmacht, das ist die Praxis seit mehr als 40 Jahren in der Bundesrepublik. Dies ist aus heutiger Sicht eine Absurdität und ein Beispiel dafür, wie wir im Westen mit unserer Geschichte umgegangen sind. Aber: Mit dem Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN läßt sich das nicht rückgängig machen. Dieser Antrag ist sympathisch, er ist aber auch unrealistisch und er vermengt Sozial- und Strafrecht. Was aber geboten ist, das ist, mit einem damit aufs engste verknüpften Sachverhalt Schluß zu machen. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß zwar Angehörige der Waffen-SS Rentenansprüche geltend machen können, aber deutschsprachige Juden und Verfolgte des Nationalsozialismus, die nach dem Krieg die deutsche Staatsangehörigkeit erworben oder als Kontingentflüchtlinge Aufnahme in Deutschland gefunden haben, wenn sie deswegen einen Entschädigungsanspruch ihres Heimatlandes verloren haben, leer ausgehen. Auch wenn wir aus unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit heraus und unserem Verlangen, Strafrecht und Sozialrecht nicht miteinander zu verknüpfen, keine Möglichkeit sehen, dem Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Form zuzustimmen, unterstützen wir gleichwohl und mit allem Nachdruck das ebenfalls damit verfolgte Anliegen, wenigstens die Verfolgten und Opfer des Naziregimes nicht schlechterzustellen, als wir es mit den Tätern und Nazischergen tun. Meine Fraktion hat dazu in der letzten Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung einen Antrag eingebracht, daß deutschsprachige Juden aus den ehemaligen Ostgebieten, für die es bereits eine entsprechende Regelung mit dem Rentenreformgesetz 1990 gibt, ebenso wie NS-Verfolgte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben oder als Kontingentflüchtlinge aufgenommen wurden, Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz geltend machen können. Wenn es gelange, während des Beratungsverfahrens hierüber Einigkeit herzustellen, hätte sich die Initiative der Kollegen Ullmann und anderer bereits gelohnt. Die Beratung des Antrages wird auch Gelegenheit geben, die Behandlung von Ansprüchen staatsnaher Bürger im Dritten Reich und staatsnaher Bürger in der DDR nach 1949 bzw. nach dem 3. Oktober 1990 in Ruhe und Gelassenheit zu wägen und mögliche Konsequenzen zu überlegen. Wie wichtig das Nachdenken und wie notwendig das Aufarbeiten unserer Geschichte ist, haben die Ereignisse gezeigt, die Anlaß für die gestrige Regierungserklärung des Bundeskanzlers und der sich daran anschließenden Aussprache waren. Lassen Sie mich abschließend auf die Aberkennungsgründe hinweisen, die der Gesetzgeber bei der Regelung von Ansprüchen der Opfer des Faschismus und der Kämpfer gegen den Faschismus in der DDR gefunden hat. Dies wäre unter Umständen ein Weg im Bundesversorgungsgesetz, wenn auf den Nachweis der individuellen Schuld des einzelnen abgehoben wird. Darüber nachzudenken und alles gründlich zu prüfen, dazu bietet der Antrag von Bündnis 90 auf jeden Fall Anlaß. 14080* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 163. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Juni 1993 Wolfgang Lüder (F.D.P.): Es gibt immer wieder Informationen, die so unglaublich sind, daß sie zunächst nicht geglaubt werden. Die Meldung, die Bundesrepublik Deutschland, der freiheitliche Rechtsstaat, der in Abkehr vom NS-Regime zunächst in Westdeutschland gegründet, jetzt ganz Deutschland umfaßt, zahle Pensionen an die früheren Angehörigen der Waffen-SS in Lettland, zugleich aber lehne er jegliche Zahlungen an die Opfer des NS-Terrors in Lettland ab, war eine solche, nahezu unglaubliche Meldung. Was mir die Bundesregierung dann im April auf meine dazu eingereichten Anfragen sagte, brachte mir immer noch keine Klarheit. Entnehmen konnte ich daraus nur zweierlei: 1. Zwar erhält wohl nicht jeder Lette, der Angehöriger der Waffen-SS war, Kriegsbeschädigtenrente, wenn er in seinem Einsatz gegen die von Nazi-Deutschland überfallenen Schaden erlitten hat, manche aber wohl eben doch. 2. Daß aber lettische Opfer des NS-Unrechts nichts erhalten, ist sicher. Und hier liegt der Skandal, den der vorliegende Antrag in dankenswerter Weise aufgreift. Die Bundesrepublik Deutschland steht hier auf der falschen Seite. Ich habe zwar Verständnis dafür, daß die Bundesrepublik auch jenen lettischen Bürgern, die zwangsweise von NS-Deutschland rekrutiert wurden, um in den Verbänden der Waffen-SS Krieg gegen das eigene Volk und gegen andere überfallene Völker zu führen, Kriegsbeschädigtenrente zahlt, wenn sie Schaden erlitten haben. Ich werde aber den Verdacht nicht los, daß die Prüfung, die im Einzelfall dazu notwendig ist, die auch und insbesondere einbeziehen muß, ob der Angehörige der Waffen-SS selbst persönlich einer vorwerfbaren Tat schuldig gewesen ist, nicht mit der gebotenen Sorgfalt geführt wird. Wo bleibt denn z. B. dazu die generelle Überprüfung aller Anträge anhand des Document Centers in Berlin? Der Krieg, den das Nazi-Deutschland gegen die Völker der Welt führte, war Unrecht, war völkerrechtswidriges Verbrechen. Ihm freiwillig gedient zu haben darf keine Pensionszahlungen aus demokratischer Staatskasse rechtfertigen. Deswegen können freiwillig dienende Mitglieder der Waffen-SS schon gar nicht Anspruch erheben dürfen, bei uns Renten zu erhalten. Wieweit dies im einzelnen geschieht, wird Aufgabe der Prüfung bei der Antragsberatung in den Ausschüssen sein. Aber eines ist unerträglich: Daß die Bundesrepublik Deutschland den Opfern des NS-Terrors in Lettland die Fristeneinrede entgegen hält und sagt, „Wir geben euch nichts, weil wir heute nichts mehr geben", bedeutet einen so großen Verzicht auf moralische Kategorien politischen Handelns, daß die Bundesregierung hier dringend aufgefordert ist, wie sie es mit anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa auch getan hat, nach Wegen zu suchen, um wenigstens ein Minimum an Opferentschädigung zu gewähren. Von diesen Grundsätzen werden sich die Freien Demokraten bei der Ausschußberatung leiten lassen. Was bisher geschah: Geld für die Täter, nicht für die Opfer, ist für uns nicht akzeptabel. Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Zu einem Zeitpunkt, wo durch rechtsextreme Gewalt die Erinnerungen an Verbrechen von Gestapo, des Sicherheitsdienstes und der SS für viele in bedrückender Art und Weise wieder wach werden, lebt die Zahlung von Kriegsbeschädigtenrenten für SS-Waffen-Leute in Lettland — und wo demnächst noch? — auf. Nicht gedacht wird an die Tausende ausländische Opfer des Holocaust und der Vernichtungslager. Leer gehen auch all die aus, die gelitten haben unter der Okkupation der deutschen Wehrmacht, und die Tausende, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt waren. Sie und ihre Familienangehörigen erhalten keinen Pfennig. In Entschädigungsleistungen sind nach wie vor nicht einbezogen im Nazideutschland verfolgte Homosexuelle, Roma und Sinti, Bibelforscher und Zwangssterilisierte. Aber Leute, die sich freiwillig zur Waffen-SS meldeten und freiwillig für das verbrecherische Hitler-Regime gekämpft haben, erhalten ohne Einschränkung eine Beschädigtenrente. Gerade heute, wo wir uns bekennen müssen für mehr Demokratie, bekennen müßten gegen Gewalt und Rassismus, gegen Neofaschismus, sind sachliche Positionen gefragt. Es kann nicht darum gehen, im Sozialrecht verankerte Leistungen zu kippen. Aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der Urteile der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse müssen zu einem Ausschlußgrund im Bundesversorgungsgesetz werden. In diesem Sinne unterstützen wir das Anliegen des vorliegenden Antrags.
Gesamtes Protokol
Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216300000
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich folgende Mitteilungen zu machen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
2. Aktuelle Stunde: Zu den Konsequenzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum § 218 (In der 162. Sitzung bereits erledigt.)

3. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung TOP 19)

e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" — Drucksache 12/5137 —
f) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Weinrechts — Drucksache 12/5138 —
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Sofortiger Rückzug aus Somalia — Drucksache 12/5136 —
5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr in Somalia — Drucksache 12/5140 —
6. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. April 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa — Drucksachen 12/4273, 12/5114 —
7. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Ungarn — Drucksache 12/4274 — und
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Abkommen vom 16. Dezember 1991 zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten und der Republik Polen — Drucksachen 12/4275, 12/5155 —
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist.
Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 150. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. März 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich auch dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Dionys Jobst, Horst Gibtner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/4610 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß
Der in der 161. Sitzung des Deutschen Bundestages am 27. Mai 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich auch dem Finanzausschuß, Ausschuß für Wirtschaft und dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/5015 — Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Auschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß



Vizepräsident Hans Klein
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 9 — Vereinbarte Debatte zum Einsatz der Bundeswehr in Somalia — bereits nach der Fragestunde und vor Tagesordnungspunkt 8 aufzurufen. Der Tagesordnungspunkt 7 — Wahl des Bundesbeauftragten für den Datenschutz — soll erst am Freitag um 9 Uhr aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 19d — Europawahlgesetz — abgesetzt werden.
Sodann ist interfraktionell vereinbart worden, den Gesetzentwurf der Bundesregierung über das Aufspüren von Gewinnen aus schweren Straftaten, Gewinnaufspürungsgesetz, Drucksachen 12/2704 und 12/2747, sowie die Beschlußempfehlung und den Bericht des Innenausschusses dazu auf Drucksache 12/4795 zur Beratung an den Innenausschuß zurückzuverweisen. Mitberatungen durch andere Ausschüsse sind nicht mehr vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich dagegen kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erklärung der Präsidentin des Deutschen Bundestages zum 17. Juni 1953
Dazu erteile ich das Wort der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Professor Dr. Rita Süssmuth, zur Abgabe einer Erklärung anläßlich des 40. Jahrestages des Arbeiteraufstandes in der damaligen DDR.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216300100
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953, der Tag, an dem vor 40 Jahren der Volksaufstand in der DDR niedergeschlagen wurde, ist ein Tag, den wir Deutschen nicht hoch genug einschätzen können. Es ist wichtig, daß wir darüber öffentlich reden und uns Klarheit verschaffen. Warum?
Erinnern wir uns: Noch 1989 zweifelten viele in Deutschland und Europa, ob es denn in der DDR je zu einer Befreiungsbewegung breiter Massen des Volkes kommen könne; denn nirgendwo sei das kommunistische System fester verankert als dort; es gebe keine breite Befreiungsbewegung. Dies erwies sich als Irrtum.
Wichtig muß uns heute sein, das bewußt zu machen, was über Jahrzehnte in der DDR von den politischen Machthabern gefürchtet, aber geleugnet und verfälscht wurde: der Aufstand des Volkes gegen Diktatur und Gewalt am 17. Juni 1953, die erste große Befreiungsbewegung, auf die die Menschen in der früheren DDR und wir alle stolz sein können.
Menschen in der DDR waren die ersten, die nach 1945 im kommunistischen Herrschaftsbereich gegen das Regime aufstanden, auf die Straße gingen. Sie kämpften für mehr als für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie wollten Demokratie statt Parteidiktatur, Freiheit statt Unterdrückung, Einheit statt Trennung und Teilung.
Es war der erste Versuch einer revolutionären Veränderung im damaligen Ostblock. Es folgten der Volksaufstand in Ungarn 1956, Prag 1968, dazwischen Jahre der Verhärtung, geringer Hoffnung auf politisches Tauwetter und Reformen. Aber es kam das Jahr des Durchbruchs 1989.
Schreiben wir eines fest in unser historisches Gedächtnis: Es gab und gibt zentrale Ereignisse in unserer demokratischen Tradition, Mut, Willen zur Demokratie, Bereitschaft zum Widerstand. Der erste Versuch führte nicht zum Erfolg; aber er prägte sich tief in das Gedächtnis der Menschen ein. Dieser Versuch war nicht vergeblich, nicht umsonst.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nach der Wende bestätigte sich in den bis dahin verschlossenen Archiven, was zu vermuten war: Dieser Volksaufstand mußte geleugnet und als faschistischer Putsch, als kriminelle Provokation westlicher Kapitalisten ausgegeben werden, weil er in der Tat von äußerster Gefährlichkeit war. 1953 stand die politische Macht der kommunistischen Partei auf tönernen Füßen. Ohne den militärischen Einsatzbefehl aus Moskau bestand kaum Aussicht, den Aufstand politisch zu überleben.
Dieser 17. Juni mit seiner monatelangen Vorgeschichte und den Ereignissen bis in den Spätsommer 1953 mußte als Störfall diffamiert werden, durfte keinen Eingang in das Gedächtnis und das Gedenken der Menschen finden. Aber wir wissen heute: Er wurde zum Trauma der Machthaber, wie sich 1989 zeigte.
Bei dem Volksaufstand schlossen sich den Arbeitern spontan Menschen aus allen sozialen Schichten an. In fast 400 Orten kam es zu Demonstrationen und Unruhen. Entscheidend war der Schritt aus den Werktoren, den Wohnungstüren, den Büros, den Universitäten und Schulen in die Öffentlichkeit, auf die Straße. Auf den Straßen wurden sich die Menschen ihres gemeinsamen Wunsches nach Gerechtigkeit, politischer Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung und Einheit bewußt. Von hier aus breitete sich zum erstenmal nach der Teilung Deutschlands und der Teilung Europas die Forderung der Barger nach einem einheitlichen demokratischen deutschen Staat aus. Man skandierte den Ruf: „Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" Anders als der Ruf: „Wir sind das Volk!" erstarb er am 17. Juni unter den sowjetischen Panzern und den Salven aus den Maschinengewehren der kasernierten Volkspolizei.
Allein bis zum 30. Juni 1953 wurden mehr als 6 000 Menschen festgenommen und viele von ihnen zu langjährigen Haftstrafen und Zwangsarbeit verurteilt. Sie mußten berufliche Nachteile hinnehmen oder wurden am beruflichen Fortkommen gehindert. Viele der Opfer leben noch unter uns, und es gibt zahlreiche, oft erschütternde Zeitzeugenberichte. Aber auch diese Repressionen nach dem 17. Juni konnten die Kritik am Regime nicht zum Verstummen bringen.
Wir würdigen heute alle diejenigen und erinnern uns derer, die sich in den 36 Jahren danach dem Regime widersetzt haben, die z. B. lange Haftstrafen erdulden mußten, weil sie eine andere als die politisch



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
opportune Meinung vertraten, z. B. gegen den Mauerbau und für den Prager Frühling eintraten, die mit Schreib-, Studier-, Rede- und Auftrittverbot belegt wurden, die sich als Sozialdemokraten der Zwangsvereinigung und als Landwirte der Kollektivierung widersetzten, die als Angehörige der Jungen Gemeinde vom Studium relegiert wurden und denen auf Grund ihres christlichen Elternhauses der Berufsweg verbaut wurde.
Aber auch für uns Westdeutsche war und ist dieser Tag wichtig, um uns selbst an diesen 17. Juni immer wieder zu erinnern. 1953 waren sich alle Parteien mit Ausnahme der Kommunisten im Deutschen Bundestag in der Beurteilung dieses Aufstandes einig. Der klare Wille zu Demokratie und Einheit stand außer Frage. Das ist aus den Reden Konrad Adenauers, Herbert Wehhers oder Willy Brandts eindeutig nachweisbar. Kontrovers debattiert wurde über Vorrang und Prioritäten von Westintegration und/oder deutscher Einheit. Aber die Bedeutung dieses Aufstandes für ein in Freiheit geeintes deutsches Vaterland war 1953 und in den Folgejahren unumstritten.
Das änderte sich erst nach dem Mauerbau 1961. 1953 wurde spontan am 4. August der nationale Feiertag gesetzlich eingeführt als Tag der deutschen Einheit, von Anfang an begleitet von der Diskussion, ob nationaler Feiertag oder Gedenktag. 1968 fand keine Feierstunde oder Debatte zum 17. Juni im Deutschen Bundestag statt. Ab 1969 traten die Berichte zur Lage der Nation an die Stelle der bisherigen Gedenkreden.
Die historische Bedeutung dieses Tages ließ in der Erinnerung nach, je geringer die Aussichten auf eine baldige Wiedervereinigung waren. Nicht das historische Ereignis des 17. Juni wurde in Frage gestellt; streitig war, was aus ihm folgte, z. B. ob überhaupt in naher Zukunft noch eine reale Aussicht auf Wiedervereinigung bestehe, ob wir uns nicht mit den Realitäten abzufinden hätten und sie annehmen müßten. Auch über die Beziehungen zur DDR wurde grundsätzlich gestritten.
Ich denke, das Erinnern, auch das streitige Gedenken hat sich gelohnt; denn 1989 wurde mit der Rede Epplers im Bundestag ein wichtiger Schritt wieder zu gemeinsamer Perspektive vollzogen. Der Gedanke der Einheit wurde wieder stärker. Es war richtig, daß wir als Politiker es nie aufgegeben haben, dieses Vermächtnis weiterzuführen, in unterschiedlicher Auffassung über das, was wir für politisch machbar und notwendig hielten. Ich denke, aus heutiger Sicht waren wir gut beraten, an diesem Vermächtnis unerschütterlich festzuhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Menschen in den neuen Bundesländern — das zeigen uns die Forschungen der Historiker — muß nach der Wende die Geschichte dieses Tages neu geschrieben und interpretiert werden. Auch wir im Westen lernen hinzu. Das meiste wird bestätigt, das Bild differenziert sich durch die Ergebnisse der neuesten Forschung.
Die Verpflichtung des 17. Juni aber lautete damals wie heute: Einheit in Gleichheit, in Freiheit und in
Frieden. Die Einheit in Gleichheit — so haben die Redner zum 17. Juni häufig betont — heißt: Leben in einer demokratischen Werteordnung. Das haben wir 1990 erreicht. Deshalb bedeutet es auch heute, gleiches und gegenseitiges Verständnis aufzubringen für die andersartigen Lebensbedingungen, unter denen wir bis zur Wende gelebt haben und unter denen wir zum Teil auch heute noch leben.
Eine indianische Weisheit bittet darum, niemanden zu beurteilen, bevor man zehn Schritte in seinen Schuhen gegangen ist. Ich beziehe diesen Satz auch auf unsere Vergangenheit. Zu diesen Schritten in den Schuhen des anderen müssen wir bereit sein. Den Schuh müssen wir uns sogar anziehen, indem wir uns mitteilen, wie wir gelebt haben, wie wir leben, und zwar vorurteilsfrei und ohne erhobenen Zeigefinger im Westen. Wir brauchen dieses Gespräch über die Vergangenheit aber auch, um unser Gewissen zu schärfen, um uns bewußt zu machen, welche Lehren wir gemeinsam für die Zukunft ziehen können.
Zur Einheit in Gleichheit gehört die schrittweise Angleichung der Lebensbedingungen. Wir wissen, daß es vielen Menschen nicht schnell genug geht. Wir wissen auch um Fehler, die wir gemacht haben; aber wenn wir die Geschichte des 17. Juni, wenn wir die nachfolgenden Jahre und das Jahr 1989 ernst nehmen, dann ist die Angleichung der Lebensverhältnisse ein kleiner Schritt zu der langen Geschichte des Befreiungsprozesses und des Zieles, zu dem wir heute gemeinsam stehen und von dem es kein Zurück mehr gibt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mir scheint es wichtig, daß wir in dieser demokratischen Tradition daran erinnern, daß es zugleich Einheit in Freiheit und in Frieden ist, daß es dabei um eine neue Wertschätzung der Freiheit geht, die wir nicht jenen überlassen wollen, die sie mißverstehen, die sie in ihr Gegenteil verkehren. Auch dazu verpflichtet uns das Vermächtnis des 17. Juni: nicht nachzulassen im Kampf gegen die Feinde der Demokratie im Sinne einer wehrhaften Demokratie, indem wir nicht das Feld den Baseballschlägern, den mißverstandenen, willkürlichen Freiheiten überlassen, sondern uns in die Tradition der Wertedemokratie stellen. Wir haben alle Chancen, dies miteinander zu schaffen, wenn wir es gemeinsam wollen; denn jede Zeit hat ihre eigenen Widersacher, die wir nur gemeinsam bezwingen können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Dies gilt für die Einheit in Frieden, im inneren und im äußeren Frieden. Es ist wichtig, daß wir wirklich zusammenwachsen. Teilen besteht gerade auch im wechselseitigen Sichmitteilen im Sichannehmen und Sich-nicht-wieder-aus-den-Augen-Lassen.
In der Tradition des 17. Juni wissen wir heute: Dieses Deutschland ist immer wieder fähig zu einem ganz festen Zusammenstehen, zu demokratischem Mut, zum Aufstand, wenn es notwendig ist. Meine Aussage gegenüber diesem 17. Juni lautet: Für alle Deutschen ist und bleibt der 17. Juni zugleich Mah-



Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
nung und Ansporn, die Einheit im Inneren Deutschlands zu vollziehen und die Demokratie zu schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216300200
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte
anläßlich des 40. Jahrestages des Aufstandes am 17. Juni 1953 und Beratung der dritten Beschlußempfehlung und des dritten Teilberichts des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes
— Drucksachen 12/4500, 12/4832, 12/4970 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Dr. Andreas von Bülow
Arno Schmidt (Dresden)

Andrea Lederer
Ingrid Köppe
Zur Beschlußempfehlung des Untersuchungsausschusses liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der F.D.P. vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Rainer Eppelmann.

Rainer Eppelmann (CDU):
Rede ID: ID1216300300
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte lenkt unsere Blicke zuürck in eine Vergangenheit, die nun schon fast ein Menschenalter hinter uns liegt. In verschiedenen Veranstaltungen wird in diesen Tagen die Frage gestellt: Was war der 17. Juni 1953? Was bedeutet uns das Gedenken an den 17. Juni 1953 heute im wiedervereinigten Deutschland?
Viele fragen angesichts der großen und aktuellen Probleme: Macht es überhaupt noch Sinn, eines Ereignisses zu gedenken, das so lange zurück liegt, da wir doch alle Kräfte auf die Gestaltung der Zukunft richten müssen?
Wir verkennen heute: Einem Volk, das sich nicht mit seiner Vergangenheit, mit seiner Geschichte befassen will, geht es so wie einem Menschen, der aus seinem bisherigen Leben einfach keine Lehren ziehen will. Er macht immer wieder dieselben Fehler. Welcher kluge Mensch, welches kluge Volk verhält sich so und faßt immer wieder an dieselbe heiße Ofentür, an der man sich die Finger doch schon so kräftig verbrannt hat?
Noch ist die Wiedervereinigung Deutschlands geistig und wirtschaftlich keineswegs vollendet. Zunehmend gewinnen wir den Eindruck, daß diese Aufgabe sehr viel länger den Einsatz aller unserer Kräfte in Anspruch nehmen wird, als wir in jener glücklichen Nacht glauben wollten, in der sich die Berliner Mauer für die Berliner öffnete und sich die Menschen aus Ost
und West immer wieder im Überschwang ihrer Freude umarmten.
Inzwischen haben uns die Realitäten der Gegenwart eingeholt, und zu diesen Realitäten gehören auch jene Vergangenheit, die seit dem Kriegsende 1945 das Leben der Menschen in Deutschland über mehr als 40 Jahre hinweg bestimmte, und viele Probleme, mit denen wir uns heute herumplagen, erst zu solchen machte. Wir sollten energisch widersprechen, wenn kurzsichtige Menschen die Politiker in Bonn und Potsdam, in Berlin, Düsseldorf oder Schwerin für das verantwortlich machen wollen, was auf das Konto von Erich Honecker, Schalck-Golodkowski, Mielke oder Krenz gehört.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Laßt uns widersprechen, wenn unhistorisch dahergeredet wird und damit unverantwortlich Feuerwehr und Brandstifter verwechselt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wieder aber stehen wir in Deutschland vor der Frage: Wie gehen wir mit unserer Vergangenheit um? Wie gehen wir mit einer Vergangenheit um, die durch eine totalitäre Ideologie und eine Diktatur geprägt war?
Eines dürfte schon jetzt klar sein. Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, als ob mit der Wiedervereinigung Deutschlands alle die Tage vorher ins Nichts abgesunken wären. Wir erleben doch gerade in diesen Wochen auf eine besonders brutale Weise, wie sich die Vergangenheit, die nicht wirklich und allseitig aufgearbeitet wurde, mit all ihrer Furcht und all ihrem Schrecken wieder zurückmeldet. Die Brandanschläge im Land, die sich gegen Leben und Eigentum unserer ausländischen Mitbürger richten, malen es mit Flammenzeichen an die Wand. Wo eine dunkle Vergangenheit mit ihren Wahnideen nicht bis zum Schluß aufgearbeitet worden ist, da werden die alten bösen Verhaltensmuster immer wieder neu aufleben können. Wo es nicht im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet wurde, daß die Würde des Menschen von keiner Ideologie angetastet werden darf, da kann die Unmenschlichkeit erneut triumphieren.
Auch gegenüber der SED-Diktatur werden wir um die Aufgabe der Aufarbeitung der Vergangenheit nicht herumkommen. Alles, was wir da jetzt versäumen, müssen wir zu einem späteren Zeitpunkt bitter bezahlen.
Schon jetzt trägt die menschlich gewiß nachzuempfindende DDR-Nostalgie, die von interessierter Seite zielbewußt befördert wird, höchst gefährliche Züge. Sie vernebelt nämlich immer stärker den klaren Blick für die Unmenschlichkeiten, die die Geschichte der SED-Diktatur begleiteten. Die Opfer des 17. Juni 1953 sind ja nur eine kleine Gruppe unter all den Menschen, die die SED-Diktatur in den Tod, in die Verzweiflung oder aus dem Land trieb. In 40 Jahren der SED-Diktatur waren es rund 2,7 Millionen Menschen, die das Land verließen. Die Zahl derer, die an den befestigten Grenzen der DDR niedergeschossen wurden, ist selbst in Salzgitter noch nicht genau



Rainer Eppelmann
bekannt. Und erst jetzt beginnen wir eine Vorstellung davon zu gewinnen, wieviel Menschen in der DDR durch ungerechte Haftstrafen, Eingriffe in ihren beruflichen Werdegang, entwürdigende Behandlung durch die sogenannten Staatsorgane, Verweigerung der Reisefreiheit und Vorenthaltung von Informationen aller Art in ihrem Lebensrecht verkürzt wurden.
Wer diese schlimmen Tatsachen heute unterdrückt und dafür lieber den scheinbaren sozialen Wohltaten des Arbeiter-und-Bauern-Staates nachtrauert, der stellt sich — man verzeihe mir den harten Vergleich — in die Nähe derer, die Hitlers Autobahnbau und seine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch den Ausbau einer gigantischen Rüstungsindustrie aufrechnen wollen gegen die Verbrechen einer braunen Diktatur.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. UweJens Heuer [PDS/Linke Liste]: Immer wieder diese Gleichsetzung, Herr Eppelmann!)

— Für die Opfer ist Henker gleich Henker und Kerkermeister gleich Kerkermeister.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU: Die Henker sollten ruhig sein!)

Wir sind dazu verpflichtet, klare, differenzierte und menschliche Maßstäbe für die Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in ganz Deutschland zu erarbeiten. Wir werden konkret von dem alltäglichen Druck zu sprechen haben, der im Alltag der DDR das Leben der Menschen oft so unerträglich machte, daß sie zu Millionen flohen, von diesem Elend, was sie verdrängten. Haben wir uns schon einmal gefragt, wie die unzähligen Spitzel, die dem MfS freiwillig und auch gezwungen zu Diensten waren, das Zusammenleben der Menschen vergifteten? — Wir werden Herrn Diestels Behauptung, die Stasi habe die innere Ordnung erhalten und Wirtschaftsspionage verhindert, als Verhöhnung der Opfer und Stabilisierung des Mißtrauens in den demokratischen Rechtsstaat entlarven müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer so daherredet, beschreitet nicht den Weg der Versöhnung, sondern betreibt die Verhöhnung von Opfern und Zeugen einer schweren Zeit, die es besser wissen, weil sie es erlebt haben.
Wir werden davon zu berichten haben, wie die extremen Privilegien, die die herrschende Kaste in der DDR sich selbst einräumte, ständig die Würde der Nichtprivilegierten verletzte. Wir werden die Frage nach der individuellen Schuld und der Gesamtverantwortung dafür, daß die DDR-Diktatur mehr als 40 Jahre in einem Teil Deutschlands Bestand haben konnte, sehr direkt stellen müssen. Wir werden darüber reden müssen, wer durch seine Verflechtungen in die Strukturen der SED-Diktatur als objektiv und dauerhaft kompromittiert zu gelten hat. Wir werden auch darüber miteinander streiten müssen, welche
politischen Verhaltensweisen im Westen zur Stabilisierung dieser Diktatur beitrugen.

(Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir werden uns um klare Urteile in diesen Fragen und noch manch anderen nicht drücken können, wollen wir diese Vergangenheit wirklich aufarbeiten.
Zur Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen dieser Diktatur in Deutschland gehört neben dem Blick zurück aber auch der Blick in die Zukunft. Wie soll es weitergehen in diesem wiedervereinigten Deutschland, in dem wir alle als Zeitgenossen auf diese oder jene Weise in dieses Unrechtsregime hineinverstrickt waren?
Zukunft eröffnet sich bei der Aufarbeitung von Vergangenheit immer da — so glaube ich —, wo die Wahrheit in ihr Recht gesetzt wird. Wo Wahrheit ist, da kann auch Vergebung Raum gewinnen. Ich bin zutiefst davon überzeugt: So, wie wir mit den Menschen unmittelbar um uns herum nur leben können, wenn wir einander auch vergeben können, so wie wir einander vergeben dürfen, so ist das Miteinanderleben in einem Volk und auch in einem Staat nur dann möglich, wenn wir die befreiende Kraft der Vergebung und Versöhnung zur Wirkung kommen lassen. Damit ich aber hier nicht mißverstanden werde: Vergebung kann nicht jene Haltung meinen, die achselzuckend sagt, Schwamm drüber und vergessen — nein, so billig dürfen und können wir es uns nicht machen.
Ich glaube, daß es in der SED-Diktatur eine Verstrickung gegeben hat, die tatsächlich zu einer objektiven Kompromittiertheit führte. Diese scheint es mir immer da gegeben zu haben, wo keine Einsicht in die eigene Schuld vorhanden ist. Weiter betrachte ich jene als ganz konkret objektiv kompromittiert, die in der SED-Hierarchie, z. B. in Politbüro und Zentralkomitee, hervorragende Positionen einnahmen oder als Spitzenfunktionäre im Staatsapparat und in den Blockparteien, im Sicherheitsdienst, der NVA oder auch der Volkspolizei tätig waren. Sie sollten in unserem Staat keine leitenden öffentlichen Funktionen wahrnehmen.
Ich kann mir Erich Honecker heute nicht als Ehrenbürger von Berlin, Stephan Hermlin als automatisch übernommenes Mitglied der neuen Akademie der Künste,

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

den Kaderchef eines sozialistischen Großbetriebes nicht als Leiter eines Arbeitsamtes und alte Politgrößen wie Krenz und Berghofer nicht als Spitzenmanager in der Wirtschaft vorstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Zeit heilt nicht alle Wunden. Es könnte das politische Klima in unserem Land bereinigen, wenn alle, die objektiv kompromittiert sind, sich selber eine



Rainer Eppelmann
Pause verordneten und nicht gleich wieder die Bestimmer sein wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das würde uns bei einer Klärung unserer Beurteilungsmaßstäbe helfen und ihnen Gelegenheit geben, die eigene Vergangenheit kritisch zu bedenken und zu überlegen, wo sie in Zukunft einen angemessenen Platz finden können.
Ich wende mich voller Überzeugung auch gegen alle gelegentlich zu vernehmenden Forderungen nach einer Generalamnestie. Wir würden damit allen Opfern der SED-Diktatur in Deutschland erneut schweres Unrecht zufügen. Über eine Amnestie kann erst ernsthaft nachgedacht werden, wenn wir wissen, was es zu vergeben gibt,

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und wir eine Vorstellung davon haben, was wir nicht mehr strafrechtlich verfolgen müssen und wollen. Mir geht es um die Menschen in diesem Land, wie sie mir ganz konkret begegnen, und mir geht es darum, wie wir Menschen in Zukunft miteinander leben können zum Nutzen für uns alle und für unser Land.
Wir müssen angesichts der von niemandem vorausgesehenen Entwicklung der deutschen Dinge über die Verlängerung von Verjährungsfristen nachdenken. Das gäbe den Opfern, die sich oft in großen Beweisschwierigkeiten befinden, Zeit, ihre Ansprüche genauer überprüfen zu lassen. Das würde aber auch der Justiz zu einer größeren Gelassenheit bei der Ermittlung und der Urteilsfindung helfen können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich plädiere dafür, denen, die schuldig wurden oder sich verstricken ließen, heute schon klare Perspektiven zu eröffnen. Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Weg ein Stückchen gangbarer würde, wenn man sagen würde: Du bist zur Zeit auf Grund deiner Vergangenheit auch im wohlverstandenen eigenen Interesse nicht geeignet, eine öffentlich hervorgehobene Position einzunehmen. Wir wünschen dich aber als Mitarbeiter beim gemeinsamen Aufbauwerk. Bringe dich ein mit all deinen Fähigkeiten und Möglichkeiten. So nützt du allen und hilfst dir selbst.
Solches Tun bringt verlorengegangenes Vertrauen zurück. Und wo Vertrauen wächst, gibt es auch Hoffnung auf einen neuen Anfang miteinander.
Heute habe ich gelegentlich den Eindruck, daß diese Perspektive selbst für die Menschen mit einer eher geringfügigen Schuld vorschnell verbaut wird. Diejenigen, die sich als Mitglieder der Blockparteien oder der SED in die Diktatur verstricken ließen, handelten aus unterschiedlichsten Motiven: aus Angst, aus Karrierestreben, aus Sorgen um die berufliche Zukunft der Kinder, aus persönlichen Bindungen, aber immer wieder auch aus sehr idealistischen Motiven.
Ich erinnere hier nur an Menschen wie Herbert Wehner, Heinz Brandt, Wolfgang Leonhard, Alfred Kantorowicz, Hans Mayer, Robert Havemann oder auch Vera Wollenberger. Sie wuchsen in bestimmte Denk- und Verhaltensmuster hinein, erlebten einen Wendepunkt in ihrem Leben und stellten sich ihren Erkenntnissen, korrigierten sich selber und gewannen wesentliche Anteile daran, daß die Demokratie in ganz Deutschland siegen konnte. Waren sie alle, die sich so grundlegend neu orientierten, und noch manche andere, die ich hier nennen müßte, Wendehälse? Nach welchen Maßstäben beurteilen wir das Verhalten der Menschen in der DDR? Sind wir tatsächlich gerecht und fair?
Wir werden da in Zukunft, so meine ich, noch sehr viel sorgfältiger urteilen und uns die Frage stellen müssen: Wie wollen wir unterscheiden zwischen einfachen SED-Mitgliedern, Mitgliedern in den Blockparteien oder auch im FDGB? Worin unterscheiden sich diese Menschen grundsätzlich von denen, die in der DDR parteilos blieben? Wollen wir auf alle diese Menschen wirklich endgültig oder auch vorübergehend verzichten? Gab es nicht auch innerhalb der DDR unter uns so etwas wie eine Gnade der Geburt?
Die entscheidende Frage ist doch nicht, wie hart einer angeklagt oder protestiert hat, sondern die entscheidende Frage ist doch, wie optimal er seine eigenen persönlichen Möglichkeiten genutzt hat. Wollen wir eigentlich vollständig ausschließen, daß Menschen auch heute noch sich ändern und zu neuen Einsichten gelangen können? Sollte es heute nicht mehr möglich sein, sich glaubwürdig von den Zielen und den Handlungen der SED zu trennen? Ist ein braver Mensch nur der, der das vor dem 3. Oktober oder dem 18. März 1990 oder dem 9. November 1989 oder schon früher tat? Bis wann mußten denn solche Erkenntnisse gewonnen sein, damit sie vor unserem Urteil Bestand haben? Sind wirklich alle, die erst nach der Wende umzudenken begannen, nichts anderes als Wendehälse? Wollen wir nicht anfangen, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen wir auf diese Menschen erneut zuzugehen bereit sind?
Menschen, so meine ich, irren sich immer wieder. Ich selbst — ich gebe es zu — habe mich oft geirrt, vorgestern, gestern und heute. Ich bin ganz sicher, daß ich mich auch morgen wieder irren werde. Irrtümer können wir Menschen einander verzeihen, wenn wir sie uns ehrlich eingestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nur Lügen machen menschliches Miteinander unmöglich, wie ich meine, unsere Irrtümer nicht. Es bedeutet doch immer wieder neu Arbeit, Lüge und Irrtum zu unterscheiden. Laßt uns dabei nicht müde werden. Denn es geht bei der Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur in Deutschland um die Erarbeitung unserer gemeinsamen Zukunft. Laßt sie uns mit menschlichen und gerechten Maßstäben und im Geiste der Versöhnung bauen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216300400
Als nächster spricht zu uns Markus Meckel.

Markus Meckel (SPD):
Rede ID: ID1216300500
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor 40 Jahren scheiterte in der DDR der Aufstand der Tage um den 17. Juni. Nicht immer kann man nach 40 Jahren sagen: Was die Menschen damals wollten, ist erfüllt. Gewiß, es gab damals keine organisierte Leitung, die die Ziele klar formuliert hätte. Doch die Losungen und Sprechchöre waren eindeutig. Man wollte von Anfang an nicht nur die Rücknahme der neuen Arbeitsnormen, sondern den Sturz des verhalten Systems und freie Wahlen in ganz Deutschland. „Nicht mehr Sklave sein", so war die Losung, „Freiheit und Einheit für die Deutschen".
Diese Ziele sind heute nach 40 Jahren erreicht. Mir haben Akteure von damals gestern bei der Veranstaltung der Enquete-Kommission in Berlin zum Teil unter Tränen erzählt, wie dankbar sie dafür sind, daß sie dies noch erleben durften, und ich bin es mit ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Tage damals haben nicht wenige Opfer gefordert, die wir nicht vergessen dürfen. Mehr als 200 Tote — die meisten übrigens außerhalb Berlins; wir starren ja immer nur auf Berlin —, Tausende Verhaftete, die mehrere Jahre hinter Gefängnismauern verbrachten, und viele andere, die in Beruf, Ausbildung und in ihrem Lebensweg schwer beeinträchtigt wurden.
Zu vergessen seien aber auch nicht die 18 sowjetischen Soldaten, die sich zu Schießen weigerten und dafür selbst standrechtlich erschossen wurden, wie ein übergelaufener Soldat von ihnen berichtet. Diese Nachricht ist bisher in deutschen Quellen noch nicht bestätigt. Wir müssen in sowjetischen Archiven nachsehen. Aber wenn wir ihre Namen wissen, die Namen dieser mutigen Männer, dann sollten wir sie auch konkret ehren, und sie sollen eine Stätte des Gedenkens finden.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Allzuleicht gedenken wir historischer Tage und vergessen dabei, daß Akteure noch unter uns leben und es ihnen manchmal „ganz schön dreckig" geht. Hier brauchen wir, glaube ich, mehr Aufmerksamkeit.
Der 17. Juni 1953 war ein Fanal. Er war eines der wenigen und wichtigen Beispiele des mutigen Freiheitswillens in sklavischer Zeit deutscher Geschichte. Die Menschen rissen einem gesellschaftlichen System die Maske vom Gesicht, das behauptete, gerade die Interessen der Mehrheit der arbeitenden Menschen zu vertreten. So war es für die Herrschenden besonders peinlich, daß gerade Arbeiter das Signal zum Aufstand gaben. Sie fanden als einzige Möglichkeit, sie als westliche Provokateure, als fremdgesteuerte Feinde des Volkes zu denunzieren.
Für die Menschen in der DDR lösten die Ereignisse dieser Tage aber auch ein Trauma aus: Es war
überdeutlich, ohne das Eingreifen der Sowjets wären Ulbricht und das ganze System hinweggefegt worden. Außerdem ging die vielleicht unrealistische, aber doch dort vorhandene große Hoffnung, daß der Westen dies alles nicht zuläßt, nicht in Erfüllung. Man fühlte sich allein gelassen.
Die Faust der Sowjets und die Hilflosigkeit des Westens hatten den Erfolg des Aufstands verhindert. Die Menschen zogen daraus resignierend die Lehre: Du kannst hier nichts ändern, du mußt dich irgendwie einrichten, oder du mußt gehen. 1961 — da Hunderttausende gegangen waren — wurde auch diese Möglichkeit noch ausgeschlossen.
Ich mache hier dem Westen keinen Vorwurf. Was hätte man denn damals tun sollen, ohne die Gefahr eines Krieges einzugehen? Gleichzeitig war aber hier schon manifest, was 1956, 1961 und 1968 dann nur noch bestätigt wurde, daß die Politik des Kalten Krieges den Menschen im Osten trotz wohlmeinender Worte nicht helfen konnte.
Seit dem 17. Juni 1953 war deutlich, daß der Westen Freiheit im Osten und die Einheit Deutschlands nicht schaffen konnte. Viele im Osten empfanden dann auch manche Reden, die jedes Jahr am 17. Juni gehalten wurden, als Sonntagsreden. Man konnte im Westen helfen, daß die Tür offenblieb — und das war wichtig —, aber man konnte nicht durch sie hindurchgehen. Das konnten nur die Ostdeutschen.
In der DDR brauchte es einer ganzen neuen Generation, die nicht mehr das Trauma des 17. Juni hatte, es brauchte anderer internationaler Rahmenbedingungen, für die die Stichworte und Symbole „Ostpolitik", „Helsinki" und später der Name Gorbatschow standen, um aufzustehen und das Regime zu beseitigen und damit Jahrzehnte später zu schaffen, was vor 40 Jahren scheiterte: die Freiheit für alle Deutschen, was dann sofort hieß: die Einheit Deutschlands.
Ich glaube, für viele zu sprechen, wenn ich sage: Wir sind froh, das im Osten getan zu haben und diese Jahre erleben zu dürfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Heute ist das alles Vergangenheit. Die DDR-Geschichte liegt abgeschlossen hinter uns, doch die Teilung ist nicht überwunden. Sie hat viele Dimensionen: die immer noch steigende Arbeitslosigkeit und Entindustrialisierung des Ostens, die Benachteiligung der Ostdeutschen in Ausbildung und Wissenschaft genauso wie in der Eigentumspolitik. Für eine Generation wird es die Unterschiede bei der Vermögensbildung geben. Ich denke an die Treuhandpolitik und daran, was jetzt häufig mit land- und forstwirtschaftlichen Flächen geschieht. Die strukturelle Benachteiligung der Mehrheit der Menschen im Osten wird bei Fortführung dieser Politik noch lange dauern, und sie ist auch bei einer besseren Politik nicht mit einem Schlag aufzuheben.
Wir brauchen ein dauerhaftes bewußtes Suchen, Phantasie zur Veränderung von Strukturen, die das Zusammenwachsen der Deutschen fördert und Benachteiligung mildert, auch wenn alteingefahrene



Markus Meckel
Gleise der alten Bundesrepublik dafür an einigen Stellen verlassen werden müßten.
Viele im Osten und im Westen dachten 1990: einen Schlußstrich unter die DDR und weiter so wie in der alten Bundesrepublik Deutschland. Heute wird immer mehr Menschen klar, daß das nicht geht. Das gilt nicht nur wegen der Veränderungen in Europa nach Wegfall des Ost-West-Konfliktes, was heute hier nicht Thema sein kann.
Wir sind alle, die wir hier sitzen und im Lande leben, geprägt von dieser Geschichte der Teilung. Wir im Osten sind geprägt vom Leben in der DDR. Wir wollen unser Leben nicht wegwerfen. Wir wollen mit diesem unserem gelebten Leben im geeinten Deutschland nicht nur geduldet, sondern gleichberechtigt sein.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das heißt nicht, daß es in bezug auf unsere Vergangenheit nichts nachzufragen gäbe, zum eigenen Lebensweg genauso wie grundsätzlich zum Leben in einer Diktatur. Es gilt nämlich genauso wie bei der deutschen Diktatur davor: Ein solches Herrschaftssystem kann sich nur halten, wenn sich die Menschen, aus welchen guten oder schlechten Gründen auch immer, darin einrichten. Eine Handvoll Menschen kann nicht Millionen allein unterjochen, dazu gehören viel mehr. Dazu gehören ebenso solche Verhaltensweisen, die das zulassen. Danach wollen und müssen wir um der Demokratie willen fragen, die eben auch auf Zivilcourage nicht verzichten kann.
Doch auch im Westen war man und ist man durch die Teilung geprägt. Es ist bis heute eben nicht einfach Vergangenheit, daß viele im Westen ganz gut lebten, mit Recht zufrieden waren mit der eigenen Demokratie, aber doch auch sich selbst genug waren, auch ohne uns aus dem Osten, auch ohne Demokratie und Selbstbestimmung der Ostdeutschen. Da gab es dann immer weniger oder kaum noch den Stachel im Fleisch, daß Deutschland geteilt und Selbstbestimmung nur in einem Teil Deutschlands möglich war.
So fällt es heute vielen schwer, mit dieser Einheit und ihren Folgen belastet zu sein, ja, zur Veränderung herausgefordert zu sein, weil eben nicht alles so weitergeht wie bisher.
Wir müssen diese unsere Prägungen erkennen und wahrnehmen lernen, denn sie bestimmen bewußt oder unbewußt unser Selbstverständnis und Selbstbewußtsein. Wir müssen mit ihnen so umgehen, daß das gegenseitige Kennenlernen und Anerkennen bei aller Unterschiedlichkeit gefördert wird.
Ich weiß z. B. nicht, ob die Richter, die den § 218, der hier beschlossen worden ist, gekippt haben, sich über die Dimensionen im klaren waren,

(Unruhe bei der CDU/CSU)

was dies im Selbstverständnis der Deutschen und insbesondere der Ostdeutschen bedeutet.

(Beifall bei der SPD)

Ich stelle damit nicht die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung in Frage,

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Das Wort „kippen" sollten Sie zurücknehmen!)

sondern frage nach dem Horizont, der hier im Bewußtsein eine Rolle spielt.

(Beifall bei der SPD)

Wichtig ist mir, daß wir gerade beim Blick auf unsere Vergangenheiten uns gegenseitig zugestehen müssen, daß man sich auch verändern, daß man dazulernen kann und nicht stehenbleiben muß bei dem, was einmal war.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Fangen Sie einmal damit an!)

40 Jahre DDR-Geschichte sind nicht einfach weg. Sie hat Folgen. Der Deutsche Bundestag hat sich zur klareren Bestimmung seiner eigenen Aufgabe eine Kommission geschaffen, die danach fragen soll, was in der Folge dieser Geschichte von uns als Gesetzgeber zu tun ist. Wir fragen nach inneren Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten, müssen nach dem Alltag in der DDR fragen und danach, welche Handlungsmöglichkeiten es gab und wo Verhältnisse so geprägt worden sind, daß der Gesetzgeber heute aktiv werden muß.
Wo sind die Menschen — auch die, die früher anders dachten — in die Ordnung zu integrieren, und wo muß man verhindern, daß ehemalige Funktionsträger Verantwortlichkeiten für bestimmte öffentliche Ämter haben?
Wir Deutschen wissen viel zuwenig voneinander. Die Enquete-Kommission hat die Aufgabe, zum differenzierten Kennenlernen des Lebens in der DDR beizutragen. Sie kann das nicht allein. Man kann sogar fragen, ob sie es in genügender Weise kann und ob nicht z. B. ein Kirchentag, wie wir ihn erlebt haben, dem viel deutlicher Geltung verschafft. Ich denke, bei der Differenzierung, die hier möglich geworden ist, bei dem, was bisher schon getan worden ist, kann nicht abgesprochen werden, daß der Blick geweitet wurde.
Wir können einen Beitrag dazu leisten, daß die Frage der Vergangenheit nicht auf Stasi und auf die Gerichtsverhandlungen mit Honecker und anderen Spitzen beschränkt wird. Ich denke, diesen Beitrag haben wir schon geleistet.
Willy Brandt hat in seiner letzten Bundestagsrede in diesem Hause deutlich gesagt, daß wir nichts verdekken dürfen, kritisch zurückblicken und neu bewerten müssen, ohne dabei die Perspektive von damals aus dem Blick zu verlieren. Es gibt bei Historikern manche Skepsis, ob die Kommission die Arbeit, die sie sich vorgenommen hat, wirklich tun kann, weil man die Gefahr sieht, daß Geschichtsklitterung gemacht wird, und weil man die Gefahr sieht, daß, wenn sich Parteien mit Geschichte beschäftigen, diese ihren Interessen zum Opfer fällt. Ich muß gestehen, so ganz sicher, daß dies nicht der Fall ist, bin auch ich nicht. Wir haben in der vergangenen Zeit manche Erfahrung gemacht, die solches nahelegt.



Markus Meckel
Wenn bei der Vergabe von Expertisen die Pluralität unterschiedlicher Haltungen nicht mehr berücksichtigt wird, wenn bei den besonders sensiblen Themen Deutschlandpolitik und Rolle der Blockparteien durch Abstimmung durchgesetzt wird, daß nicht verschiedene Darstellungen möglich sind — wie es im Fall der Blockparteien geschehen ist —, dann wird die Enquete-Kommission damit in eine schwere Krise geführt.

(Beifall bei der SPD)

Zwei weitere Probleme möchte ich benennen. Zum einen muß, wenn man wirklich einen Blick auf die Geschichte gewinnen will, der Aktenzugang ermöglicht werden, und zwar nicht nur zu den Akten des Ostens, sondern auch zu den Akten, die es im Westen gibt. Wir brauchen für unsere Arbeit Zugang zu den Akten im Innerdeutschen Ministerium, Zugang zu den Akten im Bundeskanzleramt und bei den Parteien, um hier ein angemessenes Bild zu erhalten.
Ein letztes: Wir haben bei der Einsetzung dieser Kommission betont, daß wir die Geschichte aus der Perspektive der Opfer betrachten wollen. Wenn dies auch nicht die einzige Dimension sein kann, so gehört doch der Blick auf die Opfer ins Zentrum. Bei den Anhörungen und Gesprächen ist deutlich geworden, daß so manches, was heute im Blick auf die Opfer getan wird, allzusehr unter fiskalischen, unter finanziellen Gesichtspunkten geschieht. Hier müssen wir, glaube ich, genauer sehen, wie die Phänomenologie der Schädigungen war, wer geschädigt wurde und wer vergessen wurde.
Hier möchte ich als letztes an die Jugendlichen in dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau erinnern, die dort ohne Urteil in einem — ja, ich wage dieses Wort — KZ-ähnlichen Jugendlager eingepfercht waren und bis heute durch alle unsere Regelungen hindurchfallen. Nach solchen Fällen zu suchen und zu fragen: „Wo haben wir dies bisher nicht erkannt, wo sind Opfer, die nicht berücksichtigt sind, wo sind Menschen, denen wir Gerechtigkeit verschaffen müssen?", darin sehe ich eine — nicht die einzige — wesentliche Aufgabe für die Zukunft unserer Kommission.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. —Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Kläglich!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216300600
Ich erteile jetzt das Wort unserem Abgeordneten Wolfgang Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1216300700
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich an den 17. Juni 1953 denke, dann kommt mir das Gefühl von damals in Erinnerung, ohnmächtig im wahrsten Sinne des Wortes zu sein, keine Macht zu haben, sich gegen das zu wehren, was da geschah. Vielleicht war ich in dem jugendlichen Glauben, man könne in diesem Augenblick etwas dagegen tun. Dann mußte ich sehen, wie zwar darüber gesprochen wurde, wie daraus ein Gedenktag, ein Feiertag wurde, wie schnell aber für viele der Feiertag wichtiger war als das Gedenken. Wir wissen um die Diskussionen, die wir darüber gehabt haben.
Ich verhehle nicht, daß es mich bekümmert, daß es nicht möglich gewesen ist, das, was um 13 Uhr in Berlin geschieht, an diesem Tag gemeinsam mit dem ersten frei gewählten Parlament zu begehen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir müssen wider das Vergessen kämpfen, das Vergessen, wie diese Entwicklungen waren und warum sie so gewesen sind; denn es mehren sich die Vorwürfe von Unwissenden, aber auch von denen, die es wissen müßten: Warum ist das, was am 9. November 1989 geschah, nicht schon viel früher geschehen? Dies ist nicht nur im Ausland oft eine Frage, es ist auch bei vielen jungen Menschen in West wie Ost eine Frage. Bei vielen Diskussionen, die ich mit Schülerinnen und Schülern in meiner alten Heimat geführt habe, spielte dies eine Rolle.
Deshalb ist es notwendig, wie hier geschehen — ich wiederhole es —, zu erinnern, was es bedeutet, am 17. Juni 1953 den Versuch gemacht zu haben, aus eigener Kraft das Joch abzuwälzen — er scheiterte —, daß 1956 die Ungarn bei dem gleichen Versuch scheiterten, daß 1961 die Mauer gebaut wurde.
Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich hier etwas sage, was ich selber an jenen Tagen in Frankfurt am Main vielleicht in einem jugendlichen Überschwang gesagt habe: Wenn der erste britische Militärpolizist den ersten spanischen Reiter mit seinen weißen Handschuhen genommen hätte und beiseitegestellt hätte, so wäre es — ich war damals davon überzeugt — nicht zum großen Krieg gekommen. Ich sage das nicht anklagend. Ich sage es nur feststellend, wenn ich daran erinnere, daß 1968 in der Tschechoslowakei unter Mitwirkung der Soldaten aus der ehemaligen DDR — nicht weil sie es wollten, sondern weil sie es mußten — der nächste Aufstand niedergeschlagen wurde.
Dies alles muß man bewußt machen, um den Menschen, vor allem den jungen Menschen klarzumachen, warum erst Entwicklungen anderer Art notwendig waren, um zum Ergebnis des 9. November 1989 zu kommen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich sehe eine gemeinsame Aufgabe von uns allen, dies in den Schulen, in den Gesprächen deutlich zu machen.
Mit Recht ist über die Aufarbeitung der Vergangenheit gesprochen worden. Kollege Hansen und Kollege Schmidt werden zu diesen Dingen noch Stellung nehmen. Aus heutiger Sicht ist es leicht, vieles zu beurteilen oder zu verurteilen, was in der Vergangenheit da und dort geschehen ist. Das Hineinversetzen in die Situation, wie es in diesen Jahren, in diesen Jahrzehnten wirklich war, fällt selbst denen manchmal schwer, die es miterlebt haben und die froh sind, daß es überstanden und vorüber ist.
Im Deutschen haben wir das Wort „Urteil", aber das Wort „Urteil" wird mit sehr vielen Vorsilben bedacht.



Wolfgang Mischnick
Ist es nicht so, daß das Vorurteil heute bei vielen eine größere Rolle spielt als das Beurteilen, bevor man über etwas urteilt? Hüten wir uns davor, Vorurteile, so verständlich sie manchmal sein mögen, weil die Kenntnis, die Erkenntnis fehlte, zum Maßstab des Beurteilens und dann des Urteilens oder gar des Verurteilens zu machen.
Ich freue mich sehr, Herr Kollege Eppelmann, daß Sie davon gesprochen haben, wie sehr wir auch in der Beurteilung der Verhaltensweisen differenzieren müssen. Für mich besteht ein Unterschied zwischen Künstlerinnen und Künstlern, die Auslandsauftritte hatten und darüber Berichte schreiben mußten und die dadurch, daß sie sich dazu bekannt haben, heute völlig aus dem Geschäft sind, und anderen, die das nicht mutig bekannt haben, weil sie das Glück hatten, daß Akten verschwunden sind, und weil sie vielleicht sogar Vorgesetzte waren und heute noch in ähnlichen Positionen sein können. Hier ist zu differenzieren, zu sehen, was Schuld war und was nicht Schuld war, zu sehen, welche Verstrickungen es im einzelnen gab.
Für mich ist es manchmal erstaunlich, wie schnell man über hauptamtliche Tätigkeiten hinweggeht, aber die ehrenamtliche Tätigkeit als den alleinigen Maßstab ansieht.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja!)

Auch hier muß man dem Urteilen das Beurteilen vorhergehen lassen und darf man nicht das Vorurteil zum Maßstab machen.
Die Konsequenz für die Zukunft muß sein, daß wir mithelfen, daß das, was der 17. Juni 1953 letztendlich wollte und was erreicht worden ist, nämlich das Selbstbestimmungsrecht — denn darum ging es —, auch von uns international immer und überall unterstützt wird. Drücken wir uns nicht davor, wenn aus anderen Teilen der Welt der Ruf nach der Selbstbestimmung und nach der Hilfe dazu kommt, sondern handeln wir! Lange genug haben wir beklagen müssen, daß unser Versuch, die Selbstbestimmung durchzusetzen, lange Zeit nicht die Unterstützung fand, die wir für notwendig hielten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir sind jetzt uns selber verantwortlich für die Bewältigung der schweren Aufgaben, die vor uns liegen. Wir erweisen denjenigen, die ihr Leben am 17. Juni 1953 gaben, die Ehre, die sie verdienen, wenn wir diese Aufgabe bewältigen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216300800
Ich erteile Herrn Uwe-Jens Heuer das Wort.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1216300900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni war ein schwarzer Tag in der Geschichte der DDR.

(Friedrich Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Es wurde deutlich, daß die SED, daß die politische
Führung des Landes nicht mehr das Vertrauen eines
großen Teiles der Arbeiter besaß. Das war nicht immer so gewesen. Die ersten Maßnahmen nach 1945 wurden von vielen als notwendige Schlußfolgerung aus dem von Deutschland zu verantwortenden Zweiten Weltkrieg gesehen.
Mit der zweiten Parteikonferenz im Juli 1952 war von der international fest eingebundenen DDR ein Kurs der Beschleunigung der sozialistischen Entwicklung, des Aufbaus einer eigenen Schwerindustrie, eingeschlagen worden, der gleichzeitig von einer Reihe von Maßnahmen des Sozialabbaus begleitet wurde.
Am 28. Mai kam die Bekanntgabe einer beabsichtigten administrativen Normerhöhung um 10 % hinzu. Die in der DDR von Anfang an bestehende Konkurrenzsituation zur BRD unter erheblich ungünstigeren Startbedingungen wurde dadurch zu Lasten der Bevölkerung weiter verschärft.
Der Ausbruch dieser Spannungen erfolgte, nachdem der Kurs durch die Beschlüsse vom 9. und 11. Juni korrigiert worden war, allerdings mit Ausnahme der beabsichtigten Normerhöhung. Ausgehend von den Bauarbeitern der Stalinallee kam es zu Massenstreiks und Demonstrationen von etwa 10 % der Arbeitnehmer (H. Weber, Grundriß der Geschichte der DDR, Hannover 1982, S. 42).
Arnulf Baring fragt, warum es gerade die Arbeiter waren, die hier die entscheidende Rolle spielten (Der 17. Juni 1953, Bonn 1957, S. 40, S. 46). Eine der Ursachen war in meinen Augen, daß sie ständig als herrschende Klasse angesprochen wurden und zugleich die Hauptlasten tragen mußten, aber an der realen Machtausübung kaum beteiligt waren. Gerade dieser Zusammenprall zwischen einer Partei und der Klasse, auf deren Interessen sie sich berief, war für uns das Entscheidende und Tragische.
Bertolt Brecht schrieb damals in seinem Arbeitsjournal: „Das war der kontakt, er kam in der form des faustschlags, aber es war doch der kontakt, die partei hatte zu erschrecken, aber sie brauchte nicht zu verzweifeln." (Arbeitsjournal, 20. 8. 1953).
Der neue Kurs wurde fortgesetzt. Allerdings wurde, nachdem Walter Ulbricht und andere das Heft wieder voll in der Hand hatten, bei der Analyse des 17. Juni das Gewicht immer mehr auf die Rolle des Westens gelegt und damit von den inneren Ursachen abgelenkt.
Sicherlich hat der RIAS — wie Egon Bahr, der damalige Chefredakteur, vorgestern im DF erklärte — als Katalysator des Aufstandes gewirkt. Das Überspringen von Berlin auf die übrige DDR wäre anders überhaupt nicht möglich gewesen. Noch tief greif ender war die Auswirkung des höheren Lebensstandards in Westdeutschland, der ständige ökonomische Sog. Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß erst acht Jahre nach Kriegsende viele Nazis eine Gelegenheit sahen, sich an den Kommunisten zu rächen.
Dennoch ist in meinen Augen — gerade für mich als Sozialisten — die Frage entscheidend, was falsch gemacht worden war. Das war vor allem die Unterlassung der notwendigen konsequenten Vereinigung von Sozialismus und Demokratie. Das Syndrom des



Dr. Uwe-Jens Heuer
17. Juni spielte eine wesentliche Rolle. Es gab und gibt immer wieder Argumente, dem Volk nicht zu trauen. Ich höre sie immer wieder von der rechten Seite dieses Hauses, etwa in der Debatte über die Volksgesetzgebung. Aber ich meine, daß sich die DDR letztlich deshalb nicht halten konnte, weil sie nicht die ihr gemäße Form von Demokratie fand.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was ist denn eine DDR-gemäße Form der Demokratie?)

Es hat in der DDR immer wieder Anstrengungen in dieser Richtung gegeben. Aber sie sind gescheitert.
Welche Schlußfolgerungen sollten wir, könnten wir ziehen? Meine Schlußfolgerungen habe ich schon genannt. Ich kann nicht sagen, ob ein demokratischer Sozialismus widerstandsfähiger geworden wäre, ob er dem ökonomischen Sog standgehalten hätte. Aber es hätte jedenfalls versucht werden müssen.
Doch auch Sie, meine Damen und Herren, sollten den heutigen Tag nicht einfach als großen Tag des Rechtbehaltenhabens, als Tag des Triumphes begehen. Zum einen sind Demokratiedefizite dieses Systems sichtbar. Es gibt auch hier Halsstarrigkeiten.
Zum anderen sehe ich mit Erschrecken, daß viele völlig unfähig sind, mit demokratischen Sozialisten aus der DDR zu leben. Die Hiebe treffen ja längst nicht mehr die Orthodoxen, die Stalinisten. Sie treffen Stefan Heym und Christa Wolf, Hans Modrow und Markus Wolf; sie trafen hier im Hause Gerhard Riege. Darin sehe ich eine tiefe Unaufrichtigkeit.

(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie Markus Wolf genannt?)

Alle Parteinahme für die Arbeiter in der DDR, alle Parteinahme für ihre Intellektuellen galt der Unterminierung der DDR. Nach ihrem Ende interessierte das alles nicht mehr. Wenn ich Herrn Eppelmann richtig verstanden habe, dann gilt sein gutes Versöhnungsangebot nur denen, die „Pater peccavi" sagen. Mußte er denn die Sozialmaßnahmen der DDR mit dem Autobahnbau Hitlers gleichsetzen?
Aber es geht noch um etwas anderes. Am 17. Juni wurde tatsächlich klar, wie wenig gefestigt noch die DDR war, wieviel noch von dem Einsatz der Staatsmacht abhing. Es gab noch wenig an eigener DDR-Gesellschaft. Im Jahre 1990 sind offenbar viele der hier Regierenden davon ausgegangen, daß es immer noch genüge, den Staat zu entfernen und das Bundesrecht einzuführen; dann würde alles laufen. Der Staat ist zusammengebrochen. Es hat sich gezeigt, daß es eine DDR-Gesellschaft gab und noch gibt. Siegrid Meuschel hat das gut dargestellt (Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, 1982).
Nun wollen manche auch diese DDR-Gesellschaft beseitigen. Deshalb muß der Palast weg, deshalb soll die Jugendweihe nicht fortgeführt werden, deshalb darf es eben keine gemeinsame Akademie der Künste mit gut 60 Ostakademikern geben. Nichts soll mehr an die DDR erinnern.
Auch diese Regierung kann sich ihr Volk nicht aussuchen. Behandeln Sie doch dieses DDR-Erbe als einen Beitrag zum neuen Deutschland! Versöhnen Sie sich mit dem Gedanken, mit demokratischen Sozialisten, mit gelernten DDR-Bürgern leben zu müssen! Nehmen Sie sie an!

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216301000
Als nächster spricht der Abgeordnete Wolfgang Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216301100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 hat der Weltöffentlichkeit dokumentiert: Es waren die Arbeiter, die an diesem Tag auf den Straßen des Staates, der sich als Arbeiter- und Bauernstaat betitelte, demonstrierten. Sie wollten nicht länger die Diktatur einer Partei ertragen, die von sich behauptete, sie sei die Vertreterin der Arbeiterklasse. Sie war die Vertreterin einer kriegsbedingten Fremdherrschaft. Das wollten die Arbeiter gerade jener Allee klargestellt sehen, die nach Stalin benannt war.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

Aber es ging ihnen nicht nur um Streik gegen Normerhöhungen. Es ging ihnen darum, aller Welt zu zeigen: Wir können diese Art von Freiheitsberaubung im Namen der Arbeiterklasse nicht länger hinnehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD)

Wir wollen freie Wahlen. Wir wollen eine Regierung, die uns nicht aufgezwungen wird. Und wir wollen uns vor allen Dingen nicht länger dazu zwingen lassen, unsere deutschen Landsleute als Fremde oder gar als Feinde zu betrachten, nur, weil sie in einem anderen Teil Deutschlands, in einem anderen Herrschaftsbereich der Anti-Hitler-Koalition wohnen.
Dieses Öffentlichmachen der Unerträglichkeit und der eindeutigen Ablehnung einer aufgezwungenen Herrschaft hatte eine Vorgeschichte. Sie begann zwar mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches; das dürfen wir nie vergessen. Aber daß sie zum Sichaufbäumen einer ganzen Bevölkerung wurde, ist das Ergebnis jener Abgrenzungspolitik des Kalten Krieges von 1948 an.
Für mich persönlich ist dieses Stück deutsche Geschichte mit den Namen Berlin und Göttingen verbunden. Jede dieser Städte steht für einen ganz anderen Aspekt dieses Kalten Krieges.
Berlin, das war die Stadt der Luftbrücke. Es war das einen Studenten begeisternde Gefühl, die Welt der Freiheit und der Demokratie auf seiner Seite zu haben, bis zu jenem Tag, an dem wir das Ende der Blockade in unserer Hochschule festlich und freudig begehen konnten.
Göttingen, das waren jene fünfziger Jahre, in denen die für einen, der den Feuerhöllen von Dresden entronnen war, absurden Diskussionen über deutsche Wiederbewaffnung begannen, über eine Wiederbewaffnung der Deutschen gegeneinander. Das Schlimmste aber war für einen in Göttingen lebenden



Dr. Wolfgang Ullmann
Dresdener, mitanzusehen und mitzufühlen, wie seine Heimat der Willkür stalinistischer Parteidiktatur preisgegeben wurde: der verfassungbrechenden Zerstörung jener Länder, die merkwürdigerweise jetzt ständig „die neuen" genannt werden, der barbarischen Säuberungs- und Vertreibungsaktion „Kornblume" im Grenzstreifen 1952, der Repression gegen kirchliche Einrichtungen und vor allem gegen die Glieder der Jungen Gemeinde im Frühjahr 1953.
Das Schlimmste von allem aber war die Gewißheit, am 17. Juni 1953 als ein machtloser junger Doktorand in Göttingen mitzuerleben, wie eine ganze Bevölkerung ihrer Regierung die Legitimation entzog, und auch ganz genau zu wissen, daß dieses nunmehr offenkundig illegitime Regime die Macht hat, eine ganze sich empörende Bevölkerung unter ihr Joch zu zwingen, ohne daß es die geringste Aussicht auf Hilfe von irgendwoher gab.
Gegen die Unterwerfungsakte von 1953 bis 1968 wurden keine Luft- und Demokratiebrücken mehr mobilisiert. Es begann jene Geschichte, in der der 17. Juni in Westdeutschland gefeiert, seine Folgen aber in der anderen Hälfte Deutschlands ertragen wurden. Am 4. November 1989 war diese Geschichte in der DDR, am 9. November 1989 in ganz Deutschland zu Ende. Seitdem sind wir aus dem Tag der Einheit in den Alltag der Einheit eingetreten.
Wir blicken auf die 40 Jahre seither zurück und fragen: Sind wir e i n Volk, so wie es in Leipzig gerufen worden ist? Die Antwort kann nur lauten: Ja, wir sind es, aber ganz anders, als die Leipziger und viele andere sich das vorstellen konnten. Wir sind tatsächlich ein Volk, ein Volk mit viel Demokratiedefizit, mit so viel, daß die einen, die es zu erdulden hatten, zwischen Zähneknirschen und Galgenhumor hin und her schwankten, während die anderen, die den Vorteil von jenem Demokratiedefizit hatten, nach immer neuen Beschwichtigungen ihres beunruhigten Gewissens suchten. Wir mit diesen belastenden Defiziten, wir sind ein Volk.
Das möchte ich auch denen sagen, die mir haßerfüllte Briefe schreiben, weil sie nicht ahnen, was es bedeutet, „Deutschland den Deutschen" zu rufen. Deutschland, das ist kein Besitz, den es zu behaupten, sondern eine Geschichte, die es anzunehmen gilt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)

„Deutschland den Deutschen" , d. h. den Deutschen mit ihrer ganzen Geschichte, mit allen Demokratiedefiziten, zu denen auch die Skinheads gehören, die nicht glauben wollen, daß sie ihre eigene Geschichte nicht im Mißhandeln anderer, sondern einzig und allein mit diesen anderen zusammen finden werden. Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht das Recht, Fäuste zu ballen, sondern die Freiheit, sich gleichberechtigt die Hände zu geben. Deutschland, das ist die eine Geschichte von denen, die so viel hinter sich haben, daß sie keiner Frau, keinem Mann und keinem Kind die Wiederholung dieser Erfahrung wünschen, geschweige denn antun können.
Sollten wir in diesem Volke wirklich ein Volk in diesem Sinne sein, dann wären auch die Toten des 17. Juni 1953 nicht umsonst gestorben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216301200
Als nächster spricht der sächsische Staatsminister Steffen Heitmann.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216301300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist für mich nicht ohne innere Bewegung, heute am vierzigsten Jahrestag des 17. Juni 1953 hier im Deutschen Bundestag zu sprechen. Ich habe als Neunjähriger die Verworrenheit und die Angst der Tage vor 40 Jahren erlebt, und ich habe bis zum Ende der DDR mit dem Trauma gelebt, das der 17. Juni für die meisten DDR-Bürger bedeutete, mit der Angst vor der Brutalität sowjetischer Panzer zu leben, die immer im Hintergrund bereitstanden.
Ich hatte die Hoffnung auf den Sturz dieses Systems und auf eine Wiedervereinigung Deutschlands aufgegeben. Es ist für mich nach wie vor ein Wunder in des Wortes wahrster Bedeutung, also etwas nach menschlichem Ermessen nicht Mögliches, daß dieses System zusammengestürzt ist, daß die Wiedervereinigung möglich war und daß ich heute in einem geeinten und freien demokratischen Deutschland leben kann.
Warum ist die Freude über dieses Wunder, die ja doch die große Mehrheit unseres Volkes in Ost und West geteilt hat, so schnell verflogen? Warum verkommt vielen der Weg zur inneren Einheit unseres Vaterlandes immer mehr zu einem zähen, nörgelnden, mißmutigen Prozeß?
Ich glaube, auf diese Frage gibt es keine eindeutige und keine einfache Antwort. Viele Aspekte spielen eine Rolle. Ich möchte einen Aspekt herausgreifen, zu dem der heutige Tag besonders herausfordert. Das ist der Umgang mit unserer Vergangenheit nach der deutschen Einheit. Er erscheint vielen in Ost und West unbefriedigend, allerdings aus ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar gegensätzlichen Gründen.
Die einen sagen: Die Verantwortlichen des SED-Regimes müssen mit aller Härte bestraft werden. Macht keinen langen Prozeß, es dauert schon viel zu lange! — Sie sind empört über den schonenden und teilweise ja wirklich hilflosen Umgang des Rechtsstaates mit den SED-Größen. Die anderen sagen: Was soll das alles? Wollen wir doch froh sein, daß die Diktatur und der ganze Dreck der Staatssicherheit hinter uns liegen! Jetzt gilt es, nach vorn zu blicken, aufzubauen, gemeinsam nach vorne zu gehen. Versöhnung ist angesagt.
Ich muß gestehen, daß ich bei meinen ersten Einblicken in die Akten der Staatssicherheit auch über mich selbst zu dieser Auffassung neigte und sagte: Wäre das nicht das Beste?
Wieder andere sagen das Strafrecht ist ungeeignet zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Ihr ahndet damit doch nicht die eigentliche Verantwortlichkeit. Die Kleinen hängt ihr, die Großen laßt ihr laufen. Amnestie ist angesagt.



Staatsminister Steffen Heitmann (Sachsen)

Es gibt schließlich die, die, allerdings meist aus durchschaubaren Gründen, die Bemühungen um einen glaubwürdigen Neuanfang diffamieren. Mit Blick auf das Strafrecht sprechen diese Leute von „Siegerjustiz", mit Blick auf die Bewertung von Tätigkeit für die Staatssicherheit von „Ausgrenzung" oder „Berufsverbot" oder gar — das ist dann die Spitze geistiger Verwirrung — von einer „Vergleichbarkeit mit der Judenverfolgung im sogenannten Dritten Reich" . So sprechen die, die Anteil an der Macht in der DDR hatten.
Daß diese vielfache Unzufriedenheit mit unserem Umgang mit der Vergangenheit besteht, hängt meines Erachtens mit der Art und Weise unserer Revolution zusammen. Ich bestehe darauf, daß es eine Revolution war und keine „Wende", auch wenn sich dieser Begriff eingebürgert hat.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Eine Diktatur ist beseitigt worden, ein Staat ist mit Willen des Volkes verschwunden, eine neue Rechts- und Wirtschaftsordnung ist errichtet; eine „Wende" wollte Egon Krenz, von dem dieser Begriff stammt.
Es war aber eine besondere Revolution: Es war eine friedliche Revolution. Die Friedlichkeit dieser Revolution hat einen besonders hohen Wert. Ich denke, das ist in unserer Geschichte noch nicht vorgekommen und daher einmalig.
Wie alles in dieser Welt hat diese Friedlichkeit aber auch eine Kehrseite. Die bisherigen Eliten sind nicht in einem revolutionären Akt beseitigt worden; sie wurden, nahezu unbeschadet, geradezu vorsichtig mit in den Rechtsstaat hinübergenommen. Das beste Beispiel dafür ist die Tatsache, daß die für Diktatur und Unrecht in der DDR verantwortliche Institution in rechtlicher Kontinuität — wenn auch unter verändertem Namen — heute hier im Deutschen Bundestag sitzt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist an sich ein absurdes Ergebnis für eine Revolution.
Die Kehrseite der Friedlichkeit war eine schaumgebremste Revolution.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Völlig richtig!)

Ich bedaure das nicht; ich stelle es fest.
Wir müssen nun bereit sein, auch die Folgen zu tragen. Wir haben den Rechtsstaat gewollt; jetzt haben wir nur die Mittel des Rechtsstaates, um mit den Verantwortlichen umzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD)

Das ist gut so, denn wir wollten nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Das Strafrecht kann nicht das nachholen, was die Revolution nicht geleistet hat, nicht leisten wollte. Gerade weil das aber so ist, muß nach meiner Überzeugung der Rechtsstaat mit aller Entschiedenheit das tun, was er tun kann, nicht verbissen, sondern gelassen und selbstverständlich.
Das ist zweierlei: Er muß zum einen die Täter von damals, soweit ihnen Straftaten mit den Mitteln des rechtsstaatlichen Strafrechts nachweisbar sind, mit aller Konsequenz strafrechtlich zur Verantwortung ziehen; und er muß zum anderen Glaubwürdigkeit eines Neuanfangs dadurch zu schaffen suchen, daß er Funktionsträger des DDR-Systems und Mitarbeiter der Staatsicherheit von politischen Mandaten und vom öffentlichen Dienst fernhält — nicht mehr, aber auch nicht weniger.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin der Überzeugung, daß es dazu gegenwärtig keine Alternative gibt. Ich sehe dafür drei Gründe:
Erstens. Der Rechtsfrieden muß hergestellt werden. Die Opfer, die oft Jahrzehnte ihr Leid und ihre Demütigung in sich vergraben mußten, haben einen Anspruch auf Genugtuung durch Rehabilitierung einerseits und durch Bestrafung der Täter andererseits. Opfer und Täter sind in aller Regel klar zu unterscheiden. Man darf auf Grund einer Ausnahme nicht das Hauptprinzip in Frage stellen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Zweitens. Wir Deutschen haben schon einmal eine Diktatur und ihren Zusammenbruch erlebt. Ich will die Diktaturen, Herr Abgeordneter Heuer, nicht einfach vergleichen. Aber so verschieden sie waren, sie waren beide menschenverachtend.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

In gewisser Weise stehen wir jetzt vor dem gleichen Problem des Umgangs mit der Vergangenheit wie nach 1945. In Ost und West ist die damalige Vergangenheit auf sehr unterschiedliche Weise verdrängt worden: Im Osten hat man sich aus der Geschichte gestohlen; im Westen hat man sie unter den Teppich gekehrt. Was verdrängt wird, schafft sich Raum zur Unzeit und unkontrolliert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Ich denke, im Westen war die 1968er Bewegung wesentlich durch die rasche Verdrängung der Nazivergangenheit nach 1945 verursacht. Wir dürfen die Geschichte nicht ein zweites Mal unter den Teppich kehren. Um der Zukunft unseres Landes willen muß Vergangenheit erhellt und bewertet werden. Übrigens gilt das für Ost und West in gleicher Weise. Wir sind ein Volk, und wir haben nunmehr eine Vergangenheit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Drittens. Ich meine, daß die konsequente Erhellung und Bewertung der Vergangenheit zur inneren Integration unseres Volkes notwendig ist. Viele Menschen im Osten empfinden durch den Einigungsprozeß ihre Biographie als in Frage gestellt. Mir ist das



Staatsminister Steffen Heitmann (Sachsen)

jetzt deutlich geworden, als ich in einem Interview gesagt hatte: Für mich ist das Bewahrenswerte an der DDR die Art und Weise ihres Untergangs. Das ist — wie ich dann in Gesprächen merkte — mißverstanden worden, so als würde ich unser je persönliches Leben in der DDR negativ bewerten.
Mit dem Untergang der DDR, mit der Verurteilung der dortigen politischen Verhältnisse fühlen die Menschen ihr Leben diffamiert. Dies wird mitunter durch Menschen aus dem Westen verstärkt, die die Ostbürger zu einem Volk von Spitzeln erklären oder Mitleid vortäuschend sagen: Die konnten ja nicht anders. Ein Überheblichkeitssyndrom verstärkt ein Minderwertigkeitssyndrom.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)

Konsequente Erhellung und Bewertung der Vergangenheit bringt nicht nur die Taten der Täter zutage, sondern zeigt auch die Standhaftigkeit, den Mut und die geduldige, stille Verweigerung der Mehrheit der Deutschen im Osten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Unsere Biographien sind unterschiedlich; und das muß zutage treten. Die Biographien beziehen ihren menschlichen Wert nicht aus Wohlstand und freiheitlicher Lebensweise, sondern aus moralischer Haltung und menschlicher Substanz.
Nicht in Versuchung geführt worden zu sein, ist kein Verdienst, sondern Grund zur Dankbarkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Versöhnung zwischen Ost und West sowie zwischen Ost und Ost muß am Ende des Prozesses der deutschen Wiedervereinigung stehen. Aber Versöhnung ohne Wahrheit und ohne Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis wird nicht möglich sein. Einfacher geht es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216301400
Das Wort zu einer Zwischenbemerkung erhält der Abgeordnete Heuer.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1216301500
Ich möchte etwas zu einer Bemerkung sagen, die Herr Heitmann soeben gemacht hat. Er sagte, die DDR habe sich aus der Geschichte gestohlen, und das sei ihre Form der Aufarbeitung der Vergangenheit gewesen. Ich glaube, daß das so einfach nicht richtig ist.
Ich war bis Mitte 1946 in Schleswig-Holstein. Das, was mich am Osten Deutschlands positiv berührt hat, war die Bodenreform, war auch vieles an der Auseinandersetzung mit dem Faschismus.
Ich meine, daß in der DDR in der ersten Periode vieles sehr ernsthaft unternommen worden ist und daß die Tatsache, daß Menschen wie Brecht, Becher,
Arnold Zweig und viele andere in die DDR gekommen sind, mit diesem Anfang zu tun hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Seit 1948 ist er in der SED!)

Ich glaube, das sollte man nicht vergessen.
Ich räume durchaus ein, daß später vieles anders gewesen ist. Ich räume auch ein, daß verkannt wurde, daß mit der Beseitigung des Privateigentums nicht alle Quellen des Bösen und des Übels beseitigt wurden und daß die Übermacht des Staates

(Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber wirklich!)

viele schlimme Dinge hervorgerufen hat. Ich will aber sagen, man darf diesen Anfang und diesen Impetus nicht vergessen, wenn man über die DDR redet. Ich meine, das bin ich auch der Generation schuldig, der ich angehöre.

(Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216301600
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat der Abgeordnete Mischnick.

Wolfgang Mischnick (FDP):
Rede ID: ID1216301700
Herr Kollege Heuer, ich habe erlebt, daß 1945/46 ehemalige HJ-Führer zusammengeholt wurden, ihnen klar gesagt wurde: Wenn ihr in der FDJ mitarbeitet, seid ihr willkommen, wenn nicht, dann folgt das Lager. Dies sagt etwas anderes aus.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216301800
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1216301900
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Heuer, das ist alles sehr verwickelt und schwierig, und dazu gehört auch — das bitte ich Sie nicht zu vergessen —, daß der Antifaschismus eine Ideologie gewesen ist, die mitgeholfen hat zu verdrängen, daß es auch in der damaligen beginnenden DDR Faschisten gab, die in staatliche Funktionen kamen.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Aber die wurden herausgeworfen, und hier blieben sie!)

— Lieber Herr Heuer, daß es Intellektuelle gab, die gegenüber der kommunistischen Diktatur anfällig waren, das ist wahr. Das ist nichts Neues. Julien Benda hat das — leider — schon im Blick auf die 20er und 30er Jahre so benannt: Der Verrat der Intellektuellen.
Mit Blick auf 1946 möchte ich gern das auf greif en, was der Herr Justizminister Heitmann — der das, was ich jetzt sage, nachlesen mag — gesagt hat. Ich finde es gut, daß er versucht hat, deutlich zu machen, daß wir mit einer doppelten Vergangenheit leben müssen und versuchen müssen, sie aufzuarbeiten. Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in diesem Jahrhundert haben wir Deutsche uns schwergetan. Es ist ja auch eine Last, die wir in dieser Geschichte und in diesem Jahrhundert zu tragen haben.



Gert Weisskirchen (Wiesloch)

1946 — ich erinnere noch einmal daran —, als alles in Scherben gefallen war, Hitlers Krieg Deutschland zerrissen hatte, als die Hölle der Nazidiktatur den Deutschen bewußt wurde, die in den Jahren zuvor ihre Schuld und ihre Mithaftung zu verdrängen suchten, hat Alfred Weber in seinem ,,Abschied von der bisherigen Geschichte" alle Deutschen gefragt — ich zitiere —:
Wird es
— das deutsche Volk —
imstande sein, wird es die seelische Größe haben, in seinem Jammer und Elend unter fremdem Druck und fremder Herrschaft mit sich selber abzurechnen? ... Wird es diese schwerste Probe, die über ein großes Volk in der Geschichte verhängt werden kann, derart bestehen, daß es Überwinder wird, Überwinder seines eigenen Schattens?
Es hat im Westen der Bundesrepublik Deutschland Jahrzehnte gebraucht, bis wir — ich sage das als jemand, der so alt ist wie Herr Heitmann — begonnen hatten, in Härte, in Schärfe und in der Kontroverse mit unserer Elterngeneration darüber zu debattieren, was der Nationalsozialismus denn bedeutet hat, durch welche Verstrickung wir Deutschen in diesem Jahrhundert mit zu Tätern geworden sind.
Alexander Mitscherlich und seine Frau Margarete haben das in ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" die kollektive Flucht in das Wirtschaftswunder genannt, das wir damals selbst erlitten haben. Diese Unfähigkeit zu trauern hat lange auf der Geschichte Westdeutschlands gelastet.
Hermann Lübbe, der nun gewiß nicht in dem Verdacht steht, nicht zitiert werden zu dürfen, hat das so beschrieben: Wir waren schon in der Lage, kommunikativ zu beschweigen, was geschehen war, und hatten nicht die Kraft, uns der Last der Geschichte zu stellen. — Das hat lange gedauert.
Jetzt geht es um eine doppelte Vergangenheit, die wir aufzuarbeiten haben. Auch diese Trauerarbeit mag Schmerzen verursachen. Da werden Fragen
— z. B. bei uns in der Enquete-Kommission — gestellt werden müssen. Was haben wir zu Freiheit und Demokratie und Selbstbestimmung in jeder Phase, seitdem wir den 17. Juni 1953 in diesem Haus
— manchmal auch als Ritual — begangen haben, beigetragen? Haben wir in jeder dieser Phasen auch alles getan, was möglich war, um Freiheit und Selbstbestimmung den Menschen in der damaligen DDR und SBZ wirklich zu gewähren? Haben wir diesen Menschen wirklich unsere Unterstützung gegeben? Haben wir das wirklich getan?
Ich glaube, wir können dieser Frage nicht ausweichen. Wenn wir wirklich wahrhaftig mit uns selbst umgehen wollen, dann müssen wir uns diese Frage stellen und zu einer klaren und eindeutigen Antwort kommen. Wir können dieser Frage nicht ausweichen.
Willy Brandt hat uns in seiner letzten Rede vor dem Bundestag am 12. März 1992 vor der großen Gefahr gewarnt, die Vergangenheit opportunistisch verdekken oder voreilig vergessen zu wollen. Vor seiner
Vergangenheit kann man nicht davonlaufen. Aus der Begegnung mit dem, was hinter uns zu liegen scheint, dem, was uns in jeder Phase Hoffnung, aber auch Angst machte, wächst in uns vielleicht die Erkenntnis, die Irrtümer, die wir begangen haben, nicht wieder zu begehen.
Ich würde mir wünschen, daß wir ehrlich mit der Vergangenheit umgehen. Dazu brauchen wir zuallererst die Kraft zur Differenzierung: nicht Tribunale nachzuholen, sondern die Maschinerie der Gewalt bloßzulegen; nicht Schuld pauschal zuzuweisen, sondern Verstrickungen präzise zu belegen; nicht den Racheengel zu spielen, sondern sich auf die schwierige Suche nach der Wahrheit zu begeben.
Das mag die Verletzungen nicht heilen, die die Menschen in den Jahrzehnten erlitten haben. Aber das mag vielleicht deutlich machen, daß wir auch aus den Fehlern und Irrtümern, die wir begangen haben, lernen wollen.

(Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Eine der Kernfragen wird lauten, und zwar an uns, an den Westen Deutschlands: Was hat die Systemstabilität der DDR gefördert? Wie weit konnte die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik zur Veränderung in der DDR beitragen? Wie weit waren Veränderungen überhaupt beabsichtigt? Gab es Grenzen der Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten — etwa aus Rücksicht mit Kritikern in der DDR? Oder hat die Entspannungspolitik den Transformationsprozeß in den achtziger Jahren beschleunigt? Welche Handlungsspielräume blieben den Regierungen der beiden deutschen Staaten im internationalen Rahmen? Und schließlich: Sind alle Chancen genutzt worden, um Bewegungen für Freiheit und Demokratie im Realsozialismus zu ermutigen?
Ich denke, wir sollten schon bereit sein, in den Spiegel zu schauen, der uns die Geschichte vorhält. Wer sein Gedächtnis noch einmal befragt, der begegnet auch den verlorengegangenen Möglichkeiten wieder. Vielleicht befreien wir uns so in der Wiederbegegnung vom Zwang der Wiederholung. Wer um seine Irrtümer weiß, der erweitert seine Identität. Gedächtnis und Identität sind dann nicht mehr gespalten voneinander.
Maurice Maeterlinck hat gesagt: Die Geschichte — wenn wir zurückblicken, wird das vielleicht deutlich — ist so hoch wie ein Berg. Der Mensch, der sie aus der Nähe betrachtet, kann ihren Gipfel nicht sehen und ist nicht imstande, ihre Höhe richtig einzuschätzen. Man braucht eine Distanz, um aus der Entfernung den Gipfel sehen zu können.
Wenn die Signatur unserer Zeit nicht sein soll: Rückfälle in die Vergangenheit, Rückfälle in den Nationalismus, sondern wenn die Signatur unserer Zeit heißen kann: Wir können auf eine Zukunft zugehen, die von uns gemeinsam in Freiheit mitbestimmt werden kann, eine, die die kollektiven Irrtümer der Vergangenheit vermeidet, dann brauchen wir zuallererst die Wahrhaftigkeit zu uns selbst.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216302000
Als nächste spricht zu uns die Abgeordnete Dorothee Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (CDU):
Rede ID: ID1216302100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Aufstand der Menschen in der DDR und seine blutige Niederschlagung in den Wochen um den 17. Juni 1953 herum gehören ohne Zweifel zu den herausragenden Ereignissen deutscher Geschichte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich glaube, gerade die neuen Archivfunde belegen dies mehr und mehr. Wir, die Zeitgenossen, die jungen Studenten damals an der Kölner Universität, ahnten damals mehr, als wir es wußten, daß unsere Landsleute in Berlin und in der DDR sich gegen Unfreiheit und gegen ein Zwangssystem und nicht nur gegen Arbeitsnormen erhoben hatten. Das war damals für uns Junge ein unerhörter Vorgang. Man stelle sich vor: Acht Jahre nach Ende der Nazidiktatur wehrten sich Deutsche vor den Augen der Welt gegen eine kommunistische Diktatur, und sie wurden niedergewalzt. Dies hat uns ungeheuer bewegt und erschüttert. Vielleicht können das die Jungen von heute gar nicht mehr so mitempfinden, wie wir es damals empfunden haben. Wir haben damals schon von einer Revolution gesprochen. Heute streiten sich die Historiker darüber, wie man diesen Vorgang bezeichnen soll.
Durch dieses kämpferische und mutige Bekenntnis unserer Landsleute zu Freiheit, Demokratie und Einheit, den Fundamenten auch unseres Grundgesetzes, wurde, so denke ich, auch im Westen die Gewißheit gestärkt, daß die Menschen in der DDR in ihrer Mehrheit nicht dem Kommunismus anheimgefallen waren, sondern auf die Chance ihrer Freiheit warteten, die es damals noch nicht für sie gab. Wir wissen heute ja auch aus den Akten, welch Alptraum, welch Trauma dieser Aufstand von 1953 bis zuletzt für die SED-Funktionäre war, etwas, was ihr Handeln immer wieder prägte.
Diese freiheitliche Grundeinstellung verband die Deutschen in Ost und West über Jahrzehnte. Sie war — wie es der frühere Bundesminister und Gewerkschaftsführer Georg Leber hier im Deutschen Bundestag in seiner Rede 1985 ausführte — ein Stück deutscher Identität.
Ich möchte deshalb — für mich jedenfalls — heute feststellen, daß es gut und richtig war, den 17. Juni in der alten Bundesrepublik als Gedenktag hochgehalten zu haben,

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

auch gegen mancherlei politischen Widerstand und auch gegen journalistischen Spott.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieser Tag war für die Verfassungsorgane, für uns, für den Deutschen Bundestag, und für viele, viele Menschen Gelegenheit, an die Fundamente unseres Verfassungsverständnisses zu erinnern, an Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung, Einheit, und vor allem diese Grundwerte auch für unsere Landsleute in
der DDR einzufordern, die den Mund nicht so weit aufmachen konnten. Gerade weil wir heute neue und fundierte Erkenntnisse über den Umfang und über die Intention des Aufstandes haben, müßte es uns heute fast doppelt beschämen, hätten wir damals dem Drängen auf Rücknahme des Gedenktages nachgegeben.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Aber es gab auch bei uns politische Stimmen, die die Bedeutung des Aufstandes vom 17. Juni herabmindern wollten, so wie es dem SED-Regime genehm war, das ja von der „faschistischen Provokation" sprach.

(Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Auch in diesem Haus!)

Es gab ja auch Befürworter der Anerkennung der DDR-Staatsangehörigkeit. Es gab ja auch Ministerpräsidenten, die aus der Finanzierung der Erfassungsstelle Salzgitter ausgestiegen sind, um der DDR entgegenzukommen.

(Dr. Hartmut Soell [SPD]: Es gab andere, die Riesenkredite vergaben!)

Dem hat die Bundesregierung Kohl widerstanden. Ich denke, daran zu erinnern gehört ebenfalls zur Aufarbeitung der Geschichte in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, der Aufstand um den 17. Juni herum — wir wissen heute, daß es sich um einige Monate handelte — war im Rückblick und historisch gesehen nicht umsonst. Der Freiheitswille der Menschen in den kommunistisch regierten Staaten des Ostblocks war nicht zum Erlöschen zu bringen. Er loderte immer wieder auf, und er wurde leider und tragischerweise auch immer wieder durch militärische Interventionen erstickt. So war es 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1980 in Polen.
1989 bestätigt sich diese geschichtliche Feststellung in einem umgekehrten Sinne. Die kommunistischen Machthaber hatten damals nicht mehr die Kraft und nicht mehr den Willen zum militärischen blutigen Gegenschlag. Deshalb konnte die Wende in Deutschland gelingen.
Meine Damen und Herren, die Ereignisse des 17. Juni 1953, aber nicht nur diese, zeigen, daß das Schicksal der Menschen in der damaligen SBZ und DDR deutsches Schicksal war und damit unser aller Schicksal. 1988 widmete sich der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Herzog, in seiner Rede am 17. Juni hier im Deutschen Bundestag sehr ausführlich der historischen Entwicklung in Deutschland nach 1945 mit all ihren kriegsbedingten historischen Zufälligkeiten. Er rief damals gerade den jungen Menschen bei uns in der alten Bundesrepublik zu — ich zitiere —:
Moralisch gibt es ... überhaupt keinen Grund dafür, daß sie
— die Deutschen in der DDR —



Dr. Dorothee Wilms
die Folgen unserer Geschichte um so viel länger und um so viel bitterer tragen als wir.... Solche Menschen schreibt man nicht einfach ab .. .

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine verehrten Kollegen, damals haben wir alle und, ich glaube, auch die meisten Menschen in der Bundesrepublik Beifall geklatscht. Ich frage mich heute manchmal, ob der Beifall für solche Worte heute vielleicht etwas gedämpfter wäre, weil das moralische Postulat von damals seit drei Jahren Wirklichkeit ist und nun eingelöst werden muß. Ich greife deshalb noch einmal Georg Lebers Wort von der deutschen Identität mit Bezug auf den 17. Juni 1953 auf. Gemeinsame deutsche Identität heißt gemeinsames Schicksal, heißt, gemeinsam die Folgen der Diktatur des realen Sozialismus aufzuarbeiten. Denn diese sind die Ursache der schweren Probleme heute in den neuen Bundesländern. Und da darf auch nichts verdrängt werden.
Aber vor allem gilt es, gemeinsam die Zukunft zu erarbeiten. Dies erfordert Opfer von uns allen und die Bereitschaft, füreinander einzustehen. Darin sehe ich heute das Vermächtnis des 17. Juni 1953.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr gut! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Danke schön!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216302200
Als nächster spricht der Abgeordnete Dirk Hansen.

