Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu der nicht
abreißenden Serie von Chemieunfällen
Die Fraktion der SPD hat zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat die Aktuelle Stunde zu der Unfallserie bei der Firma Hoechst beantragt, weil sich in den letzten Wochen gezeigt hat:Erstens. Es ist ein dummes und leichtfertiges Gerede, wenn Vertreter der Wirtschaft, an ihrer Spitze nicht selten Vertreter der chemischen Industrie, heute von überzogenem Umweltschutz reden oder sogar Stillstand in der Umweltpolitik fordern. Hoechst hat vielmehr gezeigt: Wir brauchen keinen Stillstand, sondern besseren Umweltschutz und eine ökologische Innovationspolitik.
Zweitens. Nicht der Umweltschutz gefährdet den Industriestandort Deutschland, sondern Ignoranz gegenüber Gefahren und Festhalten an überholten Sicherheitskonzepten. Wir wollen aus ökonomischen und ökologischen Gründen den Chemiestandort Deutschland sichern. Das ist aber mit einer Sicherheitsphilosophie nicht vereinbar, die unserer Zeit nicht mehr entspricht. Deshalb sagen wir: Es geht nicht mehr mit dem „Prinzip Dampfkessel", mit dem Konzept „Technikkontrolle durch Technik", sondern wir brauchen ein modernes stoff- und anlagenbezogenes Sicherheitsrecht. Den Anforderungen einer modernen Industriebranche muß gerade in Deutschland, gerade auch in Hessen, Rechnung getragen werden. Dafür brauchen wir eine Reihe von Änderungen, über die ich gleich noch reden werde.Drittens. Es gibt offenkundig ein Vollzugsdefizit. Das erklärte Ziel der Neufassung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes von 1990 war ein umfassendes Anlagensicherheitsgesetz. Wir müssen heute feststellen, daß wesentliche — nach diesem Bundes-Immissionsschutzgesetz mögliche — Verordnungen bis heute nicht auf den Weg gebracht sind, uns jedenfalls nicht vorliegen.Das heißt: Es ist zum einen richtig, daß wir den Betreiber, die Firma Hoechst, kritisieren müssen, weil sie wichtige Vorschriften nicht beachtet hat. Wir stellen aber zum anderen auch ein Defizit bei der Bundesregierung fest.
Viertens. Wir brauchen eine umwelt- und gesundheitsverträgliche Chemiepolitik, eine ökologische Stoffwirtschaft, die die Risiken von Stoffen und Verfahren von Anfang an reduziert. Wir wollen die ökologische Modernisierung, weil dies die Voraussetzung für einen modernen, zukunftsorientierten Chemiestandort Deutschland ist. Wir wollen es nicht hinnehmen, daß Mensch und Natur zu Versuchskaninchen einer schleichenden Anreicherung der Umwelt mit Chemikalien gemacht werden.Professor Hilger, der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG und Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie, hat vor einigen Wochen ausgeführt:Wir, die heute lebenden Menschen, sind die erste Generation, der klar bewußt ist, daß die Ressourcen und die Aufnahmefähigkeit der Erde begrenzt sind. Damit stehen wir in einer besonderen Verantwortung.Diese Sätze sind richtig; aber es klingt wie Hohn, wenn jetzt ein Sprecher des hessischen Chemieverbandes erklärt, man dürfe die Technik der HoechstAnlage „nicht zum allgemeinen Stand der chemischen Industrie hochstilisieren". Ich finde, das ist eine schallende Ohrfeige für den Präsidenten des VCI.Und es ist Ignoranz, wenn Vertreter der chemischen Industrie ständig von der Vorreiterrolle im Umweltschutz reden, aber der Vorsitzende der Störfallkommission zugleich erklärt, zumindest der „erste Hoechst-Unfall hätte bei Beachtung der Gesetze so nicht passieren können". Auch dies ist ein eklatanter Widerspruch, der geklärt werden muß.Meine Damen und Herren, wir stellen fest, daß zumindest beim ersten Chemieunfall in wesentlichen
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12670 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Michael Müller
Punkten gegen die Störfall-Verordnung verstoßen worden ist. Das gilt insbesondere für die Vorkehrungen zur Vermeidung von Fehlbedienungen, § 6. Das gilt für die Prüfung der Tauglichkeit der Sicherheitsanlage, § 7. Das gilt insbesondere für § 11, Meldepflichten.Ich füge hinzu: Wir, die SPD, haben schon mehrfach darauf hingewiesen, daß wir die Störfall-Verordnung, wie sie heute vorliegt, nicht für ausreichend, sondern in einigen Punkten für ergänzungsbedürftig halten.Wir halten aber auch die rechtlichen Konsequenzen aus Verstößen für unzureichend. Eine Höchstsumme von 100 000 DM bei Verstößen ist lächerlich gering angesichts des möglichen Schadenspotentials. Auch hier muß es zu Änderungen kommen.
Ich habe die Bundesregierung kritisiert, weil sie auf diesem Feld Defizite aufzuweisen hat. Auf die nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz von 1990 möglichen Verordnungen warten wir schon seit einiger Zeit. Das betrifft insbesondere § 7, Hinzuziehung externer Sachverständiger, und § 29, Anordnung von sicherheitstechnischen Prüfungen. Beide Verordnungen liegen nach drei Jahren noch nicht vor. Vor diesem Hintergrund ist es, gelinde gesagt, peinlich, wenn die Bundesregierung in ihrem 5. Bericht zum Imissionsschutzgesetz —
Herr Kollege Müller, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
— letzter Satz, Herr Präsident — im Dezember 1992 erklärt, daß man in der Bundesrepublik ein modernes Anlagensicherheitsgesetz hat, und als Beweis gerade die Verordnungen zitiert, die es noch gar nicht gibt. Das geht so nicht. Dieses Defizit muß schnell beseitigt werden.
Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne hat der Ältestenrat der Nationalversammlung der Republik Korea Platz genommen.
— Südkorea natürlich, die Republik Korea.
Die Republik Korea mit ihrer dynamischen Wirtschaftsentwicklung hat natürlich ein großes Interesse an den Fragen, die wir heute diskutieren. Ich richte im Namen des Hauses einen herzlichen Gruß an Sie.
Herr Kollege Ulrich Klinkert, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Havarien kann man nicht generell vermeiden; aber generell ist jede einzelne Havarie vermeidbar. — Dieser Satz trifft auch auf die Störungen der letzten Wochen in den Werken der Hoechst AG zu. Im wesentlichen haben technischeMängel und menschliches Versagen zu den bekannten Vorfällen geführt.Ein wichtiges Mittel, solche subjektiven Faktoren in den Firmen auszuschalten, ist meines Erachtens die permanente Sicherheitsüberprüfung und -überwachung unter Einbeziehung von unabhängigem, externem Sachverstand, z. B. durch den TÜV. Deshalb schlage ich vor, folgende Punkte durch den Gesetzoder Verordnungsgeber durchzusetzen.Erstens. Chemieanlagen und weitere Produktionsanlagen, von denen eine Gefahr für die Menschen bzw. für die Umwelt ausgehen könnte, sind regelmäßig einer Sicherheitskontrolle durch externe Sachverständige zu unterziehen.Zweitens. Dafür sind diese Anlagen in Gefährdungsstufen einzugruppieren.Drittens. Entsprechend diesen Gefährdungsstufen ist festzulegen, ob und in welchen zeitlichen Abständen externe Überprüfungen durchzuführen sind.Viertens. Es sind Anforderungen für die Zulassung von Sachverständigen zu erarbeiten.Fünftens. Die Sachverständigen selbst sind im Fall einer Havarie mit zur Verantwortung zu ziehen, wenn ihnen Nachlässigkeiten nachgewiesen werden.Ich weiß, daß diese Forderungen beim VCI und der IG Chemie auf wenig Gegenliebe stoßen, aber die Erfahrungen der letzten Wochen zwingen zu einem Umdenken.War es eventuell eine Verkettung von unglücklichen Zufällen, die zu den Havarien geführt hat, so war es kein Zufall mehr, wie die Verantwortlichen der Chemie mit diesen Vorfällen umgegangen sind. Da wollte man zunächst vertuschen, indem nach dem Schadenseintritt in Griesheim am 22. Februar nicht unverzüglich, also nicht ohne schuldhaftes Säumen, die Behörden und die Sicherheitskräfte eingeschaltet wurden. Weiterhin wollte man verniedlichen, indem man die betroffene Bevölkerung mehr als 24 Stunden über die Gefährlichkeit der ausgetretenen Stoffe im unklaren ließ. Man wollte verhindern, daß Firmen einer strengeren — weil externen und unabhängigen — Kontrolle unterworfen werden.Da nutzt es auch nichts, wenn honorige Chemiemanager mit Händen an der Hosennaht vor dem hessischen Umweltminister stehen und beteuern, daß dies alles nicht mehr vorkommen wird. Dort, wo Schadstoffe über den Betriebszaun eines Unternehmens treten können, ist es nicht mehr nur die Angelegenheit des Unternehmens selbst, wie mit Gefahrstoffen umgegangen wird.Wir als Gesetzgeber dürfen uns nicht davon beirren lassen, ob Festlegungen zum Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen von Havarien deren möglichen Verursachern passen oder nicht. Dabei muß der Kostenfaktor sekundär betrachtet werden. Er ist es sowieso, wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung geht. Er ist es aber auch, wenn man bedenkt, daß weitere Vorkommnisse in diesem Ausmaß und in dieser Häufigkeit dem vielgepriesenen Wirtschaftsstandort Deutschland schwereren Schaden zufügen als zusätzliche Kosten für Sicherheitsüberprüfungen.
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Ulrich KlinkertDabei sind es zum Teil banale Dinge, die ganz einfach erkannt und beseitigt werden müssen. Sich lösende Schrauben, die die tragische Havarie im Werk Hoechst verursachten, kann man mit einfachen technischen Mitteln arretieren, und jeder ElektrikerAzubi im ersten Ausbildungsjahr weiß, daß man das nicht eingeschaltete Rührwerk in Griesheim mit einer Zwangsschaltung hätte kombinieren können.Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen, daß sich die Chemieunternehmen der regelmäßigen Kontrolle durch externe Sachverständige öffnen sollten. Sie sollten diese Kontrolle auch im eigenen Interesse als Unterstützung ansehen und konstruktiv mit der Politik und den Behörden zusammenarbeiten.Vielen Dank.
Unser Kollege Professor Dr. Jürgen Starnick hat als nächster das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man mag es gar nicht glauben, daß es einem großen Unternehmen wie Hoechst gelingt, in kürzester Zeit mit guter Regelmäßigkeit Störfälle in seinen Betrieben anzuzeigen, die auf menschliches und technisches Versagen zurückzuführen sind. Man hört in der Bevölkerung Mutmaßungen über Sabotage und daß dahinter wohl mehr stecken müsse. Gott sei Dank ist dies nicht so, aber leider müssen wir uns mit diesen Vorfällen auseinandersetzen.Die chemische Industrie in Deutschland ist einer der Pfeiler der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik Deutschland. Diese Stärke ohne chemische Industrie zu erhalten dürfte uns schwerfallen. Deshalb müssen wir alles daransetzen, den Chemiestandort Deutschland zu erhalten und zu sichern.Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist aber die Sicherheit der chemischen Produktion selbst. Diese Grundbedingung wird von niemandem bestritten, auch von der chemischen Industrie selbst nicht. Was wir uns in Anbetracht einer solchen Serie von Unfällen fragen müssen, ist: Ist der Rahmen zur Durchsetzung dieser Bedingungen richtig gesetzt? Haben wir als Gesetzgeber — wir als Parlament und die Bundesregierung —, der für den notwendigen rechtlichen Rahmen zur Erlangung einer größtmöglichen Sicherheit von technischen Anlagen zuständig ist, etwas versäumt?1980 trat die Störfall-Verordnung als Durchführungsverordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz in Kraft. Sie wurde seitdem zweimal, im Mai 1988 und im September 1991, novelliert mit dem Ziel, die Anforderungen an den Sicherheitsstandard technischer Anlagen zu erhöhen, und mit jeder dieser Novellen wurde der Katalog der Anlagetypen und der Stoffe, die der Störfall-Verordnung unterliegen, erweitert. Parallel dazu wurde mit der Novelle von 1990 das Bundes-Immissionsschutzgesetz selbst zu einem Anlagensicherheitsgesetz ausgebaut. In § 7 wird gefordert, in den Anlagen sicherheitstechnische Kontrollen durchzuführen und alle sicherheitstechnischen Unterlagen zu prüfen. § 29 a ermächtigt dieÜberwachungs- und Genehmigungsbehörden, zusätzliche Prüfungen zu verlangen, wenn Anhaltspunkte dafür gegeben sind, daß Anforderungen an die Sicherheitstechnik nicht erfüllt werden. Der Rechtsrahmen wurde damit sehr detailliert und sachgerecht vorgegeben.Wir müssen erkennen, meine Damen und Herren: Nicht der rechtliche Rahmen ist mangelhaft, sondern der Vollzug dieses rechtlichen Rahmens konnte bisher offensichtlich nicht so gewährleistet werden, wie es erforderlich wäre.Und, liebe Kollegen von der Opposition: Wenn Sie heute mit dieser Aktuellen Stunde die Bundesregierung ansprechen, so können Sie damit Joschka Fischer nicht aus der Patsche helfen; er muß die Probleme, die im Vollzug des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der Störfall-Verordnung liegen, lösen. Davon können wir ihn auch nicht entbinden.