Dirk Hansen (FDP):
Rede ID: ID1216302300
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen!
Um die Freiheit des Menschen geht es, Freiheit des Menschen in seinem politischen, in seinem religiös-kirchlichen Bekenntnis, daß er, von Angst und Bedrängnis befreit, den Sinn seines Lebens selber suchen und zu erfüllen trachten kann, Freiheit der Menschen zu der ihnen gemäßen Gestaltung der öffentlichen Regelung ihres Gemeinschaftslebens.
Ein Zitat von Theodor Heuss zum 17. Juni 1953, das nicht nur zum Gedenken dieses Tages geeignet ist, wie ich denke, sondern auch den Bezug zu den Tagen im Herbst 1989 und von dort die Klammer über fast 40 Jahre von 1953 bis 1989 und bis heute herstellt.
40 Jahre sind seit dem 17. Juni 1953 vergangen, und doch ist er heute besonders präsent. Wir können lesen und lernen, daß das Geschichtsbild im Osten wie im Westen, das wir uns im Laufe der Jahre zurechtgelegt haben, nicht mehr stimmt. Ich glaube, es ist eine Korrektur und mehr als eine Ergänzung, es ist die Revision eines Geschichtsurteils angesagt. Wir müssen mehr tun, als nur neue Akzente zu setzen. Wir müssen ehrlich mit der einen Vergangenheit in zwei deutschen Staaten umgehen. Der Bundestag hat mit der Einsetzung der Enquete-Kommission im vergangenen Jahr sich klar dazu bekannt, daß es eben auch eine politische Aufgabe ist, sich erneut und verstärkt der Vergangenheit zu stellen und den Versuch zu machen, sie aufzuarbeiten.
Wir wissen heute und haben es gerade gestern abend im Reichstag wieder intensiv vernehmen können, daß die Geschehnisse um den 16. und 17. Juni keineswegs nur auf diese beiden Tage beschränkt sind, daß Aufhellung und Aufklärung in bezug auf die Geschehnisse des Sommers 1953 nötig sind. Wir erfahren aus nunmehr zugänglichen Akten, die bald 40 Jahre lang verschlossen waren, immer mehr, daß es sich keineswegs nur um die Ereignisse in Berlin, in Leipzig, Halle, Bitterfeld oder Jena an zwei oder drei Tagen handelte, sondern daß die Ereignisse sehr viel länger, bis in den August hinein, andauerten. Der Widerstand gegen den von der SED verfügten sogenannten Aufbau des Sozialismus im Frühsommer 1953 war immer stärker geworden, und die Wende der SED, den sogenannten neuen Kurs auf Hinweise aus Moskau hin zu revidieren, war zu kurzfristig gekommen und zu unglaubwürdig, als daß sie von der Bevölkerung hingenommen werden konnte.
Wir wissen heute, daß sich bis in den August hinein Widerstand regte, Streiks stattfanden, sich Aufrufe zum Verweigern in der ganzen damaligen DDR fortsetzten und daß weit mehr Opfer als bisher bekannt zu beklagen waren. Todesurteile, standrechtliche Erschießungen und eine Welle von Verhaftungen folgten dem Aufstand des Sommers. Zu Recht muß heute geurteilt werden, daß der Widerstand mehr war als nur die Ablehnung der Erhöhung von Arbeitsnormen und daß neben dieser ökonomischen und sozialen Komponente unübersehbar die freiheitliche und die nationale Komponente stand, die in jenen Tagen den Aufstand der Bevölkerung gegen das Regime kennzeichneten. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß es sich um eine gescheiterte Revolution gehandelt hat, die keineswegs nur an der Macht sowjetischer Panzer zerbrach, sondern auch und gerade in den Tagen nach dem 17. Juni am Einsatz der kasernierten Volkspolizei und am Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit.
Zu Recht darf heute darauf hingewiesen werden, daß die Ereignisse im Herbst 1989 in Beziehung zum 17. Juni 1953 zu setzen waren. Zu Recht hat vor drei Jahren an dieser Stelle Manfred Stolpe von der sozial-psychologischen Langzeitwirkung des 17. Juni gesprochen, waren doch die fast 40 Jahre danach von jedermann und zu jeder Zeit unter dem Blickwinkel der Niederschlagung des Volksaufstands und der Folgen zu sehen. Das Trauma ist ja schon mehrfach angesprochen worden.
Tatsächlich: Man wird zu Recht von einem Volksaufstand reden können und keineswegs nur von einer Verweigerung der Industriearbeiterschaft oder der Bauarbeiter in der Stalinallee. Auch wenn die Arbeiterschaft Kern und Träger des Widerstandes und der jeweils spontanen Erhebungen vor Ort war, so wissen wir heute, daß bis weit in die sogenannte Provinz und die ländlichen Gebiete sich der Widerstand bis in den Sommer hinein regte und jeweils mit brutalster Gewalt niedergehalten wurde.
Wie lachhaft waren doch die sogleich nach dem 17. Juni vom Politbüro ausgegebenen Parolen eines konterrevolutionären Putschversuches oder des Versuches sogenannter faschistischer Provokateure, die streng vom Westen aus gelenkt worden seien. Wie



Dirk Hansen
lachhaft das war, ist zwar schon in den vergangenen 40 Jahren belegt worden; aber dies läßt sich heute an Hand der Aktenfunde gerade der letzten Monate besonders gut nachweisen. Krampfhaft versuchte die SED, vom eigenen Unvermögen auf den ideologischen Feind abzulenken, und nur mit Gewalt vermochte sie, sich an der Macht zu halten. Der Mauerbau 1961, der Einmarsch auch von DDR-Truppen in die Tschechoslowakei 1968, die Erwägungen, auch in Polen 1980 mit Truppen der Nationalen Volksarmee gegen Solidarnośź einzuschreiten, und schließlich die Gott sei Dank nicht zum Zuge gekommenen Überlegungen, auch im Oktober und November 1989 mit militärischen Mitteln das Regime, das nicht mehr zu halten war, noch zu halten: Das war nur die Fortsetzung der Mittel, mit denen Ulbricht, Honecker und Genossen sich so lange hatten halten können.
Der 17. Juni 1953 und die 40jährige Geschichte aber rufen auch uns im Westen dazu auf, nicht nur auf die Schergen der SED zu schauen, sondern wir selber im Westen müssen darüber nachdenken, wie wir uns im sicheren und immer größer gewordenen Wohlstand diesen Tag der deutschen Einheit als Feiertag zunutze machten, den Tag, an dem die Politiker Festreden hielten und die Bürger eine Fahrt ins Grüne unternahmen. Der 17. Juni als sozialer Besitzstand in einer Reihe sonstiger Feier- und Urlaubstage hatte für uns den Sinn der Mahnung an das gemeinsame Deutschland verloren. Wir, die Kinder von Karl Marx und Coca-Cola, hatten uns in der sicheren Lage diesseits des Eisernen Vorhangs und unterhalb des Schirmes des atomaren Patts eingerichtet. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, ob wir als Westdeutsche in der Mehrzahl nicht nur alljährlich am 17. Juni die deutsche Nation und die Einheit aller Deutschen nicht mehr als politisches Ziel verstanden haben. Selbstkritisch müssen wir uns fragen, ob wir als Bürger oder als Bürgervertreter, auch in diesem Hause, über Jahrzehnte hinweg genug getan haben, um die Klammer zwischen Ost und West nicht immer lockerer werden zu lassen, ob wir genug unternommen haben, Brücken zwischen den Deutschen in Ost und West zu bauen und zu begehen, und ob wir genügend Initiative entwickelt haben, um auch unsere Bündnispartner auf ihre doch tatsächlich vertraglich eingegangenen Pflichten hinzuweisen.
Daß wir den 17. Juni heute bald drei Jahre nach einem neuen Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, begehen, lehrt uns in vielfacher Weise, inwieweit wir ehrlich mit der in zahllosen Programmen, Broschüren und Reden propagierten Zielsetzung, die Einheit in Freiheit zügig zu wollen, umgegangen sind. Der Sieg der Freiheit über die Schmach totalitärer Gewaltherrschaft war Gott sei Dank schließlich unabwendbar. Wir sollten heute und weiterhin dankbar sein.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowei bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1216302400
Als nächster spricht der Kollege Stephan Hilsberg.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1216302500
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich gehöre einer Generation an, die mit Zweifeln am 17. Juni 1953 aufgewachsen
ist. Ich sage das ganz ehrlich. Aber ich habe ihn nicht erlebt und habe ihn nur vom Hörensagen kennengelernt. Wenn man selbst von dem mutigen Wolfgang Biermann 1976 bei dem Kölner Konzert hörte, der 17. Juni 1953 sei ein Sowohl-Als-auch, er sei janusköpfig gewesen, dann fühlt man sich in seinen Zweifeln bestärkt.

( V o r sitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Erst die Aufarbeitung der Geschichte macht es möglich, daß sich der Blick klärt. Das ist nicht nur bei mir so. Deswegen ist die Aufarbeitung der Geschichte ungeheuer wichtig; sie ist unverzichtbar.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Es ist eben falsch, wenn man glaubt, 40 Jahre Diktatur seien nur dadurch zu beseitigen, daß man die Ärmel hochkrempelt, aufräumt und das Wirtschafts- und Sozialressort betrachtet. Es ist ungeheuer wichtig, daß wir uns in der Arbeit vor allen Dingen auch den Opfern widmen, die diese Zeit gefordert hat, und denjenigen, die dafür Opfer gebracht haben. Denn wenn wir ihnen ihre Würde nicht wiedergeben, dann haben wir diese Demokratie und diesen Rechtsstaat nicht verdient.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist weiterhin wichtig, daß wir uns bemühen, die Fehler der vorhergehenden Generation nicht unreflektiert an die Nachwachsenden weiterzugeben, weil diese dann in der Gefahr sind, dieselben Fehler, aus denen wir nicht gelernt haben, zu machen. Weil es um Lernen geht und weil Vergangenheitsaufarbeitung etwas mit Lernen zu tun hat, wird klar, daß die Diskussion über unsere Vergangenheit die Diskussion fiber unsere Werte ist, darüber, worauf wir unsere Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft stellen wollen. Darüber muß zu jeder Zeit geredet werden. Auch die Morde von Mölln haben mit einem Defizit an Werten zu tun.
Meine Damen und Herren, es ist in letzter Zeit, gerade auch im Zusammenhang mit der EnqueteKommission, viel von Schuld die Rede gewesen. Ich habe das Gefühl, sie wird immer kleinergeredet. Ich jedenfalls bin nicht der Meinung, daß Schuld erst da beginnt, wo der Richter über sie befindet. Ich glaube, wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß wir in der DDR letztlich alle schuldig geworden sind. Schuld beginnt an der Stelle, wo mein Nachbar verhaftet wird und ich nichts dazu sage; Schuld beginnt dort, wo meinem Kollegen aus politischen Gründen ungerecht fristlos gekündigt wird und ich dazu schweige; Schuld beginnt dort, wo ich hätte nein sagen müssen, aber nichts tue; Schuld beginnt dort, wo ich hätte etwas verhindern können und es aus Angst nicht getan habe.
Es ist ungeheuer wichtig, daß wir uns das selber eingestehen und uns dazu bekennen. Wir werden sonst nicht in der Lage sein, zu der Ehrlichkeit zu



Stephan Hilsberg
finden, die Grundlage für die Vergangenheitsaufarbeitung ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir sind in der Enquete-Kommission nicht zusammengekommen, um Schuld zuzumessen. Das kann nur jeder für sich allein. Aber wir müssen über Verantwortung sprechen. Denn bevor man sich der Verantwortung stellen kann, ist es wichtig, daß die Verantwortung benannt wird. Fakten und Zusammenhänge sind keine Dinge, über die man groß diskutieren kann; das wird geklärt. Aber Chancen und Risiken können unterschiedlich bewertet werden; das ist ein ganz normaler Vorgang. Dabei geht es um freie Entscheidungen, und da, wo es um freie Entscheidungen geht, geht es letztlich auch um die Verantwortung, die ein jeder dafür hat.
Die Verantwortung für die DDR hörte 1989 nicht auf. Sie ist auch nicht allein auf die Ostdeutschen begrenzt, auch nicht allein auf die Parteien und auch nicht nur auf SED und Politbüro. Ich behaupte — es ist sehr wichtig, daß wir uns darüber klar sind —, daß die Folgen der DDR weiterwirken und daß auch die Kontinuität von Schuld anhält. Was wir zur Zeit in der Treuhand erleben, nämlich daß sich Leute an dem Leichnam der DDR-Volkswirtschaft bereichern, das hat genauso mit Schuld zu tun wie das Unrecht, das in der DDR-Zeit begangen wurde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wie wollen wir denn glaubwürdig vor die Menschen in der ehemaligen DDR hintreten und sagen „Wir kümmern uns um die Vergangenheitsaufarbeitung", wenn wir dem Eindruck nicht entgegentreten: Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen? Vergangenheitsaufarbeitung hat nichts damit zu tun, daß an die Stelle gerechter Verurteilung Amnestie gesetzt wird. Vergangenheitsaufarbeitung hat vielmehr damit zu tun, daß wir uns den konkreten Dingen stellen.
Ich bin einmal von einem wichtigen Kirchenmann gefragt worden, ob wir in unserer Enquete-Kommission nicht neue Wunden schafften. Ich will hier ganz deutlich sagen: Für uns geht es in erster Linie um Aufklärung. Wunden heilen, wozu wir sicherlich ebenfalls zusammengekommen sind, geht nur dann, wenn man sich gegenseitig an der Wahrheit festhält. Es kann nicht angehen, daß ich abwäge und zum Schluß sage: Es gibt eine Wahrheit, die so schwer erträglich ist, daß ich sie den Menschen nicht zumuten kann. Das ist nicht die Basis, auf der wir in der Enquete-Kommission zusammengekommen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will, zum Schluß kommend, noch etwas betonen, was mir wichtig ist. Ich habe in der DDR-Zeit — spät, aber immerhin — einer oppositionellen Bewegung angehört. Der Abstand zwischen den Gruppen innerhalb der DDR, die sich um politischen Widerstand gekümmert haben, und der Bevölkerung war groß. Er ist in der Zeit der Wende fast geschwunden. Das war ein glückliches Gefühl. Ich habe aber jetzt manchmal den Eindruck, daß er wieder eingetreten ist.
Ich will hier in aller Deutlichkeit vermerken: Die Schmerzen über diesen Abstand sind nicht wichtig; wichtig ist vielmehr die Zukunft des Landes, um das wir uns damals gekümmert haben und um das wir uns auch heute zu kümmern haben. Mut und Zivilcourage waren nicht nur in der ehemaligen DDR schwierig zu haben. Sie sind zu allen Zeiten schwierig zu haben. Vernunft ist etwas, was sich in der Summe aus Verstand und Mut ergibt. Anders werden wir die Zukunft dieses Landes nicht gestalten können.
Vielen Dank

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216302600
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Andrea Lederer.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216302700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst auf einige in der Debatte gemachte Bemerkungen eingehen, so auf die Forderung des sächsischen Justizministers — er ist nicht mehr da — nach dem Ausschluß von ehemaligen politischen Funktionsträgern der DDR vom öffentlichen Dienst, vor allem aber auch von politischen Mandaten. Diese Forderung halte ich für ziemlich unangebracht. Wir haben den Hinweis und die Keule, die damit geschwungen werden sollte, verstanden. Genau das ist aber nichts, was auch nur ansatzweise zur Versöhnung beiträgt, die in diesem Land allemal notwendig ist. — Das nur vorweg.
Viele Bemerkungen, die heute im Laufe dieser Debatte gefallen sind, hätte ich gerne auch gestern in der Debatte gehört.
Ich gehe einmal auf den Satz von Herrn Mischnick ein, es gehe darum, wider das Vergessen zu kämpfen. Ich kann ihm nur zustimmen. Aber das muß wirklich in jeglicher Hinsicht geschehen, auch in bezug auf den Rechtsextremismus, der dieses Land momentan erschüttert, auch in bezug auf die ausländerfeindlichen Äußerungen und die Anschläge. All das, was die Geschichte dieses Landes insgesamt anbelangt, gehört dazu, wenn man nicht aufhören will, wider das Vergessen zu kämpfen.
Ich habe jetzt die etwas undankbare Aufgabe, hier einen Themenkreis einzuleiten, dessen Behandlung zu meinem Leidwesen für diese Geschichtsdebatte vereinbart worden ist. Ich habe mich darum bemüht, eine Trennung herbeizuführen und den dritten Teilbericht des KoKo-Untersuchungsausschusses nicht damit zu vermischen; denn das finde ich problematisch.

(Dirk Hansen [F.D.P.]: Endlich hat sie einmal recht!)

Nun steht es aber auf der Tagesordnung.
Wir wußten auch nicht, daß seitens der Fraktionen eigentlich gar kein Bedarf bestand, darüber zu diskutieren. Um so problematischer finde ich es, daß die Erstellung des Mehrheitsberichts mit dem Hinweis auf die Debatte durchgepowert wurde.
Ich will hier dennoch ganz kurz auf den Bereich „Kunst und Antiquitäten" eingehen. Dem Mehrheits-



Andrea Lederer
bericht konnten die PDS und auch alle anderen Oppositionsfraktionen bzw. -gruppen im Ausschuß nicht zustimmen. Wir haben deshalb einen abweichenden Bericht vorgelegt.
Es ist klar — das ist sicherlich unstreitig —, es gibt an verschiedenen Praktiken der Kunst und Antiquitäten GmbH nichts zu deuteln und nichts schönzureden. Die Kunst und Antiquitäten GmbH hat vor allem mit Unterstützung des Ministeriums für Finanzen Kunstgegenstände und Antiquitäten ins kapitalistische Ausland verkauft, um dringend benötigte Devisen zu erwirtschaften. Sie war bei der Beschaffung exportgeeigneter Güter wenig zurückhaltend in der Wahl ihrer Methoden, vor allem was die privaten Sammler angeht.
Die andere Seite, die der westlichen Geschäftspartner, ist ebenfalls nicht gerade ein Beleg für die moralisch-sittliche Überlegenheit der freien Marktwirtschaft. Westdeutsche Firmen haben im Wissen um die Beschaffungspraktiken der Kunst und Antiquitäten GmbH — der Artikel in der Zeitschrift „art" von 1984 ist hier zu erwähnen, der genau dies deutlich machte — mit dieser GmbH Geschäfte gemacht und gut daran verdient. Es ist nicht verwunderlich, daß die Koalitionsparteien diese Seite der Angelegenheit mit großer Zurückhaltung schildern. Besonders glaubwürdig läßt das ihre Empörung über den Kunstexport der DDR allerdings nicht erscheinen.
Vollends unglaubwürdig ist die in Ihrem Bericht enthaltene Klage, die DDR habe das nationale Erbe aller Deutschen systematisch dezimiert. Immerhin sind 60 % aller Kunstgegenstände von Deutschland Ost nach Deutschland West verscherbelt worden. Was anschließend mit ihnen geschehen ist, hat den Ausschuß nicht weiter interessiert. Es spricht allerdings vieles dafür, daß die westdeutschen Antiquitätenhändler, gute Geschäftsleute, die sie nun einmal sind, die billig erworbenen Kunstgegenstände meistbietend weiterverkauft und sich dabei um so erhabene Werte wie „das nationale Erbe der Deutschen" oder deren „kulturelle Identität" nicht weiter geschert haben.
Die bundesrepublikanischen Behörden haben das muntere Treiben auf dem Kunst- und Antiquitätenmarkt überaus gelassen betrachtet, jedenfalls vor der Wende. Sie erteilten umstandslos die erforderlichen Genehmigungen für die Ausfuhr von Antiquitäten und wurden auch durch die detaillierten Aussagen des ehemaligen Geschäftsführers der Kunst und Antiquitäten GmbH, Horst Schuster, gegenüber dem BND nicht um ihren Schlaf gebracht. Das war, wie gesagt, vor der Wende.
Nach der Wende machten bundesdeutsche Politiker eine erstaunliche Wandlung durch. Über Nacht wurden sie zu glühenden Verteidigern des nationalen Kunstbestandes.
Ich möchte zum Schluß aber auch noch kurz auf das Verfahren im Ausschuß eingehen. Es ist ja immer wieder die Rede davon, daß es um die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gehe. Die Regularien der Ausschußarbeit und ihre enge Anlehnung an strafprozessuale Verfahren bringen es mit sich, daß die Zeugen für ihre Offenheit nicht belohnt, sondern im
Zweifelsfall bestraft werden. Oft genug sitzt der Staatsanwalt unter den Zuhörern, um aus den Aussagen der Zeugen Anklagerelevantes festzuhalten.
Wenn das so ist, dann muß man erstens darüber nachdenken, in welcher Art und Weise man Untersuchungsausschüsse verfahrensmäßig so ausgestalten kann, daß tatsächlich eine Annäherung an Wahrheit möglich ist und nicht ständig die Keule des Strafprozesses geschwungen wird. Und man muß zweitens darüber nachdenken, welchen Sinn eigentlich der auch vom sächsischen Justizminister wieder formulierte Strafanspruch, das Mittel des Strafrechts macht, wenn es darum geht, sich politisch, moralisch, ethisch etc. der Wahrheit anzunähern, und zwar einer historischen Wahrheit, die Differenzierung erfordert, die Kritik und Selbstkritik erfordert — und das von allen Seiten.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216302800
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ingrid Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216302900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich spreche zum Bereich KoKo, zu unserem abweichenden Bericht über den Komplex Kunst und Antiquitäten.
Ich denke, daß die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses zu dem Komplex Kunst und Antiquitäten die engen Verflechtungen zwischen dem MfS und dieser KoKo-Firma eindeutig belegt hat. Mehrere MfS-Hauptabteilungen übten einen sehr starken Einfluß auf die KoKo-Firma aus, so daß insgesamt die Tätigkeit dieser KoKo-Firmen als vom MfS gesteuert bezeichnet werden muß. Zahlreiche Mitarbeiter dieser Firma waren gleichzeitig als inoffizielle Mitarbeiter des MfS tätig; sie erhielten Aufträge vom MfS und berichteten dem MfS über die Situation im Betrieb, aber auch über die westlichen Geschäftspartner.
Bis hierhin sind wir uns mit den Koalitionsfraktionen einig. Alles Weitere in unserem abweichenden Bericht unterscheidet sich von den Auffassungen der Koalitionsfraktionen, insbesondere die Bewertung der Rolle der westdeutschen Händler, aber auch der Rolle der Bundesregierung.
Es ist klar, daß die Firma Kunst und Antiquitäten die den DDR-Bürgern abgepreßten Antiquitäten in die westliche Welt verkaufte. Im Zuge der Nostalgiewelle in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westlichen Ländern war der Handelsbedarf an Antiquitäten sehr groß. Mindestens seit 1984 hätten sich allerdings westliche Geschäftspartner der Kunst und Antiquitäten GmbH über die kriminelle Praxis des KoKo-Betriebes informieren können. Damals erschien in der in Händlerkreisen viel gelesenen Kunstfachzeitschrift „art" ein kritischer Artikel über die Vorgehensweise der DDR bei der Enteignung von Kunstsammlern im Rahmen von Steuerverfahren.
Im Jahre 1986 umfaßte der Kundenkreis der Kunst und Antiquitäten GmbH in der Bundesrepublik und in West-Berlin 40 Abnehmer, in den übrigen westlichen



Ingrid Köppe
Ländern 38 Abnehmer. Die westlichen Geschäftspartner der Kunst und Antiquitäten GmbH müssen sich heute den Vorwurf gefallen lassen, sich entweder über die Geschäftspraxis dieses Betriebes nicht sachkundig gemacht oder aber diese kriminelle Praxis billigend in Kauf genommen zu haben, um nicht auf einträgliche Geschäfte verzichten zu müssen.
Dieses Verhalten der westlichen Geschäftspartner ist durch die Bundesregierung erleichtert worden. Der Bundesnachrichtendienst sammelte auch Informationen über die KoKo-Firma Kunst und Antiquitäten und bezog seine Erkenntnisse von in der DDR geführten Quellen, u. a. — Frau Lederer hat es schon erwähnt — von Horst Schuster, dem Generaldirektor der Firma Kunst und Antiquitäten, aber auch von Überläufern. Diese Informationen sind regelmäßig an die Bundesregierung gegangen. Sie sind noch heute VS, also als Verschlußsachen eingestuft, und es gab sogar Auseinandersetzungen darüber, ob sie überhaupt im Bericht abgedruckt werden können.
Heute ist nicht festzustellen, daß die Bundesregierung die vom BND übermittelten Informationen über den Kunsthandel genutzt hätte, um die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. Hätte eine solche Unterrichtung der Öffentlichkeit stattgefunden, wäre es westdeutschen Firmen erheblich schwerer gefallen, ihre Handelsbeziehungen zur KoKo-Firma aufrechtzuerhalten; denn dies hätte einen erheblichen Imageverlust bedeutet. Die Geschäftstätigkeit der Kunst und Antiquitäten GmbH wäre dann mangels Abnehmerschaft über kurz oder lang zum Erliegen gekommen. Auch die Sammler in der DDR wären durch eine internationale Öffentlichkeit vor weiteren Enteignungen möglicherweise geschützt gewesen.
Der 1. Untersuchungsausschuß konnte nicht klären, warum die Bundesregierung in dieser Weise Stillschweigen gewahrt hat. Offensichtlich haben auch die CDU/CSU- und die F.D.P.-Fraktion im Untersuchungsausschuß kein Interesse an der Aufklärung dieses Sachverhalts.
Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216303000
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Dirk Bierling.

Hans-Dirk Bierling (CDU):
Rede ID: ID1216303100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni steht auch heute, nach 40 Jahren, für das Aufbegehren der Bürger der ehemaligen DDR und ihren Widerstand gegen staatliche Willkür. Auch im dritten Teilbericht des 1. Untersuchungsausschusses „Kommerzielle Koordinierung" wird diese staatliche Willkür an zahlreichen Einzelschicksalen belegt. Der 17. Juni symbolisiert zugleich das Bekenntnis der Bürger der ehemaligen DDR zu Freiheit und Selbstbestimmung.
Ludwig Erhard hat in diesem Hohen Hause am 17. Juni 1966 die politische Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft aller Deutschen betont und erklärt:
Aus dem Zwang zur inneren Selbstbehauptung sind sie
— gemeint sind wir Bürger der ehemaligen DDR —
ohne Schuld Tag für Tag in eine Bewährungsprobe gestellt, die uns ohne eigenes Verdienst
erspart bleibt. Sie werden uns am Tage der
Wiedervereinigung mit einem ebenso gesunden
wie berechtigten Selbstbewußtsein entgegentreten, das uns vielleicht veranlassen wird, von
manchen zur Gewohnheit gewordenen Vorstellungen Abschied zu nehmen, dafür aber die
Gewähr gibt, daß alle Deutschen bei der Gestaltung des vereinigten Deutschland auf gleich zu
gleich zusammenarbeiten werden.
Diese Mahnung und Aufforderung an die Bürger der alten Bundesrepublik ist heute, fast drei Jahre nach der Vereinigung, immer noch aktuell. Verwerfungen im Einigungsprozeß der Deutschen können wir jedoch nur gemeinsam begegnen. Von unseren Wertevorstellungen dürfen wir nicht nur reden, sondern wir müssen sie auch vorleben. Nur dann können wir den Zusammenhalt wahren und stärken, den das SED-Regime 40 Jahre mit Mitteln des Terrors unterdrückt hat. Dies verlangt auch der Respekt vor und die Verpflichtung gegenüber den Opfern des 17. Juni.
Zwingender Bestandteil der Vereinigung sind jedoch nicht nur die Probleme der Zukunft, sondern auch die oft mühsame und schmerzhafte Aufarbeitung der Vergangenheit. Dieser Aufgabe stellt sich neben der Enquete-Kommission der 1. Untersuchungsausschuß „Kommerzielle Koordinierung" heute erneut mit der Vorlage des dritten Teilberichts. Dieser Bericht ist ein Dokument der Zeitgeschichte.
Dem wiederholt unternommenen Versuch, die DDR vom Makel des Unrechtsstaats zu befreien, wird mit diesem Bericht ein weiterer Riegel vorgeschoben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Der Ausschuß betreibt keine Ausgrenzung einzelner; er will aber im Rahmen seines Auftrags klären, wer in der ehemaligen DDR an entscheidender Stelle Verantwortung zugunsten des Regimes getragen und zu Lasten der Bürger davon profitiert hat.

(Zuruf von der SPD: Sie!)

Die Aufklärung der Praktiken des Bereichs KoKo bei Handel und Verwertung von Kunst und Antiquitäten erscheint nicht so spektakulär wie die Untersuchung des Waffenhandels, die im Untersuchungsausschuß kurz vor dem Abschluß steht. Die Praktiken des Bereichs KoKo im Kunst- und Antiquitätenhandel sind jedoch bezeichnend für den Umgang des SED-Regimes mit seinen Bürgern und den Kulturgütern der ehemaligen DDR.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Der Auftrag für diesen Ausschuß lautet u. a.:
Der Ausschuß soll untersuchen, welche Rolle der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordinierung und sein Leiter Dr. Schalck-Golodkowski im System der SED-Führung, Staatsleitung und Volkswirtschaft der früheren DDR spielte und wem die wirtschaftlichen Ergebnisse zugute kamen und gegebenenfalls heute noch zugute kommen.



Hans-Dirk Bierling
Der Erfüllung dieses Auftrags ist der Ausschuß mit der Vorlage dieses Berichts zum Komplex Kunst- und Antiquitätenhandel wieder ein Stück nähergekommen. Als Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung trägt Dr. Schalck-Golodkowski — den MfS-Doktortitel erspare ich Ihnen im folgenden — wesentliche Verantwortung für die Verschiebung ganzer Kunstsammlungen in den Westen zur Verbesserung der miserablen Devisensituation.
Anfang 1973 wurde auf der Grundlage des Beschlusses des Ministerratspräsidiums zur Zahlungsbilanz verfügt, daß aus dem staatlichen Fundus Antiquitäten und Museumsbestände für den Export in das sogenannte nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet in Höhe von 55 Millionen Valutamark dem Bereich Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenwirtschaft anzubieten sind. Diese Verfügung ist auf einen Vorschlag des Politbüromitglieds Kurt Hager zurückzuführen, der u. a. für den Bereich Kunst zuständig war. Objekte mit besonderer kulturhistorischer Bedeutung waren gesondert zu erfassen und für den Export freizugeben. Dazu heißt es in der Verfügung:
Zur Sicherung des nationalen Kulturerbes sind alle Exponate von über 200 TVM und Objekte mit besonderer kulturhistorischer Bedeutung listenmäßig zu erfassen und einzeln durch den 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrrats, Gen. Sindermann, für den Export freizugeben.
Der eindeutige Wortlaut dieser Verfügung läßt ja wirklich nur den Schluß zu, daß nationales Kulturgut exportiert werden sollte.
Glücklicherweise stieß diese Verfügung auf erheblichen Widerstand. Ihre Umsetzung scheiterte letztlich, weil eine mögliche öffentliche Dokumentation des Ausverkaufs der DDR befürchtet wurde. Das Interesse von Schalck-Golodkowski an dieser Verfügung war jedoch so groß, daß er nicht davor zurückscheute, den Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden moralisch unter Druck zu setzen und an dessen Verantwortung für die DDR und die Lage der Industrie zu appellieren.
Nach Einstellung der Aktivitäten zur Durchführung des Ministerratsbeschlusses erhielt nach den Aussagen von Schalck-Golodkowski die Kunst und Antiquitäten GmbH die Aufgabe der weiteren Durchsetzung des staatlichen Außenhandelsmonopols im Bereich des Exports von Kunst und Antiquitäten. Diese Gesellschaft sollte einen Beitrag zur Herstellung einer den sozialistischen Verhältnissen entsprechenden Ordnung im Handel mit Kunstgegenständen und Antiquitäten leisten. Dies war genauer folgendermaßen definiert:
Zur Erfüllung der Aufgaben des Betriebes und für eine reibungslose Geschäftstätigkeit ist es notwendig, Leitungsentscheidungen herbeizuführen, um vorauszusehende Kollisionen mit gesetzlichen Bestimmungen zu legalisieren.
Dies ist eine deutliche Aufforderung zum Rechtsbruch! Schalck-Golodkowski hat dazu vor dem Ausschuß geäußert, der Bereich Kommerzielle Koordinierung habe mit den „normalen" Rechtsvorschriften der DDR wenig zu tun gehabt. Man sei gezwungen
gewesen, Bedingungen zu schaffen, die den Aufbau und die Durchführung marktwirtschaftlicher Strukturen ermöglicht hätten.
Schalck-Golodkowski hatte verfügt, daß Anleitung und Kontrolle dieser Gesellschaft in seinem Auftrag unmittelbar durch Manfred Seidel, den Leiter der strengster Geheimhaltung unterliegenden Hauptabteilung I des Bereichs KoKo, erfolgen sollten. Damit hatte Schalck-Golodkowski maßgeblichen Einfluß auf die Geschäftspolitik. Er wurde laufend schriftlich über die Entwicklung der Planerfüllung informiert. Alle wesentlichen finanziellen, personalpolitischen und kulturpolitischen Fragen wurden von Schalck-Golodkowski oder von Seidel entschieden.
Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben nach den Erkenntnissen des Ausschusses als einziges Museum eine Verkaufsvereinbarung mit der Kunst und Antiquitäten GmbH abgeschlossen. Der Ausschuß geht aber davon aus, daß neben SchalckGolodkowski auf allen staatlichen Ebenen — vom Ministerrat bis hin zum Museumsdirektor — Entscheidungen getroffen worden sind, die zu substantiellen Verlusten für die Museen führten.
Die Beschaffung von Antiquitäten aus Privatbesitz war in ihren Methoden noch fragwürdiger. Erpressung, Betrug und Rechtsbeugung waren an der Tagesordnung. Unter anderem mit Hilfe des MfS wurden Sammler ermittelt, die dann meist über die Steuerfahndung ins vermeintliche Unrecht gesetzt wurden, um sie zu erpressen und ihren Kunstbesitz einzuziehen. Oft waren menschliche Tragödien die Folge. Über den besonders tragischen Fall des Dr. Garke hat mein Kollege Krziskewitz an dieser Stelle schon berichtet. Leider haben Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland das seinerzeit zum Teil nicht erkannt und darum fragwürdige Urteile gefällt. Allerdings standen den Richtern auch nicht die Quellen zur Verfügung, auf die wir heute zurückgreifen können.
Als Abgeordneter aus einem der jungen Bundesländer muß ich an dieser Stelle aber auch feststellen, daß westliche Kunst- und Antiquitätenhändler an dem Ausverkauf von Kunst und Antiquitäten der ehemaligen DDR auf der Erwerberseite in nicht unerheblichem Umfang beteiligt waren. — Diese Leute hören das heute nicht sehr gern, aber es muß doch wohl gesagt werden. — Dies kann die Verantwortung von Schalck-Golodkowski jedoch nicht in einem milderen Licht erscheinen lassen. Wenn sich Schalck-Golodkowski in seinen Aussagen auf eingeschränkte Verantwortung herauszureden versucht, so ist dies in keiner Weise akzeptabel.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht hier nicht um Fehler, die in jedem Betrieb vorkommen. Entscheidend ist, daß Schalck-Golodkowski als Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung den Ausverkauf wertvoller Kulturgüter unter Inkaufnahme rechtswidriger Methoden zuließ, um das Herrschaftssystem der SED zu stabilisieren und zu erhalten und damit die Unterdrückung von Millionen Menschen zu verlängern.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich selbst war ebenso wie Staatsminister Heftmann am 17. Juni



Hans-Dirk Bierling
1953 nur neun Jahre jung. Aber ich erinnere mich noch recht genau an die Hoffnung dieses Tages und ihren brutalen Abbruch. Nach den Schüssen, dem Ausnahmezustand, der nächtlichen Ausgangssperre und den folgenden Unrechtsprozessen versank ein Viertel unseres Volkes in Hoffnungslosigkeit, Angst und Resignation. Es vermochte nicht einmal aufzustehen, als es eingemauert wurde. Es hat viele Jahre gedauert, bis dieser Teil unseres Volkes es wieder wagte, der SED-Diktatur die Stirn zu bieten.
Meine Damen und Herren, ein Volk gewinnt an Schönheit und Größe für einen geschichtlichen Moment, wenn es sich in freier Entscheidung seiner Kraft bewußt wird, wenn es Angst überwindet.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich bin an diesem Tag des Gedenkens wieder froh, daß ich dabei sein konnte, als wir im Herbst 1989 das Vermächtnis der Opfer von 1953 erfüllten.

(Zuruf von der SPD: Sie waren immer dabei!)

Es wird noch lange dauern, bis wir all das, was dazwischen lag, für uns selbst und für unser Volk aufgearbeitet und überwunden haben. Dies aber ist die Aufgabe, in der wir stehen, auch mit diesem Untersuchungsausschuß, dessen dritten Teilbericht und Entschließungsentwurf ich Sie anzunehmen bitte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216303200
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Christine Lucyga das Wort.

Dr. Christine Lucyga (SPD):
Rede ID: ID1216303300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob eine Debatte zum dritten Teilbericht des 1. Untersuchungsausschusses KoKo der richtige Ansatzpunkt ist, um in würdiger Form an den 40. Jahrestag des 17. Juni zu erinnern, mag dahingestellt bleiben, zumal der Bereich Kunst und Antiquitäten im Gesamtgefüge der KoKo eher ein Nebenschauplatz ist. Kaum ein anderer Bereich von KoKo ist aber andererseits so geeignet, nachzuzeichnen, wie sehr dieses zwielichtige Unternehmen von den Vernetzungen eines Unrechtsstaates gelebt hat.
Die Kunst und Antiquitäten GmbH — im folgenden kurz KuA gennant — war eine Tochter der KoKo und ein Kind des Systems. Es findet sich hier im kleinen Rahmen alles wieder, was wir in anderen geschichtlichen Bereichen als massenhaftes Unrecht kennengelernt haben: der Eingriff des Staates in die persönliche Sphäre des einzelnen, die absolute Rechtlosigkeit des Bürgers, der in diese Mühlen geriet, die Willkür des Apparates, die konspirativen Verflechtungen, die Verschleierung von Unrechtstatbeständen bis hin zur Günstlingswirtschaft der Nutznießer dieses Systems. Und die haben bei weitem nicht nur auf der Ostseite des Geschehens agiert, nein, das Vorhandensein westlicher Partner machte es erst richtig möglich.

(Beifall bei der SPD)

Man kann also ganz unterschiedliche Sichtweisen anlegen, wenn es um die Bewertung dieses Phänomens geht, was auch die abweichenden Positionen
der hier vertretenen Fraktionen und Gruppen zum Teilbericht erklärt.
Bevor ich aber auf den Standpunkt der SPD zum Teilbericht zu sprechen komme, möchte ich vor allem auf die Situation der Opfer eingehen. Diese Menschen warten immer noch darauf, daß ihnen zugefügtes Unrecht wiedergutgemacht wird. Und auch das zwiespältige Verhältnis der DDR-Führung zu Kunst und Kultur muß hier angesprochen werden, gab es doch kulturpolitisch immer eine Gratwanderung: Der Staat, der sich öffentlich so sehr als Förderer von Kunst und Kultur gefiel — mit der einschränkenden Voraussetzung, daß Kunst und Kultur das System nicht in Frage stellen durften—, mißtraute andererseits Künstlern und den Freunden, Förderern und Sammlern von Kunst zutiefst.
Besitzer und Sammler von Antiquitäten waren dem MfS meist ebenso suspekt wie die kritischen Künstler. Wer einmal aus dem genormten Einheitsrahmen fiel, fiel auf, und zwar unangenehm.
Damit soll nun aber weder eine Dämonisierung von KoKo noch des MfS betrieben werden, sondern im Gegenteil: Wir dürfen nicht vergessen, daß die Wirkungsweise des Apparates gerade in einem durchorganisierten Zusammenspiel von penibler, kleinkarierter und böser Banalität auf allen Ebenen lag, in einer Menschenverachtung, die jedem Apparatschik jeweils das Gefühl gab, ein Stückchen Macht über andere zu haben.
In diesem Klima konnte sich auch der politisch wie moralisch gleichermaßen dubiose Kunstraub, der staatliche Kunstraub — im wesentlichen durch KuA im Zusammenspiel mit dem MfS organisiert — so richtig entfalten. Für die systematische Kriminalisierung von Kunstliebhabern und -sammlern war dabei das MfS zuständig.
So finden sich in den Unterlagen und Zeugenbefragungen Hinweise darauf, daß Antiquitätensammler in der DDR „operativ bearbeitet" wurden, wie es im speziellen Amtsdeutsch des MIS hieß. Es finden sich in IM-Berichten Formulierungen wie „ Verbindungen zu Antiquitätenhandelskreisen sowie weiteren negativen Personenkreisen" oder auch zu „asozialen Personen bzw. negativ gegen die DDR eingestellten Kräften", Beschuldigungen wie die der „aktiven staatsfeindlichen Gruppentätigkeit, gerichtet gegen die Kulturpolitik der DDR" oder auch die Abqualifizierung privater Sammlertätigkeit als Spekulantentum.
Auf den Begriff „Spekulantentum" zog sich übrigens auch Herr Schalck-Golodkowski alias Schneewittchen zurück, als er im Ausschuß zum Komplex KuA befragt wurde.
Sicher wird es auch im privaten Kunstgeschäft schwarze Schafe gegeben haben — in diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß manche im Ausschußbericht etwas idealisierte Figur wohl einer realistischeren Konfrontation mit der Wirklichkeit so nicht standhalten dürfte —, aber alles in allem läßt sich festhalten, daß sich der Staat das, was er privaten Sammlern vorwarf, selbst vorbehielt: Kunstspekulationen in großem Umfang.



Dr. Christine Lucyga
Seit in den 70er Jahren die Preise für Antiquitäten international anzogen und auch in der DDR bemerkt wurde, wie gut sich auf den Weltmärkten Antiquitäten verscherbeln ließen, wurde das Zusammenspiel von KuA, Behörden und MfS immer perfekter. Die berüchtigte Stoph-Verfügung vom Januar 1973 über die Bereitstellung von Kunstgut aus Museen der DDR dokumentiert die Systematik des versuchten Ausverkaufs von Kunstgut, aber im Zuge seiner Umsetzungen wird auch deutlich, daß sich unter den Kulturschaffenden der DDR selbst Widerstand regte. Zivilcourage und trickreiches Agieren haben manches von diesem geplanten Ausverkauf verhindern können. Nicht verhindert werden konnte die Plünderung und Verscherbelung einzigartiger privater Kunst- und Antiquitätensammlungen.
Es ist hier und an anderer Stelle dargestellt worden, wie Sammler kriminalisiert wurden — in der Regel unter dem Vorwand der Steuerhinterziehung — und wie sie enteignet wurden. Es gab Haftstrafen und mindestens einen unaufgeklärten Todesfall. Aber die Verbitterung, Demütigung und Kränkung, alles das, was jedem einzelnen widerfuhr, ist außerhalb dieses Ausschusses kaum jemals ein Thema gewesen.
Offengeblieben ist auch die Frage, ob es denn diesen Menschen geholfen hätte, wenn wenigstens zuständige bundesdeutsche Behörden sensibler auf Signale aus der Fachwelt reagiert hätten;

(Beifall bei der SPD)

denn der Fachwelt waren spätestens seit 1984 die Machenschaften der KuA GmbH und ihrer Helfer bekannt.
Da der Bezug von Antiquitäten im innerdeutschen Handel bis 1987 einzelgenehmigungspflichtig war, gab es bis dahin sehr wohl Spielräume, Importe rechtswidrig erlangter Kulturgüter zu unterbinden.
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß es zu allen Zeiten gerade die besessenen Kunstsammler waren, die auch für die nachfolgende Generation Kunstschätze zusammengetragen und bewahrt haben, die so manche Kostbarkeit vor der Mülltonne retteten und manchmal auch erst den Grundstock für Museen begründeten. Diese Menschen müssen geschützt werden. Wer die wunderbare StefanZweig-Novelle „Die unsichtbare Sammlung" gelesen hat, erhält einen Einblick in die geistige Welt dieser Menschen. Genau diese geistige Welt war sowohl dem Staat als auch den westlichen Kunstsammlern, die sie schamlos plünderten, fremd.

(Beifall bei der SPD)

Uns liegen Aussagen hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS vor, daß jeder Sammler in der DDR systematisch unter die Lupe genommen wurde, mit Beispielen für ihre Kriminalisierung. Zeugen schilderten die Ausspähmethoden des MfS und auch die Methoden, wie der Staat in Straßenräubermanier Sammler in den Hinterhalt lockte, etwa durch Ankurbelung von Sammlergeschäften, damit das MfS dann einsteigen konnte. Große Sammlungen: Schwarz, Bath, Dietel, Beuker, Lange, Mau, Garcke — um nur einige Namen zu nennen — wurden vom Staat solcherart konfisziert. Die Verwertung erfolgte in Mühlenbeck.
Die Unersättlichkeit der DDR-Führung nach immer neuen Deviseneinnahmequellen setzte zumindest, wenn es um das Aufspüren neuer Opfer ging, erhebliche kriminelle Energien frei. Je mehr Devisen die DDR-Führung forderte und brauchte, um das bereits sinkende Schiff noch etwas länger über Wasser zu halten, um so mehr muß Mühlenbeck einem Gemischtwarenladen geglichen haben, in dem es quasi alles gab vom Pflasterstein bis zum Puppenkopf. Ja, nicht einmal vor dem Handel mit NS-Orden und -Medaillen schreckte KuA zurück. Der gleiche Staat, der sich so viel auf seine vorgeblich antifaschistische Unbeflecktheit zugute hielt, war sich nicht zu schade, wenn es denn Devisen brachte, selbst mit NS-Devotionalien zu handeln, was sowohl im Westen als auch im Osten bekanntlich strafbar war.
Aber für KoKo galten wohl ohnehin ganz eigene Gesetze. Wie sonst wäre es zu erklären, daß die Nutznießer und Günstlinge des Systems sich vom Mühlenbecker Beutegut nach Wunsch bedienen konnten, daß sowohl Herr Schalck-Golodkowski seine Wünsche anmelden konnte als auch Herr Beil, der seine Uhrensammlung über Mühlenbeck zu ergänzen pflegte. Überhaupt sind Uhren so etwas wie ein Leitmotiv mit kabarettistischem Einschlag, wenn es um den Bereich Kunst und Antiquitäten geht. Herr Seidel konnte seine Vorliebe für Uhren genauso wenig leugnen wie Schalck selbst, der bei Herrn Farken gelegentlich nach preiswerten Raritäten anfragte, und auch die mysteriöse Lenin-Uhr darf in diesem Kontext nicht fehlen.
Ob aber der Uhrenfetischismus der Herren ebenso wie die üppigen Freundschaftsgeschenke, die man sich gegenseitig machte, etwas mit der Ahnung zu tun hatten, ihre Uhr könnte bald abgelaufen sein? Daß zumindest Herr Schalck — alias Schneewittchen — wie auch andere mit ihm bei seinem Absturz weich gelandet ist, ist u. a. das Verdienst bundesdeutscher Gönner, z. B. seines Geschäftsfreundes Herrn März, der seinerseits über KuA eine umfangreiche Sammlung kostbarer Meißner Unikate erwerben durfte.

(Beifall bei der SPD)

Man muß doch einmal fragen dürfen, welches Strafmaß Herrn Schalck erwartet hätte, wenn die Steuerbehörden bei ihm die gleiche steuerliche Meßlatte angelegt hätten wie beispielsweise bei dem schon genannten enteigneten Werner Schwarz. Der verlor in zweiter Instanz einen Prozeß, in dem es übrigens auch wieder um eine Uhr ging, gegen KuA. Der Bundesgerichtshof befand das Urteil für Rechtens. Das Bundesverfassungsgericht wies eine Verfassungsbeschwerde ab.
Dies kann aus heutiger Sicht nicht das letzte Wort gewesen sein; denn das in der DDR gegen den Sammler eingeleitete Verfahren ist moralisch und politisch höchst anfechtbar. Um so wichtiger wird sein, daß, wie von den SPD-Mitgliedern im Untersuchungsausschuß empfohlen, Möglichkeiten einer wenigstens teilweisen Wiedergutmachung und Herausgabe von unrechtmäßig enteignetem Kulturgut geprüft werden.

(Beifall bei der SPD)




Dr. Christine Lucyga
Die Bundesregierung, die so vehement für den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" eintritt, hätte hier einmal Gelegenheit, ihre Unterstützung den Opfern und nicht den Tätern zuzuwenden.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216303400
Ich erteile nunmehr dem Herrn Abgeordneten Arno Schmidt das Wort.

Arno Schmidt (FDP):
Rede ID: ID1216303500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anders als bei den Ereignissen um den 17. Juni 1953 sind direkte Gewaltanwendung und offener Rechtsbruch im Bereich KoKo nur schwer nachzuweisen, obwohl es sie ohne Zweifel auch gab. Wie wir heute feststellen können, sind die Methoden der Unterdrückung der Menschen durch das DDR-Regime in späteren Jahren weitaus intelligenter und perfider geworden. Übergriffe auf bürgerliche Freiheitsrechte und, wie der Bereich Kunst und Antiquitäten beweist, auch auf das Vermögen der Bürger der DDR wurden mit Hilfe und unter Anwendung sogenannter Rechtsvorschriften praktiziert. Dies kann mit Verweis auf die drei vom 1. Untersuchungsausschuß vorgelegten Teilberichte mit Sicherheit gesagt werden.
Das, was BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder, besser gesagt, Frau Köppe als vermeintliche Ergänzung zum Komplex Kunst und Antiquitäten vorgelegt hat, ist nicht zum erstenmal ein Beitrag am Thema vorbei. Es wird allmählich auch langweilig zu erklären, daß der Untersuchungsausschuß nicht zu dem Zweck eingesetzt wurde, die Aktivitäten der bundesdeutschen Nachrichtendienste aufzuklären, sondern die Aktivitäten des Bereichs KoKo und seines Verhältnisses zum Ministerium für Staatssicherheit zu erhellen. Unter diesen Voraussetzungen ist es unerträglich, wenn immer wieder versucht wird, einen parlamentarisch kontrollierten Nachrichtendienst der Stasi gleichzusetzen oder zumindest nahezubringen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216303600
Herr Abgeordneter Schmidt, die Abgeordnete Frau Köppe möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Arno Schmidt (FDP):
Rede ID: ID1216303700
Herr Präsident, wir machen das auch im Ausschuß. Ich möchte jetzt erst einmal gerne meine Rede beenden. Sie kann das gern zum Schluß machen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216303800
Es ist Ihr gutes Recht.

Arno Schmidt (FDP):
Rede ID: ID1216303900
Und das, Frau Köppe, was Sie gestern im Untersuchungsausschuß inszeniert haben und wofür es seit der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen meines Erachtens keine Beispiele gibt, zeigt doch, worauf es Ihnen in Wirklichkeit ankommt, oder, besser gesagt, nicht ankommt, nämlich wirklich Sacharbeit zu leisten ohne Klamauk und ohne Effekthascherei vor der Öffentlichkeit.
Meine Damen und Herren, das Bild, das in den meisten Beiträgen der heutigen Debatte von der alten DDR gezeichnet wurde, ist zu Recht das eines Unrechtsstaates, verbirgt sich dahinter doch häufig genug eine ehemals glatt funktionierende Maschinerie von Denunziation, Unterdrückung und Ausbeutung.
Wir sollten uns jedoch darüber im klaren sein, daß diese von uns getroffene Einschätzung der DDR von einem erheblichen Teil der Bürger in den neuen Bundesländern angesichts der Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, nicht immer geteilt wird. Das konstatiere ich hier nur. Wie die Anfang Juni veröffentlichten Ergebnisse einer Infas-Studie aus einem der neuen Länder zeigen, beantworteten knapp 60 % der Bürger die Frage, ob die alte DDR in Gänze bzw. in überwiegendem Maße ein Unrechtsstaat war, mit Nein. Die Tendenz, die DDR-Vergangenheit in einem rosaroten Licht zu sehen, nimmt leider offensichtlich zu.
Das sollte uns, die wir heute die politische Verantwortung tragen, zu denken geben. Wir haben uns sicherlich nicht vorzuwerfen, bislang ein überzogen negatives Bild der Ex-DDR gezeichnet zu haben, doch müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß die Bürger in den neuen Bundesländern mit scheinbar legalen, scheinbar typisch westlichen Praktiken konfrontiert werden, die sie sich unter dem Dach eines Rechtsstaates nur sehr schwer haben vorstellen können und die daher bei vielen das Bild dieses Rechtsstaates trüben.

(Wolfgang Mischnick [F.D.P.]: Leider richtig!)

— Ja, es ist leider richtig. Ich nenne hier nur die leider zahlreichen, im Dunstkreis der Treuhand feststellbaren Ungereimtheiten, um es sehr vorsichtig auszudrücken, die die neuen Bundesländer mittlerweile unzählige Arbeitsplätze gekostet haben, Arbeitsplätze, die nicht deshalb zu Grabe getragen wurden, weil es für sie in einer freien Marktwirtschaft kein Überleben gegeben hätte, sondern die allein ausgelöscht wurden, weil gewiefte Kenner der freien Marktwirtschaft die Lücken des Rechtsstaates skrupellos ausgenutzt haben. Hier müssen wir auch noch im jetzigen Stadium schnellstens zu den Mißbrauch verhindernden Maßnahmen kommen, um der oben genannten Tendenz wirksam entgegenwirken zu können.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Sehr gut! Ran, ran! Machen Sie das!)

— Herr Heuer, entschuldigen Sie, daß ich nichts dazu sage, wenn Sie als sozialistischer Unrechtsstaatswissenschaftler solche Zwischenrufe machen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Meine Damen und Herren, die in der DDR vorhandenen Kunst- und Antiquitätenschätze waren für den Bereich Kommerzielle Koordinierung eine willkommene Gelegenheit, ohne großen Aufwand, ohne die Mühen einer Produktion Devisen im westlichen Wirtschaftsgebiet zu erzielen. KoKo verscherbelte nicht nur alles, was nicht niet- und nagelfest war; KoKo veräußerte sogar, was niet- und nagelfest schien, denn KoKo riß sogar Pflastersteine heraus, Herr Heuer, um sie für einen Spottpreis im Westen zu verkaufen.



Arno Schmidt (Dresden)

Die Staats- und Parteiführung der DDR hat zugelassen, daß das nationale Erbe aller Deutschen systematisch dezimiert wurde. Aber man muß auch sagen: Händler und Vertriebsunternehmen im Westen, auch in der Bundesrepublik, haben dem Kunstraub und der Verschleuderung staatlichen Kunstbesitzes in der DDR über lange Zeit nachhaltig Hilfestellung geleistet. Ich bedaure sehr, daß dies im Westen offensichtlich anstandslos hingenommen wurde. Ich will auch nicht verhehlen, daß ich ernsthafte Zweifel daran habe, ob die Unternehmen so gutgläubig waren, wie sie es vor dem Untersuchungsausschuß dargestellt haben. Aber der Untersuchungsausschuß ist kein Strafgericht. Wir können von uns aus Verurteilungen weder aussprechen noch durch die zuständige Strafjustiz bewirken. Unsere Aufgabe ist es, die Aufklärung der Tatsachen für eine politische Bewertung durch das Parlament und durch die öffentliche Meinung zu leisten.
Meine Damen und Herren, in der Arbeit des Untersuchungsausschusses stehen wir an einer Wende. Die Arbeit am dritten Teilbericht hat gezeigt, daß die fortlaufende Untersuchung einerseits und die Anfertigung eines verläßlichen und verantwortbaren Berichts andererseits nicht gleichzeitig geleistet werden können. Statt weiterer Teilberichte wollen CDU/CSU und F.D.P. einen allumfassenden Schlußbericht. Für dieses Anliegen erbitten wir die Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag, der sicherstellen soll, daß wir den Schlußbericht rechtzeitig erstellen und auch noch vor der Sommerpause 1994 debattieren können.
Schönen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216304000
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau Ingrid Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216304100
Da der Kollege Schmidt mir nicht gestattet hat, einige Zwischenfragen zu stellen, nutze ich jetzt die Möglichkeit, auf das einzugehen, was er gesagt hat.
Drei Punkte.
Erstens. Er hat behauptet, ich würde eine Gleichstellung von MfS und westdeutschen Diensten betreiben. Das ist nicht der Fall. Das habe ich nie getan. Dazu habe ich zum einen viel zuviel Erfahrungen mit dem MfS gesammelt, zum anderen zu große Sachkenntnis von den westdeutschen Diensten erlangt, als daß ich jemals eine solche Gleichstellung vorgenommen hätte. Ich verbitte mir jegliche Unterstellung dieser Art.
Zweitens. Er hat gesagt, mit meiner Arbeit im Ausschuß würde ich eine Ausspähung der westdeutschen Dienste betreiben. Auch mir ist es inzwischen langweilig, die Koalitionsfraktionen immer wieder an den Untersuchungsauftrag erinnern zu müssen, den ja nicht ich mir ausgedacht habe, sondern den sich die Mehrheit dieses Parlaments, also auch die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., ausgedacht hat. Dieser Untersuchungsauftrag ist nun in der Tat sehr viel weiter gefaßt als das, was jetzt von den Koalitionsfraktionen daraus gemacht wird. Es handelt sich nämlich
nicht nur um die ostdeutsche Seite, sondern auch um die westdeutsche. Das geht eindeutig aus dem Untersuchungsauftrag hervor.

(Günter Verheugen [SPD]: Wo ist die Uhr? — Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg hält seine Uhr hoch — Heiterkeit)

Ein dritter Punkt. Er sprach von einer — —

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216304200
Frau Köppe, ich möchte Sie nur zart darauf hinweisen, daß Ihre Zeit überschritten ist.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216304300
Ich habe Ihre Uhr gesehen; sie sieht schön aus.
Er sprach von einer angeblichen Inszenierung, die es gestern im Untersuchungsausschuß gegeben habe.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Herr Präsident, wer bestimmt denn, wie lange hier geredet wird?)

Es handelt sich vielmehr darum, daß gestern der Untersuchungsauschuß beschlossen hat — und das ist ein enormer Vorgang —, einen hochrangigen Mitarbeiter des MfS, einen ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter der HVA, in geheimer Sitzung zu vernehmen. Es waren Bürgerinnen und Bürger einer Reisegruppe anwesend, die ich eingeladen hatte. Sie haben sich darüber sehr geärgert, und das war keine Inszenierung. Vielleicht haben Sie Verständnis dafür.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216304400
Frau Köppe, jetzt ist wirklich Schluß. Wir sind nun deutlich über die Zeit.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216304500
Es war eine spontane Handlung und keine Inszenierung!

(Unruhe bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216304600
Zur Erwiderung gebe ich dem Abgeordneten Arno Schmidt das Wort.

Arno Schmidt (FDP):
Rede ID: ID1216304700
Frau Köppe, ich will hier nicht die Wogen hochschlagen lassen. Aber eines ist doch sicher: Ihre Intentionen — nicht in Worten — gehen im Ausschuß in die Richtung, die ich angedeutet habe. Sie kümmert es doch weniger, was die Stasi gemacht hat, und mehr, was hier gemacht wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Zu dem Vorfall von gestern will ich mich der Stimme enthalten. Ich fand es echt unwürdig. Wir haben uns schon am Anfang gewundert, was da los ist. Ich brauche nichts weiter dazu zu sagen.
Wenn wir alle zusammenarbeiten wollen — und das haben wir auch bewiesen —, müssen wir eine Basis haben, auf der man das tun kann. Ich bitte Sie, auch in diesem Sinne konstruktiv zu sein. Wir waren es bisher.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)





Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216304800
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ortwin Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1216304900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine Anmerkung zu der etwas idealistischen Interpretation der 68er Bewegung durch Steffen Heitmann. Ich selbst bin vor ziemlich genau 30 Jahren an der Freien Universität Berlin zum Vorsitzenden des Internationalen Studentenverbandes gewählt worden und habe hautnah miterlebt, wie damals ein großer Schwung von Studenten und Dozenten der Humboldt-Universität aus Berlin-Ost eingeschleust wurde, die systematisch die Studentenverbände und -vereinigungen an der Freien Universität und der Technischen Universität übernommen haben — die Stätten, die hinterher Ausgangspunkt für die sogenannte 68er Revolution geworden sind.
Nun zum heutigen Thema. Der 17. Juni ist für mich der wichtigste Tag in der deutschen Nachkriegsgeschichte überhaupt. Er zeigte den Geist der Freiheit, den Mut, das Leben für die eigene Freiheit und die der Mitmenschen einzusetzen. Er zeigte Gemeinschaftssinn, Kameradschaftlichkeit, Solidarität, Rechtsbewußtsein und auch ein starkes Menschenrechtsbewußtsein. Er zeigte den Willen und eine große Kraft, mitzugestalten, gegen ein diktatorisches Regime, gegen Waffengewalt.
Nur wenige Ereignisse in der Geschichte der Deutschen haben diesen Freiheitswillen so klar zum Ausdruck gebracht. Gerade deshalb, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, stellt sich die Frage, was die Politik aus diesem Tag gemacht hat. Wo sind eigentlich die Namen derjenigen, die damals ums Leben kamen, die nach furchtbaren Prozessen hingerichtet wurden oder deren Leben — und das ihrer Familien — zerstört wurde?
Statt den 17. Juni als den großen deutschen Nationalfeiertag par excellence zu feiern und damit seine Werte vor allem auch jungen Menschen zugänglich zu machen, immer wieder bewußt zu machen, hat die Politik — ich behaupte das in aller Klarheit — kläglich versagt, vielleicht, weil es zu schwierig ist, diesen Tag immer wieder bewußt zu machen. Der frühere Justizminister Schmude von den Sozialdemokraten hatte bereits Anfang der 80er Jahre die Abschaffung des 17. Juni verlangt, wie es überhaupt der große geschichtliche Fehler der Sozialdemokratie war, sich aus dem Kampf um die Einheit Deutschlands zurückzuziehen und der Union das Feld zu überlassen, einer Union, die mit diesem Pfund keineswegs immer gewuchert hat, die oft genug von wenigen in den eigenen Reihen herausgefordert werden mußte, die deutsche Einheit nicht aufzugeben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ortwin, da hast du recht!)

Und es bleibt unvergessen, daß es noch Ende 1988 eine große Unterstützungsaktion für Honecker gegeben hat. Ich vergesse auch nicht das gemeinsame Moskauer Kommuniqué Honeckers und Helmut Kohls. Helmut Kohl verwendete die Chance der deutschen Einheit, die ihm durch die Bereitschaft der Menschen in den neuen Bundesländern, erneut auf
die Straße zu gehen und ihr Leben einzusetzen, geschenkt worden war, auch zu seinen eigenen Wahlkampfzwecken.
Dementsprechend sollte der 3. Oktober den 17. Juni ablösen. Der 3. Oktober aber ist ein Tag der Politik, von ihr bestimmt, von ihr spekulativ festgelegt, von ihr angeordnet. Der Tag unseres Volkes muß der 17. Juni bleiben. Ihn zu achten, für seine Werte zu kämpfen, der Jugend Beispiele zu geben, wäre auch unsere Aufgabe und unsere große Zukunftschance. Ich behaupte, es wäre vor allem auch unsere Pflicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216305000
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die dritte Beschlußempfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 12/4500 einschließlich der beiden Ergänzungen, die Ihnen auf den Drucksachen 12/4832 und 12/4970 vorliegen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Ich lasse nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/5156 vor — abstimmen. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der Gruppen angenommen worden.
Meine Damen und Herren! Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6a bis 1 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Hollerith, Arnulf Kriedner, Ulrich Petzold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jürgen Türk, Werner Zywietz und der Fraktion der F.D.P.
Altlasten des SED-Unrechtsregimes — Drucksache 12/5146 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Hollerith, Arnulf Kriedner, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Jürgen Türk, Werner Zywietz und der Fraktion der F.D.P.
Klare Perspektiven für sanierungsfähige Treuhandunternehmen
— Drucksache 12/5147 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt (federführend) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß

(ZitVizepräsident Dieter-Julius Cronenberg tau)




Exportkonzept für die neuen Bundesländer
— Westmärkte erschließen — Osthandel überbrücken — Handelsentwicklungsgesellschaften einrichten
— Drucksache 12/4270 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Michael Müller (Düsseldorf), Wolfgang Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" für die neuen Bundesländer
— Drucksache 12/4293 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (federführend)

Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Müller (Zittau), Volker Jung (Düsseldorf), Hinrich Kuessner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Industriegesellschaften in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/4679 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Treuhandanstalt (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
Finanzausschuß
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Müller (Zittau), Hinrich Kuessner, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Überbrückungs- und Modernisierungsdarlehen für Industrieunternehmen in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/4680 — Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß Treuhandanstalt
Haushaltsausschuß
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Glotz, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
ERP-Pressekredit- und Modernisierungsprogramm für die neuen Lander
— Drucksache 12/4857 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Innenausschuß
Haushaltsausschuß
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland
— Drucksache 12/4629 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß)

aa) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Dr. Gerald Thalheim, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Struktur- und sozialverträgliche Verwertung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern durchführen
bb) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen
— Drucksachen 12/3476, 12/4103, 12/4641 —
Berichterstattung:
Abgeordneter
Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz)

j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Wolfgang Roth, Hans Berger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verstärkte Berücksichtigung von ostdeutschen Betrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
— Drucksachen 12/737, 12/3416 —
Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Petzold
k) — Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Werner Schulz (Berlin), Dr. Klaus-Dieter Feige, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
eines Gesetzes zur Förderung der Sanierung und Reorganisation des Treuhandvermögens (Treuhandgesetz)

— Drucksache 12/735 —

(Erste Beratung 32. Sitzung)

aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 12/4631 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/4730 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Helmut Esters
— Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

zu dem Antrag der Abgeordneten KlausDieter Feige, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kurswechsel bei der Treuhandanstalt zu dem Antrag der Abgeordneten Arne Börnsen (Ritterhude), Helmut Esters, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Aufgaben der Treuhandanstalt
— Drucksachen 12/2637, 12/726, 12/4631 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Gerd Andres, Robert Antretter weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gemeinschaftsinitiative Neue Länder
— Drucksachen 12/2874, 12/4306 — Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Müller (Zittau)

Der Ältestenrat, meine Damen und Herren, schlägt Ihnen eine Debattenzeit von drei Stunden vor. Ist das Haus damit einverstanden, mindestens diejenigen, die im Hause sind? — Das ist offensichtlich der Fall.
Der Abgeordnete Kurt Faltlhauser hat das Wort.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1216305100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sammelüberschrift der vorliegenden Anträge „Klare Perspektiven für sanierungsfähige Treuhandunternehmen" ist ein Zeichen dafür, daß die Politik und die Wirtschaft handeln müssen. Wir diskutieren zum richtigen Zeitpunkt über das drängende Problem. Es ist aber nicht die Zeit

(Unruhe bei der SPD)

— üben Sie sich jetzt schon in Zwischenrufen? — theoretischer Erörterungen oder ideologischer Grabenkämpfe oder der Einübung von Zwischenrufen, obwohl es gar nichts zwischenzurufen gibt, oder rückwärtsgewandter Schuldzuweisungen, sondern ganz praktischer Erörterungen darüber, wie es mit den Unternehmen in den neuen Bundesländern weitergehen soll.
Wir müssen pragmatisch vorgehen. Wirtschaftswissenschaftler sagen, wir ständen vor einer Situation, in der wir nur nach dem Prinzip „trial and error" vorgehen können, weil keine Vorlagen und Lehrbuchweisheiten nachlesbar sind. Es ist kein Zufall, daß gegenwärtig das Max-Planck-Institut für vergleichende Systemforschung erst im Aufbau, in der Planung ist. Vielleicht in zehn Jahren werden die dortigen Wissenschaftler wissen, wie man Umbrüche zweier verschiedener Wirtschaftssysteme in den Griff bekommt und planerisch auf den Weg bringen kann.
Wir haben bisher, meine Damen und Herren, überwiegend über die Frage geredet: Welche Unternehmen sind sanierungsfähig? Skepsis bei dieser Frage ist wohl berechtigt; denn die Fragen sind sehr komplex: Welche Produkte taugen für den großen Westmarkt? Welche Fristen sind für die Sanierung einzuschätzen, und — im Zusammenhang damit besonders — welches Kapital ist realistischerweise notwendig? Überwiegt bei diesen Sanierungen — so auch die Frage — nicht politisches Wunschdenken vor Ort, verdecken nicht regionalpolitische Konzepte die notwendigen Gesichtspunkte der Wettbewerbsfähigkeit?
Aber bei genauerer Betrachtung vor Ort stellt man doch fest, daß die Lander und die Treuhandanstalt nicht notwendigerweise in der Einschätzung der sanierungsfähigen Unternehmen auseinanderliegen. Wenn ich mir z. B. die Bemühungen in Sachsen mit der „Atlas" auf der einen Seite und mit der Treuhandanstalt auf der anderen Seite ansehe, so sind bei 179 gemeldeten Unternehmen nur — natürlich immer noch viele — 32 Unternehmen zwischen Treuhandanstalt und dem Land in der Diskussion.
Ich halte es in diesem Zusammenhang für notwendig und gut, daß im Antrag der Koalitionsfraktionen auf Seite 4 hierzu festgehalten ist:
Falls kein Konsens für die Sanierungsfähigkeit erreicht wird und das Land dennoch eine Fortsetzung für unerläßlich hält, trägt das Land die entsprechenden Mehrkosten.
Dies ist eine zwingende Rahmenbedingung, die wir hier im Bundestag noch einmal unterstreichen müssen.
Wenn wir aber bei der Definition der sanierungsfähigen Unternehmen so viele Konflikte, wie wir sie erwartet haben, nicht erkennen können — oder zumindest bis jetzt nicht —, dann sollten wir uns mehr auf die Frage konzentrieren: Wie organisieren wir die Betreuung der sanierungsfähigen Unternehmen? Dazu gibt es zwei sehr unterschiedliche Wege.
Der erste Lösungsansatz ist die Management-KG. Ich war gestern noch einmal in Vorbereitung dieser Diskussion mit dem Kollegen Haungs in Dresden, um vor Ort noch einmal die praktischen Probleme der



Dr. Kurt Faltlhauser
Verzahnung der Vorgaben der Management-KGs in die Unternehmen hinein zu beobachten. Dabei haben wir gesehen, daß bei dieser Konzeption ohne Zweifel Vorteile vorhanden sind: größere Betreuungsnähe, also nicht nur administrative Betreuung vom fernen Schreibtisch aus, sondern sehr lebendige, nachprüfbare ortsnahe Einflußnahme, personelle Akzente.
Wichtig ist dabei jedoch: Diese Management-KGs dürfen nicht lediglich klassische Sanierungsaufgaben durchführen: Kostensenkung, insbesondere Personalabbau, Entschuldungstechniken, Sicherstellung liquider Mittel und Umbesetzung des Managements. Notwendig ist dabei der zusätzliche Akzent unternehmerischer Ideen, der marktorientierten Innovation;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

denn wenn diese unternehmerischen Ideen, die Produkte und Märkte betreffen, nicht kommen, dann werden auch die Management-KGs zum Dauersanierungsfall.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei allen kritischen notwendigen Nachfragen bei den Management-KGs meine ich trotzdem, daß gerade wegen dieses Prinzips des pragmatischen Vorgehens in diesen praktischen Fragen die Ausdehnung der Management-KGs — Herr Wirtschaftsminister — vernünftig ist. Wir haben jetzt bei insgesamt fünf Management-KGB 69 zusammengefaßte Unternehmen, und man sollte diesen Weg fortgehen.
Aber wir wissen auch, daß wir mit derartigen Organisationsformen nur eine begrenzte Zahl von als sanierungsfähig definierten Unternehmen zusammenfassen können. Ein Mehr scheitert vor allem am Mangel an qualifiziertem Personal. Wir werden die Unternehmer, die so etwas leisten können, in der ausreichenden Zahl nicht finden. Wenn das aber richtig ist, dann müssen wir eine Lösung finden, wie die Betreuung der sanierungsfähigen Unternehmen zu organisieren ist. Da ist dann die Weggabelung zum zweiten Lösungsweg, und innerhalb dieses Lösungsweges gibt es drei Lösungsansätze.
Der erste ist die Betreuung durch die Treuhand unmittelbar. Hier bin ich skeptisch. Ich habe Zweifel, ob eine Organisation, die vorrangig auf Privatisierung ausgelegt ist, eine derartige Sanierungsaufgabe übernehmen kann und will. Insbesondere habe ich Zweifel, ob sie geeignet ist, weil sie ja fest entschlossen ist, sich schnellstmöglichst entbehrlich zu machen. Am Personalabbau stellt man das schon fest. Ob die Treuhand also über einen längeren Weg von vielleicht drei oder mehr Jahren die Betreuung unmittelbar leisten kann, würde ich bezweifeln.
Das zweite Konzept, das auf diesem Weg vorgeschlagen wurde, ist ein Vorschlag Sachsens. Der Bund ist nach diesem Konzept mit 95 % Gesellschafter in einer staatlichen Industrie-Holding-AG. Dadurch würden wir, wie ich meine, eine Treuhandanstalt für Sanierungsaufgaben errichten, also die Treuhandanstalt in einer Zeit erneuern, in der sich die alte Treuhand durch dynamische Privatisierung im Grunde genommen überflüssig machen will. Ich halte es auch für illusorisch, Banken oder andere private Geldgeber in größerem Umfang einbinden zu können. Kollege Rind mit seinem größeren Vermögen würde
sich sicherlich weigern, da Geld einzulegen; ich mit meinen kleinen Kröten würde auch etwas zögerlich sein. Ich glaube, daß das nicht so ohne weiteres geht. Es ist auch in der ersten Diskussion schon auf Bedenken gestoßen. Vor allem aber ist der Geburtsfehler dieses Konzeptes: Die Länder kommen nur mit Wünschen darin vor, nicht aber mit eigenem Risiko und eigener Verantwortung. Das ist der Kernpunkt.
Also müssen wir einen dritten Weg suchen, neue Formen von Führungsholdings, so würde ich sie einmal nennen, auf der Basis der Vereinbarung der Treuhandanstalt mit den Ländern nach dem Sachsen-Modell. Da sind ja einige Grundsätze vorgegeben. Darin müssen nicht nur die Länderinteressen mit eingebunden sein, sondern die Länder müssen für ihre Wünsche mit dem finanziellen Risiko auch geradestehen.
Wie könnte da der finanzielle Beitrag des Bundes sein? Ich meine, er definiert sich nach den Sanierungsumfängen, die in den Sanierungskonzepten für die einzelnen Betriebe in Übereinstimmung mit den Ländern festgelegt werden. Daraus ergibt sich dann gewissermaßen eine Kapitaleinlage des Bundes. Darüber hinausgehende Risiken für verständliche regionale Initiativen und Wünsche müssen die Länder selbst tragen. Dies muß institutionell auch sichergestellt werden.
Der Sachverständigenrat empfiehlt diesen Weg ebenfalls. Ich zitiere aus seinem letzten Gutachten, Seite 277:
Die naheliegende Lösung ist, daß den Trägern der Regionalpolitik, in erster Linie den Ländern, auch die Verantwortung für die Fortführung von Unternehmen zufällt, die sie für erhaltungswürdig erachten. Im Rahmen des Finanzausgleichs müssen die finanziellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
Ob der Finanzausgleich wirklich der richtige Weg ist, würde ich bezweifeln. Man kann es auch anders machen.
Der fast beliebig erscheinende Rückgriff auf den Bundeshaushalt, wie er heute über die Treuhandanstalt möglich ist, muß ausgeschlossen werden.
Das ist eine der Grundbedingungen, die wir bei einer entsprechenden organisatorischen Neufassung treffen müssen. Ich meine, diese Organisationen, die die sanierungsfähigen Unternehmen auffangen, müssen schnell gebildet werden — das richte ich an die Bundesregierung. Dafür ist die Zeit im Jahr 1993. Wir können nicht länger warten. Das muß jetzt geschehen, weil sonst bei vielen Unternehmen die Sanierungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist, insbesondere vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Rezession.
Ich komme zum Schluß. Bei allen Problemen, die wir gegenwärtig haben, bin ich sicher: Der wirtschaftliche Aufbau in Ostdeutschland wird erfolgreich sein. Wir brauchen dazu auch das Instrument der Sanierung. Die gegenwärtige konjunkturelle Lage wird den Prozeß allenfalls verzögern, jedoch nicht gefährden.
Wir müssen mit Ideen, mit unternehmerischem Mut, der aus dem unternehmerischen Bereich kommt, und auch mit politisch ruhigen Rahmenbedingungen und



Dr. Kurt Faltlhauser
verläßlichen Beschlüssen aus Bonn die Voraussetzungen für einen guten Weg schaffen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216305200
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Ingrid MatthäusMaier.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1216305300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt drei Jahre her, daß die deutsche Einheit verwirklicht werden konnte, auf die wir über 40 Jahre warten mußten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Heute in Violett?! — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: In der katholischen Kirche ist violett die Farbe der Bußfertigkeit!)

Wenn wir heute eine Bestandsaufnahme machen, kommen wir um eine Frage nicht herum: Wie kommt es, daß aus dem Glücksfall der deutschen Einheit für viele Menschen in Ost und West eine Quelle des Mißmuts und der Zukunftsangst geworden ist? Wie kommt es, daß bei vielen Menschen die Freude über die Einheit in ein Gefühl der Ohnmacht, ja manchmal sogar der Verbitterung umgeschlagen ist?
Ein Grund ist sicher, daß der Übergang von einer kommunistischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft ein höchst schwieriges Unternehmen ist, für das es auch historisch kein Vorbild gibt. Ein anderer entscheidender Grund ist aber auch, daß der Bundeskanzler nicht nur viele wirtschaftspolitische Fehler gemacht hat, sondern daß er den Menschen Versprechungen gemacht hat, von denen er selber wußte, daß sie nicht einzuhalten waren.

(Beifall bei der SPD) Ich bin der festen Überzeugung:


(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Könnten Sie sich endlich mal der Zukunft zuwenden und nicht immer die alte Leier wiederholen?)

Hätte der Bundeskanzler den Menschen damals die Wahrheit gesagt, daß wir gemeinsam die ökonomische und soziale Einheit in Deutschland schaffen werden, dies aber eine längere Zeit dauern und nicht ohne Übergangsschwierigkeiten und Opfer gehen wird, dann wären den vielen Menschen, die dem Bundeskanzler mit seinen falschen Versprechungen geglaubt haben, viele bittere Enttäuschungen erspart geblieben, und wir wären mit der deutschen Einheit weiter, als wir sind.

(Beifall bei der SPD)

So aber hat der Bundeskanzler die deutsche Einheit aus wahltaktischen Gründen auf einer doppelten Unwahrheit aufgebaut: Den Menschen im Osten hat er versprochen, in kurzer Zeit würde es blühende Landschaften geben; den Menschen im Westen hat er versprochen, daß es für die deutsche Einheit keine Steuererhöhung geben werde, es werde quasi aus der Portokasse finanziert.
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich frage Sie: Müßten Sie jetzt nicht eigentlich selber bedauern, daß Ihre Aufschwunglüge im Osten und Ihre Steuerlüge im Westen das politische Klima in unserem Lande nachhaltig vergiftet haben?

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Sie haben die vorhandene Solidarität und die Opferbereitschaft der Menschen im Westen nicht aufgegriffen.

(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Und die Agitation von Oskar Lafontaine?)

Im Osten entstand dadurch der falsche Eindruck, die Menschen im Westen wären alle geizig. Im Westen entstand der falsche Eindruck, die im Osten würden immer nur fordern. Statt die Spaltung im Inneren zu überwinden, haben Sie damit neue Gräben aufgerissen und der deutschen Einheit damit einen schlechten Dienst erwiesen, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Hat nicht gerade Ihr damaliger Kanzlerkandidat den Neid geschürt?)

Besonders schlimm ist, wie Sie die kleinen Leute im Westen gegen die kleinen Leute im Osten ausgespielt haben. Sie sagten, nachdem Sie entgegen Ihrem Wahlversprechen massiv die Steuern angehoben haben, Sie bräuchten die Steuererhöhung für die deutsche Einheit.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie sind immer noch in der Vergangenheit!)

Aber zum Teil haben Sie doch diese Steuererhöhung benutzt, um z. B. die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer zu senken, und jetzt wollen Sie auch noch für gewerbliche Einkommen oberhalb von 240 000 DM den Spitzensteuersatz senken.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt sind wir mitten in der Steuerdebatte!)

Ich sage Ihnen: Mit der Finanzierung der deutschen Einheit hat das überhaupt nichts zu tun. Sie greifen den kleinen Leuten in die Tasche und senken damit die Steuern für Reiche und Unternehmen. Das ist Umverteilung von unten nach oben unter dem Etikettenschwindel deutsche Einheit.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Haben Sie nicht mal was Neues?)

Viel menschliches Leid und auch hohe Kosten hätten vermieden werden können, wenn die Bundesregierung die deutsche Einheit nicht mit einer schweren Hypothek falscher Entscheidungen belastet hätte. Ich nenne nur stichwortartig die falsche, investitionsfeindliche Eigentumsregelung, den fehlenden Sanierungsauftrag der Treuhandanstalt, womit viele Arbeitsplätze vernichtet worden sind, die Belastung der Unternehmen mit den Altschulden, die verspätete Förderung privater Investitionen, das Fehlen eines Infrastrukturprogramms. Und: Über lange Zeit haben Sie die neuen Länder und die Gemeinden ohne ausreichende Finanzausstattung gelassen.
Jemandem wie mir, der die Einführung der D-Mark in der damaligen DDR für die SPD schon im Januar



Ingrid Matthäus-Maier
1990 gefordert hat — zuerst gegen Ihren Widerstand, wie Sie wissen —, hat wirklich das Herz geblutet,

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Nein!)

als er dann am 1. Juli 1990 mit ansehen mußte, daß diese Bundesregierung bei der Einführung der deutsch-deutschen Währungsunion aber auch alle notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen unterlassen hat, die dringend notwendig gewesen wären, um dies zu einem Erfolg zu führen.

(Beifall bei der SPD)

Ob Absicht oder Unfähigkeit, ob Marktwirtschaftsideologie oder Dilettantismus dahintersteckt — Helmut Schmidt hat doch recht, wenn er sagt, daß diese Bundesregierung bei der deutschen Einheit keinen wirtschaftspolitischen Fehler ausgelassen hat.

(Beifall bei der SPD)

Unsere konkreten Vorschläge hat die Bundesregierung entweder nicht oder verspätet aufgegriffen; manches mußten wir ihr geradezu abtrotzen, zuletzt jetzt im Solidarpakt, und für uns ist am Solidarpakt entscheidend, daß er endlich finanzielle Planungssicherheit für die Länder und Gemeinden in Ostdeutschland erreicht hat.
Das allein reicht aber nicht aus. Jetzt ist die Wirtschaftspolitik gefragt. Wenn es so wäre, Herr Rexrodt, daß Wirtschaft nur in der Wirtschaft gemacht wird, dann bräuchten wir keinen Wirtschaftsminister,

(Zustimmung bei der SPD)

Eine Bundesregierung, die Nichtstun für Politik hält, ist ein Fall für den Vorruhestand, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD — Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Da können Sie sich anschließen, Frau Kollegin!)

Arbeitsplätze zu schaffen, das ist die zentrale Aufgabe, vor der wir stehen. Sechs Maßnahmen stehen aus unserer Sicht dabei im Vordergrund.
Erstens. Die Sicherung industrieller Kerne in Ostdeutschland, zu der sich die Bundesregierung im Solidarpakt auf unser Drängen endlich bereit erklärt hat, muß konkret umgesetzt werden. Worte sind schön, aber nur Taten helfen. Die Bundesregierung muß endlich ein tragfähiges Konzept für die Erhaltung und Modernisierung industrieller Kerne zur Standortsicherung gefährdeter Regionen Ostdeutschlands vorlegen.
Meine Damen und Herren, wie oft haben wir die Diskussion führen müssen: Wenn es Betriebe gibt, die die Treuhandanstalt als sanierungsfähig einstuft, die aber im Moment nicht privatisierungsfähig sind, dann müssen wir uns eben Zeit kaufen, damit erst saniert und dann privatisiert wird.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir im Westen etwa für die Privatisierung von VEBA oder Salzgitter zum Teil Jahrzehnte gebraucht haben, dann kann es nicht sein, daß das im Osten in zwei, drei Jahren mit Verlust von Arbeitsplätzen über die Bühne geht, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD)

Zweite Forderung: Die Bundesregierung und der zuständige Finanzminister müssen endlich ihrer politischen Verantwortung für die Treuhandanstalt gerecht werden. Bei der Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt müssen klare Verhältnisse geschaffen werden. Fehler, wie z. B. bei der Privatisierung der Märkischen Faser in Premnitz oder dem Verkauf der Stamag an Greiner, dürfen sich nicht wiederholen.
Die Arbeit der Treuhandanstalt darf den Menschen im Osten auch nicht den Eindruck vermitteln, als sei ihre Hauptaufgabe die Verhinderung einer eigenständigen ostdeutschen Konkurrenz für Westunternehmen. Was sich z. B. beim Reifenwerk in Plauen ereignet hat, hat die Arbeit der Treuhandanstalt in Mißkredit gebracht.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: So ist es! —Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da können Sie viel erzählen!)

Dunkle Machenschaften bei einzelnen Privatisierungsmaßnahmen müssen schonungslos aufgeklärt werden. Wenn Herr Waigel als Rechts- und Fachaufsicht der Treuhand nicht endlich dafür sorgt, dann muß das notfalls ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß tun.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216305400
Diese Bemerkung, Frau Abgeordnete, veranlaßt den Abgeordneten Faltlhauser, um die Beantwortung einer Zwischenfrage zu bitten.

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1216305500
Angesichts der Tatsache, Frau Kollegin, daß es bei dem großen Mengengeschäft, das die Treuhand in den letzten Jahren erfreulicherweise zustande gebracht hat, immer wieder einzelne Fälle gibt, die sehr wohl zu kritisieren sind, meinen Sie nicht, daß man diese Einzelfälle nicht zu einem Gesamtangriff gegen die Treuhand nutzen darf? Und vor allem, meinen Sie nicht, daß ein entsprechender Untersuchungsausschuß diese sensible Arbeit der Treuhandanstalt für eine schnelle Privatisierung nicht nur in ungeheuren Mißkredit bringen würde, sondern auch die Handelnden zu Zögerlichkeiten führen würde, die für den Aufbau im Osten mit Sicherheit nicht fruchtbar sein können?

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1216305600
Herr Faltlhauser, erstens werden Sie bei meinem Äußerungen bemerkt haben, daß ich die Treuhandanstalt nicht pauschal kritisiere. Aber dort, wo unklare Machenschaften vorgekommen sind, was offensichtlich der Fall ist, muß das aufgeklärt und korrigiert werden. Aber, was ich in erster Linie kritisiere, ist,

(Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ CSU])

daß der Bundesfinanzminister bisher offensichtlich seiner Rechtsaufsicht und Fachaufsicht nicht ausreichend nachgekommen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage es Ihnen, weil Sie danach fragen; ich wollte es heute nicht tun. Jedermann weiß doch, wie relativ



Ingrid Matthäus-Maier
wenig auch persönliche Energie und Engagement dieser Finanzminister in diese Frage steckt.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das glauben nur Sie!)

Hätte er davon nur halb soviel Engagement, wie er es in den „Jäger 90" steckt, in die Treuhand gesteckt, dann hätten wir heute nicht so viele Arbeitslose, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

Unsere dritte Forderung: Absatzmärkte in Osteuropa sind weggebrochen. Aber bis die Unternehmen in Ostdeutschland neue Absatzmärkte gefunden haben, muß es überbrückende Absatzhilfen über diese Durststrecke geben. Nur ein Beispiel; ich habe es schon einmal erwähnt, aber es ist so einleuchtend: In Magdeburg werden Schiffsmotoren gebaut, die bisher nach Rußland geliefert wurden. Ich habe es selbst gesehen. Weil die Russen sie aus bekannten Gründen jetzt nicht bezahlen können, werden in Magdeburg Arbeitskräfte entlassen, und die erhalten Arbeitslosenunterstützung. Gleichzeitig kann die russische Fischfangflotte nicht auslaufen, weil ihr Motoren fehlen. Rußland fehlen Nahrungsmittel, und über die EG schicken wir Nahrungsmittelhilfe nach Rußland.
Wäre es da nicht vernünftig, die Menschen in Magdeburg statt für Arbeitslosigkeit für den Bau von Motoren zu bezahlen und diese nach Rußland zu liefern, damit die Russen sich selber versorgen können, jedenfalls übergangsweise, sei es über eine Art Entwicklungshilfe, sei es über Hermes? Das ist doch allemal vernünftiger als zusätzliche Arbeitslosigkeit in Magdeburg.

(Beifall bei der SPD)

Vierte Forderung: In Ostdeutschland gibt es für die Jugendlichen zuwenig Ausbildungsplätze. Nach Schätzungen fehlen etwa 25 000 Lehrstellen. Ich fordere die Bundesregierung auf, die Wirtschaft beim Wort zu nehmen, die im Rahmen des Solidarpakts doch eine Ausbildungsplatzgarantie abgegeben hat. Es muß dafür gesorgt werden, daß alle Schulabgänger zumindest die Chance einer Berufsausbildung erhalten und ihre erste Erfahrung mit der Arbeitswelt nicht die Arbeitslosigkeit ist, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Fünfte Forderung: Frauen in Ostdeutschland haben mit zusätzlichen Problemen zu kämpfen. Sie sind in besonderem Maße, überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Kindergärten und Horte schließen oder werden zu teuer. Viele Frauen in Ostdeutschland fühlen sich als Verliererinnen der Einheit. Und spätestens seit der bedauerlichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Abtreibungsparagraphen trifft das auch zu, meine Damen und Herren. Wir fordern, daß Frauen bei allen Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz mindestens gemäß ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit berücksichtigt werden. Denn Frauen haben nun mal das gleiche Recht auf einen Arbeitsplatz wie Männer.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten werden alles tun, damit Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, nicht gezwungen sind, wegen der Finanzierung zum Sozialamt zu gehen.
Sechste Forderung: Sorgen Sie endlich für eine solide Finanzierung! Selbstverständlich durfte und darf man für die deutsche Einheit zusätzliche Kredite aufnehmen. Aber das kann doch kein Freibrief für das maßlose Schuldenmachen sein, wie Sie es bei dieser Bundesregierung betreiben.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie verhindern Einsparungen, siehe Solidarpakt!)

Eine solide Finanzierung wäre möglich, wenn man es nur politisch wollte. Daß z. B. Leute mit unserem Einkommen seit Juli 1992 keinen Solidaritätszuschlag mehr zahlen, das versteht kein Mensch in diesem Lande, und wir auch nicht.

(Beifall bei der SPD)

Und versuchen Sie auch nicht länger, durch die Verwendung des Wortes „Erblast" den Eindruck zu erwecken, als hätten Sie mit diesen maßlosen Schulden nichts zu tun. Tatsache ist doch, daß Sie durch Ihre schweren wirtschaftspolitischen Fehler die Kosten der Einheit in die Höhe getrieben haben und Sie diese dann auch noch gegen unseren Widerstand nicht solide über den Bundeshaushalt finanziert haben, sondern auf Pump in allen möglichen Schattenhaushalten und Schuldentöpfen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Meine Damen und Herren, durch das Wort „Erblast", so mein Eindruck aus vielen Gesprächen in Ostdeutschland, bedrücken Sie die Menschen im Osten mit der Verantwortung für einen Schuldenberg, für den diese Menschen doch nun wirklich nicht verantwortlich gemacht werden können.
Meine Damen und Herren, in Deutschland suchen mindestens fünf Millionen Menschen vergeblich einen Arbeitsplatz. Andererseits gibt es eine Vielzahl unerledigter Arbeiten. Jeder muß wissen, Arbeitslosigkeit kostet die Volkswirtschaft nicht viel weniger als Arbeit. Arbeit schafft aber Werte und Wohlstand. Da muß es doch unsere gemeinsame Aufgabe sein, die Menschen, die Arbeit suchen, und die Arbeit, die getan werden muß, zusammenzuführen.
Nur ein Beispiel: Die Trinkwasserversorgung in den neuen Ländern muß von Grund auf erneuert werden. Millionen Menschen in den neuen Bundesländern müssen Wasser trinken, das nicht den europäischen Normen entspricht. Ich frage mich: Ist es denn nicht möglich, die Menschen, die jetzt für erzwungenes Nichtstun, sprich Arbeitslosenunterstützung, bezahlt werden, dafür zu bezahlen, daß sie die Trinkwasserversorgung in Ordnung bringen und die Menschen dann sauberes Wasser trinken? Hier ist die Politik gefordert. Hier muß auch die Bundesregierung handeln.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Wenn sich der Eindruck verfestigt, daß unsere Demokratie und unser Wirtschaftssystem das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen können, dann ist doch die



Ingrid Matthäus-Maier
Gefahr nicht fern, daß sich immer mehr Menschen von unserem System ab- und den Rattenfängern zuwenden. Ich sage Ihnen: Dieses Land wird fünf Millionen Arbeitslose oder mehr auf Dauer nicht aushalten. Deswegen wäre es menschlich und politisch verantwortungslos, sich achselzuckend mit Millionen von Arbeitslosen abzufinden.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Wir brauchen Arbeitsplätze, ein Gemeinschaftswerk Arbeit für alle", mit dem der Prozeß organisiert wird, daß nicht länger Millionen Menschen für erzwungenes Nichtstun bezahlt werden, sondern für sinnvolle und notwendige Arbeiten. Dies zu tun, zusammen mit den Gewerkschaften und der Wirtschaft, das ist die Herausforderung der Wirtschaftspolitik in unserer Zeit.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216305700
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Paul Friedhoff.

(Zurufe von der CDU/CSU — Gegenruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]: Wenn man von euch doch etwas hören würde, ihr seid doch dran!)


Paul K. Friedhoff (FDP):
Rede ID: ID1216305800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fall der Mauer und die Öffnung der Grenzen im Herbst 1989 haben offenbart, wie marode das System in der ehemaligen DDR gewesen ist. Die Wirtschafts- und Sozialordnung in der ehemaligen DDR wurde von den sowjetischen Besatzern den Deutschen im Osten unseres Landes aufoktroyiert. Dieses System basierte auf der Allmacht einer Partei, statt auf der Freiheit des einzelnen, auf zentraler, umfassender Planung, statt auf den dezentralen Kräften des Marktes.
Am 17. Juni 1953, also heute vor genau 40 Jahren, wurde die Ablehnung dieses Systems durch friedliche Demonstrationen der Bürger in Berlin und ganz Ostdeutschland deutlich. Wie später in Ungarn, in Polen, in der ehemaligen ČSSR zeigte sich am 17. Juni 1953, mit welchen Mitteln ein unmenschliches Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, um sich die Macht zu sichern.
Die Geschichte lehrt uns aber, daß Zwang und Gewalt den Freiheitswillen der Menschen nicht auf Dauer unterdrücken können. Eine zentralistische Kommandowirtschaft zerstört auch das wirtschaftliche Potential eines Landes. Auf Dauer lassen sich Menschen und Natur nicht ausbeuten. Der Zerfall der Wirtschaftskraft war eine Ursache für den Zusammenbruch des gesamten kommunistischen Blockes in Mittel- und Osteuropa.
Meine Damen und Herren, wir erleben heute, welch großer Anstrengungen es bedarf, um eine marode Wirtschaft wieder leistungsfähig und international wettbewerbsfähig zu machen. Dabei ist die Erwartungshaltung sehr hoch, die vollständige wirtschaftliche und soziale Integration der neuen Bundesländer
in das System der sozialen Marktwirtschaft in wenigen Jahren zu erreichen.
Frau Matthäus-Maier, lassen Sie uns darüber nicht streiten! Wir haben sicherlich unterschätzt, wie schwer das sein würde. Aber Sie müssen zugestehen, daß sehr viele Fakten, die dazu beitragen, daß das heute so schwer ist, 1989 nicht nur von der Politik, sondern auch von vielen anderen nicht erkannt worden sind. Wenn Sie auch die Wissenschaft und Wirtschaftsgutachten einbeziehen, werden Sie auch dort viele Fehleinschätzungen finden. Wir können natürlich darüber streiten, ob wir geglaubt haben, daß man das aus der Portokasse oder aus welcher anderen Kasse bezahlen kann — wir haben uns sicherlich an dieser Stelle verschätzt, und wir haben das unterschätzt —, aber es ist wohl nicht richtig, wenn Sie sich heute hier hinstellen und so tun, als hätte nur die Regierung dies unterschätzt.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Frau Matthäus-Maier hat es immer schon gewußt!)

Zur Bewältigung dieser Aufgabe sind in beiden Teilen unseres Landes erhebliche strukturelle Veränderungen notwendig. Die gegenwärtige konjunkturelle Lage macht deutlich, daß in der Vergangenheit ein Teil dieser Anpassungsfähigkeit und Bereitschaft zur Anpassung an veränderte Wirtschaftsbedingungen verlorengegangen ist. Dies gilt natürlich vor allem für den westlichen Teil.
Wenn wir hier diese Verkrustungen feststellen, dann können wir einmal darüber streiten, woher sie kommen. Ich kann eine ganze Menge von Beispielen anführen, daß dafür sicher Ihre Partei, Frau Matthäus-Maier, der Sie nun angehören, sehr viel Verantwortung trägt.
Der Wegfall des Eisernen Vorhangs hat zur Folge, daß sich die Arbeitsteilung in vielen Bereichen unserer Wirtschaft verändern wird. Während Produzenten komplizierter höherwertiger Güter vornehmlich neue Märkte bekommen werden, erhalten Produzenten einfacher Güter Wettbewerber mit erheblichen Vorteilen im Bereich der Lohn- und Lohnnebenkosten. Dies läßt sich nicht wegdiskutieren. Hier müssen wir vielmehr gegensteuern, damit wir das, was in den Bereichen, wo etwas auf Grund dieser anderen Arbeitsteilung wegfällt, an anderer Stelle kompensieren. Das bedeutet, daß wir eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen überprüfen und verändern müssen.
Meine Damen und Herren, die Treuhandanstalt leistet mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Integration der neuen Bundesländer in unsere marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung. Ihre Privatisierungspolitik ist richtig und in vielen Bereichen erfolgreich. Sie ist richtig, da Marktwirtschaft untrennbar mit Privateigentum verbunden ist. Es ist die Aufgabe privater Unternehmer und nicht die Aufgabe des Staates, unternehmerisch tätig zu werden. Der Staat ist nicht in der Lage, Märkte für neue Produkte zu erobern oder zu sichern.
Die Privatisierungspolitik ist erfolgreich, wie durch die Bilanz der Treuhandanstalt dargelegt werden



Paul K. Friedhoff
kann. Fast 12 000 Unternehmen bzw. Unternehmensteile sind in die Hände privater Investoren überführt worden. Es sind noch ungefähr 2 000 Unternehmen vorhanden, von denen sich etwa die Hälfte in dem Stadium befindet, daß sich eine Privatisierung in absehbarer Zeit abzeichnet.
Diese Erfolge werden häufig öffentlich nicht zur Kenntnis genommen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: So ist es!)

Angesichts der hohen Erwartungen an die Treuhandanstalt ist es vielleicht sogar verständlich, daß man dies nicht als Erfolg bewertet, weil eben die Erwartung wesentlich höher geschraubt ist.
Breiten Raum nehmen dagegen in der öffentlichen Diskussion strittige Einzelfallentscheidungen ein sowie neuerdings der Bereich der industriellen Kerne. Wie eben schon gesagt worden ist, müssen wir sicherlich in vielen Fällen auch Fehlentscheidungen bei der Treuhandanstalt feststellen. Diese gilt es zu korrigieren. Daß bei der Größe der Aufgabe und bei der Vielzahl der Fälle Fehler unterlaufen, ist natürlich und kann und darf nicht verwundern.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Es gibt kein Drehbuch für die Umstrukturierung einer gesamten Volkswirtschaft. Dies war und ist ein „learning by doing" oder „trial and error", wie Sie vorhin hier gesagt haben, Herr Faltlhauser.
Lassen Sie mich aber auch klarstellen: Dort, wo der Verdacht auf kriminelle Handlungen besteht, muß unverzüglich eingegriffen werden und wird auch unverzüglich eingegriffen.
Natürlich ist die Treuhandanstalt auch ein riesiges behördenähnliches Unternehmen. Solche Großunternehmen, zumal in staatlicher Hand, neigen dazu, sich zu verselbständigen. Dies zu verhindern oder zumindest auf ein erträgliches Niveau zu reduzieren ist unsere Aufgabe. Ich glaube, daß wir im Treuhandausschuß auch dabei sind, wenn notwendig, die Finger in die Wunde zu legen.
Ebenso falsch wie überzogene Kritik an der Arbeit der Treuhandanstalt ist natürlich auch Schönfärberei. Während in vielen Bereichen wie im Dienstleistungssektor oder im Handwerk die Umstrukturierung gelungen ist, gibt es im Bereich der Unternehmen des produzierenden Gewerbes mit überregionalen Märkten erhebliche Schwierigkeiten,

(Beifall des Abg. Hinrich Kuessner [SPD])

diese Unternehmen kurzfristig zu privatisieren. Diese Unternehmen machen einen Großteil der noch im Besitz der Treuhand befindlichen Unternehmen aus.
Zur Unterstützung dieser Unternehmen hat die Treuhandanstalt ihre Sanierungsbemühungen verstärkt. Natürlich ist es auch Aufgabe der Treuhand, zu sanieren und nicht nur zu privatisieren. So steht es auch im Gesetz.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So steht es nicht im Gesetz!)

Es ist unbedingt erforderlich, für sanierungsfähige Treuhandunternehmen, die nicht unmittelbar vor der Privatisierung stehen, aber ohne Dauersubventionen am Markt bestehen können, klare Perspektiven zu schaffen. Für den Erhalt und die Erneuerung der sanierungsfähigen Unternehmen des produzierenden Gewerbes sind eine effiziente Unternehmensführung durch Verbesserung des Managements und eine sachgerechtere Begleitung der Sanierungsmaßnahmen erforderlich.
Hier müssen bisher erfolgreiche Konzepte wie das Modell der Management-KGs weiter ausgebaut werden und auch durch geeignete Varianten ergänzt werden. So müssen sanierungsfähige Unternehmen, wenn notwendig, auch außerhalb der mit der Privatisierung beauftragten Direktorate während der Sanierung begleitet werden können. Es muß mehr als bisher darauf geachtet werden, daß durch aktive Privatisierungsbemühungen die Sanierung von Unternehmen und damit deren Bestand nicht gefährdet wird. Alle Privatisierungsbemühungen müssen mehr in die jeweiligen Sanierungs- und Privatisierungskonzepte eingebettet sein.

(Beifall des Abg. Hinrich Kuessner [SPD])

Es darf kein Neben- oder Gegeneinander von Unternehmensführung und Treuhandanstalt geben, das die Sanierungs- und damit schließlich auch die Privatisierungschancen gefährdet.

(Hinrich Kuessner [SPD]: Wäre gut, wenn die CDU das mal unterstützte!)

— Das unterstützt die Koalition, davon können Sie ausgehen. Nur im Einzelfall, Herr Kuessner — das wissen Sie auch —, kann man über Konzepte streiten. Ich habe viele Konzepte gesehen, die sich auf den ersten Blick als besonders intelligent und gut herausstellten, wo die Unternehmensführungen und Betriebsräte der Meinung waren, daß sie umgesetzt werden könnten, wo man aber bei näherem Betrachten aller Rahmenbedingungen zu dem Ergebnis kommen mußte, daß es auch andere Konzepte gibt. Hierüber können wir ja streiten und der Treuhand helfen, daß das erfolgreich und in Zukunft auch erfolgreicher, wenn Sie so wollen, gemacht wird.
Die Treuhandanstalt ist aufgefordert, die Form einer verbesserten Sanierungsbegleitung zu entwickeln und diese umgehend umzusetzen. Sanierungsfähige Unternehmen müssen die Chance erhalten, durch das Abarbeiten von integrierten Sanierungs- und Privatisierungskonzepten ihre Sanierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und damit auch ihre Position am Markt behaupten zu können.
Dies ist die Aufgabe der Unternehmensorgane vor Ort. Die Aufgabe der Treuhand als Eigentümer muß sich während der Sanierungsphase auf eine den Sanierungsfortschritt begleitende Ergebnis- und Erfolgskontrolle beschränken.

(Beifall des Abg. Hinrich Kuessner [SPD])

Die Kosten der Sanierung sind am gesetzlichen Auftrag zu messen, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Bestands- und Beschäftigungsgarantie für alle noch nicht privatisierten Unternehmen kann und wird es nicht geben. Erweist sich ein



Paul K. Friedhoff
Sanierungskonzept als nicht tragfähig, so muß das Unternehmen konsequent einer anderen Verwertung zugeführt werden, mit anderen Worten, es muß stillgelegt werden. Man muß dann versuchen, aus den Resten noch soviel wie möglich an Arbeitsplätzen zu retten.
Die Anträge der SPD-Fraktion, die heute zur Debatte stehen, sind durch die Vereinbarungen im Solidarpakt weitgehend überholt. Wir brauchen keine Korrektur des Treuhandgesetzes. Wir brauchen jedoch eine konsequente Fortsetzung des Privatisierungskurses sowie eine effiziente Sanierungsbegleitung, um dauerhafte, zukunftsorientierte und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern zu schaffen und die wirtschaftliche und soziale Integration der neuen Länder in unsere marktwirtschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung voranzutreiben.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216305900
Das Wort hat der Abgeordnete Fritz Schumann.

Dr. Fritz Schumann (PDS/LL):
Rede ID: ID1216306000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Industrie in den neuen Ländern verlor im dritten Jahr des Aufschwungs Ost mehr als 50 % ihrer Beschäftigten; das sind 50 % Beschäftigungsabbau über das hinaus, was bereits im ersten und zweiten Jahr der deutschen Einheit abgebaut wurde. Der Industrieumsatz je Beschäftigten ist in den neuen Ländern jetzt auf 20 % des Westniveaus gesunken. In vielen anderen Bereichen sind, einmal abgesehen von Banken, Versicherungen und einigen Dienstleistungsgewerben — auch da gibt es viele Reserven —, Arbeitsplätze gleichfalls Fehlanzeige.
Allein die wirtschaftlichen Belastungen aus der weitergehenden Deindustrialisierung Ostdeutschlands sind nach unserer Auffassung größer, als eine aktive Politik zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern kosten würde. Verborgen unter den Sprüchen einer Wirtschaftspolitik, die angeblich den Markt zur Geltung bringen soll, erfolgte und erfolgt immer noch eine Übertragung von auch durch Vernichtung von Arbeit entwerteten Vermögenswerten der DDR an Großkonzerne, Großvermögensbesitzer und manch anderen, der vorgibt, etwas zu besitzen oder von Marktwirtschaft zu verstehen.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie müssen reden! Sie und Ihre Freunde haben das Land kaputtgemacht, und jetzt beschweren Sie sich! Das ist geradezu unanständig!)

— Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Faltlhauser, dann will ich gerne darauf antworten.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ich dokumentiere meine Empörung!)

Wenn es schiefgeht, landen diese Fälle dann im Treuhandausschuß. Ich muß sagen: Leider werden die Treuhandausschußsitzungen und die vielleicht positiven Dinge, die es zu beraten gäbe, davon zunehmend überschattet.
Das Ziel des Treuhandgesetzes, die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen
und somit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, wird eben nicht verwirklicht. Privatisierung als beste Form der Sanierung, weil der Erwerber dafür einsteht, mag unbestritten sein; ich kann das gar nicht widerlegen, weil ich selbst nach diesem Prinzip handle. Aber die Art und Weise und das Tempo der Privatisierung stehen in völligem Widerspruch auch zu Marktgesetzen. Diese Erkenntnis gibt es auch in der Treuhandanstalt, vielleicht auch bei einigen Politikern.
Die Verhinderung einer vollständigen Entindustrialisierung und eine Wiederbelebung industrieller Fertigung sind Bedingung jeder wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern. Ohne ein verarbeitendes Gewerbe und die damit im Zusammenhang stehenden produktionsorientierten Dienstleistungen kann es keine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung geben. Da die Wiederansiedlung von Betrieben viel schwieriger ist, langfristiger Vorbereitungen bedarf und gesamtwirtschaftlich teurer ist als die Modernisierung und Umstrukturierung existierender Betriebe, sollte dies den Vorrang haben.
Deshalb hat die PDS/Linke Liste im Februar dieses Jahres von der Bundesregierung ein Konzept der Erneuerung und Sicherung industrieller Kerne gefordert, nachdem in politischer Weise bereits ein halbes Jahr darüber gesprochen wurde. Zugleich haben wir gefordert, daß dieses Konzept mit den Betroffenen in den Betrieben und Regionen besprochen wird und Vorschläge dazu unterbreitet werden. Jetzt liegt uns ein Antrag der Koalition vom 16. Juni 1993 vor, in dem die Bundesregierung zum beschleunigten Handeln aufgefordert wird. Einmal abgesehen davon, daß ich mich durchaus mit einigen Punkten dieses Antrags identifizieren kann, ist dies wohl ein bißchen spät und nicht die rechte Zeit, Herr Dr. Faltlhauser, wie Sie einführend bemerkten.
Für eine Veränderung der Lage in den neuen Ländern halten wir folgende Aufgaben weiterhin für besonders dringlich. Notwendig ist erstens die Beseitigung aller Hemmnisse, die das Entstehen von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen verhindern. Dabei geht es nicht nur um immer neue, immer kompliziertere Regelungen. Hemmnisse halten die Bürgerinnen und Bürger dann für beseitigt, wenn Arbeitsplätze aktiv umgestaltet werden oder neue Arbeitsplätze entstehen. Zu diesen Hemmnissen zählt aus unserer Sicht das Festhalten am Prinzip der Rückgabe vor Entschädigung. Obwohl klar ist, welch hohes Investitionshemmnis das ist, wie viele Arbeitsplätze dadurch verlorengehen und neue nicht geschaffen werden, wird das nicht grundlegend geändert. Die überaus komplizierten und unklaren Eigentumsregelungen und Entschädigungsabsichten der Bundesregierung bewirken zudem weitere Verzögerungen.
Die Rückstände in den Grundbuchämtern werden weiter mit 600 000 Anträgen und Anfragen angegeben. Veränderungen, wie von der PDS/Linke Liste vorgeschlagen, wie jetzt arbeitslose Verwaltungsangestellte umzuschulen und kurzfristig einzusetzen, werden nicht realisiert. In der Antwort auf die Kleine Anfrage unserer Gruppe schreibt die Bundesregierung: Die Bundesregierung betrachtet die Arbeit der Grundbuchämter „als bedeutenden Erfolg".



Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Probleme gibt es weiter in den Fragen der Vermögenszuordnung. 370 000 aus der Sicht der Bundesregierung Berechtigte haben bis jetzt einen Bescheid erhalten. Dem stehen mehr als 1,5 Millionen Anträge mit mehr als 2,5 Millionen Einzelansprüchen gegenüber. Der neue Bundeswirtschaftsminister räumt jetzt ein, daß es in den Verwaltungen Probleme mit den Vermögenszuordnungen und der Arbeit der Grundbuchämter gibt, natürlich nicht, ohne sich zu beeilen, hinzuzufügen, daß es sich seiner Meinung nach nicht um gravierende Hemmnisse handelt. Es bleibt allerdings die Frage: Warum ist die Bundesregierung nicht bereit, die Hemmnisse, die sie für gravierend hält, zu beseitigen, damit ein weiteres Anwachsen der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit in den neuen Ländern gestoppt und wirtschaftlicher Aufbau im Osten und damit auch wirtschaftliche Impulse für die alten Länder in Gang gesetzt werden?
Nach Auffassung unserer Gruppe ist es notwendig, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, wie sie auch von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert werden. Es sind Maßnahmen besonders dringlich, die die offenen Eigentumsfragen in einem überschaubaren Zeitraum einer Lösung zuführen, die kompliziertes und schwer anwendbares Recht im Interesse des Entstehens von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern vereinfachen und handhabbar machen. Es geht um Maßnahmen, die unzulänglichen Verwaltungskapazitäten bei Ländern, Gemeinden und Bundesbehörden technisch auszustatten, weiterzubilden und umgehend einzusetzen. Es geht darum, die Infrastruktur für produktive Investitionen zu verbessern. Knappe Mittel in möglichst vielen Gemeinden in unrealistische und überdimensionierte Gewerbeparks zu stecken, die dann brachliegen, sind Kosten verfehlter Wirtschaftspolitik. Das sind Kosten einer Wirtschaftspolitik, die von blühenden Landschaften spricht, es aber an konkreten Empfehlungen und Einflußnahmen auf wirtschaftliche Fehlentwicklungen vermissen läßt.
Die Zurückhaltung der großen westdeutschen Unternehmen in den neuen Ländern wurde doch dadurch hervorgerufen, daß auch die Unternehmen nach dem Versprechen der Bundesregierung einfach auf noch günstigere Investitionsförderung in den neuen Ländern gehofft haben, als ihnen jetzt zuteil wird. Darüber hinaus wissen diese Unternehmen, daß sie bei der Privatisierungspolitik der Bundesregierung die zum Verkauf anstehenden Unternehmen letztlich doch bekommen, nur eben viel billiger, weil alles vier weitere Jahre rückständiger ist, als es 1989 nach dem Ende der DDR ohnehin schon war, und die Betriebe nicht mit Beschäftigten belastet sind. Auf diese Weise zahlt sich das Abwarten der Bundesregierung in weiter wachsendem Vermögen der Großunternehmen und der Banken aus, denen ununterbrochen Zinsen für Altkredite gezahlt werden. Die Arbeitslosigkeit lockt keine Gelder aus den Kassen der Konzerne. Dazu bedarf es gesetzlicher Maßnahmen, die den Unternehmen, die in den neuen Ländern investieren, ganz konkrete Vergünstigungen einräumen und die Mittel für die notwendigen Maßnahmen dort beschaffen, wo es vorhanden ist: aus den Kassen dieser Konzerne, Banken, Handelsketten und Versicherungen. Unsere Gruppe hat dazu einen entsprechenden Antrag eingebracht.
Zweitens ist es notwendig, den Betrieben die erforderlichen Mittel zu geben, die sie für den Vollzug eines aktiven Strukturwandels benötigen. Das könnte, wie durch unsere Gruppe und andere Oppositionsparteien bereits mehrfach vorgeschlagen, in Form von Arbeitsplatzsubventionen oder einer Wertschöpfungspräferenz, wie sie vom Bundesverband der Deutschen Industrie gefordert wird, erfolgen. Wirtschaftliche Handlungsunfähigkeit der Betriebe einerseits und Erhalt der finanziellen Zahlungsfähigkeit andererseits, was wir jetzt über mehrere Jahre praktiziert haben, haben bisher keinen wirklichen Strukturwandel hin zu wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen ermöglicht. Die vorgeschlagenen zeitlichen Begrenzungen der Arbeitsplatzsubvention und ihre degressive Gestaltung machen das finanzielle Risiko für die öffentlichen Kassen geringer als ein weiteres Verweigern aktiver unternehmerischer Sanierung.
Es ist doch nicht so, daß die Ausweitung der Möglichkeiten der wirklichen Sanierung der neuen Länder zu Lasten der alten Länder geht. Die Hälfte der in Ostdeutschland nachgefragten Investitionsgüter kommt aus den alten Ländern. Sicher kommen mehr Maschinen und Anlagen als notwendig aus den alten Ländern, aber ein Fakt bleibt es erst einmal. Eine Steigerung der Investitionen in den neuen Ländern würde somit etwa zur Hälfte die westdeutsche Investitionsgüterindustrie ankurbeln. Mehr Investitionen und mehr Produktion im Osten bedeuten automatisch Konjunkturimpulse für den Westen Deutschlands. Umgekehrt beeinträchtigen die fortschreitende Deindustrialisierung und weitere Produktionseinstellung in den neuen Ländern die konjunkturelle Entwicklung im Westen negativ.
Drittens halten wir die Gewährung wirkungsvoller Absatzhilfen für besonders notwendig. Die Erzeugnisse aus den neuen Ländern sind noch Außenseiter auf schrumpfenden Märkten. Sie haben gegenüber eingeführten Erzeugnissen einen geringeren Bekanntheitsgrad. Potentielle Kunden werden durch Unsicherheiten über ein Fortbestehen der Betriebe beeinträchtigt. Nicht zuletzt greifen Marktführer zu diskriminierenden Mitteln gegen die neuen Konkurrenten. Für die neuen Erzeugnisse ist Zeit zur Produktverbesserung, Markteinführung sowie den Aufbau eines Vertriebssystems erforderlich. Aus diesen Gründen ist eine Chancengleichheit nicht gegeben. Daher sind gezielte Absatzhilfen und ein zeitlich befristeter Nachteilsausgleich für ostdeutsche Hersteller notwendig. Realisieren läßt sich das über Regelungen zum Bezug von ostdeutschen Produkten, wie sie in den vorliegenden Anträgen vorgeschlagen werden.
Bezüglich der vom Bundeskanzler im Gespräch mit Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertretern am Montag eingeschätzten Verbesserungen wichtiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen möchten wir die Bundesregierung gern beim Wort nehmen. Viele Bürgerinnen und Bürger fragen nach — wir finden, es ist an der Zeit, daß die Bundesregierung darüber informiert —, wie die Zusagen der Wirtschaft vom Anfang dieses Jahres zu einem verstärkten Engagement in Ostdeutschland konkret realisiert werden.



Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt)

Auf unsere Kleine Anfrage vom April 1993 haben wir noch keine Antwort bekommen. Vielleicht können Sie heute — das halbe Jahr 1993 ist in den nächsten Tagen abgelaufen — den Bürgerinnen und Bürgern sagen, wie das Engagement der Wirtschaft, Banken und Versicherungen in den Ländern ganz konkret aussehen wird, wie viele Waren zusätzlich in der sogenannten Einkaufsoffensive Ost gekauft wurden.
Recht vielen Dank.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da hat einer von der SPD geklatscht!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216306100
Ich erteile nun dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216306200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zufall oder nicht — wir führen die heutige Debatte am 17. Juni, einem Tag also, der in der alten Bundesrepublik West „Tag der deutschen Einheit" hieß. Das ist Grund genug, diesen Anlaß für einige grundsätzliche Bemerkungen zur Bilanz der wirtschaftlichen Gestaltung dieser deutschen Einheit zu nutzen.
Wenn Sie auf die Liste der heute zu behandelnden Vorlagen schauen, fallen Ihnen die Defizite dieses Prozesses ins Auge. Die Liste reicht von den Altlasten des SED-Unrechtssystems über die Rettung industrieller Kerne, den Zusammenbruch der Ostmärkte, mangelnde Zukunftsinvestitionen, die unzureichende Berücksichtigung ostdeutscher Betriebe bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bis zu dem ausgebliebenen Kurswechsel bei der Treuhandanstalt.
Nach Lesart der Bundesregierung haben wir es hier angeblich mit den Erblasten des Sozialismus zu tun. In den vergangenen drei Jahren habe die Bundesregierung nach eigener Aussage wacker gegen die Erblast angekämpft und das Schlimmste verhindert. Meine Damen und Herren, die Erblasttheorie wird uns wohl noch so lange verfolgen, bis diese Regierung, von ihrer eigenen Unfähigkeit und Erfolglosigkeit eingeholt, abtreten muß.

(Beifall bei der SPD)

Im Frühjahr 1990 haben Sie allen Ernstes behauptet, mit der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland einen selbsttragenden, sich selbst finanzierenden Prozeß der wirtschaftlichen Vereinigung Deutschlands anschieben zu können.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ideologen waren das!)

— Sehr wohl. — Wie klein muß damals die Erblast des SED-Staates gewesen sein? Doch mit jedem Monat seit der Währungsunion wuchs die Erblast an. Ein Blick auf den Erblastfonds zeigt, daß dieses Krebswachstum unvermindert anhält. Monat für Monat macht die Bundesregierung neue Entdeckungen, wie verfault, wie abgrundtief marode die DDR-Wirtschaft gewesen sein muß, wenn es dieser illustren Regierung und auch ihren brillantesten Wirtschaftsministern einfach nicht gelingen will, ihr einen Weg aus dem Jammertal zu weisen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr schön!)

Das Wort ,,marode" zeigt einen typisch Freudschen Sprachreflex. Es hat eine Doppelbedeutung: veraltet, verschlissen und ausplündern, ausschlachten. Die Doppelbedeutung dieses Wortes sollte man künftig mitbeachten.
Es wird Zeit für das Eingeständnis, daß diese Bundesregierung die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigung von Grund auf falsch eingeschätzt hat. Weil sie diese Probleme überhaupt nicht verstanden hat, hat sie sie mit den falschen Mitteln oder auch gar nicht zu lösen versucht.
Längst agiert die Regierung Kohl nicht mehr, sondern reagiert nur noch. Sie läuft ihren eigenen Fehlern hinterher. Nun hofft sie inständig auf eine Belebung der Weltkonjunktur rechtzeitig vor den nächsten Wahlen — das versteht sich natürlich —, wartend auf den warmen Regen einer ansteigenden Auslandsnachfrage, der die Probleme allerdings nicht lösen wird, aber sie gnädig verwischen könnte.
Der Kardinalfehler dieser Politik war, daß die wirtschaftlichen Probleme der Vereinigung total unterschätzt wurden.
Erstens: D-Mark-Schock ohne Therapie. Ich muß das nicht im einzelnen ausführen. Ich zitierte Ihnen dazu Hans Mundorf, Chefredakteur des „Handelsblattes", ein wirklich sachkundiger Wirtschaftsjournalist:
Wäre die BRD 1948 in eine Wirtschafts- und Währungsunion mit den USA eingebracht worden, und zwar zum Kurs von 1 : 1 zwischen DM und Dollar, ein Geschick, das der DDR im Verhältnis zur D-Mark widerfuhr, dann wäre der Morgenthau-Plan, der die Verödung Deutschlands vorsah, tatsächlich in Erfüllung gegangen.
Zweitens: Zusammenbruch Ostmarkt — Ausdehnung Westmarkt. Das Marktgefälle wurde nicht rechtzeitig beachtet. Ich erinnere hier nur an das Gutachten von Hans K. Schneider, dem ehemaligen Vorsitzenden des Sachverständigenrates. Das können Sie als Drucksache der letzten Legislaturperiode nachlesen, falls Sie den Brief damals nicht zur Kenntnis genommen haben.
Drittens: kein Wille und Geld für die Anpassung. Weder der Regierung Modrow, die auf Wunsch des Runden Tisches agiert hatte, noch der Regierung de Maizière wurde die geforderte Anpassungs- und Strukturhilfe gewährt. Das kam erst als „Aufschwung Ost" im Frühjahr 1991 zum Zuge; viel zu spät. Es war — um in der Turnersprache zu bleiben — ein vollkommener Feldumschwung mit Abgang und Schlüsselbeinbruch.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Modrow hätte die 15 Milliarden verrubelt!)

Viertens: chaotische, verlogene und unsolidarische Finanz- und Geldpolitik. Ich nenne nur die Stichworte Steuerlüge, das Lavieren um die Ergänzungsabgabe, die Verlagerung der Kosten auf soziale Systeme, Schattenhaushalte, Schuldenspirale und dergleichen mehr. Heute sitzen wir wirklich in einer Zinsfalle. Sie selbst können das besser beurteilen. Die Zinsen dürfen nicht gesenkt werden, weil die ach so harte



Werner Schulz (Berlin)

D-Mark sonst einen Schwächefall erleiden könnte und wir diesen Zufluß bekanntlich brauchen. Die europäischen Zentralbanken starren nicht mehr gebannt auf die Bundesbank, sondern senken autonom ihre Zinsen.
Fünftens: fehlende Strukturpolitik in einer Phase der wirtschaftlichen Neugestaltung. Die Verweigerung einer sektoralen und regionalen Strukturpolitik hat dazu geführt, daß wir uns jetzt neben den Versäumnissen in Westdeutschland in einer Strukturkrise befinden. Wir hatten einmal eine komplementäre Volkswirtschaft. Durch die beiden Staaten kam es zu einer Parallelstruktur. Hier wäre in der Übergangsphase eine Strukturpolitik erforderlich gewesen.
Sechstens: Ökologie — Stiefkind dieser Vereinigung. Sie haben die Chancen für einen beschleunigten, ökologischen Strukturwandel nicht genutzt. Ich nenne hier nur das Stichwort Energiepolitik. Der bornierte Stromvertrag hat die Chance einer dezentralen Energieanwendung verbaut, ganz zu schweigen von den Chancen eines Referenzgebietes im Osten für moderne Technologien, für Sanierungsaufgaben, für Umweltverfahrenstechnik, für Recycling, Kreislauftechnik, für emissionsarme und -freie Technologien. Dies alles ist versäumt worden, obwohl jeder Politiker von der Koalition immer wieder betont hat, hier würde das moderne Deutschland entstehen. Ich kann davon im Moment nichts sehen.
Siebtens: Treuhand — organisierte Veruntreuung von Vermögen durch die Reduzierung der Treuhandanstalt auf eine Privatisierungsagentur,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vernachlässigung der Sanierungsaufgabe, Verschleuderung von Volksvermögen gegen vage Versprechungen und — der Treuhandausschuß kann davon ein Lied singen — eine marktwirtschaftliche Dunkelkammer, die sich leider nicht auftut.
Was muß getan werden? Herr Rexrodt wird als nächstes sein neoliberales 10-Punkte-Programm vorstellen, das eigentlich 11 Punkte enthält. Vielleicht ist auch das bezeichnend. Dort läuft die Ökologie unter „ferner liefen" in Punkt 11. Ich hoffe, Herr Rexrodt, daß Sie hier zumindest eine genaue Analyse vornehmen werden und sagen: Es gibt nicht den einen Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern wir haben leider zwei Wirtschaftsstandorte in Deutschland. Im Moment kämpft der eine und verteidigt seine Arbeitsplätze gegen die Deindustrialisierung Ost, also Sicherung der Arbeitsplätze West gegen Deindustrialisierung Ost. Das ist die Situation des geteilten Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Was ist zu tun?
Erstens. Das Finanzchaos muß in Ordnung gebracht werden. Eine ehrliche Bilanz der Kosten sollte vorgelegt werden, also Sparsamkeit und Subventionsabbau im Westen.
Zweitens. Es müssen selbstverständlich die industriellen Kerne gerettet werden. Denn ohne diese strukturentscheidenden Betriebe, ohne die Konzentration der Sanierungsanstrengungen auf diese strukturnotwendigen Unternehmen, ohne Industrie auf
Dauer wird es auch keine hochwertigen Dienstleistungen geben.
Drittens: Präferenzen, Hilfen bei der Markterschließung für ostdeutsche Produkte, vor allen Dingen verbesserte Berücksichtigung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.
Viertens: Konzentration der Förderung auf arbeitsplatzschaffende Investitionen und die Stärkung von eigenen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.
Ich habe leider nur zehn Minuten Zeit und kann nicht alle Aspekte ausführen. Es wären noch viele andere Forderungen zu nennen. Ich kann mich nur auf diese vier Komplexe konzentrieren. Aber das sollte Sie, Herr Rexrodt, nicht zu dem verführen, was Sie schon gestern im Wirtschaftsausschuß gesagt haben: Sie hören keine anderen Vorstellungen. Sie haben noch nichts gehört. Ich glaube, das kennzeichnet wohl eher einen Symbolwechsel, daß wir vom Adler weg zu den berühmten drei Affen kommen: ein Kanzler, der nichts gesehen hat, ein Wirtschaftsminister, der bekundet, daß er taub ist, und ein Finanzminister, dem es zunehmend die Sprache verschlägt.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216306300
Meine Damen und Herren, daß das mindestens beim Wirtschaftsminister nicht der Fall ist, wird er dadurch beweisen, daß er jetzt das Wort ergreift.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von „taub" war die Rede! Sprechen kann er!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216306400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wirtschaftliche Vereinigung hat uns vor riesige Aufgaben gestellt. Modelle, Vorbilder für die Lösung gibt es nicht und gab es nicht. Wir haben uns alle getäuscht, auch Sie.

(Horst Sielaff [SPD]: Ganz neue Botschaft! — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind getäuscht worden!)

— Ich fange ja erst an, wenn Sie gestatten, Herr Abgeordneter.
Wir und auch Sie — Sie sehr lauthals — sind davon ausgegangen, daß uns im Zuge der Wiedervereinigung ein industrielles Vermögen in der Größenordnung von 1 Billion DM zuwächst.

(Zuruf von der SPD: Das hat der SPDMinister Romberg etwas anders gesehen!)

Wir wissen heute, daß das industrielle Vermögen der ehemaligen DDR in betriebswirtschaftlichen Kategorien ein Negativvermögen von mindestens 700 Milliarden DM darstellt. Das ist der Mindestbetrag, um diese Wirtschaft nach marktwirtschaftlichen Kriterien auf einem niedrigeren Level, was den Output angeht, konkurrenzfähig zu machen. Das ist nach der Vereinigung evident geworden.
Wir haben gesehen, daß die Betriebe in Organisationsstrukturen arbeiten, die auf unseren Märkten keine Chance haben, daß sie bei den Produkten und bei den Verfahren nicht wettbewerbsfähig sind, daß



Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
keine Märkte da sind, daß die Betriebswirtschaft im Sinne der Kostenrechnung nicht stimmt, daß das Management in vielen Bereichen, zumindest im kaufmännischen, nicht erfahren ist und daß wir riesige Ökologieprobleme hatten. Meine Damen und Herren, es kam hinzu, daß wir vor der Wiedervereinigung
— ich sage das mit Blick auf die sogenannte Finanzierungslüge oder was auch immer — —

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Steuerlüge!)

— Das ist ja dasselbe; das ist die Umkehrung.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein! Nein! Nein!)

— Das ist die Umkehrung, um die Finanzierung sicherzustellen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216306500
Herr Minister, die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier möchte gerne von Ihnen mehr dazu hören.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216306600
Wenn ich diesen Gedanken zu Ende geführt habe, sofort: in einer Minute.
Wir sind zwar davon ausgegangen, daß die Ostmärkte reduziert werden, wenn mit Devisen gezahlt werden muß. Aber daß die Ostmärkte quasi wegbrechen, das hat niemand sehen und erwarten können.

(Günter Verheugen [SPD]: Ich habe das hier im Bundestag zu Protokoll gegeben! 1990!)

Daß die Rezession in dem Maße zuschlagen würde, wie sie zugeschlagen hat, war auch nicht bekannt. Deshalb gibt es keine Steuerlüge und keine Finanzierungslüge. Das, was in diesem Zusammenhang immer wieder gesagt wird, ist vielmehr nichts anderes als ein Hinwegtäuschen darüber, daß von Ihrer Seite nichts, aber auch gar nichts als Alternative angeboten werden kann und daß hinter den Vorstellungen, die damals geäußert worden sind, bei vielen der Wunsch bestand, daß über eine Eigenstaatlichkeit der DDR eine neue Träumerei, ein neues Modell oder ein anderes Modell realisiert werden kann.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Jetzt kann Frau Matthäus-Maier sehr gern eine Zwischenfrage stellen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216306700
Frau Matthäus-Maier, nunmehr haben Sie das Wort. Bitte schön.

Ingrid Matthäus-Maier (SPD):
Rede ID: ID1216306800
Herr Minister, nachdem wir natürlich alle zur Kenntnis nehmen, daß Sie mit so verunklarenden Worten wie „Finanzierungslüge" etwas verdecken und in die Geschichte versakken lassen wollen, darf ich Sie daran erinnern, daß es Ihr Parteivorsitzender Graf Lambsdorff — bis vor wenigen Tagen Parteivorsitzender — einerseits sowie der Bundeskanzler Helmut Kohl und der Finanzminister Theo Waigel andererseits waren, die wenige Tage und Wochen vor der Bundestagswahl 1990 auf intensives Befragen durch uns, daß man das alles ohne Steuererhöhung nicht schaffen könne, wenn man eins und eins zusammenzählt, immer wieder gesagt haben: Wir garantieren für die deutsche Einheit: keine Steuererhöhungen, und daß unmittelbar nach der
Bundestagswahl, genau eine Woche später, die Diskussion um vielfältige Steuererhöhungen losbrach und dann im Frühjahr 1991 das größte Steuer- und Abgabenerhöhungspaket aller Zeiten zu uns kam. Wollen Sie das bestreiten, und wollen Sie bestreiten, daß das eine Steuerlüge ist?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216306900
Frau Matthäus-Maier, ich habe gerade darzustellen versucht, daß wir uns — daran können wir gar nicht vorbei — über das Ausmaß der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit und über das Ausmaß dessen, was dort zu investieren ist, getäuscht haben.

(Detlev von Larcher [SPD]: Die Leute haben Sie getäuscht! — Weiterer Zuruf von der SPD: Innerhalb von acht Tagen!)

Diese Täuschung hat dazu geführt, daß wir in vielen Punkten unglücklicherweise unsere Auffassung revidieren mußten, auch in der Steuerfrage. Ob Sie das nun mit soviel Genugtuung erfüllen kann, das ist Ihre Sache. Wir jedenfalls haben etwas übernommen, das in einem Maße und in einer Weise verrottet war, wie das weder von Ihnen noch von Wissenschaftlern, noch von unserer Seite richtig vorauszusehen war.
Es kommt hinzu — ich sage das noch einmal —, daß durch den Zusammenbruch des gesamten Ostblockes eine Situation eintrat, die die Wettbewerbschancen der ostdeutschen Industrie zusätzlich und maßgeblich verschlechtert hat. Das ist der Punkt.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Nun darf ich fortfahren und folgendes sagen: Was wir übernommen haben, ist das eine. Herr Schulz, lassen Sie mich zu Ihnen bezüglich der D-Mark nur sagen: Wenn man nach dem Lehrbuch vorgegangen wäre, dann hätte man — daraus mache ich überhaupt keinen Hehl — die D-Mark zu dieser Relation nicht einführen können. Es gab aber kein Lehrbuch, nach dem man hätte vorgehen können.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Das Saarland war ein Beispiel!)

Sie und andere träumten nur von der Eigenstaatlichkeit der DDR.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwachsinn! Konföderation war unser Modell, nicht Eigenstaatlichkeit!)

All die Transfers, Investitionen und Maßnahmen, die wir jetzt vornehmen müssen, hätten in der dann eigenständigen DDR erwirtschaftet werden müssen. Wie die dann eigenständige DDR mit ihren Ressourcen bei offenen Grenzen und bei einem Wohlstandsgefälle das ohne eine immense Hilfe von westlicher Seite und dann noch auf einer rechtlichen Basis, die sich von der unseren unterscheidet, hätte schaffen sollen, das muß mir einmal einer sagen. Das ist eine Illusion. Das entspricht und entstammt einer politischen Träumerei, die bar jeder Realität ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Was haben wir aus diesem Erbe denn nun gemacht? Man kann auf der einen Seite sehen — ich bin da sehr nüchtern —: Man kann so aufmachen, wie Sie aufma-



Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
chen. Man kann auf die hohe Zahl der Arbeitslosen von 1,1 Millionen, auf die riesige Zahl von Menschen, die noch in ABM oder in Umschulungsmaßnahmen sind oder in den Regelungsbereich des § 249h fallen, auf die geschrumpfte Substanz der Industrie und auf das geschrumpfte Bruttosozialprodukt verweisen. Aber das ist das Resultat dessen, was wir übernommen haben.

(Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

Ich möchte dem nach der Zwischenfrage, die ich gerne zulasse, einmal entgegenstellen, was wir daraus gemacht haben.
Bitte schön.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216307000
Bitte schön, Herr Abgeordneter Schulz.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216307100
Herr Bundeswirtschaftsminister, würden Sie zur Kenntnis nehmen, um einer weiteren Legendenbildung vorzubeugen, daß wir niemals eine eigenständige DDR gefordert haben, sondern eine Konföderation für den Übergangszeitraum von drei Jahren, orientiert am Beispiel Saarland, an der Eingliederung des Saarlandes in das Bundesgebiet und im übrigen in Übereinstimmung mit dem Zehn-Punkte-Programm des Bundeskanzlers Kohl, von dem ich noch heute überzeugt bin, daß es richtig war?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216307200
Ich nehme das zur Kenntnis, aber sage Ihnen noch einmal, daß eine solche Übergangszeit, wie Sie sie sich vorstellten, aber andere nicht — andere wollten die Eigenstaatlichkeit perpetuieren —, den gesamten Anpassungsprozeß erschwert hätte und wir nicht so weit wären, wie wir heute sind. Darüber wollte ich, wenn Sie gestatten, Herr Präsident, jetzt noch sprechen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Man kann das also so aufmachen wie Sie. Aber man kann auch vor dem Hintergrund dessen, was übernommen worden ist, darauf hinweisen — das möchte ich tun —, daß wir in den neuen Bundesländern beim Aufbau einer Infrastruktur — das fängt bei der Telekommunikation an und hört bei den Verkehrswegen auf — ungeheuer weit vorangekommen sind, daß wir eine Administration aufgebaut haben, die mehr oder weniger funktioniert und gemessen an dem, was war, in vielen Bereichen, gerade im kommunalen Bereich, leistungsfähig ist, daß in den neuen Bundesländern ein Mittelstand entstanden ist, daß sich Handwerk und Gewerbe entwickeln, daß Hunderttausende von Arbeitsplätzen entstanden sind und daß die Privatisierung gut vorangekommen ist.
Ich sage hier in aller gebotenen Kürze, aber auch mit allem Nachdruck: Die Treuhandbilanz kann sich sehen lassen. Zuerst waren es 8 000, dann 12 000 Unternehmen. Davon sind mehr als 10 000 privatisiert. Von diesen haben heute zwar viele mit Problemen zu kämpfen, aber gemessen an denen, die gut arbeiten, ist das ein verschwindend geringer Prozentsatz.
Es sind Dinge vorgekommen, die nicht in Ordnung sind. Aber auch die muß man in den Zusammenhang stellen. 175 Milliarden DM werden in den privatisierten Betrieben investiert, es gibt Arbeitsplatzzusagen in Höhe von 1,4 Millionen, und wir setzen in den Unternehmen, die heute noch nicht privatisierbar sind — wo aber eine Chance besteht, und zwar über Sanierung, über die Politik der Erhaltung und Erneuerung der industriellen Kerne —, noch zusätzlich Akzente, auch in marktwirtschaftlich sehr fragwürdiger — in wertfreiem Sinne — Art und Weise. Das ist eine Politik und das sind Erfolge, die sich sehen lassen können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ein Fördersystem steht im Osten mit Investitionshilfen. Das GA-System ist übertragen worden. Es gibt das Eigenkapitalhilfeprogramm. Wir tun einiges — aus meiner persönlichen Sicht zuwenig — im Bereich der Absatzförderung.

(Zurufe von der SPD)

— Das ist sehr einfach. Fordern kann man immer. Das ist aber Ihr Job. Wir müssen es machen.

(Widerspruch bei der SPD)

150 Milliarden DM bewegt die Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt ist bei ABM über § 249h und anderes mehr eine Arbeitsmarktpolitik aufgelegt worden, bei der wir uns fragen müssen, ob wir nicht an die Grenzen stoßen und ob wir nicht einen zweiten Arbeitsmarkt entstehen lassen, der den ersten Arbeitsmarkt — nämlich den, der überwiegend durch Mittelstand, Handwerk und Gewerbe aufgebaut worden ist —, gefährdet.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216307300
Herr Minister, das veranlaßt den Abgeordneten Oostergetelo, sich zu einer Frage zu melden.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216307400
Das ist aber die letzte Frage, die ich zulasse. Bitte.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216307500
Bitte schön.

Jan Oostergetelo (SPD):
Rede ID: ID1216307600
Herr Minister, niemand von uns will die Schwierigkeiten leugnen, und niemand will leugnen, daß es auch Erfolge gibt. Bei der zu erwartenden Arbeitslosigkeit im Osten und im Westen können wir uns aber mit den wenigen Erfolgen, die erreicht worden sind, nicht zufriedengeben. Wenn wir sehen, daß im ländlichen Raum in den neuen Bundesländern — als ein Beispiel — früher auf 100 ha 14,6 Arbeitskräfte beschäftigt waren und jetzt nur noch 0,8 Arbeitskräfte pro 100 ha, dann müssen wir doch mehr tun, damit die Menschen nicht zusammenbrechen. Was kann man da tun?

(Lachen bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1216307700
Herr Minister, das Fragezeichen denken Sie sich jetzt dazu. Dann wollen wir die Antwort hören.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216307800
Herr Abgeordneter, in dem Punkt und gerade, was die Agrarstrukturen angeht, bin ich anderer Auffassung



Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
als Sie. Wenn wir die Agrarstrukturen einigermaßen wettbewerbsfähig oder einigermaßen in Richtung auf unsere Strukturen — da setze ich bei dem Begriff „wettbewerbsfähig" auch ein Fragezeichen — entwickeln wollten, dann waren die Beschäftigtenziffern, die wir pro Hektar hatten, einfach nicht haltbar. Daß wir insgesamt eine Politik machen, die auch den ländlichen Raum nicht entvölkert und dort Alternativen im gewerblichen Bereich bietet, ist eine ganz andere Frage.
Eine Konservierung der LPG-Wirtschaft nach alten Mustern — ich war damit befaßt — kann man doch nicht anstreben wollen. Das muß man ein bißchen in Richtung auf unsere Strukturen bringen.

(Lachen bei der SPD) Nun möchte ich gerne fortfahren.


(Zuruf von der SPD: Lassen Sie doch Oostergetelo fortfahren! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Das ist alles nicht richtig. Ich habe eine Frage zu beantworten.
Wir haben Investitionshemmnisse zurückgeführt, wir haben das Investitionsvorrangprinzip in einer ganz komplizierten rechtlichen Lage eingeführt, wir haben schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren durchgesetzt, und wir haben eine Einigung bei den ökologischen Altlasten erzielt. Meine Damen und Herren, wir haben etwas getan, um die Ostmärkte zumindest ansatzweise funktionsfähig zu halten, dadurch, daß wir in riesigem Umfang Hermes-Garantien übernommen haben, dies auch noch weiter tun, obwohl dabei manches Fragezeichen angebracht wäre.
Ist das keine Politik, die der Erhaltung und der Verbesserung der Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern dient? Ist es von ungefähr, daß wir im vorigen Jahr ein Wachstum des Sozialprodukts — zugegeben auf niedrigem Level — in Höhe von 7 % hatten und trotz der Rezession in diesem Jahr ein Wachstum des Sozialprodukts in den neuen Bundesländern von mindestens 5 % haben werden? Ist es schlecht, daß sich die Wirtschaft zusätzlich im Rahmen des Solidarpakts engagiert, daß es im Osten die Banken und andere tun, daß es eine Einkaufsoffensive gibt? Ist es schlecht, daß auch bei den Tarifpartnern nach langem Hin und Her nun endlich etwas mehr Vernunft und Orientierung bei dem eingekehrt ist, was ökonomisch machbar ist?

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.])

Meine Damen und Herren, sobald wir in unserem Land wieder eine — —

(Zuruf von der SPD: Das ist ein Jubeln!)

— Das ist überhaupt kein Jubeln. Hören Sie doch einmal zu. Ich habe gesagt, man kann das so aufmachen wie Sie und kann die negativen Fakten beschreiben. Das tun Sie doch laufend. Da muß es doch einem Vertreter der Regierung möglich sein, auf das hinzuweisen, was positiv ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das ist doch eine normale Form der Debatte; da hört man zu, wie auch ich Ihnen zugehört habe.
Meine Damen und Herren, wenn ich mir Ihre Vorschläge ansehe — vom Exportkonzept über ZIP und die Industriegesellschaften —, so stelle ich fest, daß Sie die staatlichen Holdings einführen, die Privatisierung verhindern wollen, und Sie wollen letztlich eine Perpetuierung der Subventionen für nicht erhaltbare Unternehmen einführen. Dazu brauchen Sie 15 bis 20 Milliarden DM. Erstens ist das ordnungspolitisch unmöglich, und zweitens ist das finanziell nicht darstellbar.

( V o r s i tz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Unser Fördersystem ist diskussionsfähig, da ist auch manches zu verbessern. Aber das, was Sie vorschlagen, ist entweder nicht machbar, oder es existiert schon. Meine Damen und Herren, es ist nichts Neues, es ist ein alter Aufguß.
Wir haben in den neuen Bundesländern noch viel vor uns. Es gibt dort noch keinen sich selbst tragenden Aufschwung. Die Transfers sind weiterhin notwendig. Aber eines ist richtig und kann niemand übersehen — reisen Sie doch einmal in die neuen Bundesländer —: Sie können dort jeden Tag sehen, daß der Aufschwung in Gang gekommen ist, und das von dem Erbe, das wir übernommen haben, mit unseren Ideen und unser aller Geld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216307900
Als nächster hat der Kollege Rolf Schwanitz das Wort.

Rolf Schwanitz (SPD):
Rede ID: ID1216308000
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat sich heute vorgenommen, in einer dreistündigen Debatte über die Situation in Ostdeutschland zu reden. Ich glaube, dies ist dringend notwendig; denn die grundlegenden Probleme in Ostdeutschland haben sich in den letzten zweieinhalb Jahren nicht fundamental geändert.
Nach wie vor — Herr Minister, dies muß auch im Zusammenhang mit Ihrer Rede gesagt werden — lastet die Arbeitslosigkeit in einem erdrückenden Umfang auf den Menschen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nach der offiziellen Arbeitslosenstatistik hatten wir im Mai dieses Jahres in den neuen Bundesländern fast 1,1 Millionen Arbeitslose. Mittlerweile weiß jeder, daß diese Zahlen geschönt sind. Real fanden in Ostdeutschland im Mai über 2,53 Millionen Menschen keinen festen oder ungefährdeten Arbeitsplatz mehr. Dies entspricht einer Unterbeschäftigungsquote von fast 35 % als ostdeutsches Durchschnittsmaß.
Da nach wie vor ca. 400 000 Ostdeutsche als sogenannte Pendler in den alten Bundesländern ihren Arbeitsplatz finden, dürfte diese Quote eher noch geschönt sein. Die meisten dieser Arbeitsplätze sind durch das Wegbrechen der ostdeutschen Industrie verloren gegangen. Die ursprünglich 3,3 Millionen Industriearbeitsplätze haben sich auf einen Stand von 750 000 verringert. Das ist ein Abbau von 77 % innerhalb von drei Jahren.



Rolf Schwanitz
Dabei ist das Ende dieses verheerenden Kahlschlags noch nicht in Sicht. Die Sprecherin der Treuhandanstalt verkündete nämlich vor wenigen Tagen den gebeutelten Ostdeutschen eine Frühwarnliste. Nach dieser sollen allein in den Treuhandbetrieben in der zweiten Jahreshälfte rund 36 000 Mitarbeiter entlassen werden. Das hiervon am härtesten betroffene Land Sachsen-Anhalt hat allein mit 12 000 Entlassungen bis zum Jahresende zu rechnen.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das nennt man Erhaltung der industriellen Kerne! Das ist der Fortschritt, den wir sehen! Plattmacher!)

Meine Damen und Herren, längst hat die anhaltende Entindustrialisierung in Ostdeutschland zu starken regionalen Ungleichgewichten geführt. Die Existenz von strukturellen Notstandsgebieten gehört heute zur ostdeutschen Realität. Als Beispiel verweise ich hier auf den erzgebirgischen Raum im Freistaat Sachsen. Bis auf eine bis zwei Inseln wurde die industrielle Massenproduktion im Erzgebirge weitestgehend stillgelegt. Hier tut sich keine Perspektive für eine industrielle Produktion und für Neuansiedlungen in der Zukunft auf.
Die verkehrspolitische Vernachlässigung des erzgebirgischen Raums und das unmittelbar vor der Haustür liegende Sonderproblem der Umweltverseuchung durch den früheren Uranerzabbau beeinträchtigen die Zukunftschancen dieses Standorts zusätzlich. Wer den Menschen dort die Hoffnung und den Glauben an eine positive Entwicklung auch ihrer Region erhalten will, muß wirkliche Zukunftsperspektiven eröffnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Zu diesen Zukunftsperspektiven gehören u. a. auch der Erhalt und die Schaffung einer leistungsfähigen Wissenschafts- und Forschungslandschaft. Auch die Situation der Forschung in den neuen Ländern ist — ich will es vorsichtig sagen — unbefriedigend; eigentlich müßte man sagen: katastrophal.
Von den ehemals rund 180 000 Personen, die Ende 1989 in der alten DDR in Forschung und Entwicklung außerhalb der Hochschulen tätig waren, sind heute vielleicht noch 45 000 übriggeblieben.
Die Zahl des reinen Forschungs- und Entwicklungspersonals sank im engeren Industriebereich von 86 000 im Dezember 1989 auf 15 800 im Mai dieses Jahres. Die Befürchtung, das im Dezember von dieser Zahl nur noch 10 000 übrig sein könnten, wurde uns unlängst am Montag von Experten bei einer Anhörung mitgeteilt.

(Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist die Erfolgsbilanz der Regierung!)

Wenn die Forschung in der Industrie wegbricht, ist das Schicksal der ostdeutschen Länder als verlängerte Werkbank Westdeutschlands endgültig besiegelt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Der Traum von den blühenden Landschaften ist dann endgültig begraben. Der Verlust unserer schöpferischen Intelligenz wäre in der Tat gleichbedeutend mit dem Abschied von einem Industrieland. Was das für
die soziale Balance und das innere Gleichgewicht der Ostdeutschen bedeuten würde, ist nicht abschätzbar. Die tiefe Hoffnung und der Glaube der Ostdeutschen an das politische und marktwirtschaftliche System der alten Bundesrepublik — meine Damen und Herren, dies war der Grund, daß die Ostdeutschen die Massenentlassungen ruhig hingenommen haben — wäre unwiederbringlich zerstört. Vor dieser Entwicklung kann nur gewarnt werden.
Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich in der zweiten Hälfte meiner Rede noch einige Bemerkungen zu den künftigen Entwicklungen und den vor uns stehenden Aufgaben machen. Allein der Antrag der Regierungskoalition zu den sogenannten Alt- und Erblasten verwehrt mir dies; denn dieser Antrag kann in dieser Debatte nicht unkommentiert stehenbleiben.
Lassen Sie mich vorausschicken, daß es natürlich ein legitimes Recht — da stimme ich Ihnen ja zu, Herr Wirtschaftsminister — der Bundesregierung und der Regierungskoalition ist, besonders intensiv auf positive Entwicklungen aufmerksam zu machen; beispielsweise im Bereich der ostdeutschen Infrastruktur oder im Bereich der Verkehrswege in Ostdeutschland. Natürlich gibt es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Mißwirtschaft zu SED-Zeiten und unseren heutigen Schwierigkeiten in Ostdeutschland.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber wichtig, daß Sie das jetzt einmal sagen!)

— Ich glaube, gerade mir können Sie — auch vor dem Hintergrund dessen, was ich in den letzten Jahren hier an Reden gehalten habe — abnehmen, daß ich nicht gewillt bin, die frühere DDR-Nomenklatura hier aus der Pflicht zu lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Unbestreitbar bleibt jedoch auch, daß der Bundeskanzler die richtigen Weichenstellungen für einen planvollen Aufbau Ostdeutschlands viel zu lange versäumt hat.

(Beifall bei der SPD)

Diese Bundesregierung trägt deshalb Mitverantwortung für das ökonomische Desaster, dem wir heute in den neuen Ländern gegenüberstehen. Der vorliegende Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ist deshalb von Anfang bis Ende ein einziger semantischer Verschleierungsversuch, die politische Mitverantwortung und die politischen Versäumnisse dieser Bundesregierung durch eine neue Erblastenlegende zu verschweigen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen dazu drei Beispiele nennen:
Erstens. Die Bundesregierung hat sich zwei Jahre lang einer Entschuldung der ostdeutschen Wohnungswirtschaft widersetzt. Damit wurde nicht nur die Kreditfähigkeit der Wohnungsunternehmen blokkiert. Die Schuldenlasten, die anfänglich bei 36 Milliarden DM lagen, stiegen deswegen auf 51 Milliarden DM. Ein Viertel der in Ihrem Antrag aufgeführten



Rolf Schwanitz
Altschulden der Wohnungswirtschaft geht damit auf das Konto der Regierung Kohl.
Zweitens. Das im Einigungsvertrag festgeschriebene Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" hat den marktwirtschaftlichen Emeuerungsprozeß in den neuen Ländern verschleppt; man kann sogar sagen: erstickt.
Ich verstehe durchaus die politische Scheu, eine durch Unrecht entstandene Eigentumsordnung als historisches Erbe der DDR vom Grundsatz her zu akzeptieren. Aber unleugbar ist, daß das Rückgabeprinzip auch verantwortlich für die stagnierende Wirtschaftsentwicklung, für Arbeitslosigkeit und für neues soziales Unrecht geworden ist.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Diese ökonomischen und sozialen Kosten stehen in keinem Verhältnis beispielsweise zu den Lasten des Kreditabwicklungsfonds.
Drittens. Der sozialdemokratische Finanzminister der Regierung de Maizière, Dr. Walter Romberg, forderte im Sommer 1990 wegen der beabsichtigten Finanzausstattung der ostdeutschen Länder Nachverhandlungen zum Einigungsvertrag.

(Zuruf von der SPD: So war es!)

Romberg hatte für 1994 eine Verschuldung der neuen Lander und Gemeinden von rund 90 Milliarden DM vorhergesagt. Er wurde dafür der unverantwortlichen Panikmache beschuldigt

(Otto Schily [SPD]: Hört! Hört!)

und aus dem Amt gejagt. Günther Krause sagte damals — ich zitiere —:
Die Finanzausstattung der Länder der DDR hält jedem Vergleich mit der Finanzausstattung der anderen Bundesländer stand.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unglaublich! — Zuruf von der SPD: Wo ist er denn? — Dr. Uwe Küster [SPD]: Ahnungslos!)

Die jetzigen Zahlen des Bundesfinanzministers weisen für Ostdeutschland in den nächsten Jahren sogar eine Gesamtverschuldung von 110 Milliarden DM aus.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)

Davon entfallen allein auf die ostdeutschen Kommunen 49 Milliarden DM. Die Verschuldung der ostdeutschen Gemeinden pro Kopf der Bevölkerung beträgt 1997 — und hier sage ich: nach dem Föderalen Konsolidierungsprogramm — 5 300 DM und liegt damit doppelt so hoch, wie das bei den WestGemeinden der Fall sein wird. Was das für den ostdeutschen Infrastrukturaufbau bedeutet, ist katastrophal.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür mußte der Romberg gehen!)

Meine Damen und Herren, diese Realitäten haben die Ostdeutschen am 3. Oktober 1990 weder mitgebracht noch zwangsläufig verursacht. Diese Größen
gehören nicht zu der Altlasten-Saga der Bundesregierung; sie sind Erblast der Regierung Kohl.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216308100
Nun hat der Kollege Rainer Haungs das Wort.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt kommt es! — Brigitte Baumeister [CDU/ CSU]: Ein wichtiger Beitrag!)


Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1216308200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe tatsächlich in den letzten eineinhalb Stunden der Opposition sehr aufmerksam zugehört, aber keinen konstruktiven Beitrag zur Bewältigung der Zukunft gefunden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Um gleich zu den entscheidenden Punkten zu kommen: Bei der Einführung hat Kollege Faltlhauser darauf hingewiesen, daß wir, nachdem die Treuhandanstalt privatisiert hat — die einen sagen: zu schnell; die anderen sagen: in einem bewundernswürdigen Tempo und mit viel Erfolg —, jetzt Gesellschaften haben, die auch weiterhin im Besitz der Treuhand existieren sollen, weil sie für die Region bedeutsam sind und wir sie brauchen, um sie in der Zukunft entweder zu privatisieren oder sie unter einer anderen Form weiterzuentwickeln.
Hier war ich sehr aufmerksam. Ich habe aber von Ihnen außer der Feststellung, daß wir heute auf der Tagesordnung einen Antrag zur Schaffung von Industriegesellschaften haben, überhaupt nichts gehört. Dabei handelt es sich um einen Antrag, der überhaupt nicht in unsere Denkrichtung paßt und der — auch da habe ich aufmerksam zugehört — von Ihnen auch überhaupt nicht vertreten wurde. Ich habe keine großen offensiven Strategien dahin gehend gehört.
Richtig ist folgendes: Wir müssen uns in der Zukunft — dazu lade ich Sie ein — in den entsprechenden Ausschüssen sehr konkret Gedanken darüber machen, wie wir, nachdem die operative Arbeit der Treuhand in den nächsten Monaten beendet wird, diese Gesellschaften so begleiten,

(Zurufe von der SPD)

daß einerseits die Eigentumsrechte des Bundes wahrgenommen werden, andererseits — ähnlich wie bei den Management-KGs — hier auch unternehmerische Aktivitäten entwickelt werden, daß hier aktiv saniert wird, daß wir hier im Mosaik all unserer Maßnahmen einen Beitrag dazu leisten, daß wir hier Industriefirmen weiterentwickeln.
Dies ist die Aufgabe der nächsten Monate. Dies ist jenseits aller ideologischen Argumentationen gemeinsam machbar.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie eigentlich mit Ihren Kollegen aus dem Treuhand-Ausschuß?)

In den neuen Bundesländern — darauf wurde hingewiesen — stehen wir vor großen Aufgaben. Diese großen Aufgaben sind sicher mit den Rezepten, wie ich sie vorhin gehört habe, nämlich erst einmal die



Rainer Haungs
Senkung der Gewerbesteuer, mit denen die Unternehmen vorbelastet sind, zu verhindern, zweitens die Gewerbekapitalsteuer einzuführen, und mit ähnlichen Dingen nicht zu erledigen.
Wir stehen doch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland im Osten wie im Westen vor dem großen Problem, daß wir mehr Neuinvestitionen benötigen, daß wir vor allem ausländisches Kapital benötigen. Und Sie wissen doch genauso gut wie wir, daß auch überhöhte Unternehmensteuersätze eine psychologisch abschreckende Wirkung haben.
Ich bitte Sie also, hier Ihren ökonomischen Sachverstand aufzubieten und nicht immer mit der plumpen Argumentation zu kommen: Hier wird den Reichen etwas gegeben. Hier wird den Reichen überhaupt nichts gegeben, sondern hier werden Firmen in den Stand gesetzt, in einem härteren Wettbewerb wettbewerbsfähig zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216308300
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?

Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1216308400
Bitte schön, ja.

Ernst Schwanhold (SPD):
Rede ID: ID1216308500
Herr Kollege Haungs, wie werten sie denn nach dem Referat des Herrn Bundeskanzlers vor der Mittelstandsvereinigung der CDU gemachte Aussagen der Vertreter der Wirtschaft, daß die Investitionstätigkeit insbesondere darunter leide, daß das Vertrauen in die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung verlorengegangen sei, und zwar angesichts Ihrer Aussage, daß Investitionstätigkeit von besonderer Bedeutung sei?

Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1216308600
Ich gehe davon aus, daß Sie bei Ihrer Frage nicht die Rede vor der Mittelstandsvereinigung, sondern die Rede des Bundeskanzlers vor dem Wirtschaftsrat gemeint haben.

(Ernst Schwanhold [SPD]: Entschuldigung!)

Ich stelle dies richtig und stelle fest, daß der Bundeskanzler gut eineinhalb Stunden geredet hat, daß er mit „standing ovations" verabschiedet wurde

(Zuruf von der SPD: Von ostdeutschen Unternehmern, ja?)

Und daß er sebstverständlich auf die Fehler hingewiesen hat, die wir bei diesem historisch einmaligen Umwandlungsprozeß von einer maroden Verwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft gemacht haben. Er hat zugestanden, daß wir uns da in vielen Dingen verschätzt haben. Da soll man dann nicht sagen: Dies ist in Ihrer Verantwortung passiert.
Sie haben darauf hingewiesen — ich habe dies durchaus gehört und will mich auch gar nicht davor drücken —, daß die Wirtschaft der Meinung ist, daß nicht alle Dinge so laufen, wie es erwartet wird, und dies dem Bundeskanzler persönlich zurechnet. Da sage ich Ihnen als Unternehmer in sehr selbstkritischer Einsicht: Immer dann, wenn die Konjunktur gut läuft, wenn zehn Jahre lang Gewinne und Erträge sprudeln, rechnet sich die Wirtschaft das zu Recht auf das eigene Konto. Wenn wir in einer Marktwirtschaft
einmal Krisen haben, dann ist es eine sehr einfache Sache, dies alles der Regierung oder dem Bundeskanzler zuzurechnen. Ich meine: Wer zur Marktwirtschaft steht, der muß in Rezessionen genauso unternehmerische Strategien entwickeln wie in Hochkonjunkturen. Ich weise also — um das klar zu sagen — eine einseitige Schuldzuweisung an den Bundeskanzler in Person oder an die Regierung zurück.
Ich weise darauf hin, daß alle unsere Probleme, die wir in der Bundesrepublik haben, beispielsweise mit denen unseres Nachbarn Frankreich vergleichbar sind, der ohne Wiedervereinigung heute darum kämpfen muß, ein Haushaltsdefizit zu beschränken und Sozialausgaben einzuschränken. Es ist also eine sehr, sehr einfache Geschichte, dies zu sagen.
Um aber das Ergebnis einmal zu überprüfen: Ich glaube nicht, daß über 2 000 Zuhörer — —

(Zuruf von der SPD)

— Ja, es ist eine angenehme Sache, die Redezeit ein bißchen zu verlängern. Ich bin sowieso erst auf Seite 1.

(Zurufe von der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216308700
Sie haben jetzt noch 6.31 Minuten.

Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1216308800
Dann kann ich ja auch noch Fragen beantworten.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216308900
Bis jetzt habe ich die Uhr ausgemacht, weil es eine lange Antwort war. Jetzt habe ich sie wieder angestellt.

Rainer Haungs (CDU):
Rede ID: ID1216309000
Das ist ja sehr angenehm. — Ich wollte, damit die Frage erschöpfend beantwortet wird, sagen: 2 000 Unternehmer und Manager würden nicht minutenlang Beifall geklatscht und den Abgang zum kalten Buffet verzögert haben,

(Heiterkeit und Beifall)

wenn sie nicht von der Rede des Bundeskanzlers so beeindruckt gewesen wären.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Gab es da auch so viel Quark wie hier? — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was gab es denn da zu essen? — Weitere Zurufe von der SPD)

— Ich weiß es nicht, weil ich nur die Rede angehört habe.

(Zurufe von der SPD)

Um die Diskussion zu vereinfachen: Es wird Ihnen ein einfaches sein, diese Rede nachzulesen, und Sie werden feststellen, daß dabei die Hinweise gegeben wurden, wie wir in der Zukunft unsere gemeinsamen Probleme lösen können. Diese werden wir, verehrte Frau Matthäus-Maier, nicht mit Ihrem Rezept lösen, indem wir den Standort Deutschland verschlechtern, indem wir die abschreckend hohe Unternehmensbesteuerung belassen.
Lassen Sie mich aber zu meinen Ausführungen zur Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland und zur Zukunft der neuen Bundesländer kommen. Wir wissen selbstverständlich, daß die gegenwärtige Kon-



Rainer Haungs
junkturlage nicht nur die Bundesrepublik insgesamt trifft, sondern auch den Aufbau industrieller Standorte in den neuen Bundesländern eher schwieriger als einfacher macht. Wir sind allerdings der Meinung, daß das Maßnahmenbündel, das wir derzeit vorgeschlagen haben, den Aufbauprozeß der neuen Unternehmen nachhaltig und umfassend fördern wird.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das hören wir schon seit drei Jahren!)

— Es hat sich in diesen drei Jahren auch einiges verbessert.

(Zuruf von der SPD: Nachhaltig verbessert?)

Es ist ja wirklich ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit, wenn anderes behauptet wird. Wenn Sie mir jetzt zuhören, werden Sie vielleicht am Schluß Ihr einseitiges, verzerrtes Bild korrigieren.
Wir können feststellen, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm wesentlich bei der Existenzförderung mitgeholfen hat, wir allerdings jetzt vor allem wegen der konjunkturellen Lage eine stärkere Berücksichtigung von existenzsichernden Elementen herbeiführen müssen. Nachdem es glücklicherweise so viele neue Unternehmensgründungen gab, wird die besondere Sorge bei Kapitalbeteiligungsgesellschaften, auch bei Bürgschaftsbanken, darin liegen, daß die Unternehmen auch in der Zukunft besser finanziert werden. Denn der Eigenkapitalmangel bleibt eines der zentralen Probeme der mittelständischen Unternehmen.
In diesem Zusammenhang will ich auch die alte Forderung nach der Rechtsform der Kleinen Aktiengesellschaft, die mittelständischen Unternehmen den Zugang zum Kapitalmarkt erleichtern könnte, noch einmal in die Diskussion bringen. Sie gewinnt zunehmende Aktualität, weil wir damit gerade bei der Versorgung des Mittelstandes mit Kapital im Osten, aber auch im Westen Fortschritte erzielen könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein bißchen kräftiger!)

— Sie können ja mitmachen, wenn Sie es als richtig ansehen. Und wenn Sie es als falsch ansehen, sagen Sie damit, daß Sie darüber nicht nachgedacht haben.
Die konjunkturelle Krise trifft vor allem diejenigen Unternehmen hart, die in den vergangenen Jahren keine Möglichkeit hatten, sich umfangreiche finanzielle Reservepolster aufzubauen. Dies gilt besonders für die ostdeutschen Unternehmen. Trotz des viel schwieriger als erwartet verlaufenden Umstrukturierungsprozesses gibt es aber — nun will ich Ihnen einige Zahlen nennen, die Sie vielleicht überzeugen — Hoffnungen zum Besseren.
Der Deutsche Industrie- und Handelstag, der uns oft auch kritisiert, sagt ausdrücklich, daß die massive finanzielle Anschubhilfe für den ostdeutschen Mittelstand deutlich positive Wirkung zeigt. 430 000 Existenzgründungen in Ostdeutschland sind realisiert, eine beachtliche Zahl, auf die wir stolz sein können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch der Verband „Verein Creditreform" kommt zu positiven Schlüssen, nämlich: Knapp die Hälfte der Befragten in den alten Ländern klagt über sinkende Umsätze, in den neuen Ländern kaum jemand. Jedes vierte Unternehmen im Osten verzeichnet sogar steigende Umsätze. Dieser Aufschwung kommt in erster Linie durch die Eroberung westdeutscher Marktanteile zustande. Das ist eine schwierige Aufgabe; aber sie ist von Erfolg gekrönt, wenn man es richtig macht. Insgesamt verfünffachten sich im vergangenen Jahr die Lieferungen von Ost nach West.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau beispielsweise bestätigt, daß auch die Branchenverteilung zunehmend günstiger für das produzierende Gewerbe wird. Auch die Deutsche Ausgleichsbank, auch die Deutsche Bank, alle diejenigen, die die Sache objektiv untersuchen, sind weit davon entfernt, Ihre einseitige, verzerrte politische Betrachtungsweise zum Maßstab der künftigen Entwicklung zu nehmen.
Das DIW in Berlin nennt die West-Ost-Verschiebung, die derzeit stattfindet, eine logische ökonomische Konsequenz und sagt — man höre und staune —, daß in Ostdeutschland hochproduktive Wohlstandsinseln entstehen, die in den nächsten Jahren eine ansteckende Wirkung durchaus auf jetzt noch benachteiligte Landstriche — die es natürlich gibt und die wir alle kennen — ausüben können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zu den Anreizen, hochmoderne Anlagen einzusetzen, gehört all das, was wir in der Gesamtheit des Förderungsinstrumentariums haben, mit dem Ergebnis — ich darf ein paar Stichworte nennen —, daß wir beispielsweise in Thüringen, bei Opel in Eisenach, das modernste Autowerk haben, daß wir einen bayerischen Compakt-Disc-Hersteller haben, der das modernste Werk gebaut hat, daß auch VW, Quelle und andere Zulieferer überall mit modernen Instrumentarien, mit Maschinen, mit Technologie Arbeitsplätze für die Zukunft schaffen. Die Bemühungen um Arbeitsplätze für die Zukunft können aber nicht von heute auf morgen ihre arbeitsplatzschaffende Wirkung entwickeln.
Ich komme zum Schluß. Wir müssen feststellen, daß trotz aller Kritikpunkte, die von Ihnen vorgebracht, aber im Zusammenhang überbewertet wurden, die grundsätzliche Richtung stimmt, daß es keine Alternative dazu gibt und daß die Privatisierung im wesentlichen abgeschlossen wird. Uns geht es jetzt darum, die privatisierten Betriebe in ihrer Existenz zu erhalten, ihnen bei ihren Sorgen zu helfen und sie zu fördern. Wir müssen dann den Begriff der Erhaltung industrieller Kerne mit dem notwendigen Inhalt füllen.
Dem dienen die von uns vorgelegten Anträge. Ich hoffe, daß Sie an ihnen in einem anderen Sinne mitwirken, als Sie es in der Diskussion getan haben.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216309100
Sie haben meine Großzügigkeit schamlos mißbraucht.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Intelligent mißbraucht, bitte schön, nicht schamlos!)

Jetzt hat die Kollegin Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216309200
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Besondere Beachtung beim Aufbau in den neuen Ländern kommt einer wirklichen Förderung des Forschungs- und Entwicklungsbereiches zu. Eine Erneuerung industrieller Kerne erfordert nach unserer Auffassung zwingend eine industrienahe Forschung. Was den Produkten aus den neuen Ländern besonders fehlt, ist eine Erneuerung ihrer Produktqualität. Nur, wer soll sie entwerfen und einführen? Während im Vergleich zwischen BRD und DDR auf 1 000 Beschäftigte etwa gleich viele Forscher und Entwicklungsingenieure kamen, ist die Forschungsdichte in den neuen Ländern inzwischen auf ein Siebentel des westdeutschen Niveaus abgesunken.
Entsprechend dem bisherigen Sanierungskonzept ist der Abbau besonders des Industrieforschungspotentials in den neuen Ländern noch keineswegs am Ende. Die bestehenden Absatz- und Finanzierungsprobleme lenken die Aktivitäten der Unternehmen auf ein kurzfristiges Überleben. Für Forschung und Entwicklung bleibt unter den bisherigen Bedingungen kein Geld. Ein übriges tut die Treuhand.
Zum Beispiel stand man bei der Märkischen Faser AG Premnitz vor der Aufgabe, die Produktion grundlegend umstellen zu müssen. Wie soll das aber erreicht werden, wenn Forscher und Entwicklungsingenieure auf Grund der Entscheidungen der Treuhandanstalt als erste gehen müssen? Wirtschaftlich kontraproduktiv wird Arbeitslosengeld für viele Forscher und Entwicklungsingenieure bezahlt, statt ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre für einen Strukturwandel in den neuen Ländern so wichtigen Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen.
Wie in anderen Bereichen auch wurde den bei der Einigung vorhandenen unterschiedlichen Strukturen von Forschung und Entwicklung in Ost und West nicht Rechnung getragen. Der in der DDR größere Anteil von Forschung in staatlichen Einrichtungen wurde ersatzlos zerschlagen. Der außerhalb der Universitäten in der DDR vorhandene staatliche Sektor hatte einen doppelt so hohen Anteil an der Forschung wie in den alten Bundesländern. Bei einem Gesamtverhältnis von 132 000 Personen in der Forschung der DDR zu 403 000 in der Forschung der alten Bundesländer waren in staatlichen Einrichtungen in der DDR zum Zeitpunkt der Vereinigung 32 000 Personen beschäftigt. Dem standen 51 000 Personen in den alten Bundesländern gegenüber.
Es geht hierbei nicht einfach darum, daß die Forscher entlassen wurden, sondern daß insbesondere gewachsene Forschungskollektive —jetzt neuerdings „Teams" genannt — zerschlagen wurden. Ich wende mich damit nicht gegen andere, eventuell effektivere Formen in Forschung und Entwicklung; nur müssen eben die Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung bedacht werden, wenn das eine abgewickelt und die Voraussetzungen für das andere nicht existieren. Das
Ergebnis liegt mit der wirtschaftlichen Situation im Jahre 1993 für jeden sichtbar auf dem Tisch.
Notwendig ist eine Umstrukturierung auf der Grundlage der vorhandenen regionalen Forschungs- und Entwicklungspotentiale in den Großräumen Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz, Erfurt, Jena, Halle/ Merseburg, Magdeburg, Frankfurt an der Oder und Rostock sowie deren Umbau und Ausbau in solchen Strukturrichtungen wie Umwelttechnik und Umweltschutz, in Hochtechnologiebereichen und traditionell innovativen Industriestrukturen. Notwendig ist eine breite Einrichtung von Technologiezentren als Initiatoren für Technologieansiedlung in den Regionen. Es geht nicht nur um wenige Vorzeigeobjekte, sondern um die für einen wirtschaftlichen Aufschwung erforderliche Breite.
Zur Sanierung überlebensfähiger Unternehmen und um die industriellen Kerne mit zukunftsträchtigen, konkurrenzfähigen Produkt- und Verfahrenslinien ausstatten zu können, bedarf es unserer Meinung nach der besonderen Förderung neuer Industrieforschungsunternehmen.
Ein weiterer Punkt: Ganz besonders viele Jugendliche aus den neuen Bundesländern haben mich gefragt, wie es um die Einhaltung der Zusicherung der Bundesregierung steht, allen Lehrstellenbewerbern einen Ausbildungsplatz zu bieten. Die Bundesregierung hat ihr Lehrstellenversprechen gegenüber den Jugendlichen in Ostdeutschland zu keiner Zeit eingehalten. Um dennoch Erfolge melden zu können, mußten Zehntausende Lehrstellensuchende aus den Statistiken oder als „sonstiger Verbleib" verschwinden, wurde eine ungesunde Ost-West-Wanderung von Lehrlingen initiiert und wurden alle möglichen Warteschleifen und Scheinlösungen, etwa eine überdimensionierte außerbetriebliche Ausbildung, eingerichtet.
Für den Herbst 1993 fehlen gegenwärtig noch ca. 50 000 Ausbildungsplätze. Sie werden mit Sicherheit nicht durch die Umwandlung des Lehrstellenversprechens der Bundesregierung in eine sogenannte Lehrstellengarantie der Wirtschaft geschaffen.
Wir fordern deshalb ein zwischen Bund, Ländern und der Wirtschaft koordiniertes und gemeinsam finanziertes längerfristiges Ausbildungsförderungsprogramm Ost. Vorrang muß dabei die Schaffung einer ausreichenden Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze und anschließender Beschäftigungschancen haben. Eine außerbetriebliche oder überbetriebliche Ausbildung muß ersatzweise so lange angeboten werden, wie die Bundesregierung ihrer grundsätzlichen Verpflichtung nicht nachkommt, auch in Ostdeutschland die Voraussetzungen für die Freiheit der Berufswahl und der Ausbildungsstätte zu schaffen. Ich halte das für eine wichtige Frage, wenn es um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern geht.
Oder hat die Bundesregierung vielleicht vor, die blühenden Landschaften auf solche Weise zu schaffen, daß junge Leute überall nur Blümchen pflanzen sollen?
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)





Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216309300
Nun spricht der Kollege Jürgen Türk.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1216309400
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, daß heute vor 40 Jahren eine erste Unzufriedenheit in Ostdeutschland aufkam. Sie entwickelte sich weiter bis zum Mauerfall. Auch heute gibt es Unzufriedene. Die einen sagen, daß an allem nur die ehemalige DDR schuld sei; die anderen meinen, daß die Bundesregierung zu viele Fehler mache. Ich glaube, dieser ständige Blick nach hinten kann nicht die Lösung sein. Wir müssen nach vorn sehen, und nicht nur das, sondern wir müssen weiterhin etwas dafür tun, daß es schrittweise vorangeht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Keiner kann behaupten, daß nichts getan wird. Im Gegenteil: 140 Milliarden DM pro Jahr für den Aufbau Ost sind eine gewaltige Summe. Aber wir müssen uns nicht nur ständig fragen, ob Geld allein glücklich macht oder reicht, sondern auch, ob wir es richtig einsetzen und ob der Standort Deutschland noch attraktiv genug ist bzw., was Ostdeutschland betrifft, wie er attraktiv gemacht werden kann.
Natürlich ist es richtig, ganz gezielt die Sicherung des Standorts Deutschland in Angriff zu nehmen. Vergessen wir aber nicht, daß das nur gelingen kann, wenn der Aufbau des Wirtschaftsstandorts Ostdeutschland gelingt. Das ist einer der wichtigsten Standortfaktoren. Somit besteht immer wieder erneuter Handlungsbedarf.
Politisches Handeln setzt Ordnungspolitik, d. h. ordnende Politik zur Schaffung von Rahmenbedingungen für freies, wirtschaftliches Handeln, voraus. Es müssen gezielt folgende Hemmnisse beseitigt bzw. folgende spezifische Standortbedingungen in Ostdeutschland geschaffen und damit auch neue unkonventionelle Wege beschritten werden.
Erstens. Die Investitionsförderung ist drastisch zu vereinfachen, effizienter einzusetzen, und der Zeitrahmen von Antragstellung bis zur Mittelbereitstellung ist zu verkürzen, und das ressortübergreifend.
Zweitens. Die EG-Sturkturhilfen sind entsprechend dem Bedarf neu zu verteilen. Besonders berücksichtigt werden muß, daß das Bruttosozialprodukt in den neuen Bundesländern um 62 % unter dem Durchschnitt der EG liegt. Ebenfalls erforderlich ist die Intensivierung der grenzüberschreitenden Projekte im Rahmen des Programms INTERREG. Die schrittweise EG-Integration Osteuropas kann nur durch strukturstarke Grenzregionen gelingen.
Drittens. Die Standortverbesserung und -entwicklung ist umgehend in regionaler Verantwortung durchzusetzen. Soll die Schaffung entsprechender Standortbedingungen zügig und effizient erfolgen, bedarf es der Koordinierung der Ansiedlungspolitik in überschaubaren Regionen. Ich denke hier an die zu bildenden Großkreise; ich glaube, das könnte das Optimum sein. In diese koordinierende Arbeit ist die Privatisierungsaufgabe der Treuhandanstalt und der Treuhandliegenschaften zu integrieren. Das darf und kann kein losgelöster Prozeß sein.
Viertens. Notwendig ist die zügige Verwertung bundeseigener Liegenschaften einschließlich der Treuhandliegenschaften. Als Grundsatz muß gelten, daß sparsamer Mitteleinsatz in erster Linie durch die konsequente Nutzung vorhandener Ressourcen erfolgt. Dies ist bisher blockiert für gewerbliche und Industrieansiedlungszwecke von zumeist voll erschlossenen, nicht betriebsnotwendigen Flächen und Gebäuden der Treuhandunternehmen. Ich freue mich, Herr Staatssekretär, über die Gesprächsbereitschaft des Finanzministeriums und glaube, daß wir hier bald eine Lösung zusammenbringen werden.
Fünftens. Notwendig ist der gezielte Wiederaufbau des Ost-Industrieforschungspotentials zur Produktentwicklung für Absatzverbesserung. Zweifellos ist die Leistungsfähigkeit ortsnaher Forschungs- und Entwicklungspotentiale ein wichtiger Standortfaktor. Leider ist der Anteil — das muß man erwähnen —, bezogen auf Industriebeschäftigte, auf 1 % gesunken, und das bei diesem gewaltigen Aufholbedarf. Deshalb sind einerseits der Erhalt bzw. der Wiederaufbau unternehmenseigener Forschungskapazitäten und andererseits außerbetriebliche entsprechend tragfähige Konzepte zu unterstützen.
Sechstens. Industrielle Kerne sind differenziert — ich betone das — von Fall zu Fall zu behandeln. Im wesentlichen ist es sinnvoll, die wirtschaftlichen Kerne von Betrieben und Standorten zu erhalten und die nicht betriebsnotwendigen Liegenschaften und Immobilien für neue Gewerbe- und Industrieansiedlungen Investoren zu günstigen Konditionen anzubieten.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Das heißt, der Kern wird als Kristallisationspunkt für die Ansiedlung mittelständischer Unternehmen genutzt.
Siebtens. Die öffentlichen Aufträge für ostdeutsche Unternehmen sind zu steigern. Der Anteil ostdeutscher Unternehmen an öffentlichen Aufträgen ist noch sehr gering. Wir haben hier das Problem der sogenannten Hoflieferanten. Die Bundesregierung strebt zwar eine Verdopplung der Auftragsanteile an; aber wenn man einen Anteil von Null verdoppelt, bleibt er Null.

(Dr. Uwe Küster erfolgreich gemacht! Das läuft sehr erfolgreich!)

Mein Vorschlag ist, es sollte ein Richtwert von 20 % gelten, entsprechend dem Bevölkerungsanteil.
Achtens. Es sind Mittel durch Privatisierung der öffentlichen Aufgaben einzusparen; eine Privatisierungsoffensive ist also einzuleiten. Der Nachholbedarf an Infrastruktur, z. B. bei der Wasserversorgung oder der Abwasserbeseitigung, ist gewaltig. Er umfaßt ein Volumen von mehreren 100 Milliarden DM

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig, das wird aber von der Regierung so nicht gesehen!)

und kann damit nicht allein vom Staat geleistet
werden. Das ist ganz offensichtlich. Die Alternative



Jürgen Türk
wären Steuererhöhungen in erheblichen Größenordnungen. Deshalb sind private Finanzlösungen für die Errichtung und den Betrieb erforderlich.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Lasten werden aber umgelegt auf die Versorger, auf die Bevölkerung!)

— Ja, aber das muß man wirklich von Fall zu Fall bewerten und darf man nicht pauschal verurteilen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sind 15 bis 20 DM!)

— Das wollen wir doch erst einmal sehen. Das rechnen wir einmal gemeinsam durch.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Schauen Sie sich doch die Zahlen an!)

Im Rahmen einer Privatisierungsoffensive sind also zunächt alle, z. B. Sie, davon zu überzeugen, daß private Lösungen nachweislich effizienter und damit auch verbraucherfreundlicher sind.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Deshalb werden die Investitionen auch billiger! Das ist richtig!)

— Gut.
Neuntens. Steuerpräferenzen und Wertschöpfungszuschüsse sind als Instrumente für Absatz- und Investitionsanreize ernsthaft zu überprüfen.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Darüber reden wir schon zwei Jahre!)

— Natürlich muß man das überprüfen. Es ist unter Berücksichtigung der Rentabilität, der EG-Verträglichkeit, der Finanzierbarkeit usw. zu untersuchen, ob dem Hersteller, dem Abnehmer oder einer anderen Präferenz der Vorzug zu geben ist. Es muß ein erhöhter Anreiz für die Wertschöpfung und damit für die Beschäftigung in Ostdeutschland geschaffen werden — eine alte F.D.P.-Forderung.
Weil ein Programm mindestens zehn Punkte umfassen muß, empfehle ich — zehntens — weiterhin für die längst überfälligen Einsparungen immer wieder die Anwendung der Rasenmähermethode; denn mit punktuellen Kürzungen bekommen Sie das nicht bzw. nur unzureichend hin. Bei Kürzungen von 2 % wären das in Bund, Ländern und Kommunen die jetzt anvisierten 20 Milliarden DM.

(Zuruf von der SPD: Die Zahlen sind getürkt!)

Das gilt natürlich auch und gerade für den längst überfälligen Abbau von Dauersubventionen — ich betone: Dauersubventionen!

(Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.])

Die ganz offensichtlich notwendigen Einschnitte in Leistungsgesetze müssen durch ein Haushaltsstrukturgesetz gesichert werden. Ich glaube, das ist gerecht und effizient. Lassen Sie uns das bei der Fortschreibung des Solidarpakts gemeinsam machen!
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216309500
Nun spricht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1216309600
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Aufschwung und Erneuerung von Wirtschaft und Industrie in den jungen Ländern gehören zu den zentralen Voraussetzungen für das Zusammenwachsen der alten und der jungen Bundesländer. Von dem Gelingen dieses Zusammenwachsens hängt nicht nur die ökonomische, sondern auch die allgemeine politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland in der Zukunft ab.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin auch in Ansehung Ihrer Beiträge heute morgen außerordentlich unsicher, ob das wirklich erkannt worden ist; denn sonst wäre es wohl unverständlich, mit welcher Nachhaltigkeit sich insbesondere die SPD-regierten Länder bis hinein in die FKP-Verhandlungen verweigert haben, ihren angemessenen finanziellen Beitrag zum notwendigen Wiederaufbau der jungen Länder zu leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Frau Matthäus-Maier, an die ich mich wenden wollte, ist wieder weg.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie wird jeden Augenblick wieder erscheinen!)

— Gut, ich will sie noch mehrmals ansprechen. — Wir sind uns doch in einem Punkt völlig einig: Wir dürfen die Menschen in den jungen Ländern nicht enttäuschen. Das bedeutet vor allem die Erhaltung und Schaffung wettbewerbsfähiger industrieller Strukturen durch Sanierung und Privatisierung von Unternehmen. Das bedeutet die Schaffung von wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die neue Unternehmen und Arbeitsplätze gewährleisten.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung hat diesem Anliegen — das läßt sich doch gar nicht leugnen — bis zur Stunde in aller Konsequenz Rechnung getragen. Heute wissen wir: Die noch Ende 1990 von führenden Experten geäußerte Erwartung — das sagte übrigens ein Experte, der Ihr Parteibuch trug —, man könne mit einem Zuwachs des Vermögens von 600 Milliarden DM rechnen, war ein Irrtum. Vorher wollte uns die letzte DDR-Regierung unter Modrow gar wissen lassen, durch die Wiedervereinigung werde uns ein Vermögen von 1,4 Billionen DM, das sind 1 400 Milliarden DM, zuwachsen. Das haben wir nie geglaubt.
Wir haben, wie Herr Rexrodt eben gesagt hat, eine negative Bilanz zu beklagen. 40 Jahre SED-Regime und -Mißwirtschaft haben in der ehemaligen DDR katastrophale Erblasten hinterlassen. So lassen Sie mich im Nachgang zur Diskussion bis jetzt als erste Feststellung treffen: Die Verantwortung hierfür tragen die Befehlshaber der Kommandowirtschaft, die Protagonisten dieses Systems, und nicht wir, wie uns Herr Schumann und so manch anderer, übrigens auch Frau



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald Matthäus-Maier, heute morgen wissen lassen wollten.

(Beifall bei der F.D.P. — Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Der Kollege Schwanitz hat sie aber korrigiert!)

Im Gegensatz zu dem in 40 Jahren in Westdeutschland erreichten Wohlstand hat dieses System unsere Landsleute im Osten um 40 Jahre ihrer Lebensleistung betrogen. Die wirtschaftlichen Erblasten sind traurige Realität und nicht, wie es da eben beschönigend hieß, nur Legende. Sie bestehen aus einer in weiten Teilen zerrütteten, nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaft, die letztlich völlig neu aufgebaut werden muß, aus darniederliegenden öffentlichen Infrastrukturen, die den Erneuerungsprozeß im industriellen Bereich beträchtlich erschweren.
Die industriellen Kerne Ostdeutschlands waren durch die Fehlentwicklung der Kommandowirtschaft schwer geschädigt. Die Aufarbeitung des sozialistischen Erbes ist nicht von heute auf morgen zu bewältigen. Der Aufholprozeß in der Umstrukturierung dauert, wie wir heute wissen und wie doch keiner leugnet, länger, er ist schwieriger und wird auch teurer werden.
Die Ursache ist einfach zu erklären: Wir im Westen haben 40 Jahre lang mit Liberalisierung des Handels unsere Wirtschaft gezwungen, sich permanent dem Strukturwandel auf den internationalen Wettbewerbsmärkten anzupassen. Die ostdeutsche Wirtschaft dagegen war in diesem langen Zeitraum von den innovativen westlichen Wettbewerbsmärkten hermetisch abgeschottet.
Die Probleme waren nach der Wiedervereinigung zwar von Anfang an bekannt, aber eben nicht in der sich jetzt abzeichnenden Dimension. Nahezu täglich — die Kollegen aus dem Treuhandausschuß wissen das ja — kommen neue kranke Fälle ans Tageslicht.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Rexrodt hat das vorhin anders gesehen, das habe ich noch deutlich im Ohr!)

Die weltweit schwierige konjunkturelle Situation, die alle wichtigen Industrieländer und auch uns erfaßt, tut ein übriges, auch die Entwicklung in den Staaten der GUS, auf die Herr Rexrodt hingewiesen hat, die so nicht voraussehbar war. All das erschwert und verzögert den Anpassungsprozeß.
Vor diesem Hintergrund setzt der Bund für die Bewältigung der historischen Aufgabe des Zusammenwachsens der alten und der jungen Bundesländer massive öffentliche Hilfen ein. Diese sind notwendig, da die Menschen in den jungen Ländern in kürzester Zeit den Umstrukturierungsprozeß zu verkraften und zu gestalten haben.
Auch in Zukunft wird Beistand durch öffentliche Unterstützung der jungen Bundesländer nötig sein. Angesichts der wirtschaftlichen Lage unseres Landes müssen sich die finanziellen Hilfeleistungen aber am gesamtstaatlich Machbaren und Vertretbaren orientieren, um nicht die ökonomische Stabilität der gesamten Bundesrepublik und damit natürlich auch den
Erneuerungsprozeß der jungen Länder nachhaltig zu gefährden.
In diesem Umgestaltungsprozeß wurde der Treuhandanstalt eine ganz herausragende Rolle übertragen, indem sie nach ihrem gesetzlichen Auftrag die unternehmerische Tätigkeit des Staates zurückzuführen hat, die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen hat und Grund und Boden für wirtschaftliche Zwecke bereitzustellen hat.
Trotz der extrem schwierigen Rahmenbedingungen — die Treuhandanstalt wurde vor gerade 31/2 Jahren aus dem Nichts geschaffen und hat damals erst ihr operatives Geschäft beginnen können — haben wir seitens der Bundesregierung mit umfangreichen Fördermaßnahmen, die es in dieser Massivität, Qualität und Quantität noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat, versucht, zu diesem Erfolg beizutragen. An dieser Feststellung ändern auch die in der öffentlichen Kritik stehenden Einzelfälle nichts, denen man — das ist selbstverständlich, und das tun wir ja auch — mit großer Sorgfalt und Energie nachgehen muß.
Deswegen meine zweite Feststellung: Das insgesamt positive Bild der Treuhandanstalt darf durch auch noch so berechtigte Einzelfallkritik nicht verdunkelt werden; denn Politiker stehen gerade im Bereich der Treuhandanstalt in der Disziplin und in der Verantwortung. Dieser Verantwortung sind die teilweise sehr polemischen Diskussionsbeiträge von Herrn Schulz, von Frau Matthäus-Maier und von Herrn Schwanitz am heutigen Morgen nicht gerecht geworden.
Ich füge hinzu, Frau Matthäus-Maier: Wir fürchten einen Untersuchungsausschuß überhaupt nicht. Wir warnen nur vor einem Untersuchungsausschuß, weil wir der festen Überzeugung sind, daß wir damit — Kurt Faltlhauser hat ja auf die lähmenden Wirkungen in allen Bereichen hingewiesen — die Entwicklung in den jungen Ländern nachteilig beeinflussen und die Solidargemeinschaft der Steuerzahler noch mehr gefährden werden.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können den ja überflüssig machen, Herr Staatssekretär!)