Eine nochmalige Verschärfung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und der Störfall-Verordnung sowie die Einführung noch höherer Sicherheitsstandards und zusätzlicher Prüfungen lösen die Probleme nicht, die die Länder beim Vollzug dieser gesetzlichen Vorschriften haben, sondern verschärfen sie eher.
Bereits bei der Diskussion der 88er Novelle der Störfall-Verordnung war zu erkennen, welche Probleme bei den Vollzugsbehörden auftreten können. Mit dieser Novelle wurden für fast sämtliche chemischen Anlagen Sicherheitsanalysen gefordert, und die Erstellung solcher Sicherheitsanalysen und in gleichem Maße die Prüfung und Beurteilung derselben verlangen in einem außerordentlich hohen Maße detailliertes Fachwissen. Eine Sicherheitsanalyse inhaltlich zu beurteilen ist weit schwieriger als die Prüfung und Bewertung eines Antrages auf Anlagengenehmigung. Dieses erforderliche Fachwissen ist in den Vollzugsbehörden nur vereinzelt vorhanden. Das müssen wir erkennen.Das Problem, vor dem wir stehen, ist also nicht das Problem, daß wir hier in erster Linie selbst zum Handeln aufgefordert sind, wie die Opposition das angedeutet hat, sondern daß wir die Länder darin unterstützen müssen und natürlich auch die Industrie dahin drücken müssen, daß das Fachwissen, die Fachqualifikation sowohl in den Behörden als auch natürlich in den eigenen Chemiebetrieben wesentlich erhöht wird.Menschliches Versagen deutet immer darauf hin — und das ist hier vielfach der Fall gewesen —, daß die Mitarbeiter — die Facharbeiter, die Chemiearbeiter — nicht hinreichend geschult wurden und daß sie nicht hinreichend auf den Eventualfall vorbereitet wurden, der auftreten könnte. Es ist berechtigtes Anliegen dieser Debatte, die Firmenleitung von Hoechst dahin zu bringen, Sicherheitserfordernisse im Unternehmen stärker durchzusetzen. Ich erwarte von Herrn Hilger, daß er in diesem Punkt seine Unternehmenspolitik ändert.
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Dr. Jürgen StarnickBesten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der BUND hat schon 1984 formuliert:
Eine Chemiepolitik, wie sie erforderlich wäre, setzt eine Betrachtungsweise voraus, bei der die positiven und negativen Wirkungen eines Stoffes, aber auch seiner Neben- und Umwandlungsprodukte, unabhängig von betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten abgeschätzt werden. Dabei sind alle Phasen von der Produktion über den Gebrauch bis zur Beseitigung zu beurteilen. Chemiepolitik muß auf einen sozialen Nettonutzen des Einsatzes von Chemikalien abzielen.
Sie hat daher sowohl unter dem Aspekt des Umweltschutzes als auch dem der Ressourcenschonung den sparsamen Einsatz von Chemikalien unter Berücksichtigung ihrer Umweltverträglichkeit in allen Anwendungsbereichen zu bewirken. Damit wird Chemiepolitik — in Anwendung des Vorsorgeprinzips — zum Bestandteil staatlichen Handelns.
Seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren hatte der hessische Umweltminister Fischer als Dienstherr für die zuständige Gewerbeaufsicht ausreichend Gelegenheit, Chemiepolitik zu betreiben, um die von der Produktion der Hoechst AG ausgehenden Gefahren mit Unterstützung von Bürgerinitiativen und Umweltverbänden zu untersuchen. Statt dessen wurde ein über zwei Jahre dauernder schöngeistiger „ChemieDiskurs" durchgeführt. Offensichtlich will man es sich im Frankfurter Römer nicht mit dem großen Gewerbesteuerzahler verderben. Die Störfallserie ist so mit ein Ergebnis des Schmusekurses gegenüber der Firma Hoechst, der auf diese Art ein paar „Selbstverpflichtungen" abgerungen werden sollten.
Das von Hoechst ausgehende Störfallpotential ist seit langem bekannt. Wieso wurde die gesamte Anlage nicht schon lange einer Sicherheitsanalyse unterzogen? Die 1. und die 2. Störfallverwaltungsvorschrift der 12. Bundes-Immissionsschutzverordnung schreiben dies vor. Störfallpläne dürfen nicht erst dann definiert werden, wenn es „geknallt" hat.
Erinnern wir uns: Am 19. Juni 1984 wurde das Hamburger Werk des Pharmakonzerns Boehringer, das jahrzehntelang die Gegend mit Dioxin überzog, geschlossen. Fünf Jahre zäher Arbeit zweier Bürgerinitiativen, Aktionen von Robin Wood und Greenpeace sowie anderer Hamburger Aktivistinnen und Aktivisten führten zum Erfolg, wie die Kollegin Thea Bock, damals GAL Hamburg, bestätigen kann. Ich möchte dabei hervorheben, daß die GAL nicht in der Opposition war und die Aktionen hervorragend parlamentarisch unterstützt hat.
Anders in Hessen: Der Toxikologe Professor Otmar Wassermann z. B. verabschiedete sich aus der vom Umweltministerium einberufenen Expertenrunde direkt nach dem o-Nitroanisol-Störfall wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Auswirkungen und des Handlungsbedarfs. So können sich offenbar die Ansichten ändern, wenn man auf der Regierungsbank sitzt.
Den Vogel schoß der grüne Staatsrat beim Bremer Senator für Umwelt und Stadtentwicklung, Uwe Lahl, ab, der einen Tag vor der Kommunalwahl in der „taz" erklärte, Firmen wie Hoechst könne man nicht kontrollieren. Feststellung einer Tatsache oder Resignation?
Und vor 14 Tagen konnten wir im Umweltausschuß eine große Störfallkoalition erleben.
Frau Kollegin Enkelmann, vielleicht könnten Sie etwas leiser sprechen, Sie stören den Kollegen Voigt bei seiner Unterhaltung.
— Das wollte ich natürlich nicht. — Die Herren Minister Fischer und Töpfer lobten sich gegenseitig, denn beide hatten einen Grund, die Störfälle herunterzuspielen: Töpfer war in Sorge um den Chemiestandort Deutschland, und Fischer befürchtete Auswirkungen auf die hessischen Kommunalwahlen.
— Natürlich war ich dabei. — Beschwichtigend wurde heute im Umweltausschuß von einigen „Sicherheitsdefiziten" gesprochen; der gesetzliche Rahmen reiche völlig aus.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in ganzseitigen Anzeigen warb der Chemiekonzern Hoechst noch vor kurzem um Akzeptanz für den geplanten industriellen Einstieg in die Gentechnologie. Gefahren durch unkontrollierbare Freisetzung genmanipulierter Organismen wurden geleugnet. Dies versucht uns ein Chemiekonzern einzureden, bei dem selbst „klassische Chemie" den Störfall zum Normalbetrieb geraten läßt. Nicht ohne Grund ist die Gentechnologielobby zur Zeit auf Tauchstation. Ein massiver Freisetzungsstörfall der gepriesenen Supertechnologie könnte ganze Landstriche unbewohnbar machen.
Die PDS/Linke Liste fordert den Landtag Hessen auf, einen Untersuchungsausschuß zur Überprüfung der Anlagensicherheit bei Hoechst einzuberufen. Hieran müssen Bürgerinitiativen und Umweltverbände beteiligt werden. Auch die sofortige Stillegung von unsicheren Anlagenteilen, bei denen es noch nicht „geknallt" hat, darf im Interesse der Gesundheit von Mensch und Umwelt kein Tabu sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Konrad Weiß, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch bei der jüngsten Serie von Chemieunfällen lief das Szenarium ab wie immer: Erst war alles gar nicht so
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993 12673
Konrad Weiß
schlimm, und die Besorgten wurden als Panikmacher gescholten; dann war alles doch schlimmer, und die Verantwortlichen gaben sich besorgt. Die Politiker forderten strengere Kontrollen, und die Industrie versprach kleinlaut allen alles. Der Giftdreck wurde weggeräumt, soweit man seiner noch habhaft werden konnte. Zur Beruhigung wurden ein paar Sprüche geklopft, z. B. vom Verband der Chemischen Industrie — ich zitiere —:Das Vertrauen der Bevölkerung ist ein Grundpfeiler für unsere Arbeit. Wir wollen es zurückgewinnen und durch Taten überzeugen.Geradezu radikal war der Giftfabrikant Hoechst in seiner Erkenntnis, man müsse da und dort überlegen, ob die Nähe zu Wohnsiedlungen vernünftig sei.Mit den Jahren ist die Branche immer kleinlauter geworden, mit gutem Grund. Lange wurde Umweltschützern und GRÜNEN mit großem Werbeaufwand unterstellt, sie gefährdeten mit ihren Forderungen den Industriestandort Deutschland.
Inzwischen sollte auch dem blindwütigsten Chemophilen klargeworden sein, daß dafür die Chemieindustrie durch ihre Fahrlässigkeit selber sorgt.
Diesmal haben die Bewohner des Frankfurter Umlands schmerzhaft erfahren müssen, was es bedeutet, wenn den hehren Worten keine Taten folgen. Aber — dies gilt es realistischerweise festzustellen — Hoechst könnte überall sein. In vielen Teilen des Bundesgebiets gibt es die gleichen Anlagen, die gleichen Stoffgruppen und die gleichen Sicherheitsprobleme wie bei Hoechst in Hessen, gar nicht zu sprechen von den Reagenzien aus 40 Jahren sozialistischer Chemie, die überall in Ostdeutschland noch zu finden sind.Wenn man die Chemieunfälle der letzten Jahre analysiert, dann zeigen sich mindestens drei Gemeinsamkeiten.Erstens sind es Bedienungsfehler. Allzuoft stehen Mitarbeiter der chemischen Industrie unter Druck, weil Personal abgebaut wurde und weil sie belastender Schichtarbeit ausgesetzt sind. Sie sind häufig mangelhaft ausgebildet, erhalten teilweise ungenaue Anweisungen über ihre Tätigkeit und unzureichende Informationen über mögliche Gefahren.Zweitens sind es fehlende Sicherheitssysteme. Noch immer ist es gängige Sicherheitsphilosophie der chemischen Industrie, Überdruck, der z. B. durch Überhitzung in einem Kessel entsteht, in die Umwelt abzulassen, um eine Explosion zu verhindern. Auf Auffangefäße wird in der Regel aus Kostengründen verzichtet, ebenso auf technische Sicherheitseinrichtungen, die Fehlbedienungen verhindern oder korrigieren könnten.Drittens muß auf die katastrophale Informationspolitik hingewiesen werden. Überall ist es gängige Methode der chemischen Industrie, zu vertuschen und zu verharmlosen. Zugegeben wird immer nur so viel,wie unabweisbar ist. Für wirkliche Aufklärung sorgen immer erst unabhängige Umweltgruppen, die von der Industrie aber immer noch nach Kräften behindert werden, auch diesmal wieder.Eine vorsorgende Umweltpolitik darf aber nicht nur nach Katastrophen Maßnahmen ergreifen, sondern muß dafür sorgen, daß sie gar nicht erst auftreten. Das gilt auch für den sogenannten Normalbetrieb, bei dem regelmäßig große Mengen an Giftstoffen freigesetzt werden.BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert deshalb als ersten Schritt eine Überprüfung aller Chemieanlagen in Deutschland durch unabhängige Fachleute. Es kann nicht angehen, daß dies weiterhin industrienahen Einrichtungen überlassen bleibt, deren Information der Bevölkerung nicht zugänglich ist.Für Betriebe, die der Störfall-Verordnung unterliegen, ist eine Mindestschichtstärke festzulegen. Bei Unterschreiten der Schichtstärke dürfen im entsprechenden Verhältnis Anlagen oder Teile von Anlagen nicht gefahren werden. Zudem muß die Qualifikation der Beschäftigten besonders im Hinblick auf mögliche Gefahren, ihr frühzeitiges Erkennen und das notwendige Handeln dringend verbessert werden.Wir begrüßen den konstruktiven Vorschlag des Vorsitzenden der CDU-Sozialausschüsse, Ulf Fink, in allen größeren Betrieben einen Umweltbeauftragten zu bestellen, der die Interessen der Anwohner und der Belegschaft vertritt. Hoffentlich folgt der Ankündigung auch die Tat. Darüber hinaus müssen die Anlagen mit technischen Einrichtungen versehen werden, die Bedienungsfehler vermeiden, korrigieren oder zumindest Alarm geben.Letztens fordern wir den konsequenten Vollzug der Störfall-Verordnung. Die sieht vor, daß Betriebe die Bevölkerung von sich aus rechtzeitig informieren müssen. — Inwieweit hier von dem zuständigen Umweltminister Versäumnisse zu verantworten sind, darüber wird das Land zu befinden haben. Ich denke, daß der Ministerpräsident des Landes Hessen dazu etwas sagen wird. — Dies ist bis heute kaum umgesetzt.Unabhängig von allen rechtlichen Bestimmungen: Die chemische Industrie muß endlich damit aufhören, Daten über ihre Produktion wie ein Staatsgeheimnis zu hüten. Gerade wer — wie der Verband der Chemischen Industrie — von Dialog spricht, sollte ihn endlich auch praktizieren. Daß dies möglich ist, zeigt sich in den USA, die lange als Industrieparadies galten. Deutsche Konzerne, die dort produzieren, legen ihre Daten offen auf den Tisch. Im Toxic Release Inventory sind der Bevölkerung alle wesentlichen Daten zugänglich, während hierzulande die chemische Industrie Informationen immer noch bunkert.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Klaus Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehren Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst mit aller Deutlichkeit festhalten: Wir
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Bundesminister Dr. Klaus Töpferbrauchen auch weiterhin eine leistungsfähige, sich entwickelnde Chemie.