Über die Erfolgszahlen ist hinreichend gesprochen worden.
Lassen Sie mich die dritte Feststellung treffen: Es war richtig, die Privatisierung so zu forcieren, wie wir es getan haben. Nach zehn Jahren guter Konjunktur im Westen wäre Privatisierung heute im Zeichen der Rezession ungleich schwieriger, wie wir gerade in diesen Tagen so leidvoll erfahren. Privatisierung ist die beste Form, Unternehmen zu dynamisieren und zu sanieren.
Aber auch die Sanierung wurde nicht vernachlässigt. Nur eine Zahl: Bis Ende 1993 wird die Treuhandanstalt allein 170 Milliarden DM für die Privatisierung und die Sanierung aufgewandt haben.
Die Treuhandanstalt muß ihre Privatisierungs- und Sanierungspolitik konsequent weiterverfolgen. Das ist der einzige Weg, die erforderliche Umstrukturie-



Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
rung und Modernisierung der Wirtschaft erfolgreich zu bewältigen. Nur so lassen sich Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen. Nach den großen Privatisierungserfolgen kann nunmehr durch die stärkere Konzentration der Kräfte noch mehr für den Erhalt der industriellen Kerne getan werden. Hierzu bedarf es keiner grundlegenden organisatorischen Veränderungen und schon gar keiner neuen gesetzlichen Regelungen. Es bedarf allerdings weiterer finanzieller Mittel und vor allem — dazu lade ich Sie herzlich ein — eines größeren politischen Konsenses über die industriellen Kerne.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Im Hinblick darauf hat die Treuhandanstalt als Ergebnis der Sozialpaktverhandlungen einen erweiterten Finanzrahmen bekommen.
Deswegen meine vierte Feststellung: Die Treuhandanstalt hat auch bei der Erhaltung industrieller Kerne schon Beachtliches erreicht. Unter großen finanziellen Opfern etwa bei den Werftstandorten oder bei — es wurde eben schon erwähnt — Zeiss Jena konnten wir solche Kerne erhalten. Wir sind dabei bis hart an die Grenzen des finanziell Vertretbaren herangegangen.
Die Absprache, zur Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne in den jungen Bundesländern sowie zur Beseitigung ökologischer Altlasten zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen, konnte nicht im Rahmen des bisher vorgesehenen Kreditvolumens von je 30 Milliarden DM in den Jahren 1993 und 1994 finanziert werden. Vielmehr wird es erforderlich werden, in diesen beiden Jahren von der im Treuhandkreditaufnahmegesetz vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, den Kreditrahmen um jährlich bis zu 8 Milliarden DM zu erweitern.
Für die Sicherung und Erhaltung industrieller Kerne werden im neuen Jahresplan 1993 der Treuhandanstalt — wir haben ihn gestern abend bis spät in die Nachtstunden miteinander behandelt — auf der Grundlage aktualisierter Pläne und Planungen auch in den einzelnen Unternehmungen zusätzlich noch einmal Finanzmittel in Höhe von 6,4 Milliarden DM bereitgestellt. Diese Mittel werden im wesentlichen für zusätzliche sinnvolle Investitionsmaßnahmen, zur weiteren bzw. erneuten Entschuldung und für sonstige Eigenkapitalmaßnahmen eingesetzt.
Das ist das Ergebnis einer neuen und sorgfältigen Planungsrunde. Die Treuhandanstalt wird durch diese zusätzlichen Mittel in die Lage versetzt, ihre operative Aufgabe bei der Privatisierung und Sanierung, wie vorgesehen, bis Ende 1994 zu erfüllen.
Hierbei wird die Treuhandanstalt wie bisher vertrauensvoll mit den für die Regional- und Strukturpolitik zuständigen jungen Ländern zusammenarbeiten, wobei die Entscheidungs- und Finanzverantwortung bei der Treuhandanstalt bleiben muß. Nicht jedes Unternehmen ist mit einem erhaltenswerten industriellen Kern gleichzusetzen. Angesprochen sind sanierungsfähige, derzeit allerdings nicht privatisierbare Unternehmen, die zum produzierenden Bereich gehören, über überregionale Märkte verfügen und damit regionalpolitisch bedeutsam sind.
Wir machen das zusammen mit den Ländern. Das Sachsen-Modell wurde erwähnt. Inzwischen sind mit den anderen fünf Ländern den unterschiedlichen Voraussetzungen und der Individualität im Föderalismus entsprechende Vereinbarungen getroffen worden.
Die Beteiligungsführung wird systematisch verbessert. Der heute wesentlich kleinere und überschaubare Beteiligungsbestand läßt dies im Unterschied zur Anfangsphase mit 12 000 Unternehmen und 42 000 Betriebsstätten auch zu.
Der Weg mit den Management-KGs ist richtig. Fünf, Herr Kuessner, haben wir. Im Nachgang zu der Diskussion gestern abend: Inzwischen sind exakt 69 Unternehmen in diesen fünf KGs untergebracht.
Aber wir müssen auch — darauf hat Herr Faltlhauser schon zu Recht hingewiesen — über geeignete andere Beteiligungs- und Gestaltungsformen nachdenken, wobei möglichst immer die Einbindung privaten Kapitals und insbesondere auch — daran mangelt es ja ganz besonders — privater Know-howGeber anzustreben ist,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

gerade für die schwierigen Fälle, die noch vor uns liegen, wie Maschinenbau, Stahlindustrie und Chemie.
Lassen Sie mich mit der fünften und letzten Feststellung schließen: Mit den Beschlüssen im Rahmen des FKP haben wir in der Hoffnung viel Geld nachgelegt, daß wir damit der ostdeutschen Wirtschaft weitere Impulse für den wichtigen Erneuerungsprozeß geben. Und deswegen lassen wir uns doch bitte die großen Erfolge nicht immer wieder zerreden! Demotivieren wir die, die daran arbeiten — weit über ihre dienstlichen Pflichten hinaus — nicht durch solche Diskussionen, sondern packen wir gemeinsam in die Räder!

(Widerspruch bei der SPD)

— Doch, der Demotivationsprozeß, Frau MatthäusMaier, ist schon weit fortgeschritten. Wir merken das auch im Personalschwund bei der Treuhandanstalt.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir demotivieren doch nicht! Das ist doch eine Unwahrheit! Das ist doch Unsinn!)

— Natürlich, durch solche Diskussionen, durch teilweise unrichtige Diskussionen. Ich denke nur — da müssen Sie mir zustimmen — etwa an die „Spiegel"-Berichterstattung in der letzten Woche über ein zweifellos kritisches Beispiel.
Mit solchen Methoden wird man nicht weiteres Kapital national und international akquirieren können. Und mit allzuviel ideologisch verbrämtem Schaum vor dem Mund wird man dann keine Interessenten für die Arbeit, unsere gemeinsame Arbeit der Treuhandanstalt, finden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Rolf Schwanitz [SPD]: Sie haben Demokratie noch nicht verstanden!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216309700
Als nächster spricht der Kollege Dr. Hermann Pohler.




Dr. Hermann Pohler (CDU):
Rede ID: ID1216309800
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte geht es um die Wirtschaftspolitik im vereinten Deutschland. Es geht um den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern. Nach über zwei Jahren der Herstellung der Einheit ist, meine ich, ein kritischer Punkt beim Strukturwandel im Osten Deutschlands erreicht.
Zu der Enttäuschung darüber, daß die tatsächliche Entwicklung im Osten hinter der erwarteten zurückbleibt, kommt Beunruhigung über die Höhe der Belastungen, die mit der wirtschaftlichen Integration Ostdeutschlands und ihrer Finanzierung verbunden sind. Weitere Besorgnis erweckt die weltweite Konjunkturschwäche, deren Auswirkungen die deutsche Wirtschaft erreicht haben.
Inzwischen hat sich gezeigt, daß die Schwierigkeiten und Hindernisse beim Aufbau in den jungen Bundesländern weit größer sind und weit mehr an Kraft, Zeit und Geld erfordern, als zunächst erkannt worden ist. Es muß jetzt darum gehen, Zeit und Geld effektiver als bisher einzusetzen und zu nutzen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Vieles ist bereits auf den Weg gebracht, manches erreicht worden. Bei der Verbesserung der Infrastruktur sind eindrucksvolle Fortschritte erzielt worden. Die Privatisierung der Unternehmen tritt jetzt in ihre Endphase. Der entscheidende Durchbruch steht jedoch noch aus. Die beste Voraussetzung für eine spürbare, rasche und deutliche Belebung der Wirtschaftstätigkeit im Osten Deutschlands ist eine breitgefächerte Privatwirtschaft, die sich auf einen einheimischen Mittelstand stützt und durch Industriebetriebe ergänzt wird. Auf dieses Ziel muß die Treuhandpolitik konsequent ausgerichtet sein.
Das ist auch der Inhalt des Antrages der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Er lautet: Klare Perspektiven für sanierungsfähige Treuhandunternehmen! Es muß immer wieder betont werden: Privatisierung und Sanierung sind kein Gegensatz; sie ergänzen einander. Zur Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne müssen aber angesichts der wirtschaftlichen Lage Deutschlands und des damit verbundenen reduzierten Interesses von Investoren im Bereich der Sanierung zusätzliche Anstrengungen unternommen werden. Darüber ist in den Solidarpaktverhandlungen Einigkeit erzielt worden.
Mit diesem Ziel wird der Kreditrahmen der Treuhandanstalt erweitert. Wichtig ist auch die Maßgabe, sinnvolle Sanierungsmaßnahmen von Treuhandunternehmen nicht an der Finanzierung scheitern zu lassen. Es gibt noch zahlreiche Unternehmen des produzierenden Gewerbes im Besitz der Treuhandanstalt, bei denen zwar nicht rasch, aber doch längerfristig Aussicht auf Privatisierung besteht. Für diese Unternehmen müssen Sanierungs- und Privatisierungskonzepte entwickelt und umgesetzt werden. Dies kann nur im Zusammenwirken mit den betroffenen Bundesländern erfolgen. Die Entscheidungen während der Sanierungsphase müssen dabei so weit wie möglich vor Ort in die betroffenen Betriebe und Unternehmen verlagert werden.
Mit unserem Antrag beabsichtigen wir im wesentlichen, daß für die als sanierungsfähig erachteten
Unternehmen integrierte Sanierungs- und Privatisierungskonzepte durch die Unternehmen aufgestellt werden. Das Konzept muß insbesondere folgende Angaben erhalten: über die notwendigen investiven und organisatorischen Maßnahmen, über die dafür erforderlichen Finanzmittel und deren zeitliche Staffelung, über die Beschäftigungsentwicklung, zum Produkt und seinen Märkten sowie über Ertrags- und Kostenstruktur des Unternehmens.
Die Treuhandanstalt bestätigt das Konzept nach entsprechender Prüfung, wobei es eine Selbstverständlichkeit sein muß, daß die Länder in die Prüfung und die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Bei der Beurteilung kommt es nicht auf die gegenwärtige konjunkturelle Lage an; entscheidend sind die mittelfristigen Aussichten.
Die Sanierung darf auch nicht daran scheitern, daß die zur Umstrukturierung bemessene Zeit zu knapp ist. Auch die Möglichkeiten der Ausgründung von Unternehmensstellen sind in Betracht zu ziehen, und angemessene Kapazitäten für Forschung und Entwicklung müssen vorgehalten werden. Nur so kann es echte Perspektiven für zukunftsträchtige Industrien geben.
Die Treuhand soll danach die erforderlichen Mittel nach einem festgelegten Zeitplan zur Verfügung stellen. Gibt man außerdem dem betrieblichen Management die Möglichkeit, im Rahmen des bestätigten Konzeptes eigenständig zu entscheiden, so wird erreicht, daß das Unternehmen — betriebswirtschaftlich gesehen — einem bereits privatisierten Unternehmen soweit wie möglich gleichgestellt wird. Das ist die Chance des Unternehmens, seine Sanierungswürdigkeit unter Beweis zu stellen und damit die Privatisierungsmöglichkeit zu verbessern.
Während der Sanierungsphase beschränkt sich die Aufgabe des Eigentümers, also der Treuhandanstalt, auf eine den Sanierungsfortschritt begleitende Ergebnis- und Erfolgskontrolle.
Entscheidend für den Bestand und das Überleben eines Unternehmens ist eine effiziente Unternehmensführung. Diese kann nur durch Verbesserung des Managements und eine sachgerechte Begleitung der Sanierungsmaßnahmen erfolgen.
Der Grundsatz, daß Entscheidungsverantwortung und Finanzverantwortung untrennbar sind, gilt dabei auch weiterhin. Deshalb soll nach den ersten Erfahrungen mit Management-KGs dieser Weg zügig weiterentwickelt und durch andere geeignete Formen, z. B. Beteiligungsgesellschaften auf privater Basis, ergänzt werden.
Die Treuhandanstalt selbst kann nicht Unternehmen führen. Wenn irgend möglich, sollte die industrielle Führung auch bei nur geringer Kapitalbeteiligung von privaten Unternehmern einer privaten Management-Gesellschaft übertragen werden. Hier muß gerade in der jetzigen schwierigen Situation neu nachgedacht werden.
Für den Geschäftsführer eines unter Treuhandverwaltung befindlichen Betriebes macht es einen Unterschied, ob er je nach Größe des Unternehmens ein beträchtliches Gehalt verdient oder ob sich seine

Dr. Hermann Pohler
Vergütung nach seinen Erfolgen zu richten hat. Die Treuhandanstalt hat durch ihre Geschäftsführerverträge und die Gewährung von 25- bis 50%igem Bonusanteil des Grundgehalts erste Schritte in dieser Richtung eingeleitet.

(Holger Bartsch [SPD]: Das ist eine einzige Lobhudelei auf die Treuhand!)

Auch die Möglichkeit der Herabstufung eines Geschäftsführers im Falle eines Mißerfolges ist ein positives Signal für unternehmerische Appelle. Wirkliches unternehmerisches Risiko kann nur bedeuten, daß sowohl Erfolg als auch Mißerfolg sich finanziell spürbar auswirken müssen.
Es kommt mir also darauf an, dem Management der Betriebe bei Übernahme der Verantwortung möglichst viel Freiraum für eigenverantwortliches Handeln einzuräumen; denn letztlich werden nur solche Unternehmen bestehen, die ohne Dauersubventionen wettbewerbsfähig sind und ihren Platz auf dem Markt behaupten.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216309900
Nun spricht der Kollege Christian Müller.

Christian Müller (SPD):
Rede ID: ID1216310000
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem Herbst des vorigen Jahres geistert dieses schöne Wort von den industriellen Kernen durch die öffentliche Debatte. Jeder bekennt sich zu deren Erhalt. Aber es ist doch wohl nicht zu erkennen, daß es völlig übereinstimmende Ansichten zu diesem Thema in den neuen Bundesländern und zwischen ihnen und der Bundesregierung gibt.
Dabei war es spätestens zu diesem Zeitpunkt völlig klar, daß die ostdeutsche Wirtschaft insgesamt mehr Unterstützung benötigte, wenn das Fiasko der Deindustrialisierung wenigstens noch begrenzt werden soll. Die damit verbundenen Zahlen der Arbeitslosen sind heute hier mehrfach genannt worden.
Wollen wir uns da im Ernst wundern, wenn 3,5 Millionen mehr oder weniger direkt betroffener Menschen in Ostdeutschland in einer solchen Lage, die für den einzelnen bedeuten kann, nie wieder eine reguläre Arbeit ausüben zu können, sich von allem, besonders von der Politik, einfach abwenden oder dazu neigen, denen hinterherzulaufen, die deutsche Arbeitsplätze für deutsche Menschen als die vermutlich einfachste Lösung anbieten?

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir weitere Katastrophen vermeiden wollen, müssen wir den Menschen unseres Landes, gleichgültig, ob im Osten oder im Westen, die in einer solchen Situation sind, eine Perspektive bieten. Dies bedeutet vor allem, der ostdeutschen Wirtschaft eine bessere Chance zu geben, sich in der Marktwirtschaft zu behaupten.
Aus unserer Sicht gab es dabei drei Problembereiche, vordringlich zu handeln. Danach ist vorhin schon von Herrn Haungs gefragt worden. Erstens ist schon seit längerer Zeit klar, daß die bereits privatisierten
Unternehmen Unterstützung benötigen. Zweitens waren Vorschläge zu einer praktikablen Lösung für vorerst nicht privatisierbare Treuhandbetriebe zu finden. Drittens ging es um das wahrhaftig nicht einfache Problem des Osthandels.
Unsere drei Lösungsansätze und -angebote dafür sind im Zusammenhang zu sehen und haben in unmittelbarer Weise etwas damit zu tun, wie regionale industrielle Kerne gehalten und entwickelt werden können. Seit Monaten liegen unsere Vorschläge dazu in Form von Anträgen hier vor. Ebenso lange drängen wir darauf, diese in einer angemessenen Debatte zu behandeln.
Das Ergebnis dieser Bemühungen haben wir heute vor uns. In reichlich zehn Minuten sollen drei Anträge — eigentlich sogar ein weiterer, der sinnvollerweise darauf zielt, mit Hilfe von ERP-Krediten mehr Konkurrenz in die ostdeutsche Presselandschaft hineinzubringen — abgehandelt werden. Die Beratungen in den Ausschüssen werden sich dann vermutlich bis in den Herbst hinein erstrecken, und am Ende dieses schönen und gemächlichen Prozesses wird dann festgestellt werden, daß die eingetretenen Umstände längst andere sind, so daß schon aus diesem Grunde die Aktualität unserer Anträge nicht mehr gegeben ist.
Oder liegt es vielleicht daran, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Ihre Willensbildung zum Thema der industriellen Kerne erst jetzt abgeschlossen ist?

(Beifall bei der SPD)

Dies wäre dann angesichts der Dringlichkeit dieses Problems ziemlich fatal. Die Tatsache, daß Ihr Antrag zu den sanierungsfähigen Treuhandunternehmen bis gestern nicht einmal eine Drucksachennummer hatte, spricht jedenfalls dafür.

(Beifall bei der SPD)

Im einzelnen schlagen wir erstens vor, mit Hilfe von Überbrückungs- und Modernisierungsdarlehen als einer zeitlich begrenzten Wettbewerbshilfe zur Erschließung neuer Märkte den Industrieunternehmen in den neuen Bundesländern zu helfen.

(Beifall des Abg. Hinrich Kuessner [SPD])

Ich hoffe, Konsens besteht wenigstens darüber, daß die bereits privatisierten Unternehmen in der nun weitgehend mittelständischen Struktur Ostdeutschlands mit erheblichen Standort- und Wettbewerbsnachteilen zu kämpfen haben, die ihr Überleben nachhaltig gefährden. Aus unserer Sicht muß daher ein Nachteilsausgleich durch eine Entlastung der laufenden Produktion als Ergänzung zu den investitionsbezogenen Fördermaßnahmen für Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes mit Sitz in den neuen Bundesländern geschaffen werden.
Da wir uns entschlossen haben, dafür ein degressiv gestaltetes, zinsverbilligtes Kreditprogramm für die Jahre 1993 bis 1995 vorzuschlagen, so liegt damit wohl ein relativ einfach zu handhabender Ansatz vor, der ein Unternehmen dann begünstigt, wenn es gegenüber der Kreditanstalt für Wiederaufbau einen dringlichen Finanzbedarf und ein dazu gehörendes



Christian Müller (Zittau)

Erneuerungskonzept für seine Produktionsanlagen nachweisen kann.
Im letzten Herbst hatten auch wir uns sehr intensiv mit den Möglichkeiten einer Einführung der vielfach diskutierten Wertschöpfungszulage beschäftigt und einen entsprechenden Antrag vorbereitet und beraten, wobei neben den unübersehbaren Vorteilen natürlich auch die Gewichtung der Mißbrauchsmöglichkeiten eine Rolle spielte. Wir haben letztlich nur deshalb davon wieder Abstand genommen, weil uns Finanzverwaltungen aus den neuen Ländern signalisierten, daß die Handhabung dieses steuerbezogenen Instruments gegenwärtig zu kompliziert sei.
Abschließend ist dazu jedenfalls zu bemerken, daß das von uns vorgeschlagene Kreditprogramm weitestgehend durch Steuermehreinnahmen finanziert werden könnte, wenn Sonderabschreibungen nach dem Steueränderungsgesetz von 1991 auf den Bereich des produzierenden Gewerbes beschränkt würden.
Vor allem aber muß Zeit zur Verfügung gestellt werden, um die industriellen Kerne umstrukturieren und modernisieren zu können. Dabei halten wir es ebenso wie die meisten ostdeutschen Länder für sinnvoll, dieses Problem von einem regionalen Ansatz her anzugehen. Selbst wenn dabei sofort ein Konfliktfeld sichtbar wird, das darin besteht, daß der Bund befürchten könnte, mittels der Treuhandanstalt die Regionalpolitik der Länder zusätzlich zu finanzieren, gibt es dazu kaum eine Alternative.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wenn gilt, daß eine konzeptionell aufgebaute aktive Sanierung, auf deren Beginn wir bisher in vielen als sanierungsfähig eingestuften Unternehmen vergeblich gewartet haben, nicht zu pauschalen Bestandsgarantien und Dauersubventionen führen darf, ist die Auswahl von Unternehmen nach regionalen Kriterien deshalb erforderlich, weil davon ganz einfach das Überleben einer Region abhängt.

(Rolf Schwanitz [SPD]: Sehr richtig!)

Industrielle Kerne sind in diesem Zusammenhang also alle Unternehmen, deren Konzepte mittelfristig ein Erreichen der Wettbewerbsfähigkeit erwarten lassen. Dies kann auch für sehr kleine Unternehmen zutreffen.
Daher muß — zweitens — die Hängepartie zwischen Sanierung und Privatisierung für die restlichen Treuhandunternehmen schnellstens ein Ende haben; denn es droht angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation die ernste Gefahr, daß am Ende dieses Jahres nicht mehr viel zu sanieren übrig ist.
Angesichts der fortschreitenden Entindustrialisierung waren wir schon zu Beginn des Jahres der Auffassung, daß bis zum Sommer einige Notmaßnahmen unerläßlich sind, um bis zum Greifen aktiver Sanierungskonzepte den Bestand an Unternehmen zu halten. Diese finden Sie in unserem Antrag.
Inzwischen ist der Sommer herangerückt, und es ist sogar die Chance verspielt, zum richtigen Zeitpunkt über diese Vorschläge diskutieren und entscheiden zu können.
Der Kern unseres Vorschlags zur Behandlung der jetzt nicht privatisierbaren Unternehmen mit bestätigten Sanierungskonzepten besteht aber darin, diese spätestens 1994 in zu gründende Holdings zu überführen, die, in erster Linie für die Funktionen Finanzierung und Kontrolle zuständig, in den Bereichen Recht, Personal, Forschung und Marketing beratend tätig sein sollen. Wir haben diese nach Synergieeffekten zu gründenden Holdings Industriegesellschaften genannt.
Eigentümer sollen der Bund und die Länder sein. Arbeitnehmerbeteiligungsmodelle und Kapitalbeteiligung des Managements wären sinnvolle Ergänzungen. Wir können uns jedenfalls auch vorstellen, zur schnelleren Privatisierung der Industriegesellschaften Volksaktien zu ganz bestimmten Bedingungen auszugeben. Neben allen Problemen sehen wir darin nicht unerhebliche psychologische Effekte für die Herstellung der inneren Einheit.
Über die Grundsätze zur Führung der Tochterunternehmen und über weitere Einzelheiten wird ja wohl noch zu reden sein. Wichtig ist uns, daß die Tochterunternehmen der Industriegesellschaften selbständig und eigenverantwortlich auf der Grundlage ihres bestätigten Konzepts, also, wie auch Sie sehr richtig gesagt haben, mit weit gefaßtem Handlungsrahmen und privatisierten Unternehmen weitgehend gleichgestellt agieren können. Wozu man dazu allerdings noch die Treuhandanstalt braucht, weiß ich nicht.
Eine fünfjährige Frist für die aktive Sanierung halten wir im Gegensatz zu Ihnen, die Sie von einem Jahr oder zwei Jahren ausgehen, angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe für notwendig. Danach ist entweder ein wettbewerbsfähiges Unternehmen entstanden, oder es ist über seine Liquidation zu befinden. Wenn ich es richtig sehe, lehnt sich Ihr nun endlich vorliegender Antrag, meine Damen und Herren, sehr an unser Konzept an.

(Rolf Schwanitz [SPD]: So ist es!)

Es ist klar, daß alle zuvor diskutierten Ansätze und Hilfen für die ostdeutschen Unternehmen nur im Spannungsfeld zwischen der Erschließung westlicher Märkte, der innerdeutschen ebenso wie der internationalen, und der Erschließung bzw. Überbrückung des Osthandels gesehen werden können. Die Lösung des ersten Teils dieser Aufgabe erfordert Zeit und ist auf mittlere Sicht zu bewältigen, so daß die Stützung des Osthandels Voraussetzung dafür ist.
Andererseits ist der Erhalt eines angemessenen Anteils an Ostmärkten und dessen Ausbau auf längere Sicht von großer Bedeutung. Wer die östlichen Märkte aufgibt, wird erleben, daß sie von anderen besetzt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In diesem Zusammenhang sollte auch daran gedacht werden, daß in einer Zeit sehr enger westlicher Märkte, die nur mit großem Aufwand und im Verdrängungswettbewerb erobert werden können, der Osthandel auch einen nicht unwesentlichen Schutz für die Existenz westdeutscher Unternehmen darstellt.



Christian Müller (Zittau)

Unser Antrag dazu ist in vielen Gesprächen diskutiert worden und wurde allgemein begrüßt. Die vorgeschlagenen Hilfen zur Erschließung von Westmärkten sind auch dann noch notwendig und sinnvoll, wenn es um unsere vorgeschlagenen Tochterunternehmen und ihre künftige Arbeit geht. Besonders am Beispiel der DWA, die sich in dem oben beschriebenen Spannungsfeld bewegt, wird deutlich, welchen Stellenwert die Fortführung des Hermes-Plafonds in den nächsten Jahren hat. GUS-Verträge für 1994 liegen vor, eine entsprechende Einordnung auf russischer Seite ebenso. Spätestens in vier Wochen muß die technologische Vorbereitung dafür beginnen, daß man im Jahre 1994 produzieren kann. Also ist Planungssicherheit hinsichtlich Hermes erforderlich.

(Beifall bei der SPD)

Über die Ausgleichsfonds werden wir im Ausschuß noch reden.
Wenn man bedenkt, daß die Treuhandanstalt mit entsprechenden Beauftragten immerhin begonnen hat, die Geschäftsfelder für Gegengeschäfte und Joint Ventures zu erschließen, sind mit dem Blick auf das bevorstehende Ende ihrer operativen Tätigkeit Weiterführung und erheblicher Ausbau dieser Form von Handelsentwicklung sinnvoll und nötig. Darauf zielen unsere Handelsentwicklungsgesellschaften. Folgen Sie doch unserem sinnvollen Ansatz!

(Beifall bei der SPD)

Wir haben nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir bringen einen vernünftigen Transfer von Waren mit unseren östlichen Nachbarn zustande, der zu wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilisierung in diesen Ländern führt, oder wir werden in Kauf nehmen müssen, daß wir unter dem zunehmenden Transfer von Menschen zu leiden haben werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216310100
Es spricht der Kollege Josef Hollerith.

(Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ CSU]: Ein kompetenter Mann!)


Josef Hollerith (CSU):
Rede ID: ID1216310200
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erblasten des SED-Unrechtsregimes, über die wir heute debattieren, sind so umfassend, daß ich in der mir zur Verfügung stehenden Redezeit nur einen Ausschnitt zeigen kann.
40 Jahre SED-Unrechtsregime weisen eine katastrophale Bilanz auf. Verursacher der Mißwirtschaft in weiten Bereichen des staatlichen Lebens war das SED-Regime. Dieses Regime hat ruinöse Stadtbilder, ein völlig veraltetes Telefon- und Verkehrsnetz, Umweltzerstörungen größten Ausmaßes und eine zerrüttete Wirtschaft hinterlassen und zu verantworten. Für die Menschen in den jungen Bundesländern sind die persönlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser 40jährigen SED-Unrechtsherrschaft sehr groß. Die Spuren, die vier Jahrzehnte SED-Herrschaft in allen Bereichen öffentlichen und privaten Lebens hinterlassen haben, sind tief.
Die Beseitigung all dieser Erblasten wird länger dauern, als ursprünglich und allgemein zu erwarten war. Der Weg zur inneren Einheit ist noch lang. Die Menschen in den jungen Bundesländern haben in kürzester Zeit einen Umstrukturierungsprozeß zu verkraften und zu gestalten, der in den alten Bundesländern über 40 Jahre unter demokratischen und marktwirtschaftlichen und damit unter gänzlich anderen Bedingungen verlief. Sie müssen sich auf eine Ordnung umstellen, die die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bis dahin nicht gekannt hat und deren Funktionsmechanismen sie niemals erlebt hat. Die Integration bedurfte und bedarf ungewöhnlicher Anstrengung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auf wirtschaftlichem Gebiet hat die Umstellung der ostdeutschen Wirtschaft von der sozialistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft die verheerenden Resultate 40jähriger SED-Mißwirtschaft offengelegt. Die in der Endzeit der DDR von der Substanz lebende Industrie wies in manchen Industriebereichen Produktionsverluste von weit über 70 % der ehemaligen Wertschöpfung auf. Das ist kurz und knapp gesagt das Ergebnis 40jähriger sozialistischer Plan- und damit Mißwirtschaft.
Die finanziellen Erblasten des SED-Unrechtsregimes sind höher, als alle erwartet haben. Die Zahlen, die vorliegen, zeigen, wie erdrückend die Erblasten sind. Bei der Treuhandanstalt werden nach heutigem Erkenntnisstand Gesamtschulden von weit mehr als 250 Milliarden DM auflaufen. Der Kreditabwicklungsfonds wird ohne mögliche Verpflichtungen des Bundes aus der Gewährträgerhaftung für die Staatsbank Berlin rund 140 Milliarden DM zu tragen haben. In der Wohnungswirtschaft ist eine Schuldenbelastung von rund 58 Milliarden DM zu bewältigen.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Zinsen!)

Inklusive Zinsen. Der finanzielle Aufwand zur Beseitigung der ökologischen Altlasten läßt sich insgesamt noch nicht beziffern. Er wird ebenfalls ungeheuer hoch sein. Allein aus dem ehemaligen Uranabbau der Wismut AG werden sich die Kosten auf rund 13 Milliarden DM belaufen.
Der Bund hat umfangreiche Leistungen in allen Bereichen für die jungen Bundesländer erbracht. Hier könnten sich die SPD-regierten Länder ein Beispiel nehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU: Die sind an dem Thema nicht interessiert!)

In den Jahren 1991 und 1992 beliefen sich allein die Ausgaben des Bundes für die jungen Bundesländer auf rund 160 Milliarden DM.
Umfangreiche Maßnahmen hat die Bundesregierung auch zur Erneuerung und Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft in Kraft gesetzt. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Hilfen zur bilanziellen und finanziellen Sicherung der Unternehmen als Voraussetzung für deren Überleben und Bestehen im Wettbewerb, zur Modernisierung des Produktivkapi-



Josef Hollerith
tais und zur Kostenreduktion, Maßnahmen zur Investitionsförderung z. B. Investitionszulage, Sonderabschreibungen, Eigenkapitalhilfeprogramm, ERP-Programme, Aussetzung von Gewerbekapital- und Vermögensteuer.
Zur Bewältigung der Absatzschwierigkeiten und der notwendigen Umstellung auf Westmärkte mit realer Zukunftsperspektive wird die Absatzförderung z. B. durch Unterstützung von Lizenzproduktionen, Partnerschaften bei Marketing und Vertrieb sowie durch die verstärkte Vergabe öffentlicher Aufträge an Betriebe in den jungen Bundesländern verbessert. Zur Lösung der dringendsten Managementprobleme in den Unternehmen und Betrieben erfolgen Beratungshilfen und Managementunterstützung bei der Umsetzung von Unternehmenskonzepten.
Bei der Bewältigung der historischen Aufgabe des Zusammenwachsens der alten und der jungen Bundesländer ist jede Form des Kleinmuts, der Polemik oder gar der Agitation, die von seiten der SPD heute zu hören war, unangebracht. Auch in Zukunft wird Beistand durch massive öffentliche Unterstützung in den jungen Bundesländern nötig sein.
Angesichts der wirtschaftlichen Lage unseres Landes müssen sich aber die finanziellen Hilfeleistungen am gesamtstaatlich Machbaren und Verkraftbaren orientieren, um nicht die ökonomische Stabilität der gesamten Bundesrepublik nachhaltig zu gefährden.
Erblasten eines Unrechtsregimes lassen sich aber nicht nur in Zahlen ausdrücken. Die Unrechtstaten und Menschenrechtsverletzungen der SED-Diktatur können nicht ungeschehen gemacht werden. Niemand kann die Schäden und Leiden wirklich wiedergutmachen, die den Opfern durch kommunistische Gewaltherrschaft zugefügt wurden.
Wir haben aber alles darangesetzt, den Opfern wenigstens einen finanziellen Ausgleich zukommen zu lassen. Mit den Gesetzen zur Bereinigung des SED-Unrechts haben wir Rehabilitierung und Entschädigung für diejenigen geregelt, die rechtsstaatswidrig verurteilt oder in psychiatrische Anstalten eingewiesen wurden. Auch das Stasi-Unterlagengesetz ist ein wichtiger Meilenstein für die Aufarbeitung und Bewältigung des SED-Unrechts. Mehr als 1,4 Millionen eingegangene Anträge mit Auskunfts- und Überprüfungsbegehren zeigen die Bedeutung, die dieses Gesetz hat. Ich meine, wir haben viel getan und vieles auf den Weg gebracht. Die Probleme und Schwierigkeiten bei der Herstellung wirklicher und innerer Einheit sind uns sehr wohl bewußt.
Mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Bewältigung der Erblasten fordern wir die Bundesregierung auf, die bisherigen Maßnahmen und Programme, die erfolgreich sind, fortzusetzen. Uns ist bewußt, daß es weiterer immenser Anstrengungen bedarf. Inhalt unseres Antrages ist daher: Im Verwaltungsablauf muß zügiger und straffer agiert werden. Unabdingbare Voraussetzung für die Sanierung und das Entstehen wettbewerbsfähiger Unternehmen, Betriebe und Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern muß die Fortsetzung des marktwirtschaftlichen Strukturwandels bleiben. Bestandsgarantien für Unternehmen und Arbeitsplätze kann es daher nicht geben.
Machen wir uns nichts vor, meine Damen und Herren: Bei der Arbeit der Treuhandanstalt kann Kritik nicht ausbleiben, können Fehler nicht ausbleiben. Allerdings gebietet es der Anstand, dies gerecht zu werten und zu würdigen, und bei einer gerechten Würdigung und Wertung der Arbeit der Treuhandanstalt, die auch die Schwierigkeit der Aufgabe, die Kürze der Zeit und die Vielzahl der Anträge berücksichtigt, muß am Ende das Wort Erfolg stehen. Alles andere, meine sehr verehrten Kollegen von der SPD, wäre ein nicht anständiges Verhalten gegenüber den Menschen, die diese schwierige Arbeit in der Treuhandanstalt tagtäglich leisten,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und es wäre auch eine ungerechte Wertung dieser Arbeit.

(Zuruf von der SPD: Dann muß man aber auch die Dinge im Osten sehen!)

Wir sind uns alle einig, daß die Fehler,

(Zuruf von der SPD: Die gibt es auch, und das ist die größere Zahl!)

die gemacht worden sind — wo Menschen arbeiten, werden Fehler gemacht —, lückenlos aufgeklärt werden müssen. Ich bin sehr zuversichtlich und sicher, daß dies durch das Bundesministerium der Finanzen geleistet werden kann und geleistet wird.
Die Bilanz der Treuhandanstalt in den Zahlen der Privatisierung — sie sind genannt worden — ist erfolgreich. Von ursprünglich 12 800 Betrieben befinden sich nur noch 2 000 Unternehmen im Bestand der Treuhand. Durch die Privatisierungen sind 1,4 Millionen Arbeitsplätze gesichert und ist ein Investitionsvolumen von über 175 Milliarden DM zugesagt.
Wir sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf gutem Wege, zukunftsfähige Industrien — ich denke z. B. an die Gentechnik —, die echte Chancen und Perspektiven für sichere Arbeitsplätze für die Zukunft bieten, zu gewinnen. Allerdings werden wir in den alten Ländern unseren materiellen Standard zugunsten der neuen Länder ein klein wenig reduzieren müssen, und wir werden mehr arbeiten müssen, um diese Aufgaben zu bewältigen. Ich bin aber sicher, daß wir diese Leistung bewältigen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin auch sicher, daß die Menschen in den neuen Ländern wie in den alten Ländern erkennen, daß die Angebote der SPD keine sachlichen Lösungen enthalten, sondern daß sie allein Polemik sind, um vielleicht den einen oder anderen Wähler damit zu fangen. Ich bin sicher, die Menschen durchschauen dieses Spiel und werden im Jahr 1994 richtig entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch und Lachen bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216310300
Nun spricht der Kollege Hinrich Kuessner.

Hinrich Kuessner (SPD):
Rede ID: ID1216310400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Früher hätte man in einer solchen Situation wirtschaftspolitisch gehandelt; ge-



Hinrich Kuessner
genwärtig schaut die Politik nur zu!" So Dr. HansJürgen Zechlin, Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau, nachzulesen im Handelsblatt vom 8. Juni. Ich denke, das ist eine treffende Analyse bundesdeutscher Regierungspolitik.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Wir haben einen wortreichen Wirtschaftsminister. Er spricht eigentlich alles an; aber ein Mann der Tat ist er nicht.
Für die Umstrukturierung der Wirtschaft in Ostdeutschland ist er allerdings nicht der Hauptverantwortliche, jedenfalls nicht für die Treuhandanstalt. Das ist Aufgabe des Finanzministers. Dieser scheint sich seinem Aufgabengebiet erst gar nicht stellen zu wollen. Ich höre nur sehr, sehr selten, daß er sich vor Ort mit den Problemen auseinandersetzt, und ich stelle auch fest, daß er bei dieser Debatte keine Minute anwesend war.
Die Bundesregierung läutet ihre Aktivitäten in Ostdeutschland in der Regel mit markanten Worten ein. 1990 sprach der Kanzler von den blühenden Landschaften, 1992 prägte er das Wort von den industriellen Kernen. Im sogenannten Solidarpakt wurden dann die Sicherung und Erneuerung der industriellen Kerne und eine Absatzförderung vereinbart. Getan wurde aber nichts.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nun, nun!)

Im letzten Jahr gab es einen Ansatz für die Sanierung von Treuhandunternehmen. Meine Hoffnung war auch, daß es ein positiver Ansatz wird. Dem Verwaltungsrat der Treuhandanstalt lag Anfang des Jahres ein Papier zur Beratung vor, daß 1992 elf Management-KGs gebildet werden. Aber auch hier hat das Bundesfinanzministerium geblockt und die Genehmigung für die Bildung dieser ManagementKGs hinausgezögert. Schließlich wurden im letzten Jahr statt der elf nur zwei gebildet. Gestern hörten wir im Treuhandausschuß, daß die Presseerklärung der Treuhand, daß am 1. Mai 1993 weitere drei Management-KGs gebildet sind, nicht zutrifft. Die Bildung dieser drei Management-KGs ist noch immer nicht abgeschlossen.

(Dr. Konrad Elmer [SPD]: Unglaublich!)

Jetzt kommt die Koalition mit einem Antrag unter der Überschrift „Klare Perspektiven für sanierungsfähige Treuhandunternehmen". Unser Antrag mit der gleichen Tendenz und vielen gemeinsamen Gedanken liegt seit März 1993 vor. Wer dies wirklich wollte, hätte spätestens damals aktiv werden müssen; denn schon im März 1992 hatten wir eine Änderung des Treuhandgesetzes vorgeschlagen, damit die Sanierung von der Treuhand offensiver betrieben wird. Die Treuhandanstalt kann natürlich nur das machen, was der Gesetzgeber vorgibt, und die Koalition wollte nicht, daß sich die Privatisierung in die Sanierung einordnen muß, und damit haben wir das, was wir jetzt erleben.
Ich werde den Eindruck nicht los, daß dieser jetzige Antrag der Koalition wieder nur ein verbales Feigenblatt ist, damit man sich vor den Wählern in Ostdeutschland sehen lassen kann.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Aber wir können uns eigentlich auch so sehen lassen!)

Die zweite und dritte Lesung dieses Antrages wird erst irgendwann im Herbst erfolgen. Die Bundesregierung forciert die Privatisierung inzwischen so stark, daß fast nichts mehr übrigbleibt.
Wenn man einmal ganz genau in Ihren heutigen Antrag guckt, dann muß man sich schon wundern: Auf Seite 5 steht, daß Sie sich jetzt von der Treuhandanstalt ein Konzept zur Sicherung und Erneuerung industrieller Kerne in den neuen Ländern vorlegen lassen wollen. Das wollen Sie heute fordern. Wir haben gemeinsam beschlossen, daß am 21. Juni die Bundesregierung das vorlegen soll. Was soll dann dieser Antrag?

(Zuruf von der SPD: Das haben die vergessen! Das ist noch nicht durchgedrungen! — Zuruf von der CDU/CSU: Und die Länder? Was machen die Länder?)

Die überhastete Privatisierung ist nicht daran orientiert, wirtschaftliche Neuansätze in Ostdeutschland entstehen zu lassen. Es geht vor allem um das schnelle Ende des operativen Geschäftes der Treuhandanstalt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dann kommen Sie mal nach Thüringen!)

Das Thema Sanierung ist dann erledigt. Belegt wird dies auch dadurch, wie mit dem Forschungspotential in den neuen Ländern umgegangen worden ist und wie mit ihm noch immer umgegangen wird. Es ist schon bitter, mitansehen zu müssen, wie die innere Einheit Deutschlands von dieser Regierung mißgestaltet wird. Was mich besonders empört, ist, daß die Bundesregierung nicht berücksichtigt, daß es in den neuen Ländern auch fähige Menschen gibt, die ihre Sache selbst in die Hand nehmen wollen und das auch können.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Fürsorge dieser Bundesregierung und ihrer Treuhandanstalt geht so weit, daß man Ostdeutsche vor dem unternehmerischen Risiko bewahren will.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!)

Man verkauft ihnen nur sehr selten — denken Sie an die Kritik, die wir im Ausschuß oft üben — und nach großem Zögern Gebäude, Grundstücke und Unternehmen. Ich könnte Ihnen Beispiele erzählen. Ich habe jemanden zwei Jahre begleitet, damit er endlich eine Gastwirtschaft kaufen kann.

(Zustimmung bei der SPD)

Weil er Ostdeutscher war, dauerte und dauerte das.
Völlig überrascht stellte selbst der Zentralverband des Deutschen Handwerks in Bonn fest, daß in Handwerksbetrieben 290 000 Menschen mehr arbeiten, als man bisher angenommen hat. Handwerk ist die Domäne Einheimischer. Wie kommt es, daß Ostdeut-



Hinrich Kuessner
sche es hier packen? Können sie vielleicht doch in der Marktwirtschaft bestehen?

(Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Das ist doch keine ernsthafte Frage!)

Kürzlich sagten mir Vertreter des Vorstandes des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau von Sachsen und Thüringen, das es noch immer Menschen in Treuhandbetrieben gibt, die ihren Betrieb selbst in die Hand nehmen wollen und das auch können. Aber die Treuhandanstalt verhindert dies mit allen Mitteln.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das halte ich für ein Gerücht!)

Wir können diese Herren gern mal in den Ausschuß einladen; das werde ich heute auch im Obleutegespräch vorschlagen. Dann können wir mit ihnen direkt das Gespräch führen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie einmal zu uns nach Thüringen! Da sieht es ein bißchen anders aus!)

— Gerne.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216310500
Herr Kollege Kuessner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Arnulf Kriedner (CDU):
Rede ID: ID1216310600
Herr Kuessner, da Sie gerade über die Frage des Management-Buy-out gesprochen haben: Ist Ihnen als Mitglied des Ausschusses Treuhandanstalt nicht bekannt, in welchem hohen Maße solche Maßnahmen durchgeführt worden sind, und das zum großen Teil auch erfolgreich, so daß Sie diese Behauptung, die Sie eben aufgestellt haben, hier wohl kaum ganz ernsthaft verbreiten wollen?

Hinrich Kuessner (SPD):
Rede ID: ID1216310700
Herr Vorsitzender des Treuhand-Ausschusses, Sie wissen, daß wir dieses Thema im Ausschuß ausführlich diskutiert haben und daß auf meinen Vorschlag und meine ausdrückliche Bitte der Außenstellenleiter von Rostock, Herr Utz, der sehr erfolgreich MBO begleitet hat, in den Ausschuß kommt, damit wir dieses Thema erörtern.
Wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, sind etwa 1 800 MBOs durchgeführt worden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Warum berichten Sie nicht darüber?)

— Das habe ich in meinen Reden schon öfter gesagt, auch hier im Bundestag, in diesem Hause. Lesen Sie einmal meine Reden nach: dann werden Sie manches feststellen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich kenne Ihre Reden aus der Landwirtschaft, Herr Kuessner!)

Ich habe die positiven Ansätze in meinen Reden durchaus genannt. Ich stelle aber genauso fest, daß die Reserven noch ganz erheblich sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)

— Ich antworte noch auf Ihre Frage, Herr Kriedner.

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie wären schon fertig!)

— Ich bin noch nicht ganz fertig.
Ich werde heute im Obleutegespräch vorschlagen, daß wir uns diesem Thema erneut stellen, denn es gibt noch immer eine ganze Reihe Einheimischer, denen wirklich Hindernisse in den Weg gelegt werden. Das Gespräch in Dresden, bei dem Herr Dr. Pohler dabei war, hat ganz deutlich gezeigt, daß hier Reserven nicht ausgeschöpft werden, daß immer wieder erschwerende Dinge hinzukommen, daß Einheimische nicht den freien Zugang zur Sozialen Marktwirtschaft bekommen.

(Beifall bei der SPD — Arnulf Kriedner [CDU/ CSU]: Das war schwach, Herr Kollege!)

Dies gilt genauso für den Bereich der Landwirtschaft. Auch hier müssen wir der Bundesregierung vorwerfen, daß sie Entscheidungen für den wirtschaftlichen Start Ostdeutscher nicht trifft oder Entscheidungen gegen Ostdeutsche trifft. Dazu zähle ich ungeklärte Fragen der Zusammenführung von Grund- und Gebäudeeigentum, nicht problemgerechte Altschuldenregelung, Nichtbezahlung von Lieferungen landwirtschaftlicher Erzeugnisse nach Osteuropa und die Verwertung ehemaliger Güter, landwirtschaftlicher Flächen und landwirtschaftlicher Produktionseinrichtungen. Die Richtlinie vom Sommer 1992 zur Bewertung volkseigener landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Flächen wurde durch das sogenannte Bohl-Papier zugunsten der Alteigentümer und zuungunsten der einheimischen Bauern verändert.
Das Ganze geschah am Parlament vorbei. Die Mißachtung des Parlaments durch die Bundesregierung wird auch dadurch deutlich, daß trotz mehrfacher Zusagen weder der geänderte Richtlinienentwurf

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unwahr! Das ist eine Lüge!)

noch die Richtlinie zur Verwertung ehemaliger Güter und zum Verkauf des Waldes den Parlamentariern ausgehändigt wurde,

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

geschweige denn im Parlament zur Diskussion gestellt wurde. Ich habe im Ausschuß vor sechs Wochen, wenn ich mich richtig erinnere, noch einmal darum gebeten, daß diese Richtlinie zur Verfügung gestellt wird. Bis heute habe ich sie nicht.
Warum wird das Parlament nicht informiert? Was wird hier verschleiert? Ist es besonders die Benachteiligung ostdeutscher Bewerber, die man dann schwarz auf weiß herausbekommt? CDU-Landtagsabgeordnete in Sachsen haben den Ausdruck „Kolonialverwaltung" für die Verhaltensweise der Treuhand gebraucht.

(Dr. Konrad Elmer [SPD]: Richtig!)

Die Wogen schlagen besonders hoch bei der Privatisierungsentscheidung der Forellenmastanlage in Rathmannsdorf in Sachsen. Ein für Mittelstandsförderung zuständiger Beamter im Dresdener Wirtschaftsministerium bekommt zusammen mit seiner Ehefrau den Zuschlag und nicht einheimische Existenzgründer. Ein um 50 000 DM höheres Angebot des West-



Hinrich Kuessner
deutschen darf nicht zu so einer Entscheidung führen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ist das nicht Landesangelegenheit?)

Vielen Ostdeutschen fehlt Kapital zum Einstieg in die Marktwirtschaft. Das ist hinreichend bekannt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht zur politischen Profilierung!)

Aber zum Aufbau Ost braucht man ganz sicher aktives Mitwirken Einheimischer. Daher müssen sie bei der Vorlage eines guten Konzeptes den Vorzug bei der Privatisierung erhalten.
Auch bei den langfristigen Verpachtungen landwirtschaftlicher Flächen werden Ostdeutsche benachteiligt. Bundesminister Borchert behauptete kürzlich auf einer SPD-Versammlung in Brandenburg das Gegenteil. Warum wurde dann die Richtlinie verändert, wenn das Betriebskonzept das entscheidende Kriterium ist? Wie wird verfahren, wenn Bewerber Land im Rahmen des sogenannten Interessenausgleichs erhalten sollen, aber kein Betriebskonzept einreichen? Warum wurden Alteigentümer von Gütern angeschrieben, ob sie ihren alten Besitz wiederhaben wollen?

(Zuruf von der SPD: Unerhört!)

Warum und auf welcher Grundlage werden von Herrn Rohr von der Treuhandanstalt Pachtzusagen an Alteigentümer gemacht, ohne das Betriebskonzepte vorlagen?

(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)

Warum wurde an den Enkel eines Alteigentümers Land verpachtet, obwohl er unrechtmäßig 70 ha im Landkreis Demmin unter den Pflug nahm? — Das sind alles Fragen, auf die die Bundesregierung seit Monaten nicht antwortet.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Das Engagement Ostdeutscher ist nicht vorgesehen. Es kommt mir immer mehr so vor, als ob für die Bundesregierung und ihre Treuhandanstalt Ostdeutsche lästig seien. Man gibt sich mit ihnen nur ab, wenn es unbedingt sein muß. An den Privatisierungsentscheidungen beteiligt man sie nicht; man informiert Betriebsräte gar nicht oder nur halbherzig. Oft entscheiden junge, unerfahrene Treuhandmitarbeiter über das Schicksal Tausender. Die Einzelfälle, in denen das schiefgeht, häufen sich. Dies kann eine gefährliche Lawine werden, zumal Einheitsgewinnler ihr Spekulationsgeschäft betreiben.
Darum bin ich der Meinung, daß wir einen Untersuchungsausschuß brauchen. Das ist das einzige Mittel, auf das die Bundesregierung eventuell noch hört, um nicht weiterhin an den Menschen in Ostdeutschland vorbei und zu ihren Lasten Entscheidungen zu treffen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Bundesregierung erfüllt ihre Pflichtaufgabe der Fach- und Rechtsaufsicht gegenüber der Treuhandanstalt nicht.

(Zuruf von der SPD: Das stimmt!)

Sie läßt die Treuhandanstalt wursteln und beschönigt Fehlverhalten und Fehlentwicklung. Sie hat die politische Verantwortung für die jetzige Situation in Ostdeutschland.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Unser Antrag zur Bildung von Industriegesellschaften in den neuen Ländern dient dem Anliegen, daß Industriestrukturen gesichert und erneuert und Ostdeutschen mehr Chancen beim Einstieg in die Marktwirtschaft gewährt werden. Treuhandbetriebe sollen für einen begrenzten Zeitraum entsprechend bestätigtem Sanierungskonzept Mittelzuweisungen erhalten, damit sie mit ihren Produkten den Markteinstieg erreichen. Dafür sind zum Teil noch innerbetriebliche Umstrukturierungen nötig. Mit ihrer zögerlichen Investitionspolitik in Treuhandbetrieben hat die Bundesregierung wertvolle Zeit verloren und viele Arbeitsplätze vernichtet.
Um Sanierung in Betrieben zu realisieren, muß fähiges Management gefunden werden. In den Betrieben gibt es Menschen, die dazu befähigt sind

(Zuruf von der CDU/CSU: Da stimmen wir überein!)

oder befähigt werden können. Unternehmerisches Handeln muß allerdings im Betrieb ermöglicht werden und darf von der Treuhand nicht verhindert werden.
Es muß Schluß sein mit dem betriebswirtschaftlich sinnlosen Wort der investorneutralen Investitionen. Dieser Ausdruck gaukelt vor, daß es Investitionen ohne Zielstellung gibt. Im Grunde sind investorneutrale Investitionen sanfte Sterbehilfen. Sie verlängern das Leben der Betriebe, eröffnen aber keine Zukunft. Allerdings verbrauchen sie sinnlos Steuermittel.
Die Bundesregierung schiebt Entscheidungen vor sich her und verspielt damit in Deutschland viele gute Chancen. Eine Wende in der Politik ist notwendig.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Zu der Sie nicht fähig sind!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216310800
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Konrad Elmer das Wort.

Dr. Konrad Elmer (SPD):
Rede ID: ID1216310900
Meine Damen und Herren! Ich möchte in diesem Zusammenhang, Bezug nehmend auf die Privatisierung landwirtschaftlicher Flächen, noch einmal verstärkt auf die vorgesehene Privatisierung forstwirtschaftlicher Flächen hinweisen, die in meinen Augen keinen ernsthaften marktwirtschaftlichen Sinn ergibt, weil forstlicher Wald sich heutzutage nicht mehr rechnet, sondern weiterhin Zuschußbetrieb bleiben wird, weil aus Osteuropa und aus Kanada Holz sehr viel billiger importiert wird.
Es kann sich bei dieser Privatisierung nur darum handeln, das Verfassungsgerichtsurteil, das die Bodenreform ja unangetastet lassen wollte, nun doch



Dr. Konrad Elmer
auf Schleichwegen zu hintergehen und im Grunde die alten Fürstenwälder wieder den Fürsten zuzueignen, wenn auch auf dem Privatisierungswege.
Hiergegen möchten wir erheblichen Einspruch erheben, weil es auch forstwirtschaftlich nicht sinnvoll ist, wenn es wieder zu einer Zerstückelung des Thüringer Waldes durch solche Eigentumsverhältnisse kommt, und weil die eigentlichen Aufgaben des Waldes in Zukunft eben anderer Natur sind, als dort einen Gewinn zu tätigen. Die Lander werden am Ende dann mehr Zuschuß leisten müssen, als wenn sie die Wälder übernommen hätten, wie wir das wünschen.
Danke.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste —Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: War das eine Intervention oder ein Referat?)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216311000
Nun spricht der Kollege Ulrich Petzold.

Ulrich Petzold (CDU):
Rede ID: ID1216311100
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte eigentlich zu Ihren Anträgen, die zur zweiten und dritten Lesung anstehen, sprechen. Aber kurz noch ein Wort zu Herrn Kuessner. Herr Kuessner, ich finde es außerordentlich schlecht — vorsichtig ausgedrückt —, wenn man einen so tragischen Fall, wie er hier vorgekommen ist, zur politischen Profilierung nutzt.

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das finde ich geschmacklos — vorsichtig ausgedrückt —, und ich würde doch bitten, daß so etwas nicht wieder vorkommt. Herr Kuessner, so bitte nicht!

(Zuruf von der SPD: Er hat kein Wort davon gesagt!)

Darüber bin ich sehr betroffen, Herr Kuessner. Alle wissen es.

(Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Linke Liste]: Er hat den tragischen Fall gar nicht erwähnt!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es stimmt ja auch nicht, daß sich nichts getan hat mit dem Erhalt industrieller Kerne. Fragen Sie doch bitte Ihre Kollegen Hans Berger und Hermann Rappe, was wir hier schon getan haben. Die IG Chemie und die IG Bergbau haben doch mitverhandelt. Meine Damen und Herren, selbstverständlich haben wir dadurch industrielle Kerne erhalten.
Überlegen Sie doch mal: bei mir im Wahlkreis die Stickstoffwerke Piesteritz. Es hat den Staat eine Milliarde gekostet, diesen industriellen Kern zu erhalten, d. h. 1,4 Millionen für einen einzigen Arbeitsplatz. Damit erhalten wir industrielle Kerne. Ob das ökonomisch sinnvoll ist, das ist die andere Frage. Aber wir erhalten sie doch, wir tun doch etwas, um das Selbstverständnis in den neuen Bundesländern durch solche industrielle Kerne auch zu erhalten.
Doch nun, meine Damen und Herren, ganz kurz zu Ihren Anträgen, die sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern befassen. Diese Anträge haben nur in einigen wenigen Absätzen die Zustimmung der Ausschüsse gefunden und wurden in ihrer Gesamtheit abgelehnt. Man muß sich daher fragen: Ist in den Anträgen überhaupt der Wille erkennbar, die Zustimmung einer Mehrheit der Parlamentarier zu erringen und mit dem Konsens die Chance zur Durchsetzung zu erhalten?
Nach Ihren Anträgen, meine Damen und Herren von der Opposition, müssen Sie sich fragen lassen: Ist die Arbeit der Treuhandanstalt tatsächlich so katastrophal? Wenn Sie objektiv an die Beantwortung herangehen, müssen Sie feststellen: Wir haben zwar nicht die blühenden Landschaften, aber eine solide Arbeit ist der Treuhandanstalt in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht abzusprechen. Selbstverständlich hat man in der Treuhandanstalt aus negativen Beispielen gelernt und die Arbeit immer weiter verbessert und verfeinert. Nur so konnten die im Sachstandsbericht des BMF vom 7. Juni 1993 dargelegten Ergebnisse erreicht werden.
Wenn in der Öffentlichkeit auch immer wieder der Eindruck erweckt wird, die Treuhand würde nur abwickeln, so ist hier klar belegt, daß bisher nur 22 % der Betriebe abgewickelt wurden. Dabei wird dann die volle Bandbreite von der Zwangsvollstreckung bis hin zur stillen Liquidation genutzt. Aus eigener Erfahrung kann ich hier nur sagen: Eine ganze Reihe von Arbeitsplätzen konnte gerade infolge der Liquidation in der gleichnamigen Treuhandabteilung gerettet werden. Ihrer Privatisierungsaufgabe wurde die Treuhandanstalt bei der überwiegenden Zahl der 7 144 privatisierten und reprivatisierten Betriebe gerecht.
Ich gehe davon aus, daß die 862 Unternehmen, die noch zur Privatisierung angeboten werden, ebenfalls sinnvoll genutzt werden können.
Eine andere Frage ist: Wie leben die Betriebe nach ihrer Privatisierung weiter? Insbesondere Betriebe, die im Rahmen eines MBI oder eines MBO übernommen wurden, sowie reprivatisierte Betriebe weisen Kapitalschwächen und Absatzprobleme auf. Durch Verbesserung und Ausweitung der Kreditlinien und Erhöhung der Eigenkapitalhilfe werden hier, so glaube ich, richtige Signale gesetzt. Die Deutsche Ausgleichsbank hat im Rahmen des Eigenkapitalhilfeprogramms eine weitgehende Haftungsfreistellung der Gesellschafter gefordert, da sonst der Kreditrahmen der Unternehmen eingeschränkt und somit die Kapitalschwäche nicht behoben würde. Ich hoffe, daß der Bundesminister für Wirtschaft dieses in seiner heutigen Entscheidung berücksichtigt.
Wichtig ist ebenfalls, die bereits einmal verlängerte Regelung zur Mehrpreispräferenz und Einstiegsrechte in Niedrigstgebote für einen überschaubaren Zeitraum beizubehalten.
Bedauerlich ist, meine Damen und Herren von der Opposition, daß die von Ihnen regierten Bundesländer sich nicht einmal diesen Absatzförderungsmaßnahmen der Bundesregierung angeschlossen haben, geschweige denn die sehr viel höheren Präferenzregelungen aus Ihrem Antrag durchsetzen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)





Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216311200
Nun spricht der Kollege Wolfgang Weiermann.

Wolfgang Weiermann (SPD):
Rede ID: ID1216311300
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bezogen auf den letzten Redner, möchte ich an dieser Stelle deutlich festhalten: Wir sind nicht hier zum Gesundbeten einer Situation, sondern wir stellen fest, daß Ihre Versprechungen, die Sie gemacht haben, nicht eingehalten wurden.

(Beifall bei der SPD)

Da nützt es nichts, daß man mit Wunschdenken hier vor das Plenum tritt. Die Menschen, die erwartet haben, daß Ihre Versprechungen in der Tat umgesetzt werden, sind schwer enttäuscht. Und das müssen wir als SPD an dieser Stelle heute auch deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD)

Um den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland und die Wirtschaftskraft seiner Unternehmen ist es traurig bestellt. Auch das ist heute deutlich geworden. Die Leistungen der Bundesregierung sind in diesem Zusammenhang eher kläglich. CDU-Generalsekretär Hintze und Umweltminister Töpfer werten in ihrem Thesenpapier die Veränderungen im Ost-West-Verhältnis als wesentliche Chancenverbesserung für ein zukunftsfähiges Deutschland. Das mag ja sein, meine Damen und Herren, aber ohne den Willen zu einer bewußten Gestaltung wird aus dieser Zukunft im Grunde genommen nichts.

(Beifall bei der SPD)

Falsche Versprechungen, grobe Ungerechtigkeiten und massive Fehler prägen das Bild, und sie haben ihre Spuren bei den Menschen in Ostdeutschland hinterlassen. Von den ehemals 9 Millionen Menschen in Ostdeutschland in Arbeit und Brot haben nur noch die Hälfte einen festen Arbeitsplatz. Von einem sicheren Arbeitsplatz kann man in diesem Zusammenhang schon überhaupt nicht reden. Bei 20 % der Gesamtbevölkerung liegt das Bruttoinlandsprodukt noch erheblich unter dieser Marke. Das zeigt den ganzen Fehlschlag Ihrer Politik in den letzten zweieinhalb Jahren.

(Beifall bei der SPD)

Von einer tragfähigen Konzeption der Bundesregierung, die den versprochenen Aufschwung Ost bringen könnte, ist weit und breit nichts zu sehen. Dabei drängen sich neue zukunftsträchtige Lösungen geradezu auf.
Wir haben schon lange vor der deutschen Wiedervereinigung den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gefordert in der richtigen Erkenntnis, daß Umweltinvestitionen stets lohnende Investitionen für die Zukunft sind. Heute fordern wir — das ist die andere Seite der Medaille — neben dem ökologischen Umbau im Westen den ökologischen Aufbau im Osten als Dringlichkeitsmaßnahme, meine Damen und Herren.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Trotz gegenteiliger Äußerungen von Minister Töpfer und anderen Regierungsvertretern ist die Bundesregierung nicht bereit, die Konsequenz aus der Erkenntnis zu ziehen, daß allein durch hohe Umweltstandards langfristig Arbeitsplätze, Lebensqualität und Attraktivität ganzer Regionen gesichert werden können. Das ist so, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Noch immer hängt vielen — auch Ihnen — anscheinend das Vorurteil nach, hohe Umweltstandards seien ein Luxus, Umweltschutz- und Umweltsanierungsmaßnahmen seien allein etwas für Zeiten des Wohlstandes. Wir sagen: Wer rechtzeitig in Umweltschutz investiert, hat auf lange Sicht auch auf dem Markt einen sicheren Platz. So lautet der richtige Umkehrschluß.

(Beifall bei der SPD)

Ansätze zur Förderung von Umweltinvestitionen gab es 1991 und 1992 im Programm „Aufschwung Ost". Zum 1. Januar 1993 wurden sie ersatzlos gestrichen, womit auch die Ansätze für eine positive Entwicklung und kleine Fortschritte wieder gefährdet sind.
Die Bundesregierung legt ein Föderales Konsolidierungsprogramm auf, das keinerlei ökologische Ansätze enthält. Sie machen keine Anstalten, entsprechende Infrastrukturinvestitionen vorzunehmen.

(Zuruf von der SPD: Leider!)

Der Untätigkeit der Bundesregierung begegnet die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nun mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit", kurz "ZIP" genannt.

(Beifall bei der SPD)

Ziele dieses Programms sind die Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern und die Verwirklichung der ökologischen Einheit. Letzteres ist auch eine Forderung des Einigungsvertrages, an die sich die Bundesregierung nicht gern zu erinnern scheint.
Es geht im einzelnen um die Verbesserung der Umweltqualität und damit auch der Standortqualität, um die Schaffung einer breiten Palette von Arbeitsplatzeffekten, um die Sicherung von Platzvorteilen auf den Märkten von morgen weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus.
Das Programm sieht Investitionsmaßnahmen zur ökologischen Modernisierung der Infrastruktur und zur Sanierung der Umwelt mit einem Fördervolumen von 10 Milliarden DM jährlich bei einer Laufzeit von 10 Jahren vor. Dabei gehen wir davon aus, daß innerhalb einzelner Projektbereiche ostdeutsche Produktion und Dienstleistung Vorrang haben sollen, so daß mindestens 50 % der Wertschöpfung in den neuen Bundesländern geleistet wird.
Da wir generell mit einem fehlenden Planungsverlauf in den fünf Bundesländern und in den Kommunen Ostdeutschlands rechnen müssen, ist für die Anfangsphase eine kommunale Investitionspauschale als Bestandteil des Programmkonzeptes vorgesehen.

(Beifall bei der SPD)

Dieser pauschalierte Förderungsteil soll dann mit dem
Fortschreiten des ZIP nach und nach zugunsten einer



Wolfgang Weiermann
streng projektbezogenen Förderung zurückgefahren werden.
Im einzelnen soll das Programm folgende Bereiche umfassen: Trinkwasserversorgung und Gewässerschutz, Abfallwirtschaft und Altlasten, rationelle und umweltfreundliche Energieverwendung sowie Energieeinsparung, ökologische Verbesserung im Verkehrssystem, Maßnahmen im Naturschutz und für den ländlichen Raum.
Unter dem Stichwort „Trinkwasserversorgung und Gewässerschutz" ist vor allem an die Sanierung der durchweg veralteten Wasseraufbereitungsanlagen — darüber haben wir heute morgen schon einmal diskutiert —, an die undichten Wasserversorgungsnetze sowie an den Bau neuer Anlagen und Netze gedacht. Allein dafür besteht nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministers ein Bedarf von rd. 21 Milliarden DM. Außerdem gibt es einen geschätzten Sanierungsbedarf von 10 Milliarden DM für kommunale Kläranlagen und Abwassernetze zum Schutz der Oberflächengewässer und des Grundwassers allein in den Wasserschutzgebieten.
Im Sektor „Abfallwirtschaft und Altlasten" muß vor allem darauf geachtet werden, daß bei der Umstrukturierung der Wirtschaft und der Einführung moderner Produktionsverfahren das Prinzip der Abfallvermeidung vorrangig behandelt wird. Dringend nötig sind auch die Anschubfinanzierung und die Schaffung verbesserter Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Recyclingtechnologien sowie Markteinführungshilfen für Recyclingprojekte. Das ist doch die Zukunft: Materialbestandteile wiederzuverwenden und in den wirtschaftlichen Kreislauf hineinzubringen.

(Beifall bei der SPD)

Im Altlastenbereich geht es um die Sanierung kontaminierter Industrie- und Gewerbeflächen, landwirtschaftlicher Flächen sowie ehemaliger Liegenschaften der sowjetischen Streitkräfte und der NVA.
Ein zukünftiger wirklicher „Aufschwung Ost" ist undenkbar ohne Maßnahmen im Energiesektor. Da der Verbrauch an Primärenergie durch Gebäudeheizungen in Ostdeutschland etwa doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern ist, bedarf es gewisser Veränderungen. Nur ein ganz geringer Teil der über 7 Millionen Wohnungen ist bereits entsprechend modernisiert worden. Über 90 % der Wohnungen haben keine ausreichende Wärmedämmung und veraltete Heizungsanlagen. Das heißt konkret, 50 bis 80 % der heute aufgewandten Heizenergie ließe sich bei Heranziehung aller technischen Möglichkeiten einsparen.
Untersuchungen haben ergeben, daß Investitionen in Energietechnologien und Erhöhung der Energieeffizienz durchschnittlich viermal mehr Arbeitsplätze schaffen als der Bau neuer Kraftwerke. Das ist doch etwas!

(Beifall bei der SPD)

Darüber sollten wir diskutieren, statt uns gesundbeten und gesundreden zu wollen.
Energiesparmaßnahmen im Gebäudesektor könnten schätzungsweise 150 000 Arbeitsplätze für
10 Jahre schaffen oder absichern. Auch das ist etwas, was wir anpacken müssen.

(Beifall bei der SPD)

Ein weiterer Punkt ist die ökologische Verbesserung im Verkehrssystem. Neben der Stärkung des ÖPNV durch Investitionen beim Bau und Ausbau der kommunalen Verkehrsinfrastruktur wie bei der Beschaffung und Modernisierung des Fahrzeugparks geht es dabei vor allem um den Aufbau von Güterverkehrszentren sowie verkehrsleitende und -beruhigende Maßnahmen im städtischen Bereich.
Es wäre völlig verkehrt, die von uns im ZIP vorgesehenen Maßnahmen als Schönwetterprogramm anzusehen, das man unter besseren Bedingungen irgendwann einmal in Betracht ziehen könnte. Ungeachtet der gegenwärtigen Haushaltslage ist es nicht ins Reich der Utopien zu verweisen, obwohl wir auch sagen, daß es kein weiteres Anwachsen der öffentlichen Verschuldung geben darf. Und wir wollen die notwendigen Einsparungen auch nennen. Sie betreffen den Bereich der Subventionen,

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sagen Sie gleich, welche! — Steinkohle?)

den Bereich der Militärausgaben und die Privilegierteren in unserer Gesellschaft, die wir, wie wir gesagt haben, auch mal wieder heranziehen wollen,

(Beifall bei der SPD) und das in Form der Ergänzungsabgabe.

Im Rahmen einer Reform des Steuersystems unter ökologischen Gesichtspunkten wird schließlich über eine Erhöhung der Mineralölsteuer sowie im europäischen Rahmen über eine allgemeine Energiesteuer nachgedacht werden müssen.
Ich sage an dieser Stelle — ich komme damit zum Schluß, weil schon das rote Lämpchen aufleuchtet —, daß wir eine Fülle von Möglichkeiten und Chancen haben. Aber der Regierung fehlt der Wille, diese Chancen auch zu nutzen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216311400
Meine Damen und Herren, ich erteile gemäß § 27 der Geschäftsordnung dem Kollegen Hans-Ulrich Köhler das Wort zu einer Kurzintervention.

Hans-Ulrich Köhler (CDU):
Rede ID: ID1216311500
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ganz kurz zu dem, was der verehrte Kollege Kuessner zur Bodenverpachtung der BVVG kundgetan hat, Stellung nehmen.
Herr Kollege Kuessner, Sie wissen, daß wir im Ausschuß die Verpachtungsrichtlinie dahin gehend bestätigt haben, daß es dabei nach den Betriebsqualifikationen der Antragsteller und des Betriebsinhabers geht. Erst bei gleichwertigen Angeboten kommt dann die von Ihnen so kritisierte Rangreihenfolge. Wir haben diesbezüglich wohl für alle eine gerechte Lösung gefunden.



Hans-Ulrich Köhler (Hainspitz)

Ich habe dazu in der Debatte am 11. Februar ausführlich Stellung genommen. Wir haben in dieser Debatte festgestellt, daß die Rangreihenfolge für alle Beteiligten die günstigste Lösung ist. Dabei ist Voraussetzung, daß vor Ort auch mit den vorhandenen Instrumentarien gearbeitet wird. Das können wir vom Deutschen Bundestag aus leider nicht beeinflussen. Dafür haben wir vor Ort die Kommissionen eingesetzt, in denen alle gleichmäßig beteiligt sind. Ich kann nur jedem empfehlen, seine Arbeit in den Kommissionen zu machen.
Der Grund dafür, daß wir die Entscheidung dahin gehend geändert haben, juristische Personen nicht in die Vergabe einzubeziehen, ist der, daß bei juristischen Personen ein Landverkauf an die Gesellschafter juristischer Personen dazu führt, daß die Bodenflächen gerade nicht in das Betriebsvermögen der juristischen Person übergehen, sondern von den Gesellschaftern als Privatvermögen erworben und dann an juristische Personen verpachtet werden. Im Falle eines Konkurses des Unternehmens, der landwirtschaftlichen GmbH oder einer anderen Unternehmensform, kann dies dazu führen, daß der Gegenwert des Landes als haftendes Vermögen für die Schulden des Betriebs überhaupt nicht zur Verfügung steht, ja, schlimmer noch, Privatvermögen des Gesellschafters bleibt und damit im ungünstigsten Fall der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen wird. Das, sehr verehrter Herr Kuessner, machen Sie einem Wiedereinrichter, der mit seinem gesamten Privatkapital und dem zu erwerbenden Grund und Boden haften muß, einmal plausibel.
Danke schön.
Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Es hat jetzt unser Kollege Dr. Gerhard Päselt das Wort.

Dr. Gerhard Päselt (CDU):
Rede ID: ID1216311600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor uns liegt der Bericht der Bundesregierung zur Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland. Alle Kräfte, die nach dem 18. März 1990 vom Wähler beauftragt wurden, die DDR umzugestalten und die Einheit Deutschlands herbeizuführen, waren sich darin einig, daß eine Erneuerung der Hochschulen erfolgen muß. Durch die politisch-ideologische Ausrichtung eines Teils des Lehrkörpers war dieser eine Stütze des Systems.
Die Abgrenzungspolitik der DDR in den letzten 40 Jahren hat zu einer Abkoppelung vom internationalen Wissenschaftsstandard geführt und eine Einbeziehung in das nationale und internationale Wissenschaftssystem verhindert. Die Forschung wurde zu wesentlichen Teilen an den Instituten der Akademie der Wissenschaften geleistet und hatte an den Hochschulen nicht den Umfang und Stellenwert wie in der Bundesrepublik Deutschland. Zudem wurden besonders im letzten Jahrzehnt der gebäudemäßige Zustand und die gerätetechnische Ausrüstung vernachlässigt, so daß der Zustand, in dem sich diese Einrichtungen befanden, nicht beneidenswert war.
Nach Erreichung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 galt es, im geeinten Deutschland eine
einheitliche Wissenschafts- und Forschungslandschaft zu gestalten mit der Zielstellung, die neuen Länder an das Niveau der alten Länder schrittweise heranzuführen. Man war sich bewußt, daß die Qualität der Ausbildung an den Hochschulen in den neuen Ländern darüber entscheidet, ob die dringend benötigten Führungskräfte und Forscher für die Wirtschaft und Gesellschaft in den neuen Ländern zur Verfügung stehen werden. Das Niveau der Forschung an den Hochschulen der neuen Länder ist für diesen Wirtschaftsstandort unerläßlich. Es kommt darauf an, daß die Hochschulen in den neuen Ländern attraktiv bleiben und werden, damit der eigene wissenschaftliche Nachwuchs der Region erhalten bleibt und für andere qualifizierte Forscher zum Anziehungspunkt wird.
Die Umstrukturierung der Hochschullandschaft der neuen Lander erfolgt im Einklang mit dem Einigungsvertrag und den Empfehlungen des Wissenschaftsrats. Im Wissenschaftsrat kommen vom Bundespräsidenten ernannte Repräsentanten aus Wissenschaft und öffentlichem Leben mit den Wissenschaftsministern von Bund und Ländern zusammen, um die Regierung in allen Fragen der Hochschul- und Forschungspolitik zu beraten.
In seinen Empfehlungen legte der Wissenschaftsrat für die neuen Lander sieben Leitlinien zugrunde: erstens Stärkung der Forschung durch die Integration von Akademiewissenschaftlern in die Hochschulen; zweitens Zusammenarbeit von außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen, drittens Spezialhochschulen integrieren, viertens leistungsfähige Fachhochschulen gründen, fünftens Entspezialisierung der Studiengänge, sechstens Erneuerung vor Neugründung, siebtens zwei Phasen für den Hochschulausbau.

(Zuruf von der SPD: Sprechblasen!)

Diese Empfehlungen betreffen weiterhin die künftige wissenschaftliche Ausrichtung, Größe, Struktur und personelle Ausstattung. — Haben Sie die Empfehlungen einmal gelesen, Herr Kollege? An sie muß sich schließlich jeder halten, und die Länder haben sich daran gehalten, auch Brandenburg. Sie kennen das finanzielle Problem, das damit gekoppelt ist.
Wie weit ist nun der strukturelle Umbau in den neuen Ländern vorangekommen? In den neuen Ländern besteht für die Studierenden ein Angebot von 15 Universitäten, 21 neugegründeten Fachhochschulen, 12 Kunst- und Musikhochschulen und einer Pädagogischen Hochschule. Mit Fug und Recht kann gesagt werden, daß strukturelle Gleichwertigkeit hergestellt wurde.
Wo liegen nun die Hauptsorgen, wo werden über Jahre Defizite sichtbar? Große Defizite werden über Jahre bei Sanierung, Ausbau und Ausstattung der Institute bestehen. Hier wird über Jahre ein erhöhter Finanzbedarf vorhanden sein. Der Aufbau der Fachhochschulen hat sich erfreulich gestaltet. An diesem für die neuen Länder neuartigen Hochschultyp besteht eine große Nachfrage nach Studienplätzen. 15 000 Studierende haben ihre Ausbildung aufgenommen. Eine Erweiterung auf 69 000 ist vorgesehen. Der angestrebte Prozentsatz von 40 % der Gesamtstu-



Dr. Gerhard Päselt
dierkapazität erscheint in absehbarer Zeit im Bereich des Möglichen.
Im Hochschulerneuerungsprogramm für die neuen Länder, welches zu 75 % vom Bund finanziert wird, wurden 2,4 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Der 22. Rahmenplan für den Hochschulbau wurde im Februar 1993 verabschiedet. Er kommt den neuen Ländern zugute. Alle bis Juli 1992 angemeldeten Projekte können begonnen werden. Darunter befinden sich Baumaßnahmen an der Fachhochschule Wildau, der Fachhochschule Harz/Wernigerode, der Fachhochschule Wismar und an den Universitäten Rostock, Leipzig, Halle, Jena und der Pädagogischen Hochschule Erfurt.
Bei allen Schwierigkeiten an den Hochschulen der neuen Lander, die überwunden werden müssen, die besonders in den begrenzten finanziellen Mitteln liegen, stimmt uns eine Tatsache optimistisch: Das ist die Studienhaltung der Studierenden und der Hochschullehrer. Den Studierenden wird bescheinigt, daß sie zielstrebig ihr Studium betreiben und möglichst schnell zum Studienabschluß gelangen wollen.
Ein Wort möchte ich noch zur Lehrstellensituation sagen. Sie wissen, daß wir schon darüber diskutiert haben und daß wir uns hier verpflichtet fühlen. Diese Bundesregierung wird sich um eine Lehrstelle für jeden Auszubildenden kümmern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216311700
Meine Damen und Herren, ich erteile als letztem Redner in dieser Debatte unserem Kollegen Udo Haschke das Wort.

Udo Haschke (CDU):
Rede ID: ID1216311800
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich beim Kollegen Weiermann und beim Kollegen Kuessner ausdrücklich bedanken.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und bei mir nicht?)

— Ich bitte um Entschuldigung. „Ausdrücklich" habe ich gesagt. Ich könnte jetzt auch einen Rundumdank sagen. — Ich sage auch, warum, Frau Matthäus-Maier.
Ich finde es gut, daß beide Kollegen ganz wichtige Fragen gestellt haben.

(Zuruf von der SPD: Das machen die aber immer! — Weitere Zurufe von der SPD)

— Die sind auch notwendig. — Ich finde es gut, daß sie sich überwiegend auf das Fragen beschränkt und keine Behauptungen aufgestellt haben, die am Ende nicht tragen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Vielleicht beantworten Sie die Fragen!)

— Nein, auch wir werden nicht alle Fragen beantworten können, Frau Matthäus-Maier. Das ist nun einmal so.
Was da am 3. Oktober 1990 oder eigentlich schon am 1. Juli 1990 passiert ist, dafür gab es nun wirklich kein Lehrbuch. Da ist etwas geschehen, das in seiner
Dimension zu begreifen sich uns Tag für Tag als neue Aufgabe stellt.

(Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Das sollten wir auch ohne Abstriche einfach zur Kenntnis nehmen, Herr Kuessner.
Es wurde heute schon gesagt, die Max-PlanckGesellschaft errichte dankenswerterweise — ich muß sagen, ausgerechnet auch noch in Jena, also in Thüringen— ein Institut zur Erforschung der Wirtschaftssysteme. Es wird sicherlich sehr interessant sein, was die im Laufe der Zeit herausbekommen, aber es wird uns kurz und mittelfristig überhaupt nicht helfen.

(Zuruf von der SPD: Ja, das hilft uns nicht!)

—Aber es kann anderen helfen. Wir sollten ruhig auch einmal an andere und nicht nur an unsere eigenen kleinen Sorgen denken, die wir im Moment haben.
Wichtig ist, daß wir überlegen: Wie kommen wir aus der verflixten Situation heraus, daß es in Deutschland nun einmal alles doppelt gab? — Ich bin unmittelbar betroffen; das wissen Sie. Es ist ein Thema, das auch schon in der Volkskammer zur Debatte stand. — Zeiss gab es in Jena, und Zeiss gab es in Oberkochen. Beide haben dasselbe hergestellt, jeder hatte seit dem Londoner Abkommen seinen getrennten Markt. Irgendwie mußte man da jetzt heraus. Wir konnten doch nicht ewig prozessieren und sagen: Nun wollen wir einmal sehen, wer den Prozeß gewinnt. Am Ende wäre garantiert einer mit all seinen Beschäftigten auf der Strecke geblieben.
Wir haben andere Lösungen gefunden; ich finde dies gut. Denn die Menschen in Jena waren nicht weniger qualifiziert, nicht weniger fleißig als die in Oberkochen. Aber systembedingt konnten sie nicht den gleichen wirtschaftlichen Effekt erzielen. Das ist doch unser Dilemma: Wir haben eine Wirtschaft vorgefunden, die es durch ihre totale Abschottung, durch Mauer und Stacheldraht geschafft hat, sich wirtschaftlich von der Weltentwicklung abzukoppeln. Ich finde das schlimm, aber wir schaffen es nicht, dies in kurzer Zeit zu überspringen.
Ich nenne ein einfaches Beispiel: Ich fahre immer noch meinen wirklich 15 Jahre lang er-warteten Wartburg. Ich fahre ihn gern. Er fährt gut. Ich bin froh, daß man in Eisenach heute andere Autos baut. Ich bin aber noch mehr froh darüber, daß man in Eisenach Autos baut, daß man überhaupt etwas baut, was sich verkaufen läßt.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg. Iris Gleicke [SPD])

— Iris, es macht doch wirklich keinen Sinn, Ladenhüter in irgendwelchen künstlich gepeppelten Betrieben zu produzieren, die wir dann über ABM entsorgen müssen. So kann es wirklich nicht gehen!
Das unterscheidet unseren Antrag von anderen heute hier vorliegenden Anträgen. Wir greifen den Grundgedanken — das hat überhaupt noch keiner gemerkt — des genau heute vor drei Jahren beschlossenen Treuhandgesetzes — am 17. Juni 1990 ist es in der Volkskammer verabschiedet worden — auf. Darin steht: „Getragen von der Absicht, die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so



Udo Haschke (Jena)

rasch und soweit wie möglich zurückzuführen und" — jetzt kommt der entscheidende Satz — „die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, haben wir folgendes Gesetz erlassen."
In § 2 Abs. 6 steht dann: „Die Treuhandanstalt hat die Strukturanpassung der Wirtschaft an die Erfordernisse des Marktes zu fördern, indem sie insbesondere auf die Entwicklung sanierungsfähiger Betriebe zu wettbewerbsfähigen Unternehmen Einfluß nimmt."
— Zu wettbewerbsfähigen Unternehmen! Das geht — das weiß jeder hier im Raum — nicht von heute auf morgen. Ein Zeitraum von drei Jahren ist als „von heute auf morgen" zu sehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Und es geht nicht ohne schmerzhafte Einbußen!)

— Es geht nur mit innovativer Produktion. Es hat keinen Zweck, wenn wir Produkte nachentwickeln, die es schon gibt.
Jetzt komme ich auf Sie, Herr Kuessner, und Ihre Fragen zurück, die ich unterstütze. Wir müssen natürlich die Frage stellen, inwieweit die Treuhand stärker in die Pflicht genommen werden muß, etwas mehr für Forschung und Technologie in ihren Betrieben zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir können nicht einfach nur so weitermachen wie bisher. Herr Kollege Türk, was Sie heute früh vorgeschlagen haben, nämlich die Rasenmähermethode, geht nicht. Den Haushalt BMFT — Forschung und Technologie — müssen wir eher aufstocken als mähen. Das ist wohl unstreitig. Ich weiß, was das BMFT alles an beweglichen Mitteln in die Ostländer geschickt hat. Es ist phantastisch, was dort an Projektförderung läuft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich finde es gut, daß man dies auch einmal so sagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur das Schicksal der Treuhandunternehmen, sondern auch das Schicksal aller Unternehmen in Deutschland hängt davon ab, was wir in Forschung und Technologie investieren, welche Gewichtung wir hier vornehmen.
In Rositz in Thüringen haben wir den zum Himmel stinkenden Teersee, dessen Sanierung 600 Millionen, 550 Millionen DM kosten wird. Die Treuhand sagt: Ich beteilige mich mit 30 Millionen DM daran. — Wer soll denn den Rest bezahlen? So geht es auch nicht! Wenn die Treuhand sagt: Ich lasse die Firma, die vom Land beauftragt und vorfinanziert ist, nicht einmal die Deckelung machen, weil ich damit Präjudizien schaffe, kann ich nur sagen, laßt uns doch solche Präjudizien schaffen. Es sind doch die richtigen.

(Zuruf von der SPD: Einer muß es aber bezahlen!)

Wenn das, was unser Verkehrsminister schreibt: „Neue Wege braucht das Land", richtig ist — ich glaube, es ist richtig —, sollten wir diese neuen Wege
gehen. Notfalls laßt uns einen Trampelpfad beginnen,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

aber nicht auf der Wiese, wie die Handelsriesen bei Leipzig und sonstwo, sondern durch den Dschungel gut organisierten deutsch-bürokratischen Geflechts. Hier laßt uns Trampelpfade beginnen, denn das brauchen wir wirklich. Wir müssen konsequent die Chancen nutzen, verkrustete Strukturen in diesem Land aufzubrechen.
Jetzt zitiere ich einen, der vor Ort gezeigt hat, daß er etwas leisten kann, nämlich Dr. Lothar Späth.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Er hat gesagt: „Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß im Osten nicht zugelassen wird, was es im Westen noch nicht gibt. " Wir werden das machen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216311900
Die Geschichte schenkt einem Volk nicht fortdauernd solche Chancen wie den Deutschen 1989/90. Es ist Zeit für uns zu einer nüchternen Bestandsaufnahme, zu einer umfassenden Standortbestimmung.

(Zuruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD])

— Ich freue mich immer, wenn Sie dem Kanzler zustimmen, Frau Matthäus-Maier. — Unser Antrag ist ein Stück dieser Standortbestimmung und ein Auftrag zum entschlossenen Handeln. Machen wir es gemeinsam!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312000
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen.
Die Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 6a bis 6h sollen an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse überwiesen werden.
Bei Tagesordnungspunkt 6d — Antrag der Fraktion der SPD zum Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Modernisierung statt Arbeitslosigkeit" für die neuen Bundesländer — sind in der Tagesordnung irrtümlich zwei Überweisungsvorschläge angegeben. Richtig ist, daß diese Vorlage federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und mitberatend an den Finanzausschuß, an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Verkehr, den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus und an den Haushaltsausschuß überwiesen werden soll.
Der Antrag der Fraktion der SPD zu Industriegesellschaften in den neuen Bundesländern auf Drucksache 12/4679 soll zusätzlich dem Finanzausschuß überwiesen werden.



Vizepräsident Helmuth Becker
Ich hoffe, daß Einverständnis darüber besteht. — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 6i: Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3476 zur Struktur- und sozialverträglichen Verwertung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern.
Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4641, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4103 zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4641, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 6j: Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/737 zur verstärkten Berücksichtigung von ostdeutschen Betrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3416, den Antrag abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Bei gleichem Mehrheitsverhältnis ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 6k: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Treuhandgesetzes auf Drucksache 12/735.
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/4631 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/735 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Das sind der noch rechtzeitig eingetroffene Kollege Feige und die Gruppe PDS/Linke Liste. Wer stimmt gegen diesen Gesetzentwurf? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei einer Ausnahme abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu den Aufgaben der Treuhandanstalt ab. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/4631 unter Buchstabe b, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/726 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Auch diese Beschlußempfehlung ist mit den Mehrheitsverhältnissen, wie bereits vorhin gekennzeichnet, angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem Kurswechsel bei der Treuhandanstalt ab. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4631, den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2637 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die beiden Gruppen angenommen.
Zu Tagesordnungspunkt 61. Wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der SPD-Fraktion zur Gemeinschaftsinitiative Neue Länder, Drucksache 12/4306, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2874 abzulehnen.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum eigentlich?)

Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Nach Stimmenthaltungen brauche ich nicht zu fragen. Die Beschlußempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis, wie schon vorhin einmal gekennzeichnet, angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/5104 —
Ich weise aber noch darauf hin: Wir haben nur noch wenige Fragen vorliegen. Die Fragestunde kann also schnell beendet sein. Wir kommen dann zu einer ganzen Reihe von Beratungen von Vorlagen, die ohne Aussprache behandelt werden sollen, also auch zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen. Ich bitte, das zu beachten.
Meine Damen und Herren, in der Fragestunde rufe ich zunächst den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Wir kommen zu Frage 4 des Abgeordneten Klaus Harries:
Kann die Bevölkerung vor Ort davon ausgehen, daß die Zusagen über die Beendigung der völkerrechtlichen Verträge über die Nutzung des Soltau-Lüneburg-Gebietes eingehalten werden, wonach der Raum Lüneburg am 1. August d. J. und der Raum Soltau am 1. August 1994 endgültig geräumt wird?
Bitte sehr, Herr Staatsminister.