Lassen Sie mich hinzufügen: Wir brauchen diese Chemie gerade auch in Deutschland.
Wir brauchen sie aus zwei Gründen: Wir brauchen sie, weil man die Probleme, denen sich diese Welt mit täglich 250 000 Menschen netto mehr gegenübersieht, nur bewältigen kann, wenn man weiter auch in der Chemie Problemlösungen erarbeitet, damit auf diesem blauen Planeten Erde mehr Menschen überleben können. Und wir brauchen sie in der Bundesrepublik Deutschland, weil dieser Standort bezüglich der Qualität der Menschen, die in der Chemie arbeiten, und bezüglich der Kontrolle durch staatliche Behörden — seien es Landesbehörden, seien es kommunale Behörden, sei es das Gesetzeswerk auf Bundesebene — keinen Vergleich mit einem anderen zu scheuen braucht.Ich sage sehr nachdrücklich: Auch die Serie von problematischen Störfällen — ich komme darauf zurück —, die wir in der Firma Hoechst erlebt haben, kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine große Zahl hochqualifizierter Beschäftigter in der Chemie dafür sorgen, daß der Bundesrepublik Deutschland weltweit die erste Stelle auf diesem so wichtigen Sektor erhalten geblieben ist.
Meine Damen und Herren, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Chemie — Papier — Keramik, Hermann Rappe, ist hier anwesend und weiß sicherlich genau, wie umfangreich das Ausbildungsprogramm, die Qualifikationsstruktur der Mitarbeiter in den einzelnen Betrieben ist und daß die Gewerkschaften intensiv daran mitarbeiten, daß dies auf hohem Niveau weiterentwickelt wird. Dies festzuhalten berechtigt in ganz besonderer Weise, dann aber auch genau und kritisch zu verfolgen: Wo sind Probleme, wo müssen Probleme abgestellt werden?
Dies ist die Reihenfolge, in der die Dinge, wie ich meine, eine wesentliche Veränderung erfahren können.Ich halte es nicht für einen problematischen Schmusekurs, sondern für den Beleg der Tatsache, daß wir uns der Verantwortung für unsere Aussagen in der Öffentlichkeit und darüber hinaus sehr bewußt sind, wenn der Bundesumweltminister in der Bewertung eines Störfalls die gleiche Meinung hat wie der hessische Umweltminister. Was ist eigentlich schlimm daran? Ich habe, Herr Kollege Müller, in den beiden Sitzungen des Ausschusses, die wir dazu gehabt haben, nicht gehört, daß irgend jemand, auch nicht von der hessischen Landesregierung, gesagt hätte, dies alles sei eigentlich nur auf Grund des Fehlverhaltens bei der Gesetzgebung auf Bundesebene erklärbar. Das Gegenteil war der Fall. Kollege Fischer hat mir sehr deutlich gesagt: Wir wollen jetzt nicht in Reaktion darauf mehr oder weniger hektisch etwasverändern, was den Vollzug im Zweifel noch erschwert und nicht erleichtert.
Ohnedies haben wir im Vollzug — der Herr Ministerpräsident des Landes Hessen wird darauf wohl eingehen — erhebliche Probleme, Mitarbeiter in der erforderlichen Zahl und Qualität zu finden, die auch kontrollieren können. Wenn wir in der Reaktion auf jeden Störfall nur danach fragen: Was ist in den Gesetzen zu ändern?, dann werden wir die Qualität der Mitarbeiter im Zweifel nicht verbessern, sondern sie eher verschlechtern.
Deswegen ist es kein Ablenken von den Problemen, sondern es ist eine vernünftige und problemgerechte Antwort darauf, wenn man zunächst fragt: Was ist da falsch gelaufen, und wo muß man etwas ändern? Wenn Sie das nicht abstreiten, Herr Kollege Müller, was Sie mir im Zuruf sagen, dann sollten Sie bitte auch nicht hierher kommen und sagen: Zunächst einmal müssen wir das Fehlverhalten der Bundesregierung — fast schon wie Pawlowsche Hunde — wieder einmal kritisieren; weil wir hier stehen, muß die Bundesregierung kritisiert werden. Das kann doch wohl zum Ernst der Auseinandersetzung wirklich nicht hinreichend sein.
Deshalb habe ich mir mit großem Nachdruck auch das Recht genommen, kritisch nachzufragen, was dort nicht in Ordnung gewesen ist, und darauf hinzuweisen, daß es notwendig und möglich ist, den Vorgaben, etwa der Störfall-Verordnung und der damit verbundenen Verwaltungsvorschriften, auch durch die Überprüfung externer Sachverständiger nachzugehen.
—Ja, ich wollte es gerade sagen. Es steht sogar in, wie Sie gerade gesagt haben, „meinem" Gesetz.
Das steht in dem großartigen § 29a des BundesImmissionsschutzgesetzes. Was mich am meisten irritiert oder überrascht hat, war die Tatsache, daß mein Hinweis, man müsse mehr externen Sachverstand zur Überprüfung einbinden, als eine unerhörte Neuigkeit empfunden worden ist.
Das ist überhaupt nicht neu. Das steht in diesem Gesetz schon so lange wie der § 29a darin enthalten ist. Die Genehmigungsbehörde, die Aufsichtsbehörde, also die Hessische Landesregierung, kann natürlich Sachverständige in das Unternehmen schikken, und zwar nicht auf Kosten der Hessischen Landesregierung, sondern auf Kosten des Unternehmens,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993 12675
Bundesminister Dr. Klaus Töpferin dem das untersucht wird. Dies ist geltendes Recht.
Der von Ihnen erwähnte § 7 ist die Rechtsgrundlage für die Störfall-Verordnung, Herr Kollege Müller. Sie haben gesagt, wir hätten auf Grund des § 7 noch gar keine Verordnung erlassen. Die Störfall-Verordnung ist auf der Grundlage des § 7 erlassen worden.
Daraufhin sind entsprechende Verwaltungsvorschriften erarbeitet worden.Wenn wirklich jemand in den neuen Bundesländern die Meinung gehabt hätte, Herr Ministerpräsident, daß das, was die Bundesregierung bisher an Verordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, nicht hinreicht, ja, warum ist dann nicht eine entsprechende Initiative im Bundesrat in Gang gesetzt worden?
Ich bin der Überzeugung, wir können die Glaubwürdigkeit unserer gesamten Politik über Fraktionsgrenzen hinweg nicht verbessern, wenn wir hinterher fragen: Wie können wir dem jeweils anderen in der Parteienlandschaft noch irgendwo etwas in die Schuhe schieben?
Das werden wir nicht schaffen können.
Deswegen bin ich der Meinung, wir müssen darangehen — die Störfallkommission und der Technische Ausschuß für Anlagensicherheit haben das noch einmal belegt —, uns zu fragen: Ist es denn sinnvoll, bei druckführenden Anlagen eine Auffanglösung zu finden? Daß eine druckführende Anlage ein Sicherheitsventil haben muß, ist sogar im Sinne der Sicherheit dringend notwendig, Herr Kollege Weiß. Denn wenn wir Überdruck bekommen, wäre ein dann eintretender Störfall wohl noch ein bißchen größer. Man muß sich nur fragen, ob dann noch eine zusätzliche Sicherheitseinheit notwendig ist. Nebenbei: Auch sie wäre durch geltendes Recht bestens abarbeitbar. Man muß es dann halt nur tun.Also ich bin der Meinung, daß wir sehr viel stärker externen Sachverstand einbeziehen können. Wir werden erstens § 29a Abs. 2, Herr Kollege Müller, mit einer Verordnung weiter ergänzen, indem wir die Sachkunde fixieren.
Jetzt bereits können Sachverständige bestimmt werden.Wir werden zweitens heute die 5. Verordnung über den Störfallbeauftragten im Kabinett verabschieden. Die Beratung läuft zeitgleich im Kabinett. Ich hoffe, daß ich das dort noch hinreichend glücklich hinbekomme. Diese Verordnung ist keine Reaktion auf Hoechst — darauf lege ich höchsten Wert; so schnell arbeitet selbst die Bundesregierung nicht, daß wirinnerhalb von 14 Tagen danach eine solche Verordnung vorlegen könnten —, sondern sie war natürlich vorbereitet und wird jetzt entsprechend umgesetzt. Damit haben wir eine zusätzliche Handhabe, daß die 3 000 Anlagen der deutschen Chemie, die der StörfallVerordnung mit den erweiterten Pflichten unterliegen, mit einem Störfallbeauftragten versehen werden. Herr Kollege Weiß, schon seit langem gibt es dort natürlich den Immissionsschutzbeauftragten. Deswegen brauchen wir nicht noch einmal einen generellen Umweltbeauftragten.
— Ich nehme alle Vorschläge meiner Partei genauso ernst wie Sie. Und ich hoffe, daß Sie genauso Ihr Verhalten nach diesen Vorschlägen ausrichten, wie ich das tue, Herr Kollege Weiß. Das heißt, wir machen genau dies, daß wir den Störfallbeauftragten noch mit hineinbekommen.Ich halte es für dringend notwendig, daß wir uns mit den Gewerkschaften zusammensetzen und fragen: Wie geht es mit dem Betriebsverfassungsgesetz aus? Wie bekommen wir die Verklammerung von Arbeitsschutz und Umweltschutz besser hin, bis in die Organisationsstrukturen unserer Bundesländer hinein?Ich habe den kleinen Vorteil, daß ich einige Jahre in einem Bundesland Verantwortung getragen habe, wo mir natürlich auch die Frage gestellt worden ist: Wie siehst du denn die Trennung von Arbeitsschutz und Umweltschutz? Kriegen wir das in der Gewerbeaufsicht wieder zusammen, Herr Ministerpräsident? Solche Fragen jetzt, in Kenntnis dieser Dinge, zu bearbeiten halte ich für wichtig.Ein letztes. Ich halte es natürlich für dringend notwendig, daß wir uns in die Frage der Informationspolitik von Unternehmen mehr einmischen. Darüber ist zu Recht viel gesagt worden. Ich gehe auch hier nicht den einfachen Weg, zu sagen: Da ist bewußt unter den Teppich gekehrt worden. Aber wenn es unbewußt gewesen wäre, würde das die Bewertung nicht erleichtern.
Denn dann muß ich mich wirklich fragen: Welches Bewußtsein ist vorhanden, wenn so etwas unbewußt geschieht? Also hier intensiv weiter zu sprechen und nicht erst dann, wenn etwas passiert ist, zu informieren, sondern vorher schon. Das wäre der Sache dienlich. Wir freuen uns auf diese Zusammenarbeit in diesem Deutschen Bundestag.Ich danke Ihnen sehr herzlich.
Es ist immer schwierig, in Aktuellen Stunden fünf Minuten, neun Minuten und zehn Minuten Redezeit einzuhalten. Besonders schwierig ist es, weil der Präsident ja keine Ordnungsgewalt über Regierungsmitglieder und Mitglieder des Bundesrates hat. Also kann ich nur um Kollegialität bitten.
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12676 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Vizepräsident Hans KleinIch erteile als nächstem dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Hans Eichel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der chemischen Industrie Hessens haben sich seit dem 22. Februar zehn Störfälle ereignet. Am Beginn dieser Kette stand die Verseuchung weiter Teile des Frankfurter Stadtteils Schwanheim mit einer Substanz, die genverändernde und krebsauslösende Wirkung hat. Am vorläufigen Ende dieser Kette stehen der Tod eines Arbeiters und die schwere Verletzung eines weiteren Arbeiters.Sind diese Unfälle eine bloße Pechsträhne, oder sind sie die Folge struktureller Probleme in der Arbeitsorganisation der chemischen Industrie? Reichen die Sicherheitsgrundlagen aus, oder muß ein höherer Sicherheitsstandard durchgesetzt werden? Ich bin davon überzeugt, daß das Risikopotential der chemischen Industrie neu bewertet werden muß und daß die Sicherheitsanforderungen den neuen Erkenntnissen angepaßt werden müssen.
Übrigens gibt es hier ein Problem, das wir in Deutschland insgesamt noch haben: Die Sicherheitsanalysen, die vorgeschrieben sind und bis zum 1. August vorliegen müssen, sind bisher wohl nirgendwo vorgelegt worden. Man wird prüfen müssen, ob die chemische Industrie diese wenigstens überall bis zum 1. August vorlegt.Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und die im Wirkungsbereich der Chemieanlagen lebenden Menschen müssen die Gewißheit haben, daß alles Menschenmögliche getan wird, um Gefährdungen der Menschen und der Umwelt auszuschließen.
— Ich habe gesagt „alles Menschenmögliche getan wird, um es auszuschließen" . Ich habe nicht gesagt: um es überhaupt auszuschließen; wir alle wissen ja, daß das sicher eine Ilusion wäre.Zu den neuen Erkenntnissen: Es ist bemerkenswert, daß bei zwei der zehn Unfälle, darunter bei dem bislang letzten, Folgeunfälle aufgetreten sind. Chemieanlagen sind also nur begrenzt berechenbar. Gerät ein komplexes System einmal außer Kontrolle, so kann dieser chaotische Zustand Auslöser eines Folgeunfalls sein. Dies macht deutlich, daß die Industrie nicht nur die Pflicht hat, Störungen möglichst zu vermeiden, sondern darüber hinaus auch die möglichen Folgen von Störungen in den Blick nehmen muß.Die derzeitigen wirtschaftlichen Rückschläge in der chemischen Industrie dürfen nicht zu Abstrichen bei den Sicherheitsmaßnahmen führen; im Gegenteil. Ich zitiere dazu Herrn Professor Hilger und freue mich, daß er das genauso sieht:Nur ein sicherer Betrieb ist auf Dauer auch wirtschaftlich, und Arbeitsplätze dürfen nicht gegen die Umwelt ausgespielt werden. Diese Diskussion hatten wir früher schon. Nur eineökologisch verantwortbare Produktion sichert auf Dauer Arbeitsplätze.
Wir wollen den Chemiestandort Hessen sichern, auch und gerade natürlich der Arbeitnehmer wegen, und eine Gefährdung des Chemiestandorts Deutschland so gut wie möglich ausschließen, in wirtschaftlicher Hinsicht ebenso wie in ökologischer.
Hier müssen Staat und Wirtschaft ihre jeweilige Rolle überdenken und annehmen.Der Staat muß seine Kontrollmechanismen verbessern. Ich bin hier weit davon entfernt, Schuldzuweisungen in die eine oder andere Richtung vorzunehmen.Ich stimme Ihnen zu, Herr Professor Töpfer, daß das gar keinen Sinn hat. Auf Grund dieser Unfälle, die stattgefunden haben, muß jeder auf seiner Ebene nachsehen, was er tun kann, um zur Verbesserung der Sicherheit beizutragen.
Wir haben hier auch niemals, sehr verehrte Frau Enkelmann, einen Schmusekurs gegenüber Hoechst gefahren. Davon kann keine Rede sein. Ich würde mich auch nicht gern auf Herrn Professor Wassermann kaprizieren. Er kam zu spät und ging zu früh. Eine Diskussion war mit ihm angesichts des einhelligen Votums aller anderen Sachverständigen schwerlich möglich.
Wir haben uns seit unserem Regierungsantritt systematisch darum bemüht, die Zahl der Stellen in der Gewerbeaufsicht zu erhöhen und die Mitarbeiter dafür zu bekommen. Ich sage ausdrücklich: Das ist durchaus ein Problem. Wir haben mit dessen Lösung nicht erst seit diesen Unfällen begonnen. Aber man sieht, daß wir hier alle zusammen etwas tun müssen.Ich weise auch noch einmal darauf hin, daß die Sicherheitsanalysen, die auf Grund der Störfall-Verordnung vorgelegt werden müssen, noch nicht vorliegen. Ich sage noch einmal: Das ist offenkundig ein bundesweites Problem.Die Industrie muß für die Herstellung der Sicherheit sorgen. Wir in Hessen haben schon nach dem ersten schweren Störfall am 22. Februar weitgehende Konsequenzen gezogen. So sollen die rund 100 Anlagen, die mit der Unfallanlage vergleichbar sind, von zwei Technischen Überwachungsvereinen überprüft werden. Diese Kontrollen haben wir nach dem bisher jüngsten Unfall noch einmal ausgeweitet. Damit wird erstmals in einem Bundesland jede Chemieanlage, die der Störfall-Verordnung unterliegt, systematisch auf ihre Sicherheit untersucht. Am Ende dieser Überprüfung soll eine größere Sicherheit der gefährlichen Chemieanlagen in Hessen stehen.
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Ministerpräsident Hans Eichel
Wir müssen aber über diese Sofortmaßnahmen hinaus zu einer grundsätzlichen Verbesserung der Sicherheitsstandards kommen. Nach Auffassung der Hessischen Landesregierung muß im Bundes-Immissionsschutzgesetz die Pflicht der Industrie verankert werden, zusätzliche Sicherheitschecks vorzunehmen. Chemieanlagen müssen möglichst in einem dreijährigen Abstand von externen Sachverständigen überprüft werden.
Dies muß auch systematisch ausgeführt werden. Hier gibt es noch einiges zu tun.
Die Sicherheitschecks müssen sich dabei auch auf Organisations- und Arbeitsabläufe erstrecken,
soweit sie sich auf die Sicherheitsvorkehrungen beziehen. Es ist ohnehin eines der großen Probleme, die wir haben, daß — dies richtet sich wiederum an die Industrie — das Bewußtsein, daß der Mensch selbst Bestandteil des Sicherheitssytems ist, nicht hinreichend ausgeprägt ist. Ich glaube, daß hier noch notwendige Konsequenzen zu ziehen sind.Weiterhin hält die Landesregierung eine Neufassung des Anhangs der 12. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, der Störfall-Verordnung, für erforderlich. Die bisherige Aufzählung von Einzelstoffen und einzelner eng definierter Stoffgruppen erfaßt nicht alle sicherheitsrelevanten Stoffe. Abhilfe kann hier nur die Abkehr von der Einzelauflistung zugunsten einer Bildung von generellen Stoffgruppen schaffen. Darüber muß man diskutieren. Dies ist jedenfalls unsere Überzeugung.Nach neuen Erkenntnissen könnten dann Einzelstoffe jeweils einer Gruppe zugeordnet werden. Eine solche dynamische Fortschreibung würde den größtmöglichen Spielraum zur Erfassung neuer Stoffe schaffen.Wir alle, Politik und Industrie, müssen aus den Unglücksfällen lernen. Es müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, damit Fehlbedienungen und menschliches Versagen nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Dies ist Aufgabe der Industrie selbst. Die Beherrschbarkeit von Störfällen in organisatorisch-personeller Hinsicht muß gewährleistet werden. Wenn eine Weile nichts passiert ist — ich sage das nicht einer Schuldzuweisung wegen —, schleift sich vieles ein und ist man nicht mehr so aufmerksam — auch das ist menschlich —; man wird erst dann wieder aufmerksam, wenn ein Unfall passiert ist.Die technische Auslegung der Produktionsanlagen — auch darauf hat vorhin der Bundesminister angespielt — muß, wenn ich es richtig verstanden habe, so ausgebaut werden, daß dadurch menschliches Versagen möglichst aufgefangen wird und Auswirkungen auf Arbeitnehmer und Umwelt möglichst ausgeschlossen werden. Darauf fordern wir von der chemischen Industrie umgehend Antworten.
Die Kollegialität, Herr Kollege Töpfer, funktioniert. Der Herr Ministerpräsident hat die Zeit aufgeholt, die Sie überschritten haben. So ist alles wieder in Ordnung.
Als nächster hat der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Weiß, ich weiß nicht, ob ich ein Chemophiler bin. Ich bin gelernter Chemiker. Ich wohne hier mit meiner fröhlichen Familie einige hundert Meter von der Hoechst AG entfernt. Wir fühlen uns hier ganz wohl.Ich möchte auf einige Punkte eingehen, die Herr Eichel angesprochen hat. Herr Eichel, ich bedanke mich sehr für Ihre grundsätzliche Aussage: Wir wollen den Standort Deutschland für die Chemie sichern. Das ist etwas, dem alle zustimmen können. Der Oberbürgermeister von Frankfurt hat dies für Frankfurt gesagt: Wir wollen den Chemiestandort Frankfurt sichern.Nun stellen sich die Fragen: Was kann geschehen, und wer kann etwas tun? Der Herr Kollege Töpfer hat in überzeugender Weise die gesetzlichen Grundlagen gezeigt und nachgewiesen, daß sie ausreichen. Dies ist weder von den Sachverständigen-Kommissionen noch in den Gesprächen zwischen Bund und Land bestritten worden.Dann stellt sich allerdings die Frage des Vollzugs. Wenn Sie jetzt sagen, Herr Ministerpräsident, daß nach der Überzeugung der verantwortlichen Landesregierung zusätzliche Sicherheitschecks notwendig sind, dann liegt es bei der Landesregierung, diese zusätzlichen Sicherheitschecks durchzuführen.
Wenn die Landesregierung zu einem früheren Zeitpunkt der Überzeugung gewesen wäre, daß dies notwendig ist, um Unfälle zu vermeiden, hätte ein entsprechendes Handeln ebenfalls in der Verantwortung der Landesregierung gelegen.Daß die Frage der externen Experten kein Problem ist, wie es in der Diskussion dargestellt wurde, ist offenkundig. Herr Töpfer weist zu Recht darauf hin: Es steht eindeutig im Gesetz. Dagegen kann sich niemand verwahren, selbstverständlich auch nicht die chemische Industrie. Es ist auch so, daß bei der Griesheimer Anlage das, was hier zu der Anlage nach der Störfall-Verordnung eingereicht worden ist, auch von externen Experten an Hand der Unterlagen überprüft worden ist.Wir sind also in der Situation, daß wir bei einer sehr komplexen Technik immer wieder neu fragen müssen, wo wir ansetzen können. Der eine Bereich ist immer wieder die technische Entwicklung selbst. Herr Töpfer hat hier auf einige technische Maßnahmen hingewiesen, die man immer wieder überprüfen muß. Das kann sich fortsetzen bis zu einem weitergehenden Einsatz von Computern und Leitsystemen. Es ist vor allem der Schnittpunkt von Mensch und Gerät.Daß hier in der Ausbildung in der chemischen Industrie sehr viel getan wird, kann jeder feststellen, der sich mit Rolf Brand unterhält, dem Betriebsratsvor-
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Dr. Heinz Riesenhubersitzenden der Hoechst AG. Hier gibt es eine enge und herzliche Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung. Das ist einfach deshalb so, weil beide im gleichen Maße daran interessiert sind, daß die Sicherheit der Menschen und die Sicherheit der Umwelt gewährleistet sind.Was sich insgesamt an Konsequenzen ergeben kann, ist in den einzelnen Punkten dargelegt worden. Ich möchte hier nur noch auf zwei Punkte eingehen.Der eine Punkt betrifft die Neubewertung des Risikos der Chemie. Herr Eichel, ich würde ganz gern genau wissen, was Sie meinen. Ziehen Sie beispielsweise den Sicherheitsstandard der Chemie, ausgewiesen durch die Statistik der Berufsgenossenschaften zum Vergleich heran! Der Unfalldurchschnitt liegt in der chemischen Industrie wesentlich unterhalb des Durchschnitts aller Branchen; hierin ist der Einzelhandel ebenso wie die Bauindustrie enthalten. Wenn Sie in den Statistiken der Berufsgenossenschaften nachsehen, wie sich die Sicherheit in den vergangenen 20 Jahren verbessert hat, werden Sie feststellen, daß die chemische Industrie insgesamt ihre Sicherheitsstandards in höherem Maß als die anderen Branchen erhöht und die Zahl der Unfälle verringert hat.Es gibt hier keine absolute Technik. Die StörfallVerordnung spricht von fehlertoleranter Technik, nicht von einer absolut fehlersicheren Technik. Aber wir müssen die Technik weiter in dem Maß verbessern, wie wir es überhaupt durch verschiedene technische Maßnahmen können. Dies bleibt eine ständige Aufgabe in komplementärer Verantwortung von Staat, Wissenschaft und Wirtschaft. Dies ist eine Frage der Neubewertung, aber nicht etwa in einer grundsätzlichen Weise, als ob Sie sich danebenstellen und eine Fehlerbaumanalyse durchführen könnten, sondern die Frage, ob Sie die erfolgreiche Weiterentwicklung der chemischen Industrie kontinuierlich über eine lange Zeit mit dem durchführen wollen, was Staat, Wissenschaft und Wirtschaft, was Unternehmer, Betriebsräte und Gewerkschaften gemeinsam zu erreichen vermögen.Hierzu gehört ein letzter Punkt. Vor etwa 12 oder 15 Jahren gab es eine aufgeregte Diskussion darüber, ob Deutschland Blaupausenexporte betreiben sollte. Ich halte dies für eine geniale Idee. Nur muß man bedenken, daß die Intelligenz der Konkurrenten nicht unterschätzt werden darf. Man muß auch bedenken, daß es in Deutschland Hunderttausende von Menschen gibt, die nicht Blaupausen zeichnen, sondern als Arbeiter in den Werken arbeiten. Sie tun dies handfest und verläßlich aus großindustrieller Erfahrung. Sie können aber von Blaupausen nicht leben.Weil dies so ist, müssen wir als Industriestandort ein Höchstmaß an Sicherheit entwickeln: mit guten und neuen Produkten, mit bestmöglicher Technik, mit Wettbewerbsfähigkeit gegenüber internationaler Konkurrenz, aber auch mit der festen und gemeinsamen Entschlossenheit, der Chemie in Deutschland einen Standort auf lange Sicht zu ermöglichen.