Helmut Schäfer (FDP):
Rede ID: ID1216312100
Herr Kollege, nach den Vereinbarungen der deutschen, britischen und kanadischen Verteidigungsminister vom Oktober 1991 werden die britischen Streitkräfte ihre Übungstätigkeit ostwärts der Bundesautobahn 7 im Sommer 1993 einstellen. Sie



Staatsminister Helmut Schäfer
werden im gesamten Übungsraum Soltau-Lüneburg ab Mitte 1994 nicht mehr üben.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312200
Bitte sehr, Zusatzfrage.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216312300
Hierzu keine Zusatzfrage.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312400
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 5 des Abgeordneten Klaus Harries auf:
Sind Gerüchte zutreffend, daß die Briten Interesse an einer Verlängerung der Nutzung für das Soltau-Lüneburg-Gebiet haben?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die britischen Streitkräfte haben kein Interesse an einer Verlängerung der Übungstätigkeit.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1216312500
Herr Staatsminister, Sie werden wissen, daß während des Golf-Krieges die Übungstätigkeit der Briten im Manövergebiet SoltauLüneburg unverhältnismäßig stark zugenommen hat, sicher aus guten und verständlichen Gründen. Gibt es Anlaß, anzunehmen — es gibt Optimisten in Europa, die das nicht völlig ausschließen —, daß es doch noch solidarische europäische militärische Einsätze in RestJugoslawien gibt, und gelten dann auch die von Ihnen genannten und vorgetragenen Enddaten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das ist eine Frage, mit der Sie mich bitten, mögliche Entwicklungen vorauszusehen, die ich nicht voraussehen kann. Aber es ist ganz klar: Es geht darum, daß wir einen vertraglichen Text vereinbart haben und daß durch diesen Text das Übereinkommen zur Außerkraftsetzung des Soltau-Lüneburg-Abkommens zum 31. Juli 1994 in Kraft tritt. Ich gehe davon aus, daß mit dem Inkrafttreten dieser Vereinbarung die seit Jahren aus der Bevölkerung verständlicherweise geforderte Stillegung des Übungsbetriebes erfolgen wird, ungeachtet solcher Entwicklungen, wie Sie sie angedeutet haben.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312600
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Harries.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1216312700
Es gibt also, Herr Staatsminister, keinerlei inneren Vorbehalt der Bundesregierung, als Vertragspartner notfalls oder gegebenenfalls anders zu entscheiden.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, mir sind solche inneren Vorbehalte der Bundesregierung nicht bekannt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312800
Vielen Dank. — Wir kommen jetzt zur Frage 6 unseres Kollegen Ortwin Lowack:
Inwieweit kümmert sich die Bundesregierung um die Wahrung der Eigentumsrechte und den Erhalt von deutschem Kunst- und Kulturbesitz in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Nieder- und Oberschlesien?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wie sich aus Ziffer 5 des Briefwechsels der Außenminister zum deutsch-polnischen Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit ergibt, wurden Vermögensfragen in diesem Vertrag ausdrücklich offengehalten. Ziffer 5 lautet — ich zitiere —:
Beide Seiten erklären übereinstimmend: Dieser Vertrag befaßt sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen.
Die Bundesregierung hat die nach dem Krieg in Polen und der damaligen Sowjetunion erfolgten Enteignungen und das Unrecht der Vertreibung nie gebilligt. Sie wird die Interessen deutscher Staatsbürger gegenüber Polen und Rußland weiterhin gemäß, den Grundsätzen des „Diplomatischen Schutzes" im Rahmen der ihr gegebenen Möglichkeiten zur Geltung bringen. Nach russischer Auffassung wird im nördlichen Teil Ostpreußens gelegenes Eigentum als endgültig konfisziert angesehen, entsprechend den auch auf dieses Gebiet erstreckten Bestimmungen über die grundsätzliche Nationalisierung des privaten Eigentums. Eine Gesetzgebung zur Rückgängigmachung von Enteignungen existiert in der Russischen Föderation derzeit nicht.
Der Bundesregierung stehen für Hilfen zur Sicherung und Erhaltung deutschen Kulturguts in den historischen Siedlungsgebieten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas seit 1992 Haushaltsmittel in Höhe von 5 Millionen DM zur Verfügung. Diese Mittel werden auch eingesetzt, um deutsches Kulturgut, insbesondere deutsche Bau- und Kulturdenkmäler, in Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Nieder- und Oberschlesien vor dem Verfall zu bewahren sowie vom Untergang bedrohtes deutsches Archiv- und Bibliotheksgut in diesen Gebieten zu sichern.
Außerdem stehen der Bundesregierung weitere 2 Millionen DM zur Förderung kultureller Begegnungen mit den Deutschen in den genannten Gebieten und der dortigen Bevölkerung im Rahmen des § 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes zur Verfügung. Diese Mittel dienen ebenfalls der Erhaltung deutschen Kulturguts vor allem durch Förderung kulturellen und geschichtlichen Wissens wie auch der Erhaltung kulturellen Brauchtums.
Schließlich finanziert die Bundesregierung aus Mitteln der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit auch die Restaurierung und Erhaltung von Kulturdenkmälern europäischen Ranges auf dem Gebiet der Republik Polen. Zu den aus Stiftungsmitteln geförderten Kulturdenkmälern gehören u. a. die Marienburg, das Kloster Trebnitz und das Geburtshaus der Gebrüder Hauptmann in Schreiberhau.
In dem zu Rußland gehörigen nördlichen Teil Ostpreußens wurden bzw. werden in den Jahren 1991 bis 1994 Maßnahmen im Gesamtumfang von rund 840 000 DM durchgeführt, z. B. Sicherungsmaßnahmen am Königsberger Dom.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216312900
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1216313000
Herr Staatsminister, in Würdigung Ihrer Antwort und auch der Tatsache,



Ortwin Lowack
daß die Bundesregierung immer betont hat, daß die Vertreibung der Deutschen völkerrechtswidrig war und der Raub des Eigentums völkerrechtswidrig bleibt: Impliziert das nicht auch, daß sich die Bundesregierung wirklich aktiv darum kümmern muß, daß besonders Kunstgegenstände, aber natürlich auch private Dinge, und nicht nur Liegenschaften wirklich wieder zu ihren deutschen Eigentümern gelangen können? Wäre es nicht notwendig, daß wir längst darüber Verhandlungen führen, nachdem das, wie Sie sagen, ausdrücklich von den Verträgen ausgenommen wurde?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung hat — das ist hier im Bundestag schon wiederholt angedeutet und gesagt worden — Bemühungen in dieser Richtung, insbesondere über die Rückführung von Kulturgütern, an die ursprünglichen Besitzer eingeleitet. Die Verhandlungen gestalten sich, wie Sie wissen, nicht immer leicht. Aber natürlich bleiben wir hier am Ball.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216313100
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack. Bitte.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1216313200
Herr Staatsminister, denkt die Bundesregierung daran, viele der personenbezogenen Daten — Sie haben das selber angesprochen —, die überhaupt nichts mit Polen, sondern ausschließlich etwas mit der deutschen Bevölkerung zu tun haben, einschließlich Personalunterlagen bei den Kirchen, so zu sichern, daß sie hier ausgewertet werden können und nicht einer zufälligen Behandlung im polnischen Machtbereich ausgesetzt bleiben?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Auch daran wird gedacht. Ich hatte vor kurzem in Görlitz Gelegenheit, mit unserem Generalkonsul in Breslau sehr eingehend über genau diese Fragen zu sprechen. Auch bei unseren Besuchen im schlesischen Teil Polens werden wir Gelegenheit haben, insbesondere darauf hinzuwirken, daß die von Ihnen genannten Daten, d. h. die Erhaltung sehr wichtiger Dokumente, sichergestellt werden. Das ist sogar eine Priorität der Tätigkeit z. B. im Bereich des Generalkonsulats Breslau, um hier jetzt nur einen Bereich herauszugreifen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216313300
Eine Zusatzfrage des Kollegen Claus Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1216313400
Herr Staatsminister, nachdem Sie in Ihrer Antwort auch die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bausicherung am Königsberger Dom erwähnt haben, möchte ich fragen: Ist der Bundesregierung bekannt, ob von seiten der Regierung der russischen Föderation ebenfalls Mittel bereitgestellt werden, um dieses historische Bauwerk zu sichern bzw. zu erhalten und es auch für die Zukunft dauerhaft zu erhalten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Gespräche mit der russischen Föderation und ihrem Kulturminister, der hier zuständig ist, werden laufend geführt. Ich kann Ihnen sagen: Auch in diesem Monat findet ein Gespräch in Moskau statt. Ich werde gern auch Ihre Anregungen in bezug auf den Königsberger Dom aufgreifen. Wir sind uns hier im Augenblick aber alle darüber im klaren, daß die russische Föderation in ungewöhnlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt, so daß es ihr sehr schwerfallen wird, Kulturgüter in dem ganzen großen Gebiet der ehemaligen Sowjetunion — soweit sie heute noch russisch ist; dazu zählt natürlich auch das nördliche Ostpreußen — erhalten zu können, selbst wenn sie es wollte. Natürlich bedarf es hier immer wieder der Anstöße, nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der vielen reisenden deutschen Abgeordneten.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216313500
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Ich rufe jetzt die Frage 7 des Kollegen Ortwin Lowack auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung das Desaster, daß der Antrag, die am meisten in Europa gesprochene Muttersprache Deutsch als dritte Amtssprache des Europarates zuzulassen, zurückgewiesen wurde?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, Herr Kollege, hat während ihrer diesjährigen Frühjahrssitzung vom 10. bis 14. Mai unter anderem eine an das Ministerkomitee gerichtete Empfehlung zur Überarbeitung der Satzung des Europarates verabschiedet. Im Rahmen der Debatte wurden annähernd 50 Änderungsanträge zu dem der Versammlung vorliegenden Empfehlungsentwurf eingebracht — darunter auch ein Antrag aus dem parlamentarischen Raum, Deutsch als weitere Amtssprache in Art. 12 der Satzung des Europarates zu verankern.
Entsprechende Anträge wurden auch für Spanisch und Italienisch gestellt. Keiner dieser Anträge fand in der anschließenden Abstimmung eine Mehrheit. Die von der Parlamentarischen Versammlung am 11. Mai 1993 verabschiedete und dem Ministerkomitee zugeleitete Empfehlung 1212 zur Änderung der Satzung des Europarates enthält daher keinen Vorschlag zur Änderung der Amtssprachenregelung des Art. 12. Ursache für dieses Ergebnis dürfte die Kostenschätzung des Sekretariats für die Einführung weiterer Amtssprachen sein. Für die Einführung von Deutsch werden die Kosten auf ca. 22 Millionen DM beziffert.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216313600
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1216313700
Herr Staatsminister, verehrter Kollege, nachdem beispielsweise ein holländisches Versammlungsmitglied ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß es nicht die Kosten sind, die es gegen den Antrag sprechen ließen, sondern ganz andere Gründe, die in der deutschen Mentalität oder Organisation Deutschlands lägen, möchte ich Sie fragen: Wie kommt es eigentlich, daß der hervorragende Ruf, den sich Deutschland in den 50er und 60er Jahren erworben hatte und der darin gipfelte, daß wir aufgefordert wurden, in den verschiedensten Organisationen in Europa und in der Welt Mitglied zu werden und auch angemessene Beiträge zu zahlen, in der



Ortwin Lowack
Zwischenzeit so völlig verkommen ist, daß dieser Antrag nicht durchgehen konnte?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, unser Ansehen ist nicht nur nicht verkommen, sondern — ich muß hier sehr deutlich sagen — es ist außergewöhnlich hoch. Aber — das werden Ihnen Kollegen aus dem parlamentarischen Bereich des Europarates schildern können; die Abläufe sind im Auswärtigen Ausschuß meines Wissens schon geschildert worden — es war eben eine Situation, bei der zwei andere Staaten des Europarates gesagt haben: Wenn die Deutschen wollen, daß ihre Sprache Amtssprache wird, dann möchten auch wir — Italien hat eine bedeutende Kultursprache, die man nicht unterschätzen sollte, Herr Kollege Lowack, ebensowenig wie Spanien — dies durchsetzen.
Die finanziellen Folgen wären sehr schwerwiegend gewesen. Das ist der Hintergrund, deshalb ist nicht Deutsch als Amtssprache abgelehnt worden, sondern es haben sich für den Antrag, drei weitere Sprachen zu Amtssprachen zu machen, keine Mehrheiten gefunden.
Das ändert aber nichts daran — ich möchte das bei der Gelegenheit ausdrücklich sagen —, daß wir, die deutschen Vertreter im Ministerrat — sowohl des Europarates als auch der WEU —, grundsätzlich Deutsch sprechen. Deutsch existiert schon als Arbeitssprache. Deutsch als Amtssprache würde bedeuten, alle Dokumente ins Deutsche zu übertragen. Das macht den großen Unterschied. Es sind wirklich keine antideutschen Elemente zu erkennen, sonst hätte man sich möglicherweise für Spanisch, einer Weltsprache, aussprechen können; das hat man auch nicht getan.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216313800
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1216313900
Herr Staatsminister, wird sich die Bundesregierung angesichts der Tatsache, daß in Europa Deutsch die am meisten gesprochene Muttersprache ist — und es geht um den Europarat —, entmutigen lassen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Natürlich nicht. Ich kann Ihnen sagen, daß ich mich neulich bei einer Veranstaltung in Rom — nämlich dem Ministertreffen der WEU — nach einer kurzen Verständigung mit dem Kollegen Rühe dazu entschlossen habe — obwohl wir an den Kabinenaufschriften nicht erkennen konnten, ob Deutsch übersetzt wurde —, Deutsch zu sprechen. Es stellte sich heraus, daß wir übersetzt wurden. Die anderen Sprachen wurden aber nicht ins Deutsche übersetzt; das ist der Punkt.
Wir werden uns natürlich immer wieder — so, wie Sie das völlig zu Recht sagen — darum bemühen, daß Deutsch, das insbesondere durch das Hinzukommen vieler ost- und mittelosteuropäischer Staaten in Zukunft viel mehr gesprochen wird, seinen selbstverständlichen Platz in all diesen Gremien erobern wird. Es bedarf hier aber noch einer gewissen Zeit und natürlich auch zusätzlicher finanzieller Mittel.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314000
Vielen Dank.
Ich rufe jetzt die Frage 8 des Abgeordneten Claus Jäger auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des EG-Unterhändlers in Bosnien, Lord Owen, daß in diesem Land unter den heutigen Bedingungen eine friedliche Lösung nicht möglich sei, und welche Konsequenzen zieht sie bejahendenfalls für ihre Bosnien-Politik?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, in Bosnien-Herzegowina herrscht Krieg. Die bosnischen Moslems werden zwischen zwei Fronten zerrieben. Es droht ihre Ghettoisierung. Sollten diese heutigen Bedingungen fortdauern, so wäre eine friedliche Lösung bis auf weiteres nicht möglich. Dennoch bleibt die Wiederherstellung des Friedens Hauptziel der Bundesregierung sowie auch der internationalen Staatengemeinschaft. Die Bundesregierung verfolgt dieses Ziel in enger Abstimmung mit ihren Verbündeten.
Die bosnischen Moslems verfügen über keine Nachbarrepublik, die ihnen in irgendeiner Form Unterstützung gewähren könnte. Als Konsequenz hieraus begrüßt die Bundesregierung den Beschluß des Sicherheitsrates, das Mandat von UNPROFOR zugunsten der moslemischen Enklaven auszubreiten und die Bereitschaft der NATO, die UNPROFOR-Truppen im Falle eines Angriffes aus der Luft zu schützen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314100
Eine Zusatzfrage des Kollegen Jäger.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1216314200
Herr Staatsminister, angesichts Ihrer Antwort frage ich Sie: Ist die Bundesregierung auch der Meinung, wie sie eine angesehene amerikanische Zeitung zu dieser Situation dargestellt hat? Sie äußert sich so: Nachdem sie den Westen ausgeblufft haben, können die Serben ihre Offensive in Bosnien jetzt erst recht betreiben. Diplomaten erwarten mehr Krieg, nicht weniger. Ist das auch die Einschätzung der Bundesregierung?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich bin immer sehr vorsichtig, wenn ich auf irgendwelche Äußerungen irgendeines Journalisten irgendeiner Zeitung zu antworten habe, die nicht so bedeutsam sein muß, daß die Bundesregierung bemüht sein müßte, darauf zu antworten. Ich muß Ihnen sagen: Es gibt natürlich auch viele andere Meinungen.
Ich kann nur wiederholen, was ich gesagt habe. Es ist, wie wir alle wissen, nicht so einfach, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Moslems zu treffen. Das hängt nicht von der Bundesregierung ab; das hängt ganz wesentlich davon ab, inwieweit die Umsetzung der Sicherheitsresolution erfolgen kann, von der ich eben gesprochen habe. Ich glaube, dieses Thema ist so vielschichtig, daß es hier in der Fragestunde nicht umfassend beantwortet werden kann, sondern bestenfalls in einer Debatte im Deutschen Bundestag oder — wie wir das dauernd tun — im Auswärtigen Ausschuß.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314300
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jäger.




Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1216314400
Herr Staatsminister, bedenkt die Bundesregierung bei ihren Erwägungen zu diesem Thema auch, daß ein energischeres Handeln der europäischen Völkergemeinschaft schon im Interesse dieser Völkergemeinschaft selbst geboten wäre, angesichts der Tatsache, daß der Krieg in Bosnien jeden Tag ein Stück europäischer Glaubwürdigkeit und ein Stück Bereitschaft der Bürger, sich für dieses Europa auszusprechen, zerstört?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, „energischeres Handeln" sollten Sie konkreter umschreiben, denn Sie meinen offensichtlich ein militärisches Eingreifen. Ich finde es angesichts der Debatte, die hier in Deutschland über die deutsche Bundeswehr stattfindet, die sich sogar an humanitären Aktionen in Somalia auf Grund unserer Verfassungslage nur mit außerordentlichen Schwierigkeiten beteiligen darf, etwas schwierig, unseren europäischen Kollegen ständig den Rat zu erteilen, sie sollten sich energischer verhalten, während wir auf Grund der Lage auch in diesem Hause nicht dazu in der Lage sind, uns an solchem energischen Verhalten zu beteiligen. Ich finde es immer ein bißchen gefährlich, wenn wir allen anderen Ratschläge erteilen, während wir selbst freundlicherweise auf unsere Verfassungslage verweisen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314500
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Vera Wollenberger.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber die Verfassungslage ist so!)


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1216314600
Welche Maßnahmen des politischen Drucks hat die Bundesregierung unternommen, um die Wasserversorgung der abgeschnittenen muslimischen Stadtteile von Mostar wieder instandsetzen zu lassen?

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314700
Frau Kollegin, diese Frage steht natürlich nicht mehr im Zusammenhang mit der Ursprungsfrage. Herr Staatsminister, bitte.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann zwar wirklich überhaupt keinen Zusammenhang zwischen der Ursprungsfrage und Ihrer sehr detaillierten Frage, die natürlich hier jetzt auf Grund Ihrer Reise zustande gekommen ist, sehen, aber ich will gern versuchen, Frau Wollenberger, Ihre Frage aus dem Amt zu beantworten, wenn Sie mich dort anrufen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216314800
Wir kommen zur Frage 9 des Abgeordneten Jäger:
Welche Haltung nimmt die Bundesregierung zum sog. Schutzzonen-Plan der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Rußlands und Spaniens für Bosnien ein, nachdem Bundesminister Volker Rühe den Plan kritisiert, während ihn Bundesminister Dr. Klaus Kinkel befürwortet und nicht als Abkehr vom Vance-Owen-Plan für Bosnien bewertet?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie hatten nach der Haltung der Bundesregierung gefragt. Der in Washington am 22. Mai beschlossene Aktionsplan von fünf Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats ist inzwischen durch die Beteiligten in seiner Bedeutung erläutert worden. Er wird nunmehr als erster Schritt zur Umsetzung des weiterhin als
Lösungsmodell geltenden Vance-Owen-Friedensplans betrachtet.
Die 13 Punkte von Washington haben den VanceOwen-Plan in ihrem Wortlaut nicht erwähnt, sondern vielmehr von einem Vance-Owen-Prozeß gesprochen. Dies hat berechtigte Kritik auch seitens der Bundesregierung ausgelöst. Die richtigstellende Interpretation als Schritt zur Umsetzung dieses Plans deckt sich mit den Vorstellungen und der Linie der Bundesregierung.
Vizepräsident Helmuth Becker Zusatzfrage des Kollegen Jäger, bitte.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1216314900
Herr Staatsminister, sieht die Bundesregierung nicht die außerordentliche Gefahr, die darin besteht, daß bei dem Anstreben solcher Schutzzonen de facto den Serben ihr Gebietsgewinn belassen wird und damit die Auffassung der europäischen Regierungen, wonach völkerrechtswidrig mit Gewalt herbeigeführte Gebietsgewinne nicht hingenommen würden, zum bloßen Lippenbekenntnis herabsinkt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Gefahr sehen wir durchaus. Deshalb hatten wir ja auch an dem Text, so wie er uns aus Washington zunächst via Presse übermittelt worden war, Kritik geübt. Das ist inzwischen klargestellt worden. Ich selbst war ja bei dem Gespräch am Vorabend der Washingtoner Besprechungen in Rom dabei, als der russische Außenminister, der unmittelbar aus Belgrad und von einem Gespräch mit Herrn Tudjman kam, ganz klar gesagt hat, daß Rußland weiterhin den Vance-Owen-Plan als einzige Grundlage sieht, aber daß die Verwirklichung dieses Plans schrittweise erfolgen müsse. Das ist zum Teil mißverstanden worden. Es gibt keinen Zweifel daran, daß es zu dem Vance-Owen-Plan nach wie vor keine Alternative gibt.
Ihre Besorgnisse sind uns bekannt. Wir teilen sie auch. Wir haben sehr deutlich gemacht, daß wir daran festhalten müssen, daß Bosnien-Herzegowina als Staat erhalten bleibt. Das richtet sich übrigens auch — Herr Kollege, wenn ich Ihnen das noch sagen darf — mit gleicher Deutlichkeit an die Kroaten und nicht nur an die Serben.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216315000
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Jäger, bitte.

Claus Jäger (CDU):
Rede ID: ID1216315100
Herr Staatsminister, in Würdigung Ihrer Antwort möchte ich doch die Frage stellen, ob es nicht gerade diese Überlegungen der fünf Mächte waren, die jetzt dazu geführt haben, daß von seiten der serbischen Unterdrücker noch viel weitergehende Forderungen gestellt worden sind — etwa die Entsendung des Herrn Karadzic und anderer in die bosnische Regierung, sogar ausgestattet mit einem Vetorecht. Wie stellt sich die Bundesregierung zu diesen Forderungen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Wir sind ja nun an viele Forderungen und sich ständig ändernde Positionen der handelnden Akteure in diesem Konflikt



Staatsminister Helmut Schäfer
gewöhnt. Wir halten fest an dem, was wir mit der internationalen Staatengemeinschaft bis heute vertreten haben. Es kann einfach nicht sein, daß wir über das hinaus, was sowieso schon seitens der Serben an diesem Plan durch Besetzungen und die Versuche, diesen Plan dadurch zu Fall zu bringen und sich einen großen Teil Bosniens anzueignen, verändert worden ist, irgendwelche serbischen Vorstellungen dieser Art unterstützen werden und unterstützen können.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216315200
Herr Staatsminister, wir sind damit am Ende der Fragen aus Ihrem Geschäftsbereich. Wir bedanken uns für die Beantwortung der gestellten Fragen.
Wir kommen zum letzten Geschäftsbereich, den wir heute in der Fragestunde behandeln. Es ist der Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär Dr. Helmut Scholz zur Verfügung.
Die Fragen 25 und 26, gestellt von dem Kollegen Dr. Wolfgang von Geldern, sollen auf seinen Wunsch hin schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Es bleibt uns als letzte Frage in der Fragestunde die Frage 27 unseres Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der Internationalen Walfangkommission in Japan, und inwiefern hat sich die Bundesregierung am Beschluß des Deutschen Bundestages vom 29. April 1993 bei den Verhandlungen orientiert?
Herr Staatssekretär, bitte.

Dr. Rupert Scholz (CDU):
Rede ID: ID1216315300
Die Bundesregierung hat sich auf der Jahrestagung der Internationalen Walfang-Kommission (IWC) in Kyoto in Japan vom 10. bis zum 14. Mai 1993 nachdrücklich für den Schutz der Walbestände eingesetzt. Den Forderungen Norwegens und Japans nach einer begrenzten Wiederaufnahme des Fangs von Zwergwalen wurde nicht stattgegeben, weil die Voraussetzungen für eine Lockerung des weltweiten Verbots des kommerziellen Walfangs derzeit nicht gegeben sind. Die Bundesregierung hat für die von der IWC angenommene Entschließung gestimmt, mit der das Konzept der Errichtung eines Schutzgebiets für Wale in antarktischen Gewässern grundsätzlich befürwortet wird. Entsprechend dieser Entschließung sollen noch offene Fragen in einer zwischenzeitlichen Sitzung geklärt werden. Dabei geht es u. a. um die Festlegung der Grenzen eines Schutzgebiets, damit auf der nächsten Jahrestagung eine abschließende Entscheidung über das Schutzgebiet getroffen werden kann.
Das Ergebnis der Jahrestagung entspricht in vollem Umfang der Entschließung des Deutschen Bundestages zum Walfang. An der Überprüfung des Moratoriums wird sich die Bundesregierung weiterhin beteiligen. Dabei sind die Bestimmungen der WalfangKonvention zu beachten, die eine Nutzung von Walbeständen unter der Voraussetzung der Bestandserhaltung vorsehen. Der Bundesregierung liegt daran, die IWC zu erhalten und auch die am Walfang interessierten Länder in einen vollen Schutz der Walbestände einzubinden.
Die einseitige Wiederaufnahme des Walfangs durch Norwegen betrachtet die Bundesregierung mit Sorge. Entsprechend der Entschließung des Deutschen Bundestages hat die Bundesregierung an Norwegen appelliert, diese Entscheidung zu überprüfen und die Legitimität der IWC für die Regelung des Walfangs nicht in Frage zu stellen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216315400
Zusatzfrage des Kollegen Feige, bitte.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216315500
Schönen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. Ist unter diesen Bedingungen die Bundesregierung bereit oder beabsichtigt sie gar schon, Sanktionen gegen Länder vorzunehmen, die gegen diese Beschlußlage von Kyoto verstoßen?
Dr. Helmut Scholz, Staatssekretär: Diese Zusatzfrage möchte ich mit nein beantworten.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216315600
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216315700
Sie selber haben die Norweger erwähnt, die unter bestimmten Bedingungen den kommerziellen Walfang — traditionell, wie sie ihn nennen — wieder aufnehmen wollen, gleichzeitig aber EG-Mitglied werden wollen. Wie schätzen Sie unter diesen Bedingungen die Chancen und auch die Position der Bundesregierung zu diesem beabsichtigten EG-Beitritt ein?
Dr. Helmut Scholz, Staatssekretär: Wir hoffen, daß Norwegen dem Appell, den die Bundesregierung und 13 andere Staaten an Norwegen gerichtet haben, Folge leisten wird.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216315800
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde. Vielen Dank für die Beantwortung, Herr Staatssekretär.
Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe Punkt 19 a bis c sowie e und f der Tagesordnung auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, F.D.P. und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über besondere Maßgaben für die Anwendung des Parteiengesetzes
— Drucksache 12/5134 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz — KündFG)

— Drucksache 12/5081 —



Vizepräsident Helmuth Becker
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung pflanzenschutzrechtlicher und saatgutrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/4990 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes"
— Drucksache 12/5137 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
f) Erste Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, Johann Paintner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Weinrechts
— Drucksache 12/5138 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend)

Ausschuß für Gesundheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Punkt 20a bis q der Tagesordnung auf. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. März 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über Rentenversicherung
— Drucksache 12/4888 — (Erste Beratung 158. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß)

— Drucksache 12/5095 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Günther Heyenn
b) — Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Anpassungsprotokoll vom 17. März 1993 zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen)

— Drucksachen 12/4738, 12/4922 — (Erste Beratung 155. Sitzung)

— Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des EWR-Ausführungsgesetzes
— Drucksachen 12/4790, 12/4921 — (Erste Beratung 155. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß)

— Drucksache 12/5148 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hermann Schwörer
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1993 bei Kapital 60 02 Titel 532 03 — Ausgleichsabgabe nach § 11 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz -
- Drucksachen 12/4698, 12/4933 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft „Ehemaliges Stasi- und Ausbildungsgelände in Kallinchen/Schöneiche (Autodrom)"
— Drucksachen 12/4543, 12/4934 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer Teilfläche der ehemaligen WGT-
Kaserne Herrenkrug in Magdeburg
— Drucksachen 12/4642, 12/4935 —



Vizepräsident Helmuth Becker
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der ehemaligen WGT-Kaserne Turmschanzenstraße Nord und Süd in Magdeburg
— Drucksachen 12/4654, 12/4936 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen bebauten Liegenschaft Hegelstraße 42 (Palais am Fürstenwall) in Magdeburg
— Drucksachen 12/4715, 12/4937 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Zustimmung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Erfurt-Melchendorf (ehemals „ALO-Sportplatz")

— Drucksachen 12/4714, 12/4938 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministers für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur
Sicherung des Steinkohleneinsatzes"
— Wirtschaftsjahr 1991 —— Drucksachen 12/4063, 12/4939 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der ehemaligen Rumbeke-Kaserne in Soest, Lübecker Ring
— Drucksachen 12/4731, 12/4940 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
k) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Grundstücke in Frankfurt/ Main
— Drucksachen 12/4760, 12/4941 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
1) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanz en
Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
— Drucksachen 12/4753, 12/4942 — Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Adolf Roth (Gießen)
Werner Zywietz
m) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 12 apl. Titel 893 02 — Förderung von Allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen —— Drucksachen 12/4699, 12/4946 — Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
n) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Rechnungslegung der Kreditinstitute
— Drucksachen 12/4876, 12/5139 — Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres
Ludwig Stiegler
o) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 100 zu Petitionen mit Ausnahme der lfd. Nrn. 70-76
— Drucksache 12/4824 —



Vizepräsident Helmuth Becker
p) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 104 zu Petitionen — Drucksache 12/5048 —
q) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 105 zu Petitionen
— Drucksache 12/5049 —Wir stimmen zunächst ab über Tagesordnungspunkt 20a. Es handelt sich um den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Abkommen mit der Republik Chile über die Rentenversicherung auf Drucksache 12/4888.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Stimmenthaltungen? — Gegenstimmen? — Ich stelle fest: Dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20b: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, Drucksachen 12/4738 und 12/4922. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/5148, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Gegenstimme ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anpassung des EWR-Ausführungsgesetzes, Drucksachen 12/4790 und 12/4921. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/5148, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei einer Stimmenthaltung angenommen.
Zum Tagesordnungspunkt 20 c möchte unsere Kollegin Barbara Höll eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben. — Bitte sehr, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216315900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf der Drucksache 12/4933 zwar zustimmen, möchte jedoch mein Abstimmungsverhalten kurz begründen, um Mißverständnisse zu vermeiden.
Die Bundesregierung hat den Deutschen Bundestag davon unterrichtet, daß sie in diesem Jahr als Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz 11,4 Millionen DM überplanmäßig ausgeben muß. Ich bin selbstverständlich nicht gegen die Entrichtung einer Ausgleichsabgabe für unbesetzte Pflichtplätze.
Ich verbinde mit meiner Zustimmung zu dieser Beschlußempfehlung allerdings meine grundsätzliche Kritik an der Bundesregierung.
Ich habe mit großer Empörung zur Kenntnis genommen, daß der Bund nicht die im Schwerbehindertengesetz vorgeschriebene Zahl von Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Das wären mindestens 6 % der Arbeitsplätze. Hinter den 11,4 Millionen DM, die der Deutsche Bundestag heute zur Kenntnis nehmen soll, verbergen sich, wenn man berücksichtigt, daß die Höhe der Ausgleichsabgabe 200 DM je Monat und unbesetzten Pflichtplatz beträgt, rein rechnerisch gesehen im Jahre 1992 4 750 nicht besetzte Vollzeitarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen.
Diese Unterrichtung durch die Bundesregierung und diese Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses geben in nüchternen Zahlen und Fakten einem sozial- und arbeitsmarktpolitischen Skandal Ausdruck. Ich stimme dieser Vorlage zu und erkläre zugleich, daß ich den ihr zu Grunde liegenden Sachverhalt scharf mißbillige. Ich wünsche uns und den Betroffenen, daß uns im kommenden Jahr eine solche Vorlage erspart bleiben möge.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216316000
Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1993, Drucksachen 12/4698 und 12/4933. Es handelt sich um die Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 20 d bis 20 h auf. Es handelt sich um fünf Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung von bundeseigenen Liegenschaften.
Frau Kollegin Höll hat zum Tagesordnungspunkt 20d und zu zwei weiteren Punkten ebenfalls darum gebeten, gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung abgeben zu können. — Bitte sehr, Frau Dr. Höll.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216316100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 12/4934, 12/4938 und 12/4941 ablehnen. Dieses Abstimmungsverhalten möchte ich kurz begründen.
Ich werde dem Verkauf der seit dem 3. Oktober 1990 bundeseigenen Liegenschaft in Schöneiche, der der Bundesminister der Finanzen in seinem Antrag an den Deutschen Bundestag die unser aller Phantasie anregende Bezeichnung „Ehemaliges Stasi- und Ausbildungsgelände" verpaßt hat, nicht zustimmen. Die Bundesregierung gab uns dann zum Glück noch eine weitere Aufklärung: daß es sich bei dem Grundstück um ein Autodrom handelt — wenn man den Duden zu Rate zieht: eine ringförmige Straßenanlage für Renn- und Testfahrten.



Dr. Barbara H611
Ich stimme gegen den Verkauf dieses Grundstücks an eine in Düsseldorf ansässige „Gesellschaft für Anlagenverwertung und Vermögensprojektierung" zum Preis von 12 Millionen DM, weil ihm nachweislich keine Ausschreibung vorausgegangen ist. Die Bundesregierung behauptet zwar — wie aus ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage von mir hervorgeht —, in den neuen Ländern würden Kaufpreise für bundeseigene Grundstücke möglichst weitgehend durch Ausschreibung ermittelt. Aber dem widerspricht ihre Praxis so eindeutig, daß ich der Beschlußempfehlung nicht zustimmen kann.
Ich hege hier den Verdacht, daß sich hinter dem Erwerber — es handelt sich um einen alleinigen Gesellschafter einer GmbH — ein Unternehmen verbirgt, das Kapitalbesitzenden optimale Abschreibungsbedingungen organisiert und garantiert. Einer GmbH, die sich der Anlagenverwertung und Vermögensprojektierung widmet, verbietet es sich bei Strafe ihres Untergangs, den Bedürfnissen z. B. gering verdienender Wohnungsuchender gerecht zu werden. Auch deshalb kann ich dieser Beschlußempfehlung nicht zustimmen.
Der Erwerber beabsichtigt angeblich, dieses Gelände künftig als Gewerbe-, Wohn-, Erholungs- und Freizeitgebiet zu nutzen. Er versucht sich also an der Quadratur des Kreises. Dieses Vorhaben soll nach § 20 des Investitionsvorranggesetzes auf mehreren Grundstücken verwirklicht werden, die Gegenstand von Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz sind. Dem Erwerber soll der Investitionsvorrangbescheid für alle Ansprüche gemeinsam durch Gesamtverfügung erteilt werden. Ich sehe darin eine zwar legale, aber aus meiner Sicht nicht zu billigende Rechtsverkürzung und werde deshalb diesen Antrag ablehnen.
Dem Verkauf eines Sportplatzes in Erfurt-Melchendorf kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Unter anderem soll die Bundesbank knapp ein Drittel des 3,8 Hektar großen Geländes, das teilweise noch bebaut ist, erwerben. Diese Liegenschaft soll ebenfalls ohne Ausschreibung verkauft werden. Dies lehne ich ab.
Die Bundesregierung beabsichtigt ferner, insgesamt 15 550 qm große Grundstücke auf dem Gelände des Frankfurter Flughafens an die Flughafen Frankfurt AG zu verkaufen, die dem Bund zu 25,87 % gehört. Der Presse habe ich entnommen, daß auf diesem Gelände unter anderem ein Parkdeck errichtet wird, das bereits — so der Stand Ende April — längst im Rohbau fertig ist, obwohl der am 29. Januar 1993 zwischen dem Bund und der Flughafen AG abgeschlossene Kaufvertrag erst heute durch den Bundestag abgesegnet werden soll. Eine Zustimmung zu diesem Antrag würde das Vorgehen der Bundesregierung, den Deutschen Bundestag vor vollendete Tatsachen zu stellen, das ich nur als eine Verhöhnung des Parlaments bewerten kann, nachträglich legitimieren. Hierzu bin ich nicht bereit.
Schon allein die Absicht der Bundesregierung, Grundstücke an eine Aktiengesellschaft mit Bundesbeteiligung zu verkaufen, böte Anlaß zu vielen Fragen und Grund zu vertiefter Diskussion. Entscheidend für mein Nein zu dieser Beschlußempfehlung ist jedoch
die in diesem Antrag der Bundesregierung zum Ausdruck kommende Mißachtung der Rechte von Bundestag und Bundesrat.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216316200
Frau Kollegin Dr. Höll, zum Abstimmungsverfahren: Es liegt die Empfehlung vor, daß wir über mehrere Beschlußempfehlungen gleichzeitig abstimmen. Ihr Abstimmungsverhalten wissen wir: Den anderen Empfehlungen stimmen Sie zu. Dann könnte ich nämlich so verfahren, sonst nicht. — Gut.
Zu den Tagesordnungspunkten 20d bis 20h gibt es fünf Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung von bundeseigenen Liegenschaften. Wir stimmen also über die fünf Beschlußempfehlungen gemeinsam ab. — Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann können wir so verfahren.
Wer stimmt für diese fünf Beschlußempfehlungen des Haushaltausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dazu ist klargestellt, daß Frau Dr. Höll anderen Beschlußempfehlungen zustimmt. Das hat sie eben ausführt. — Das gilt auch für die beiden Kolleginnen von der Gruppe PDS/Linke Liste. — In Ordnung. Dann sind die Beschlußempfehlungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 20i: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes u im Wirtschaftsjahr 1991, Drucksachen 12/4063 und 12/4939. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 20j bis 201: drei Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung bundeseigener Liegenschaften. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich auch über diese drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen, wobei für Frau Dr. Höll und ihre beiden Kolleginnen dasselbe gilt wie eben.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 20m: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer außerplanmäßigen Ausgabe für die Förderung von Allgemeinen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Drucksachen 12/4699 und 12/4946.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich komme zum Tagesordnungspunkt 20n: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zur Änderungsverordnung über die Rechnungslegung der Kreditinstitute auf Drucksachen 12/4876 und 12/5139.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltungen der Kolleginnen aus der Gruppe PDS/



Vizepräsident Helmuth Becker
Linke Liste ist auch diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 20 o: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksachen 12/4824. Das ist die Sammelübersicht 100. Bei dieser Beschlußempfehlung stimmen wir über alle Nummern mit Ausnahme der laufenden Nrn. 70 bis 76 ab.
Wer stimmt für die laufenden Nrn. 1 bis 69 und 77 bis 83 der Sammelübersicht 100? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Kolleginnen aus der Gruppe PDS/Linke Liste sind die aufgerufenen Nummern angenommen.
Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 20p und q: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksachen 12/5048 und 12/5049. Das sind die Sammelübersichten 104 und 105.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? —Gegenprobe? — Stimmenthaltungen? — Dann sind auch diese Beschlußempfehlungen bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.
Wir sind damit am Ende dieses Abstimmungsverfahrens angelangt.
Meine Damen und Herren, ich möchte nun auf einige Umsetzungen in Gremien kommen.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß der Abgeordnete Erwin Marschewski auf seinen Sitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß verzichtet und nunmehr stellvertretendes Mitglied werden soll. Der Abgeordnete Dankward Buwitt, der bisher stellvertretendes Mitglied war, soll jetzt ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit sind der Kollege Dankward Buwitt als ordentliches Mitglied und der Kollege Erwin Marschewski als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Der Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) verzichtet auf seine Mitgliedschaft im Schuldenausschuß bei der Bundesschuldenverwaltung. Als seinen Nachfolger schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Abgeordneten Dr. Christian Neuling vor. Sind Sie mit dem Vorschlag einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit ist der Kollege Dr. Christian Neuling als Mitglied im Schuh denausschuß bei der Bundesschuldenverwaltung gewählt.
Der Abgeordnete Michael Glos scheidet aus dem Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Abgeordneten Ernst Hinsken vor. Sind sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe auch hier keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Ernst Hinsken in den Verwaltungsrat der Deutschen Ausgleichsbank entsandt.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur weiteren Tagesordnung, und zwar zum Tagesordnungspunkt 9 sowie den Zusatzpunkten 4 und 5:
Vereinbarte Debatte
zum Einsatz der Bundeswehr in Somalia
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Sofortiger Rückzug aus Somalia — Drucksache 12/5136 —
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr in Somalia
— Drucksache 12/5140 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe auch hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst unserem Kollegen Dr. Volkmar Köhler.

Dr. Volkmar Köhler (CDU):
Rede ID: ID1216316300
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Operation „Restore Hope" verläuft mit größeren Schwierigkeiten, als viele in unserem Lande gedacht und gewünscht haben. Aber wen kann das eigentlich ernsthaft verwundern?

(Zuruf von der SPD: Die F.D.P.)

Wer das Land kennt und sich einmal die Mühe macht, die UN-Resolution 814 vom 25. März zu lesen, kann dort eine Fülle von schwierigen, untereinander vernetzten und sich gegenseitig bedingenden Zielsetzungen finden, die durchzuführen in der Tag gar nicht einfach sein kann. Dies ist also nichts Neues. Der Kollege Lamers und ich haben vor der Presse am 1. Februar 1993 auf die vielen damit zusammenhängenden Probleme hingewiesen. Ich habe — darauf lege ich Wert — ohne jede Rücksicht auf taktische Feinheiten diese Dinge eine Woche zuvor im Auswärtigen Ausschuß in aller Offenheit angesprochen. Nein, die Probleme und Schwierigkeiten können nicht neu sein. Objektiv neue Fragen sind nicht zu erkennen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)

Neu ist, daß der sogenannte General Aidid geschossen hat.
Das ist der Ausgangspunkt für eine Fülle von Fragen und Überlegungen differenziertester Art. Es wird wieder die Frage gestellt, warum denn das deutsche Kontingent nicht in Nordsomalia eingesetzt worden sei. Darauf gibt es eine ganz klare Antwort; denn am 11. Mai hat es der Under-Secretary-General Annan für die Vereinten Nationen klar begründet. Er hat gesagt, die deutschen Kontingente sollten nicht im Norden tätig werden; der Norden sei zwar
calm and stable but has not been pacified fully; no United Nations troops have been or are in the area. If the German Contingent were to deploy to the North East, you should be aware that no other United Nations troops would be available to guarantee and maintain a secure area at the time of their deployment.
Das heißt auf deutsch

(Zuruf von der SPD: Was heißt das auf deutsch?)

— Nun seien Sie mal nicht so ungeduldig, denn ich
glaubte Ihnen schon den konkreten Text zu schul-



Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

den —, daß die deutschen Soldaten eben nicht in einem friedlichen Tal friedlich Brunnen hätten bauen können, sondern sich dort mutterseelenallein und ohne jeden Schutz wiedergefunden hätten.
Schon am 19. Februar hat z. B. die „Süddeutsche Zeitung" unter der Schlagzeile „Nordsomalia gegen UN-Truppen" berichtet, daß es zu Massenprotesten in Hargeisa in Erwartung der Entsendung deutscher Truppen gekommen sei.
Unter diesen Umständen ist die Verlegung des deutschen Einsatzes nach Belet Uen zweifellos eine Maßnahme, die der höheren Sicherheit der Soldaten dienlich sein konnte, ohne Schmälerung der humanitären Aufgaben. Daraus jetzt nachträglich eine größere Gefährdung zu konstruieren ist absurd.
Inzwischen gibt es weitere interessante Argumente, z. B. das, Herr Aidid stamme aus Belet Uen. In dem Zusammenhang sollte man erwähnen, daß sich sein dortiger Stellvertreter von ihm losgesagt hat und daß 16 verschiedene Clans keineswegs eine geschlossene Gruppierung darstellen, auf die sich Aidid dort stützen könnte. Leute, die glauben, daß 300 Kilometer von Mogadischu bis Belet Uen dasselbe bedeuten wie auf deutschen Autobahnen, kennen das Land nicht und gehen von falschen Vorstellungen aus.
Es wird nun auch über die Gefährdung der Materialtransporte über den Hafen von Mogadischu gesprochen. Wo eigentlich in diesem Lande sind Truppen vorhanden, die diese Transporte besser sichern und abschirmen könnten als am Hafen von Mogadischu und auf den anschließenden Verbindungsstraßen?
Als ich diese verschiedenen Argumente hören mußte, fiel mir Martin Luthers Wort ein, daß der Teufel ein gar feiner Sophistikus sei.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Keine Kritik an der F.D.P. in dieser Form bitte!)

Dies alles lenkt uns ab von einigen wenigen und entscheidenden Grundfragen.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist nämlich die Position der F.D.P.!)

— Lieber Herr Voigt, ich sage hier, was ich für richtig halte, und wer sich das anzieht, mag es gerne tun. Mir geht es nämlich um die Sache, und deswegen komme ich auf drei wesentliche Punkte.
Man kann die Operation „Restore Hope" kritisch betrachten und diskutieren. Wer diese Operation scheitern läßt — ein deutscher Rückzug würde nicht nur den Abtransport unseres Kontingentes bedeuten, sondern sich für geraume Zeit lähmend und paralysierend auf die Gesamtoperation auswirken —, stürzt eine Unzahl von Menschen an vielen Krisenherden der Welt in die absolute Hoffnungslosigkeit; denn nur die Vereinten Nationen sind es noch, die in den scheinbar unlösbaren Problemen in Liberia, in Sierra Leone, in Angola, in Mosambik usw. helfen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer eine Lähmung der Vereinten Nationen solchermaßen in Kauf nimmt oder betreibt, der sollte sich die
Zeit sparen, noch weiter über UN-Reformen oder gar
ein Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu sprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das einzige, was er wirklich bewirkt, ist, dabei zu helfen, daß ein vertragsbrüchiger Bandit ungestraft triumphieren kann.
Meine zweite grundsätzliche Bemerkung: Es geht bei dem Ganzen um das somalische Volk, ein eindrucksvolles, unendlich sympathisches Volk. Vergessen Sie bitte nicht, mit welchen Dithyramben dieses Volk 1977, nach der Befreiung der „Landshut", hier gerühmt wurde. Die Szenen hatten schon manchmal etwas Operettenhaftes. Ich möchte das nicht weiter qualifizieren. Eine gewaltige Emotion ist für dieses Volk hier ausgelöst worden und hat lange Jahre Bestand gehabt. Wenn eine theoretische Gefährdung heute genügt, daß Deutschland die Somalis ihrem Geschick überläßt, dann ist das ein schlimmes Ergebnis.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das kann man auch nicht damit verteidigen, daß man sagt, vielleicht hätten private, karitative Hilfsorganisationen das alles leisten können. Meine Damen und Herren, es gibt Fälle, in denen derjenige, der helfen will, ein Risiko in Kauf nehmen muß. Der nötige Rückzug der 50 THW-Helfer zeigt eben sehr deutlich, daß dieses Risiko andere Methoden als die der herkömmlichen karitativen und humanitären Hilfeleistung erfordert.
Ein Drittes. Ich sage noch einmal: Man kann über Durchführung und Planung der gesamten Operation streiten. Aber wer will, daß sie besser wird, daß die UN ihre Zielsetzung und ihr Vorgehen optimiert, kann das nur erreichen, wenn er beim Geschehen dabei ist und sich nicht selbst dort herausbegibt. Wer sich zurückzieht, zerschlägt damit die eigene Möglichkeit, begründete und gute politische Lösungsmöglichkeiten, die wir für Afrika haben, überhaupt zum Tragen zu bringen. Er nimmt sich jeden Einfluß, den er ausüben könnte.

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Ich möchte nicht — weil es genug geschehen ist — darüber sprechen, welche entsetzliche Blamage es wäre, wenn wir uns von dort zurückziehen müßten. Was ich noch viel mehr fürchte, ist, daß wir im Urteil vieler Völker der Welt zunehmend zum Parasiten der Völkergemeinschaft werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Walter Kolbow [SPD]: Nein! — Paul Breuer [CDU/CSU]: Leider wahr!)

Das muß sich für uns auf die Dauer bitter und nachteilig auszahlen. Auch dafür muß man die Verantwortung erkennen.
Ein Letztes zu dieser Frage. Es beschwert mich, daß wir unsere Soldaten in dieser Situation möglicherweise moralisch allein lassen. Auch dies ist schlimm. Auf alle diese Fragen — es sind politische Fragen, meine verehrten Kollegen von der SPD — ist hier und heute politische Antwort nötig. Denn kein Gericht der Welt kann Ihnen die Verantwortung abnehmen, die



Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg)

Sie zu tragen haben, wenn Sie wirklich eine Alternative zu dieser Regierung sein wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216316400
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Anke Fuchs das Wort.

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216316500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Köhler, Sie haben am Thema vorbeigeredet.

(Beifall bei der SPD)

Es geht nicht um die Frage, ob und wie in Somalia geholfen werden kann,

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sondern?)

sondern es geht um die Frage: Haben wir nach unserem Grundgesetz die Möglichkeit, unsere bewaffneten Streitkräfte in solche Aktionen hineinzulassen? Darum geht es heute auch in dieser Debatte.

(Beifall bei der SPD)

Dies nämlich ist ein Auftrag, der mit der Landes-und erweiterten Landesverteidigung in Bünden nichts zu tun hat und der auch deutlich nicht humanitärer Art wie z. B. Katastrophenschutz ist. Es handelt sich hier um eine aus unserer Sicht verfassungswidrige Aufgabe der Bundeswehr,

(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das haben Sie vorgestern entdeckt!)

und zwar deswegen, weil Sie deutsche Soldaten zur Teilnahme an einer offensichtlich gefährlichen militärischen Operation nach Somalia entsenden.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Was ist denn Sarajevo?)

Wir haben für diese Einsätze der Bundeswehr keine grundgesetzlichen Regelungen. Darum geht es in der heutigen Debatte.

(Beifall bei der SPD — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das ist die Unwahrheit, das wissen Sie ganz genau!)

Das war auch bisher übereinstimmende Auffassung. Sie brechen diese übereinstimmende Auffassung zum dritten Mal: Erst beim Adria-, dann beim AWACS-, dann beim Somaliaeinsatz. Jedesmal verstoßen Sie mit Ihrer Auffassung gegen das Grundgesetz, meine Damen und Herren.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das sieht aber Karlsruhe offensichtlich anders!)

Sie sind empört ob unserer Haltung,

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Die ganze Welt ist empört! — Christian Schmidt [Fürth] [CDU/ CSU]: Welche Haltung?)

aber Sie kannten unsere Haltung immer. Wir haben niemals einen Zweifel daran gelassen, daß wir eine Grundgesetzänderung brauchen, wenn wir wollen, daß unsere Bundeswehr an Aktionen der Vereinten Nationen teilnimmt.

(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sie verweigern sich doch!)

Sie haben keine Schritte unternommen, um eine verfassungsrechtliche Klarheit herzustellen. Deshalb wollen wir heute noch einmal den Versuch unternehmen, zu verhindern, daß eine Bundesregierung zum wiederholten Mal das Grundgesetz so verbiegt, wie es ihr gerade in den Kram paßt. Darum geht es, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Es ist eine Unverschämtheit!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216316600
Frau Kollegin Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216316700
Aber bitte sehr.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1216316800
Frau Kollegin Fuchs, Ihnen ist bekannt, daß ein Antrag der Koalition jetzt seit etlichen Wochen vorliegt. Warum sind Sie nicht bereit, mit uns gemeinsam hier zu einem Kompromiß zu kommen, damit unsere Soldaten endlich Rechtssicherheit bekommen, so wie Sie sie hier einfordern?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216316900
Sie wissen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion schon vor einem Jahr einen Antrag eingebracht hat. Sie sind unserem Antrag nicht gefolgt. Sie sind dann nachgezogen mit einem Antrag, den wir so nicht akzeptieren können. Der Kern ist aber: Sie geben mir zu, daß wir eine Verfassungsänderung brauchen, um diese Einsätze zu genehmigen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nein! — Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das haben wir Ihnen doch schon so oft erklärt!)

Deswegen sage ich wiederum: Diese Regierung biegt die Verfassung, wie es ihr paßt. Darum geht es heute.
Die Aufgabe der deutschen Soldaten ist in diesem Fall nicht humanitärer Art, sondern ist der Nachschub für Verbände anderer Staaten, die militärische Kampfaufgaben erfüllen. Neben der Selbstverteidigung sind die deutschen Verbände ausdrücklich zur Nothilfe für andere berechtigt. Damit sind die deutschen Soldaten Teil einer militärischen Mission.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Sie sind gegen Nothilfe!)

Der Unterstützungsverband der Bundeswehr soll in seinem Stationierungsraum ja die Versorgung von Truppen der Vereinten Nationen sicherstellen, die unter Kapitel VII der UN-Charta — Zwangsmaßnahmen — stehen.

(Beifall bei der SPD)

Aber Sie wissen das ja auch alles. Sie täuschen die Öffentlichkeit, indem Sie sagen, es seien humanitäre Einsätze. Und warum täuschen Sie die Öffentlichkeit? — Weil Sie hoffen, daß die F.D.P. diese Täuschung mitmacht; denn sonst müßte die F.D.P. ja wieder gegen ihre eigene Regierung klagen. Das wollen Sie



Anke Fuchs (Köln)

verhindern. Ich finde es verantwortungslos, was die F.D.P. hier betreibt.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216317000
Frau Kollegin Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216317100
Das tue ich gern.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU):
Rede ID: ID1216317200
Frau Kollegin Fuchs, sind Sie bereit, zu bestätigen, daß bei Annahme des von Ihrer Fraktion eingebrachten Antrags zur Grundgesetzänderung die Rechtsgrundlage für den humanitären Einsatz der Bundeswehr in Somalia entzogen wäre, während unser Antrag lediglich eine Klarstellung des Grundgesetzes bedeutet?

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist eine völlig falsche Analyse!)

Wir sind der Überzeugung, daß die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz gegeben sind, was von Ihnen allerdings bestritten wird. Aber eine Annahme Ihres Antrags entzöge für den Somalia-Einsatz die Rechtsgrundlage. Deswegen ist das widersprüchlich zu dem, was Sie hier vertreten.

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216317300
Also, Herr Kollege Schäuble, es hilft ja nichts: Wir sind da anderer Meinung. — Ich sage noch einmal:

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das haben Sie doch eben erklärt! — Paul Breuer [CDU/CSU]: Wollen Sie in Somalia helfen, oder wollen Sie nicht helfen?)

Die Bundeswehr hat jetzt in Somalia keinen humanitären Auftrag. Es ist ein Militäreinsatz.

(Beifall bei der SPD — Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wäre AWACS auch!)

Die Frage, wie weit unser Antrag gereicht hätte, wäre in Verhandlungen auszuloten gewesen. Dazu ist es aber nicht gekommen, weil Sie nach wie vor der Auffassung sind, nur das mitmachen zu können, was Sie nach Ihrer Auffassung auch ohne Grundgesetzänderung können. Darin unterscheiden wir uns.
Deswegen sagen wir aus unserer Sicht noch einmal völlig zu Recht: Wir werden alle gebotenen Maßnahmen ergreifen, um klarzumachen, daß man das Grundgesetz nicht verbiegen kann, wie es einem gerade paßt. Das ist auch der Grund dafür, daß wir jetzt wiederum eine Einstweilige Anordnung in Karlsruhe beantragen müssen. Es tut mir leid, aber es ist so.

(Beifall bei der SPD — Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Unfähig zur Politik!)

Die politische und militärische Lage in Somalia — das wissen Sie selbst, lesen Sie die FAZ von gestern — läßt eine Unterscheidung zwischen humanitärem und militärischem Engagement in Somalia gar nicht zu. Diese Trennung ist willkürlich und wirklichkeitsfremd. Es ist spannend, daß Sie wieder betonen, es sei dort alles ganz sicher. Wer entscheidet
eigentlich, ob das ein gefährdetes oder ein befriedetes Gebiet ist:

(Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD nicht!)

die Vereinten Nationen, oder Sie aus eigener Sachkenntnis?

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Oder die SPD! — Michael Glos [CDU/CSU]: Weltmacht SPD!)

Und wenn Zweifel aufkommen: Zu wessen Gunsten entscheiden Sie eigentlich, wenn die Frage, ob eine Gefährdung vorliegt, von uns beantwortet werden kann? Sie sehen daraus: Wir gehen von Gefährdung aus. Sie können Mogadischu nicht zu einer befriedeten Region erklären.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wir sind nicht in Mogadischu!)

— Wenn ich richtig informiert worden bin, wird ein Teil der Truppen, die Sie dorthin haben wollen, per Schiff über Mogadischu hingebracht. Sie müssen also durch ein unbefriedetes Gebiet, um in einem nach Ihrer Auffassung befriedeten Gebiet humanitäre Aktionen durchführen zu können. Wenn sie aus dem befriedeten Gebiet heraus wollen, müssen sie wieder durch ein unbefriedetes Gebiet. Daran sehen Sie doch, wie schwachsinnig diese Ihre Unterteilung ist, meine Damen und Herren, und Sie machen sie ja auch nur, um der F.D.P. eine Chance zu geben.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Jetzt will ich noch einmal auf die verfassungsrechtliche Frage eingehen. Sie können uns ja für uneinsichtig halten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das akzeptiere ich auch. Richtig ist aber auch: Für eine Verfassungsänderung brauchen Sie unsere Zustimmung. Ich habe eben Herrn Schäuble gehört. Er sagt, Sie wollen eine andere Verfassungsänderung als wir.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wollen Sie in Somalia helfen?)

Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben diese verfassungsrechtliche Lage im Augenblick nicht. Solange Sie die von Ihnen gewünschte Änderung des Grundgesetzes nicht haben, so lange müssen Sie sich an geltendes Recht halten. Das ist der Kern der Auseinandersetzung.

(Beifall bei der SPD)

Nun reden Sie vom außenpolitischen Schaden.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Nein, das Verfassungsgericht redet davon!)

Wer hat den außenpolitischen Schaden herbeigeführt? — Ja, ich weiß: Wir müssen Gefährdung und außenpolitischen Schaden gegeneinander abwägen. Zum außenpolitischen Schaden komme ich jetzt, Herr Kollege. Wer hat den eigentlich verursacht? Sie haben doch im Ausland den Eindruck erweckt, Ihre Verfassungsauslegung sei grundgesetzkonform. Sie haben im Ausland den Eindruck erweckt, Sie brauchten die



Anke Fuchs (Köln)

Opposition gar nicht zu einer Verfassungsänderung. Sie haben im Ausland die Erwartung geweckt, Sie könnten diese Aktion durchführen. Ich möchte Sie daran erinnern: Das Verfassungsgericht hat Sie ermahnt, mit weiteren außenpolitischen Erwartungen vorsichtig zu sein. Sie haben diese Erwartungen geweckt.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Abenteuerlich!)

Deswegen müssen Sie für den außenpolitischen Schaden aufkommen. Sie haben ihn verursacht, weil Sie nicht klipp und klar gesagt haben: Die Bundesrepublik Deutschland hat im Augenblick nicht die verfassungsrechtliche Klarheit, die geboten ist, um die Bundeswehr über Landes- und Bündnisverpflichtungen hinaus einzusetzen. Das hätten Sie im Ausland sagen müssen. Dann wäre Klarheit da, und ein außenpolitischer Schaden könnte gar nicht entstehen.

(Beifall bei der SPD — Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: So stellt sich Lieschen Müller Außenpolitik vor!)

Ein Einsatz unserer Soldaten, bei dem sie Leib und Leben riskieren, darf sich nicht in einer verfassungsrechtlichen Grauzone abspielen. Wir haben im letzten Sommer einen Antrag eingebracht. Wir sind bereit, über diesen Antrag zu reden. Ich weiß, warum Sie nicht darüber reden wollen. Sie wollen gar keine Änderung. Wir wollen eine Änderung. Mir ist nicht klar, warum man sich nicht auf dieses Minimum des Konsenses hat einigen können.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ihr Antrag schließt Somalia aus!)

Aber ich sage Ihnen: Die Diskussion der letzten Monate hat einen Konsens nicht erleichtert.
Sie haben versucht, scheibchenweise über Etikettenschwindel, auf Schleichwegen ohne Verfassungsänderung weltweite Einsätze der Bundeswehr zu deren Aufgabe zu machen. Deswegen sind wir Ihnen gegenüber mißtrauisch geworden, und es wird schwer sein, wieder zu einem Konsens zu finden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216317400
Frau Kollegin Fuchs, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kossendey?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216317500
Bitte sehr.

Thomas Kossendey (CDU):
Rede ID: ID1216317600
Liebe Frau Fuchs, mich würde die Frage interessieren, ob Sie bereit wären, einer Verfassungsformulierung zuzustimmen, die diesen Einsatz, den die Truppen jetzt vor sich haben, ermöglicht?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216317700
Darum geht es jetzt nicht, Herr Kollege.

(Lachen bei der CDU/CSU)

Es geht darum: Eine Verfassungsänderung haben wir nicht. Die Bundesregierung hat mit ihrem Kabinettsbeschluß eine verfassungswidrige Entscheidung getroffen. Ich habe vorhin angedeutet, daß wir bereit
sind, über den von uns eingebrachten Antrag mit Ihnen zu reden, zu diskutieren. Ich weiß, daß die F.D.P. als Weltkind in der Mitte dabei ist, Formulierungsvorschläge zu machen. Wir haben uns dem nie verweigert.

(Beifall bei der SPD)

Aber ich kenne die Haltung von Herrn Schäuble. Er hat bisher blockiert, daß wir aufeinander zugehen, meine Damen und Herren. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Verbrannte Erde macht der!)

Es geht im übrigen auch darum, daß wir fehlende deutsche Außenpolitik — so will ich es einmal formulieren — nicht durch verfassungswidrige Einsätze der Bundeswehr in aller Welt ersetzen können. Wir wollen aufpassen, daß es nicht eine Verschiebung gibt, nämlich von einer deutschen Außenpolitik, die darauf ausgerichtet ist, mit friedlichen Mitteln Konflikte zu vermeiden, hin zu militärischen Optionen ohne klar umrissene außenpolitische Ziele.

(Beifall bei der SPD)

Solange keine Sicherheit über die Rechtsgrundlage des Einsatzes in Somalia besteht, ist dieser Einsatz aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der beteiligten Soldaten nicht verantwortbar.
Deswegen bitte ich, daß Sie sich unserem Antrag anschließen, die Bundesregierung aufzufordern, den Einsatz in Somalia zu beenden und statt dessen zu prüfen, wie die Friedensmissionen der Vereinten Nationen durch die Bundesrepublik mit nichtmilitärischen Mitteln unterstützt werden können.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Alles mit Geld!) Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216317800
Ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen, unserem Kollegen Dr. Klaus Kinkel, das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216317900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle erinnern uns an die Verhältnisse, die Ende letzten Jahres im Somalia herrschten: Hunger, Chaos und Gewalt. Zu diesem Inbegriff war dieses Land leider geworden.
Ich habe vorgestern in Wien unsere Haltung zur Frage der Menschenrechte dargelegt. Ich stelle die Frage: Welchen Sinn hätte eine solche Veranstaltung, wenn die internationale Gemeinschaft zugleich dem Sterben von Hunderttausenden tatenlos zuschaute?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Niemand hat im Dezember 1992 bezweifelt, daß es richtig war, in Somalia einzuschreiten, zu helfen. Mit der Operation „Restore Hope" haben die Vereinten Nationen ein sicheres Umfeld vorbereitet und im wesentlichen geschaffen. Erst von da an konnten Hilfsorganisationen Menschen versorgen, Kinder pflegen, Leben retten. UNOSOM II, die humanitäre Hilfsaktion, begann.



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
In dieser Situation konnte und durfte Deutschland nicht abseits stehen. Wir waren bereits Ende 1992 — das ist sehr schnell vergessen worden — der zweitgrößte Geber humanitärer Hilfe in Somalia; wir sind es geblieben. Generalsekretär Boutros Ghali bat im Januar dieses Jahres ausdrücklich auch um deutsche Beiträge durch die Bundeswehr.

(Rudolf Bindig [SPD]: Diese Bitte haben Sie angeboten! — Walter Kolbow [SPD]: Im Auswärtigen Ausschuß hat er gar nichts gesagt!)

Er war hier, hat es dem Bundeskanzler und auch mir vorgetragen. Ich hatte ihn davor mehrfach getroffen, er hat immer wieder darauf hingewiesen: Bitte helft den Vereinten Nationen in Somalia durch die Bundeswehr!
Am 12. April diesen Jahres hat Boutros Ghali dann konkret um Entsendung eines Bundeswehrkontingents nach Somalia, in die Region Belet Uen, gebeten. Für uns war wichtig, daß es bei unserem Einsatz nicht um militärischen Zwang geht, weder unmittelbar noch mittelbar. Der Auftrag ist humanitäre Hilfe und Logistik.
Die Vertreter des Verteidigungsministeriums und des Auswärtigen Amtes beim Vorkommando konnten sich davon überzeugen, daß es sich beim vorgesehenen Einsatzgebiet, wie von den Vereinten Nationen vorgesehen und auch bezeichnet, urn ein jedenfalls bisher befriedetes Gebiet handelt. Ich habe gestern noch einmal unsere Botschaft in Nairobi aufgefordert, einen präzisen Bericht zu dieser Situation vorzulegen; es ist so bestätigt worden.

(Paul Breuer [CDU/CSU]: Das bestätigt jeder Beobachter!)

Deshalb standen einem solchen Einsatz keine verfassungsrechtlichen Schranken entgegen.
Ich erkläre auch hier vor dem Deutschen Bundestag, daß die verfassungsrechtliche Seite etwas war und ist, was mich aus für Sie nachvollziehbaren Gründen in besonderer Weise interessiert hat und interessiert. Für mich selber jedenfalls kann ich nach eingehender Prüfung sagen, daß zum Zeitpunkt des Beschlusses und bis heute die Voraussetzungen der Verfassungskonformität bei Zugrundelegung des Art. 87 a Abs. 2, der in diesem Zusammenhang für mich gilt, gegeben sind.

(Beifall bei der F.D.P.)

Allerdings habe ich bereits damals im Bundestag gesagt — ich kann mich noch an die Reaktion erinnern —, sage es auch heute wieder: Ein befriedetes Gebiet in Somalia ist keine deutsche Fußgängerzone.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie kennen die deutschen Fußgängerzonen nicht!)

Es verbleiben Risiken. Frau Henselder-Barzel hat es vor kurzem auf den Punkt gebracht: Wenn man jedes Risiko für Leib und Leben völlig ausschließen wollte, müßte man jedenfalls in Somalia auf jede humanitäre Hilfe verzichten.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Deshalb ist nur die Bundeswehr unter den vor Ort gegebenen Umständen in der Lage, die von Boutros Ghali erbetene spezielle Hilfe wirksam zu leisten. Auf die Frage, warum wir das nicht mit Technischem Hilfswerk allein oder mit anderen zivilen Organisationen machen, ist die Antwort ganz einfach: weil offensichtlich 30 andere Länder derselben Auffassung sind, daß man in einer solchen Situation in einem solchen Gebiet tatsächlich Soldaten braucht, auch um die logistischen und anderen Aufgaben humanitärer Art, die ich beschrieben habe, durchzuführen.
Die Tötung von 23 pakistanischen UNO-Soldaten durch Verbände des Generals Aidid war eine gezielte Herausforderung der Vereinten Nationen. Wollte man die Autorität der Staatengemeinschaft und den Fortgang der Friedensbemühungen nicht aufs Spiel setzen, war eine entschiedene Reaktion unumgänglich; denn ohne eine Entwaffnung der rivalisierenden Gruppen kann Somalia nicht zur Ruhe kommen, kann es keine Hilfe und keine Aufbauarbeit geben.
Meine Damen und Herren, für uns entscheidend bleibt ganz zweifellos die Frage der Sicherheit unserer Soldaten. Hier kann man, jedenfalls für den heutigen Tag, nur eines feststellen: Die Ereignisse in Mogadischu haben bislang keine Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Belet Uen. Nach unserer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse ist es unwahrscheinlich, daß die gewaltsamen Aktionen Aidids auf Belet Uen übergreifen. Die vom Bundeskabinett festgelegten Voraussetzungen für die Entsendung unserer Soldaten sind — im Augenblick jedenfalls — erfüllt. Die Bundesregierung wird ihrer Fürsorgepflicht für unsere Soldaten entsprechen. Sollte sich die Lage dort verschlechtern oder in eine Situation hineinschlittern, die es eben als nicht mehr möglich erscheinen läßt, von befriedetem Gebiet oder rein humanitärem Einsatz zu sprechen, wird man über die Situation und über andere Entscheidungen neu nachdenken müssen. Das werden wir tun.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Dann stellen Sie einen Antrag in Karlsruhe!)

— Vorläufig sind Sie in Karlsruhe, dieses Mal nicht wir.
Wir werden nicht zulassen, daß die Soldaten Leib und Leben in einer rechtlichen Grauzone riskieren. Die Bundesregierung wird das genausowenig zulassen wie Sie.

(Beifall bei der F.D.P.)

Eine Rückberufung unserer Soldaten — darauf ist schon hingewiesen worden — wäre im Augenblick ein schlimmer Fehler.
Erstens. Die UNO-Operation würde erheblich beeinträchtigt. Ein Ersatz für unser Kontingent wäre kurzfristig wohl kaum zu finden.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber machbar!)

Von der 4 000 Mann starken indischen Brigdade ganz abgesehen, sind mindestens ein halbes Dutzend internationale Hilfsorganisationen in Belet Uen auf die Unterstützung durch uns angewiesen.



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Zweitens. Der außenpolitische Schaden — ich brauche das nicht besonders zu betonen — wäre besonders schlimm.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Hier geht es um nichts weniger als um die Politikfähigkeit des wiedervereinigten Deutschlands. Ohne Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit wird es keine erfolgreiche deutsche Außenpolitik geben können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich nehme an, daß der Verteidigungsminister noch darauf eingehen wird, aber ich sage es auch:
Drittens. Katastrophal wären auch die Auswirkungen auf die Moral unserer Soldaten. Wir sind stolz auf das, was unsere Soldaten humanitär in Sarajevo, in Kambodscha und jetzt in Belet Uen leisten. Ich danke ihnen ausdrücklich nochmals dafür.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, ein Abzug des Vorauskommandos wäre wahrhaftig das letzte, was die Bundeswehr in ihrer im Augenblick laufenden Umstrukturierungsphase gebrauchen könnte. Hierüber sollten wir uns alle im klaren sein.
Viertens. Den größten Schaden aber — das sollten wir nicht vergessen — würde letztlich die somalische Bevölkerung, würden die Menschen erleiden. Sie verdienen es nicht. Unser Land hat gerade in Mogadischu — ich habe damals selbst sehr eng und intensiv an dieser Aktion mitgewirkt — diesem Land und den Menschen dort sehr viel zu verdanken. Herr Köhler hat vorhin darauf hingewiesen. Das war damals eine Aktion, die über Jahre hier im Land eine ganz, ganz große Rolle gespielt hat. Wir sollten das nicht so schnell vergessen. Sie haben recht, Herr Köhler.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Letztendlich liegt die Zukunft Somalias natürlich beim somalischen Volk selbst. Ohne eine längere Anwesenheit der UNO als Ordnungsfaktor wird es nicht gehen. Hierfür wollen und müssen auch wir unseren Beitrag leisten. Ich wünsche mir eigentlich nichts mehr, als daß wir alle uns politisch und verfassungsrechtlich dazu bekennen würden.
In der Frage einer Verfassungsänderung sollten wir weiter gesprächs- und kompromißbereit sein.

(Thea Bock [SPD]: Weiter?)

Um die Grundgesetzänderung, die wir ja alle wollen, sollten wir uns weiter bemühen. Ich appelliere an alle, aufeinander zuzugehen. Deutsche Außenpolitik muß insoweit wieder handlungsfähig werden.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das ist richtig! Das ist wahr!)

Ich sage das als Außenminister mit großem Nachdruck, Herr Voigt. Sie haben die Chance, daran entscheidend mitzuwirken.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie denn? — Walter Kolbow [SPD]: Sie sind schon länger im Amt!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216318000
Ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Andrea Lederer.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216318100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Köhler, wenn Sie nicht erkennen können, was neu ist an der Situation, dann will ich Ihnen das deutlich sagen: Neu ist, daß die Bundeswehr an einem internationalen Einsatz, einem Militäreinsatz beteiligt ist, der nichts mehr mit humanitären Einsätzen zu tun hat, sondern mit einer militärischen Auseinandersetzung in einem afrikanischen Staat. Das ist neu an der Situation.

(Zuruf von der CDU/CSU: So einfach ist das für Sie! — Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] [CDU/CSU]: Das ist Ihre Interpretation! Deshalb ist sie aber noch lange nicht richtig!)

Und das ist das, was die Bundesregierung auch zu verantworten hat. Exakt das ist es.
Es ist, zugegeben, eine verfahrene Situation. Ich muß ehrlich sagen, ich bin, gelinde gesagt, einigermaßen entsetzt, auch von der Rede von Ihnen, Frau Fuchs, und ich bin entsetzt darüber, daß Sie auf die Frage, wenn es darum ginge, eine verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz in Somalia zu schaffen, nicht geantwortet haben, und Ihr Kollege, Herr Voigt, sagt: Natürlich wollen wir einen solchen Einsatz.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe auf unseren Antrag verwiesen, Frau Kollegin!)

Hier wird doch in einer Tour ein Widerspruch nach dem anderen aneinandergereiht. Sie erklären selber, es handelt sich nicht um einen humanitären Einsatz. Auf der anderen Seite erklären Sie, Sie wollen so etwas. Infolgedessen ist im Grunde genommen das ganze verfassungsrechtliche Scharmützel eine vorgeschobene Angelegenheit, weil es Ihnen allen offenkundig — und ich bin gespannt, was BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN nach dem bedauerlichen Länderratsbeschluß hier noch erklären wird — darum geht, die formalen Grundlagen zu schaffen, um die Bundeswehr grundsätzlich weltweit einsetzen zu können. Das ist momentan die Situation. Wenn man gerade die Äußerungen der SPD in den letzten Tagen betrachtet, dann kann man deutlich erkennen, daß es im Grunde nur noch um die Verfassungsfragen geht, aber nicht mehr um das, worum es eigentlich gehen sollte, nämlich um die Frage, ob sich die Bundeswehr künftig bei internationalen Konflikten militärisch an Kampfeinsätzen beteiligen wird.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Soll sie zur Heilsarmee werden?)

Ich will noch auf eine andere Argumentation eingehen, die mir bei dieser ganzen Diskussion massiv aufstößt, und zwar ist das die Diskussion über die Gefahr von Leib und Leben für die Bundeswehrsoldaten in Somalia. Ich wünsche dort niemandem irgend etwas. Ich wünschte mir, sie würden sofort — insofern haben wir einen Antrag eingereicht — zurückkommen. Langfristig wären sie sogar am sichersten, wenn sie ihre Helme an den Nagel hängen, zivilen Berufen nachgehen und beispielsweise in Somalia zum Auf-



Andrea Lederer
bau des Landes beitragen würden. — Das vorweggeschickt.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber Ihre Sorge, die Sie wegen der Entscheidung in Karlsruhe haben, ist berechtigt. Angenommen, es passiert etwas in Somalia, und das Bundesverfassungsgericht entscheidet die Verfassungswidrigkeit dieses Einsatzes, dann trifft Sie die volle Verantwortung, politisch und strafrechtlich, für das, was dort passiert ist. Deswegen verstehe ich, daß Ihnen angesichts der bevorstehenden Entscheidung mulmig ist.
Ich will aber noch etwas sagen, was ich viel schlimmer finde: Es wird mit keinem Satz erwähnt — auch nicht vom Außenminister —, daß es momentan in Somalia auf Grund der UN-Aktion Opfer zu beklagen gibt. Wie finden Sie denn die „ chirurgischen Schläge", die eine Frau beim Teetrinken „erwischen„? Was halten Sie denn von dieser Sprache? Sie haben sich gestern hier hingestellt und gesagt, wir sollten die Sprache ein wenig vermenschlichen. Das fällt Ihnen erst nach diesen ganzen Anschlägen ein. Was sagen Sie denn zu dieser Sprache? Sie entspricht dermaßen dem militaristischen Geist, und der ändert sich eben auch nicht, wenn man einen blauen Helm darüberstülpt.
Was sagen Sie zu den Opfern in Somalia? Was sagen Sie zu dem, was afrikanische Organisationen, was Hilfsorganisationen in diesem Land für nötig halten? Es ist nicht so, daß es der bundesdeutschen Soldaten bedarf, um Somalia aufzubauen; es bedarf ganz anderer Dinge.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Es bedarf solcher Frauen wie Sie! — Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216318200
Frau Kollegin Lederer, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216318300
Ja, bitte.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216318400
Herr Kollege Nolting, bitte.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1216318500
Frau Kollegin Lederer, kennen Sie den Auftrag, den unsere Bundeswehrsoldaten in Somalia ausführen sollen? Wissen Sie, daß sich der Auftrag auf logistische Unterstützung erstreckt,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was ist denn Logistik?)

daß z. B. Wasser aufbereitet werden soll, daß es um die Bevorratung von Wasser und auch von Nahrungsmitteln geht? Wissen Sie, daß es auch um humanitäre Maßnahmen geht, indem gesagt wird, Krankenhäuser sollen unterstützt werden, es soll die Instandsetzung von Schulen, es soll der Transport von Saatgut vorgenommen werden? Meinen Sie nicht, daß es letztlich um den Aufbau dieses Landes geht?

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216318600
Natürlich kenne ich den Auftrag. Ich kenne auch die Unterlagen dazu. Aber versuchen Sie doch nicht schon wieder, etwas
schönzureden, was nicht schönzureden ist. Warum, bitte schön, hat sich die Bundeswehr etwa geweigert, in Mogadischu den Hafen zu sichern? Das war ja ein Punkt. Warum, bitte schön, haben Sie mir auf meine Anfrage mitgeteilt, weitere zivile Hilfsorganisationen sind gar nicht angefragt worden, um beispielsweise zivile Hilfsmaßnahmen in Somalia durchzuführen? Warum, bitte schön, sind die Männer vom THW abgezogen worden, wenn es sich hier noch um humanitären Einsatz handeln soll? Die Bundeswehr ist ein Rädchen in dem, was momentan die UN-Truppen dort machen. Sie leistet Logistik für das, was die UN-Truppen und auch die US-Truppen und die pakistanischen Truppen dort machen. Sie werden mir wohl darin zustimmen, daß es sich offenkundig nicht mehr um eine friedliche Situation in diesem Lande handelt. Also beteiligt sich die Bundeswehr als ein Rädchen in diesem ganzen Konzept an den Auseinandersetzungen. Sie können soviel erzählen, was auf dem Papier steht, wie sonst was. Fakt ist, es handelt sich um einen Militäreinsatz. Es entbehrt der verfassungsrechtlichen Grundlage dazu. Es ist so, daß in diesem Land nicht mehr darüber diskutiert werden soll, um was es eigentlich geht, nämlich wirklich um internationale Einsätze der Bundeswehr, sondern es wird im Grunde genommen nur noch darüber debattiert, welche formalen Voraussetzungen man dazu haben will oder nicht.

(Abg. Dr. Eberhard Brecht [SPD] und Abg. Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] melden sich zu einer Zwischenfrage)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216318700
Frau Kollegein Lederer, es gibt noch zwei Wünsche auf Zwischenfragen. Lassen Sie die zu?

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216318800
Bitte.
Vizepräsident Helmuth Becker Bitte, Kollege Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1216318900
Frau Kollegin Lederer, Sie haben eben davon gesprochen, daß Sie Militäreinsätze grundsätzlich ablehnen, und haben das Wort Militarismus gebraucht. Nun kenne ich Ihre Biographie nicht so genau. Aber zumindest die Gruppe, aus der Sie kommen, hat früher den proletarischen Internationalismus gepredigt, und der hatte eine militärische Komponente. Ich kenne eine ganze Reihe von Fällen, wo z. B. die frühere DDR oder Gruppen, die in diesem Lande beheimatet waren, sehr, sehr militante Gruppen unterstützt haben. Ich weiß nicht so recht, wie Sie das mit Ihrer Philosophie in Übereinstimmung bringen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216319000
Das Klatschen wird nicht abgezogen von der Redezeit?
Herr Kollege, ich hatte eigentlich gehofft — weil ich aus Gesprächen wirklich an Ihrer Frage interessiert war —, Sie ließen sich ein bißchen was Schlaueres einfallen. Also erstens: Ich komme aus dem Westen. Zweitens freue ich mich, gerade in der PDS intensivst für eine antimilitaristische Politik zu streiten, auch



Andrea Lederer
eine Auseinandersetzung beispielsweise über das, was seitens der DDR in diesen Fragen passiert ist, zu führen. Infolgedessen habe ich ein massives Interesse daran, daß sich beispielsweise die PDS/Linke Liste u. a. auch von meinen Positionen in dieser Frage überzeugen läßt. Bislang ist das ganz gut gelungen. — Das zu dieser Frage.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216319100
Frau Kollegin Lederer, es gibt noch einen Wunsch für eine Zwischenfrage. — Bitte, Frau Kollegin Wollenberger.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1216319200
Frau Kollegin Lederer, darf ich Ihrer Frage, warum sich die Bundeswehr nicht mit der Sicherung des Hafens von Mogadischu befaßt hat, entnehmen, daß Sie für einen solchen Einsatz gewesen wären?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216319300
Nein, nein — Sie haben ja Beifall von der richtigen Seite —, aber es hat eines deutlich gemacht: Es ging nicht um humanitäre Fragen, es ging nicht um einen humanitären Einsatz. Sie waren selber in der Ausschußsitzung dabei, wo uns von Herrn Rühe erklärt wurde: Ja, mein Gott, unsere Bundeswehrsoldaten sind doch keine Schauerleute. Das war offenkundig zu niedrig. Man wollte etwas anderes. Exakt das macht deutlich, daß im Grunde genommen mit Sprechblasen gearbeitet wird, um eine Akzeptanz in der Bevölkerung für weltweite militärische Aktionen der Bundeswehr herzustellen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216319400
Frau Kollegin Lederer, die Zeit ist jetzt nicht angerechnet worden, auch nicht die Beifallskundgebung. Eine Minute Redezeit haben Sie noch. Bitte schön.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1216319500
Ich habe es gesehen und komme auch zum Schluß, will auch nicht überziehen. — Ich habe einfach eine Sorge. Angesichts der Entscheidung, die in Karlsruhe ansteht, wird der Druck auf die SPD immens wachsen. Wenn Sie hier erklären, daß der Antrag der CDU/CSU so nicht akzeptabel ist, dann frage ich mich: Was ist dann akzeptabel?

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ein SPDAntrag! — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unser Antrag!)

— Sie werden angesichts der Diskussion in Ihrer Partei und angesichts dessen, was gerade Sie, Herr Kollege Voigt, vertreten, genau wissen, daß das Interesse, bei dem Antrag der SPD zu bleiben, strittig ist. Es gibt Bemühungen darum, einen Kompromiß auf einer anderen Ebene herzustellen. Ich fürchte wirklich sehr, daß wir im Grunde eine Art Asylkompromiß bekommen.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lassen Sie unsere Sorge sein!)

Ich appelliere wirklich noch einmal allen Ernstes an Sie: Machen Sie nicht dasselbe wie in Sachen Asyl. Leisten Sie hier Widerstand und bleiben Sie wenigstens bei der Position Ihres Parteitages vom letzten November, die wir schon kritisieren.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216319600
Meine Damen und Herren, das Wort erhält jetzt unsere Kollegin Frau Vera Wollenberger. Ihr folgt der Bundesminister der Verteidigung.

(Walter Kolbow [SPD]: Ist das eine Drohung?)


Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1216319700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der UNO-Einsatz in Somalia zeigt, wie humanitäre Einsätze nicht ablaufen sollten und schließlich in die Sackgasse führen. Offensichtlich hat sich die UNO bzw. haben sich die Länder, die die Kontingente zur Verfügung gestellt haben — in erster Linie die USA —, in völlig unzureichendem Maße mit den Verhältnissen vor Ort vertraut gemacht. Man dachte, eine spektakuläre Landung der Marines vor der somalischen Küste und anschließendes martialisches Auftreten genügten, um die bewaffneten Clans einzuschüchtern. Das führte zu einer unzureichenden Erfüllung von UNOSOM I. Die Entwaffnung der Banden wurde nicht, wie es nötig gewesen wäre, vollständig durchgeführt. Damit war die Grundlage für UNOSOM II nicht gegeben.
Weil der Rat von Kennern des Landes und Hilfsorganisationen vor Ort in den Wind geschlagen wurde, befindet sich die UNO jetzt in der Situation, nach einigen Angriffen, die leider viele Opfer forderten, das Gewaltmonopol gegen die bewaffneten Gruppen durchsetzen zu müssen. Danach wird sie sich schließlich in der Lage befinden, ein System, das den Macht- und Verteidigungsstrukturen des ehemaligen Diktators Barré ähnelt, einzurichten. Sollte sie nach der Ausschaltung des militärischen Widerstandes den zweiten Schritt, den Fluß von Hilfsmitteln und deren Verteilung zu organisieren, nicht tun, wird sie einen stärker werdenden somalischen Nationalismus und erneuten militärischen Widerstand erzeugen. Ein langfristiges Verweilen von Streitkräften in Somalia und viele Opfer von Kämpfen wären die Folge.
Die Bundesregierung in ihrem blinden Eifer, sogenannte Bündnisfähigkeit innerhalb des Westens beweisen zu müssen, hält auch nach dem tödlichen Beweis dafür, daß Somalia nicht befriedet ist und die Anfang des Jahres genannten Voraussetzungen für einen Einsatz deutscher Soldaten nicht gegeben sind, am Verbleib der deutschen Soldaten fest, und das, obwohl es für den Einsatz dieser Soldaten keine Grundlage gibt.
Es gibt Meldungen, nach denen auch in den Gebieten, in denen sich die deutschen Soldaten befinden, geschossen wird. Jeden Augenblick kann also aus humanitären Hilfsaktionen ein Kampfeinsatz werden. Hier wird auf dem Rücken der Soldaten ohne Rücksicht Politik gemacht. Es ist sträflich fahrlässig, junge Soldaten in solche Einsätze zu schicken, in denen sie um Leib und Leben fürchten müssen, während sie



Vera Wollenberger
gleichzeitig zu Hause einer für sie unzumutbaren Diskussion ausgesetzt sind, ob ihr Einsatz überhaupt verfassungsrechtlich abgedeckt ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Monatelang haben die Vorschläge unserer Gruppe und auch die der SPD über die Beteiligung an Blauhelmmissionen auf dem Tisch gelegen und wurden abgelehnt, obwohl sich — wie im Falle unserer Gruppe — die direkt Betroffenen, nämlich die Soldaten und Offiziere, für unsere Vorschläge ausgesprochen haben. Erst heute ist mir im Gespräch mit deutschen NATO-Offizieren wieder gesagt worden, wir wüßten gar nicht, wie sehr wir den Soldaten aus dem Herzen sprächen, wenn wir die Zustimmung von zwei Dritteln des Parlaments für solche Einsätze wie in Somalia forderten.
Wer immer sich gegen eine solche Entscheidungsgrundlage sträubt, muß wissen, daß er damit gegen die Interessen der betroffenen Soldaten handelt.
Von der Hälfte unserer Gruppe und großen Teilen unserer Partei werden Blauhelmeinsätze immer noch abgelehnt. Der Einsatz von Soldaten im sogenannten Bündnisfall wird aber nicht problematisiert. Die letzten Nachrichten über den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan lassen deutlich werden, wie problematisch und gefährlich der Einsatz in einem solchen Bündnisfall sein kann, wenn die Türkei zugunsten Aserbaidschan in diesen Konflikt eingreifen sollte. Es könnte dann passieren, daß deutsche Soldaten in das Kampfgebiet geschickt werden. Es darf einen solchen Bündnisautomatismus — besonders im Interesse der Soldaten — nicht geben. Unsere Gruppe fordert deshalb auch für die sogenannten, Bündnisfälle eine Zustimmung von zwei Dritteln des Parlaments.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung hat sich durch ihre Politik, Soldaten ohne ausreichende Einsatzgrundlage in Out-of-area-Einsätze zu schicken, in eine gefährliche Sackgasse manövriert.
Es ist deshalb notwendig, die Soldaten in Somalia umgehend zurückzubeordern und endlich die notwendigen parlamentarischen Beschlüsse zu fassen, die es erlauben, Blauhelmeinsätze im Konsens mit der notwendigen breiten Mehrheit von Parlament und Gesellschaft durchzuführen.
Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsident Helmuth Becker. Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort der Bundesminister der Verteidigung, unser Kollege Volker Rühe.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216319800
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Willy Brandt im Sterben lag, tagte die Sozialistische Internationale in Berlin. Hans-Jochen Vogel hielt die Rede, die eigentlich Willy Brandt halten wollte. Ich habe einen Satz in besonderer Erinnerung, seinen
leidenschaftlichen Appell: Stärkt mir die Vereinten Nationen!

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er hat gewußt, Freiheit, Menschenrechte und Sicherheit sind unteilbar, damit wir heute in einer friedlichen Welt leben. Wer den Frieden will, der muß bereit sein, ihn gemeinsam mit den Vereinten Nationen zu sichern und durchzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei aller Überforderung, die es heute auch schon bei den Vereinten Nationen zu beobachten gilt, ist die UNO für Somalia die einzige Hoffnung. Wir sind in diese Hoffnung integriert, und wer gegen diesen Einsatz vorgeht, der zerstört die einzige Chance für das somalische Volk. Darum geht es im Grunde genommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist nicht das Thema, Herr Rühe!)

In Somalia ist ein Staat völlig zusammengebrochen. Ein ganzes Volk mußte aus Hunger, Verzweiflung und Elend gerettet werden.
Liebe Frau Lederer, Sie haben über die Opfer gesprochen. Jeder Tote heute in den Straßen von Mogadischu ist einer zuviel. Aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, vor einem Jahr sind in kürzester Zeit 30 000 Menschen allein in Mogadischu gestorben. Vor einem Jahr sind in Somalia jeden Tag tausend Menschen gestorben. Die UNO hat dies geändert, gründlich geändert. Daran wollen wir auch für die Zukunft mitarbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das ist doch das zutiefst humanitäre Ziel der Vereinten Nationen. Sie gehen doch nicht dahin, um Krieg zu führen im Sinne eines klassischen militärischen Einsatzes. Der Gesamteinsatz aller 30 000 Soldaten in Somalia ist ein humanitärer Einsatz und die einzige Chance für das Volk von Somalia.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen beteiligen sich auch 30 Nationen nach dem Aufruf des Generalsekretärs — 20 000 Soldaten, die dort nicht hingehen, um Krieg zu führen, sondern in einer zutiefst humanitären Aufgabe, müssen versorgt werden. Dazu sind nach Feststellung der UN eigentlich 8 000 Soldaten für ein logistisches Kontingent notwendig. Einschließlich des deutschen Verbandes stehen aber tatsächlich nur 4 000 Soldaten eines Logistikverbandes zur Verfügung, um diese Friedenssoldaten der Vereinten Nationen dort abzusichern.
Unser Verband muß allein für 4 000 indische Soldaten jeden Tag 450 000 Liter trinkfähiges Wasser produzieren. Das sind Leistungen, die nur ein technisch hochspezialisierter Verband erbringen kann. Nur in wenigen Industrienationen kann so etwas verfügbar gemacht werden. Ich sage Ihnen: Es sind unglaubliche Abhängigkeiten durch unseren Einsatz begründet worden. Deswegen bin ich so empört darüber, daß mitten in dem Einsatz, in dem wir Verpflichtungen gegenüber der Völkerfamilie einge-



Bundesminister Volker Rühe
gangen sind, dies in Karlsruhe gestoppt werden soll. Das ist der eigentliche Skandal.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie müssen sich auf das Grundgesetz stellen!)

Wenn ich mir die Spitzfindigkeiten mancher Entscheidungen ansehe: Angeblich helfen unsere Soldaten den Kampfverbänden und deswegen sei das ein Kampfeinsatz. Wir produzieren 450 000 Liter Wasser pro Tag. Gebe ich einem indischen Soldaten 10 Liter Wasser, dann ist das Beteiligung an einem Kampfeinsatz. Gebe ich dem danebenstehenden Somali auch 10 Liter Wasser, dann ist das humanitäre Hilfe. Das ist doch Unsinn. Zusammen ist das ein humanitärer Einsatz, der allein die Zukunft Somalias absichert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ober die Logistikhilfe hinaus leisten unsere 255 Soldaten, die jetzt dort sind, unmittelbare humanitäre Hilfe. Wir sind dabei, Schulen zu bauen und zu eröffnen. Macht man das in einem Gebiet, in dem Krieg stattfindet? Nein, das kann man nur dort machen, wo die Vereinten Nationen sagen: Hier gibt es einen befriedeten Bereich.

(V o r s i t z : Vizepräsident Hans Klein)

Die deutschen Soldaten unterstützen das Krankenhaus in dieser Region. Sie sind sich für nichts zu schade. Ich finde, wir sollten sie in dieser Arbeit unterstützen, indem wir ihnen hier zu Hause den nötigen Rückhalt geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Lassen Sie mich etwas zum Risiko sagen. Ich habe schon in der letzten Debatte gesagt, daß der Einsatz nicht ohne Risiko ist, daß es Opfer geben kann. Ich bin zum Teil deswegen angegriffen worden. Befriedetes Gebiet heißt natürlich nicht, daß das ohne Risiko ist. Das muß man mit aller Deutlichkeit ansprechen. Aber wo ist denn humanitäre Hilfe in Krisengebieten risikolos? Deswegen frage ich Sie: Warum klagen Sie nicht gegen die nächtlichen Flüge nach Bosnien?

(Zuruf von der SPD: Lassen Sie das!)

Dort hat es lebensgefährliche Situationen für unsere Soldaten gegeben. Ist das wirklich ein normaler humanitärer Einsatz? Ich muß Ihnen sagen, wenn ich jemandem Lebensmittel und Medikamente gebe und dabei beschossen werde, dann ist das keine normale humanitäre Hilfe. Das ist ein Einsatz unserer Luftwaffe mit eindeutig humanitärer Zielsetzung, und die wird unterstützt. Warum klagen Sie nicht dagegen? Weil es einen Aufschrei der Empörung gäbe, wenn Sie sich dagegen wenden würden.

(Zuruf von der SPD: Das ist Demagogie! Das ist politische Brandstiftung!)

Ich glaube, in Somalia kann man auch sehen, daß das Leben vieler Menschen dort von dem Einsatz der deutschen Soldaten abhängig ist. Das ist doch doppelte Moral.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216319900
Herr Bundesminister, der Kollege Bindig möchte Ihnen gerne eine Frage stellen.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216320000
Bitte, ja.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216320100
Bitte, Herr Kollege Bindig.

Rudolf Bindig (SPD):
Rede ID: ID1216320200
Herr Minister, Sie stellen hier die Errichtung von Schulen und Krankenhäusern durch die Bundeswehr so heraus. Sicherlich sind das lobenswerte Ziele. Aber ist Ihnen nicht bekannt, daß alle Fachleute der humanitären Hilfe und der Entwicklungspolitik der Auffassung sind, daß bewährte Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und Fachleute aus diesen Richtungen diese Tätigkeit ebenfalls und sogar effektiver, besser und vor allen Dingen wesentlich billiger leisten könnten als die Bundeswehr?

(Beifall bei der SPD)


Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216320300
Ja, aber natürlich zu einem späteren Zeitpunkt, wenn die Soldaten ihre Arbeit gemacht haben, dann können natürlich allein diese Organisationen tätig sein. Diejenigen Helfer, die zuerst gefragt haben, was die Bundeswehr da soll, waren hinterher sehr dankbar, daß wir sie ausgeflogen haben, weil es zu gefährlich war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216320400
Herr Bundesminister, auch der Kollege Klejdzinski möchte gerne eine Frage stellen.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216320500
Ja, gerne.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1216320600
Herr Minister, stimmen Sie mir in dieser Frage zu, daß der Vergleich der humanitären Einsätze der fliegenden Soldaten eine andere Qualität hat als die logistischen Unterstützungen, die wir in Somalia leisten, weil logistische Unterstützung Kampfunterstützung ist?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216320700
Ich habe soeben gesagt: Das Wasser für die indischen Soldaten ist Kampfunterstützung, das Wasser für die Somalis ist humanitäre Hilfe. Das ist doch wirklich Unsinn.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Die armen Soldaten!)

Was ist denn mit Kambodscha? Wir versorgen durch unser Krankenhaus dort die UNO-Soldaten. Ich habe hier im Bundestag schon vor einigen Wochen gesagt: In einer bestimmten Situation habe ich unsere Sanitäter ins Land hinausgeschickt, weil die französischen Soldaten Sanitätsschutz brauchten. Sie waren natürlich gefährdet; das ist doch überhaupt gar keine Frage.
Deswegen sage ich noch einmal: Warum in dieser einen Frage jetzt dieses Vorgehen? Die Grundlagen haben sich nicht verändert, auch nicht durch die Ereignisse in Mogadischu.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das können Sie im Adenauerhaus sagen, aber nicht als Verteidigungsminister!)

Sie hätten nach dem Beschluß des Kabinetts im
Dezember, spätestens im April, klagen können. Jetzt



Bundesminister Volker Rühe
muß ich Ihnen sagen: Wer das mitten in einer Operation macht, der trifft die Vereinten Nationen, der trifft vor allen Dingen aber das Interesse der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216320800
Jetzt möchte Sie gern noch der Kollege Jungmann etwas fragen?

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216320900
Ja, bitte.

Horst Jungmann (SPD):
Rede ID: ID1216321000
Herr Minister, wären Sie bereit, der deutschen Öffentlichkeit auch das zu sagen, was die Soldaten über die Bereitstellung von Wasser für die indischen Soldaten und die somalische Bevölkerung tun müssen? Hier hat keiner kritisiert, daß deutsche Soldaten Wasser zur Verfügung stellen. Wenn das, was Sie immer sagen, nämlich Brunnen bohren, Brücken und Schulen bauen, ihre primäre Aufgabe wäre, dann würde ich mit Ihnen übereinstimmen, es sei humanitäre Hilfe. Aber die primäre Aufgabe ist, Logistik im militärischen Bereich zu leisten, nämlich Munition und andere militärische Materialien nachzuschieben. Sagen Sie der deutschen Öffentlichkeit doch auch dies, über das Wasseraufbereiten hinaus.

Volker Rühe (CDU):
Rede ID: ID1216321100
Entschuldigung, lieber Kollege Jungmann, ohne Wasser können Sie alles andere vergessen. Wir leisten logistische Versorgung allein durch unsere Produktion von Trinkwasser jeden Tag, aber natürlich auch die Zurverfügungstellung von Brennstoff für die Fahrzeuge, alles das, was logistisch gebraucht wird. Zur Munition haben wir gesagt, daß es dafür eine Eigenversorgung gibt und daß diese auch ausreichen wird. Im Mittelpunkt stehen die logistische Versorgung von Soldaten und die direkte humanitäre Hilfe für die Bevölkerung.
Ich möchte noch einmal an die Minenräumaktion und das Risiko für die Soldaten erinnern. Sie haben doch auch mitgetragen, daß nach dem Golfkrieg in der Golfregion scharfe Minen von deutschen Soldaten entschärft wurden. Ich finde, wir sollten nicht willkürlich vorgehen.
Wir haben gestern noch einmal mit den Soldaten gesprochen, und ich möchte dem Bundestag übermitteln, was sie uns gesagt haben.
„Insgesamt gibt es eine große Enttäuschung der Soldaten vor Ort, daß ihnen hinsichtlich der Lageeinschätzung in Deutschland nicht geglaubt wird."