Frau Kollegin CaspersMerk, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Riesenhuber, mit Gesundbeten ist, so glaube ich, der betroffenen Bevölkerung vor Ort wenig geholfen.
Ich halte es für wichtig, daß wir in diesem Fall auch darüber reden: Was kann in Zukunft getan werden, um diese schlimme Unfallserie zu beenden? Wo gibt es politischen und wo gibt es auch firmeninternen Handlungsbedarf? Tatsache ist doch wohl, daß sich in diesen Tagen eine Firma den Ast absägt, auf dem sie sitzt, ja, sogar den ganzen Baum gefährdet. Es ist der atemraubende Glaubwürdigkeitsverlust, den die Firma Hoechst in den letzten drei Wochen selber durch Abwiegelungs- und Verharmlosungsversuche verschuldet hat.Die Leitung der Firma Hoechst hat so den Chemiestandort Deutschland gefährdet. Wir wollen durch eine Wiederherstellung von Vertrauen in den Sicherheitsstandard den Chemiestandort Deutschland sichern.Gefährliche Produktion in dichtbesiedelten Gebieten wird in Zukunft nur noch da möglich sein, wo Risiken offen genannt werden und wo gleichzeitig ein Höchstmaß an Sicherheit garantiert wird. Verschweigen der Information und Bunkermentalität führen hier nicht weiter.Was aber macht der Chef von Hoechst und Präsident des VCI, Professor Hilger, noch im November? Er fordert allen Ernstes ein Umweltmoratorium für zehn Jahre, ja, sogar die Deregulierung von bestehenden Gesetzen.
Statt das Sicherheitsmanagement zu verbessern, wird auf das System geschimpft. Eine solche Geisteshaltung führt auch zu strukturellen Fehlentwicklungen in der gesamten Produktion.Was muß im Sinn des von mir genannten Zieles anders werden? Nehmen wir das Beispiel Schweiz. Spätestens seit Sandoz hat man dort die Lektion gelernt. So müssen in wenigen Tagen, zum 1. April, rund 10 000 Betriebe im Rahmen der schweizerischen Störfallverordnung ihren Sicherheitsbericht abliefern; das ist in vielen Bereichen schon erfolgt.In der schweizerischen Störfallverordnung findet sich ein interessantes Zitat, das nämlich, wenn diese Sicherheitsanalysen nicht ausreichen, der Gesetzgeber ungeachtet der wirtschaftlichen Tragbarkeit Anordnungen treffen kann. Das heißt, in der Schweiz heißt hier das Konzept: Sicherheit geht vor und kommt zuerst!Die Beteiligung externen Sachverstands von unabhängigen Fachleuten bei der Überprüfung der Sicherheit hat die chemische Industrie bislang konsequent abgelehnt. Der Verweis auf die ausgefeilten und differenzierten deutschen Sicherheits- und Umweltschutzbestimmungen reicht aber längst nicht mehr aus. In keinem Industriezweig — und erst recht nicht in der chemischen Industrie — haben sich Arbeits-
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Marion Caspers-Merkschutz- und Sicherheitsmaßnahmen aus reiner Menschenfreundlichkeit entwickelt. Entweder waren es klare ökonomische Probleme — beispielsweise die Sorge, durch Schadensfälle investiertes Geld zu verlieren —, oder es war der Druck der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der betroffenen Öffentlichkeit, der zu Verbesserungen im Arbeitsschutz und bei den Sicherheitsstandards führte.Das ist auch eine Frage nach der Mitbestimmung und nach der Verankerung der Arbeitnehmerrechte im Umweltschutz. Ich finde es ziemlich interessant: Noch 1991 sogar hatten wir einen Antrag für Betriebsbeauftragte für Umweltschutz eingebracht, und damals wurde dies von der Regierung noch als überflüssig und schädlich bezeichnet.
Hier kann man eigentlich lernen, daß Mitbestimmung mehr Umweltschutz erreichen könnte. Sie haben das damals, im Juli 1991, verhindert.
Über die ordnungspolitischen Bestimmungen in ihrer heutigen Problematik haben wir schon kurz gesprochen. Ich will auf die Frage nach Verordnungen nicht mehr im einzelnen eingehen; aber es ist klar, daß in zwei Verordnungsbereichen eine Bringschuld auch des Bundesgesetzgebers besteht. Herr Kollege Töpfer hat hier auch eingeräumt, daß diese beiden Dinge folgen sollen. Im Umweltausschuß wurde ja bereits auf diesen § 29 a hingewiesen. Auch das Defizit in der Frage des Störfallbeauftragen wurde im Umweltausschuß zur Sprache gebracht.Wir fordern, über diese Regelungen im BundesImmissionsschutzgesetz hinausgehend, eine Überarbeitung der Störfall-Verordnung insgesamt. Interessant finde ich das aus Ihrem eigenen Haus, aus dem Umweltbundesamt, in die Diskussion gebrachte Konzept des Ausbaus der Sicherheitsmaßnahmen im Sinn eines Zweibarrierenkonzeptes. Darüber hinaus sollte alle drei Jahre eine Überprüfung durch externe Sachverständige erfolgen. Was beim Auto selbstverständlich ist, daß der TÜV überprüft, gilt offensichtlich noch nicht für die chemische Produktion. Auch hier sollten wir zu einer regelmäßigen Überprüfung kommen.
—Der Vollzug ist nicht nur Ländersache, Herr Kollege Kampeter, sondern insgesamt muß hier gleichzeitig für eine Vereinheitlichung der Standortbedingungen gesorgt werden. Sonst haben wir wieder das alte Spiel: Ausspielung des Standorts Hessen gegen andere Standorte.
Deshalb muß die Störfall-Verordnung als Bundesverordnung einheitlich überarbeitet werden.
Bitte halten Sie sich mit Ihren Zwischenrufen zurück; denn die Redezeit ist beendet.
Vielleicht einen letzten Satz: Wir fordern auch in Zukunft eine Sicherheitspartnerschaft, bei der alle einbezogen sind. Wie wir alle zukünftig mit den Risiken einer hochentwickelten Industriegesellschaft umgehen müssen, kann nur in einer Sicherheitspartnerschaft, bei der Gewerkschaften, Industrie und Politik beteiligt sind, durchgeführt werden. Wir meinen, daß nur das für den Standort Deutschland Zukunft bringen kann.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Wir beschäftigen uns heute in dieser Aktuellen Stunde mit dieser Serie von Chemieunfällen bei Hoechst. Es geht in der Tat, Frau Kollegin Caspers-Merk, nicht um ein Gesundbeten. Ich habe aber nicht feststellen können, daß irgendeiner der Vorredner das getan hätte. Im Gegenteil, ich stelle fest, daß ein sehr konstruktives Umgehen mit diesem Problem und der Versuch dahinterstehen, Lösungen zu finden.In allen Fällen läßt sich bei diesen Unfällen festhalten, daß menschliches Versagen im Spiel war und für die Unfälle ausschlaggebend war. Man muß einfach sagen: Menschliches Versagen läßt sich nicht ausschließen; aber — und das ist wichtig — es ist nötig, die Folgen menschlichen Versagens zu kalkulieren und darauf vorbereitet zu sein. Und das war, so sehe ich es, bisher nicht der Fall.Das bedeutet für mich zunächst die Klärung der Frage, wie durch technische Maßnahmen Folgeschäden für die Umwelt und für die Menschen vermieden werden können — Folgeschäden, die durch menschliches Versagen zustande kommen.Außerdem scheint es nötig zu sein, den bisherigen Mix von staatlicher Überwachung und Eigenüberwachung, den wir bei den Unternehmen haben, durch die Überprüfung der technischen Funktion und der technischen Sicherheitsvorrichtungen durch externen Sachverstand zu ergänzen. Das haben sowohl Bundesumweltminister Töpfer als auch Landesumweltminister Fischer vorgeschlagen, allerdings in unterschiedlichem Rhythmus: Während Herr Töpfer das alles zwei Jahre kontrollieren will, will Herr Fischer das alle drei Jahre kontrollieren. Das erstaunt mich ein bißchen; andersherum wäre das eher zu erwarten gewesen.Für mich ist in dieser Sache vor allen Dingen völlig unverständlich, warum die Chemieindustrie hier in Übereinstimmung mit der IG Chemie solche externen Überprüfungen ablehnt. Vor allem von der IG Chemie hätte ich das nicht erwartet; denn ich meine, der IG Chemie müßte eigentlich die Sicherheit der Arbeitnehmer am Herzen liegen. Das hat mich also überrascht. Wenn Sie, Frau Caspers-Merk, sagen, wir bräuchten die Sicherheitspartnerschaft, dann stimme ich Ihnen völlig zu: Wir brauchen die Sicherheitspart-
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Birgit Homburgernerschaft. Aber in diesem Falle muß ich ganz deutlich sagen: Das geht sowohl an die Arbeitgeber als auch an die entsprechende Gewerkschaft.Ein weiterer Punkt ist die Ausbildung der Arbeitnehmer für die Beherrschung irregulärer Betriebsabläufe. Das bedeutet vor allem eine stärkere Schulung des Personals hinsichtlich der Abläufe im Störfall. Das heißt, qualifiziertes Personal muß zu jeder Tages- und Nachtzeit wissen, wie es zu handeln hat; und wenn das nicht der Fall ist, dann muß das Personal durch verstärkte Schulung und durch Übungen dazu gebracht werden, daß es auf Störfälle vorbereitet ist. Auch das scheint bisher nicht der Fall gewesen zu sein.Insbesondere wenn die Firma Hoechst ihr Personal tatsächlich als Sicherheitsfaktor ansieht, muß das Unternehmen dafür Sorge tragen, daß keine unnötigen Fehler passieren. Dazu brauchen wir nicht eine Novellierung der Störfall-Verordnung, sondern die Sicherung der Anwendung.Eine der Fragen ist: Warum brauchen wir einen Störfallbeauftragten? Ich möchte, da Sie vorhin von einem Betriebsbeauftragten für Umweltschutz geredet haben, hinzufügen: Wir haben schon Beauftragte und brauchen nicht jedesmal zusätzliche Dinge.Ein weiterer wesentlicher Punkt bei all diesen Störfällen ist die Informationspolitik der Firma Hoechst. Besonders bei dem ersten Fall, dem Unfall am Rosenmontag, kann von Informationspolitik überhaupt nicht die Rede sein. Hoechst hätte sofort nach dem Unfall auf den vorgeschriebenen Wegen die Information weiterleiten müssen. Es gibt schließlich Alarmpläne, in denen festgelegt ist, wer in welchem Fall wohin eine Information geben muß. Es gibt Standleitungen nicht nur zur Berufsfeuerwehr und zur Polizei, sondern auch zu Fachbehörden. Wären diese Alarmpläne eingehalten worden, dann hätte direkt mit der Beseitigung der ausgetretenen Gifte begonnen werden können, und zwar vor dem Berufsverkehr.
Es ging viel zuviel Zeit verloren. Wäre die Bevölkerung also sofort vorschriftsmäßig über die Art und den Umfang des Unfalls unterrichtet worden, hätten viele Unsicherheiten vermieden werden können.Man hätte bei diesem Unfall von vornherein sagen müssen: Leute, bleibt nach Möglichkeit zu Hause. Laßt vor allen Dingen Kinder nicht draußen spielen. Wenn sich ein Herausgehen nicht vermeiden läßt, dann sorgt dafür, daß Schuhe vor der Haustür stehenbleiben etc. Das sind ganz einfache Handlungsanweisungen, die hätten gegeben werden können und die nicht gegeben worden sind. Das ist ein Versäumnis.Ich meine, daß die Informationspolitik ein wichtiger Punkt ist. Was sollen denn die Bürger eigentlich denken, wenn ihnen einerseits gesagt wird, daß das ausgetretene Nitroanisol mindergiftig sei und keine Gefahr bestehe, und andererseits das Reinigungspersonal Schutzanzüge und Atemmasken trägt? Daß paßt nicht zusammen.
Es ist also unverständlich, daß Hoechst nicht sofort alle Informationen offen dargelegt hat. Hoechst hat damit nicht nur Vertrauen in den eigenen Betrieb verspielt, sondern das Vertrauen in die gesamte chemische Industrie in der Bundesrepublik Deutschland aufs Spiel gesetzt. Störfälle wie die in Griesheim schaffen Ängste und Sorgen bei der Bevölkerung, die sich dann bei Einwendungen gegen neue Anlagen oder bei Einwendungen zu Genehmigungsverfahren niederschlagen können. Die Akzeptanz und das Vertrauen der Bevölkerung sind allerdings ein wichtiges Potential für den Standort Bundesrepublik Deutschland. Auch die Firma Hoechst muß dazu beitragen, daß dieser nicht gefährdet wird.
Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Störfälle bei der Hoechst AG sind sicherlich berechtigter Anlaß dazu, eine bestimmte Firma, bestimmte Firmen, ja die ganze Industrie verstärkt in die Pflicht zu nehmen und vieles zu überprüfen, was bei den Unternehmen selbst, aber vielleicht auch bei den Behörden Routine geworden war.Menschen sind zu Schaden gekommen. Anwohner in der Gegend haben in Sorge um ihre Gesundheit gelebt. Die Informationen von dem Unternehmen kamen zunächst nicht, dann nur zögerlich. All das ist dazu angetan, die Akzeptanz dieser Informationen in Frage zu stellen.Derartige Vorgänge sind nicht nur für die Umweltpolitik, sondern auch für die Wirtschaftspolitik äußerst alarmierend; alarmierend deshalb, weil es nicht nur um die Verringerung von Gefahrenpotential für Mensch und Umwelt geht, sondern auch deshalb, weil daraus nachvollziehbar und ganz verständlich eine Diskussion um Arbeitsplätze und um den Chemiestandort Deutschland insgesamt entsteht. Wenn wir diese Diskussion führen, dann geht es auch um unsere Lebensgrundlagen auf ganz andere Weise.
Ich bin eigentlich sehr erfreut darüber, daß die Diskussion hier im Bundestag — ich würde sagen: von allen Seiten — vor dem Hintergrund einer großen Sorge um den Chemiestandort geführt worden ist. Dies unterscheidet sich wohltuend von einer Reihe von Stimmen, wie sie unmittelbar im Anschluß an die Störfälle draußen zu hören waren.Es gilt für mich, darauf hinzuweisen, daß es bei der Chemieindustrie um Tausende von Unternehmen geht, die die gesetzten Standards erfüllen, die diese Standards sogar übererfüllen und die Chemie mit Augenmaß und mit Verantwortung betreiben.Ich möchte auch ein Wort zu den Hunderttausenden von Arbeitnehmern in der Chemieindustrie sagen, die hochqualifiziert und umsichtig ihre Arbeit leisten und die dafür Sorge tragen, daß objektiv bestehende Risiken auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben, und die es nicht verdienen, daß durch Mängel und Unzu-
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Bundesminister Dr. Günter Rexrodtlänglichkeiten in den Unternehmen und Mängel und Unzulänglichkeiten an bestimmten Stellen ihre Arbeit insgesamt in Frage gestellt wird.Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, daß Daten und Fakten, trägt man sie in einer solchen Debatte vor, immer zusammenschmelzen wie Schnee in der Sonne, wenn man sie menschlichen Grundwerten gegenüberstellt — zu Recht im übrigen. Aber ich würde meiner Verantwortung als Wirtschaftsminister nicht gerecht, wenn ich darauf verzichten würde, darauf hinzuweisen, daß es bei der Chemieindustrie um einen Industriezweig geht, in dem 650 000 Menschen Arbeit und Brot haben, in dem ein Ausfuhrüberschuß von 30 Milliarden DM erwirtschaftet wird, in dem 11,2 Milliarden DM in Forschung und Entwicklung investiert und in dem ganz erhebliche Investitionen darüber hinaus getätigt werden, und daß es sich um einen Wirtschaftszweig handelt, der gute Chancen hat und dabei ist, in den neuen Bundesländern einen Beitrag zum Aufschwung zu leisten. Mit Autoindustrie, Maschinenbau und Elektrotechnik gehört die chemische Industrie zu den Schlüsselbereichen unserer Wirtschaft.Die chemische Industrie ist in der Pflicht, ein Höchstmaß an Sicherheit ihrer Produktionsanlagen zu gewährleisten, ihre Mitarbeiter umfassend zu schulen und alle notwendigen innerbetrieblichen und organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, um Schäden, auch solche durch menschliches Versagen, mit größtmöglicher Zuverlässigkeit auszuschließen. Dies ist eine Vorbedingung für die Akzeptanz der chemischen Industrie, für die Erhaltung des Chemiestandortes Deutschland, für die Attraktivität Deutschlands als guter Forschungs-, Entwicklungs-, Investitions- und Produktionsstandort für die Chemie.Wir können auf diese Industrie in Deutschland nicht verzichten. Diese Industrie ist selbst gefordert. Aber sie selbst und ihre Arbeitnehmer brauchen auch ein Bekenntnis von der Politik. Dieses abzugeben, sehe ich als meine Verpflichtung an.Schönen Dank.
Als nächster hat der Kollege Dr. Klaus Lippold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Im Ausschuß für Umwelt herrschte weitgehend Übereinstimmung darüber, daß die gesetzlichen Regelungen und Vorschriften, die wir geschaffen haben, ausreichend sind. Der Ausschuß für Umwelt tagt nicht öffentlich. Deshalb herrscht dort auch weitgehend Sachlichkeit. Herr Müller, der im Ausschuß dabei war, im Ausschuß die Vorgehensweise nicht kritisierte und im Ausschuß durchaus akzeptierte, was dort gesagt wurde, stellt sich hierhin und stellt alles völlig anders dar. Aber hier haben wir ja Öffentlichkeit.Ich glaube, es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Politik, daß man an allen Stellen genau das sagt, was Sache ist, und nicht dort, wo Öffentlichkeitzugelassen ist, anders redet als dort, wo man zu Problemlösungen sachlich etwas ausführt. Das kann so nicht gehen.
Das war ja kein Wunder: Herr Müller geht in Richtung Bund. Dann kommt Frau Enkelmann, die sich dort sowieso nicht richtig zu Hause fühlt, und geht in Richtung Land. Da setzt dann die übliche politische Keilerei ein, die uns doch nicht weiterbringt.
Alle sagen natürlich „die Chemie". Möglichst keine Differenzierungen, meine Damen und Herren! Pauschalurteile sind doch viel leichter. Und das von Politikern, die hier einen Perfektionismuswahn an den Tag legen, bei dem ich mich frage, ob, wenn ich die Politiker auf den Prüfstand stellen würde, auch nur ein Hauch dieser Perfektion dabei herauskäme, die ich von den Unternehmen und ihren Belegschaften ständig erwarte, so wie das hier im Munde geführt wird. Seien Sie doch einmal ein wenig ehrlicher mit sich selbst.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund: Ich komme aus Hessen. Ich komme vom Chemiestandort Rhein/ Main. Ich weiß, was dieser Chemiestandort für uns wert ist.Ich will Ihnen auch etwas zur Sicherheit sagen, weil Sie dramatisieren. Das Vorsorgekonzept, die Vorsorgephilosophie der Bundesregierung hat dazu geführt, daß sich die unfallspezifischen Zahlen in den Unternehmen in den letzten 30 Jahren um zwei Drittel reduziert haben. Das heißt, wir haben wesentlich mehr an inhärenter, wir haben wesentlich mehr an äußerer Sicherheit in den letzten Jahrzehnten geschaffen. Warum verschweigen Sie das, warum hüten Sie das eigentlich wie ein Staatsgeheimnis, wenn es um Dinge geht, zu denen in den vergangenen Jahren wirklich etwas geleistet wurde, und zwar, Herr Rappe, dank der verantwortungsvollen Handlungsweise der Tarifpartner?Wenn sich hier jemand hinstellt und sagt, was die IG Chemie gesagt habe, dann wäre es doch ganz einfach, wenn die Kollegen Ihrer Fraktion einmal die entsprechenden Kollegen fragen würden, wie die Haltung der IG Chemie ist. Das würde ich auch einigen Koalitionsabgeordneten nahelegen. Es ist ja ganz einfach, sich von Kollege zu Kollege zu unterhalten, bevor man zu Mißverständnissen beiträgt, die völlig unnötig sind. Völlig unnötig!
Ich greife auf, was Minister Töpfer gesagt hat: Wir brauchen die Chemie zur Lösung von weltweiten Problemen. Wir brauchen sie auch für uns. Wir brauchen sie in einer sicheren und verantwortbaren Form. Daran arbeiten wir. Aber dann sollten wir nicht aus der Hüfte ständig wechselnde Rezepte entwickeln, die übermorgen nicht mehr erwähnt werden, weil sie halt als Schnellschüsse sofort in Vergessenheit geraten.
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Dr. Klaus W. Lippold
Warum bezieht sich hier eigentlich niemand auf die ersten vorliegenden Ergebnisse der Experten aus der Störfallkommission und aus der Technischen Kommission für Anlagensicherheit? Ich verstehe das nicht. Warum geht man nicht auf Experten zurück? Warum bleibt man bei vorgefertigten Meinungen? Warum bleibt man in den alten Gräben, wenn es darum geht, Sachprobleme für die Menschen in unserem Land zu lösen? Nein, dann müssen Sie sich schon einmal damit auseinandersetzen, was Sicherheitskommission und was Störfallkommission gesagt haben, und das durchdiskutieren.Aber das erfordert natürlich Aufwand. Da kann ich mich nicht einfach hinstellen und schwätzen. Das ist doch viel schöner. Ich habe vorher Ihre Reden nachgelesen. Sie unterscheiden sich nur unwesentlich von dem, was Sie bei den letzten Vorgängen gesagt haben, und darauf ist reagiert worden.Wenn schon, dann bin ich dafür, daß wir das aufgreifen, was gesagt worden ist: daß Politik im Lande, was den Vollzug angeht, daß Politik im Bund noch einmal deutlich prüft, wo Ansatzpunkte sind. Dann sollten wir auf das zurückkommen, was von den Kommissionen im wesentlichen gesagt wurde: Die Schnittstelle Mensch-Anlage wird wohl das Kernproblem sein. Da haben wir dann wirklich noch genug zu arbeiten, um das weiter zu verbessern.Aber, Herr Weiß — das sei Ihnen gesagt —, eine völlige Unfallosigkeit wird es in diesem Lande nicht geben. Diese Erwartung zu hegen wäre völlig falsch. Das, Herr Weiß, kann man nicht tun. Wer die Erwartung so hoch hängt, wird die Menschen enttäuschen müssen. Das ist der falsche Weg.
Nun hat die Kollegin Thea Bock das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! Herr Kollege Lippold, ich glaube, wer eben die sachliche Debatte durch Oberkeilerei, wie Sie es genannt haben, verlassen hat, waren Sie.
Ich habe eben erfahren, daß es eine Absprache im Umweltausschuß gegeben hat, sich auf Sachfragen zu beschränken, weil der Minister nicht anwesend sein konnte.
— Sie haben das eben so dargestellt. Vielleicht können Sie das auseinandernehmen. Mir sind meine fünf Minuten Redezeit zu schade, um darauf jetzt einzugehen.Auch ich möchte uns etwas nachdenklich stimmen. Es fällt auf, daß eine umfassendere chemiepolitische Debatte im Bundestag immer erst dann stattfindet, wenn es geknallt hat.
Wenn es zu irgendeiner Katastrophe gekommen ist,dann nehmen wir uns die Zeit, dieses Thema umfassend zu diskutieren. Leider in der Aktuellen Stunde kann man es auch nicht.
Dann wird darüber nachgedacht. Der aktuelle Punkt wird genommen, wo es geknallt hat, wo es zur Katastrophe gekommen ist, um diesen Fall zu untersuchen und eventuell Änderungen in der Gesetzgebung oder in der Kontrolle vorzunehmen.Mir geht es nicht nur darum, darüber zu reden, ob die Anlagen sicher sind, was für diejenigen wichtig ist, die in unmittelbarer Nähe von Chemieanlagen leben. Herr Kollege Riesenhuber, das gilt für Sie vielleicht nicht; Sie kommen aus der Forschung und Technologie und haben die Ängste nicht. Die Ängste in der Bevölkerung haben doch verschiedene Gründe. Die Leute sehen diese Chemieanlage in ihrer Nähe. Sie wissen nicht, was darin geschieht. Dann haben sie gehört, daß anderswo etwas in die Luft geflogen ist. Sie haben auch nicht die Chance zu erfahren, was da eigentlich und wie es produziert wird. Daher kommen die Ängste, und die nehme ich sehr ernst.Wir müssen aber nicht nur darüber nachdenken, wie die Anlagensicherheit verbessert werden kann. Wenn das Risiko zu groß ist, müssen wir vielmehr schnellstens darüber nachdenken, welche Alternativen es zu dieser Produktion und zu diesen Produkten gibt.