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

Wie muß das auf die Soldaten wirken — Ihre Sätze vom Himmelfahrtskommando usw. —, wie muß das auf die Angehörigen wirken, wenn die Soldaten vor Ort, die dort ihren Dienst tun, wirklich beurteilen können, wie wichtig dieser Einsatz ist?

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das ist verantwortungslos!)

Das müssen Sie sich immer wieder vor Augen halten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wer jedes Risiko ausschließen will, der muß in Zukunft in dieser Welt auf vielfache humanitäre Hilfe verzichten. Ich glaube, diese Entscheidungen kann man nicht auf das Bundesverfassungsgericht abschieben. Jeder trägt die Verantwortung für seine eigene Entscheidung, und Sie müssen auch bedenken, wieweit Sie unter Umständen einen Beitrag dazu leisten könnten, daß sich Soldaten der Bundeswehr, wenn sie mitten in einem Einsatz mit einer solchen Debatte um Karlsruhe konfrontiert werden, innerlich von ihrem Dienst für unser Land abwenden.
Das Fernsehen zeigt es jeden Tag: Die Soldaten in Somalia wissen und erleben, daß sie gebraucht werden. Deswegen sind sie auch hochmotiviert. Sie wissen, daß sie bei der Hilfe für das somalische Volk einen sinnvollen und notwendigen Dienst leisten. Was sie vor allen Dingen brauchen — neben einer guten Ausrüstung — ist der Rückhalt von Parlament und Bevölkerung hier in Deutschland, und daran möchte ich auch in dieser Stunde appellieren,

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß es daran nicht fehlt.

Die Ereignisse in Mogadischu haben die Grundlage unseres Beitrags für die UN nicht verändert. Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat seine Einschätzung der Lage in dem uns zugewiesenen Sektor nicht verändert. Die täglichen Lagemeldungen unseres Vorkommandos bestätigen das. Die Völkergemeinschaft würde daher nicht nachvollziehen können, wenn die Bundesregierung jetzt nicht, wie mit den Vereinten Nationen verabredet, verfahren würde.
Wer deutsche Soldaten aus Somalia zurückholen will, setzt, so denke ich, zweierlei aufs Spiel: erstens die konkrete und unmittelbare humanitäre Hilfe für die Menschen und zweitens die Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik. Wir stehen zu unserem Wort gegenüber den Vereinten Nationen und auch gegenüber den Menschen in Somalia.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216321200
Herr Kollege Walter Kolbow, Sie haben das Wort.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1216321300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der — nicht einfachen — gebotenen Ruhe, Herr Bundesminister der Verteidigung, möchte ich Ihnen auf Ihre

(Zuruf von der CDU/CSU: Rede gratulieren!)

— schlimme Rede eine Antwort geben. Wenn ich so vereinfachen würde wie Sie, dann würde ich Ihnen entgegenschleudern: „Wir helfen, und Sie sind zum Kriegführen bereit! "

(Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])




Walter Kolbow
Wenn Sie als für unsere Streitkräfte politisch Verantwortlicher das nicht auseinanderhalten können und hier nicht eine differenziertere Art und Weise der politischen Diskussion führen können, dann sind Sie — lassen Sie mich auch das ganz klar sagen — für uns nicht der geeignete Mann an der Spitze unserer Streitkräfte.

(Beifall bei der SPD)

Wenn die SPD heute, meine Damen und Herren, den Abbruch des Bundeswehreinsatzes in Somalia fordert, dann trägt sie nicht den Streit auf dem Rücken der Soldaten aus. Das tun Sie, Herr Minister Rühe, weil Sie das Kontingent der Bundeswehr ohne Rechtsgrundlage nach Somalia schicken.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das ist zwar laut, aber falsch, was Sie sagen!)

Wenn Sie in diesem Zusammenhang den Namen unseres verstorbenen Ehrenvorsitzenden in den Mund nehmen, dann lassen Sie mich hier mit aller Deutlichkeit sagen: Verfassungsbruch hätte Bundeskanzler Brandt, der Ehrenvorsitzende unserer Partei, nie in Erwägung gezogen, wie Sie das hier tun.

(Beifall bei der SPD — Buh-Rufe bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216321400
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1216321500
Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich den Eindruck habe, daß Kollege Nolting deswegen öfter fragen muß, weil er heute nicht auf der Rednerliste steht.
Wir wissen uns dabei

(Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wer schreit, hat unrecht! — Schreien Sie noch lauter, haben Sie noch mehr unrecht!)

in Übereinstimmung mit dem Bundeswehrverband, der Interessenvertretung der Soldaten. Dessen mutiges Eintreten gegen Einsätze ohne Rechtsgrundlage verfolgen wir mit Sympathie, und wir werden sehr sorgfältig beobachten, wie der Verteidigungsminister mit diesem Verband umgeht, der eine Ihnen unbequeme Meinung äußert.
Meine Damen und Herren, bei aller Auseinandersetzung um diese grundlegenden Fragen müssen — und dazu haben Sie heute keinen guten Dienst für die Demokratie geleistet, Herr Kollege Rühe — die Parteien auch nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichts diskussionsfähig bleiben. Wer jetzt behauptet, meine Damen und Herren von der Koalition, es sei allein Schuld der SPD, daß hier keine Verfassungsänderung möglich war, der betreibt in der Tat politische Brandstiftung und Brunnenvergiftung, und er erweist unserem Land keinen guten Dienst;

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

denn Sie wissen doch genau, daß sich die SPD bewegt hat. Wir haben es uns schwergemacht, weil man es sich mit Fragen über Leben und Tod von Soldaten nicht leichtmachen darf, wie Sie es doch auch bei der
Frage des ungeborenen Lebens nicht tun. In Münster haben wir 1988 über Blauhelme gestritten; 1991 haben wir in Bremen die deutsche Teilnahme an solchen Missionen beschlossen und das 1992 in Bonn erweitert und präzisiert. Eine vergleichbare inhaltliche Bewegung hat es bei der Koalition nicht gegeben, höchstens bei der F.D.P. zurück zum Standpunkt der Unionschristen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben auf einem Alles-oder-nichts-Standpunkt beharrt.
Deswegen haben wir beim Bundesverfassungsgericht den Antrag auf einstweilige Anordnung erst jetzt gestellt, weil die Ergebnisse des Erkundungskommandos abgewartet werden sollten. Sie, Herr Rühe, haben doch zumindest öffentlich den Eindruck erweckt, daß Sie selbst die genaue Auftragserteilung für das deutsche Kontingent von diesen Berichten abhängig machen wollten. Sie sagen hier, daß Sie Schulen bauen — das finde ich gut —, daß Sie in Krankenhäuser hineingehen, und dann sagt General Bernhardt, der Leiter des Vorkommandos, in dem von Ihnen angebotenen Briefing, daß diese humanitären Leistungen nicht stattfinden, daß sie nachrangig sind, weil man den NGOs, den Hilfsorganisationen, die nichtmilitärisch organisiert sind, überlassen will, daß sie diese humanitäre Hilfe leisten.
Ich sage Ihnen auch, daß wir uns sehr aufmerksam angeschaut haben, was der HUK-Verband der deutschen Versicherer zu dieser Angelegenheit gesagt hat. Er sieht — hören Sie bitte zu; wenn das nicht so ernst wäre, müßte man es sich auf der Zunge zergehen lassen — eine Verschärfung der Risikolage durch die Ausweitung auf die Nothilfe und geht davon aus, daß eine wachsende Zahl von Versicherern einen kriegsmäßigen Einsatz als gegeben ansieht. Die Schlußfolgerung dieses Verbandes ist eindeutig, Herr Bundesminister der Verteidigung. Er empfiehlt seinen Mitgliedern auf Grund der Analyse der Situation von heute, die Lebensversicherungen von Soldaten während des Einsatzes in Somalia ruhen zu lassen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist verantwortungslos! — Gegenruf von der SPD: So ist aber die Situation!)

Wir wissen, meine Damen und Herren, daß es dabei nicht um das Risiko der Soldaten schlechthin geht, notfalls mit dem Leben für die Verteidigung von Recht und Freiheit sowie des eigenen Gebiets und des Gebiets der Bündnispartner einstehen zu müssen. Ganz gefahrlos sind auch weltweite humanitäre Hilfseinsätze in Katastrophenfällen nicht, ganz bestimmt auch nicht die Hilfsflüge nach Sarajevo oder die nächtlichen Versorgungseinsätze über Bosnien, wofür wir gestern im Verteidigungsausschuß alle miteinander den Piloten und den Mannschaften der Flugzeuge gedankt haben.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU])

— Herr Schäuble, Ihre Bitterkeit will ich nicht aufnehmen; aber wir haben auch gesagt, daß nicht nur die Auszeichnungen der Bundeswehr dort zur Verfügung stehen müßten, sondern daß auch die Möglichkeiten,



Walter Kolbow
die der Herr Bundespräsident hat, genutzt werden müssen, um deutlich zu machen, was hier an ausgezeichneter Hilfe vorhanden ist. Das wissen Sie auch genau, Herr Rühe, und deshalb bin ich von Ihrer Rede tief getroffen.
Während für humanitäre Hilfe ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens vorhanden ist, fehlt der doch bei Somalia. Nach einer Forsa-Umfrage sind 55 % der Bevölkerung für ein Zurückholen des deut-. schen Verbandes aus Somalia. Die Leidtragenden sind unsere Soldaten, aber doch nicht, weil wir jetzt diese Diskussion führen, sondern weil sich die Bundesregierung trotz des Wissens um die Auffassungsunterschiede, trotz der fehlenden Rechtsgrundlagen für den Somalia-Einsatz so entschieden hat.
Sie sehen im übrigen auch, wenn Sie in die Truppeninformationen des Generalinspekteurs hineinschauen, wie sich der Auftrag verändert hat. Der Vergleich zwischen dem 17. Dezember 1992 und dem 21. April 1993 ist von höchstem Interesse für die Beurteilung dieses Einsatzes und die Schlußfolgerungen, die man zu ziehen hat, auch dann, wenn man sich für eine einstweilige Anordnung entscheidet.
Im Dezember ging es strikt um die Verteilung von Hilfsgütern. Allerdings gab es dafür laut internem Vermerk des Auswärtigen Amtes vom 30. März 1993 keinen Bedarf. Deshalb wurde für das angebotene deutsche Bataillon nahezu krampfhaft eine neue Aufgabe gesucht. Bei der Übernahme der Logistik, so wurde im Auswärtigen Amt gewarnt — und wir werden das auch dem Verfassungsgericht als Unterlage anbieten — besteht die Gefahr der Ausführung von verfassungswidrigen Aufgaben,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hört! Hört!)

nämlich eines Einsatzes im Sinne des Art. 87a des Grundgesetzes.
Nach der Kabinettsentscheidung vom 21. April ging es dann ausweislich der Truppeninformation des Generalinspekteurs vom gleichen Tag um den Transport von Versorgungsgütern aller Art, Selbstschutz der Basis und der Transporte, also um Konvoischutz mit den dafür notwendigen Mitteln, Sicherstellen von Transportbewegungen

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Humanitär ist das!)

durch Behelfsinstandsetzungen von Brücken und Straßen.
Die letzte offizielle Verlautbarung von Ihnen, Herr Rühe, lautet: Nur soweit es die aktuelle Lage vor Ort erfordert und freie Kapazität vorhanden ist, kann der Verband auch weitere Unterstützungsmaßnahmen durchführen. Das ist also eine völlige Veränderung des Auftrages, der mit dem Konvoischutz natürlich in den Bereich der Kampfeinsätze vorstößt.
Hören Sie auf mit dem Gerede, wir hätten zur Unzeit eine solche juristische und politische Entscheidung getroffen!

(Beifall bei der SPD)

Ich sage Ihnen schlicht und einfach zum Abschluß meiner Ausführungen: Wenn Sie sich schon nicht mit uns auseinandersetzen, dann setzen Sie sich bitte wenigstens mit denen auseinander, die die publizistische Meinung in diesem Lande durch die Möglichkeiten mit vorbereiten, die Sie nach Somalia mitgenommen haben.
Hier schreibt Stefan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 12./13. Juni 1993:
Es ist die Politik des Volker Rühe und des Helmut Kohl, die Politik des Secure Environment, die es nie gegeben hat. Es ist eine Taktik — und das sagen einige Soldaten hinter vorgehaltener Hand — auf Kosten der Männer in Belet Uen, denn mit ihnen wurde die Grenze zwischen Kapitel VI und VII
— humanitäre Hilfe und Friedenserhaltung, also auch Kampfeinsätze —
ein Stückchen weitergeschoben, wurden neue Tatsachen geschaffen.
Meine Damen und Herren, Sie werden uns nicht hindern, gegen Ihre falsche Politik unsere Pflicht zu tun — als Opposition und als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in diesem Lande. Deswegen werden Sie sich mit Ihren Argumenten sehr warm anziehen müssen, um vor unserem höchsten Gericht bei dieser Entscheidung zu bestehen.

(Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wenn Sie da nur nicht wieder dagegen demonstrieren!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216321600
Herr Kollege Kolbow, dieses Parlament und jedes Parlament lebt auch von der Lebendigkeit und vom Temperament seiner Redner. Sie kennen auch meine Aversion gegen Ordnungsmaßnahmen, aber Begriffe wie „politische Brandstiftung" und „Brunnenvergiftung" sind weder dem Stil des Hauses noch dem Ernst dieser Debatte angemessen.
Ich erteile zu einer Kurzintervention dem Kollegen Günther Nolting das Wort.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1216321700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, da der Kollege Kolbow eine Zwischenfrage nicht zugelassen hat. Ich denke, daraus, daß er diese Zwischenfrage nicht zugelassen hat, kann man genau erkennen, wie unsicher die SPD in dieser Frage,

(Widerspruch bei der SPD)

die wir hier heute behandeln, letztendlich ist.
Wir alle wissen, Herr Kollege Kolbow, daß durch Ihre Fraktion in dieser Frage ein Bruch geht — dies werden Sie nicht bestreiten —,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: In dieser Frage nicht!)

vielleicht sogar mehrere Brüche. Ihre Partei, Ihre Fraktion ist in dieser Frage gespalten.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Im Gegenteil!)

Der Auftrag unserer Bundeswehrsoldaten ist seit dem Dezember 1992 bekannt. Ich verweise hier auf die Beschlußlage des Kabinetts. Am 21. April 1993 hat die Bundesregierung entschieden — und das auf Grundlage der Resolution 814 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und den Anforderungen des



Günther Friedrich Nolting
Generalsekretärs —, die Operation von UNOSOM II zu unterstützen. Das heißt, seit einem Vierteljahr ist Ihnen der Auftrag für die Bundeswehr bekannt. Ich frage Sie jetzt an dieser Stelle: Wie konsequent sind Sie eigentlich in Ihren Aussagen?

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ganz konsequent!)

Wenn Sie hier heute der Koalition und der Bundesregierung Verfassungsbruch unterstellen, warum haben Sie dann die einstweilige Verfügung nicht bereits Ende April oder Anfang Mai beantragt? Oder haben Sie hier, auf einer opportunistischen Welle reitend, die Situation nutzen wollen, um Stimmung in diesem Land zu machen, um hier auf dem Rücken unserer Soldaten letztendlich Ihren innerparteilichen Streit auszufechten?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216321800
Herr Kollege Nolting, die zwei Minuten sind um.

Günther Friedrich Nolting (FDP):
Rede ID: ID1216321900
Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich habe das Wesentliche gesagt.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216322000
Herr Kollege Kolbow, Sie haben, wenn Sie wünschen, noch einmal Gelegenheit, kurz zu antworten.

Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1216322100
Herr Kollege Nolting, man muß schon viel Chuzpe haben, hier als jemand anzutreten, der einer Koalition angehört, in der der Vizekanzler den Kanzler verklagt, um hier in der bekannten Weise auf uns einzuschlagen.

(Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Sie haben uns gerade Verfassungsbruch vorgeworfen!)

Wenn es sie beruhigt, Herr Kollege, dann war das eine rhetorische Zurückweisung Ihrer Zwischenfrage. Ich habe daran gedacht, daß wir uns so lange im Verteidigungsausschuß über diese Fragen unterhalten haben, daß ich genau wußte, welche Frage Sie mir stellen werden. Sie können natürlich abschätzen, welche Antwort Sie von mir bekommen.
Im übrigen würde ich Ihnen jetzt raten — das gibt mir auch Gelegenheit, Herr Präsident — —

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216322200
Herr Kollege Kolbow, die Antwort soll nicht genauso lang sein wie die Kurzintervention, und da Sie sich ja so häufig im Verteidigungsausschuß sehen, möchte ich Sie bitten, jetzt abzukürzen und den Rest im Verteidigungsausschuß zu besprechen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1216322300
Herr Präsident, ich will mir nicht weiter Ihren Zorn zuziehen. Ich will nur sagen, daß ich hier mit den Ausdrücken „Brunnenvergiftung„ oder auch politische „Brandstiftung" niemand persönlich in diesem Hause gemeint habe.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ist ja in Ordnung!)

Ich habe hier von einer politischen Verhaltensweise gesprochen, von der ich befürchtete, daß sie stattfindet. Hier möge sich bitte niemand getroffen fühlen. Ist das der Fall, entschuldige ich mich.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Einverstanden!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216322400
Ich muß dem Kollegen Heistermann noch ein erklärendes Wort sagen. Auf eine Kurzintervention gibt es keine Kurzintervention, nur noch die Antwort des Betroffenen.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Paul Breuer das Wort.

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216322500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Debatte wie diese hat ja vor allen Dingen die Aufgabe, Positionen zu klären.

(Zuruf von der SPD: Auf der Grundlage des Rechts!)

— Nun bleiben Sie doch einmal ganz ruhig.
Wenn ich mich frage, wie denn nun die Position der SPD zu dem ist, was unser Grundgesetz zulassen sollte,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Daß wir es ganz ablehnen!)

dann muß ich sagen, das ist mir in der Vergangenheit nicht klar gewesen, und das ist mir heute auch nicht klar geworden.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie können doch lesen!)

Ich möchte Sie fragen, Frau Kollegin Fuchs — Sie haben die Antwort vorhin nicht gegeben —:

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch!)

Wenn Sie schon der Meinung sind, das Grundgesetz gebe einen Bundeswehreinsatz wie in Somalia nicht her,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)

sind Sie denn dann der Meinung, daß bei einer von Ihnen gewollten Verfassungsänderung das Grundgesetz einen solchen Einsatz hergeben sollte?

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kann!)

— Ich frage Sie ganz dezidiert: Sollte das Grundgesetz Ihrer Meinung nach einen solchen Einsatz hergeben?

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Möglich machen!)

— Es sollte ihn möglich machen, sagen Sie. Meine Frage geht dann weiter: Würden Sie dann die Entscheidung mittreffen, diesen Einsatz der Bundeswehr zum jetzigen Zeitpunkt auch durchzuführen?

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216322600
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs zu beantworten?

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216322700
Herr Präsident, er hat mir eine Frage gestellt, und nun beantworte ich sie, wie es nach der Geschäftsordnung richtig ist.
Sehr verehrter Herr Kollege, wir diskutieren heute um die Frage, wie wir das verfassungswidrige Verhalten der Bundesregierung beantworten. Wenn Sie bereit sind, mit uns in eine Diskussion über mögliche



Anke Fuchs (Köln)

Verfassungsänderungen einzutreten, dann sage ich Ihnen zu, daß wir auf der Grundlage unseres seit vorigem Jahr eingebrachten Antrages bereit sind, mit Ihnen darüber vernünftig zu sprechen.

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216322800
Frau Kollegin Fuchs, ich hätte jetzt an Antwort mehr erwartet. Das ist ein Ausweichen gegenüber der Fragestellung.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben unsere Antwort nicht gelesen! Deswegen sind Sie von Sachkenntnis ungetrübt!)

Aber ich verdichte die Fragestellung weiter: Herr Kollege Kolbow, ich kenne Ihre persönliche Position. Sie persönlich sind der Meinung, daß die Bundesrepublik Deutschland in der Lage sein muß, ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit, auch bezogen auf Bundeswehreinsätze, herzustellen. Das ist ja der Grund dafür, warum Sie beispielsweise den Beschluß Ihrer Fraktion, gegen den Adria-Einsatz zu klagen, nicht unterstützt haben. Das ist ja der Grund.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Überhaupt nicht!)

Ich kann mir natürlich einen Teil Ihrer Aufregung dadurch erklären, daß Sie sich etwas unwohl fühlen müssen bei der Haltung Ihrer Fraktion zu dieser Frage.

(Widerspruch des Abg. Walter Kolbow [SPD])

Aber nun zum Kern des Problems. Würden Sie denn eine Verfassungsänderung, so Sie sie denn anstreben, herbeiführen wollen,

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir haben doch einen Antrag gestellt!)

die beispielsweise den AWACS-Einsatz möglich macht?

(Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Reden Sie doch zu Somalia!)

Ich stelle fest: Antworten darauf werden von der SPD nicht gegeben.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie hören uns nicht zu, Herr Kollege!)

Ich kann Ihnen das noch einmal sagen: Die CDU/ CSU ist wirklich der Meinung, daß jedes vernünftige Gespräch mit der SPD-Fraktion möglich bleiben muß. Aber die Frage ist natürlich zu klären, was mit einem solchen Gespräch erzielt werden kann. Für uns ist es unabdingbare Voraussetzung, daß die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und die Integrationsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft erhalten bleiben.

(Walter Kolbow [SPD]: Das ist ja nicht strittig!)

Wenn die Antwort auf solche Fragen, z. B. ob sie den AWACS-Einsatz ermöglichen wollen, offenbleibt,
dann fehlt natürlich die Voraussetzung dafür, deutlich zu machen, was die SPD eigentlich will.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P. — Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

— Etwas später, gerne.
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an die letzte Debatte zu den hier angesprochenen Fragestellungen. Da hat Ihr ehemaliger Fraktions- und Parteivorsitzender, Dr. Vogel, eingeräumt, daß er zu seiner Zeit als bundesdeutscher Justizminister in der Tat ein Gutachten in seinem Haus in Auftrag gegeben und es auch politisch abgesegnet hat, in dem es heißt, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland derartige Einsätze wie den AWACS-Einsatz zuläßt. Er hat das hier in der Debatte nicht bestritten.

(Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Reden Sie doch einmal über das logistische Konzept in Somalia!)

Er hat allerdings auch gesagt, meine Damen und Herren, daß die Politik aller Bundesregierungen diese Grundlage nicht beachtet habe, sondern daß man gegenüber den Vereinten Nationen und gegenüber den anderen Nationen so argumentiert habe, als ob das Grundgesetz das nicht zulasse.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216322900
Herr Kollege Breuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216323000
Einen Moment noch. — Wenn das so ist, schlage ich vor, meine Damen und Herren, daß wir dann gemeinsam erklären: Die Antwort zum Zeitpunkt der Teilung Deutschlands, zum Zeitpunkt der Teilung dieser Welt, die damalige Antwort, sich als Bundesrepublik Deutschland nicht zu beteiligen, war zu diesem Zeitpunkt eine richtige Antwort. Aber sie ist zum jetzigen Zeitpunkt eine falsche Antwort. Dann sagen wir doch gemeinsam, daß dieses richtig ist. Dann kommen wir ein Stück weiter und blockieren die deutsche außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht in dieser unwürdigen Art und Weise.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216323100
Sind Sie jetzt bereit, die Frage der Kollegin Fuchs zu beantworten?

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216323200
Bitte schön.

Anke Fuchs (SPD):
Rede ID: ID1216323300
Ich freue mich, daß Sie unsere Auffassung so wichtig nehmen. Aber ich möchte Sie fragen: Sind Sie denn nicht mit mir der Auffassung, daß es an der Zeit ist, daß die CDU/CSU sich bewegt, und daß wir eine Grundgesetzänderung brauchen, um Bundeswehreinsätze außerhalb des bisherigen Auftrages überhaupt durchführen zu können?

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216323400
Frau Kollegin Fuchs, ich habe Ihnen eben gesagt, daß Ihr Kollege Vogel— er ist sicher ein respektables Mitglied Ihrer Fraktion, er hat große Verantwortung für Ihre Partei und für den Deutschen Bundestag getragen — in der Zeit als deutscher Justizminister mittels des von mir eben



Paul Breuer
angesprochenen Gutachtens deutlich gemacht hat, daß das Grundgesetz uns hier keine Fesseln anlegt.

(Walter Kolbow [SPD]: Bis ihn Herr Genscher anders überzeugt hat!)

Das hat er gesagt. Das ist auch unsere Position. Das Grundgesetz schränkt uns da nicht ein.
Das Problem ist: Wie können wir die Blockade der deutschen außenpolitischen Handlungsfähigkeit aufgeben? Wie können wir glaubwürdig sein im Bündnis und in der Völkergemeinschaft? Wie können wir der moralischen Würde unseres Landes, bei der Lösung wirklich schwerwiegender Probleme dieser Welt einen Beitrag zu leisten, gerecht werden?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nicht so, wie Sie sich das vorstellen!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216323500
Es gibt zwei weitere Fragebegehren. Das erste war vom Kollegen Wallow und das zweite vom Kollegen Heistermann.

Hans Wallow (SPD):
Rede ID: ID1216323600
Herr Kollege, von den 181 Mitgliedern der UNO haben bisher 60 an derartigen Aktionen teilgenommen. Wie können Sie da von einer außenpolitischen Isolierung eines Landes reden, wo der überwiegende Teil an solchen Aktionen überhaupt nicht teilnimmt?

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216323700
Werter Herr Kollege, ich gehe jetzt einmal auf die 30 Nationen ein, die derzeit in Somalia im Einsatz sind oder im Rahmen von UNOSOM II nach Somalia kommen werden. Dabei handelt es sich nicht nur um unsere direkten Nachbarn wie Frankreich, wie Belgien, wie Italien oder die USA, es handelt sich dabei auch um Staaten wie Indien, wie Pakistan und andere.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Bangladesch!)

Wenn Sie einmal schauen, welche Nationen es sind, die von Ihnen hier herangezogen werden, dann werden Sie feststellen: Die sind in keiner Weise vergleichbar mit einem Achtzig-Millionen-Volk mit der Wirtschaftsstärke eines Staates wie der Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie sind damit nicht vergleichbar. Ich bitte Sie wirklich, Sie können doch Deutschland nicht mit Kleinstnationen dieser Welt in Entwicklungsregionen vergleichen. Da muß man doch verantwortlich denken.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216323800
Die Frage des Kollegen Heistermann.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1216323900
Herr Kollege Breuer, können Sie dem Hause bestätigen, daß diese Bundesregierung 1982 unter Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher gegenüber der SPD erklärt hat, daß die gemeinsame, im Rahmen der sozialliberalen Koalition gefundene Position, die Bundeswehr nur im Rahmen von Landes- und Bündnisverteidigung einzusetzen, auch für diese Regierung gilt, daß diese
Verfassungsinterpretation so gilt? Können Sie das dem Hause bestätigen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist elf Jahre her! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216324000
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, das können wir hier in aller Ruhe abhandeln. Die Position der Bundesregierung des Jahres 1982 — das habe ich eben gesagt — ist so gewesen, wie Sie sie hier beschreiben. Das bestätige ich.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann machen Sie es doch so!)

Sie war zum damaligen Zeitpunkt, zum Zeitpunkt der Ost-West-Konfrontation, zum Zeitpunkt der Teilung Deutschlands eine richtige Antwort. Aber sie ist in der jetzigen Zeit nach der Einheit Deutschlands, bei der anzustrebenden Einheit und dem Zusammenwachsen Europas und der veränderten Weltlage eine falsche Antwort. Deswegen muß die Praxis geändert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216324100
Noch eine weitere Frage.

Dieter Heistermann (SPD):
Rede ID: ID1216324200
Herr Kollege Breuer, würden Sie mir insoweit zustimmen können, daß die Verfassungsinterpretation der Regierung, der Sie sich zugehörig fühlen, 1982 so war, daß man zu dem Schluß kam, die Bundeswehr nur im Rahmen von Bündnissen und zur Landesverteidigung einzusetzen, und daß das, wenn man darüber hinausgeht, eigentlich eine Verfassungsänderung impliziert, diese also notwendig ist, wenn man über diese Verfassungsinterpretation hinausgeht?
Warum hat dann die Bundesregierung seit 1989 nicht den Versuch unternommen — um Ihre Interpretation aufzunehmen —, in diesem Hause eine gemeinsame Position zu entwickeln? Darf ich daran erinnern, daß die Sozialdemokraten den ersten Antrag auf Verfassungsänderung hier eingebracht haben und daß die Koalition lange Zeit nicht in der Lage war, zu einer gemeinsamen Verfassungsauffassung überhaupt zu kommen?

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216324300
Herr Kollege Heistermann, ich gehe jetzt einmal auf den Vorschlag von CDU/CSU und F.D.P. zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes ein, der hier auf dem Tisch liegt. Dieser Vorschlag steht ja zur Diskussion, er liegt dem Deutschen Bundestag vor.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unser steht zur Diskussion!)

— Ihr Vorschlag liegt auch vor. Ihr Antrag ließe beispielsweise einen deutschen Beitrag wie bei AWACS nicht zu.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Das heißt, Deutschland wäre nicht bündnisfähig. Wir
würden als größte Nation in der Mitte Europas mit den
meisten Nachbarn als 80-Millionen-Volk und mit



Paul Breuer
unserer Wirtschaftsstärke nicht integrativ, sondern desintegrativ wirken.

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!)

Wir würden Europa keine Chance lassen. Das ist doch die Gefahr, die damit verbunden ist. Unsere Zielsetzung muß doch sein, integrativ zu wirken.
Lassen Sie mich noch auf die Frage eingehen, wie denn die Mehrheiten aussehen sollten, die der Deutsche Bundestag benötigt, um die außenpolitische Handlungsfähigkeit unseres Landes bei Bundeswehreinsätzen herzustellen. Das ist ja auch ein Dissens, der hier immer diskutiert wird. Die einfache Mehrheit bei Blauhelmeinsätzen gestehen Sie zu. Sie gehen davon aus, daß nach den Definitionen der Charta der Vereinten Nationen bei einem AWACS-Kampfeinsatz eine Zweidrittelmehrheit notwendig wäre.
Jetzt schauen wir doch einmal in die politische Praxis: Ich habe gesehen, wie umstritten beispielsweise der AWACS-Einsatz gewesen ist. Sie sind nach Karlsruhe gezogen.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein, die F.D.P.!)

Die politische Handlungsfähigkeit Deutschlands wäre bei einer geforderten Zweidrittelmehrheit durch die Zerstrittenheit Ihrer Partei gar nicht möglich gewesen.
Unsere Zielsetzung muß sein, Deutschland handlungsfähig, bündnisfähig und integrationsfähig zu machen. Ich bitte Sie herzlich darum: Leisten Sie Ihren Beitrag dazu.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216324400
Herr Kollege Breuer, es gibt weitere Zwischenfragenbegehren. Zunächst der Kollege Klejdzinski.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD):
Rede ID: ID1216324500
Herr Kollege Breuer, soweit ich mich erinnere, besteht der SomaliaAuftrag in der logistischen Unterstützung der dort operierenden Truppen. Stimmen Sie mit mir in der Annahme überein, daß ein militärischer Verband, der einen Angriffsauftrag hat, ohne logistische Unterstützung nicht operieren kann?

(Zuruf des Abg. Günther Friedrich Nolting [F.D.P.])

— Herr Nolting, Sie haben doch eine Zwischenintervention gemacht; jetzt seien Sie doch einmal ruhig. — Darf ich daraus folgern, daß die logistische Unterstützung nicht unter humanitär, wenn man es streng juristisch beschreibt, abzuhaken ist bzw. generell unter dieser Rubrik vermerkt werden kann, insbesondere dann, wenn die logistische Unterstützung nicht nur beinhaltet, Wasser zu befördern, sondern Treibstoff, Ersatzteile und notwendige sonstige Ergänzungen, die ein Angriffsverband braucht?

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das zeigt nur, wie falsch der SPD-Antrag ist! — Zuruf von der CDU/CSU: Beckmesserei!)


Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216324600
Herr Kollege Dr. Klejdzinski, Sie sind gerade dabei, hier das große Sophistikum zu erwerben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich denke, die grundsätzliche Frage ist doch, ob die Bemühung der Vereinten Nationen, denen Sie ja das Gewaltmonopol übergeben wollen, in Somalia humanitär ist oder nicht. Wollen Sie den Vereinten Nationen unterstellen,

(Zuruf der CDU/CSU: Natürlich wollen sie das!)

wollen Sie den 30 Nationen dieser Welt, die dort in Somalia helfen, unterstellen, ihre Bemühungen seien nicht humanitär? Wenn das so ist, dann sagen Sie es hier.
Die Unterstützung, die Deutschland mit der Bundeswehr dort leistet, dient einem humanitären Auftrag. Damit wird einem geschundenen Land und geschundenen Menschen — dort sind Hunderttausende umgekommen — geholfen. Das ist die Zielsetzung. Alles andere ist meines Erachtens Sophisterei.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216324700
Herr Kollege Breuer, jetzt möchte noch der Kollege Thiele eine Zwischenfrage stellen.

Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Rede ID: ID1216324800
Herr Kollege Breuer, können Sie folgender Aussage zustimmen, die der Länderrat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am Wochenende getroffen hat?
In Fällen wie Bosnien-Herzegowina kann allerdings nicht jeder Einsatz von Zwang und Gewalt von vornherein völlig ausgeschlossen werden, um im Sinne einer Notwehr und Nothilfe das nackte Überleben der Menschen zu sichern. In diesem Kontext kann die Anwendung von Zwang die Konfliktparteien nicht nur davon abhalten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, sondern auch Raum für eine friedliche Streitschlichtung schaffen.

Paul Breuer (CDU):
Rede ID: ID1216324900
Ich kann dem vollinhaltlich zustimmen, Herr Kollege.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich stelle sogar fest, daß diese Aussage von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mittlerweile dazu geeignet ist, die SPD in die völlige Isolation hineinzutreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, Ihre Lage — ich sage das nicht deshalb — weil ich dabei irgendwelche besondere Freude empfinden würde, im Gegenteil — ist doch folgendermaßen zu beschreiben: Es gibt in Europa keine sozialdemokratische oder sozialistische Partei, für die Ihre Position verständlich ist. Ich kenne keine.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es! Ihr seid völlig isoliert!)




Paul Breuer
Für uns als deutsche Christdemokraten ist es doch peinlich, bei Delegationsreisen, wo auch Sie vertreten sind,

(Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD ist in der Welt isoliert!)

sich mit anzuhören, wie Ihre Kollegen Sozialdemokraten, Sozialisten und Vertreter von Arbeiterparteien in Europa nicht dazu bereit sind, Ihre Positionen anzuerkennen. Das ist doch Realität.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nun stellen Sie fest, daß auch im Deutschen Bundestag — ich komme zurück auf das, was der Kollege Thiele eben feststellte — Ihre Isolation weiter zunimmt.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: PDS!)

— Jetzt sind Sie noch mit der PDS zusammen. Eine tolle Gemeinsamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Es wird immer schlimmer, was Sie da so erzählen!)

Es gibt immer weniger politisch Verantwortliche, die dazu bereit sind, Ihre Position als verantwortlich anzuerkennen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216325000
Herr Kollege Kolbow, die Zwischenfragen haben dem Kollegen Breuer von 8 Minuten auf 20 Minuten Redezeit verholfen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Ich erteile das Wort unserem Kollegen Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1216325100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die tiefen verfassungsrechtlichen Skrupel der SPD mögen tief sitzen, sie mögen sonstwo sitzen, aber hier im Hause sitzen sie nicht. Wenn Sie sich bemüßigt sehen, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen, und dann hier diese Debatte so wichtig nehmen, daß gerade einmal zwei Handvoll Kollegen an der Debatte teilnehmen, finde ich das etwas beschämend.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie viele sind es denn bei Ihnen?)

Das bringt mich gleich zum zweiten Punkt: Sie hätten im Dezember letzten Jahres eine einstweilige Anordnung in Karlsruhe beantragen können. Sie hätten das auch am 21. April oder kurz danach tun können. Sie haben das nicht getan.

(Walter Kolbow [SPD]: Das haben wir doch erklärt! Nichts kapiert!)

Jetzt, wo die Aktion angelaufen ist, wo sich die internationale Staatengemeinschaft darauf verläßt, daß sie auf die Deutschen zählen kann, wo sich die Soldaten innerlich mit ihrer Aufgabe auseinandergesetzt und abgefunden haben, kommen Sie daher und sagen, jetzt werde das alles gestoppt.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Wir kommen nicht daher! Wir nehmen Rechtsmittel in Anspruch! Wir nehmen den Rechtsstaat in Anspruch!)

Was Sie eben erklärt haben, Herr Kolbow, kann ich so nicht akzeptieren.

(Walter Kolbow [SPD]: Das wundert mich nicht!)

Es hat sich nichts Wesentliches geändert. Der Auftrag
ist unverändert, und die Natur des Gebietes, in dem
der Einsatz stattfindet, hat sich auch nicht geändert.
Dies läßt für mich nur den einen Schluß zu: Sie sind von der Verweigerungshaltung, die Sie bisher eingenommen haben, inzwischen zur nackten Obstruktion übergegangen,

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

weil es Ihnen nämlich offensichtlich nicht mehr genügt,

(Walter Kolbow [SPD]: Das ist der Niedergang des Liberalismus!)

die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland zu lähmen. Jetzt sind Sie darauf aus, wenn eine Entscheidung in die Tat umgesetzt werden soll, diese im nachhinein zu Fall zu bringen. Das ist das Problem.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216325200
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1216325300
Ja, bitte sehr.

Dr. Eberhard Brecht (SPD):
Rede ID: ID1216325400
Herr Kollege Irmer, würden Sie die Qualifikation „nackte Obstruktion" auch auf die Verfassungsrichter ausdehnen, wenn die dem Antrag auf einstweilige Anordnung stattgeben sollten?

Ulrich Irmer (FDP):
Rede ID: ID1216325500
Ich komme jetzt gleich darauf zu sprechen, Herr Brecht; ich will Ihnen das gerne beantworten.
Sie behaupten ja, der Einsatz sei verfassungswidrig.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Auch Sie eigentlich!)

Sie behaupten, das Engagement der Bundeswehr sei verfassungswidrig. Darüber werden allerdings die Richter in Karlsruhe zu befinden haben. Sie haben aber im Dezember oder im April nicht gerügt, daß dies so sei.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch!)

Man muß doch zweierlei auseinanderhalten. Man muß erstens fragen: Ist das Engagement der Bundeswehr nötig, nützlich, sinnvoll? Die zweite Frage ist naturgemäß, ob das Engagement dort verfassungsmäßig ist.
Jetzt will ich Ihnen sagen, wo der Unterschied auch zu dem AWACS-Fall liegt. Es handelt sich bei dem humanitären und logistischen Engagement der Bundeswehr in Somalia keineswegs um einen Einsatz im verfassungsrechtlichen Sinne des Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes, und zwar einfach deshalb nicht, weil



Ulrich Irmer
es hier keinen Kampfauftrag gibt. Das ist doch der entscheidende Unterschied. Dies ist ein humanitäres und logistisches Engagement.
Sie können es auch nicht dadurch zum Einsatz im Sinne des Grundgesetzes verändern, daß Sie sagen, es ist gefährlich. Das hätte nämlich zur Folge, daß alles verfassungswidrig wäre, was gefährlich ist. Die Konsequenz wäre, daß wir keinen Polizisten mehr auf die Straße schicken könnten. Kein Polizist dürfte mehr seinen Dienst tun, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Eberhard Brecht [SPD]: Das ist doch völliger Unfug!)

Hier war vorher die Rede von Brunnenvergiftung. Herr Kolbow, ich richte den Vorwurf wirklich nicht gegen Sie; ich mache niemandem diesen Vorwurf. Aber manchmal kann man doch sagen: Die einen bauen Brunnen, und die anderen vergiften sie. Das können wir auf die Dauer doch nicht zulassen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Sie haben hier wiederholt gesagt, daß Sie bereit wären, an einer Grundgesetzänderung mitzuwirken. Aber Sie sagen: „Auf der Grundlage unserer Vorschläge", nämlich der SPD-Vorschläge. Es ist doch offenkundig, daß diese Vorschläge völlig unzureichend sind.
Sie haben der CDU/CSU gesagt, sie solle doch zugeben, daß eine Verfassungsänderung notwendig ist. Die CDU/CSU vertritt nach wie vor die Auffassung, das sei nicht erforderlich. Aber sie hat sich fairerweise mit uns zusammen dazu durchgerungen, einen verfassungsändernden Gesetzentwurf einzubringen. Ich bin der CDU/CSU dafür dankbar. Ich respektiere, daß sie an ihrer Auffassung festhält.
Wir haben das gemeinsam in die Hand genommen, weil wir anders als Sie — jetzt kommt es — im Auge haben, daß wir — erstens — das Elend der Welt, wo wir zu dessen Linderung beitragen können, nicht einfach unbeachtet vor unseren Augen Abend für Abend über die Bildschirme flimmern lassen wollen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wo wir es können, müssen wir uns daran beteiligen zu helfen. Das wollen Sie offensichtlich nicht.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Der erzählt wieder Märchen!)

Das zweite ist, daß wir wissen, daß wir auf dieser Welt nicht alleine sind. 40 Jahre lang haben unsere Verbündeten dafür garantiert, daß wir unsere Sicherheit hatten. Unsere Verbündeten und unsere Partner in der Welt, selbst unsere ehemaligen Gegner, waren damit einverstanden, daß wir die Einheit unseres Landes wiedererringen konnten. Das verpflichtet uns jetzt auch, die internationale Verantwortung zu akzeptieren, die auf uns zukommt. Das wird von uns international erwartet.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann müssen wir die Verfassung entsprechend ändern!)

Wir müssen handlungsfähig sein und bleiben.
Wenn wir einmal gesagt haben, wir sind dazu bereit, mit Ihnen auch darüber zu reden, bei solchen Beschlüssen eventuell Zweidrittelmehrheiten einzuführen, sage ich Ihnen jetzt eines: Wenn ich Ihre obstruktive Haltung sehe, dann graut es mir vor der Idee, daß wir uns von einer Zweidrittelmehrheit und damit von Ihrer Zustimmung abhängig machen sollten.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216325600
Herr Kollege Irmer, ich habe mich vorhin mit dem Kollegen Kolbow wegen dieses Ausdrucks auseinandergesetzt. Sie haben ihn nun etwas aufgelöst. Aber ich unterstelle einmal, daß in diesem Hause niemand ist, der Brunnen bohrt, und infolgedessen auch niemand, der sie vergiftet.

(Ulrich Irmer [F.D.P.]: Herr Präsident, Sie haben mich völlig zutreffend interpretiert!)

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Antrag der Fraktion der SPD zur Beendigung des Einsatzes der Bundeswehr in Somalia, Drucksache 12/5140. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Antrag ist abgelehnt.
Wir stimmen über den Antrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/5136 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen
— Drucksache 12/2453 — (Erste Beratung 89. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 12/5141 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Günter Graf
Wolfgang Lüder
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Inkrafttreten des Schengener Übereinkommens
— Drucksachen 12/4057, 12/5141 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Günter Graf
Wolfgang Lüder
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen



Vizepräsident Hans Klein
vom 27. November 1990 über den Beitritt der Italienischen Republik, vom 25. Juni 1991 über den Beitritt des Königreichs Spanien und vom 25. Juni 1991 über den Beitritt der Portugiesischen Republik zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 (Gesetz zu Beitritten zum Schengener Übereinkommen)

— Drucksache 12/3804 — (Erste Beratung 134. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses (4. Ausschuß)

— Drucksache 12/5141 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Günter Graf
Wolfgang Lüder
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Beseitigung der Grenzkontrollen
Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Parlament
— Drucksachen 12/2144 Nr. 2.2, 12/5141 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Günter Graf
Wolfgang Lüder
Zu dem Gesetzentwurf zu dem Schengener Übereinkommen liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort unserem Kollegen Erwin Marschewski.

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1216325700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten zwar hier und heute nicht über ein Vertragswerk der gesamten Europäischen Gemeinschaft, dennoch müssen wir uns dessen bewußt sein, daß es sich beim Schengener Durchführungsübereinkommen um einen Vertrag handelt, der das Zusammenwachsen der europäischen Nationen fördert.
Das Schengener Vertragswerk hat die vollständige Aufhebung aller Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten bei gleichzeitiger Gewährleistung der inneren Sicherheit zum Ziel. Es ist somit ein Pilotprojekt für ganz Europa, und dies zu einem Zeitpunkt, wo die Zustimmung vieler Bürger gegenüber einem vereinten Europa leider merklich nachgelassen hat. Die Bürger erkennen allenthalben die mit dem zusammenwachsenden Europa verbundenen Probleme.
Allzuhäufig sind ihnen die Vorteile eines Europas ohne Binnengrenzen leider nur zuwenig bewußt. Wer erinnert sich schon daran, daß wir Deutschen für viele Länder des europäischen Bereichs, in die wir heute ohne jede Kontrolle einreisen, in den 50er Jahren noch Visa brauchten? Vielfach scheint auch in Vergessenheit geraten zu sein, daß bereits die Verträge von Rom
von 1957 die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten als Gemeinschaftsaufgabe definierten.
Mit der Umsetzung des Schengener Abkommens wird es in der großen Mehrzahl der europäischen Staaten keine Grenzkontrollen mehr geben. Zwischen den Schengener Vertragstaaten Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Deutschland sowie den beigetretenen Staaten Italien, Spanien und Portugal gibt es eine neue Freizügigkeit.
Lassen Sie mich zwei Probleme infolge des Wegfalls der Grenzkontrollen ansprechen, für die das Schengener Abkommen aber Lösungswege aufzeigt. Als erster Problembereich sind die Wanderungsströme in Europa zu nennen. Mit dem neuen Asylrecht, das von diesem Hause im vergangenen Monat verabschiedet worden ist, haben wir die Grundlage dafür geschaffen, an den Regelungen des Schengener Übereinkommens gleichberechtigt teilzunehmen.
Diese gleichberechtigte Teilhabe war die Forderung der Union. Weil wir gleichberechtigt an Europa teilnehmen, hat es sich gelohnt, zunächst zu warten, bis wir die Asylgesetze in diesem Bundestag verabschiedet haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zum Schengener Asylrecht: Ich meine, die Lösung, die dort ausgearbeitet worden ist, ist fair. Das zuerst mit einem Asylantrag befaßte Land bleibt hierfür zuständig. Die anderen Länder erkennen dessen Entscheidung an. Damit ist sichergestellt, daß jeder politisch Verfolgte nunmehr innerhalb Europas Schutz findet. Dies war von Kirchen und Teilen der SPD bestritten. Das ist sichergestellt.
Herr Kollege Peter, Sie haben nicht zugestimmt. Das bedauere ich. Aber Sie müssen jetzt erkennen, daß es gut ist, daß wir gemeinsam mit Europa diese Abkommen getroffen haben.
Noch eines: Ich meine, es wird auch der Erkenntnis Rechnung getragen, daß Deutschlandjetzt — wie dies bisher leider nicht der Fall war — die Wanderungsströme in Europa weitgehend nicht mehr allein zu bewältigen hat. Dies wird nun gemeinschaftlich von Europa geregelt. Ich meine, es ist gut, daß wir auch hier Europa als Einheit betrachten.
Der zweite Problembereich, den wir hier ansprechen, ist die Verbrechensbekämpfung. Immer wieder höre ich von der Angst, daß der große europäische Raum auch Gangstern, Terroristen und Drogenhändlern freies Spiel für ihre Aktionen und finsteren Geschäfte gewährt. Wie wohl jeder Bürger wissen mußte, helfen die Gesetze zur Verbrechensbekämpfung aber nur wenig, wenn Polizei und Justiz nicht in allen europäischen Staaten zusammenarbeiten.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Richtig!)

Es schmerzt natürlich, festzustellen, daß für organisierte Kriminalität und internationale Verbrechersyndikate Staatsgrenzen leider schon lange kein Hindernis mehr sind. Sie wissen, die Drogenmafia arbeitet international. Auch bei den nationalen Terrororganisationen bestehen eine ganze Reihe von Kontakten ins Ausland. Aber im Schengener Abkommen werden



Erwin Marschewski
auch Maßnahmen getroffen, dem entgegenzuwirken. Denn Europa — das haben wir bei Schengen gesagt — soll ein Europa der Bürger werden und kein Europa der organisierten Kriminellen und der organisierten Kriminalität.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daher erwähne ich hier insbesondere die grenzüberschreitende Observation und die Nachteile in die Vertragsstaaten, die Erleichterung und Vereinfachung der Rechtshilfe und der Auslieferung, verschärfte Kontrollen im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel und die Harmonisierung waffenrechtlicher Bestimmungen und last but not least das Schengener Informationssystem.
Ich meine, es offenbart sich also, daß Problemen auf der einen Seite Vorteile auf der anderen Seite gegenüberstehen, die ein befürchtetes Sicherheitsdefizit nicht nur ausgleichen, sondern ein gegenüber dem jetzigen Stand erhöhtes Sicherheitsmaß erreichen. Die Bedeutung eines Informationssystems, mit dessen Hilfe es der Polizei erleichtert wird, Personen oder Sachen schneller aufzufinden, ist offensichtlich.
Dennoch bin ich nicht ganz zufrieden. Daß außer Deutschland kaum ein Vertragsstaat seinem Nachbarstaat das Nacheilerecht ohne räumliche und zeitliche Begrenzung bei allen auslieferungsfähigen Straftaten gewährt, stimmt bedenklich.
Ich meine, wir alle müssen mit Nachdruck darauf hinwirken, daß diese Beschränkungen bald wegfallen. Ich bin aber, meine Kolleginnen und Kollegen, eigentlich zuversichtlich. Denn ich meine, die europäischen Regelungen sind einfach nichts Statisches. Das hat die Geschichte, die Entwicklung ergeben. Sie durchlaufen eine prozeßhafte Entwicklung entsprechend dem jeweiligen Stand der Integration der europäischen Staaten.
Zum Schluß: Das, wofür Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Schuman oder De Gasperi gearbeitet haben, ist nun dabei, Wirklichkeit zu werden: ein Europa, in dem man von Stuttgart nach Paris, von Mailand nach Luxemburg, von Düsseldorf nach Brüssel fahren kann, ohne Grenzkontrollen zu passieren, so wie es, Frau Kollegin, in Deutschland seit Jahren üblich ist, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen zu fahren. Deswegen verdient das Schengener Durchführungsübereinkommen unsere Zustimmung. Wir Europäer werden uns durch dieses Abkommen erneut näherkommen.
Das große Ziel auch meiner politischen Wünsche als damaliger Verantwortungsträger der Jungen Union in den 60er/70er Jahren beginnt nunmehr Wirklichkeit zu werden. Dies kann uns alle nur mit Freude erfüllen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216325800
Herr Kollege Gerd Wartenberg, Sie haben das Wort.

Gerd Wartenberg (SPD):
Rede ID: ID1216325900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einem langen Vorlauf von fast acht Jahren wird heute hier das Gesetzeswerk zu dem Schengener Vertrag verabschiedet,
einem Vertragsbereich, der viele Gemüter in europäischen Staaten und viele Parlamente lange in Detailfragen, aber auch in Grundsatzfragen bewegt hat, dessen Bedeutung aber heute im Lichte von Maastricht und auch des vorgezogenen Grenzabbaus vielen als eher schon selbstverständlich denn aufregend erscheint, was sich auch in der Besetzung in diesem Hause ausdrückt.
Dennoch war der Anspruch der Schließung dieses Schengener Vertrags, nämlich im Kernbereich der Europäischen Gemeinschaft, bevor es die Einigung zwischen allen Staaten der Europäischen Gemeinschaft gibt, offene Grenzen zwischen den Beneluxstaaten, Frankreich und der Bundesrepublik zu schaffen, ein sehr mutiger und richtiger Ansatz. Das haben viele im Lauf der Zeit vergessen.
Gleichwohl besteht das Problem dieses Vertrags natürlich darin, daß es sich um bilaterale oder multilaterale Abkommen komplizierter Art handelt, die zwischen Regierungen ausgehandelt, von den Parlamenten begleitet, aber — darauf weist die Entschließung des Europäischen Parlamentes zu Recht hin — auch von einem Demokratiedefizit begleitet sind. Dies ist das Grundproblem aller dieser Verträge.
Trotzdem war es in der schwierigen Situation der noch nicht vorhandenen politischen Einigung Europas der Versuch, mutig voranzugehen und die Zusammenarbeit zwischen diesen Kernstaaten voranzutreiben, um wenigstens den Anspruch, den man als europäischer Bürger an die Einheit gestellt hat, durchzusetzen, sich von einem Staat zum anderen ohne Kontrolle bewegen zu können.
Das Demokratiedefizit, das wir eben nicht nur im Bereich Schengen, sondern auch im Bereich Maastricht zu beklagen haben, solange es kein Europäisches Parlament gibt, das wirkliche Kontrollvollmachten über das hat, was in Brüssel beschlossen oder entschieden wird, konnte hier nicht aufgelöst werden. Man mußte es zähneknirschend zur Kenntnis nehmen.
Wir haben als Politiker des Deutschen Bundestags in den letzten drei Legislaturperioden versucht, dieses Demokratiedefizit insofern zu überwinden, als wir mehrmals bei gegenseitigen Besuchen mit den Parlamenten unserer Nachbarländer alle Einzelpunkte durchgesprochen und die gegenseitigen Interessenlagen offengelegt haben. Es war ein sehr komplizierter Prozeß, dies eben nicht nur auf Regierungsebene, sondern nebenbei auch auf nationaler parlamentarischer Ebene zu begleiten. Ich glaube, dies hat einiges bewirkt und einige hilfreiche Entwicklungen beschleunigt, selbst wenn es immer nur über die Regierung umgesetzt werden konnte.
Die offenen Grenzen in Europa führen dazu, daß bei manch einem das Bewußtsein entsteht, hier werde dadurch ein großes Sicherheitsdefizit geschaffen. Die eine Seite, die das Schengener Abkommen bewertet, bewertet es so, daß die kompensatorischen Maßnahmen, bezogen auf die innere Sicherheit in diesen Ländern, nicht ausreichend sind.

(Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]: Sehr richtig!)




Gerd Wartenberg (Berlin)

Die andere Seite — Frau Jelpke und auch Vertreter des BÜNDNISSES 90 werden dazu wohl noch einiges sagen — meint, das Schengener Abkommen sei ein Schritt zum europäischen Abschottungs- und Überwachungsstaat. Beides ist wohl sehr dick aufgetragen; die Wahrheit liegt woanders.
Richtig ist, daß offene Grenzen weniger Überwachung bedeuten; denn die Grenzen selbst waren eine Kontrolle, die sich theoretisch jeder Bürger bei der Wanderung von einem Staat zum anderen gefallen lassen mußte. Richtig ist, daß wegen des Wegfalls der Grenzen Kompensationsmaßnahmen getroffen werden mußten, beispielsweise das Schengener Informationssystem, das versucht, einen Gleichklang bei der Fahndung, der Datenübermittlung und der Visapolitik herzustellen. Nur, damit ist die Visapolitik nicht automatisch restriktiver; denn die Visapolitik der Einzelstaaten war teilweise viel enger, als es nunmehr im Gesamtverbund der Fall ist.
Wenn man einen freien Personenverkehr zwischen diesen Staaten hat, muß außerdem versucht werden, die Zuständigkeiten für Menschen, die aus Drittländern kommen, also aus Staaten, die nicht den Schengener Vertrag unterzeichnet haben, festzulegen. Das betrifft beispielsweise das Asylrecht.
Häufig ist das Schengener Abkommen in der Öffentlichkeit nur unter Asylgesichtspunkten diskutiert worden. Aber Asyl spielt eigentlich nicht die zentrale Rolle. Es ist vielmehr eine Folge der offenen Grenzen, daß die Staaten Vereinbarungen treffen mußten, wie bei offenen Grenzen das Land, in dem sich ein Asylbewerber meldet, mit diesem im Vergleich zu den anderen Ländern umgeht.
Bedauerlich ist natürlich, daß solch ein Abkommen materiell-rechtliche Harmonisierungen nur sehr bedingt verwirklichen konnte. Gerade für den Bereich des Asylrechts bedauern wir das alle. Wir sind noch immer auf Zuständigkeitsregelungen zurückgeworfen. Diese haben wir durch die neue Asylgesetzgebung und unsere Verfassungsänderung ausgefüllt. Richtiger und wichtiger wäre es natürlich, wir hätten eine gemeinsame europäische materiell-rechtliche Grundlage. Diese zu schaffen wird unsere Aufgabe bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Das werden wir nicht allein verwirklichen können, solange die anderen Länder nicht ein eigenes Interesse daran haben. Das eigene Interesse ist, solange der größte Teil der Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland ist, natürlich nicht sehr groß.
Zu der Frage der anderen kompensatorischen Maßnahmen und Harmonisierungen gibt es einige positive Aspekte, beispielsweise, daß das Datenschutzrecht in anderen europäischen Ländern eher unseren Standards angepaßt wird. Einige Länder wie Belgien hatten bis dato überhaupt kein Datenschutzrecht und mußten auf Grund des Schengener Vertrages eine Datenschutzgesetzgebung einführen.
Ein weiteres Defizit gibt es im Bereich des Waffenrechts. Dort sind einige Staaten sehr viel liberaler. Wir hoffen gerade unter dem Aspekt der inneren Sicherheit, daß es ein gemeinsames restriktives Waffenrecht geben wird. Dies ist eine Forderung, der sich die meisten Fraktionen im Innenausschuß angeschlossen haben. Sie haben die Regierung bestärkt, in dieser Richtung zu verhandeln.
Wir haben weiterhin das Problem, daß in dem Bereich der Außengrenzen viele Maßnahmen, die eigentlich vom Vertrag her gefordert sind, noch nicht umgesetzt sind. Es ist klar, daß, nach dem Wegfall der Binnengrenzen Außengrenzen geschaffen werden müßten, die den Binnenraum so schützen können, wie es die früheren Außengrenzen der jeweiligen Staaten getan haben. Dies geht immer nur bedingt.

(Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: Die armen Länder!)

— Entschuldigen Sie, Frau Jelpke. Das hat nichts mit armen Ländern zu tun. Ob Frankreich oder die Bundesrepublik isoliert starke Außengrenzen haben oder ob ein Gesamtraum starke Außengrenzen hat, macht im Gesamtbezug zu den anderen Nachbarstaaten überhaupt keinen qualitativen Unterschied aus. Im Gegenteil: Es ist komplizierter geworden, den Gesamtaußengrenzenbereich einigermaßen vernünftig zu sichern, weil auf weniger Grenzen viel mehr Verkehr kommt, der kontrolliert werden muß, und weil bestimmte Zwischenstufen weggefallen sind.
Wir stellen fest, daß die technischen Einrichtungen und die tatsächlichen Kontrollen noch vor großen Problemen stehen. Denken wir nur an die Fährhäfen im Bereich der Ostsee. Bei dem ungeheuren Verkehr, der dort besteht, ist es fast unmöglich, im Sinne des Schengener Vertrags Kontrollen durchzuführen. Umfassende Kontrollen würden irrsinnige Umbaumaßnahmen erfordern. Im Grund genommen sind die Standards, die es früher gegeben hat, letzten Endes kaum wieder erreichbar. Aber das muß man wohl hinnehmen. Insofern kann es nicht stimmen, daß Kontrollen in erster Linie eine Abschottung sind. Die Probleme sind eher größer geworden, da die Kontrollen schwieriger geworden sind.
Wir haben bei den Grenzkontrollen jetzt allerdings eine Entwicklung zu verzeichnen, die auch für die weitere europäische Entwicklung von großer Bedeutung ist. Frankreich, aber auch die Niederlande diskutieren das Ganze unter dem Aspekt, daß ihnen die Außengrenzensicherung des Gesamtraumes des Schengener Vertrages nicht reicht, und versuchen, indirekt wieder Grenzkontrollen einzuführen. Insbesondere in Frankreich wird dies diskutiert. Es gibt auch schon bestimmte Planungen, etwa 20 oder 25 km oder in einem anderen Abstand hinter der Grenze entsprechende Kontrollstationen einzurichten.
Wenn diese Entwicklung einreißen sollte, dann ist das allerdings nicht nur ein Problem für den Schengener Vertrag — er ist in diesem Zeitraum verhältnismäßig belanglos —, sondern auch für den Vertrag von Maastricht. Denn bezogen auf Maastricht kann eine solche gegenläufige Entwicklung letzten Endes natürlich nicht hingenommen werden, es sei denn, die ganze Philosophie der europäischen Einigung wird an einem ganz bestimmten Punkt durchbrochen.
Es gibt natürlich Gründe dafür, warum die Nationalstaaten anfangen, wieder mehr über ihre eigenen Außengrenzen nachzudenken, und zwar unter dem



Gerd Wartenberg (Berlin)

Aspekt hoher Wanderungsbewegungen und auch der grenzübergreifenden Kriminalität. Sie stehen zum Teil unter dem Druck vieler Bürger. Wer bestimmte grenznahe Bereiche in Deutschland kennt, der weiß, daß das auch dort zu erheblichen Diskussionen führt.
Nur, wir werden, wenn andere Länder über die Außengrenzensicherung hinaus innere Grenzen wieder in stärkerem Maße kontrollieren, in diesem Parlament darüber nachdenken müssen, welche Konsequenzen und welche künftigen Entwicklungen das in der gesamteuropäischen Philosophie hat. Es ist ein ernsthafter Einschnitt, wenn einige wichtige Länder solche Maßnahmen erwägen und partiell — im Moment aber wirklich nur partiell — auch schon praktizieren.
Unter diesen Umständen dürfen wir uns jetzt nicht selber täuschen, indem wir sagen: „Das große Werk des freien Personen- und Warenverkehrs im Schengener Raum ist gelungen, und das ist von der Philosophie her richtig und jetzt umgesetzt worden" , wenn gleichzeitig gegenläufige Entwicklungen bei einzelnen Vertragsstaaten eintreten.
Die Frage der offenen Grenzen und der Außengrenzensicherung unter einem steigenden Wanderungsdruck auf der Welt wird uns noch erhebliche Probleme bereiten und noch mehr Abstimmungsmechanismen zwischen den beteiligten Staaten notwendig machen. Es sind bestimmte Vorkehrungen getroffen, daß diese Abstimmungsmechanismen laufen können. Ob das bei einer so schwerfälligen Apparatur immer vernünftig funktionieren wird, das wird man erst in Zukunft sehen.
In der Frage der Kompensation in der inneren Sicherheit gibt es häufig Forderungen, die wahrscheinlich auch noch von verschiedenen anderen ausgeführt werden — Frau Kollegin Hämmerle wird dazu noch etwas sagen —, etwa hinsichtlich des Problems der Nacheile, des Problems des Rauschgiftes oder der grenzüberschreitenden Kriminalität, Probleme, die meines Erachtens am ehesten dadurch gelöst werden können, daß eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Polizeien der entsprechenden Länder gewährleistet wird. Dies setzt aber voraus, daß man das Ganze institutionell besser organisiert: gemeinsame Gruppen im Bereich der Ermittlungen und sprachbewanderte Beamte, die mit Beamten anderer Staaten reibungslos zusammenarbeiten können. Es wird in jedem Fall nicht so sehr eine Frage einzelner gesetzlicher Maßnahmen sein, sondern es wird daran gemessen werden, inwieweit es möglich sein wird, zwischen den Staaten eine effektive Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit zu organisieren, um das, was an Defiziten eingetreten ist, auszugleichen. Die Einschätzung, die man im Moment dazu haben kann, ist: Es wird versucht; es wird organisiert. Ob es letztlich in dem Sinne, wie es mancher erwartet, effektiv sein wird, sei dahingestellt.
Trotz bestimmter unbefriedigender Teilbereiche dieser Abkommen sind wir der Meinung, daß im Vorgriff auf Maastricht und auch unter der Philosophie des freien Grenzverkehrs zwischen diesen Staaten dieses Vertrags- und Gesetzeswerk positiv zu
bewerten ist. Deswegen werden wir diesen Schengener Gesetzen und Verträgen zustimmen.
Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216326000
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich sage jetzt etwas zu Ihrer Information, aber auch zur Information derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Plenum sein können, doch die Debatte am Fernseher oder am Lautsprecher verfolgen. Wir werden die namentliche Abstimmung vermutlich gegen 21 Uhr haben. Wenn ich die von den Geschäftsführern vereinbarten Redezeiten für die einzelnen Tagesordnungspunkte zusammenrechne, dann werden wir die heutige Tagesordnung gegen Mitternacht abgearbeitet haben, es sei denn, es wird bei dem einen oder anderen Tagesordnungspunkt etwas zu Protokoll gegeben.
Als nächsten Redner rufe ich unseren Kollegen Wolfgang Lüder auf.

(Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Er gibt das jetzt zu Protokoll!)


Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1216326100
Herr Präsident! Lieber Herr Voigt! Meine Rede, die ich für heute abend nach der jetzigen Planung des Herrn Präsidenten um 0.30 Uhr halten würde, gebe ich vielleicht zu Protokoll.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: So oft reden Sie pro Tag! Das ist ja furchtbar!)

Das, was ich zu diesem Thema sagen will, sage ich jetzt direkt.
Am Montag dieser Woche war es acht Jahre her, daß Bundeskanzler Kohl, der französische Staatspräsident und die Regierungschefs der Benelux-Staaten eine großartige Idee in dem kleinen Luxemburger Grenzort Schengen verkündeten, eine Idee, die Großartiges erwarten ließ: Die Reisefreiheit in Europa sollte grenzenlos sein. So attraktiv war die Idee, daß in der Zukunft Spanien und Portugal, Italien und Griechenland der Gemeinschaft ohne Binnengrenzen im Schengener Vertragsraum beitraten.
Viele von uns erinnern sich noch des Aufbruchs, der damals herrschte. Das „E"-Zeichen am Auto signalisierte freie Fahrt über die Grenzen. Wir machten Sonderfahrspuren, damit wir unkontrolliert durch Europa fahren konnten.
Dann kam die Aufgabe, die sich aus einem ganz kleinen Satz des damaligen Abkommens ergab. Es soll ein bißchen „Sicherheitsausgleich" kommen — ich sage es etwas salopp —. Daraus wurden dann die Verhandlungen über das Übereinkommen, das wir heute hier mit wesentlich größerem Umfang und wesentlich längeren Zeiträumen für die Verhandlungszeiten behandeln.
Wir, die Freien Demokraten, stimmen dem Gesetz zu, weil die Pluspunkte überwiegen. Aber ich will auch die Schattenseiten nicht verschweigen. Ich zähle sieben wesentliche Pluspunkte auf:
Erstens. Es ist und bleibt ein Fortschritt für die Bürger in Europa, daß die Grenzkontrolle an den



Wolfgang Lüder
Binnengrenzen der Schengener Vertragsstaaten abgeschafft werden.
Zweitens. Es ist und bleibt ein Fortschritt, daß in allen Vertragsstaaten sichergestellt ist, daß der datenschutzrechtliche Mindeststandard, den der Europarat Anfang der 80er Jahre festgelegt hat, nun überall gilt.
Drittens. Die Zusammenarbeit der Polizei ist bei allen Mängeln, die sie noch hat, schon ein Fortschritt gegenüber dem, was wir bisher haben.
Viertens. Die Zusammenarbeit der Justiz ist schon ein Fortschritt gegenüber all den Mängeln, die wir heute haben.
Fünftens. Die einheitliche europäische Visapolitik ist ein Fortschritt gegenüber dem, was wir besitzen.
Sechstens. Auch die Erleichterung der Zollformalitäten zählt für mich zu den Pluspunkten.
Schließlich, siebtens, auch die Vereinbarung über einheitliche Verfahrensregelungen im Asylbereich betrachte ich als Fortschritt, wenn auch das einheitliche materielle Asylrecht, orientiert an der Genfer Konvention, unser Ziel bleiben sollte.

(Joachim Clemens [CDU/CSU]: Jetzt haben Sie das Datenschutzrecht vergessen!)

— Mein Lieber, das habe ich schon an zweiter Stelle erwähnt. Aber wie so oft hören Sie bei mir sogleich den dritten Punkt, weil er das Kritische betrifft.
Aber es gibt auch Schattenseiten. Ich nenne drei Punkte.
Erstens. Wir müssen die Hotelmeldepflicht gegenüber Liberalisierungstendenzen verstärken, die wir in allen Ländern durchgesetzt haben. Die Länder müssen hier ihre Gesetze ändern.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216326200
Herr Kollege Voigt, es sind noch Sitzplätze frei. Oder wollten Sie eine Zwischenfrage stellen? — Nein.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1216326300
Zweitens. Das Waffenrecht. Lieber Herr Wartenberg, ich nenne das nicht Liberalisierung, was hier kommt. Auch die Liberalen sind für einen hohen Schutzstandard beim Waffenrecht. Der Schutzstandard des deutschen Waffenrechts ist hier gelockert worden. Gott sei Dank können wir wenigstens unser Waffenrecht behalten.
Drittens. Der Nachteil bleibt, daß wir weder eine parlamentarische noch eine europagerichtliche Kontrolle der Schengener Maßnahmen haben. Wir haben hier wenigstens ein Minimum erreicht, indem im Durchführungsabkommen festgelegt ist, daß der Exekutivausschuß aus den Ministern und nicht aus irgendwelchen Verwaltungsleuten besteht, so daß die Minister den nationalen Parlamenten verantwortlich bleiben.
Wir hoffen, daß es zu weiteren Beitritten kommt und schließlich ganz Europa diesem Abkommen beigetreten sein wird, so daß dann das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof ihre Kontrollrechte ausüben können.
Ich halte es für wichtig, daß die Bundesregierung uns zugesagt hat, daß der Zeitpunkt des Inkrafttretens öffentlich verkündet wird; denn wir werden dann noch zu prüfen haben, ob die Datenschutzstandards und die Technik des Schengener Informationssystems wirklich so greifen, wie sie vorgesehen sind. Parlamentarische Wachsamkeit bleibt notwendig. Parlamentarisch wachsam müssen wir auch bei dem bleiben, was nach dem Schengener Abkommen kommen sollte.
Wir haben mehrmals gehört — sowohl von Herrn Marschewski als auch von Herrn Wartenberg —, daß wir bei der Kontrolle an den Außengrenzen einen Sicherheitsausgleich schaffen wollen. Hier bin ich von dem alarmiert, was laut dem 14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz das Bundesinnenministerium nun plant.

(Joachim Clemens [CDU/CSU]: Das Gegenteil hätte mich sehr gewundert!)

Es steht darin, daß die Bundesregierung einen Modellversuch plant. Man muß es nachlesen und laut lesen, um zu sehen, was dort festgestellt worden ist. Das Bundesinnenministerium plant den Aufbau einer „teilweise automatisierten Grenzkontrolle". An dieser teilweise automatisierten Grenzkontrolle, die überlange Wartezeiten vermeiden soll, soll aber nur und ausschließlich teilnehmen können — ich zitiere —,
wer zuvor — auf freiwilliger Basis — die in seinem Grenzdokument enthaltenen Personenangaben sowie bestimmte biometrische Daten (Fingerabdrücke oder Meßdaten über die Hände, wie z. B. Länge der Hände und der Finger) erfassen und speichern läßt.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Aber es geht nicht um Langfinger!)

Die Speicherung biometrischer Daten, das ZehnFinger- Suchsystem per Fahndungscomputer, ausgemessen nach Fingerabdruck und Handlänge, soll die Grenzkontrolle der Zukunft ermöglichen, wenn es nach diesen Ministeriumsplänen geht. Die Bewegungsbilder des Reisenden im Fahndungscomputer der Grenzkontrolleure? Das ist für uns Freie Demokraten nicht akzeptabel.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und der PDS/Linke Liste)

Der Datenschutzbeauftragte hat bisher vergeblich angeregt, die parlamentarischen Gremien über den geplanten Feldversuch zu unterrichten, weil dieser den zumindest teilweisen Einstieg in eine völlig neue Kontrollpraxis zum Ziel habe. Ich bedaure, daß die Bundesregierung dieser Anregung des Datenschutzbeauftragten nicht gefolgt ist und von sich aus nicht parlamentarisch initiativ geworden ist, um uns über das zu informieren, was sie in einer neuen Dimension hier will.
Ich darf es vielleicht noch einmal ganz deutlich machen und aus dem Bericht des Datenschutzbeauftragten zitieren. Demnach ist vorgesehen:
Zunächst muß der Reisende beim Bundesgrenzschutz, z. B. auf einem Flughafen, einen schriftlichen Antrag auf Teilnahme an diesem Verfahren stellen. Hierfür hat er sich mit einem maschinenlesbaren Personalausweis oder Reisepaß auszu-



Wolfgang Lüder
weisen und die genannten biometrischen Daten zur Verfügung zu stellen. Seine Identifikationsdaten aus dem Personalausweis oder Paß, mit Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort, Paßnummer oder Personalausweisnummer, und seinen biometrischen Daten werden dann in einer speziellen Datei gespeichert. Bei der Grenzkontrolle werden zunächst die personenbezogenen Daten aus dem Reisedokument maschinell gelesen und mit den aus den Antragsverfahren gespeicherten Informationen abgeglichen. Dabei erfolgt gleichzeitig immer eine fahndungsmäßige Überprüfung. Danach wird die eigentliche Identität des Betroffenen durch Vergleich seiner aktuellen biometrischen Daten mit den für diese Person im Antragsverfahren zur Verfügung gestellten Daten geprüft. Stimmen die Daten überein und ist der Betroffene nicht fahndungsgemäß ausgeschrieben, kann er ohne weiteres die Grenzkontrolle passieren.
Im Umkehrschluß: Wer es auch nur ein bißchen eilig hat, ist wohl beraten, sich diesem Datenverfahren zu unterwerfen. Das Ganze geschieht, ohne daß das Parlament bisher davon überhaupt informiert worden ist.

(Uwe Lühr [F.D.P.]: Unerhört!)

Bis heute hat die Bundesregierung die Bitte des Datenschutzbeauftragten diesbezüglich nicht beachtet. Eine Grenzkontrolldatei mit allen Identifikationsdaten und dazu noch den biometrischen Daten — im Vergleich dazu wäre, meine Damen und Herren, die vom Deutschen Bundestag abgelehnte allgemeine Personenkennziffer ein harmloses Papier von der Qualität einer handgeschriebenen Karteikarte. Nein, liebe Bundesregierung, so geht das nicht — schon gar nicht am Parlament vorbei.

(Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste])

Meine Damen und Herren, jeder von uns reist über die Schengener Außengrenzen. Wer nach Dänemark oder Großbritannien, in die Schweiz oder nach Osterreich, nach Ungarn, Tscheckien oder Polen fährt — immer sind es Außengrenzen, die wir überqueren. An jeder dieser Außengrenzen soll nur der kurze Wartezeiten haben dürfen, der sich am Datenspeichersystem der biometrischen Kontrolleure beteiligt? Das kann und darf doch wohl nicht sein. Die Bewegungsbilder des Reisenden wollen wir nicht festgehalten wissen. Meine Damen und Herren, wir wollen nicht, daß die große Idee der Freizügigkeit in Europa von biometrisch speichernden Bürokraten erstickt wird.

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216326400
Bei dieser sachlich ruhigen Debatte, Herr Kollege Lühr, dürfen die Zwischenrufe ruhig ein bißchen lauter sein.
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulla Jelpke.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Jetzt kommen die Zwischenrufe!)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216326500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor kurzem hat Bundeskanzler Kohl behauptet, keine 60 % der Bevölkerung wüßten, was eine doppelte Staatsbürgerschaft bedeute. Deshalb solle man sie nicht einführen.
An diesem Maßstab gemessen hätte Schengen heute gar nicht auf der Tagesordnung stehen dürfen; denn ich behaupte einmal, daß keine 10 % der Bevölkerung überhaupt wissen, was Schengen bedeutet.
SIS, Europol, Nacheile, TREVI, Ausgleichsmaßnahmen, RiVASt — diese und andere Namen und Bezeichnungen stehen für ein Europa der Polizei, der grenzenlosen Datenerfassung und der Abschottung gegenüber den armen Ländern Europas und der Welt.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Quatsch! — Zuruf des Abg. Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Mir kommen die Tränen!)

— Ich denke, Herr Wartenberg, genau dies ist der Punkt.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie haben wahrscheinlich das letzte SED-Dokument gelesen und nicht das Schengener Abkommen! Sie verwechseln das immer!)

— Das glaube ich nicht. Zu SED-Zeiten, glaube ich, gab es diese Verträge noch gar nicht. Herr Marschewski, Sie sind ja heute selber für offene Grenzen innerhalb Europas eingetreten.
Aber ich denke, es ist auch wichtig und immer wieder notwendig, deutlich zu machen, daß es sowohl um die Abschottung gegenüber den armen Ländern Europas als auch gegenüber der Dritten Welt geht.
Zustande gekommen ist das Abkommen ohne jeden Anflug einer demokratischen Einflußnahme. Wenn Sie jetzt darauf verweisen, daß wir ja heute über dieses Abkommen abstimmen dürfen, dann möchte ich dazu zwei Punkte anmerken.
Erstens. Wir beraten ja heute nicht das Schengener Abkommen. Wir beraten auch nicht Sinn oder Unsinn von Ausgleichsmaßnahmen an den Außengrenzen für den Wegfall der Innengrenzen. Dem Parlament bleibt heute eigentlich nur ein Ja oder Nein.
Fast noch schwerer wiegt der zweite Punkt. Lange bevor wir hier die Hand heben durften, sind Schengener Grundsätze Bestandteile innerstaatlicher Gesetzgebung und zwischenstaatlicher Abkommen geworden. Es ist dafür gesorgt, daß unabhängig von einer Entscheidung nationaler Parlamente Schengen verwirklicht wird.
Versprochen wurde vollkommen freier Personenverkehr im Innern des Schengen-Landes — allerdings nur unter der Voraussetzung perfekter Kontrollen an den Außengrenzen, einschließlich der Flug- und Seehäfen. Freier Personenverkehr war ausschließlich für Schengen-Europäer gedacht und gilt bis heute nur eingeschränkt. Die Kontrollen an den Grenzen und im Inland gelten dagegen für den Rest der Welt.
Ein Ja zu Schengen heute heißt, sich den Konstrukteuren mit Haut und Haar ausliefern zu müssen, und zwar im ganz wörtlichen Sinne. Wir wußten ja schon, daß die Flug- und Seehäfen um- und ausgebaut werden. Wir wußten, daß Grenzen mit Radar und Infrarot gesichert werden. Wir wissen, daß Schnell-



Ulla Jelpke
boote für die Oderbestreifung und Sperrgitter gegen Grenzübertritte bereitstehen.
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat aber jetzt die Tür zum Gruselkabinett des „Großen Bruders" einen Spalt weiter aufgemacht: Am Frankfurter Flughafen soll ein Versuch gemacht werden, der Schengen-Europäern lange Wartezeiten in den Kontrollschlangen ersparen soll. Ich möchte es Ihnen jetzt ersparen, das Zitat, das Herr Lüder soeben gebracht hat, noch einmal zu bringen.

(Erwin Marschewskli [CDU/CSU]: Sehr vernünftig! Ein sehr guter Vorschlag!)

Auch ich hatte mir vorgenommen, dieses Zitat in dieser Rede vorzutragen.
Ich kann nur noch einiges zu diesem Zitat ergänzen: Es geht um die Daten, um die Einreise, um Fingerabdrücke, um Meßdaten über die Hände und Finger.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist doch freiwillig!)

— Ich finde das schon ziemlich skandalös, muß ich sagen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ich würde das machen! Dann bin ich schneller wieder zu Hause!)

Ich kann da nur noch anmerken: Noch werden keine Nasen vermessen. Den Ariernachweis in Form von biometrischen Daten für Schengen-Menschen gibt es im übrigen schon.
An den Warteschlangen der Außengrenzen werden wir das System der Apartheid made in Schengen studieren können: Hier drängeln sich Drittausländer aus aller Welt, Flüchtlinge, Asylbewerber und Asylbewerberinnen und auf Arbeit Hoffende; dort eilen biometrisch vermessene Schengener durch die Kontrollgeräte.
Übertrieben? Keineswegs. Wenn gegenwärtig gerade zwischen Schengen-Staaten wie Frankreich und der Bundesrepublik die Personenkontrollen beibehalten und teilweise sogar intensiviert werden,

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wo denn?)

ist es doch realistischer, davon auszugehen, daß die Kontroll- und Regelungsphantasien der SchengenKonstrukteure noch lange nicht am Ende sind. Ich meine, die Sache mit Frankreich müßten Sie eigentlich selber wissen. Das ist ja durch die Presse gegangen.
Meine Damen und Herren, entwickelt als Instrument der inneren Sicherheit und zur Abschottung gegenüber der Dritten Welt, können die SchengenPrinzipien durchaus den Eisernen Vorhang ersetzen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Es soll an den Schengen-Grenzen sogar geschossen werden!)

Auf diesen Aspekt des Schengen-Abkommens möchte ich abschließend hinweisen. Die Folgen werden nach außen so weitreichend sein wie die nach innen.
Die Übertragung der Schengen-Prinzipien über die Behandlung von Flüchtlingen und sogenannten illegalen Einwanderern auf die Ostgrenzen hat schon jetzt dazu geführt, daß internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention ausgehebelt werden.
Das Schengen-Polen-Rücknahmeabkommen aus dem Jahr 1991 hat sich als Instrument der Erpressung gegenüber Polen erwiesen. Darauf basiert das kürzlich vereinbarte Asylabkommen mit Polen. Hier wird es gepriesen als Beispiel für eine europäische Lastenverteilung. Das polnische Parlament — Herr Marschewski, das sage ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit — hat diesen Vertrag abgelehnt. Sie müßten wenigstens in bezug auf die Formulierung so korrekt sein und sagen, daß dies ein Regierungsabkommen ist, nicht aber ein Parlamentsabkommen. Dort hat es — wie gesagt — keinerlei Zustimmung gefunden.

(Dr. Walter-Franz Altherr [CDU/CSU]: Keinerlei Zustimmung?)

— Nein, es gab nur billigende Stimmen. Das können Sie nachlesen.
Weder diese Kritik noch die des Bundesbeauftragten für den Datenschutz an bestimmten Regelungen des Abkommens oder die aus den Niederlanden schert hier irgend jemanden.
Die Politik der Bundesrepublik und der SchengenStaaten hat die kurze Phase der relativen Freizügigkeit im Osten schlagartig an den Grenzen — zum Teil meines Erachtens auch gewaltsam — beendet. Sie ist mitverantwortlich, wenn im Osten gegenüber Flüchtlingen und Migranten genauso verfahren wird wie hier: erfassen, zurückweisen und abschieben.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht so schlimm wie eine Mauer mit Schießbefehl!)

Export von Ausländer- und Flüchtlingsfeindlichkeit, Aufbau gigantischer Sicherheitsapparate und Ausgrenzung von sogenannten Drittausländern sind die Folgen der Schengen-Politik.
Ein Beispiel vielleicht noch: Gestern war hier eine ungarische Delegation zu Besuch. Die Ungarn haben genau das berichtet, nämlich daß sie, weil Deutschland jetzt die Grenzen dichtmacht, eigene Gesetze schaffen müssen, die auch ihre Grenzsituation verschärfen — Gesetze, die sie eigentlich gar nicht haben wollen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Gegen Verbrecher und Schlepper ist das so vollkommen richtig!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216326600
Frau Kollegin Jelpke, es ist ein wirklicher Vorzug der Demokratie, daß jede nur denkbare Meinung auch in jeder einigermaßen akzeptablen Form — auch sehr scharf — geäußert werden kann. Nur glaube ich, daß es etwas Unzulässiges ist, die Verfahren, von denen Sie hier gespro-



Vizepräsident Hans Klein
chen haben, in Beziehung zum Ariernachweis zu setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD — Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: Das kann man nachweisen!)

Ich erteile der Kollegin Ingrid Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216326700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte ist schon einiges zum Demokratiedefizit dieses Abkommens gesagt worden. Deswegen möchte ich das alles nicht noch einmal nennen, sondern nur bemerken, daß auch wir dies heftig kritisieren.
Wir sind der Meinung, daß nicht nur das Zustandekommen dieses Abkommens fatal ist, sondern daß schon dessen Ausgangspunkt eigentlich verfehlt ist. Denn die vielzitierten Anliegen dieses Abkommens, die sogenannten Ausgleichsmaßnahmen für den Wegfall der Grenzkontrollen in der EG etwa gegen illegale Einwanderer und internationale Kriminalität zu regeln, sind nur ein Vorwand für den Ausbau eines weit über dieses Ziel hinausschießenden Überwachungssystems. Allen Fachleuten ist klar, daß die Grenzen nie die behauptete Filterfunktion etwa gegen Verbrecher hatten.
Im übrigen ist überhaupt noch nicht absehbar, wann entsprechend Art. 8a des EWG-Vertrages die Personenkontrollen entfallen. Die EG-Ministerkonferenz jedenfalls erwartet dies im Laufe dieses Jahres nicht mehr. Entsprechende Untätigkeitsklagen sind vom Europäischen Parlament gegen die Kommission und von dieser gegen die Länder bereits angedroht worden. Tatsächlich sollen die Kontrollen vielfach einfach in das unmittelbare Grenzhinterland verlagert und durch mobile Bundesgrenzschutzeinheiten oder den Zoll mit seinen neuen, quasi polizeilichen Befugnissen durchgeführt werden.
Auch in seinen Konsequenzen für Schengen-Ausländer ist das vorliegende Abkommen unannehmbar. Durch umfangreiche Visabestimmungen und Sanktionen für Beförderungsunternehmen soll verhindert werden, daß Flüchtlinge in Not überhaupt aus ihren Heitmatländern ausreisen und hier Asyl beantragen können. So votierte in den Niederlanden der Staatsrat als höchstes Beratungsgremium der dortigen Regierung gegen das Abkommen, weil die Genfer Flüchtlingskonvention und Rechtsschutzgarantien der Menschen beeinträchtigt würden.
Daß das Schengener Abkommen ferner z. B. im Bereich des Waffenrechts, der vereinbarten Nacheilemöglichkeit, im Asyl- sowie Datenschutzbereich entweder unzureichend, national inkompatibel oder unpraktikabel ist, wird eigentlich von niemandem ernsthaft bestritten. Das haben auch die Kollegen hier angedeutet.
So droht etwa im Datenschutzbereich eine weitgehende Preisgabe der in Deutschland erreichten Standards. Auch die derzeit beratene Datenschutzrichtlinie der EG wird hier keine Abhilfe schaffen, ist diese doch etwa auf den brisanten Bereich polizeilicher Zusammenarbeit nicht anwendbar. Aber auch bei uns ist eine Reihe bereichsspezifischer Datenschutzregelungen nicht nur im Hinblick auf das Schengener
Abkommen überfällig, wie der Bundesrat kritisch angemerkt hat, etwa Novellen zum BKA- und zum BGS-Gesetz, zur Strafprozeßordnung sowie eine Normierung des Ausländerzentralregisters.
Dabei wären enge Regelungen angesichts des vorgesehenen Datenaustauschs etwa mit Hilfe des Schengener Informationssystems dringend notwendig. Da sollen in einer Verbunddatei Daten zu vielfältigsten Aufgaben, u. a. zur Gewährleistung der Sicherheit der Staaten, vermengt und unter Aushöhlung des prinzipiellen Gebots der Zweckbindung diversen ausländischen Sicherheitsbehörden zur Nutzung zugänglich gemacht werden. Indem unter Federführung des BKA der deutsche Inpol-Fahndungsbestand in das Schengener Informationssystem eingegeben werden soll, würden die Daten der Verantwortung der eingebenden Stellen — und das sind regelmäßig die deutschen Länderpolizeien — entzogen. Indem auch ein internationaler Datenaustausch zwischen Polizeien und Geheimdiensten ermöglicht wird, droht das deutsche verfassungskräftige Trennungsgebot zwischen beiden Behördenbereichen noch weiter als bisher verwässert zu werden.
Abgerundet wird das Bild des durch den Schengener Vertrag installierten Überwachungssystems durch ein in dessen Konsequenz geplantes Vorhaben am Flughafen Frankfurt am Main, das dann absehbar den Charakter eines Pilotprojekts für andere Außengrenzenübergänge hat. Das ist von Herrn Lüder erwähnt worden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat die Bundesregierung — wie auch Herr Lüder schon erwähnt hat — vergeblich aufgefordert, den Bundestag überhaupt über diesen Feldversuch zu unterrichten. Dazu hätte es seither, etwa im Innenausschuß, auch mehrfach Gelegenheit gegeben. Daß uns die Bundesregierung derart weitreichende Planungen in Konsequenzen des Schengener Abkommens bis heute vorenthält, ist nur ein weiterer Beleg für das insgesamt kritisierte undemokratische Prozedere im Beratungsgang.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216326800
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese).

Dr. Rudolf Karl Krause (CDU):
Rede ID: ID1216326900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Schengener Abkommen öffnet Schleusen zwischen Ländern mit unterschiedlichem juristischen und sozialen Niveau. Ich glaube zwar, daß das Ziel des Schengener Abkommens ein lobenswertes und erstrebenswertes ist. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt öffnet es Einfallstore für massenhaften Mißbrauch.
Die Teilnehmerstaaten verpflichten sich im Art. 6, die Grenzen ausreichend zu überwachen. Wer an der tschechischen Grenze oder an der polnischen Grenze beheimatet ist, der weiß, daß das ferner denn je ist. Was dort passiert, ist ein Einbruchstourismus. Die gegenwärtigen Polizeikräfte sind nicht in der Lage, die eigenen Bürger zu schützen. Wir sind im Augenblick gar nicht in der Lage, die Verpflichtungen, die uns Art. 6 Abs. 4 aufgibt, zu erfüllen.



Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese)

Ziel wäre, einen gemeinsamen Sachleistungskatalog für alle Asylbewerber, Asylanten, Flüchtlinge einschließlich Sozialhilfeempfänger zu schaffen, um Mißbrauch zu vermeiden. Wir brauchten weiterhin einheitliche, objektiv ermittelte Einwanderungsquoten für alle Vertragsländer. Das ist bisher nicht der Fall.
Wo sehe ich Mißbrauch vorprogrammiert? Der Art. 29 sagt im Abs. 1 generell, daß Asylbegehren in den entsprechenden Ländern gestellt und behandelt werden sollen. Aber Abs. 2 sagt, daß das national sehr unterschiedlich sein kann.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch richtig! „Jeder nach seinem Recht" ist damit gemeint!)

Es bleibt also so, daß es Rechtsverhältnisse gibt, die anziehender wirken als Rechtsverhältnisse und Sozialverhältnisse in anderen Ländern. Das heißt: Wer in Zukunft einen echten Asylgrund hat, wer also, aus welchen Gründen auch immer, verfolgt ist, wird Möglichkeiten finden, in ein Land zu gehen, wo er mehr Leistungen als in einem anderen Land bekommt.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das war bisher auch schon so!)

Für besonders bedenklich halte ich das Recht, daß Familienangehörige grundsätzlich nachziehen können. Das bedeutet: Wenn ein Siebzehnjähriger politisch verfolgt wird, weil er politisch motivierte Taten begangen hat, die nach unserem inneren Recht strafbar sind, und wir ihm hier auf Grund seiner echten Verfolgung Asyl gewähren, hat er das Recht, seine gesamte Familie nachreisen zu lassen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist die Genfer Konvention! Daran hat sich nichts geändert!)

— Das ist richtig: Genfer Konvention. Aber solange wir nicht einen Sachleistungskatalog haben, der in allen europäischen Ländern übereinstimmt, so lange wird es immer einen unterschiedlichen Sog geben.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Nach meinem Empfinden hat der gegenwärtige Text des Schengener Abkommens folgende Nachteile. Es gibt keine Aufnahmequoten für die Unterzeichnerländer. Es gibt unterschiedliches nationales Recht mit unterschiedlicher Sogwirkung. Es bleibt dem Asylbewerber überlassen, in ein Land seiner Wahl einzureisen und dort, so er denn echt verfolgt ist, die Leistungen für sich und für alle seine Angehörigen einzuklagen. Es gibt keinen einheitlichen Leistungskatalog. Solange sich nicht alle europäischen Mitgliedsländer des Schengener Abkommens und darüber hinaus der EG verständigen, welche Sachleistungen auf gleichem Niveau zu gewähren sind, und solange nicht gleichzeitig die Verpflichtung besteht, nach Einwohnerzahl, nach Bruttosozialprodukt oder wie auch immer bestimmte Kontingente aufzunehmen, wird es wohl so sein, daß Deutschland anteilig immer wesentlich mehr Leistungen zu erbringen hat als andere Länder.
Weiterhin sind wir weit von einer Arbeitspflicht für die, die einreisen, entfernt. Wer sich mit unserer Sozialhilfe begnügt — sie ist für Kinderreiche sehr
hoch —, wird auch weiterhin bevorzugt nach Deutschland kommen.
Schließlich vermisse ich eine Rückzahlungspflicht für widerrechtlich in Anspruch genommene Leistungen. Es ist zwar in Art. 29 des Schengener Abkommens die Rede von 25 000 ECU; aber auch für einen darunter liegenden Betrag ist es sehr erstrebenswert, in die Länder des Schengener Abkommens zu kommen und dort unrechtmäßig Leistungen zu beziehen.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Sicher ist es ein Prozeß. Aber viele Menschen in Deutschland stimmen dieser Form des Schengener Abkommens nicht zu.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216327000
Kollege Joachim Clemens, Sie haben das Wort.

Joachim Clemens (CDU):
Rede ID: ID1216327100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte mich eigentlich gerne mit Frau Jelpke und Frau Köppe ganz kurz unterhalten; sie haben uns ja gerade mangelndes Demokratieverständnis vorgeworfen. Bedauerlicherweise sind sie beide nicht da.

(Zuruf von der CDU/CSU: „Defizit" haben sie gesagt!)