Das hat nichts damit zu tun, daß der Chemiestandort Deutschland nicht erhalten bleiben soll.Ich teile die Auffassung, die der Herr Minister in einem Satz zum Audruck gebracht hat: Wir müssen ein moderner Standort für die Chemieindustrie sein. „Modern" heißt für mich, nicht an alten Produktionsverfahren festzuhalten, die sich als gefährlich herausgestellt haben. Die chemische Industrie ist vielmehr in der Pflicht und der Verantwortung, bei der Risikominimierung über andere Verfahren und andere Produkte nachzudenken.Das Vertrauen der Bevölkerung ist nach dieser Unfallserie noch mehr geschwunden. Dadurch sägt die Chemieindustrie im Grunde genommen an ihrem eigenen Image. Das kommt nicht durch irgendwelche Scharfmacher.Die Verantwortung für ihre Produktion muß sie bis zum Ende, bis zum Abfall wahrnehmen. Es kann doch nicht sein — die Kollegin Enkelmann hat auf das Thema Boehringer verwiesen —, daß es erst neun Jahre, nachdem dieser Betrieb geschlossen worden ist, die Diskussion darüber gibt, was wir mit den Betriebsabfällen von damals, von vor neun Jahren machen. Die liegen noch auf diesem Gelände. Jetzt geht es um die Verantwortung der Chemieindustrie. BASF, Bayer, Dow Chemical usw. lehnen es ab, diese Produktionsabfälle zu übernehmen und zu vernichten. Was passiert? Es werden Anträge in Großbritannien gestellt, um dieses Zeug endlich loszuwerden. Das ist eine verantwortungslose Politik der Chemieindustrie.Ich bin nicht bereit, nur darüber nachzudenken, ob ein Kessel in Ordnung ist oder nicht. Wenn die
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Thea BockPhilosophie so ist, daß bei Überdruck dieses Zeug einfach in die Luft abgelassen wird, dann verstehe ich überhaupt nicht, wieso kein Containment darüber gebaut worden ist. Das ist eine Sache, die das jeweilige Land und vor allen Dingen auch der Bund regeln müssen.Eine Firma ist vorgeprescht. Dow Chemical hat über die Phosgenanlage freiwillig ein Containment gebaut. Unter Konkurrenzdruck haben die anderen Firmen und auch der VCI diese Firma, die freiwillig vorprescht, sozusagen diskriminiert. Das zeigt, daß diese Philosophie in den Firmen nicht vorhanden ist.Auch die Gewerkschaften sind hier angesprochen. Mich hat es auch erstaunt, daß die IG Chemie jetzt sagt, sie sei gegen den externen Sachverstand. Aber es ist doch wirklich so: Wenn ich nichts zu verbergen habe, dann muß unangemeldet jederzeit die Kontrolle möglich sein.Um das Vertrauen wiederherzustellen bitte ich darum, die chemische Industrie in die Pflicht zu nehmen, sich der Verantwortung zu stellen und pflichtgemäß das auszuführen, was wir von der Politik an Rahmenbedingungen setzen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Professor Dr. Norbert Rieder das Wort.
— Herr Kollege Reuter, die haben sich bei mir entschuldigt. Sie müssen ins Kabinett.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätestens nach dem erschütternden Todesfall vor zwei Wochen bei Hoechst ist klar gewesen, daß wir uns im Plenum des Bundestages mit den Unfällen und Störfällen der letzten Zeit werden beschäftigen müssen. Das ist auch richtig so. Ist doch keine Technik so sicher, daß sie nicht noch verbessert werden könnte und auch verbessert werden müßte. Das Streben nach mehr Sicherheit ist ja die Triebfeder jeglichen Fortschritts.
Doch gerade dann, wenn man möglichst schnelle Verbesserungen erreichen will, ist es besonders nötig, so emotionsfrei wie möglich an die Sache heranzugehen. Das ist sicherlich gerade bei der chemischen Industrie nicht ganz leicht. Das zeigt auch der bisherige Verlauf der Diskussion, nicht sosehr hier im Plenum — die ist erstaunlich sachlich verlaufen —, sondern in der Presse in aller Deutlichkeit.
Was wir brauchen, sind Aktionen, nicht Aktionismus. Versuchen wir es deshalb einmal in aller Ruhe. Zuerst sollten wir dazu eine Unterscheidung vornehmen. Den Unfall mit Todesfolge, also das innerbetriebliche Ereignis, müssen wir wie jeden anderen Unfall in einem beliebigen Betrieb betrachten. Herr Riesenhuber hat dankenswerterweise die entsprechenden Statistiken zitiert. Da liegt die chemische Industrie trotz dieses Unfalls auf der positiven Seite.
Wir müssen andererseits die Gefahren für die Umwelt betrachten, die ohne Zweifel und seit eh und je mit der Produktion von Chemikalien verbunden sind.
Wenn diese zwei Dinge allzusehr miteinander verknüpft werden, dann kommt es zu solch unsäglichen Verdrehungen wie der, daß die möglicherweise beim Brand der PVC-Platten der Gebäudeverkleidung des Mowiol-Betriebes entstandenen Dioxine so hingestellt werden, als ob sie viel wichtiger seien als der tote und der schwer verletzte Chemiewerker. Hier sind verschiedenen Damen und Herren — in diesem Falle von der Presse — die Relationen offensichtlich ein wenig durcheinander gekommen. Was wir also brauchen, ist eine genaue Analyse des Unfallhergangs, bevor wir nach speziellen Maßnahmen schreien.
Anders dagegen sieht es mit der chemiespezifischen Umweltgefährdung aus. Auch hier ist es mit Sicherheit so, daß Verbesserungen im Standard nicht nur möglich, sondern auch notwendig sind. Daran ändert auch nichts das nicht besonders durchdachte Gerede der letzten Zeit, das speziell aus der chemischen Industrie kam, daß nämlich der ach so überzogene Umweltstandard der Bundesrepublik Deutschland den Chemiestandort Deutschland gefährde.
Sicherlich gibt es Bereiche, wo des Guten zu viel getan wurde und wo wir ernsthaft überlegen müssen, Auflagen wieder zurückzunehmen oder zu deregulieren. Aber insgesamt haben ja gerade die Beispiele der letzten Zeit gezeigt: zu niedriger Standard macht es eventuell schwierig, in der dichtbesiedelten Bundesrepublik bestimmte Produktionen aufrechtzuerhalten.
Deshalb muß in Zusammenarbeit zwischen den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und der Politik im gemeinsamen Interesse — besser als in der Vergangenheit — alles getan werden, um die noch vorhanden Risiken zu verringern. Dies muß auf verschiedenen Ebenen geschehen: bei der Ausbildung der Facharbeiter, bei der Ausbildung der Chemiker, aber auch bei der Unternehmensleitung und genauso natürlich bei der Überwachung und den gesetzlichen Auflagen.
Dies ist übrigens — diese Bemerkung sei mir noch erlaubt auch im Interesse der Eigentümer, also der Aktionäre der betreffenden Firmen. Diese Aktionäre wären mit Sicherheit gut beraten, darauf zu drängen, daß diejenigen Vorstandsvorsitzenden, die zu einer solchen vertrauensvollen Zusammenarbeit nicht willens oder nicht in der Lage sind, in den verdienten Ruhestand geschickt werden.
Denn wer besonders in der Verantwortung steht, muß daraus gegebenenfalls auch die Konsequenzen ziehen.
Vielen Dank.
Nun spricht der Kollege Dr. Peter Paziorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei einer Unfallkette wie
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Dr. Peter Paziorekder bei der Hoechst AG in Frankfurt ist es ganz selbstverständlich, daß die Frage aufgeworfen wird, ob die Sicherheitsbestimmungen ausreichend sind oder nicht. Ich will aber gleich vorweg sagen: Es kann nicht das Ziel der Politik sein, zur Beruhigung einer aus nachvollziehbaren Gründen beunruhigten Bevölkerung das Umweltrecht zu ändern, nur um überhaupt irgendwelche Aktivitäten nachzuweisen. Also muß gefragt werden: Reicht das Störfallrecht für den Umwelt- und Arbeitsschutz trotz der Unfallserie bei der Hoechst AG grundsätzlich aus oder muß es verändert werden mit dem Ziel, allgemeine Nachrüstungen für Anlagen der chemischen Industrie zu erreichen?Wie ist der Sachverhalt? Der Technische Ausschuß für Anlagensicherheit hat in seiner Sichtzung am 18. März 1993 die Feststellung getroffen, daß das vorhandene Vorschriftenwerk ausreicht. Nach Ansicht dieses Ausschusses muß das Erkennen und Kontrollieren ausbrechender Reaktionsabläufe aber noch bedeutend besser werden. Aus dieser ersten Analyse kann somit die Schlußfolgerung gezogen werden, daß manches in der praktischen Handhabung bzw. in der betrieblichen Reaktion auf solche Störfälle verbessert werden muß. So hat auch die Störfallkommission festgestellt, daß die Sicherheitsanalyse stärker als bisher eine eingehende Fehleranlayse beinhalten muß.Es ist aber der Störfallkommission hinsichtlich ihrer Feststellung ausdrücklich zuzustimmen, wonach regelmäßige Kontrollen für Anlagen und regelmäßige Überprüfungen der Sicherheitsanalyse auch langfristig die Sicherheit der Anlage gewährleisten muß. Diese regelmäßigen Kontrollen und periodischen Überprüfungen in engem Zusammenwirken zwischen Behörde und Unternehmen heben natürlich nicht die Eigenverantwortung des Betreibers auf. Das sage ich sowohl an die Adresse der chemischen Industrie als auch — nach der ersten Einlassung von Herrn Müller — an die Angehörigen der Opposition im Bundestag.Ich warne auch davor, den in den Beratungen des Umweltausschusses festgestellten Konsens über die Konsequenzen aus der Unfallserie bei Hoechst hinsichtlich des Störfallrechtes aufzukündigen. Eine Haltung nach dem Motto „Haut ihr unseren Umweltminister, dann hauen wir euren Umweltminister" bringt uns auch in der Sache sicherlich nicht weiter.
Alle bisherigen Analysen bestätigen, daß es nicht darauf ankommt, gesetzliche Vorschriften neu zu fassen. Vielmehr ist es notwendig, die sachgemäße Umsetzung dieser Vorschriften in die Praxis zu gewährleisten.Hier wurde ab und zu auch das Stichwort „Vollzugsdefizit im Umweltrecht" angesprochen. Da gibt es eine Menge von Analysen. Aber immer wieder kommt man zu zwei Punkten. Erstens wird gesagt: In der Tat gibt es auch auf Länderebene Defizite in der Besetzung bei den zuständigen Landesbehörden. Zweitens wird in den wissenschaftlichen Untersuchungen immer wieder darauf hingewiesen, daß eine dauernde, rasante, immer wieder schneller werdendeÄnderung des Umweltrechtes auch zu tatsächlichen Verunsicherungen in den Genehmigungsbehörden und Vollzugsbehörden auf Länderebene führt. Wir müssen uns vor Augen führen, daß es nicht richtig ist, immer wieder — zum Teil hektisch — umweltrechtliche Bestimmungen zu ändern, obwohl wir wissen: Die Schwierigkeiten liegen nicht im Umweltrecht an sich, sondern in der praktischen Umsetzung vor Ort bei den Behörden. Das ist ein Akzent, der heute in aller Deutlichkeit herausgearbeitet werden sollte.Professor Hilger von der Hoechst AG hat selbst erklärt, daß Fehler gleich nach dem Unfall gemacht wurden. Ich meine, wenn das so gesagt wird, müssen wir auch weiterhin fordern, daß die chemische Industrie hier eine sogenannte Bringschuld hat. Es wäre sehr interessant, zu erfahren, welche Vorschläge die chemische Industrie macht, um das Zusammenwirken zwischen Behörden und Unternehmen auch tatsächlich beim Eintritt eines solchen Vorganges, wie er bei der Hoechst AG geschehen ist, zu verbessern.Ich glaube, die chemische Industrie sollte auch ihren Widerstand gegen die Hinzuziehung von externem Sachverstand bei der Überprüfung von besonders schwierigen Chemieanlagen aufgeben. Ich schränke ein: besonders schwierige Chemieanlagen. Denn keiner hat § 30 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erwähnt. Darin steht, daß die Überprüfung nach § 29a — die Sie zum Teil nicht erlassen haben, Herr Ministerpräsident — letztlich ja auch nur von der chemischen Industrie finanziert wird. So sagt es § 30 des Immissionsschutzgesetzes. Deshalb die Einschränkung auf besonders schwierige Anlagen.Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die aktuellen Ereignisse haben erneut deutlich belegt, daß es auch in Deutschland keinen Stillstand in der Umweltschutzpolitik geben darf. Der Chemiestandort Deutschland ist nur dann langfristig sicher, wenn die Sicherheit der chemischen Anlagen in der Praxis gewährleistet ist.