Hans Klein (CSU):
Rede ID: ID1216327200
Sie sind schon da. Joachim Clemens (CDU/CSU): Sie kommen aber.
Ich will es nur deutlich sagen: Frau Jelpke, bei Ihnen wundert mich gar nichts. Sie haben mit Ihren Diskriminierungen sich und Ihre Partei, die SED-Nachfolgepartei, selbst disqualifiziert. Was mich wundert, Frau Köppe, ist — das fällt mir heute nicht zum erstenmal auf —, daß Sie jedesmal mit Frau Jelpke übereinstimmen, und zwar mit fast denselben Argumenten. Das läßt mich stutzen. Sie waren doch diejenigen, die den seinerzeitigen Staat DDR bekämpft haben. Das läßt mich, wie gesagt, sehr stutzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 14. Juni 1985 fiel in dem kleinen Grenzort Schengen der Startschuß für den Vorlauf für ein einheitliches Europa durch das Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen. Es wurde, wie wir das heute schon ein paarmal gehört haben, durch die Regierungen von Frankreich, der Beneluxstaaten und der Bundesrepublik abgeschlossen. Die Öffnung der Grenzen zu unseren Vertragspartnern, zu denen am 27. November 1990 noch Italien und am 25. Juni 1991 Spanien und Portugal dazugekommen sind, stellt einen ersten wesentlichen Schritt für ein gemeinsames Europa dar, auch wenn sich — das klang heute schon einmal an — das ursprünglich für den 1. Januar 1990 vorgesehene Inkrafttreten um über drei bis vier Jahre verzögert. Auch wenn bis zur endgültigen Freizügigkeit in Europa noch so manche Hürden zu nehmen sind, ist das Zusammenwachsen zu einem Europa der Vaterländer nicht aufzuhalten.
Es läßt sich aber nicht wegdiskutieren, auch nicht von den glühendsten Verfechtern unter den Europapolitikern, daß der bevorstehende totale Abbau der



Joachim Clemens
Grenzkontrollen zu einem Sicherheitsdefizit führt. Auch wenn eingeräumt werden muß, daß die organisierte Kriminalität, der Terrorismus und der Drogenhandel schon länger grenzüberschreitend in Europa wirken, stellen Schlagbäume und Grenzkontrollen durch ihren Abschreckungseffekt eine verbrechensbehindernde Barriere dar. Das weiß, Frau Köppe und Frau Jelpke, jeder Praktiker; jeder Polizeipraktiker wird Ihnen dies bestätigen.
Um den Sicherheitsverlust in Grenzen zu halten, ist ein Bündel von flankierenden Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen. Ich will sie nicht alle noch einmal aufführen; sie sind heute schon mehrfach genannt worden. Es sind die verstärkten einheitlichen Kontrollen an den Außengrenzen, ein gemeinsames datengestütztes Fahndungssystem bis hin zur Fahndungsunion und eine verbesserte polizeiliche Zusammenarbeit durch Europol. Bis jetzt ist nur die Bekämpfung der Drogenkriminalität unter Europol ins Leben gerufen; das ist natürlich viel zuwenig. Einige Vorredner haben das schon beklagt. Es folgen noch eine ganze Reihe von Ausgleichsmaßnahmen, die aber leider noch nicht vollständig in die Tat umgesetzt worden sind. Wenn das so wäre, könnte die Politik der inneren Sicherheit sicherlich als Motor auf dem Weg zu einer europäischen Einheit angesehen werden. Aber davon sind wir noch ein ganz schönes Stück Weges entfernt.
Das liegt auch daran, daß wir uns mit den Schengener Vertragsstaaten in vielen Bereichen nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben. Das gilt sicherlich für das Betäubungsmittelrecht; das gilt aber auch insbesondere für das Waffenrecht, weil es in der Tat viele Länder gibt, in denen z. B. Waffen gekauft werden können. Sie sind nur meldepflichtig. Das gibt es bei uns nicht. Aber, Herr Lüder, es gibt keine Probleme. Wir werden unser Waffenrecht in dieser Form sicher nicht novellieren; das ist sicherlich klar. Aber wir wollen es auch nicht verschärfen, um das einmal deutlich an dieser Stelle zu sagen.

(Zuruf des Abg. Wolfgang Lüder [F.D.P.])

— Sie dürfen das weitersagen; das ist unsere Meinung. Wenn es zu einer Verschärfung käme, würden wir das Waffenrecht nicht mittragen, um es einmal ganz deutlich zu sagen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre unliberal, das zu verschärfen!)

Durch die Verlagerung der Kontrollen von den Binnen- an die Außengrenzen wächst der Bundesrepublik Deutschland eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu. Wir sind nämlich dann das Land, das die Außengrenzen zu Osteuropa, nämlich zu Polen und der Tschechischen Republik, insbesondere gegen illegale Einreise zu sichern hat. Es ist nun einmal so: Wenn man über die grüne Grenze kommt und keine Pässe hat oder wenn man über die grüne Grenze illegal kommt, ist das eine Straftat. Man kann reden, wie man will: Es ist nun einmal eine Straftat, und nicht nur bei uns, sondern in vielen Ländern. Das ist auch ganz normal.
Daß man uns insofern mit Mißtrauen begegnet, ist ziemlich eindeutig, wenn man den französischen Europaminister Lamassoure hört, der erklärt hat, auch nach Inkrafttreten des Schengener Abkommens vorbeugende Verkehrs- und Personenkontrollen zwar nicht direkt an der Grenze, aber in einem Grenzraum von 30 km Tiefe in Frankreich aufrechtzuerhalten. Ich brauche, glaube ich, nicht zu betonen, daß eine solche Haltung nicht nur dem Geist von Schengen widerspricht.
Wir wissen, daß wir in einem Europa der angestrebten offenen Grenzen nicht eine neue Mauer nach Osten errichten können. Wir können die Grenze zu Polen und der Tschechischen Republik nicht hermetisch abriegeln. Aber wir müssen durch einen personell gegenüber dem jetzigen Ist-Stand erheblich verstärkten Bundesgrenzschutz im Verbund mit dem Zoll diese Grenze so absichern, daß die illegale Einreise erheblich — ich betone: erheblich — abgebaut wird. Mit 4 700 unbesetzten Planstellen im Bundesgrenzschutz, trotz verstärkter Bemühungen des Bundesinnenministers, sind wir nicht in der Lage, die Grenzsicherung auch zur Zufriedenheit unserer Vertragspartner zu gewährleisten. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, daß die in sechswöchigen Lehrgängen eingewiesenen, als Angestellte nur mit beschränkten Hoheitsrechten ausgestatteten grenzpolizeilichen Unterstützungskräfte entscheidend zur Sicherung der Außengrenzen beitragen können.
Ich kann dem besorgten Finanzminister — ich sehe ihn zumindest vor meinem geistigen Auge — trotz aller notwendigen Sparmaßnahmen zurufen: Nur ein personell ausreichend ausgestatteter und im Vergleich zu den Länderpolizeien gleich gut besoldeter und mit ausreichenden technischen Mitteln, nämlich Hubschraubern und Wärmebildgeräten, ausgestatteter Bundesgrenzschutz kann eine ordnungsgemäße Grenzsicherung betreiben. Wir dürfen nicht vergessen: Die Grenze zu Polen und der Tschechischen Republik ist etwa 1 300 Kilometer lang. Da läßt sich sehr viel Illegales erreichen, wenn wir nicht dafür sorgen, daß sie hinreichend bewacht wird.
Innere Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Da kann ich mich auf den Bundeskanzler berufen, der erfreulicherweise gestern in seiner Regierungserklärung gesagt hat, daß er sich eine Polizei, die personell richtig gerüstet ist und leistungsgerecht bezahlt wird, wünscht. Im übrigen wünscht er sich eine Verbesserung der Attraktivität des Polizeiberufs. Ich kann nur sagen: Der Kanzler hat Durchblick. Er ist einer der wenigen. Er sagt das in einer Zeit, in der der Finanzminister Sorgen hat.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Das zeigt mir nur noch einmal: Innere Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Das möchte ich in dieser Richtung noch einmal deutlich machen.
Aber nicht nur die Grenzsicherung, sondern auch die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist an diesen Grenzen besonders gefordert. Wer die Intensität der dort grenzüberschreitend operierenden Verbrecherbanden kennt, muß im Rahmen der Novellierung des BGS-Gesetzes — Herr Lüder, hören Sie jetzt gut zu — für meine Begriffe G-10-Maßnahmen sogar im präventiven Bereich zulassen. Auch wenn ich jetzt vielleicht mit dieser Forderung bei einigen Politikern Widerspruch ernte — einige sind nicht da, von denen ich mir das vorstellen könnte —, möchte ich erwähnen,



Joachim Clemens
daß eine gewisse Blauäuigkeit doch aufhören muß, wo das Grundrecht, nämlich unsere Bürger vor Verbrechen zu schützen, in Gefahr gerät. Hier gerät es massenhaft in Gefahr.
Wir haben schon angesprochen, daß Schengen nur in Kraft treten kann, wenn das Schengener Informationssystem, SIS, funktioniert. Mit ihm sollen Ausschreibungen, die der Suche nach Personen und Sachen dienen, über polizeiliche Kontrollen an den Außengrenzen und im Landesinneren im automatisierten Verfahren erfaßt werden. SIS ist für den größeren Fahndungsraum aber nur wirksam, wenn die nationalen Systeme vernetzt werden. Anderenfalls hätten wir nichts weiter als hochtechnologisierte Buschtrommeln.
Abgesehen davon, daß viele Maßnahmen in der polizeilichen Zusammenarbeit, natürlich insbesondere in bezug auf die Gesetzesharmonisierung des Betäubungsmittel-, Waffen- und Sprengstoffrechtes, generell noch verbessert werden müssen, gibt es einen sehr gewichtigen Punkt, den ich einfach noch nennen muß und der zeigt, daß das Schengener System sicherlich noch keine ausreichende innere Sicherheit gewährleistet. Es ist die Rede von der Nacheile,

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

d. h. von dem Grenzübertritt der nationalen Polizeien zur Verfolgung von Straftätern auf fremden Territorien.
Aus diesem Grunde haben insbesondere Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland und die Bundesrepublik untereinander bilaterale Verträge zusätzlich abschließen müssen, die aber erheblich differieren. Am großzügigsten — wie könnte es wohl anders sein — sind wir Deutschen, die wir die Nacheile auf unserem Territorium ohne räumliche und zeitliche Begrenzung sowie mit einem Festhalterecht zulassen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Unsere Polizeibeamten unterliegen in Frankreich bei der Verfolgung von Straftätern zwar auch keiner räumlichen und zeitlichen Begrenzung, aber sie haben kein Festhalterecht. Nun stellen Sie sich einmal vor: Man rennt hinter Straftätern her, darf sie aber nicht festhalten.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist selten erfolgreich!)

Das kann nicht gutgehen.
Wenn ich zudem sehe, daß die Nacheile z. B. auf dem Gebiet Luxemburgs

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Und der Niederlande!)

nur innerhalb einer Zehn-Kilometer-Grenze rechtlich gewährleistet ist — wenn der Beamte über 10 km hinaus ist, muß er stoppen —, kann ich nur feststellen: Auch das kann nicht funktionieren. Das gleiche gilt übrigens für die Niederlande. Es gibt da noch Differenzierungen dahin gehend, daß jemand in den Niederlanden nur auf öffentlichen Plätzen oder öffentlichen Straßen festgehalten werden darf. Was ist, wenn er einen Satz über die Mauer macht und sich in einem Garten befindet?
Also, diese Dinge lassen sich so nicht handhaben; das kann nicht funktionieren. Hier muß dringendst nachgebessert werden. Insoweit besteht hier erhebliche Rechtsunsicherheit. Man wird letzten Endes wahrscheinlich allen Polizeibeamten empfehlen müssen, ein sogenanntes Nacheilebuch unter dem Arm zu tragen, wenn sie denn auf Verbrecherjagd gehen — ein unhaltbarer Zustand, wie Sie zugeben müssen.

(V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Ich komme zum Schluß. Leider ist festzustellen, daß sich die Vertragspartner nicht nur auf diesem Gebiet der europäischen Zusammenarbeit, in der Verbrechensbekämpfung, auf den kleinsten Nenner geeinigt haben. Wer die Vorbehalte der anderen EG-Partner, z. B. Großbritanniens, kennt, der weiß, daß es bis zum Erreichen des Endlaufes in der Frage der inneren europäischen Sicherheit noch besonderer Anstrengungen bedarf. Das gilt vornehmlich für unsere Vertragspartner. Wir Deutschen sind insoweit — dank des besonderen Einsatzes des Bundeskanzlers — immer vorangeschritten. Aber jeder einzelne muß sich darüber im klaren sein, daß derjenige, der die Einheit Europas verhindert, eine geschichtliche Chance vertut. Die Herausforderungen an die Innenpolitik der Vertragspartner sind dabei von besonderer Bedeutung.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216327300
Nun spricht die Kollegin Gerlinde Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (SPD):
Rede ID: ID1216327400
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal habe ich den Eindruck, daß es nicht zulässig ist, sich in diesem Hause über etwas zu freuen. Deswegen möchte ich hier einmal ganz deutlich sagen, daß ich mich persönlich bei allen Mängeln, die das Schengener Abkommen zweifellos hat, ganz arg darüber freue, daß der Traum meiner Jugend wenigstens schrittchenweise erfüllt wird: Europa ohne Grenzkontrollen!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Richtig, die Deutschen gehen vor Pessimismus ein! Freuen können sich die Deutschen gar nicht mehr! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Hervorragend!)

Ich komme aus dem deutsch-französischen Grenzland, Herr Susset. Und wir wissen ganz genau, was für ein außerordentlich erhebendes und fröhliches Gefühl es war, als wir ins Elsaß gefahren sind, das erste Mal einfach durchgewunken zu werden von freundlichen Grenzbeamten, die uns nicht mehr kontrolliert haben, wie wenn man möglicherweise illegal das Gebiet eines anderen Staates betritt. Ich halte es für unzulässig, daß wir bei allem, was uns auch nur ein Schritt-



Gerlinde Hammerle
chen vorwärts bringt, immer nur die dunklen Seiten herausstellen. Das will ich einfach einmal sagen.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. — Joachim Clemens [CDU/CSU]: Aber innere Sicherheit ist wichtig!)

Gerd Wartenberg hat eben gesagt, er habe von einem modernen Lyriker den Satz gelesen: „Alles hat zwei Schattenseiten. "

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist die deutsche Literatur, das sind die deutschen Kirchen! Der Spruch könnte vom Kirchentag stammen!)

Bei manchen Rednern und Rednerinnen des heutigen Nachmittags — besonders bei den Rednerinnen — habe ich den Eindruck gehabt, daß diese zwei Schattenseiten wieder jeweils zwei Schattenseiten haben.
So wie Herr Marschewski aus seiner Jugend erzählt hat, möchte ich einfach einmal sagen: Ich bin als junger Mensch auf der Europabrücke in Kehl gestanden, und es war für uns unglaublich, wenn dieser Schlagbaum in die Höhe gegangen ist. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfinde es für mich persönlich als eine dauerhafte Verpflichtung, auch die osteuropäischen Länder Schritt für Schritt in diesen Genuß kommen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen möchte ich bei all den Mängeln, die dieses Abkommen haben mag, uns alle, die wir in der parlamentarischen Verantwortung stehen, darum bitten, daß wir die Verhandlungspartner zu Schengen immer wieder ermuntern, dieses Schengener Abkommen immer weiter auszudehnen, damit wir eines Tages eine viel größere Europäische Gemeinschaft zusammen mit den osteuropäischen Ländern haben.
Dennoch bin auch ich natürlich aufgerufen, darauf hinzuweisen, daß dieses Schengener Abkommen noch verbesserungswürdig ist. Wir Sozialdemokraten haben immer darauf aufmerksam gemacht, daß der Abbau der Binnengrenzkontrollen — Herr Clemens hat das schon ausgeführt — nicht zu Lasten der inneren Sicherheit gehen darf. Auch ich möchte mich dem Aufruf an den hier nicht anwesenden Finanzminister anschließen, daß wir die innere Sicherheit, insbesondere die Ausstattung der Polizeien und des Bundesgrenzschutzes, nicht vernachlässigen dürfen. Denn wenn wir Grenzkontrollen an den Außengrenzen haben — und wir müssen sie haben —, dann brauchen wir einen Bundesgrenzschutz, bei dem nicht — wie im Moment — 5 000 Planstellen unbesetzt sind. Dies ist ein untragbarer Zustand.

(Beifall des Abg. Rudi Walther [Zierenberg] [SPD] sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Unsere Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns eine wirksame Verbrechensbekämpfung. Ich denke, dies kann nur gelingen, wenn auch das Personal dazu vorhanden ist. Man muß auch solche Niederungen des Aberwitzes und der Drangsal einmal aussprechen. Dazu sind wir Innenpolitiker aufgerufen.
Wir haben selten eine so hoch emotional geführte Debatte wie die zum Somalia-Einsatz, die dieser Debatte vorausgegangen ist. Das mindert unsere Bedeutung in der Öffentlichkeit vielleicht ein wenig. Aber was wir hier beschließen, ist von elementarer Bedeutung für das persönliche Leben von vielen Menschen. Ich denke, das dürfen wir nicht vernachlässigen.
Frau Jelpke, Sie haben in einem recht: Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland weiß kaum etwas vom Schengener Abkommen. Das liegt aber nicht an der Bevölkerung, sondern an uns.

(Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: An unserer Demokratie!)

Denn die Reden, die wir heute nachmittag halten, strotzen alle nur so von Fachausdrücken, von all den europäischen Abkürzungen, z. B. von „SIS". Kein Mensch weiß, was das zu bedeuten hat.

(Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Richtig!)

Ich glaube, wir sollten ganz deutlich machen: Wir wollen .den Wegfall der Grenzkontrollen in Europa. Wir wollen aber nicht in Kauf nehmen, daß dadurch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger beeinträchtigt wird.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir wollen nicht in Kauf nehmen, daß Deutschland sozusagen ein Freiland für Verbrechen wird. Aus diesem Grunde brauchen wir die Mechanismen und die Vorschriften dieses Schengener Abkommens, die in der Tat in manchem verbesserungsbedürftig sind.
Die Nacheile wurde hier angesprochen, ein sehr schwieriges Problem. Ich möchte es noch einmal unter dem Aspekt beleuchten, daß es für andere europäische Völker emotional schwierig ist — historisch bedingt —, einen uniformierten Deutschen auf ihrem Staatsgebiet zu sehen. Ich verstehe das sehr wohl. Deswegen ist gerade das Problem der Nacheile, also die Tatsache, daß die Polizei über die Staatsgrenzen hinweg einen Verbrecher verfolgen kann, sehr schwierig. Ich denke, wir Deutschen sollten uns einfach einmal klarmachen, daß das beispielsweise für die Niederländer oder für die Belgier sicher nicht leicht ist.
Andererseits kann es, meine Damen und Herren, natürlich nicht so sein, daß die Grenzen für die Verbrecher aufgehoben werden, aber für die Polizisten weiterhin bestehen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aus diesem Grunde sind wir der Meinung — wir haben das im Ausschuß immer so artikuliert —, daß hier noch ein Problem besteht, das wir zu lösen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns, daß etwas gegen die organisierte Kriminalität geschieht.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)




Gerlinde Hammerle
Sie erwarten von uns, daß wir Waffenhandel, Menschenhandel, insbesondere Frauenhandel, sowie Drogenhandel und Autodiebstahl nicht länger in dieser Form, wie es im Augenblick im europäischen Raum der Fall ist, dulden.

(Zuruf von der CDU/CSU)

— Nein, in diesen Punkten sind wir Partner. Das darf man auch einmal sein; sonst würden wir diesem Gesetz auch nicht zustimmen.
Es ist unsere Verpflichtung, beim Aufzeigen der Mängel dafür zu sorgen, daß die Bürgerinnen und Bürger nicht das Gefühl haben: Wenn die Grenzkontrollen wegfallen, sind wir für alle möglichen Dinge, die wir nicht haben wollen, Freiwild geworden.
Aus diesem Grund ist es unsere politische Aufgabe, meine Damen und Herren — ich halte sie für ziemlich schwierig; wir müssen uns bemühen, sie immer wieder täglich neu zu bewältigen —, die Balance herzustellen zwischen dem Schutz, den die Bürgerinnen und Bürger von unserem Staat, von unseren Polizeien, von unserem Grenzschutz erwarten, und dem Maß an Freiheit, das Demokratinnen und Demokraten in einem Staat wie dem unseren unverbrüchlich zusteht.
Ich glaube, daß wir bei der Diskussion aller Einzelheiten aufgerufen sind, dieses zu vermitteln: Wir wollen ein weites, ein großes, ein vereintes und ein freies Europa. Wir wollen aber nicht, daß dieser Gedanke das Sicherheits- und das Schutzbedürfnis der Menschen nicht genügend berücksichtigt.
Wir haben alles, was wir in diesem Schengener Abkommen an Mängeln sehen, in einem Entschließungsantrag aufgeschrieben. Nachdem wir uns hier nun so einig sind — und das sind wir in vielen Punkten —, könnte ich mir eigentlich vorstellen, daß es Ihnen möglich sein müßte, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen. Das geht jetzt aber natürlich wieder nicht, wenn ich das richtig deute.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sie kritisieren die Bundesregierung! Die ist gut; die kann man nicht so kritisieren!)

— Lieber Herr Marschewski, man kann in vielen Punkten einig sein, darf die Augen aber nicht davor verschließen, daß es viele kritikwürdige Punkte gibt. Das wäre sich selber und auch den Bürgerinnen und Bürgern etwas vorgemacht.
Ich bitte Sie also herzlich, sich diesen Entschließungsantrag einmal genau anzuschauen. Sie werden darin all das finden, was ich mir jetzt erspart habe, hier zum x-ten Male vorzutragen, weil dies eigentlich schon alle Vorredner getan haben. Ich bitte Sie, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen. Wir unsererseits werden nach den langen Beratungen, die hinter uns, hinter der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion liegen, dem Schengener Abkommen zustimmen.
Gestatten Sie mir aber zum Schluß, weil es für mich so wichtig ist — —

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216327500
Kollegin Hämmerle, ich wollte noch fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.

Gerlinde Hämmerle (SPD):
Rede ID: ID1216327600
Ich habe eigentlich keine Zeit mehr. Aber der Kollege Wartenberg — das weiß ich als Parlamentarische Geschäftsführerin, die für die Rednerliste zuständig ist — hat Zeit gespart. Wenn Sie mir diese geben, Frau Präsidentin?

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216327700
Zwischenfragen werden nicht auf die Redezeit angerechnet, Frau Geschäftsführerin.

Gerlinde Hämmerle (SPD):
Rede ID: ID1216327800
Das ist auch wieder wahr, Frau Präsidentin.

(Heiterkeit)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216327900
Also bitte, Herr Kollege Lüder.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1216328000
Frau Kollegin Hämmerle, könnten Sie sich vorstellen, daß wir seitens der Koalition den Punkten 1, 2 und 3 Ihres Antrags u. a. deswegen noch nicht zustimmen können, weil ziemlich viele Blankoformulierungen darin enthalten sind, die wir einmal sehr detailliert beraten müßten?

(Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Seit wann haben Sie Angst vor Blankoformulierungen? Das ist etwas ganz Neues!)


Gerlinde Hämmerle (SPD):
Rede ID: ID1216328100
Herr Kollege Lüder, Sie werden sich jetzt vielleicht über meine Ehrlichkeit wundern: Ich habe den Antrag nicht vor mir liegen. Ich weiß jetzt gar nicht, was in den Punkten 1, 2 und 3, die Sie ansprechen, im einzelnen steht. Es kann aber nicht falsch sein; sonst hätte die SPD-Bundestagsfraktion diesen Antrag nicht einstimmig beschlossen, um ihn in das deutsche Parlament einzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie können sich ruhig einmal Gedanken darüber machen und auf uns zukommen, wenn Sie bestimmten Punkten, sofern Sie sie dann detailliert haben, doch noch zustimmen wollen. Zustimmen kann man immer; dazu ist es nie zu spät. Wir unsererseits werden heute diesem Antrag zustimmen.
Ich bitte Sie, mit mir zusammen all die Bedenken, die wir haben, im Auge zu behalten, aber die Punkte, die mir wichtig erscheinen, nicht aus den Augen zu verlieren. Ich hoffe, daß wir uns vielleicht eines Tages hier in diesem Hause treffen, um über den Wegfall der Grenzkontrollen zu Osteuropa zu reden. Das wäre die noch weitere Erfüllung eines europäischen Traumes.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216328200
Nun hat Herr Staatsminister Schmidbauer das Wort.

Bernd Schmidbauer (CDU):
Rede ID: ID1216328300
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist für einen Badener angenehm, nach einer Freundin reden zu dürfen, deren Auffassung man im großen und ganzen teilen kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)




Staatsminister Bernd Schmidbauer
Es gibt in der Tat keine Übereinkommen, die perfekt und so ausformuliert wären, daß sie nicht weiterentwickelt werden müßten. Ich finde ebenfalls, daß auch das Parlament aufgefordert ist — vorhin war davon bei Herrn Kollegen Lüder die Rede —, die Realisierung dieses Übereinkommens vom 19. Juni 1990 intensiv zu begleiten. Diesem Übereinkommen — das ist wichtig — liegt die Vision zugrunde, durch den Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen den europäischen Einigungsprozeß voranzubringen, ohne daß dabei die innere Sicherheit gefährdet wird. Das ist der entscheidende Punkt.
Nun kommt die Frage: Wie mache ich das? Wie realisiere ich zum einen die Vision, die alle Bürger unterstützen, „freier Raum, freie Bewegungsmöglichkeit", wie kann andererseits die Sicherheit gewährleistet werden?
Ich will gleich hinzufügen, weil oft sehr leicht gesagt wird, es sei hervorragend für Verbrecher, wenn die Grenzen wegfallen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das Verbrechen hat sich bislang an Grenzen überhaupt nicht gehalten.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das ist wahr!)

Wer heute noch meint, er könne im nationalen Bereich die innere Sicherheit allein gewährleisten, der irrt. Das geht nur durch Kooperation in einem größeren Raum. Das geht nur, wenn die Zusammenarbeit der Polizei und die technischen Möglichkeiten verbessert werden, wenn genau das gemacht wird, was auch im Handbuch zur Realisierung des Schengener Übereinkommens steht, wenn gemeinsame, strenge Maßstäbe an die Außengrenzkontrollen angelegt werden.
Wie schnell sich die Zeiten während der Beratung dieses Übereinkommens geändert haben, sehen wir ja: Vor zwei, drei Jahren erfolgten noch Hinweise auf die südlichen Länder, auf die Qualität ihrer Grenzkontrollen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, inzwischen ist eine Armutsgrenze hinzugekommen, durch die es viel schwieriger wird, im Hinblick auf den Migrationsdruck die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Es gehört Fingerspitzengefühl dazu — Frau Kollegin Hämmerle, das sagen Sie zu Recht —, festzustellen, wieviel notwendig ist, um einerseits die Aufgabe „innere Sicherheit" zu erfüllen, andererseits dem Bürger den notwendigen Freiraum zu geben.
Es wurde viel über Datenschutz gesprochen. Auch ich bin der Meinung, daß das, was im Zusammenhang mit dem Datenschutz bei Schengen diskutiert wurde, durchaus Modellfall werden kann und daß wir uns auch im parlamentarischen Raum über die Prozedur, über die notwendigen Maßnahmen der Fortentwicklung der Kontrollmechanismen unterhalten müssen.
Wenn ich schon bei der Vorgeschichte bin, will ich auch erwähnen, daß der Weg zu diesem Übereinkommen über ein deutsch-französisches Regierungsabkommen — übrigens eine wichtige Initiative von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl — und über das Sich-Anschließen der Beneluxländer erfolgte. Das Übereinkommen ist, wenn es nun wirklich ratifiziert ist und praktiziert wird, nicht ein Abschluß, sondern der Beginn des Lebens im Schengener Raum mit Freizügigkeit und der notwendigen Sicherheit.
Die Idee der offenen Grenzen war übrigens von vornherein auf die gesamte Europäische Gemeinschaft angelegt. Sie sehen, daß die inzwischen erfolgten Beitritte von Italien, Spanien, Portugal und Griechenland bestätigen, daß diese europäische Dimension Sinn der Initiative aus dem Jahr 1984 war.
Wir würden es deswegen sehr begrüßen, wenn sich auch Großbritannien, Irland und Dänemark dem Übereinkommen anschließen würden, um damit möglichst schnell zu der von uns angestrebten einheitlichen Regelung für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaft zu kommen. Dies ist heute leider nicht in Sicht. Aber wenn die Kollegin Hämmerle soeben von östlichen Nachbarn geredet hat, dann müssen wir auch über die Nachbarn reden, die im EG-Raum an Schengen noch nicht partizipieren, um das zu vervollständigen, was wir eigentlich wollen, nämlich überzugehen von den Neun auf die Zwölf.
Schengen hat die europäische Einigung gefördert. Der Gedanke eines Europas ohne Binnengrenzen wurde in Art. 8 a des EWG-Vertrages aufgenommen. Fachleute wissen, wie schwierig es ist, daß die EG Art. 8a einhält, und wie wichtig es deshalb ist, daß Schengen hier vorangehen kann.
Hier wird an zentraler Stelle der erneuerten Römischen Verträge das politische Ziel von Schengen deutlich. Das Europäische Parlament — das will ich auch sagen, weil vorhin einige Hinweise darauf kamen — wurde über die zuständigen Ausschüsse regelmäßig von der jeweiligen Präsidentschaft über den Fortgang der Schengen-Arbeiten unterrichtet. Dort hat es auch Kritik gegeben. Aber: In der Zielsetzung eines freien Reiseverkehrs sind sich die Schengen-Staaten auch mit dem Europäischen Parlament einig.
Die Architektur des Schengener Übereinkommens ruht — ich wiederhole das — auf zwei Pfeilern: Es will einerseits Freizügigkeit und Offenheit ermöglichen, andererseits will es auch bei einem Verzicht auf Binnengrenzkontrollen keine Sicherheitsdefizite entstehen lassen und damit die Sicherheit der Bürger gewährleisten.
Art. 2 des Übereinkommens lautet: „Die Binnengrenzen dürfen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. " Das ist die wichtigste Bestimmung. Das ist, wenn Sie so wollen, die Magna Charta des Vertrages. Ein solch mutiger Schritt erfordert wichtige und sicher notwendige Ausgleichsmaßnahmen. Diese sind für alle Partner verpflichtend im Vertragswerk abschließend geregelt.
Ich hatte vor wenigen Tagen die Gelegenheit, mit meinem Partner in Frankreich, mit Herrn Minister Lamassoure, einen Dialog über die Darstellung des Schengener Übereinkommens in der Presse Frankreichs zu beginnen. Ich kann Ihnen sagen, daß wir völlig übereinstimmen. Wir stimmen überein, daß bei den Außengrenzkontrollen einheitliche Maßstäbe angelegt werden, daß die Visa-Politik harmonisiert werden und Kern der Ausgleichsmaßnahmen des Schengener Informationssystems sein muß. Es basiert auf dem Grundgedanken, daß ein EDV-gestütztes



Staatsminister Bernd Schmidbauer
Datensystem einen besseren und schnelleren Zugriff auf Straftäter ermöglicht als die mehr zufällige Kontrolle an der Grenze. Also ein Mehr an Sicherheit.
Frankreich sieht noch Probleme mit Regelungen auf Flughäfen in einzelnen Partnerländern, mit Regelungen an der Außengrenze. Darüber muß Ende dieses Monats bei der Versammlung der Schengen-Minister in Madrid gesprochen werden.
Zur Zeit — und das ist auch erwähnt worden — wird der zentrale Teil des Schengener Informationssystems (SIS) in Straßburg errichtet. Es soll nach den jetzigen Planungen am Ende dieses Jahres zeitgleich mit dem Wegfall der Personenkontrollen an den Binnengrenzen seinen Betrieb aufnehmen. Man wird Stufe für Stufe in dieses neue Sicherheitssystem eintreten müssen. Das kann nicht von heute auf morgen mit einem festen Datum beginnen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß alles zeitgleich um Mitternacht realisiert wird, was Sicherheit und was offene Grenzen anlangt. Aber wir beginnen bereits heute, an dem System zu arbeiten. Ich glaube, diese Vorbereitung ist wichtig.
Schon beim Aufbau und in der Testphase sind die Datenschutzbeauftragten eingeschaltet. Die Schengen-Partner nehmen die Rechte der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung ernst. Das Datenschutzrecht ist wegweisend ausgestaltet worden — nicht zuletzt auch auf Grund der wertvollen Anregungen unseres Bundesbeauftragten für den Datenschutz.
Aus unserer Sicht ist es wichtig — und das ist auch ein Thema, das in der Öffentlichkeit diskutiert werden wird —, daß sich die Schengener Vertragsparteien intensiv um die Bekämpfung des Drogen- und Waffenmißbrauchs kümmern,

(Beifall bei der SPD)

daß wir uns dieser Herausforderung verpflichtet fühlen. Leider ist es bis heute nicht möglich gewesen, die Drogenbekämpfungspolitik in Europa zu harmonisieren. Deshalb sieht dieses Übereinkommen sehr konkrete Maßnahmen vor, damit den jeweiligen Vertragspartnern aus der unterschiedlichen Ausrichtung der nationalen Politik keine Nachteile erwachsen. Der Informationsaustausch in diesem Bereich wird insbesondere durch den Austausch von Verbindungsbeamten erleichtert. Orte, an denen erfahrungsgemäß Rauschgifthandel betrieben wird, werden künftig gezielter überwacht. Und es wird eine ständige Arbeitsgruppe zur verstärkten Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und des Drogenmißbrauchs eingerichtet.
Wer sich mit dem Thema Drogenbekämpfung, Drogenproblematik beschäftigt, der weiß, daß dies in der Kooperation der Partner ein zentraler Punkt werden muß. Wer sieht, daß heute 250 Milliarden DM an Reingewinn aus diesem Gewerbe Jahr für Jahr gewaschen werden müssen, der weiß, wie wichtig hier eine gemeinsame Kontrolle, koordinierte Verbindungsbeamte und andere abgestimmte Maßnahmen sind.
Was das Thema Asyl angeht, so enthält das Übereinkommen Zuständigkeitsregelungen für das Asylverfahren nach dem Grundsatz der Verantwortlichkeit für die Einreise. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen war in die Beratungen mit einbezogen und hat dieses Abkommen grundsätzlich begrüßt. Mit dem Hohen Flüchtlingskommissar ist eine formalisierte Zusammenarbeit in diesem Bereich vorgesehen. Das übrige wurde hier bereits gesagt. Ich will das im einzelnen gar nicht mehr ansprechen.
Ich darf zum Schluß noch auf einen Punkt hinweisen: Das Schengener Abkommen ist ein erster, wichtiger Schritt, um auch im innenpolitischen Bereich das Zusammenwachsen Europas voranzubringen. Es ist Vorläufer und Modell der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Polizei- und Justizbereich. Wir verbinden damit die Erwartung, daß die Regelungen in einer nicht allzu fernen Zukunft in den Bestand des Gemeinschaftsrechts übergehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Geschichte der Vertragsverhandlungen zeigt, daß der Weg lang und beschwerlich ist. Dennoch sollten wir uns nicht entmutigen lassen, sondern ein Zeichen setzen. Wir sind deshalb sehr froh, daß es eine breite Zustimmung zu diesem Vertrag gibt. Nach der Ratifizierung, nach Inkraftsetzen des Vertrages beginnt die eigentliche Arbeit. Wir bitten auch dabei um die Unterstützung dieses Parlaments.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Gerlinde Hämmerle [SPD])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216328400
Als nächster spricht der Kollege Michael Stübgen.

Michael Stübgen (CDU):
Rede ID: ID1216328500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Kollegin Hämmerle, Sie haben vorhin Ihren Entschließungsantrag angesprochen und darauf hingewiesen, daß wir uns im Innenausschuß nicht auf ihn einigen konnten.
Ich möchte kurz darauf hinweisen — Sie waren ja bei der Debatte im Innenausschuß dabei —, daß wir festgestellt haben: Wir stimmen in fast allen Punkten dieses Antrages völlig überein und wollen diesen Antrag insgesamt mittragen, nur in einem Punkt nicht. Der hat es uns im Prinzip nicht möglich gemacht, ihn mitzutragen; denn Sie suggerieren mit Ihrem Antrag auf Seite 2 im dritten Absatz, daß im wesentlichen die Bundesregierung daran schuld sei, daß es im Bereich der inneren Sicherheit und Zusammenarbeit nicht weitergehe.
Nun ist es nicht so, als ob man die Bundesregierung nicht kritisieren dürfe. Sie wissen auf Grund der Beratungen im Innenausschuß, daß wir die Bundesregierung kritisieren, manchmal schärfer als Sie. Aber in diesem Punkt ist es schlichtweg völlig falsch, den Eindruck zu erwecken, daß die Bundesregierung auf diesem Gebiet auf europäischer Ebene zuwenig gemacht hat. Ohne den Bundeskanzler und die Bundesregierung hätte es Maastricht nie gegeben, ohne deren unermüdlichen Einsatz hätte es Art. K nicht gegeben, insbesondere nicht Art. K 9, der überhaupt erst eine Weiterführung dessen ermöglicht, was wir heute verabschieden sollen und dessen Defizite wir alle erläutert haben.



Michael Stübgen
Hier müssen wir sagen, das Problem ist doch nicht, daß die Bundesregierung zuwenig tut, sondern daß wir leider immer noch in der Situation sind, daß einige EG-Partner noch nicht über ihre hoheitsrechtlichen Grenzen springen können. Deshalb geht es so langsam voran. Deswegen müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern verhandeln und dürfen nicht aufeinander einschlagen; denn wir haben doch im Prinzip dieselben Positionen.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Da bin ich Ihrer Meinung!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte als Vertreter des EG-Ausschusses in dieser Debatte noch einmal feststellen, daß das Abkommen von Schengen und das Abkommen von Dublin ein erster, aber äußerst wichtiger Schritt zur Vollendung des Europäischen Binnenmarktes ist. Mit der Verwirklichung der in diesen Abkommen manifestierten Bestimmungen wird das Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaft auch für die Bürger ersichtlich.
Zukünftig können wir alle ohne Ausweiskontrollen in unsere Nachbarstaaten reisen. Dies ist auch unbedingt notwendig, wenn man bedenkt, daß im Maastrichter Vertrag, der in wenigen Wochen in Kraft treten wird, EG-weit jedem Unionsbürger das Recht eingeräumt wird, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, aufzuhalten und niederzulassen, wie man den Schengener Vertrag heute insgesamt nur noch auf der Grundlage des Maastrichter Vertrages richtig würdigen kann.
Meine Damen und Herren, ich verkenne nicht — und dies ist ja bei der intensiven Beratung und Diskussion im federführenden Innenausschuß deutlich benannt worden —, daß die Freizügigkeit auch Sicherheitsrisiken mit sich bringt. Hierbei ist insbesondere an die Formen der international operierenden organisierten Kriminalität zu denken. Genau dieser Sachverhalt hat die EG-Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen in Maastricht beschäftigt. Sie haben daher in Artikel K des Unionsvertrages die Zusammenarbeit im Zollwesen sowie die polizeiliche Zusammenarbeit auf den Gebieten der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der organisierten Kriminalität als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse gewertet. In diesem Zusammenhang muß auch die Absicht der EG-Mitgliedstaaten zur Bildung eines europäischen Polizeiamtes — Europol — genannt werden.
Diese Ziele sind selbstverständlich nicht innerhalb einiger Jahre zu verwirklichen; sie müßten aber schneller verwirklicht werden können, als das zur Zeit klappt. Ich habe das vorhin angesprochen. Ich sehe daher die lin Schengener Abkommen festgelegten Regelungen zur polizeilichen Zusammenarbeit lediglich als eine Interimslösung, die so bald als möglich verbessert werden sollen. Eine günstige Gelegenheit zur Weiterführung dessen, was wir heute verabschieden wollen, wäre die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 1994 — so habe ich auch die Bundesregierung im Innenausschuß verstanden —, auch wenn in diesem Halbjahr für den Bundestag und die Bundesregierung noch eine andere wichtige Entscheidung ansteht. Ich glaube, unsere Mitgliedstaaten rechnen damit. Wir sollten das tun; die Unterstützung des Parlaments für diese Aktion ist auf jeden Fall gesichert.
Es sollten beispielsweise für alle Staaten einheitliche Regelungen bei der Nacheile gelten. Über einen längeren Zeitraum ist es untragbar, daß die Nacheile — es ist heute schon genannt worden — in einigen Staaten auf nur 10 Kilometer hinter der Grenze zulässig ist, in einem anderen Staat 30 Kilometer, und in der Bundesrepublik Deutschland gibt es dafür keine Begrenzung. Weil man sich da zur Zeit nicht einigen konnte, wird das — wie so oft — auf dem Rücken der zuständigen Beamten ausgetragen; denn die Beamten haben mit diesen komplizierten Regelungen keine Rechtssicherheit. Es kann auch nicht sein, daß ein Polizeibeamter, der seinen Dienst z. B. im deutsch-niederländischen Grenzgebiet versieht, das niederländische Recht — natürlich neben dem deutschen — vollständig beherrschen muß. Wird er eventuell einmal an die deutsch-französische Grenze versetzt, muß er über Nacht das französische Recht vollständig beherrschen. Es ist nicht möglich, das von unseren Beamten zu verlangen.
Ich meine deshalb, daß wir auch unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität hier feststellen müssen, daß Subsidiarität nicht nur den Rechtsanspruch der jeweils niedrigeren Entscheidungsebene meint, die eigenen Dinge selber regeln zu können, sondern Subsidiarität bedeutet ja auch den Rechtsanspruch und die Verpflichtung der jeweils höheren Entscheidungsebene, dann aktiv zu werden und gemeinsame Regelungen zu schaffen, wenn es nach Prüfung des Sachverhalts notwendig erscheint. Die innere Sicherheit — da gibt es überhaupt keine Frage und kein Gegenargument — ist eindeutig eine Angelegenheit, die effizient nur im europäischen Rahmen gemeinsam geregelt werden kann. Deshalb müssen wir in diesem Bereich weiterfahren, gerade auch mit Blick auf die Subsidiarität, wenngleich ich natürlich feststelle, daß einige unserer EG-Partnerstaaten — z. B. Großbritannien — mit Hinweis auf die Subsidiarität behaupten, die innere Sicherheit sei eine nationale Angelegenheit. Aber wenn Verbrecher international agieren, kann man nicht sagen, daß wir Verbrecher ordentlich nur im Inland bekämpfen könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch ein anderes Problem nimmt dieser Vertrag auf und versucht, sich dem zu stellen; es ist ein Problem, das bei der Paraphierung dieses Vertrages 1985 im ersten Teil für die Bundesrepublik Deutschland noch nicht bestand, nämlich die Frage der EG-Außengrenzen — oder ich sage mal: Schengen-Außengrenzen — sowie die Frage der illegalen Zuwanderung. Zu der Zeit, als dieser Vertrag von den Regierungen geschlossen wurde, hatte die Bundesrepublik Deutschland kein Problem mit illegalen Zuwanderern aus den östlichen Ländern. Diese Grenze war nicht so sehr von der Bundesrepublik gesichert als vielmehr von den Ostblockstaaten, ganz besonders von der DDR. Wir kennen das ja alles. Jetzt haben wir dieses Problem in ganz massiver Form. Da bin ich und sind wir der Überzeugung, die illegale Einwanderung — ich betone illegal —, die dem Grunde nach eine krimi-



Michael Stübgen
nelle Tendenz hat — es geht nicht darum, daß wir armen Leuten helfen müssen —, können wir nur durch eine intensive Überwachung der Außengrenzen der Gemeinschaft überwinden. Eine solche Überwachung erfordert ein großes Maß an personellem und finanziellem Aufwand. Schließlich liegt es im fundamentalen Interesse aller Mitgliedstaaten, die Außengrenzen der EG zu sichern. Es ist deshalb nur gerecht, wenn sich auch alle Mitgliedstaaten in personeller und finanzieller Hinsicht an dieser Grenzsicherung beteiligen, und ich sage, wie ich es auch schon bei der letzten Debatte zum Asyl gesagt habe, es ist in Zukunft keine Möglichkeit, daß sich z. B. ein Land wie Frankreich, das das Glück hat, keine so lange Außengrenze zu haben, mit Kritik an Deutschland befaßt und mit dem Finger auf uns weist und sagt, wir würden die Ostgrenzen nicht genug sichern. Es muß eine Lösung gefunden werden — diese können wir nur gemeinsam finden —, daß die EG-Außengrenzen — von allen EG-Staaten gleichberechtigt mitgetragen — gesichert werden, um, wie gesagt, die kriminell orientierte illegale Einwanderung zu unterbinden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216328600
Nun hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.

Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1216328700
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für das zuständige Ressort innerhalb der Bundesregierung darf ich zum Schluß dieser Debatte noch einmal zusammenfassen, auch um dabei mitzuhelfen, die in der Bevölkerung, wie schon mehrfach betont, im Zusammenhang mit dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen vorhandenen Ängste abzubauen. Dazu ist es wichtig, der grenzüberschreitenden Kriminalität, die ja Wirklichkeit ist, durch ein Bündel von Ausgleichsmaßnahmen zu begegnen. Die hier vorgesehenen Maßnahmen sollen und können auch verhindern, daß sich eben international operierende Kriminelle, aber auch kleinere Ganoven mit regionalem Aktionsfeld im Grenzgebiet, beispielsweise den Wegfall der grenzpolizeilichen Sicherheitskomponente planmäßig zunutze machen oder mittelbar von ihm profitieren.
Das bedeutendste Vertragswerk in diesem Zusammenhang ist das Schengener Duchführungsübereinkommen, über dessen Ratifizierung wir ja heute abstimmen. Zu diesen Ausgleichsmaßnahmen, meine Damen und Herren, im Rahmen dieses Abkommens gehören u. a. auch Erleichterungen und Vereinfachungen im Bereich der internationalen Rechtshilfe und der Auslieferung sowie die Harmonisierung der Sichtvermerkspolitik und der Einreisebedingungen für Drittausländer. Kernstück ist aber zweifellos — das ist auch schon herausgestellt worden — die Schaffung des gemeinsamen datenverarbeitungsgestützten Fahndungssystems „Schengener Informationssystem", abgekürzt SIS.
Ein interessanter zusätzlicher Effekt ist, daß sich auf Grund seiner umfangreichen Datenschutzregelungen das Schengener Durchführungsübereinkommen eben
nicht nur als Modell einer weitreichenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit erweist, sondern auch als Motor für den Datenschutz in Europa.
Herr Kollege Lüder, zu dem, was Sie hier als Beispiel vorgetragen haben, ist zu sagen, daß meines Wissens ein Feldversuch dieser Art nicht existiert, sondern nach Auskunft des Hauses handelt es sich um erste Überlegungen, die aber auch datenrechtlich noch nicht überprüft sind, sondern erst noch einmal unter die Lupe genommen werden müssen.

(Zuruf von der F.D.P.: Schön wäre es!)

Gerade diejenige Komponente, meine Damen und Herren, der europäischen Einigung, die oft als Risikofaktor begriffen wird, nämlich der Abbau der Binnengrenzkontrollen, hat nun dazu geführt, daß auf europäischem Gebiet mit Hochdruck an der Erstellung von Instrumenten gearbeitet wurde, die dieses zu erwartende Defizit ausgleichen sollen. Heute läßt sich schon absehen, daß diese Instrumente, insbesondere das besagte Informationssystem, aber auch ein verstärkter Austausch beispielsweise von Verbindungsbeamten, sowie die stärkere Zusammenarbeit im Rauschgiftbekämpfungsbereich, die Mittel geschaffen haben, die wir angesichts der sich ändernden Strukturen der Kriminalität über kurz oder lang sowieso benötigt hätten, aber ohne diesen europäischen Einigungsprozeß eben vielleicht nie hätten erreichen können.
Wenn nun im Zusammenhang mit dem EG-Binnenmarkt oder auch dem Schengener Abkommen allerdings von freier Fahrt für Verbrecher oder von einem grenzenlosen Europa der Kriminalität gesprochen wird, so ist dies polemisch überzogen und geht ganz offensichtlich auch von falschen Voraussetzungen aus. Denn Grenzen und Grenzkontrollen stellen heute schon kein Problem mehr für die großen Syndikate dar. Es gilt vielmehr: International operierende Verbrecher kann man nur durch internationale polizeiliche Zusammenarbeit bekämpfen.
Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber einig, daß auch im Schengener Vertrag ein Optimum polizeilicher Zusammenarbeit noch nicht erreicht wurde. So konnte sich Deutschland z. B. mit seinen Vorstellungen zur polizeilichen Nacheile nicht durchsetzen. Nachbesserungen werden aber schon nach dem Vertragstext selbst in Betracht gezogen; und die Bundesregierung wird sich, wenn die ersten Erfahrungen aus der Praxis vorliegen, um eine Angleichung gerade der Nacheileregelungen der Partnerstaaten an die deutsche Regelung bemühen.

(Zurufe von der SPD)

Besondere Bedeutung kommt dem Schengener Durchführungsübereinkommen auch für die Entwicklung der so wichtigen europäischen Asylpolitik zu, und mit der Grundgesetzänderung zu Art. 16 ist es, Gott sei Dank, nunmehr auch der Bundesrepublik Deutschland möglich, gleichberechtigt an diesen Zuständigkeitsregelungen teilzuhaben.
Neben einer Harmonisierung des materiellen und formellen Asylrechts, die die Bundesregierung anstrebt, ist in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Dubliner Übereinkommen der Mitglied-



Parl. Staatssekretär Eduard Lintner
staaten der EG zu nennen. Nach Ratifizierung des Dubliner Übereinkommens wird es nämlich möglich sein, über den Abschluß von Parallelabkommen mit Drittstaaten weitere Staaten — ich denke hier insbesondere an die EFTA-Staaten und an unsere östlichen Nachbarstaaten — einzubeziehen. Damit wäre dann endlich für eine gesamteuropäische Entwicklung der Asylpolitik das Tor geöffnet.
Manche EG-Partner, meine Damen und Herren, tun sich auf diesem Gebiet klassischer innerstaatlicher Souveränität bei der Abgabe von Zuständigkeiten noch schwer. Deshalb gibt es in der Tat noch viel zu tun. Aber wir meinen — da sind wir mit Ihnen zusammen, Frau Kollegin Hämmerle, optimistisch —, daß wir uns auf dem besten Weg zu dieser geforderten umfassenden europäischen Zusammenarbeit gerade auf dem Gebiet der inneren Sicherheit befinden. Daß dieser Weg angesichts der veränderten europäischen Kriminalitätslage und der vor allen europäischen Ländern stehenden Zuwanderungsproblematik der einzig richtige ist, ist hier schon oft betont worden. Die Bundesregierung wird sich jedenfalls bemühen, daß dieser Weg ohne weitere Verzögerungen konsequent beschritten wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216328800
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zu den Abstimmungen. Das geht bei mir immer vergleichsweise schnell, und ich bitte Sie aufzupassen.
Zunächst stimmen wir über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Schengener Übereinkommen auf den Drucksachen 12/2453 und 12/5141 Nr. 1 ab. Ich rufe den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung auf, einschließlich der in Art. 1 zusätzlich aufgenommen Erklärung der Bundesregierung zur sogenannten Nacheile.
Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist bei Gegenstimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste dieser Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 12/5143. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 8 b, Beschlußempfehlung des Innenausschusses zur Entschließung des Europäischen Parlaments zum Inkrafttreten des Schengener Übereinkommens auf den Drucksachen 12/4057 und 12/5141 Nr. 2. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 8c, d. h. über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu Beitritten zum Schengener Übereinkommen auf der Drucksache 12/3804. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5141 unter Nr. 3, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 8 d, d. h. über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses zur Mitteilung der EG-Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament über die Beseitigung der Grenzkontrollen auf Drucksache 12/5141 Nr. 4. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10a) und b) auf:
a) — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften

(Viertes Mietrechtsänderungsgesetz)

— Drucksache 12/3254 —

(Erste Beratung 107. Sitzung)

— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Rudolf Schöfberger, Renate Schmidt (Nürnberg), Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung eines sozialen Mietrechts
— Drucksache 12/3013 — (Erste Beratung 107. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/5110 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Dr. Eckhart Pick
Ludwig Stiegler
Burkhard Zurheide
b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung des Mietrechts und zur Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung von Ingenieur- und Architektenleistungen, des Wohnungsbindungsgesetzes und des Belegungsrechtsgesetzes
— Drucksache 12/4276 — (Erste Beratung 143. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß)

— Drucksache 12/5121 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Wiechatzek
Achim Großmann
Zum Mietrechtsänderungsgesetz liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir



Vizepräsidentin Renate Schmidt
nach der Aussprache in ca. einer Stunde namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich erteile als erstem dem Kollegen Dr. von Stetten das Wort.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1216328900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Beratung und Verabschiedung des Vierten Mietrechtsänderungsgesetzes hat etwas länger gedauert, weil, unabhängig von den Meinungsverschiedenheiten z. B. über die Höhe der Kappungsgrenze, auch vom Grundsatz her überlegt werden mußte, ob ein solches Gesetz überhaupt in die heutige Landschaft paßt.
Es ist unbestritten, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland zu wenig Wohnraum haben. Das erste Ziel sollte es sein, Investoren zu ermutigen, mehr Wohnraum zu schaffen bzw. brachliegenden Raum zu Wohnraum auszubauen oder freizugeben. Dazu müssen aber Anreize steuerlicher Art oder in der Rentabilität bzw. in bezug auf die bessere Verfügbarkeit von Wohnungen für den Eigentümer gegeben werden.
Hier haben wir meines Erachtens schon einen Kardinalfehler gemacht, der in der Beschränkung der Eigennutzung von umgewandeltem Wohnungseigentum besteht, indem in Ballungsgebieten der Eigennutz auf zehn Jahre ausgeschlossen werden kann, unter besonderen Umständen sogar ganz. Die Rückwirkung dieser Beschränkung halte ich für bedenklich, und die Verfassungsmäßigkeit wird sicher überprüft werden müssen.
Der Schutz der Mieter ist die eine Sache, der Schutz des Eigentums die andere. Ich habe gerade heute ein Schreiben bekommen, aus dem ich Ihnen zwei Sätze vorlesen will. Eine ältere Dame, die 1991 eine Wohnung gekauft hat, in die sie im Herbst 1994 oder 1995 einziehen will, schreibt:
Ich bin völlig verzweifelt, da es nun zur Auslegung kommen soll, die Fälle wie mich in keiner Weise berücksichtigt und pauschal in den Topf der Spekulanten mit hineinwirft. Es wäre schön, wenn sich diejenigen, die Gesetze machen
— damit sind wir gemeint —
auch mal wirkliche Menschen vorstellen würden, die die Gesetze leben müssen. Und niemand von uns kann seinen biologischen Kalender ändern.
Unverständlich ist es deswegen, daß von seiten der SPD-Fraktion erneut der Versuch gestartet wird, jegliche Eigentumswohnraumbeschaffung von Genehmigungen besonderer Art abhängig zu machen. Das ist der falsche Weg.
Wir haben diesen verhängnisvollen Weg mit der Verschärfung der Kündigungsmöglichkeiten begonnen, um Mietern zu helfen. Das Ergebnis ist aber, daß mehrere hundertausend Wohnungen leer stehen, weil Vermieter sie nicht an Mieter weitergeben, wenn sie einmal einen Mietkündigungsprozeß durchgestanden haben und erst nach Jahren über eine Wohnung in mehr oder weniger — meist weniger — gutem Zustand verfügen können.

(Widerspruch bei der SPD)

— Es ist doch so! Wir sollten einmal darüber nachdenken: Es ist doch wesentlich leichter, die durch das Grundgesetz geschützte Ehe durch Scheidung zu lösen, als einen Mieter aus der Wohnung herauszubekommen. Hier sind wir doch auf dem falschen Weg.
Deswegen sollte eher an Erleichterung als an Verschärfung gedacht werden, um Wohnraum, der bereits vorhanden ist, auf den Markt zu bringen. Das wäre die schnellste und billigste Lösung, weil umfunktionierte Hobbyräume im Souterrain oder Dachgeschoß genügend vorhanden sind. Deswegen ist es grundsätzlich zu begrüßen, daß nach diesem Gesetz der Vermieter Möglichkeiten hat, Maßnahmen zur Modernisierung und Schaffung von weiterem Wohnraum durchzuführen, und der Mieter dies zu dulden hat und nicht zum Wohnraum gehörende Nebenräume herausgeben muß.
Die Möglichkeit, Mieten zu erhöhen, soll für Wohnungen, die vor dem 1. Januar 1991 gebaut wurden, von 30 % bis zum 30. Juni 1998 auf 20 % gesenkt werden. Auch hier haben einige Teile der Unionsfraktionen nur mit Bedenken zugestimmt, weil negative Folgen für die Investitionsfreudigkeit erwartet werden.

(Zuruf von der SPD: Die erhöhen doch um 50 %! — Weitere Zurufe von der SPD)

Ein wesentliches Sicherheitsmoment für den Mieter ist in § 570 b das eingeräumte Vorkaufsrecht für Wohnräume, an denen nach Überlassung an den Mieter Wohnungseigentum begründet worden ist. Dies hätte meines Erachtens übrigens völlig ausgereicht und die zehnjährige Beschränkung überflüssig gemacht.
Die Einigung, daß der Wohnungsvermittler dem Wohnraumsuchenden für die Vermittlung nur noch zwei Wohnungsmieten berechnen darf, ist sachgerecht und schützt vor Vermiethaien, die die Not Wohnungsuchender schamlos ausgenutzt haben — übrigens sehr zum Verdruß der seriösen Vermittler.
Um unliebsame Überraschungen bei der Rückgabe von Kautionen zu vermeiden, werden richtigerweise Vermieter verpflichtet, Kautionsgelder getrennt von ihrem Vermögen bei einem Kreditinstitut anzulegen und den dafür üblichen Zinssatz herauszugeben.
Nur eine redaktionelle Änderung ist insofern die Änderung des § 14 Abs. 4 Satz 2 des Heimgesetzes, der hier nur angeglichen wurde.
Um Ungerechtigkeiten nach unten zu vermeiden, wurde die Kappungsgrenze von 20 % auf Wohnraum, der 8 DM pro Quadratmeter Miete übersteigt, beschränkt. Bei Wohnraum, bei dem der Quadratmeterpreis darunter liegt, kann bis zur Maximalhöhe von 30 %, aber höchstens 9,60 DM Mieterhöhung verlangt werden. Ein einfaches Beispiel: Wer heute 6 DM verlangt, kann weiterhin um 30 % auf 7,80 DM erhöhen.
Umstritten war die Frage der Kappungsgrenze bei Sozialwohnungen, die von Mietern bewohnt sind, die



Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
mit einer Fehlbelegungsabgabe wegen Überschreitung der Einkommenshöhe belegt wurden. Hier hätte dieser Mieter nach Auslaufen der Sozialbindung von der Kappungsgrenze zu Lasten des Vermieters profitieren können, wenn auch diese Wohnungen unbeschränkt den neuen Vorschriften unterliegen würden. Ein neu eingefügter Abs. 1 a stellt daher fest, daß die Erhöhung bis zur Gesamthöhe der alten Miete plus Ausgleichszahlung nach Auslaufen der Sozialbindung erfolgen kann. Dies ist eine sachgerechte Entscheidung, da sonst gerade der Besserverdienende nach Auslaufen der Sozialbindung besser dastände als vorher.
Sicher waren auch die Überlegungen, diesen Differenzbetrag für weitere Investitionen im Wohnungsbau zu binden, erwägenswert. Wer aber den Verwaltungsaufwand berücksichtigt, weiß, daß dies einen unübersehbaren Bürokratismus nach sich gezogen hätte. Nach einem alten Erfahrungssatz werden in der Regel Überschüsse von Wohnungsmieten wieder in denselben Wohnungen oder in neuen Wohnungen investiert.

(Zurufe von der SPD)

Die Neufassung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes ist unglücklich und wird zu erheblichen gerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Wir müssen uns hüten, daß nicht Vermieter von vornherein zu potentiellen Rechtsbrechern abgestempelt werden. Insofern ist die Erhöhung der Bußgeldbewehrung von 50 000 auf 100 000 DM auch nur eine weitere Sache, die durchaus gelten kann, aber mit Sicherheit Miethaien nicht beikommt.

(Zuruf von der SPD)

—Ja, ich hätte es auch lieber nicht gemacht; das ist gar keine Frage. Das merkt man ja wohl, nicht wahr?
Wir sollten nun aber auch an der Miet- und Wohnungseigentumsfront Ruhe bekommen, damit Investoren für die Zukunft wissen, was auf sie zukommt,
und nicht ständig Kalkulationen anstellen müssen.

(Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wer Wohnungen bauen will, muß Sicherheit haben und muß wissen, was er für seine Investitionen bekommt. Ich warne deswegen nachdrücklich vor Versuchen, die Kappungsgrenze über den Bundesrat oder den Vermittlungsausschuß auf 15 % — die SPD hat sogar vorgeschlagen, in Ballungsgebieten auf 10 % zu gehen — senken zu wollen und andere Erschwernisse einzubauen. Wir sind fest entschlossen, einen eventuellen Einspruch des Bundesrates mit der entsprechenden Mehrheit des Bundestages zurückzuweisen, damit es bei diesem Gesetz bleibt und nicht noch weitere Verschlechterungen kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)

Hier, lieber Kollege von der CSU, beklage ich gelegentlich die unheilige Allianz von SPD und CSU.

(Beifall bei der F.D.P. — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was hat heilig oder unheilig mit der SPD zu tun?)

— Ich würde sagen: die unheilige Allianz!

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Eckhart Pick [SPD])

— Herr Pick, Sie werden es ja nachher noch sagen. — Wir können nicht einzelne Ballungsgebiete, in denen man in der Vergangenheit — jetzt will ich wieder einmal in Anführungszeichen München nennen — versäumt hat, Bauland zur Verfügung zu stellen und damit Wohnungen zu schaffen, mit der gesamten Bundesrepublik gleichsetzen, sondern diese Gemeinden, diese Kommunen sollten kurzfristig das Baulandbeschleunigungsgesetz ausnutzen und ihren Bedarf aufstocken.
Aus diesem Grunde sollten Sie dem Gesetz der Koalition zustimmen und die Änderungsanträge der SPD ablehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216329000
Herr Kollege von Stetten, Sie haben noch Zeit, und es gibt eine Frage des Kollegen Dr. Faltlhauser.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1216329100
Aber gern!

Dr. Kurt Faltlhauser (CSU):
Rede ID: ID1216329200
Darf ich Sie, Herr Kollege von Stetten, auch wenn Sie jetzt schon aufhören wollten, doch noch etwas fragen: Wenn Sie sagen, daß man München nicht mit den übrigen Gemeinden gleichsetzen kann, ist Ihnen dann bekannt, daß München praktisch die einzige Stadt ist — oder die erste Stadt war —, die die Mietrechtsstufe sechs hatte, weil sie eben außergewöhnliche und nicht mit den übrigen vergleichbare Mietnieveaus hat, und daß man dadurch, gewissermaßen gesetzlich fixiert, schon durchaus gerechtfertigterweise eine besondere Beurteilung anlegen kann?

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1216329300
Es mag sein, daß man sie anlegen kann; aber ob man sie anlegen muß, ist die zweite Frage.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216329400
Nun hat Kollege Dr. Eckhart Pick das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (SPD):
Rede ID: ID1216329500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege von Stetten hat beklagt, daß wir uns zum wiederholten Mal mit dem Thema Mietrecht beschäftigen. Es ist in der Tat eines der wichtigsten sozialpolitischen Themen unserer Gesellschaft, nämlich im Grunde genommen die Frage: Wie nimmt unsere Gesellschaft die Aufgabe wahr, die Bevölkerung mit ausreichendem Wohnraum zu versorgen, und unter welchen Bedingungen tut sie das?
Seit 1982, meine Damen und Herren, dem Beginn der gegenwärtigen Bundesregierung, wurde das Mietrecht zum Spielball der Koalition. Das zeigt sich schon daran, daß allein das Mietrecht im BGB heute zum fünften Mal geändert werden soll — übrigens nicht zum vierten Mal, wie der Titel des Gesetzentwurfs uns weismachen will. Andere Änderungen, die sich auch auf das Mietrecht im weiteren Sinne beziehen, will ich nicht erwähnen.



Dr. Eckhart Pick
Sie haben durch das Hin und Her in der Wohnungs- und Mietenpolitik erreicht — und das seit zehn Jahren —, daß überhaupt kein Mensch mehr weiß, weder Wohnungswirtschaft noch Vermieter oder Mieter, was eigentlich das Ziel dieser Politik ist. Wahrscheinlich wissen Sie das selbst nicht. Eine solche Politik ist unberechenbar, und sie ist deswegen zu verurteilen, weil die Verunsicherung aller Betroffenen dazu geführt hat, daß sie letztlich auf dem Rücken der Hauptbetroffenen, nämlich der Mieterinnen und Mieter, ausgetragen wird.

(Beifall bei der SPD)

Ihre erste gesetzgeberische Glanzleistung bestand schon in einem Etikettenschwindel: Gesetz zur Erhöhung des Angebots an Mietwohnungen. So nannten Sie 1982 den untauglichen Versuch, durch den Abbau des sozialen Mietrechts mehr Wohnungen zu schaffen. Jetzt ist die Koalition offensichtlich vorsichtiger geworden. Die heute zu behandelnde Gesetzesvorlage heißt schlicht: Viertes Mietrechtsänderungsgesetz, und das sagt über den Inhalt überhaupt nichts aus.
Wenn sich Bundesregierung und Koalition fragen würden, warum der Fehlbestand an Wohnungen bis heute auf rund 2,5 Millionen Wohnungen angewachsen ist, dann ist die Antwort einfach: weil sich die Mehrheit dieses Hauses zum größten Investitionshindernis am Wohnungsmarkt entwickelt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

Die Konsequenz können Sie ja nachlesen. Die Statistik der letzten Jahre spricht Bände.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich bezweifle, ob Sie die überhaupt lesen können!)

Die Verlierer im Kampf um Wohnraum sind nicht nur die sozial Schwachen in unserer Gesellschaft, sondern immer mehr auch ganz normale Familien, die die vom Markt durchgesetzten Mieten einfach nicht mehr bezahlen können.
Nun wissen wir auch, daß das Mietrecht allein keine neuen Wohnungen schafft. Aber es ist ein wichtiger Teil einer Wohnungs- und Mietenpolitk — ich füge hinzu: so man eine hat. Wir Sozialdemokraten haben ein Gesamtkonzept schon seit längerem vorgelegt

(Zuruf von der CDU/CSU: Ein schlechtes!)

und wiederholen das ebenfalls mit der Einbringung dieses Gesetzes zur Wiederherstellung eines sozialen Mietrechts. Daran muß sich Ihr Entwurf messen lassen.
Sie haben indessen die Chance wieder nicht genutzt, sich zu einer Revision Ihrer Politik aufzuraffen. Stattdessen wursteln Sie weiter. Wir kennen auch die Gründe dafür. Es gibt kaum einen Bereich der Politik, in dem die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionären so groß sind wie hier. Monatelang lagen deshalb die Beratungen auf Eis, bis man sich nun auf ein Ergebnis geeinigt hat, das den Namen „Kompromiß" schon deswegen nicht verdient, weil sich die F.D.P. durchgesetzt hat. Auf der Strecke blieben die zaghaften Versuche der CSU, noch vor dem bayrischen Landtagswahlkampf mit einem
Erfolg für die Mieter vor die Wähler treten zu können.

(Achim Großmann [SPD]: Papiertiger!)

Diese Halbherzigkeiten werden Ihnen nicht honoriert werden.
Sie haben z. B. nicht unsere Vorschläge übernommen, endlich etwas gegen die Mietpreisexplosion zu tun, indem Sie die Mietpreissteigerungen wirksam verhindern, nämlich die Kappungsgrenze auf 15 % in drei Jahren bei bestehenden Mietverhältnissen festzulegen.
Statt dessen sieht Ihr lendenlahmer Kompromiß vor, die Kappungsgrenze auf 20 % zu setzen, aber nicht generell, wie die SPD vorgeschlagen hat, sondern nur auf Zeit, nämlich auf fünf Jahre, und nur wenn der Wohnraum vor dem 1. Januar 1981 fertiggestellt wurde und nur wenn der Mietzins über 8 DM pro Quadratmeter liegt. Wenn ich jetzt diese neue Vorschrift zitieren würde, wäre ich sicher, daß sie niemand außer den ausgesprochenen Insidern verstehen würde.

(Achim Großmann [SPD]: Sie besteht nur aus Ausnahmen!)

Gleichzeitig sagen Sie aber in Ihrem Entwurf an einer Stelle, daß Mieterhöhungsprozesse vielfach durch die „Anwendung des komplizierten § 2 Miethöhegesetz bedingt" seien. Jetzt machen Sie ihn noch komplizierter, und er wird nur unwesentlich die Mietpreissteigerungen beeinflussen.
Wir haben dagegen vorgeschlagen, Herr Hörster, endlich auch den rasanten Anstieg des Mietpreises bei Neuvermietungen zu verhindern. Uns kam es darauf an, in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf — dazu zählt ja wohl auch München, wie wir gerade gehört haben —, also in Ballungsräumen, die ortsübliche Vergleichsmiete um höchstens 10 % bei Wiedervermietung zu steigern.

(Beifall bei der SPD)

Diese Begrenzung wäre nicht nur für den konkret betroffenen Mieter von Bedeutung, sondern hätte den zusätzlichen Effekt, daß damit die Vergleichsmiete insgesamt langsamer anstiege, weil ja in ihr alle Mietpreisbewegungen enthalten sind. Das wäre deshalb gerecht, weil der Vermieter einerseits durchaus erhöhen könnte, andererseits der zufällige Mieterwechsel nicht zu einer unmäßigen Mietsteigerung führen würde. Auch dieser ausgewogene Vorschlag fand nicht die Zustimmung der Koalition. Man fragt sich, warum.
Die Regierungsparteien sind uns auch nicht gefolgt, das Instrument des Mietspiegels in möglichst vielen Gemeinden zu schaffen und es da, wo es vorhanden ist, auch vorrangig zu nutzen. Mietspiegel sind nach aller Erfahrung das geeignete Mittel, um die sogenannte Vergleichsmiete festzustellen — schon wegen der zugrunde liegenden Daten und der Transparenz.
In einem neuen § 10a des Miethöhegesetzes soll die Indexmiete wieder eingeführt werden. Darüber hätte man durchaus mit uns reden können. Sie wollen aber die Anlehnung dieses Mietzinses an eine bestimmte



Dr. Eckhart Pick
Preisentwicklung sang- und klanglos allein vom Verfahren nach dem Währungsgesetz abhängig machen. Warum, frage ich Sie, haben Sie sich dann nicht wenigstens unserer Forderung angeschlossen, in solchen Fällen die Sicherheit des Mieters vor einer ordentlichen Kündigung auf Zeit, vielleicht auf zehn Jahre, zu gewährleisten? Es bleibt wiederum Ihr Geheimnis, warum Sie diese sinnvolle Verknüpfung von beiderseitigen Interessen abgelehnt haben.
Schließlich muß die Koalition auch in der Öffentlichkeit begründen, warum sie bei der Vermittlung von Wohnraum darauf bestanden hat, daß der Vermittler bis zu zwei Monatsmieten für die Vermittlung einer Wohnung verlangen kann.

(Zuruf von der SPD: Schlimm genug!)

Der Bundesrat und die SPD halten eine Monatsmiete für angemessen, weil erstens — und das ist kein Geheimnis — die Mieten schon hoch genug sind und zweitens heutzutage der Makler durchaus nicht händeringend nach Interessierten Ausschau halten muß, sondern nur ein Auswahlproblem hat. Er wäre mit einer Monatsmiete immer noch ausreichend honoriert.

(Zustimmung bei der SPD)

Die SPD hat sich bei den Beratungen nicht verweigert. Sie hat auch da zugestimmt, wo Verbesserungen erkennbar waren, z. B. im Fall des § 541 b Abs. 1 BGB, nach dem der Mieter sinnvolle Investitionen zu dulden hat, bei der Verpflichtung des Vermieters, die Kaution getrennt von seinem Vermögen und verzinslich anzulegen, und auch bei der Teilkündigung von Nebenräumen zum Zweck der Schaffung neuen Wohnraums. Wir begrüßen auch, daß die Koalition unseren Vorschlag, im Falle der Umwandlung von Mietraum in Wohnungseigentum dem Mieter ein gesetzliches Vorkaufsrecht einzuräumen, übernommen hat.
Insgesamt können wir dem Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht zustimmen, weil ihm die soziale Symmetrie fehlt und er wiederum an Symptomen herumwerkelt, statt endlich mit einem stimmigen Konzept dem Problem zu Leibe zu rücken.
Ich sage am Schluß noch, daß wir unsere vier Änderungsanträge eingebracht haben, über die wir eine namentliche Abstimmung beantragen. Wir hoffen, daß die Koalition endlich die Zusammenhänge erkennt,

(Dr. Wolfgang Hermann Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die hat sie erkannt!)

die zwischen fehlendem Wohnraum und den damit verbundenen sozialen Problemen unserer Gesellschaft bestehen.
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216329600
Nun spricht der Kollege Burkhard Zurheide.

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216329700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die F.D.P.-Fraktion dem 4. Mietrechtsänderungsgesetz zustimmt, so vor allem deswegen, um schlimmeres Unheil zu verhindern. Wenn man sich anschaut, welche Vorstellungen
Bundesrat, Opposition, aber auch eine in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen ansonsten ganz vernünftige Staatsregierung eines südlichen Bundeslandes haben,

(Zuruf von der SPD: Ach ja?)

so könnte man vermuten, daß in der Wohnungsbaupolitik und im Mietrecht anderenorts längst gescheiterte sozialistische Vorstellungen fröhliche Urständ feiern sollen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Debatten über Veränderungen des Mietrechts leiden allzu häufig unter einer emotionalen Überfrachtung. Sie führen häufig zu falschen Ergebnissen.
Für die F.D.P. gilt nach wie vor: Der Staat kann und darf nicht der bedeutendste Wohnungsproduzent oder Wohnungsfinanzier sein.

(Beifall bei der F.D.P.)

Der Staat hat sich auf den planungsrechtlichen, den baurechtlichen, steuerrechtlichen und nicht zuletzt mietrechtlichen Rahmen zu konzentrieren, den er dann allerdings auszugestalten hat. Dieser muß dann aber so gestaltet sein, daß genügend Anreize und Möglichkeiten vorhanden sind, damit privates Kapital in erforderlichem Umfang für ein Engagement im Wohnungsbau gewonnen werden kann. Wohnungsnot, meine Damen und Herren, bekämpft man mit Wohnungsbau und nicht mit Interventionismus!

(Beifall bei der F.D.P. und Zustimmung bei der CDU/CSU)

Wenn der Staat selber aber keine Wohnungen bauen will und vor allen Dingen auch gar nicht kann, so muß er geeignete Investorengruppen ansprechen. Dazu gehören der selbstnutzende Wohnungseigentümer ebenso wie der gewerbliche Wohnungsunternehmer oder der institutionelle Anleger. Aber auch der kleine Kapitalanleger im Geschoßmietwohnungsbau muß erreicht werden. Auf Änderungen des Mietrechts, schon auf Gerüchte über Änderungen reagieren Investoren im Wohnungsbau unmittelbar und selten wohnungsbaufördernd. Das Mietrecht ist dabei eine ganz sensible Rahmenbedingung.
Für den Investor stellt der Mietzins einen der wichtigsten Indikatoren für die Rentabilität seiner Investition dar. Er ist letztlich ausschlaggebend für die Entscheidung, ob Kapital im Wohnungsbau oder in alternativen Anlagemöglichkeiten untergebracht wird. Bevor man in den Wohnungsmarkt durch Änderung des Mietrechts, das ohnehin schon viel zu kompliziert und unübersichtlich ist, eingreift — ganz besonders aber, bevor man miethöhenregulierende Eingriffe beschließt — sollte man lieber einmal mehr als einmal zuwenig nachdenken.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, dies liegt in ganz besonderer Weise im Interesse des Mieters. Eine interventionistische Mietrechtspolitik ist kontraproduktiv. Durch Ver- und Gebote gedeckelte Mieten führen zur Verknappung des Wohnungsangebots, weil sie einen nennenswerten Wohnungsneubau verhindern.



Burkhard Zurheide
Meine Damen und Herren, auf der Strecke bleibt nicht der Investor; der kann sein Geld anderweitig anlegen, auf der Strecke bleibt am Ende der Wohnungssuchende.

(Beifall bei der F.D.P.)

Es ist daher nicht nur kurzsichtig, sondern unverantwortlich, wenn man versucht, Mieter für sich zu gewinnen, indem man ihnen vorgaukelt, die Mieten könnten durch staatliche Eingriffe künstlich niedrig gehalten werden. Dieses vermeintliche Geschenk erweist sich nach ganz kurzer Zeit als schwere Hypothek. Die Folge einer solchen Politik ist ein Stillstand des Wohnungsneubaus. Modernisierung und Pflege des Wohnungsbestandes finden nicht mehr statt. Das Ende einer solchen Entwicklung haben wir alle gemeinsam beim Untergang der alten DDR beobachtet.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216329800
Herr Kollege Zurheide, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schöfberger gestatten?

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216329900
Bitte.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216330000
Herr Kollege Schöfberger.

Dr. Rudolf Schöfberger (SPD):
Rede ID: ID1216330100
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die Haupthindernisse für Investitionen im Wohnungsbau das geltende Bodenrecht, Bodenhortung, Bodenpreise, restriktive Ausweisungspolitik der Gemeinden und Baugestehungskosten sind und daß das Mietrecht nach allen empirischen Erfahrungen nur am Rande für Investitionen eine Rolle spielt?

(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216330200
Herr Kollege, das ist mir deswegen nicht bekannt, weil es nicht stimmt. Es gibt nur einen einzigen Grund: Die Probleme, die in München offenkundig vorhanden sind, haben ihre Hauptursache darin, daß verabsäumt worden ist, rechtzeitig Wohnland in Bebauungsplänen auszuweisen. Dieses ist der Grund.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht wahr!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216330300
Herr Kollege Zurheide, es besteht noch der Wunsch zu einer Nachfrage. Gestatten Sie die auch?

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216330400
Selbstverständlich.

Dr. Rudolf Schöfberger (SPD):
Rede ID: ID1216330500
Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege, daß München die am dichtesten bebaute Stadt der Bundesrepublik und eine der am dichtesten bebauten in Europa ist, so daß es nicht leicht ist, dort neues Baugebiet auszuweisen?

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216330600
Herr Kollege, daß es nicht leicht ist, mag ja sein. Nur, in anderen Gemeinden, die auch dicht besiedelt sind, geht es ja. Also von daher, denke ich, ist dieses Argument nicht zutreffend.
Meine Damen und Herren, es liegt also vor allem im Interesse des Mieters, daß der Staat Zurückhaltung übt. Das Ziel staatlicher Wohnungsbau- und Mietrechtspolitik muß sein, verläßliche Rahmenbedingungen vorzuhalten. Wer die letzten Rudimente der auf dem Wohnungsmarkt geltenden marktwirtschaftlichen Gesetze außer Kraft setzen will, der wird zusätzliche Wohnungsnot provozieren. So wie ein allgemeiner Steuersatz von 100 % ebenso wie ein Steuersatz von null Prozent zu einem Steueraufkommen von Null führt, so führt ein absoluter Mieterschutz mit staatlich verordneten Mieten zu einem Mietwohnungsbau von Null.
Dazu kommt, daß sich die Ansprüche an die eigene Wohnung gewandelt haben. Fast vierzig Quadratmeter pro Person nimmt der durchschnittliche Mieter in Deutschland für sich in Anspruch. Dazu kommt eine wachsende Anzahl von Singlehaushalten.
Ja, meine Damen und Herren, ich mache keinen Hehl daraus: Für die F.D.P. ist mit dem 4. Mietrechtsänderungsgesetz das Ende der Fahnenstange erreicht.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn dieses Gesetz ohne negative Auswirkungen auf den Wohnungsneubau bliebe, so wäre ich schon zufrieden.
Dies allerdings unterscheidet das Gesetz von dem Entwurf der Opposition, der den Initiativen zur Ankurbelung des Wohnungsbaus einen endgültigen tödlichen Schlag versetzen würde.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216330700
Herr Kollege Zurheide, es besteht noch einmal die Bitte nach einer Zwischenfrage, vom Kollegen Hilsberg.

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216330800
Bitte.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1216330900
Herr Kollege Zurheide, gehören Sie zu den Familien in der Bundesrepublik, die auf eine Mietwohnung angewiesen sind?

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216331000
Ich bewohne eine Mietwohnung. Insoweit kann ich das aus voller Überzeugung sagen.

Stephan Hilsberg (SPD):
Rede ID: ID1216331100
Angewiesen ist etwas anderes als bewohnen.

(Lachen bei der CDU/CSU)


Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1216331200
Also, ich bin im Augenblick auf eine Mietwohnung angewiesen, weil ich gar keine Planungen habe, gegenwärtig etwas anderes zu tun. Insoweit deckt sich vielleicht dieser Begriff.
Meine Damen und Herren, weitaus wichtiger und bedeutender für den Wohnungsneubau sind die Maßnahmen, die die Bundesregierung seit Jahren erfolgreich durchgeführt und eingeleitet hat und die schon zu einer Vermehrung von Wohnungen geführt haben. Wenn wir mit dem Gesetz die sogenannte Kappungsgrenze auf 20 % innerhalb von drei Jahren festsetzen, so gilt dies nicht für Neubauwohnungen und nur bei einer Ausgangsmiete von mehr als 8 DM pro Quadratmeter.



Burkhard Zurheide
Positiv — dies muß auch gesagt werden — ist noch anzumerken, daß die Kappungsgrenze nicht gilt, wenn die Miete nach Wegfall der öffentlichen Bindung an die Kostenmiete herangeführt werden soll und der Mieter bis dahin eine Fehlbelegungsabgabe gezahlt hat. Dies erscheint mir auch im Sinne einer höheren und niederen Gerechtigkeit geboten zu sein.

(Beifall bei der F.D.P.)

Wenn nun im § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes die Grenze präzise auf ortsübliche Miete zuzüglich 20 % festgeschrieben wird, so ist dies sicher nicht unproblematisch. Es ist aber wenigstens gelungen, eine Ausnahme hiervon für den Fall vorzusehen, daß diese Grenze bei einer Staffelmietvereinbarung, die vor dieser Neuregelung abgeschlossen wurde und unter der 20-%-Grenze gelegen hat, überschritten werden darf.
Letztlich, meine Damen und Herren, ist noch positiv zu bemerken, daß von nun an Mietanpassungsvereinbarungen, sogenannte Indexmieten, zulässig sein sollen. Dies ist wenigstens ein marktwirtschaftliches Novum und ein Zeichen dafür, daß diese Koalition die Marktwirtschaft im Auge hat, wenn sie vom Wohnungsmarkt redet.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Am Ende verbleibt bei all den Veränderungen, auf die sich die Koalition verständigen konnte und an denen die Wohnungspolitiker einen ganz erheblichen Anteil hatten — wofür ich dem Kollegen Hitschler ausdrücklich danken möchte — eine Menge Skepsis.
Aber, meine Damen und Herren, für die F.D.P. gilt: Mit dem Gefummel am Mietrecht muß aufgehört werden. Jetzt müssen Wohnungen gebaut werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216331300
Nun hat der Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216331400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zurheide, ich bin schon ein bißchen betroffen, mit welcher Kälte Sie hier Mieterinnen und Mietern das Leben schwermachen wollen. Nicht alles, was so lange wie dieser Gesetzentwurf dauert, wird gut. Mit diesem neuen Mietrechtsänderungsgesetz geht die Regierung wieder einmal ganz konsequent — ich könnte auch sagen: starrköpfig — an den Realitäten in diesem Lande vorbei.
Realität ist nun einmal die Verschärfung der Wohnungsnot. Realität ist die Zunahme von Obdachlosigkeit. Und Realität ist auch zunehmende Angst vieler Menschen, selbst in eine derart ausweglose Situation zu geraten.
Unter diesem Aspekt ist es geradezu erstaunlich und erfreulich, daß in diesen Tagen viele Betroffene gemeinsam mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern die Kraft gefunden haben, mit der „Nacht der Wohnungslosen" eine bundesweite Aktion gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot zu starten.
Aus allen Richtungen mehren sich die Stimmen für eine tatsächliche Wende in der Wohnungspolitik, während die Regierungsvertreter — Herr Zurheide hat das wieder eindrucksvoll bestätigt —, aber allen voran auch Ministerin Schwaetzer, emsig bemüht sind, die katastrophale Wohnungsnot in bekannter Manier schönzureden. Ich kenne das noch aus DDR-Zeiten. Ich weiß, wovon ich rede. Da wurde auch immer alles schöngeredet.
Wenn die Frau Ministerin anwesend wäre, würde ich sie einfach mal fragen, warum sie denn in Dresden am 2. Juni bei den Freien Wohnungsunternehmern — nicht bei meinen Freunden — nur artigen Beifall fand und warum sie geharnischte Kritik und Buh-Rufe am 4. Juni auf dem Deutschen Mietertag in Potsdam dafür erhielt, daß sie in ihrer Rede die bekannte Schönrederei vornahm und außerdem noch berechtigte Kritik demonstrativ nicht mehr zu ertragen in der Lage war.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Es kommt auf das Publikum an!)

— Die Buh-Rufer waren klüger als Frau Schwaetzer; die, die artigen Beifall spendeten, waren andere. — Herr Hitschler, das war kein guter Beitrag von Ihnen.
Nachdem seit Jahren die Mietpreise der allgemeinen Preis- und Einkommensentwicklung vorauseilen, sind die vorgeschlagenen Mietrechtsänderungen nicht mehr als ein Feigenblatt. Nicht den hochgezüchteten ortsüblichen Vergleichsmieten und dem Renditeverlangen der Immobilienbesitzer sollten wir, die Volksvertreter, Rechnung tragen, sondern den Menschen ihr Grundrecht auf bezahlbare und angemessene Wohnung gewährleisten.
Das mindeste, was heute zu beschließen wäre, wäre eine Kappungsgrenze von 10 % Mieterhöhung in drei Jahren, und dies weder befristet noch eingeschränkt.
Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung auf, die Mietpreisentwicklung durch Schaffung preiswerten Wohnraums vor allen Dingen durch massive Förderung des kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus, zu dämpfen. Dazu ist nach unserer Auffassung ein nationales Wohnungsbauprogramm mindestens für die nächsten 10 Jahre aufzulegen. Die Erarbeitung eines solchen Programms sollte einem Gremium vorbehalten bleiben, das nach dem Prinzip der Runden Tische, also mit allen im Bundestag sowie in dem Landtag vertretenen Parteien, den Mieter- und Vermieterverbänden sowie den Gewerkschaften, Kirchen und anderen auf diesem Gebiet tätigen Kräften, zusammengesetzt ist.
Die Inkonsequenz des vorliegenden Gesetzentwurfes wird beispielsweise an der Frage der Maklercourtage deutlich. Eine Begrenzung der Courtage auf eine Monatsmiete wäre das absolut Höchste, was ich mir als angemessen vorstellen könnte. Wichtiger wäre allerdings die Frage, was denn gesetzlich geregelt werden kann, um den Wohnungstausch als wirksames und äußerst preiswertes Mittel zur Lösung von einigen Wohnungsproblemen zu fördern. Dazu gehört in meinen Augen, daß wenigstens immer in den jeweils



Dr. Ilja Seifert
anderen Mietvertrag eingetreten werden kann ohne 10 % oder noch mehr Zuschlag.
Die Forderung der PDS/Linke Liste und unsere diesbezüglichen Vorschläge werden ebenso abgelehnt wie die vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder SPD. Es zeichnet sich für 1995 ab, daß die ostdeutschen Mieterinnen und Mieter sowie die Städte und Gemeinden in ein schwarzes Jahr fallen. Dazu gehört die Entscheidung von Ihnen, verehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, F.D.P. und SPD, alle Wohnungen in Ostdeutschland in das Vergleichsmietensystem zu entlassen. Daraus ergibt sich zwangsläufig, nach den nicht unbeträchtlichen Mieterhöhungen, die wir bereits hinter uns haben, und denen, die noch vor uns liegen, eine Mieterhöhung um weitere 30 % ab 1995 nach dem entsprechenden Miethöhegesetz. Damit bringen Sié viele Menschen in Ostdeutschland in eine große soziale Not. Wohin sozialer Unfriede führen kann, das müßten Sie ebenso gut wissen wie ich.
Meine Damen und Herren, Sie werden sich nicht wundern, daß wir unter diesen Umständen den vorliegenden Gesetzentwurf nicht gutheißen können. Dem vom Bundesrat eingebrachten Entwurf zur Erhöhung von Bußgeldern bei Zweckentfremdung und auch dem Antrag der SPD, die Mietsteigerung nur um 10 % zuzulassen, werden wir selbstverständlich zustimmen. Das sind zwar kleine Schritte, aber es wären wenigstens Schritte in die richtige Richtung.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216331500
Als nächstes hat das Wort die Kollegin Christina Schenk.

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1216331600
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eines vorausschicken: Es genügt nicht, wie neulich geschehen, eine Ministerin von einem Mietertag wegzugraulen — die ganze Regierung verdient nichts anderes.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung mietrechtlicher Vorschriften ist durch den Willen gekennzeichnet, möglichst nichts zu ändern, jedenfalls nichts, was den Gewinnlern der Wohnungsnot in diesem Land wirklich schaden könnte. Das ist nicht nur aus den einzelnen Vorschriften ersichtlich, sondern geht auch aus der Begründung zum Gesetzentwurf hervor, die im Grunde nichts anderes ist, als ein hochheiliges Versprechen an die Adresse der Vermieter, daß die Regierung nicht die Absicht hat, ihre Gewinne dauerhaft oder auch nur ernsthaft zu schmälern.
Eine Mietkappungsgrenze von 20 % statt 30 % innerhalb von 3 Jahren, die auf 5 Jahre begrenzt ist, die von Vermieterverbänden als ungeheurer Aderlaß hochgespielt wird, garantiert hauptsächlich eines, nämlich daß die Mieten nach Ablauf dieser Zeit wieder munter erhöht werden. Außerdem beschränkt sich die Kappungsgrenze des Regierungsentwurfes auf Wohnungen, die vor 1981 gebaut wurden. Bei den neueren Wohnungen, ausgerechnet bei denen, die noch teurer sind, bleibt es bei der Kappungsgrenze
von 30 % innerhalb von 3 Jahren. Diese Logik verstehe, wer will.
Dem vernünftigen, von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, von der SPD und vom Bundesrat eingebrachten Vorschlag, den die GRÜNEN übrigens schon in der 11. Legislaturperiode hier vorgebracht haben, nämlich die Kappungsgrenze auf Dauer und generell für alle Wohnungen auf 15 % innerhalb von 3 Jahren festzulegen, mochte sich die Regierung nicht anschließen, was nicht verwunderlich ist. Denn dies ist weder die Regierung der Mieterinnen und Mieter noch ist sie um einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen von Mieterinnen und Mietern auf der einen Seite und Vermietern und Vermieterinnen auf der anderen Seite interessiert. Hier wird, wie in allen anderen Bereichen auch und aus welchen Gründen auch immer, eiskalt eine Politik zugunsten der Reichen bzw. zugunsten der Bessersituierten in der Hoffnung durchgezogen, daß die anderen schon nicht merken, wer ihre Mieten nach oben schraubt bzw. wer einen Stopp der Mietspirale verhindert.
Das gleiche gilt für die Verhinderung der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und der daraus folgenden Verdrängung.

(Abg. Walter Hitschler [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216331700
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Christina Schenk (PDS):
Rede ID: ID1216331800
Nein, ich möchte weiterreden. — Alle, die sich mit der Wohnungspolitik in diesem Lande beschäftigen, einschließlich der Bundesregierung, wissen, welch verheerende Wirkungen Umwandlungen haben. Anstatt ihnen dadurch einen Riegel vorzuschieben, daß die Kündigungsfristen in solchen Fällen ganz erheblich verlängert werden — auf 10 Jahre nach unserer Vorstellung oder wenigstens auf 5 Jahre, wie es die Entwürfe der SPD-Fraktion und des Bundesrates vorsehen —, schweigt sich der Regierungsentwurf über diesen Punkt ganz aus und sieht von einem Verbot oder einer Erschwerung von Umwandlungen völlig ab.
Ich frage mich immer öfter, ob es überhaupt Sinn hat, mit dieser Regierung immer und immer wieder über Wohnungspolitik zu diskutieren. Es ist ja nicht so, daß die Regierung unsere Vorschläge und die Forderungen der Mieter- und Mieterinnenverbände, die zum Teil von SPD und Bundesrat geteilt werden, nicht kennt. Es ist auch nicht so — zumindest möchte ich das hoffen —, daß die Regierung zu dumm oder gar unfähig ist, eine vernünftige Wohnungspolitik zu machen. Zumindest möchte ich das nicht unterstellen, obwohl man, wenn man sich die aktuelle Politik und die Ergebnisse vor Augen führt, mitunter zu solchen Überzeugungen kommen könnte.
Die Wohnungspolitik der Bundesregierung ist sehr stark — das habe ich in der Zwischenzeit, in meiner Zeit als bundesdeutsche Bürgerin gelernt — von ideologischer Verbohrtheit bestimmt, gegen die rationale Argumente nur schlecht ankommen. Insofern hat die Wohnungspolitik im Westen einiges gemeinsam



Christina Schenk
mit der im Osten, mit anderen aber nicht weniger verheerenden Ergebnissen.
Wir machen uns dennoch regelmäßig die Mühe und fordern z. B. in unserem Antrag „Maßnahmen zur Begrenzung des Mietanstieges, zur Erweiterung des Kündigungsschutzes und zur Erhaltung des Bestandes an Mietwohnungen" außer den bereits eben erwähnten Regelungen beispielsweise: daß die für Mieterhöhungen maßgeblichen Mietspiegel aus den Mieten aller Mietverhältnisse im privatfinanzierten Wohnungsbau und nicht mehr, wie heute üblich, aus den überdurchschnittlich hohen Mieten der letzten 3 Jahre ermittelt werden; daß in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf die Mieten bei Neuvermietung um höchstens 5 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen und nicht wie heute bis zu 20 % nach oben springen dürfen; daß die Möglichkeit zur Vereinbarung von Staffelmieten, durch die die Mietspirale in den letzten 10 Jahren ganz besonders angekurbelt worden ist, wieder abgeschafft wird. — Das sind nur einige von unseren Forderungen.
Es muß hier deutlich gesagt werden: Es ist auch Sache der betroffenen Mieterinnen und Mieter, dafür zu sorgen, daß eine vernünftige Wohnungspolitik in diesem Lande Macht bekommt. Ich denke, bei den nächsten Wahlen ist Gelegenheit dazu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216331900
Bevor ich Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke das Wort gebe, möchte ich darauf hinweisen, daß wir dann zwei namentliche Abstimmungen haben.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1216332000
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist überhaupt nicht zu bestreiten: Die gegenwärtige Wohnungssituation in der Bundesrepublik ist angespannt. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Ich nenne nur die geburtenstarken Jahrgänge, die verstärkt auf den Wohnungsmarkt streben, die immer zahlreicher werdenden Einpersonenhaushalte und die Zuwandererwelle, die in den letzten Jahren auf uns zugekommen ist, und die wir auch begrüßt haben.

(Zuruf von der SPD: Das war der Bundesregierung bekannt!)

Die Wohnungspolitik der Bundesregierung geht dahin, diesen Wohnungsmangel nicht, wie es die Sozialdemokraten gerne hätten, nur zu verwalten, sondern nachhaltig zu beseitigen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Wohnungs- und finanzpolitisch hat die Regierungskoalition die Weichen für den Bau neuer Wohnungen gestellt. Die jährlichen Fertigstellungen sind innerhalb von 3 Jahren um mehr als 50 % gestiegen und werden weiter ansteigen.

(Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Aber auch das Mietrecht kann einen Beitrag zur Verbesserung der Wohnungssituation vieler Menschen leisten.
Da ist an zwei Punkten anzusetzen. Auf der einen Seite sind durch die gestiegene Nachfrage nach Wohnungen auch die Mieten gestiegen. Wir müssen also den Mietanstieg dämpfen, ohne allerdings die Investoren zu verschrecken.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216332100
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert zulassen?

Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216332200
Herr Staatssekretär, würden Sie bitte dazusagen, von welchem Niveau aus 50 % Steigerung erfolgt sind, und — zweitens — könnten Sie uns vielleicht einmal sagen, wie viele Wohnungen in der Zwischenzeit weggefallen sind?

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1216332300
Ich hatte eben gesagt: in den letzten drei Jahren. Damit ist die erste Frage beantwortet. Es gibt auch keinen Zweifel, daß Wohnungsbestände wegfallen. Dafür bedarf es regelmäßiger Neubauten. Das ist statistisch ohne weiteres nachzulesen.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216332400
Es gibt noch einen Wunsch zu einer Zwischenfrage, Herr Staatssekretär, diesmal vom Kollegen Lambinus.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1216332500
Ja, bitte.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216332600
Bitte, Kollege Lambinus.

Uwe Lambinus (SPD):
Rede ID: ID1216332700
Herr Staatssekretär, ich möchte die erste Frage wiederholen. Würden Sie uns bitte sagen, von welchem Niveau aus die 50%ige Steigerung des Neuwohnungsbaus erfolgt ist? 50 % von null bleibt nämlich null.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1216332800
Ich glaube, das ist mehr eine rhetorische, vielleicht sogar polemische Frage.

(Widerspruch bei der SPD — Abg. Dr. Walter Hitschler [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216332900
Noch eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär. Ich glaube, damit sollten wir es dann bewenden lassen.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1216333000
Herr Staatssekretär Funke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß, vom Niveau des Jahres 1987 an gerechnet, es sich nicht um eine 50%ige Steigerung, sondern um eine fast 100%ige Steigerung handelt?

(Zurufe von der SPD: Noch schlimmer! — Achim Großmann [SPD]: Statt eines Hauses zwei Hauser!)


Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1216333100
Herr Kollege Dr. Hitschler, von 1987 an mag das stimmen. Ich bin von den letzten drei



Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Jahren ausgegangen. Insoweit ist Ihre Berechnung sicherlich richtig.

(Uwe Lambinus [SPD]: So etwas ist Staatssekretär! — Weiterer Zuruf von der SPD: Das war der entlastende Angriff!)

Auf der anderen Seite gibt es zweifellos zuwenig Wohnungen. Wir müssen den Wohnungsbau also auch durch das Mietrecht möglichst attraktiv machen. Dazu hat es im Jahre 1991 einen Koalitionsbeschluß gegeben, an dem ein jetziger Ministerpräsident aus einem südlichen Bundesland aktiv mitgewirkt hat, im übrigen auch an dem, was die Kappungsgrenze von 20 % angeht.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ganz hervorragend! )

Er hat auch an der Regelung mitgewirkt, die wir im Wirtschaftsstrafgesetz gefunden haben. Auch wir wollen nicht tatenlos hinnehmen, daß unseriöse Wohnungsvermittler die gegenwärtige Wohnungssituation ausnutzen können. Wir haben deswegen die Vermittlungsgebühr beschränkt.
Bei diesen Mieterschutzvorschriften kann die Novelle aber nicht stehenbleiben. Es sind auch Anreize für den Bau neuer Wohnungen erforderlich. Wir haben dafür den Ausbau und Umbau bestehender Gebäude zu neuem Wohnraum sowie die Bebauung von Nebenflächen vorgesehen, die mietrechtlich erleichtert werden soll. Der Werkswohnungsbau soll wiederbelebt werden, und neue Investoren sollen an den Mietwohnungsbau herangeführt werden.
Wir werden weiterhin erlauben, die Miethöhe an die Lebenshaltungskosen zu binden. Das schützt die Investoren vor Inflationsverlusten. Auch für die Mieter ist dieses System einsichtiger als das jetzige Vergleichsmietenrecht, das in der Tat ungewöhnlich kompliziert ist.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Wer schützt die Mieter vor Arbeitsplatzverlust?)

Zwei wesentliche Ergänzungen haben sich in den Ausschußberatungen ergeben. Das betrifft zum einen die Durchbrechung der Kappungsgrenze für ehemalige Fehlbeleger und zum anderen das Vorkaufsrecht bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen.
Meine Damen und Herren Kollegen, der Entwurf trägt in einer Zeit angespannter Wohnungsversorgung sehr gezielt zur Dämpfung des Mietauftriebs bei. Er hält dabei die Rahmenbedingungen für Wohnungsbauinvestitionen so konstant wie möglich. Die Vorschläge der Opposition hätten dagegen im Ergebnis einen Mietenstopp zur Folge. Das mag für die derzeitigen Mieter sehr komfortabel sein. Wer aber wird noch Wohnungen bauen, wenn sich Vermietung nicht mehr rentiert und das Kapital am Wohnungsbau vorbei in andere Wirtschaftsbereiche fließt? Es gibt nun einmal genügend Alternativen am Kapitalmarkt.

(Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Sehr richtig!)

Soll dann etwa der Staat mit immer mehr Steuergeldern helfen? Ich glaube, das wäre die falsche Antwort.
Es gibt zwar politische Scharlatane, die das für möglich halten. Wir gehören sicherlich nicht dazu.
Wir wollen, daß in Ost und West mehr und bessere Wohnungen gebaut und daß sie ordentlich vermietet und auch anständig bezahlt werden. Das ist das Ziel unserer Wohnungspolitik. Demgemäß bitten wir, dem Gesetz zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216333200
Nun hat die Kollegin Gabriele Wiechatzek das Wort.

Gabriele Wiechatzek (CDU):
Rede ID: ID1216333300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lösung der Probleme im Wohnungsbau ist eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahre und von entscheidender Bedeutung für den inneren Frieden in unserem Land. Dies ist, glaube ich, unstrittig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS/ Linke Liste)

— Mal sehen, ob es mit der gemeinsamen Zustimmung so weitergeht. - Es bedarf daher der Anstrengung aller Verantwortlichen, um die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt zu entschärfen, statt sich einseitig in Schuldzuweisungen zu üben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Von daher ist es schon verwunderlich, wenn die SPD zum wiederholten Mal und kurz vor der heutigen Debatte eine wohnungspolitische Initiative startet, mit der sie den Bürgern einzureden versucht, nur sie allein wolle die Mieter schützen und zugleich mehr Wohnungen bauen

(Zuruf von der SPD: So ist es! Wenn man will, geht das!)

— ich werde gleich etwas dazu sagen; mal sehen, ob Sie dann immer noch jubeln —, während die Bonner Koalition die Menschen sehenden Auges in die Obdachlosigkeit treibt.

(Zustimmung bei der SPD)

Das ist reine Stimmungsmache und Politik mit der Angst des Menschen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Damit löst man die anstehenden Wohnungsprobleme nicht, zumal Sie den Bürgern dann auch erklären müssen, warum denn auch in den SPD-geführten Bundesländern keine paradiesischen Wohnverhältnisse herrschen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Wegen der Bundespolitik!)

Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an das Land Brandenburg, wo Mittel des Wohnungsbaus in den Brückenbau umgeschichtet wurden.

(Hans Raidel [CDU/CSU]: Sauerei! — Dr. Hans de With [SPD]: Da machen wir erst seit drei Jahren Politik, aber Sie beim Bund seit elf!)




Gabriele Wiechatzek
— Sie machen das erst seit drei Jahren, aber dafür drei Jahre schlecht. Das ist richtig.
Die Forderungen von der SPD sind immer gleich: drastische Verschärfung des bestehenden Mietrechts auf der einen Seite und immer mehr Milliarden aus der Staatskasse für den Wohnungsbau auf der anderen Seite.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Weil Wohnung Grundbedürfnis ist!)

Sie gaukeln den Menschen vor, der Staat brauche nur in den großen Geldsack zu greifen, und schon sind alle Wohnungsprobleme beseitigt. Dabei wissen Sie ganz genau, daß dies eben nicht stimmt, abgesehen davon, daß der Geldsack leer ist.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Durch Ihre Politik!)

Es ist unseriös, im Bund ständig mit neuen kostenintensiven Vorstellungen und Versprechungen aufzuwarten und nur zu sagen, wo nicht gespart werden soll, gleichzeitig aber die hohe Staatsverschuldung zu kritisieren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die habt ihr doch verursacht! )

Meine Damen und Herren von der SPD: Es gibt eine Wahrheit, und an der kommen auch Sie nicht vorbei. Sie lautet: Ohne Mobilisierung privaten Kapitals wird das Wohnungsproblem und damit der Mietanstieg nicht beseitigt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die Förderung im Sozialen Wohnungsbau ist ein unverzichtbares Instrument. Sie kann aber nur einen Bruchteil zur Deckung des wachsenden Wohnungsbedarfs beitragen. Der Staat allein wird daher auch bei noch so extensiver Förderung des Sozialen Wohnungsbaus die bestehende Mangellage am Markt nicht beseitigen können.

(Hans Raidel [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Unstrittig ist, daß es eine Wohnungsknappheit gibt, die in den Ballungsgebieten teilweise zu drastischen Mieterhöhungen geführt hat.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Schauen Sie doch die Statistik an!)

Hier muß aus sozialstaatlichen Erwägungen verhindert werden, daß es als Folge des verzerrten Wohnungsmarktes zu ungebremsten Auswüchsen kommt. Das wird nun durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung erfolgen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dabei mußten wir darauf achten, nicht gerade jene zu verprellen, die überhaupt noch zur Schaffung neuen Wohnraums bereit sind.
Schon heute ist vorherrschende Meinung, daß Investitionen in den Wohnungsbau nur Kosten und Ärger mit sich bringen. Daher wäre es falsch, durch drastische und unbefristete Mietpreisvorschriften in den Wohnungsmarkt so massiv einzugreifen, wie Sie, die SPD, es vorgeschlagen haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Denn abgesehen davon, daß Sie hierdurch einseitig nur diejenigen schützen, die bereits im Besitz einer Wohnung sind, beseitigen Sie damit nicht die Wohnungsnot und damit auch nicht den Mietanstieg. Statt dessen laufen Sie Gefahr, daß keine freifinanzierte Mietwohnung mehr erstellt wird. Das kann aber nicht unser Ziel sein.

(Hans Raidel [CDU/CSU]: Richtig! — Achim Großmann [SPD]: Der ganze Immobilienmarkt geht am Krückstock!)

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf ist vor diesem Hintergrund ein wohlaustariertes Mittel. Es schafft in diesem sensiblen Bereich Rahmenbedingungen, die einerseits den Mietern ein ausreichendes Maß an Schutz bieten und andererseits private Investoren nicht mit übergroßen und damit hemmenden Belastungen von der dringend benötigten Schaffung neuen Wohnraums fernhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn wir dieses Gesetz heute nun endlich zur Verabschiedung bringen und auch im Bundesrat keine neuen Hürden aufgebaut werden, gelten zugunsten der Mieter ab dem 1. August dieses Jahres eine Reihe von Verbesserungen, die ich hier nur kurz ansprechen möchte, weil sie bereits erwähnt wurden.
Das erste ist die Herabsetzung der Kappungsgrenze von 30 % auf 20 %. Ich verhehle nicht, daß es bei einigen — auch bei mir — Sympathie für die 15 %-
Regelung gegeben hat. Das war aber in der Koalition nicht durchsetzbar. Eine Ausnahme von der Kappungsgrenze beim Auslaufen der Sozialbindung hat der Rechtsausschuß noch in seiner Schlußberatung, allerdings ohne Beteiligung der Fachausschüsse, eingefügt. Abgesehen davon, daß das ein unübliches Verfahren ist, fordern wir als Baupolitiker, daß diese zusätzlichen Mittel wieder in den Wohnungsbau fließen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die zweite Verbesserung: Bei einer Wiedervermietung greift der sogenannte „Wucherparagraph", wonach die Miete höchstens 20 % über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf.
Dritter Punkt: Die Maklerprovision wird auf höchstens zwei Monatsmieten festgesetzt.
Viertens. Mit der Einführung von Mietanpassungsklauseln werden die Mieten für alle Beteiligten klar kalkulierbar.
Fünftens. Durch entsprechende Vorgaben gerade in dem wichtigen Bereich der Werkswohnungen werden Voraussetzungen für die Erstellung neuen Wohnraums geschaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch dies trägt, meine Damen und Herren, zur Entschärfung der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt bei, ohne daß der Staat hierfür besondere Mittel aufwenden muß.
Neben dem Vierten Mietrechtsänderungsgesetz steht heute noch ein weiterer Gesetzentwurf zur Abstimmung. Er läßt bei einer Zweckentfremdung von Wohnraum Bußgelder bis zu einer Höhe von



Gabriele Wiechatzek
100 000 DM zu. In Zeiten, in denen Wohnungen fehlen, können Zweckentfremdungen von uns nicht hingenommen werden!

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist konsequent!)

Meine Damen und Herren, diese Ausführungen machen deutlich, daß wir die Anträge der SPD-Fraktion ablehnen. Ich fordere Sie statt dessen auf: Stimmen Sie wie die CDU/CSU-Fraktion den vorgelegten Gesetzentwürfen zu, setzen Sie damit ein richtiges Signal, und geben Sie dem Wohnungsbau ein wichtiges Instrument in die Hand.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1216333400
Nun hat der Kollege Walter Schöler das Wort.

Walter Schöler (SPD):
Rede ID: ID1216333500
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man einige Vorredner gehört hat, meint man, Mietwohnungen seien eine Ware. Richtig ist: Mietwohnungen sind keine Ware, sondern der Lebensmittelpunkt für den einzelnen und für Familien und ein Ort, an dem man Schutz und Geborgenheit sucht.

(Beifall bei der SPD)

Hier gilt der Verfassungsauftrag, wonach sich zwar das Eigentum auch an der Freiheit des einzelnen Eigentümers orientieren muß, aber in erster Linie neben der Eigentumsgarantie auch die Sozialbindung zählt. Die vermisse ich in dem Entwurf, den Sie heute mit der Koalition verabschieden wollen. Bei den Bedingungen, zu denen Sie mittlerweile Wohnungen zur Verfügung stellen, vermisse ich auch die Möglichkeit des Mieters, sein Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auszuüben.
Wenn man den Beitrag des Kollegen Zurheide gehört hat, meint man, Deutschland sei wieder geteilt, und zwar in München einerseits und den Rest des Staates andererseits. Das kann doch wohl nicht sein. Herr Kollege, wenn Sie aufmerksam die Szene beobachten würden, würden Sie feststellen, daß wir die Verhältnisse, die für München genannt werden, in einer Vielzahl deutscher Großstädte und inzwischen auch in Mittel- und Kleinstädten finden. Dann sollten wir nicht so tun, als sei das ein Münchener Problem.

(Beifall bei der SPD)

Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf wird keinem der Grundsätze einer rationalen Mietpolitik gerecht. Er wird auch nicht unserer Verfassung gerecht. Er hilft weder den unter den explodierenden Mieten leidenden Haushalten, noch schafft er die erforderliche Klarheit oder die langfristige Orientierung für Investoren. Es ist als erschreckend, ja, fast als erbärmlich zu bezeichnen, daß diese Koalition drei Jahre gebraucht hat, um ein Gesetzeswerk zustande zu bringen.
Vor der Bundestagswahl, am 13. Juni 1990, hat die damalige Bauministerin Hasselfeldt verkündet, Mieterhöhungen im Bestand von damals 30 % in drei Jahren auf höchstens 15 % senken zu wollen. Diese
Verkündigung halten Sie nicht ein. Im Gegenteil, Sie weichen ab. Sie gehen mit Ihrer Koalitionsvereinbarung auf eine Schmalspurfassung, die Sie uns heute vorlegen, und fügen Ihren vielen Wortbrüchen einen weiteren hinzu.

(Beifall bei der SPD)

Daß Sie so lange gebraucht haben, hat natürlich seinen Grund. Die Koalition war und ist — das merkt man heute, und das werden wir auch gleich noch bei einigen Abstimmungsverhalten sehen — bis ins Mark zerstritten. Die Bauministerin hat hier in unverantwortlicher Weise Zeit geschunden auf Kosten von 50 Millionen Mietern zugunsten der Vermieter. Sie steht in Wirklichkeit gar nicht zu diesem Gesetzentwurf. Sie hat es selbst gesagt und hat bedauert, daß die Regierung einen solchen Kabinettsbeschluß gefaßt hat.
Es ist nun der F.D.P. vergönnt gewesen, mit beiden Ministerien, der Justiz und des Bauens, keine Gelegenheit auszulassen, auch dem schlafmützigsten Vermieter zu zeigen, daß es gilt, die Miete noch schnell im 30 %-Rahmen zu erhöhen.
Streit und Uneinigkeit in der Koalition: Ich meine, es ist grob fahrlässig, wie Sie mit diesem Mietrecht umgehen. Ich kann nur feststellen — das geht auch an den Kollegen Kansy —, daß man offensichtlich die Baupolitiker in der CDU/CSU-Fraktion nicht mehr gefragt hat. Über ein Grummeln in der Presse sind Sie nicht hinausgekommen.
Daß Sie Schwierigkeiten haben, meine Damen und Herren, sich gegen Finanzpolitiker durchzusetzen, verstehe ich. Das gilt mittlerweile für alle politischen Ebenen. Aber daß Sie sich — wie es hier jetzt geschieht — von Rechtspolitikern der Koalition auf der Nase herumtanzen lassen und eine solch weitgehende Regelung über Ihren Kopf hinweg in das Gesetz eintragen lassen, das ist ein ganz bemerkenswerter Vorgang, den wir so noch nicht feststellen konnten.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Wir haben in der Ausschußberatung ein Gutachten einer Beratergruppe vorgelegt, in dem wohnungswirtschaftliche Experten und Investoren festgestellt haben, daß bei Mietsteigerungen von 15 % binnen drei Jahren, also etwa 5 % pro Jahr, eine angemessene Rendite und eine ausreichende Liquidität erzielbar ist. Der Ring Deutscher Makler — lesen Sie die heutigen Pressemeldungen — bestätigt das ausdrücklich. Er spricht für die nächsten Jahre sogar von nur 4 %, das hieße also 12 % in drei Jahren. Ich frage mich, warum Sie dann die 15 % nicht mittragen und festschreiben wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Unruhe — Glocke des Präsidenten)

— Herr Präsident, ich danke für dieses Glockenzeichen. Ich war mir dessen bewußt, daß es sicher schwierig ist, die erste Rede in diesem Hause vor einer namentlichen Abstimmung zu halten. Aber wer hat



Walter Schöler
andererseits schon die Möglichkeit, vor einem solch großen Publikum reden zu dürfen?

(Beifall bei der SPD —Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Ganz schön forsch für die erste Rede!)

Man kann auch an einzelnen Regelungen des Gesetzentwurfes nachweisen, daß es dieser Koalition nicht um Mietgerechtigkeit, um Miettransparenz geht. Ich frage Sie: Warum verweigern Sie sich unserem Vorschlag, Mietspiegel als verbindliche Grundlage festzusetzen

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und dort vorzuschreiben, wo sie existieren, und auch den Ländern die Möglichkeit zu eröffnen, die Gemeinden zu verpflichten, derartige Mietspiegel aufzustellen? Sie haben das selber noch vor Jahren gefordert. Diese Forderung ist wie so vieles, das Sie angekündigt haben, heute Schall und Rauch.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie für die Mietenpolitik eintreten, zeigt die Regelung zur Mieterhöhung nach Modernisierung. Sie wollen in Ihrem Gesetzentwurf die Pflicht des Vermieters zur Mitteilung der Kosten der beabsichtigten Modernisierung und sich daraus ergebenden Mieterhöhungen abschaffen. Sie wollen damit auch überzogene Luxusmodernisierungen gegen den Willen der Mieter möglich machen. Sie installieren damit einen weiteren Treibsatz für Mietsteigerungen und die Verdrängung von Mietern aus bisher bezahlbaren Wohnungen. Auch hier wieder das gleiche Strickmuster.

(Unruhe)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216333600
Herr Kollege Schöler, eine Sekunde, bitte. — Meine Damen und Herren, wir können so nicht verfahren. Der Redner muß sich doch wenigstens verständlich machen können. Ich bitte deswegen, noch ein paar Minuten zuzuhören. Dann kommen wir zu den Abstimmungen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Walter Schöler (SPD):
Rede ID: ID1216333700
Ich bedanke mich, Herr Präsident. — Ich will auf die Problematik der Werkswohnungen wegen der Kürze der Zeit nicht weiter eingehen. Auch diese ist hinlänglich bekannt. Aber ich muß feststellen: Die Bundesregierung befleißigt sich eines vorauseilenden Gehorsams, dieses jesuitischen Prinzips, gegenüber der Wohnungswirtschaft. Das zeigt die Regelung bezüglich der Mieterhöhung bei Wegfall der Fehlbelegungsabgabe. Künftig können Vermieter die bisher vom Mieter zu zahlende Abgabe in die eigene Tasche stecken,

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist doch ein Skandal!)

nach dem Ablauf der Sozialbindung und dem damit verbundenen Wegfall. Damit können Mieten auf einen Schlag zwischen 50 % und 100 % erhöht werden. Sie tragen dafür die Verantwortung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es bleibt die Frage, warum Sie nicht dazu bereit sind, dafür zu sorgen, daß diese Mittel zumindest
teilweise und zielgerichtet in den Bau neuer Sozialwohnungen einfließen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Übrigens war das bisher die einzige zweckgebundene Abgabe der Mieter für den Bau neuer Wohnungen.
Wie stellen Sie denn jetzt sicher, daß diese Mittel in den Wohnungsbau fließen? Wie stellen Sie sicher, daß diese Mittel nicht zur Gewinnausschüttung an Gesellschafter verwendet werden? Die Antwort ist ganz einfach: überhaupt nicht.
Die Wohnungswirtschaft wäre zu einer Regelung mit einer Reinvestitionsklausel bereit gewesen. Sie öffnen statt dessen das Tor dafür, daß Millionen DM dringend benötigten Kapitals nicht mehr in den Wohnungsneubau fließen — und das ohne Not.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Wenn Sie nicht dafür sorgen — denn schließlich haben Sie im Moment noch die Regierungsverantwortung —, daß bedeutend mehr Wohnungen mit bezahlbaren Mieten geschaffen werden, und es weiterhin versäumen, das Mietrecht sozial verträglicher zu gestalten, haben Sie die innenpolitischen Auswirkungen zu verantworten. Ich kann mir vorstellen, sie werden in einigen Jahren einiges von dem, was wir in diesen Tagen erlebt haben, in den Schatten stellen.

(Beifall bei der SPD)

Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schützt den Mieter nicht vor den explodierenden Mieten. Er verhindert die Schaffung der notwendigen Transparenz im Recht und der Mietengerechtigkeit und kompliziert sogar die Anwendung des Mietrechts. Er ist halbherzig, kurzatmig und, wie es Kollegen schon vorgetragen haben, von sozialer Kälte geprägt. Dieser Gesetzentwurf trägt eindeutig den Stempel der Immobilienpartei F.D.P.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN — Buh-Rufe von der F.D.P.)

Ich halte es für eine Schande, daß die CDU/CSU in diesem Haus der F.D.P. dieses wichtige Feld nahezu kampflos überlassen hat, die Chance eines mietenpolitischen Konsenses über die Fraktionsgrenzen hinweg überheblich ausgeschlagen hat und daß diese Mißgeburt von einem Gesetzentwurf jetzt von Ihnen mitgetragen wird bis auf einige, von denen ich weiß: Sie werden in bestimmten Punkten nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, Sie werden sich dafür vor den 50 Millionen Mietern in unserem Land verantworten müssen, die in Mietwohnungen leben.
Ich danke für die teils größere, teils geringere Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216333800
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich schließe die Aussprache.



Vizepräsident Helmuth Becker
Ich möchte zum Verfahren etwas sagen: Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Mietrechtänderungsgesetzes auf den Drucksachen 12/3254 und 12/5110. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5151 vor, über den wir zuerst abstimmen. Die Fraktion der SPD verlangt getrennte Abstimmung.
Wir stimmen zunächst über Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa des Änderungsantrags auf Drucksache 12/5151 ab. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich kann, sobald die Urnen besetzt sind, die Abstimmung eröffnen. Ich bitte die Schriftführer, für die zweite namentliche Abstimmung gleich wieder zur Verfügung zu stehen. Die erste namentliche Abstimmung ist eröffnet. —
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich frage: Ist noch ein Mitglied des Bundestages im Hause, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Ich stelle fest: Das ist nicht der Fall. Dann ist die erste namentliche Abstimmung, die jetzt zu Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa des Änderungsantrages auf Drucksache 12/5151 stattgefunden hat, beendet. *)
Ich bitte die Schriftführer, mit der Stimmauszählung zu beginnen.
Wir wollen möglichst schnell die zweite namentliche Abstimmung durchführen. Wir stimmen jetzt über Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe bb bis Nr. 2 des Änderungsantrages der SPD auf Drucksache 12/5151 ab. Die Abstimmung ist eröffnet. —
Meine Damen und Herren, ich mache noch einmal darauf aufmerksam: Wenn die Stimmen der beiden namentlichen Abstimmungen ausgezählt sind, wird über den Gesetzentwurf abgestimmt, wenn auch nicht namentlich. —
Meine Damen und Herren, ich frage: Haben alle Mitglieder des Hauses an der namentlichen Abstimmung teilgenommen oder teilnehmen können? — Ich höre und sehe keine Widerspruch. Dann ist auch die zweite namentliche Abstimmung abgeschlossen. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. **)
Wir fahren in der Tagesordnung fort, wie vorhin angekündigt.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/5110 empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Wiederherstellung eines sozialen Mietrechts auf Drucksache 12/3013 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen den Rest des Hauses ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Mietrechts und zur
*) Ergebnis Seite 14042D **) Ergebnis Seite 14044 C
Begrenzung des Mietanstiegs sowie zur Regelung weiterer wohnungsbaurechtlicher Vorschriften auf den Drucksachen 12/4276 und 12/5121. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den gleichen Stimmverhältnissen wie zuvor ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen! — Stimmenthaltungen? — Auch diese Abstimmung hat die gleichen Mehrheitsverhältnisse erbracht wie eben. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Meine Damen und Herren, wir benötigen jetzt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, um zur Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf zu kommen. Ich muß einen Augenblick warten. —
Meine Damen und Herren, ich werde von der SPD-Fraktion darauf aufmerksam gemacht, daß bei der letzten Abstimmung über die Drucksachen 12/7276 und 12/5121 ein Irrtum unterlaufen ist. Die SPD-Fraktion wollte diesen gesetzlichen Bestimmungen zustimmen. Der Irrtum ist durch eine mißverständliche Interpretation dessen unterlaufen, worüber wir jetzt abstimmen.
Nun bitte ich, dies zu Protokoll zu nehmen. Dann brauchen wir die Abstimmung nicht zu wiederholen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich darf in diesem Zusammenhang sagen: Auch beide Gruppen verhalten sich in diesem Fall wie die SPD-Fraktion; auch sie stimmen zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Dank an die Schriftführer. Beide Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen liegen vor.
Bei der ersten Abstimmung über Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa des Änderungsantrages auf Drucksache 12/5151 haben 506 Kolleginnen und Kollegen abgestimmt. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt: 186. Mit Nein haben gestimmt: 318. Enthaltungen hat es 2 gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 505; davon:
ja: 186
nein: 317
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Dr. Faltlhauser, Kurt Frankenhauser, Herbert Klein (München), Hans Dr. Riedl (München), Erich
SPD
Adler, Brigitte
Bachmaier, Hermann Bartsch, Holger
Becker (Nienberge), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Bock, Thea
Dr. Böhme (Unna), Ulrich Brandt-Elsweier, Anni Dr. Brecht, Eberhard
Büchner (Speyer), Peter Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Conradi, Peter



Vizepräsident Helmuth Becker Dr. Däubler-Gmelin, Herta Daubertshäuser, Klaus
Dr. Diederich (Berlin), Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Ebert, Eike
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke (Bonn), Horst
Eich, Ludwig
Dr. Elmer, Konrad Esters, Helmut
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Fischer (Gräfenhainichen), Evelin
Fischer (Homburg), Lothar Fuchs (Köln), Anke Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gilges, Konrad
Gleicke, Iris
Graf, Günter
Großmann, Achim Haack (Extertal),
Karl-Hermann Habermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Heyenn, Günther
Hiller (Lübeck), Reinhold Hilsberg, Stephan
Dr. Holtz, Uwe Horn, Erwin
Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich Jaunich, Horst
Dr. Jens, Uwe
Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kastning, Ernst Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Kolbe, Regina
Kolbow, Walter Koltzsch, Rolf
Kubatschka, Horst Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Lohmann (Witten), Klaus
Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert
Dr. Mertens (Bottrop), Franz-Josef
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Völklingen), Jutta
Dr. Niehuis, Edith Dr. Niese, Rolf
Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan
Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga
Dr. Penner, Willfried Dr. Pfaff, Martin
Dr. Pick, Eckhart von Renesse, Margot Rennebach, Renate Schanz, Dieter Scheffler, Siegfried Schily, Otto
Schluckebier, Günter
Schmidt (Aachen), Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen
Dr. Schnell, Emil
Dr. Schöfberger, Rudolf Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Schulte (Hameln), Brigitte
Dr. Schuster, R. Werner Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, Hartmut
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, Margitta Dr. Thalheim, Gerald Titze-Stecher, Uta
Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
Dr. Vogel, Hans-Jochen Wagner, Hans Georg
Wallow, Hans
Waltemathe, Ernst Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang
Weiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter
Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, Axel
Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge
Dr. Wetzel, Margrit Wiefelspütz, Dieter Wimmer (Neuötting),
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
PDS/Linke Liste
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor Henn, Bernd
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg
Dr. Schumann (Kroppenstedt), Fritz
Dr. Seifert, Ilja
Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Schulz (Berlin), Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Wollenberger, Vera
Nein
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm (Melsungen), Wilfried Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Bohl, Friedrich
Bohlsen, Wilfried Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler (Bruchsal), Klaus Büttner (Schönebeck),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens (Emstek), Manfred Carstensen (Nordstrand),
Peter Harry
Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eymer, Anke
Falk, Ilse
Fockenberg, Winfried Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim Ganz (St. Wendel), Johannes Geiger, Michaela
Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geis, Norbert
Gibtner, Horst
Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim Grochtmann, Elisabeth
Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther (Duisburg), Horst Harries, Klaus
Haschke (Großhennersdorf),
Gottfried
Haschke (Jena-Ost), Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser (Esslingen), Otto Hauser (Rednitzhembach),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen
Heise, Manfred
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert
Jäger, Claus
Jaffke, Susanne Dr. Jahn (Münster),
Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer
Dr. Jüttner, Egon
Jung (Limburg), Michael
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard
Kauder, Volker Kiechle, Ignaz Kittelmann, Peter Klein (Bremen), Günter Klinkert, Ulrich
Köhler (Hainspitz),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler (Wolfsburg),
Volkmar
Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Dr. Krause (Börgerende),
Günther
Krause (Dessau), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Lamp, Helmut Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl-Josef
Lehne, Klaus-Heiner Limbach, Editha
Link (Diepholz), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold (Offenbach),
Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann (Lüdenscheid),
Wolfgang
Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Männle, Ursula Magin, Theo
Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin
Marten, Günter Meckelburg, Wolfgang



Vizepräsident Helmuth Becker
Meinl, Rudolf
Dr. Merkel, Angela Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup,
Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf
Dr. Möller, Franz
Molnar, Thomas
Müller (Kirchheim), Elmar Müller (Wadern), Hans-Werner
Nelle, Engelbert
Neumann (Bremen), Bernd Niedenthal, Erhard
Nitsch, Johannes
Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf
Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Otto (Erfurt), Norbert Dr. Päselt, Gerhard Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Protzner, Bernd
Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm
Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika
Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert Riegert, Klaus
Ringkamp, Werner Rönsch (Wiesbaden), Hannelore
Roitzsch (Quickborn), Ingrid Romer, Franz
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth (Gießen), Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Dr. Rüttgers, Jürgen
Sauer (Salzgitter), Helmut Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schartz (Trier), Günther Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidbauer, Bernd Schmidt (Fürth), Christian
Dr. Schmidt (Halsbrücke), Joachim
Schmidt (Mülheim), Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-
Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Dr. Schreiber, Harald Schulhoff, Wolfgang

(Schwäbisch Gmünd)

Schulz (Leipzig), Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Sikora, Jürgen
Skowron, Werner H. Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika
Dr. Stercken, Hans Dr. Frhr. von Stetten, Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Tillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, Klaus
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha Vogel (Ennepetal), Friedrich Vogt (Düren), Wolfgang
Dr. Voigt (Northeim),
Hans-Peter
Dr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, Horst
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Werner (Ulm), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek (Auerbach), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann (Tännesberg),
Simon
Wonneberger, Michael Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela Beckmann, Klaus Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),
Dieter-Julius
Eimer (Fürth), Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst
Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Gallus, Georg
Gries, Ekkehard
Grüner, Martin
Günther (Plauen), Joachim
Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter Hansen, Dirk
Heinrich, Ulrich
Dr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Homburger, Birgit Dr. Hoth, Sigrid
Irmer, Ulrich
Kleinert (Hannover), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lüder, Wolfgang Lühr, Uwe
Dr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Otto (Frankfurt),
Hans-Joachim Paintner, Johann Peters, Lisa
Dr. Pohl, Eva
Richter (Bremerhaven), Manfred
Rind, Hermann Dr. Röhl, Klaus
Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno
Dr. Schmieder, Jürgen
Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard Schuster, Hans
Sehn, Marita
Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto
Dr. Starnick, Jürgen
Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter
Timm, Jürgen Türk, Jürgen Walz, Ingrid Dr. Weng (Gerlingen),
Wolfgang
Wolfgramm (Göttingen),
Torsten
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
Fraktionslos
Dr. Krause (Bonese), Rudolf Karl
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Martin
Fraktionslos Lowack, Ortwin
Damit ist der erste Antrag abgelehnt.
Es folgt nun das Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung über Nr. 1 Buchstabe a Doppelbuchstabe bb bis Nr. 2 des Änderungsantrages auf Drucksache 12/5151 zum zweiten Antrag. Abgegebene Stimmen: 504. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt: 182. Mit Nein haben gestimmt: 320. Stimmenthaltungen: 2.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 504; davon:
ja: 182
nein: 320
enthalten: 2
Ja
SPD
Adler, Brigitte
Bachmaier, Hermann Bartsch, Holger
Becker (Nienberge), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Bock, Thea
Dr. Böhme (Unna), Ulrich Brandt-Elsweier, Anni Dr. Brecht, Eberhard Büchner (Speyer), Peter Büttner (Ingolstadt), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Conradi, Peter
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Daubertshäuser, Klaus
Dr. Diederich (Berlin), Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese
Dreßler, Rudolf Ebert, Eike
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke (Bonn), Horst Eich, Ludwig
Dr. Elmer, Konrad Esters, Helmut
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Fischer (Gräfenhainichen), Evelin
Fischer (Homburg), Lothar Fuchs (Köln), Anke Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gilges, Konrad
Gleicke, Iris
Graf, Günter
Großmann, Achim Haack (Extertal),
Karl-Hermann Habermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Heyenn, Günther
Hiller (Lübeck), Reinhold Hilsberg, Stephan
Dr. Holtz, Uwe
Horn, Erwin
Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich



Vizepräsident Helmuth Becker
Jaunich, Horst
Dr. Jens, Uwe
Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kastning, Ernst
Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Kolbe, Regina
Kolbow, Walter Koltzsch, Rolf
Kubatschka, Horst Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Lohmann (Witten), Klaus
Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert
Dr. Mertens (Bottrop), Franz-Josef
Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Völklingen), Jutta
Dr. Niehuis, Edith Dr. Niese, Rolf
Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Ostertag, Adolf
Dr. Otto, Helga
Dr. Penner, Willfried Dr. Pfaff, Martin
Dr. Pick, Eckhart von Renesse, Margot Rennebach, Renate Schanz, Dieter
Scheffler, Siegfried Schily, Otto
Schluckebier, Günter Schmidt (Aachen), Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen Dr. Schnell, Emil
Dr. Schöfberger, Rudolf Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Schulte (Hameln), Brigitte
Dr. Schuster, R. Werner Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
Dr. Soell, Hartmut
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, Margitta Dr. Thalheim, Gerald Titze-Stecher, Uta
Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
Dr. Vogel, Hans-Jochen Wagner, Hans Georg
Wallow, Hans
Waltemathe, Ernst Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara
Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, Axel
Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge
Dr. Wetzel, Margrit Wiefelspütz, Dieter Wimmer (Neuötting),
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
PDS/Linke Liste
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth
Dr. Gysi, Gregor Henn, Bernd
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg Dr. Schumann (Kroppenstedt),
Fritz
Dr. Seifert, Ilja
Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Schulz (Berlin), Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Wollenberger, Vera
Nein
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm (Melsungen), Wilfried Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Bohl, Friedrich
Bohlsen, Wilfried Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler (Bruchsal), Klaus Büttner (Schönebeck),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens (Emstek), Manfred Carstensen (Nordstrand),
Peter Harry
Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate
Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eymer, Anke
Falk, Ilse
Dr. Faltlhauser, Kurt Fockenberg, Winfried Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim Ganz (St. Wendel), Johannes Geiger, Michaela
Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Geis, Norbert
Gibtner, Horst
Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang Gres, Joachim
Grochtmann, Elisabeth Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther (Duisburg), Horst Harries, Klaus
Haschke (Großhennersdorf), Gottfried
Haschke (Jena-Ost), Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser (Esslingen), Otto Hauser (Rednitzhembach), Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter
Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert
Jäger, Claus
Jaffke, Susanne
Dr. Jahn (Münster),
Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Dr. Jobst, Dionys
Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, Egon
Jung (Limburg), Michael
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
Kiechle, Ignaz
Kittelmann, Peter Klein (Bremen), Günter Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler (Hainspitz),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler (Wolfsburg), Volkmar
Kolbe, Manfred
Kors, Eva-Maria
Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Dr. Krause (Börgerende), Günther
Krause (Dessau), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Lamp, Helmut
Dr. Laufs, Paul
Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Limbach, Editha
Link (Diepholz), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold (Offenbach), Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann (Lüdenscheid), Wolfgang
Louven, Julius
Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Männle, Ursula
Magin, Theo
Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Marten, Günter
Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst Dr. Merkel, Angela Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup,
Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf Dr. Möller, Franz Molnar, Thomas
Müller (Kirchheim), Elmar Müller (Wadern), Hans-Werner
Nelle, Engelbert Neumann (Bremen), Bernd Niedenthal, Erhard
Nitsch, Johannes Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Otto (Erfurt), Norbert Dr. Päselt, Gerhard Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Protzner, Bernd
Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf



Vizepräsident Helmuth Becker
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm
Regenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika
Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl (München), Erich Riegert, Klaus
Ringkamp, Werner Rönsch (Wiesbaden), Hannelore
Roitzsch (Quickborn), Ingrid Romer, Franz-Xaver
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth (Gießen), Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Dr. Rüttgers, Jürgen
Sauer (Salzgitter), Helmut Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schartz (Trier), Günther Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidbauer, Bernd Schmidt (Fürth), Christian
Dr. Schmidt (Halsbrücke), Joachim
Schmidt (Mülheim), Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),
Hans Peter
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Dr. Schreiber, Harald Schulhoff, Wolfgang

(Schwäbisch Gmünd)

Schulz (Leipzig), Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Sikora, Jürgen
Skowron, Werner H. Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika
Dr. Stercken, Hans Dr. Frhr. von Stetten, Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Tillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, Klaus
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha Vogel (Ennepetal), Friedrich Vogt (Düren), Wolfgang
Dr. Voigt (Northeim),
Hans-Peter
Dr. Vondran, Ruprecht Dr. Waffenschmidt, Horst
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Werner (Ulm), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek (Auerbach), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann (Tännesberg),
Simon
Wonneberger, Michael Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela
Beckmann, Klaus Bredehorn, Günther Cronenberg (Arnsberg),
Dieter-Julius
Eimer (Fürth), Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst
Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Gallus, Georg
Gries, Ekkehard
Grüner, Martin
Günther (Plauen), Joachim Hackel, Heinz-Dieter Hansen, Dirk
Heinrich, Ulrich
Dr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Homburger, Birgit Dr. Hoth, Sigrid
Irmer, Ulrich
Kleinert (Hannover), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lüder, Wolfgang
Lühr, Uwe
Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Otto (Frankfurt),
Hans-Joachim
Paintner, Johann
Peters, Lisa
Dr. Pohl, Eva
Richter (Bremerhaven), Manfred
Rind, Hermann
Dr. Röhl, Klaus Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmieder, Jürgen
Dr. Schnittler, Christoph Schuster, Hans
Sehn, Marita
Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, Jürgen Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter Timm, Jürgen
Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Dr. Weng (Gerlingen), Wolfgang
Wolfgramm (Göttingen), Torsten
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
Fraktionslos
Dr. Krause (Bonese), Rudolf Karl
Enthalten
F.D.P.
Dr. Guttmacher, Karlheinz
Fraktionslos Lowack, Ortwin
Auch dieser Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit kommen wir jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist somit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und gegen die Stimmen der SPD-Fraktion sowie der beiden Gruppen in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltung? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Stimmenverhältnissen wie zuvor in dritter Beratung angenommen. Damit sind die Beratungen in bezug auf das Mietrecht abgeschlossen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wußte die SPD denn jetzt, worüber sie abstimmt?)

— Meine Damen und Herren, jeder kann sich einmal irren.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde
— Drucksache 12/3477 — (Erste Beratung 115. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß)

— Drucksache 12/5126 — Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Gibtner Dr. Margrit Wetzel
Dr. Klaus Röhl
Dr. Klaus-Dieter Feige



Vizepräsident Helmuth Becker
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Rücknahme des Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin-Oebisfelde durch die Bundesregierung
— Drucksachen 12/4480, 12/5126 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Gibtner Dr. Margrit Wetzel
Dr. Klaus Röhl
Dr. Klaus-Dieter Feige
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte gern auch die Aussprache eröffnen, aber dafür noch darum bitten, daß hier die notwendige Ruhe einkehrt. — Meine Damen und Herren, ich eröffne die Beratungen und erteile zuerst unserem Kollegen Horst Gibtner das Wort.

Horst Gibtner (CDU):
Rede ID: ID1216333900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verkehrswege in den neuen Bundesländern befinden sich nach jahrzehntelanger Vernachlässigung zum größten Teil in einem desolaten Zustand. Sie sind den heutigen Anforderungen des nach der Wiedervereinigung erheblich gestiegenen Verkehrs in keiner Weise gewachsen. Den künftigen Anforderungen eines europaweit anwachsenden Verkehrsaufkommens und den europäischen Standards entsprechen sie noch weit weniger.
Über die negativen Wirkungen dieses Zustands auf die Entwicklung der Wirtschaft in den jungen Bundesländern, die sich wegen der Eblasten sozialistischer Planwirtschaft und der tiefen Strukturkrise insgesamt in einer Ausnahmesituation befindet, gibt es wohl keinerlei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Fraktionen in diesem Hause.
Es kann auch keine Meinungsverschiedenheiten darüber geben, daß hier schnellstens, d. h. außergewöhnlich schnell, Abhilfe geschaffen werden muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Mit höchster Priorität sind die Ost-West-Verbindungen herzurichten, die durch die innerdeutsche Grenze unterbrochen bzw. völlig vernachlässigt waren. Das Lückenschlußprogramm der beiden deutschen Bahnen und die Vekehrsprojekte „Deutsche Einheit" bedürfen der uneingeschränkten Unterstützung des Parlaments.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eines der herausragenden Verkehrsbauvorhaben ist in diesem Zusammenhang das Projekt Nummer 4, die Hochgeschwindigkeitseisenbahnstrecke Hannover-Berlin. Schnellstens muß die Bundeshauptstadt, schnellstens muß der Ballungsraum Berlin, ein Schwerpunkt des Eisenbahnverkehrs in Europa, an
das attraktive westeuropäische Schienennetz angeschlossen werden.
Die jetzige Strecke Hannover-Berlin über Oebisfelde, eine vernachlässigte eingleisige Strecke, die für eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h — und dies auch nur abschnittsweise — zugelassen ist, kann diesen Anspruch keinesfalls erfüllen. Deshalb wurde der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke noch vor der Wende in der damaligen DDR von beiden deutschen Bahnen vorbereitet und nach der Wende zwischen den beiden deutschen Verkehrsministern vereinbart.
Die schon vor der Wiedervereinigung abschätzbare Dringlichkeit, Herr Kollege Müller, die inzwischen nur noch gestiegen ist, führte zu der Vereinbarung, die Strecke im Jahr 1997 in Betrieb zu nehmen. Der Teilabschnitt Stendal bereitet in diesem Zusammenhang außerordentliche Probleme. Er kann, wenn nicht außergewöhnliche Maßnahmen beschlossen werden, die Fertigstellung der Gesamtstrecke um Jahre verzögern. Diese Tatsache wird sowohl von der Bundesregierung als auch von meiner Fraktion vor dem Hintergrund der insgesamt zu beseitigenden Ausnahmesituation als Notsituation bewertet.
Meine Damen und Herren, eine denkbare Strekkenführung durch den Eisenbahnknoten Stendal, für welche sich offizielle Vertreter der Stadt Stendal unverändert einsetzen, wäre — neben anderen, aus unserer Sicht schwerwiegenden Nachteilen — weder planerisch, noch bautechnisch, noch bau- und eisenbahntechnologisch im Gleichschritt mit den übrigen Bauabschnitten bis 1997 fertigzustellen.

(Zuruf von der SPD: Ist doch nicht wahr!)

Das heißt, eine Entscheidung für eine Durchfahrung der Stadt würde alle Chancen zunichte machen, der Notsituation, wie ich sie vorhin bezeichnet habe, Herr zu werden.
Dies muß ich natürlich auch begründen: Vorangestellt werden muß die Feststellung, daß weder die heutige Gleisplangestaltung noch deren Leistungsfähigkeit die Aufnahme des zusätzlichen Hochgeschwindigkeitsverkehrs gestattet. Das wurde durch Voruntersuchungen der Bahn sowie unabhängige betriebstechnologische Untersuchungen hinreichend nachgewiesen. Zu den Einzelheiten: Siehe Gesetzentwurf.
Fazit: Im Bereich Stendal werden umfangreiche Neubau- bzw. Umbaumaßnahmen notwendig, ebenso wie im Verlauf der gesamten übrigen Strecke die Hochgeschwindigkeitsgleise neben der Stammstrecke zusätzlich errichtet werden müßten.
Das würde bei einer denkbaren Führung der Hochgeschwindigkeitsgleise durch Stadt und Bahnhof Stendal bedeuten: Das westliche und das östliche Vorfeld des Stendaler Bahnhofs müßten in einer Länge von insgesamt 14 km wegen der Ein- und Ausfädelung von insgesamt sieben Strecken völlig neu gestaltet werden.

(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste])

Im Bahnsteigbereich müßten für die Hochgeschwindigkeitsgleise entweder mehrere kilometer-



Horst Gibtner
lange Tunnel gebaut werden — zwei Varianten sind untersucht worden — oder eine horizontale Erweiterung des Bahnhofsgeländes in südlicher Richtung vorgenommen werden.
Als vierte Variante wurde darüber hinaus eine aufgeständerte Trassierung der Hochgeschwindigkeitsstrecke geprüft und aus städtebaulicher Sicht wie aus Kostengründen verworfen.
Allein aus dieser verbalen Kurzbeschreibung des Aufwandes, der für eine Durchfahrung des Bahnhofs Stendal entstünde, wird deutlich, daß es keinen Weg zur Fertigstellung dieses Abschnitts bis 1997 und selbst bis zum Jahr 2000 gäbe.
Darüber hinaus sind alle Varianten einer Stadtdurchfahrung folgende Nachteile gemeinsam, welche bei einer Südumfahrung allerdings ausgeschlossen sind:
Erstens: Die erhebliche Beeinträchtigung des Eisenbahnbetriebs während der Bauzeit.
Zweitens: Die erhebliche Beeinträchtigung der Anwohner und des Stadtverkehrs während der Bauzeit.
Drittens: Unvermeidbare Eingriffe in die Stadtstruktur einschließlich Abriß von Gebäuden.
Viertens: Im Fall einer Tunnellösung deren ökologische Auswirkungen sowie die höchsten Baukosten, die man sich denken kann.
Fünftens: Bleibende Lärmbelastung der Anwohner durch eine erheblich wachsende Anzahl von durchfahrenden Zügen.
Sechstens: Selbstverständlich ein Attraktivitätsverlust der Hochgeschwindigkeitsstrecke, die ja künftig Bestandteil der europäischen West-Ost-Magistrale Paris-Berlin-Warschau-Moskau sein soll,

(Zuruf des Abg. Albrecht Müller [Pleisweiler] [SPD])

da die Geschwindigkeit bei der Durchfahrung Stendals — das hören Sie sich bitte an, Herr Müller — auf 120 km/h reduziert werden müßte oder ansonsten unvertretbare Bauaufwendungen entstehen würden.
Alle diese Nachteile besitzt die südliche Umfahrung des Stadtgebiets nicht, und sie verursacht nur etwa ein Drittel der Kosten. Allerdings — dies gebe ich natürlich zu — erfordert die Erschließung dieser neuen, ein Kilometer südlich der städtischen Bebauung parallel mit der neuen B 188 verlaufenden Verkehrstrasse zusätzlichen Landschaftsverbrauch, der nur teilweise im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen ausgeglichen werden kann.
Die Inanspruchnahme neuer Flächen und die daraus ableitbare lange Dauer eines üblichen Planungsverfahrens mit der Folge eines späteren Baubeginns ist der einzige Grund, der auch bei Realisierung einer Südumfahrung die Fertigstellung des Abschnitts Stendal bis 1997 verhindern würde. Jedoch kann in diesem Fall nach Auffassung der Bundesregierung und auch der Regierungskoalition im Parlament die Notsituation mit dem vorliegenden Investitionsmaßnahmegesetz behoben werden. Der Bundesrat hat bereits zugestimmt. Der federführende Ausschuß und die mitberatenden Ausschüsse des Deutschen Bundestages haben sich mehrheitlich für das Gesetz ausgesprochen, darunter der Verkehrsausschuß mit 19:8 Stimmen.
Meine Damen und Herren, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben sich mit der Materie sehr eingehend befaßt. Die Berichterstatter führten zahlreiche Gespräche mt Fachexperten, erhielten zusätzlich zu den Anlagen und zum Erläuterungsbericht des Gesetzes alle angeforderten Unterlagen und Auskünfte. Am 7. Dezember fand eine Ortsbesichtigung in Stendal und Umgebung statt, bei der die Vertreter öffentlicher Belange wiederum angehört wurden.
Am 10. Februar wurde eine öffentliche Anhörung zu dem Gesetzentwurf durchgeführt, zu deren Vorbereitung sich Sachverständige schriftlich geäußert hatten. Dazu zählte auch der Bürgermeister von Stendal, der Einwendungen gegen die Südumfahrung erhebt. Aber die Stadt Stendal wurde bei dieser Gelegenheit allein durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zum drittenmal angehört. Trotz dieser intensiven Einbeziehung der Vertreter der Stadt Stendal konnte deren Zustimmung nicht erwirkt werden. Übrigens ist durch die ohnehin vorgesehenen Verknüpfungen und den ICE-Halt im Zwei-Stunden-Takt die Stadt bestens an den attraktiven Schienenverkehr angebunden. Die Abwägung der Einwendungen der Stadt gegenüber den von mir soeben beschriebenen Merkmalen der Trassenvariante Südumfahrung ergab in allen beteiligten Ausschüssen das mehrheitliche Votum pro Südumfahrung.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Mit Einlassung im Rechtsausschuß!)

Ich habe dabei leider auch feststellen müssen, daß die Präferierung einer Stadtdurchfahrung seitens der Stadtverwaltung und einiger Stadtverordneter auf Argumenten beruht, die nicht ortsansässige Berater und Einzelpersonen zuliefern. Die Bürger der Stadt, welche bei Realisierung der von uns abgelehnten Durchfahrung betroffen wären, sind von ihren Stadtvätern gar nicht gefragt worden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

In Richtung Südumfahrung ist sogar noch eine weitere Ausdehnung der Stadt insbesondere mit gewerblicher Nutzung möglich.
Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, daß meine Ausführungen deutlich machen, wie wir Abgeordneten in die Lage versetzt wurden und unseren Teil dazu beigetragen haben, im Laufe der parlamentarischen Behandlung des Gesetzentwurfs und jetzt in der abschließenden Lesung sachkundig zu entscheiden. Das gilt auch letztlich für die entscheidende Frage, ob denn im Ausnahmefall ein Investitionsmaßnahmegesetz, das heißt eine Bauzulassung durch den Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig sei und ob der Plan für die Südumfahrung Stendal im Verlauf der Eisenbahnstrecke eine solche Verfahrensweise rechtfertige.
Ich sehe vor mir das rote Licht. Aber das reizt mich
natürlich zum Angriff. Dem Eisenbahner bedeutet es



Horst Gibtner
aber: Halt. Ich komme gleich dazu. Ich sehe es jetzt als Vorsignal an.

(Heiterkeit)

Meine Damen und Herren, ich gehöre zu der 19:8-Mehrheit des Verkehrsausschusses, die bezüglich des Streckenabschnitts bei Stendal eine Notsituation festgestellt hat. Ich gehöre zu der gleichen Mehrheit, die durch dieses Gesetz einen Zeitgewinn gegenüber herkömmlicher Planung von zwei bis drei Jahren und damit die Beseitigung besagter Notsituation erwartet. Fast ausnahmslos haben uns die Sachverständigen bestätigt, daß unter den genannten Bedingungen ein Formenwechsel zulässig sei, das heißt, die Legislative Aufgaben, die sonst der Exekutive zukommen, an sich ziehen kann. Und alle Sachverständigen haben uns, den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dafür die Einschätzungsprärogative zugestanden.
Meine Damen und Herren, also entscheiden wir! Ich bin der Überzeugung, daß wir weder gegen das Grundgesetz verstoßen noch die Rechte von Bürgern und Kommunen verletzen. Aber wir nützen der zügigen Fertigstellung der Hochgeschwindigkeitsstrecke und damit insgesamt dem wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216334000
Herr Kollege Gibtner, wenn Sie bei diesem Rotsignal so weitergefahren wären, wären jetzt aber schon mehrere Züge zusammengestoßen.

(Heiterkeit)

Nun hat unsere Kollegin Dr. Margrit Wetzel das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216334100
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland soll das Parlament die Bauzulassung für ein kleines, in seiner Streckenführung und Abschnittsbildung umstrittenes Teilstück eines Verkehrsweges per Gesetz beschließen

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein wichtiges!)

und damit einen Planfeststellungsbeschluß ersetzen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das nennt man Fortschritt!)

Rechtsstaatlich vorgesehene Beteiligungsmöglichkeiten in Verwaltungsverfahren werden dadurch bewußt ausgehebelt, die funktionelle Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive wird aufgehoben. Wir haben eine Verwaltungsmaßnahme in Gestalt eines vier Kilo schweren Gesetzes vorliegen.
Rechtfertigung des verfassungsrechtlich höchst umstrittenen Investitionsmaßnahmegesetzes ist die vermeintliche Beseitigung einer Notsituation in den neuen Ländern. Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse soll durch den Verzicht auf wirtschaftliche Entwicklung in der Region und der Stadt Stendal zugunsten größerer Wachstumschancen im Ballungsraum Berlin beschleunigt werden. Das kann doch
wohl mit einheitlichen Lebensverhältnissen nicht gemeint sein.
In den Jahren 1991 und 1992 wurden in den jungen Bundesländern allein 23 Milliarden DM in Verkehrswege investiert, die ohne Investitionsmaßnahmegesetze Arbeitsplätze geschaffen und die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum in strukturschwachen Regionen gebildet haben.
Die Stadt Stendal hat uns erläutert, wie ihre wirtschaftliche und städtbauliche Entwicklung durch das starrsinnige Festhalten an einer die Stadt umgehenden alten SED-Trassenplanung be- und gehindert wird. Der durch das Gesetz durch den Verzicht auf Planungsreife und auf die grundrechtlich gebotene Abwägung der öffentlichen und privaten Belange Betroffener bei Stendal vermeintlich zu erzielende Beschleunigungseffekt, vielleicht damit die Entscheidung für eine falsche Trasse — wir wissen es nicht —, wird durch die bereits verlorene Zeit, durch die zu erwartenden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, durch Streckenengpässe in Berlin, Berlin-Spandau, durch die von der EG zu erwartende Intervention wegen ihrer Schutzstation für Großtrappen im Land Brandenburg konterkariert.
Unsere Beratungen haben bestätigt, daß das Parlament mit seinen Gremien zur Verwaltung ungeeignet ist. Die heute vorgesehene Beratungszeit von 30 Minuten in den späten Abendstunden ist nur ein letzter Beleg dafür.
Der federführende Verkehrsausschuß beschloß im November einstimmig, eine öffentliche Anhörung durchzuführen und, da wir uns über die Verfahrensweise und Behandlung dieses wahrhaft ungewöhnlichen Gesetzes einigen mußten — Zitat —,
das weitere Verfahren ... in einem Gespräch der Obleute, Vertreter der Gruppen und Berichterstatter festzulegen.
Dies geschah am 23. November.
Erstens sollte eine Reise nach Stendal den Berichterstattern minimale Ortskenntnisse verschaffen. Zweitens sollte im Februar 1993 die öffentliche Anhörung zur Klärung verfassungsrechtlicher und verfahrensrechtlicher Fragen sowie zur Qualität der Vorarbeiten erfolgen.

(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Beides ist erfolgt!)

— Eben, aber der dritte Punkt ist wichtig. — Drittens sollten nach Auswertung der Anhörung gemeinsam fraktionsübergreifend Entscheidungen über den notwendigen Umfang der Prüfung, der vorgelegten und der darüber hinaus vorzulegenden Verwaltungsunterlagen sowie über das Abwägungsverfahren getroffen werden.

(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Auch das ist geschehen!)

Wir gingen davon aus, daß wir in erheblichem Umfang fachlicher Beratung bedurften und daß voraussichtlich mehrere Anhörungen vor Ort und einige Ortsbesichtigungen notwendig würden. Auf Grund der knappen Personalkapazitäten, der Kosten und des rationellen Zeiteinsatzes der Abgeordneten sollte dies jeweils fraktionsübergreifend durchgeführt werden.



Dr. Margrit Wetzel
Die Regierung hatte uns dazu jegliche Unterstützung zugesagt.
Etliche Sachverständige erhoben im Rahmen der zweifellos erfolgten Anhörung gravierende verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Maßnahmegesetz

(Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)

und äußerten begründete Zweifel an der Qualität der Vorarbeiten bzw. der vorangegangenen Verfahrensabfolge. Sie wiesen einvernehmlich darauf hin, daß der Gesetzgeber zwar selbst über den Fortgang seines Verfahrens zu befinden habe,

(Zuruf von der CDU/CSU: Na bitte!)

aber im Falle der Fortsetzung in jedem Fall die grundrechtlich gebotene Abwägung der öffentlichen und privaten Belange selbst vorzunehmen habe.
Dies hätte, insbesondere im Hinblick auf die Einwendungen der Stadt Stendal, mindestens einer sachverständigen Prüfung aller Unterlagen des Raumordnungsverfahrens, aller gegen den Plan vorgebrachten Einwendungen sowie gegebenenfalls darüber hinausgehender Bedenken der Fraktionen bedurft.
Ende März 1993 wurde ich als SPD-Berichterstatterin mündlich darüber informiert, daß die Mehrheitsfraktionen das Maßnahmengesetz für verfassungskonform hielten und in eine vertiefende Prüfung der Unterlagen deshalb, abweichend von der Vereinbarung über das weitere Verfahren, nicht einsteigen wollten.

(Elke Ferner [SPD]: Hört! Hört!)

Der notwendigen Abwägung sei mit einem formalen Nachvollziehen der Vorschläge der Planungsgesellschaft Genüge getan; man werde zugleich mit der Auswertung der Anhörung zu den Verfassungsfragen abschließend über das Gesetz abstimmen. Als Zeitbedarf für diese abschließende Beratung wurde eine Stunde am 21. April 1993 morgens von 9 bis 10 Uhr angesetzt. Das ist für mich bloße Arroganz der Macht, das ist Handlangerei der Regierung.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich denke, wir sind auf einem ganz gefährlichen Weg des Abbaus von Demokratie und Parlamentarismus.
Obgleich das Justizministerium mit Schreiben vom 24. März 1993 darauf hingewiesen hatte, daß
die sonst im Verwaltungsverfahren der zuständigen Behörde obliegende Abwägung zwischen den Belangen der Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an der Durchführung des Vorhabens vom Gesetzgeber vorgenommen werden muß,
da „diese Abwägung ... grundrechtlich geboten" sei, und das BMJ das Verkehrsministerium bat,
mit allen Kräften auf ein entsprechendes Verfahren im Ausschuß hinzuwirken,
wurden nicht einmal die Berichterstatter über dieses
Schreiben informiert. Ich fand es mit größtem Erstaunen als Anlage 6 zum Kurzprotokoll der abschließenden Sitzung des Verkehrsausschusses.

(Zuruf von der SPD: Sehr merkwürdig!)

Die Oppositionsfraktionen wurden damit auf eine unglaubliche Weise in ihrem berechtigten Anspruch, eine tatsächliche Prüfung und darauf aufbauend eine Abwägung der Argumente vorzunehmen, auch vom Verkehrsministerium hintergangen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216334200
Frau Kollegin Wetzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte, Frau Kollegin Ferner.

Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1216334300
Könnten Sie, Frau Kollegin Wetzel, in diesem Zusammenhang den Kolleginnen und Kollegen hier im Parlament einmal erklären, welche Bedeutung diese ominöse rote Mappe während der Ausschußberatungen hatte, gerade bei den Fragen, wo es um die Abwägung und die Möglichkeit der Einsicht in die Unterlagen, die ja für unsere Abwägung wichtig waren, ging?

(Zuruf von der CDU/CSU: Das war das, was Herr Weis nicht lesen konnte und nur Frau Wetzel hatte!)


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216334400
Wenn die Frage bei Ihnen auf so viel Erstaunen stößt, will ich es für diejenigen, die nicht dabei waren, tatsächlich erklären. Die ominöse rote Mappe war ein kleines Zauberdetail, das Herr Weber von der Planungsgesellschaft in den abschließenden Beratungen des Verkehrsausschusses aus der Tasche zog und uns als die Unterlagen des Raumordnungsverfahrens präsentieren wollte.
Es war uns nicht möglich, während der Beratungen zu klären, wo überhaupt, in welcher Gemeinde, und in welchem Umfang welche Unterlagen ausgelegt wurden. Ich selber habe als Berichterstatterin der SPD immer versucht, Zugang zu den im Gericht bei Magdeburg liegenden tatsächlichen Unterlagen des Raumordnungsverfahrens zu bekommen. Es gab sogar das Mißverständnis, ob diese Unterlagen, die beim Gericht in Magdeburg liegen und sehr umfangreich sind, in dieser kleinen roten Mappe enthalten seien. Das hatte es mit der roten Mappe auf sich.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das war ja ein Witz!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216334500
Das war die Zwischenfrage der Kollegin Elke Ferner. Frau Kollegin Wetzel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216334600
Aber gerne.

Dr. Klaus Röhl (FDP):
Rede ID: ID1216334700
Frau Kollegin, können Sie bestätigen, daß uns die Existenz dieser Unterlagen beim Gericht in Magdeburg seit Monaten bekannt war, daß wir alle die Möglichkeit hatten, dort hinzugehen und uns davon zu überzeugen, daß sie dort liegen, und daß wir Einsicht nehmen konnten?

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das kann man nicht bestätigen!)


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216334800
Herr Röhl, für diese Frage bin ich Ihnen ausgesprochen dankbar, und ich beantworte sie sehr gern. Sie wissen erstens, daß wir



Dr. Margrit Wetzel
vereinbart haben, all diese sehr zeitaufwendigen und auch für das Gericht belastenden Maßnahmen gemeinsam fraktionsübergreifend zu verabreden und gemeinsam zu ergreifen weil es für das Gericht unzumutbar gewesen wäre, daß 662 Abgeordnete einzeln antanzen, sich vielleicht noch von der Regierung autorisieren lassen und dann jeweils einzeln Einsicht verlangen. Das kann man nicht machen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist aber eine Ausrede!)

— Nein, das ist keine Ausrede.
Deshalb haben wir gesagt: Wir machen das gemeinsam mit der Autorisierung durch die Regierung. Sie wissen, Herr Röhl, daß mein Kollege Reinhard Weis, der aus Stendal kommt, schlicht und einfach in einer Einzelaktion versucht hat, in diese Unterlagen Einblick zu bekommen. Er hat uns sowohl vorher als auch bei der abschließenden Beratung berichtet, daß das nicht möglich war.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er wurde vom Ministerium für Raumordnung und Städtebau des Landes Sachsen-Anhalt so beschieden, daß es nicht möglich war, dort Einsicht zu nehmen, und wurde wieder weggeschickt.
Ich darf Sie daran erinnern, verehrter Herr Kollege Röhl, daß erst durch Bemühungen der Bundesregierung in der Mittagspause der letzten abschließenden Beratung des Ausschusses am 21. April telefonisch dort erfragt und uns mitgeteilt wurde: Selbstverständlich hat das Gericht bestätigt, wir können kommen. Ob das am 21. April mittags noch möglich gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216334900
Das war die Antwort auf die Frage des Kollegen Dr. Röhl. Jetzt läuft die Redezeit weiter.

Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216335000
Der Ausschußvorsitzende erbat schriftlich Verfahrensabklärungen am Tag vor der Ausschußsitzung. Die Antwort des BMV, ebenfalls vom 20. April 1993, war: Die Abwägung der einzelnen Stellungnahmen und Einwendungen müsse im Ausschuß erfolgen, „durch Protokoll dokumentiert und" — man höre und staune — „für das Bundesverfassungsgericht transparent gemacht werden" — nicht etwa für uns, für das Bundesverfassungsgericht!
Damit wurden alle Grundregeln politischer Kultur und parlamentarischer Hygiene verlassen. Wer ohne Prüfung so verfährt, setzt sich dem Verdacht ganz erheblicher Fahrlässigkeit und Unkorrektheit aus und begeht Fehler.
Alle beteiligten Abgeordneten wissen, daß es keine gemeinsame, nachvollziehbare Überprüfung der Verfahren und/oder der Einwendungen gegeben hat. Lediglich der Form halber, um dem BVG etwas vorlegen zu können und damit auf der sicheren Seite zu sein, wurden die 39 Einzeleinwendungen in der Zeit zwischen 21 Uhr und 23.30 Uhr am 21. April auf gerufen.
Es war nachweisbar nicht möglich, in die Unterlagen des Raumordnungsverfahrens Einsicht zu nehmen. Die Trassenvarianten wurden offenkundig nicht angemessen untersucht; dargestellte Ergebnisse und Entscheidungen waren ohne Prüfung nicht nachvollziehbar. Obgleich in besonders starkem Maße öffentliche und private Belange berührt sind, hat eine förmliche Beteiligung der Träger öffentlicher Belange nicht stattgefunden. In der Stadt Stendal wurde der Plan nicht ausgelegt.

(Ekkehard Gries [F.D.P.]: Das ist nicht wahr! Unglaublich ist das!)

— Lesen Sie nach, Herr Gries, das steht in dem Gesetz, das Sie heute beschließen.

(Ekkehard Gries [F.D.P.]: Lesen Sie doch die Stellungnahmen der Beteiligten!)

Zehn betroffene Eigentümer wurden durch die Planungsgesellschaft persönlich unterrichtet. Wie ihre Beteiligung erfolgte, daß entzieht sich unserer Kenntnis.
In jedem Fall beschließen wir heute über Wirtschaftswege, Fußwege, Neigungswinkel von Böschungen und die Statik von Eisenbahnbrücken, und alle diese Beschlüsse erhalten bindende Wirkung durch das Gesetz.
Der Deutsche Bundestag sanktioniert heute ohne jegliches eigene Bemühen schwerwiegende Verfahrensmängel, die kein herkömmliches Planverfahren ohne gravierende Nachbesserung überstanden hätte. Wer diesem Gesetz heute seine Zustimmung gibt, verletzt seine Verantwortung als Parlamentarier für die Gewaltenteilung und die Einhaltung elementarer Grundrechte.

(Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Schafft Arbeitsplätze, schafft Wachstum, schafft Aufschwung!)

Ich bitte Sie deshalb eindringlich, dieses Verfahren und damit das Gesetz abzulehnen und dem zweiten uns vorliegenden Antrag auf Überweisung der Verwaltungsunterlagen — um nichts anderes handelt es sich — in ein geregeltes Verwaltungsverfahren zuzustimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216335100
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Klaus Röhl.

Dr. Klaus Röhl (FDP):
Rede ID: ID1216335200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute hier über das Gesetz zum Bau der „Sümdumfahrung Stendal" in zweiter und dritter Lesung zu entscheiden. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist von essentieller Bedeutung für den notwendigen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

und ein unverzichtbarer Baustein für das Projekt 4 — die Schnellbahnverbindung Hannover-StendalBerlin — der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit".



Dr. Klaus Röhl
Mit diesem Investitionsmaßnahmegesetz weichen wir von dem in der Regel üblichen Verfahren ab, weil das Teilstück „Südumfahrung Stendal" ein integraler Bestandteil des Gesamtprojektes 4 ist, ohne den das Projekt 4 seine Effektivität und Leistungsfähigkeit in unvertretbar hohem Maße verlieren würde.
Mit dieser Feststellung komme ich schon zur Beantwortung der verfassungsrechtlich wichtigen Frage: Ist diese Maßnahme so notwendig, daß wir von dem in der Verfassung in der Regel — Sie müssen die Verfassung richtig lesen: in der Regel! — vorgesehenen Verfahren abweichen können?

(Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist sie nicht!)

Wir sagen ja; denn die schnelle Herstellung der Verbindung der Lebens- und Wirtschaftsräume im Westen, Nordwesten und Norden des wiedervereinigten Deutschlands mit denen in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Berlin und von dort aus weiter nach Sachsen und Thüringen ist von höchster Priorität für die Wirtschaftsentwicklung und damit für die Angleichung der Lebensverhältnisse der neuen Länder an die der alten Länder.

(Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können doch jetzt schon Züge entlangfahren!)

Auch die schnelle Erreichbarkeit der Bundeshauptstadt Berlin ist ein unverzichtbares Recht aller Bürger der durch diese Verbindung geknüpften Bundesländer und Regionen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die von dieser Entscheidung betroffene Strecke ist darüber hinaus ein überaus bedeutendes Bindeglied im internationalen Verkehr.
Meine Damen und Herren, weil dieses Projekt und das gewählte Verfahren besondere Bedeutung haben, wurde hier mit sehr großer Umsicht und Sorgfalt gearbeitet.

(Widerspruch und anhaltende Zurufe bei der SPD)

— Sie müssen das einmal lesen, Ihr Köpfchen anstrengen und sich die Zeit nehmen.
Die notwendigen Informationen verschafften wir uns neben dem intensiven Studieren, Prüfen und Beurteilen der Unterlagen nicht zuletzt auch durch intensive Besichtigung vor Ort. Wir waren einen ganzen Tag von früh bis spät dort, haben uns jeden Teil dieser Strecke angesehen.

(Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Wir sind morgens losgefahren und abends wiedergekommen!)

Wenn einige von Ihnen nicht mitgefahren sind, sind sie daran selber schuld.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Hinzu kamen persönliche und umfassende Gespräche mit den Vertretern der Stadt Stendal und den anderen betroffenen Gemeinden vor Ort. Sie waren nämlich alle da.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt kommt es raus!)

Das Ergebnis waren fundierte Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten unter spezieller Berücksichtigung der Umwelt.

(Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt kommt es raus, daß Sie innerhalb weniger Stunden etwas so Komplexes regeln wollten!)

— Sie waren doch gar nicht mit. Sie haben es sich doch gar nicht angesehen. Von Ihrer Fraktion waren doch nur zwei Leute vertreten. Da muß man doch mitfahren und sich das ansehen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Auch die anderen Streckenvarianten wurden vor Ort in die Beurteilung einbezogen. Wir haben uns alles angesehen. In einer Anhörung, vorbereitet durch die Auswertung von Gutachten, von den Fraktionen und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN benannter Fachleute wurden alle Probleme nochmals analysiert.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch Blödsinn, was du erzählst!)

— Du warst doch bei der Beurteilung gar nicht dabei.

(Lachen bei der SPD)

Als wir die letzte Beratung hatten, warst du überhaupt nicht dabei.
Alle eingegangenen Stellungnahmen, Wünsche und Einsprüche von Bürgern, Behörden und sonstigen Stellen wurden einzeln in einer Sitzung des Verkehrsausschusses — von frühmorgens bis spät in die Nacht um zwei — geprüft und entschieden.
Besonders hervorheben möchte ich, daß auch alle restlichen Probleme von Bürgern einvernehmlich geklärt werden konnten und die auffallend geringe Zahl von Bürgereinwänden die hohe Akzeptanz der Bevölkerung widerspiegelt. Der Wunsch der Stadt Stendal, die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke durch die Stadt zu führen, wurde gegenüber Aufgabe und Sinn des Projektes, nämlich bundesländerübergreifend schnelle Fernverbindungen im gesamtnationalen Rahmen herzustellen, abgewogen und entschieden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216335300
Herr Kollege Dr. Röhl, auch Sie überfahren das rote Licht schon seit langem. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Dr. Klaus Röhl (FDP):
Rede ID: ID1216335400
Entschuldigung, ich bin gleich fertig. Dem Wunsch der Stadt Stendal nach direkter Anknüpfung wurde durch die Zusage der Bundes- und Reichsbahn, täglich zu mehreren Zeiten Züge aus dem Hochgeschwindigkeitsfernfahrtverkehr auszukoppeln und in Stendal halten zu lassen, Rechnung getragen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist doch ein Widerspruch!)

Meine Damen und Herren, auf Grund der nachweisbaren Notwendigkeit des Projektes für den Aufschwung in den neuen Bundesländern stimmt die F.D.P.-Fraktion diesem Gesetzentwurf zu.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)




Dr. Klaus Röhl
Ich bitte Sie alle, im Interesse der neuen Bundesländer und im Hinblick auf das Zusammenwachsen Deutschlands um Ihre Zustimmung.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Den Antrag der PDS auf Rücknahme dieses Gesetzentwurfes lehnen wir entschieden ab.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216335500
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1216335600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein Skandal, daß wir einen so einschneidenden Gesetzentwurf mit gravierenden verfassungsrechtlichen Bedenken in 30 Minuten und zu so später Stunde abhandeln.

(Horst Gibtner [CDU/CSU]: Aber wir machen es gründlich!)

Zu Beginn möchte ich an eine Äußerung, die von diesem Platz aus gefallen ist, erinnern:
Wir, das Parlament, können der Exekutive Vorgaben für die politische Arbeit geben. Unsere Aufgabe ist es, die Exekutive zu kontrollieren. Der Funktionsvorbehalt der Exekutive verbietet uns jedoch, selber die Arbeit der Regierung und der ihr nachgeordneten Behörden zu übernehmen.
Das Zitat könnte fast von mir sein, aber es ist vom Abgeordneten Dr. Joseph-Theodor Blank, CDU/CSU-Fraktion. Vielleicht kann er sich daran erinnern.
Was passiert heute? So wie es Ihnen paßt, wird in Belange der Exekutive eingegriffen oder nicht. Das, was exemplarisch mit dem Gesetzentwurf „Südumfahrung Stendal" passiert, ist Ihr Umgang mit dem Grundgesetz. Je nach Belieben wird das Grundgesetz geändert oder ausgelegt. Was bleibt angesichts Stendal noch von dem im Art. 28 GG beschworenen Recht auf Selbstverwaltung der Kommunen? Dieser Bundestag maßt sich an, als Planfeststellungsbehörde eine Entscheidung zu treffen, zu der — —

(Elke Ferner [SPD]: Nur die Mehrheit!)

— Ich korrigiere mich selbstverständlich: Die Mehrheit dieses Bundestages maßt sich an, als Planfeststellungsbehörde eine Entscheidung zu treffen, zu der allein Land und betroffene Kommunen in der Lage wären.

(Horst Gibtner [CDU/CSU]: Nein, Sie haben es immer noch nicht verstanden!)

Planfeststellung setzt voraus, daß alle — ich wiederhole: alle — Beteiligten die notwendige Orts- und Sachkenntnis haben, um verantwortungsbewußt entscheiden zu können.
Ich würde hier ganz gern einmal eine Umfrage machen; ich denke, wir würden zu verheerenden
Ergebnissen kommen. Ich könnte mir vorstellen, daß viele überhaupt nicht wissen, wo Stendal liegt,

(Reiner Krziskewitz [CDU/CSU]: Das ist unverschämt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

ganz zu schweigen davon, daß sicher der größte Teil der hier Anwesenden gar nicht weiß, worum es im vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt geht. Ich fordere alle auf, die selbstkritisch meinen, daß sie den Anforderungen an eine orts- und sachkundige Entscheidung nicht genüge tun können, sich wenigstens der Stimme zu enthalten.
Neben gravierenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Vorgehen im Fall der Südumfahrung und der folgenden 16 sogenannten Maßnahmegesetze stehen wesentliche verfahrensrechtliche Vorbehalte. Es wurde in der Beratung des Verkehrsausschusses ganz offensichtlich, daß den Voraussetzungen für eine tatsächliche verantwortungsvolle Abwägung verschiedener Interessen und für Berücksichtigung möglicher Konsequenzen im vorgelegten Gesetzentwurf nicht entsprochen wurde.
So fehlten für den Beratungsprozeß entscheidende Unterlagen — das wurde schon erwähnt —, oder sie wurden den Abgeordneten zu spät zugestellt.
Unzureichend wurden die verschiedenen Varianten der Trassenführung ausgearbeitet, ja, bei dem Gesetzentwurf wurde von vornherein eine Variante bevorzugt, die schon allein aus historischen Gesichtspunkten mehr als fragwürdig ist. So ist für mich nach wie vor schleierhaft, warum heute noch an einer Trassenführung festgehalten wird, die zwischen DDR und Bundesregierung 1988 vereinbart worden war und aus rein politischen Gründen eine Umfahrung der Stadt Stendal vorsah. Es sollte eben in der Stadt Stendal niemand auf den Zug aufspringen, der dort durchfährt.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Völlig ausgeblendet blieben die Konsequenzen für die zukünftige Entwicklung der Region um Stendal als traditionelles Zentrum des Eisenbahnwesens, die Konsequenzen für die Beschäftigungsstruktur nach der vorgesehenen Schließung des Reichsbahnausbesserungswerkes oder gar die Folgen für Biotope, Grundwasser etc.
Auch die Kostenrechnung ist völlig unzureichend gewesen; denn Fakt ist, daß mit der Stadt Stendal ein Zwischenhalt vereinbart wurde, d. h., es müssen bautechnische Veränderungen am Bahnhof, an den Brükken usw. stattfinden, wenn der ICE durch Stendal fahren soll. Das ist doch völlig logisch.
Es soll hier ein Notstandsgesetz durchgezockt werden. Zum Notstand aber wird der so dokumentierte massive Demokratieabbau in dieser Gesellschaft.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)




Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. KlausDieter Feige das Wort.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216335700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist wirklich eine ziemliche Zumutung an das Demokratieverständnis der Abgeordneten, daß für diese abschließende Beratung eines derart nicht inhaltlich, sondern von der Art und Weise umstrittenen Gesetzes lediglich 30 Minuten zur Verfügung stehen.

(Zuruf von der SPD: Ein Notparlament!)

Bereits bei der Beratung des Gesetzentwurfes im Verkehrsausschuß hat es sich doch gezeigt, daß nur wenige Abgeordnete sich wirklich gewissenhaft mit dieser über 800 Seiten starken Vorlage auseinandersetzen konnten.

(Horst Gibtner [CDU/CSU]: Aber sie haben es gemacht!)

Es mag in manchem anderen Fall angehen, daß sich nur wenige Abgeordnete mit einem Antrag oder einer ähnlichen Vorlage beschäftigen. In diesem Fall geht es jedoch nicht.
Wir stehen heute praktisch vor der Situation, daß sich der Bundestag im Sinne einer Notstandsgesetzgebung über das Prinzip der Gewaltenteilung hinwegsetzt

(Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

— dieses Wort ist nicht von mir, das ist in der Ausschußsitzung gefallen — und als Gesetzgeber zugleich die Rechte einer Planfeststellungsbehörde an sich reißt. So etwas mag vielleicht im Falle einer Naturkatastrophe angehen, im Bereich der Verkehrsplanung erscheint dieses Vorgehen höchst undemokratisch und verfassungswidrig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Mehrheit der Sachverständigen hat während der öffentlichen Anhörung des Verkehrsausschusses zum Investitionsmaßnahmegesetz festgestellt, daß der vorliegende Gesetzentwurf gegen wesentliche Grundsätze unserer Verfassung verstößt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht richtig!)

Der Kronzeuge für diese Auffassung ist mit Professor Ronellenfitsch nicht etwa ein von uns bestellter Gutachter, sondern Ihr eigener Experte, der das vertreten hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Darüber hinaus sind nach Meinung nicht nur von Professor Ronellenfitsch unsere Rechte und Pflichten als Abgeordnete durch die derart geplanten Maßnahmegesetze schwerwiegend betroffen. Den Abgeordneten liegen auf über 800 Seiten Ergebnisse aus einem Verwaltungsverfahren vor. Der Bundestag erläßt damit heute nicht eine funktionelle Verwaltungsmaßnahme, sondern segnet sie lediglich ab. Er
läßt sich folglich heute durch die Bundesregierung zu einem Verwaltungsorgan des Bundesverkehrsministeriums umfunktionieren. Das ist eine Zumutung! Und dann berufen Sie sich vielleicht später auf die zusätzliche Belastung und verlangen wieder eine Diätenerhöhung, weil wir nun auch noch Legislative sind!

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/ Linke Liste)

Dieses Gesetz wird eine drastische Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes zur Folge haben.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Da das Bundesverfassungsgericht keine Sachprüfung des Projekts durchführen kann, sondern nur die Verfassungskonformität des Gesetzes selbst feststellt, wird ein klagender Bürger durch diese Verwaltungsentscheidung sachlich in seinen Rechten beschädigt. Das kann ja wohl nicht Ihre Auffassung von einem Rechtsstaat sein.
Wie leichtfertig selbst die Koalitionsfraktionen z. B. mit der Umwelt umgehen, zeigt sich auch in bezug auf die hier notwendigen Umweltverträglichkeitsprüfungen. Anstatt die verbindlichen Umweltverträglichkeitsprüfungen vorzubereiten, wollen Sie sich mit einer oberflächlichen Umweltverträglichkeitsstudie aus der Affäre ziehen. Dies ist ein klarer Verstoß gegen den Sinn der EG-Richtlinie zur UVP.

(Horst Gibtner [CDU/CSU]: Ich denke, die Ausgleichsmaßnahmen finden ihre Billigung!)

Dieser Gesetzentwurf ist der einstweilige Gipfel eines unverschämten Demokratieabbaus, eines unentwegten Beschneidens von Bürgerrechten, beginnend mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz und dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Nicht das Schienenprojekt, sondern diese Vorgehensweise wird hoffentlich spätestens durch das Bundesverfassungsgericht gestoppt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216335800
Nun hat das Wort zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel. Bitte.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Geht denn das? Sie hat doch schon geredet!)


Dr. Margrit Wetzel (SPD):
Rede ID: ID1216335900
Ich habe eine Anmerkung zu den Bemerkungen von Herrn Röhl.
Herr Röhl, Sie haben uns gebeten, korrekt zu lesen. Ich habe aber auch aufmerksam bei dem zugehört, was Sie gesagt haben. Sie haben gesagt, der Ausschuß habe sich von morgens früh bis nachts um zwei mit den abschließenden Beratungen beschäftigt. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, wir wir exakt in der Zeit von 9 bis 11.45 Uhr und von 18 bis 21 Uhr eine allgemeine Debatte und eine Bewertung des Anhörungsverfahrens hatten und erst in der Zeit von 21 bis



Dr. Margrit Wetzel
23.30 Uhr den sogenannten Abwägungsprozeß durchgeführt haben?

(Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Alle strittigen Punkte einzeln!)

Ich gehe davon aus, daß wir aus dem Wahrheitsgehalt Ihrer zeitlichen Aussagen nicht auf die Korrektheit Ihrer anderen Aussagen schließen müssen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nunmehr erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Carstens das Wort.

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wo ist denn der neue Verkehrsminister?)


Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1216336000
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann gar nicht verstehen, daß es einige wenige Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag geben soll, die diesem wichtigen Gesetzeswerk nicht zustimmen wollen.

(Peter Harry Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: So kann man sich auf einfache Weise irren!)

Wir haben es hier mit einer Maßnahme zu tun, bei der es darum geht, eine wichtige Eisenbahnverbindung möglichst zügig herzustellen.

(Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!)

Das ist kein Skandal, sondern das ist eine Notwendigkeit, meine verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das Verfahren, Herr Carstens, ist ein Skandal!)

Und rote Mappe hin, rote Mappe her, sie hat schon so lange vorgelegen, daß ich glaube, daß sie auf Grund der Lichtverhältnisse in der Zwischenzeit eine neue Schattierung bekommen haben wird.
Neue und ungewöhnliche Problemstellungen erfordern neue Lösungswege.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Aber nicht alte Trassen!)

Mit dem zur Abstimmung vorliegenden Entwurf des Stendal-Gesetzes legt die Bundesregierung zum erstenmal eine Bauzulassung für einen Planungsabschnitt der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" in die Entscheidungskompetenz des Deutschen Bundestages.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gerechtfertigt wird der neue Lösungsweg durch die Ausnahmesituation, die in den neuen Bundesländern und in Berlin vorliegt.
Für die nachhaltige Beseitigung der wirtschaftlichen Notlage in den neuen Bundesländern — das kann man im Vergleich zum Westen j a nun sagen — ist die unverzügliche Bereitstellung einer modernen Verkehrsinfrastruktur ein unverzichtbarer Faktor.
Zu den besonders dringend notwendigen Ost-WestAchsen gehört die Eisenbahnhochgeschwindigkeitsstrecke Hannover-Berlin. Diese leistungsfähige Schienenverbindung wird dem Großraum Berlin beachtliche Wachstumschancen eröffnen und im nationalen und internationalen Ost-West-Verkehr eine zentrale Rolle übernehmen.
Bei der Südumfahrung Stendal handelt es sich um einen schwierigen Planungsabschnitt. Nur hier wird die bereits vorhandene Trasse verlassen. Wir müßten daher mit einem erheblich höheren Zeitaufwand rechnen, wenn die Bauzulassung über ein Planfeststellungsverfahren erfolgen würde. Wegen des bedeutenden Zeitgewinns hält die Bundesregierung die Bauzulassung durch den Gesetzgeber für notwendig und sachlich gerechtfertigt. So kann der Bau noch in diesem Sommer beginnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist das Entscheidende.

Deswegen meine Eingangsbemerkung: Ich weiß gar nicht, weshalb man dagegenstimmen kann, da ja Raumordnungsfragen, Umweltverträglichkeitsfragen berücksichtigt sind.
Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Planungsentscheidung durch Gesetz haben wir bereits im Zuge der Planung des Gesetzesvorhabens eingehend geprüft. Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Gesetzgeber grundsätzlich das Recht zu, Planungsentscheidungen für besonders gelagerte Investitionsvorhaben durch Gesetz zu treffen. Die parlamentarische Beratung hat bestätigt, daß der vorliegende Gesetzentwurf mit unserer Verfassung in Einklang steht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216336100
Herr Kollege Carstens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige? — Bitte, Kollege Feige.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216336200
Schönen Dank, Herr Staatssekretär.
Sie sagten, die Umweltverträglichkeit sei berücksichtigt worden. Halten Sie z. B. die Erfassung der Pflanzen in diesem Bereich über einen Zeitraum von nur 14 Tagen zu einem Zeitpunkt, nämlich ab 22. April, wo noch nicht einmal annähernd alle Pflanzen herausgucken, für eine angemessene Überprüfung, von der Sie da sprechen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1216336300
Herr Kollege Feige, es kommt doch nicht darauf an, wie lange man daran gearbeitet hat

(Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei Wochen!)

— das kann ja sogar lange gewesen sein —, sondern es
kommt auf den Zeitraum an, den man erfaßt, und



Parl. Staatssekretär Manfred Carstens
darauf, wie oft man Zeiträume erfaßt. Und das war bei dieser Umweltverträglichkeitsprüfung vorzüglich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Uwe Küster [SPD]: Keine Ahnung! — Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht es schwarz auf weiß!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216336400
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte.

Manfred Carstens (CDU):
Rede ID: ID1216336500
Herr Kollege Feige, haben Sie die rote Mappe dort auf dem Tisch, von der Sie immer sagten, es sei so schwer, an sie heranzukommen? Das scheint die vergilbte rote Mappe zu sein.
Das Land Sachsen-Anhalt hat sich im Rahmen eines Raumordnungsverfahrens eingehend mit den in Betracht kommenden Trassenvarianten auseinandergesetzt. Der Südumfahrung Stendal wurde dabei an Stelle einer Durchfahrung Stendals der Vorzug gegeben. Ich will das jetzt gar nicht weiter begründen; es ist ja hier besprochen worden.
Die Bundesregierung folgt dieser Beurteilung, zumal auch die ökologische Verträglichkeit der Südumfahrung in einer Umweltverträglichkeitsstudie bejaht worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Bei der Erarbeitung des Planes haben wir die Ziele und Grundsätze der Raumordnung und Landesplanung sowie die Belange des Umweltschutzes beachtet. Der landschaftspflegerische Begleitplan präzisiert die Umweltverträglichkeitsstudie für den Bereich der Südumfahrung.
Wir haben darüber hinaus die Belange der beteiligten Behörden, Kreise und Kommunen ebenso einbezogen wie die Interessen der betroffenen Bürger.
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß durch diesen Gesetzentwurf und seine planerische Vorbereitung sowie durch die Abwägung zu den Planentscheidungen in den Ausschüssen die Voraussetzungen für das Parlament geschaffen worden sind, um über die Bauzulassung für die Südumfahrung Stendal zu entscheiden.
Ich bitte Sie daher, dieses Gesetz zu verabschieden.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216336600
Meine Damen und Herren, vor der Abstimmung gibt es noch die Bitte des Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige, nach § 31 der Geschäftsordnung eine kurze Erklärung abzugeben.

(Unruhe und Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216336700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Auffassung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden mit dem jetzt zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf grundsätzliche Verfassungsnormen verletzt. Das betrifft insbesondere
die Rechtswegegarantie und das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive.

(Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Persönliche Erklärung! — Zuruf von der F.D.P.: Feige plus Feigenblatt!)

So fehlen, um hier eine hinreichende Bewertung vornehmen zu können, allen Abgeordneten wichtige Unterlagen und Informationen, ohne die eine gewissenhafte parlamentarische

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Debattenbeitrag!)

Abwägung nicht geschehen kann. Selbst eine Planfeststellungsbehörde müßte bei dem jetzigen Stand der Information von einer Entscheidung absehen, da einfach die wesentlichen Unterlagen zur nachvollziehbaren Bewertung und Überprüfung fehlen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hält der seine Rede zum zweiten Mal?)

Diese Informationsdefizite wurden im Verlauf der öffentlichen Anhörung und Ausschußberatung von uns mehrfach angesprochen.
In diesem Sinne habe ich den Bundesminister für Verkehr — damals war das noch Kollege Krause — in einem Brief vom 12. Februar 1993 gebeten, mir die noch benötigten Informationen und Unterlagen zugänglich zu machen.
In der Antwort durch den Parlamentarischen Staatssekretär Carstens schreibt mir der Bundesverkehrsminister — — —

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216336800
Herr Kollege Feige, was Sie jetzt leisten, ist aber ein Sachbeitrag. Sie haben schon einen gehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich begründe — —)

— Ja; aber die Begründung ist ein Sachbeitrag. Das können Sie nicht machen, sondern Sie müssen zu Ihrem Abstimmungsverhalten sprechen.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1216336900
Dann also zur Abstimmung. Ich habe nichts weiter vorgehabt, als Ihnen zu sagen, daß unser Informationsdefizit darauf zurückgeht, daß wir keine hinreichenden Informationen von der Bundesregierung als Antwort auf unseren ausdrücklichen Wunsch erhalten haben. Ein ausführliches Verzeichnis dessen, was wir angefordert, aber nicht hinreichend erhalten haben, lag den Unterlagen in der Ausschußsitzung bei.
Da also unserem persönlichen Ermessenspielraum, der uns ausdrücklich zugebilligt wurde, um hier gewissenhaft abwägen zu können, nicht Rechnung getragen wurde, haben die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor, an der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf nicht teilzunehmen, da wir nicht hinreichend informiert wurden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist ja fast keiner von Ihnen da! Die allermeisten von Ihrer Gruppe sind heute schon den ganzen Tag nicht da! — Gegenruf von der SPD: Das gilt auch für Ihre Fraktion!)





Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1216337000
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

(Unruhe)

Wenn wir die notwendige Ruhe wiederhergestellt haben, können wir zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Südumfahrung Stendal, Drucksache 12/3477, kommen.
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5126, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen der Gruppe PDS/Linke Liste, bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Nichtbeteiligung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenommen.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Fragen Sie, ob es bei der SPD dabei bleibt! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Selbstverständlich stehen wir zu unserem Wort! Aber Sie müssen sich korrigieren, früher oder später; am besten heute!)

— Bleiben wir mal dabei. Hin und wieder müssen wir jemandem sagen können: Irrtum vorbehalten. Aber das gilt dann immer für alle Seiten des Hauses. Deswegen ganz vorsichtig!
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. —

(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Wissen Sie, wo Stendal liegt?)

Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dieser Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis und Abstimmungsverhalten angenommen.
Wir kommen noch zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/5126 unter Nr. 2, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/4480 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD, der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bei einer Stimmenthaltung aus der SPD angenommen.
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt.
Meine Damen und Herren, wir haben mehrere Tagesordnungspunkte vor uns; aber es gibt dazu den Wunsch, Reden zu Protokoll zu geben.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Kinderpornographie (... StrÄndG)

— Drucksache 12/3001 — (Erste Beratung 111. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/4883 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg van Essen Heinz Seesing
Erika Simm
Eine Aussprache wird nicht gewünscht. Die Reden sind zu Protokoll gegeben. *) Ich muß aber die Frage stellen, ob sich dagegen Widerspruch erhebt. — Ich stelle fest: Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes zur Kinderpornographie, Drucksachen 12/3001 und 12/4883. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? —Auch in dritter Beratung ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 12/3628 — (Erste Beratung 122. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/4842 —
Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Geis
Dr. Hans de With
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden. **) — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wir kommen dann zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Änderungsentwurf zum Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, Drucksachen 12/3628 und 12/4842.
*) Anlage 3 **) Anlage 4



Vizepräsident Helmuth Becker
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen bei der Gruppe PDS/Linke Liste ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung und Schlußabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Lage der Frauen in den neuen Bundesländern
— Drucksachen 12/3089, 12/4262 —
Auch hierzu ist vereinbart worden, daß die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen.*) Ich muß aber fragen, ob sich dagegen Widerspruch erhebt. — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
•) Anlage 5
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der letzte Tagesordnungspunkt ist der Tagesordnungspunkt 15:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Versorgungsrenten für Mitglieder der Waif en-SS
— Drucksache 12/4788 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben werden.') — Ich höre und sehe keinen Widerspruch dagegen. Es ist so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4788 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Auch dagegen höre und sehe ich keinen Widerspruch. Die Überweisung ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Juni 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.