Als letzter hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es bedurfte offensichtlich erst der Kette von Unfällen beim Hoechst-Konzern, um ein seit langem schwelendes Problem des Industrie- und Chemieriesen Deutschland zum Gegenstand von Beratungen hier zu machen. Das ist schon deshalb beschämend: Der Schutz von Leben und Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger kann in unserem politischen System offensichtlich erst dann gewährleistet werden, wenn Störfälle mit entsprechenden Gefährdungen von Menschen aufgetreten sind.Geschäft kommt nach wie vor vor dem vorbeugenden Schutz des Lebens und der Gesundheit. Bhopal, bei dem laut „Focus" 2 500 Menschen bei einem Chemieunfall umgekommen sind, kann eben auch bei uns passieren. Ich zitiere den „Spiegel": Der TÜV- Rheinland errechnete in einem Computerszenario die Auswirkungen der Explosion eines Phosgentanks Bayer-Werk Leverkusen:
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Dr. Ulrich BriefsIn der Zone A würde in einer 300-Meter-Schneise — abhängig von Windrichtung und Wetterlage — jeder zweite Einwohner sterben, in der Zone B käme es für die meisten Menschen zu Lungenschäden.Die Zone A reicht übrigens bis kurz vor Duisburg und kurz hinter Bonn. Die Zone B reicht bis in die Niederlande und umfaßt fast das gesamte Ruhrgebiet.Diese und andere Informationen belegen: In Deutschland mit seinen mehreren tausend Chemiebetriebsstätten, die zumeist noch in Ballungsgebieten liegen, ist ein Großteil der Bevölkerung an Leib und Leben bedroht. Bedroht durch eine Chemie, die jedes Jahr ca. 400 bis 500 neue Substanzen entwickelt. Einige dieser Substanzen werden giftig oder sogar hochgiftig sein.Nicht nur die moderne Chemie, sondern überhaupt die moderne Industrieproduktion wird generell in der Tendenz immer giftiger, weil die Entwicklung und der Einsatz entsprechender Stoffe, z. B. in der Holz- und Kunststoffverarbeitung oder auch der Metallver- und Metallbearbeitung, unerläßlich sind, um immer weiter hochgepuschte technische Leistungen und Produkteigenschaften zu erreichen. Das wird bei der Diskussion vergessen. Bearbeitungszentren, die zum Teil mit bis zu 60 000 Umdrehungen pro Minute laufen können, können mit natürlichen Schmierstoffen nicht mehr geschmiert, mit natürlichen Kühlstoffen nicht mehr gekühlt, mit natürlichen Reinigungsstoffen nicht mehr gereinigt werden. Die Schmierstoffe z. B. müssen zusätzlich mit erheblichem Energieaufwand ins Getriebe gespritzt und von dort abgesaugt werden. Sie können auch wegen der hohen Laufgeschwindigkeit nicht längere Zeit im Getriebe verbleiben.Das ist ein und nur ein Beispiel — übrigens auch für den unökologischen Charakter vieler moderner High-Tech-Produktionen. Es illustriert aber auch, warum gerade die hochgeputschte und hochgepeitschte moderne Produktion in der Tendenz immer giftiger wird. Das ist eben nicht nur ein Problem der Chemie.Deshalb aber brauchen wir auch Industriepolitik; wir brauchen sie nicht nur der Arbeitsplätze wegen, nicht nur ausgewogener regionaler und Branchenstrukturen wegen, sondern wir brauchen sie auch, um aus den ganz gefährlichen Bereichen der Chemie auszusteigen. Wir brauchen sie, urn mit Umweltverträglichkeitsprüfungen, mit Produktlinienanalysen, mit wirksamen Kontrollen der Anlagen und insbesondere der Produkte von außen und von innen das Leben und die Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen zu schützen.Herr Bundesminister Töpfer, das heißt in der Konsequenz, daß eben nicht nur — wie Sie gesagt haben — in die Informationspolitik eingegriffen werden muß, sondern sehr viel früher auch in die Forschungs- und Entwicklungspolitik und in die Investitionspolitik. Ich glaube, an diesem Schluß führt einfach nichts vorbei
angesichts der Erfahrungen gerade bei Hoechst. Es ist höchste Zeit — Hoechste Zeit!Danke schön.
Wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde angekommen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksachen 12/4590, 12/4607 —
Erster Geschäftsbereich ist der des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm zur Verfügung.
Als erstes kommen wir zu den Dringlichen Fragen des Kollegen Schreiner. Ich rufe Frage 1 auf:
Wie bewertet die Bundesregierung den Lohnkostenzuschuß von 70 % für die Haushaltshilfe von Bundesminister Dr. Günther Krause im Lichte der Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit, die ausdrücklich eine angemessene Eigenleistung des Arbeitgebers verlangt?
Frau Präsidentin, wenn Sie und das Parlament damit einverstanden sind, würde ich die Frage 1 und die Frage 2 zusammen beantworten.
Wenn der Kollege Schreiner damit einverstanden ist, gerne.
— Kollege Schreiner ist einverstanden.Dann rufe ich zusätzlich die Dringliche Frage 2 auf:Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung gegen die mißbräuchliche Inanspruchnahme im Bereich wirtschaftlicher und sozialer Leistungen durch Arbeitgeber ergreifen, um in Zukunft z. B. bei der Gewährung von Lohnkostenzuschüssen unangemessene wirtschaftliche Vorteile für potente Arbeitgeber wie z. B. für Bundesminister zu verhindern?Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Zur Frage 1: Der Gesetzgeber hat die Personalkosten für eine Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung für ältere Arbeitnehmer zwischen dem Antragsteller — das ist der Arbeitgeber — und der Bundesanstalt für Arbeit aufgeteilt. Die Zuschüsse der Bundesanstalt betragen je nach Fallgestalt zwischen 50 und 75 % des förderungsfähigen Arbeitsentgelts. Der andere Teil der Personalkosten, also zwischen 50 und 25 %, ist und bleibt die gesetzlich festgelegte angemessene Eigenleistung des Arbeitgebers, von der auch die Anordnung der Bundesanstalt für Arbeit nach § 99 Arbeitsförderungsgesetz ausgeht. Etwaige bei der Durchführung der Maßnahme anfallende Sachkosten trägt der Arbeitgeber.Die Bundesanstalt für Arbeit hat sich bei der in Rede stehenden Zuschußgewährung an den Rahmen der vorher erwähnten gesetzlichen Grenzen und an den ihr vom Gesetz eingeräumten Ermessensrahmen zur Festlegung der Zuschußhöhe gehalten. — Soweit zur ersten Frage.Ich schließe die zweite Frage gleich an, weil sie damit in Zusammenhang steht:
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Bundesminister Dr. Norbert BlümBereits die rechtliche Ausgestaltung der Lohnkostenzuschüsse durch Gesetz und Anordnung zieht enge Grenzen gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme. Die Vermittlung des älteren Arbeitslosen in eine Maßnahme erfolgt allein durch das Arbeitsamt und erfordert neben der Zusätzlichkeit, daß der ältere Arbeitnehmer mindestens 50 Jahre alt ist und innerhalb der letzten 18 Monate vor Beginn des Arbeitsverhältnisses mindestens 12 Monate arbeitslos gemeldet war. Für die erhöhte Förderung von 75 % ist sogar eine 24monatige Arbeitslosigkeit Voraussetzung.Die in Rede stehende Haushaltshilfe, Frau B., erfüllte die persönlichen Voraussetzungen für die Förderung.
— Ich denke, daß wir auch Rücksicht auf die Person nehmen müssen, und ich mahne uns zu einem behutsamen Umgang.
Sie war zum Zeitpunkt des Beginns der Maßnahme 50 Jahre alt. Sie war seit 24 Monaten arbeitslos gemeldet, und sie war in ihren Vermittlungsaussichten gehandicapt, weil sie infolge der Pflege ihrer Mutter keine Vollzeitbeschäftigung ausführen konnte.Dies alles muß vor dem Hintergrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation besonders für Frauen in den neuen Bundesländern gesehen werden. Ich verweise darauf, daß die Frau, die wieder in Arbeit kam, fünf schwere Handicaps hatte, die nicht in ihrer subjektiven Verantwortung liegen. Sie war eine ältere Arbeitnehmerin, sie war langzeitarbeitslos, sie war eine Frau, was leider auf dem Arbeitsmarkt immer noch nachteilig ist, weil der Anteil der Frauen an den Arbeitslosen in den neuen Bundesländern bei 61 % liegt. Sie konnte wegen der notwendigen Pflege ihrer Mutter nur eine Teilzeitarbeit annehmen. Teilzeitarbeit bietet auch keine besonders guten Vermittlungschancen.
— Ich komme ja auf alles.Sie war wegen der notwendigen Pflege ihrer Mutter regional an den Bereich des Arbeitsamtes Bad Doberan gebunden, in dem die Arbeitslosenquote derzeit 21,3 % beträgt — deutlich über der hohen Quote in den neuen Bundesländern allgemein, die nämlich bei 14,5 % liegt. Alle diese Gesichtspunkte hatte die Bundesanstalt im Rahmen ihres Ermessens- und Beurteilungsspielraums zu gewichten und rechtlich zu würdigen.Die Bewilligungsentscheidung ist allein von der Bundesanstalt getroffen worden, und ich würdige gerade das Engagement vieler Mitarbeiter der Bundesanstalt auch in Bad Doberan, die einer Frau mit so vielen Benachteiligungen helfen wollten.Bundesminister Krause und dessen Ehefrau als Antragstellerin haben sich entsprechend Recht und Gesetz verhalten. Das bestätigt auch die Bundesanstalt.Meine Damen und Herren, unbeschadet dieser Sachlage ist die Frage der politischen Bewertung der Förderungsangelegenheit eine andere. Es geht hier um die Inanspruchnahme eines Zuschusses, um dessen Höhe und Dauer, und ich halte fest: Recht ist eine Sache und Verantwortung eine weitere.Der Bundesminister für Verkehr hat in vollem Umfang auf die Fördermittel verzichtet und sich zur Rückzahlung bereiterklärt. Er hat weiterhin öffentlich erklärt, daß er aus heutiger Sicht den Lohnkostenzuschuß nicht in Anspruch genommen hätte.Bundesminister Krause hat wörtlich ausgeführt: „Ich bedauere sehr, daß ich mit diesem Vorgang Anlaß zur öffentlichen Kritik gegeben habe."Ich schließe mich dem Bedauern an
und möchte dieser Einschätzung für meine Person hinzufügen: Wenn jeder Politiker erkannte Fehler so schnell zugeben und wettmachen würde,
wie dies Bundesminister Krause getan hat, dann wären wir in der politischen Kultur einen Schritt weiter.
Wir kommen nun zu den Zusatzfragen. Herr Minister, ich hätte den großen Wunsch, daß die Zusatzfragen dann etwas kürzer beantwortet werden.
Sie haben jetzt annähernd sieben Minuten zur Beantwortung dieser ersten beiden Fragen gesprochen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schreiner.
Herr Minister, nachdem Sie soeben sehr weitschweifig u. a. geäußert haben, die Bundesanstalt habe sich im Rahmen der Bezuschussung an Recht und Gesetz gehalten, frage ich Sie, ob Sie die Auffassung des Vizepräsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Dr. Leven, teilen, der heute mittag anläßlich einer Befragung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung unmißverständlich zur Kenntnis gegeben hat, daß nach Auffassung der Bundesanstalt für Arbeit die Zahlungen an Herrn Krause schon deshalb eindeutig rechtswidrig gewesen seien, weil das in § 97 des Arbeitsförderungsgesetzes geforderte Zusätzlichkeitserfordernis unter gar keinen Umständen bejaht werden könne.Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Abgeordneter Schreiner, ich habe hier den Bericht der Bundesanstalt, in dem das Für und Wider erwogen wird, auch und besonders die rechtlich wichtige Frage, ob Zusätzlichkeit vorliegt. Auch hier stellt sich die Frage, ob Sinn und Zweck des Lohnkostenzuschusses erfüllt wurden. Die Bundesanstalt sagt — ich zitiere —: Daß dennoch ein Lohnkostenzuschuß in beachtlicher Höhe seitens des Arbeitsamts Rostock bewilligt wurde, kann allerdings der Antragstellerin nicht angelastet werden.
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Bundesminister Dr. Norbert BlümNun finde ich es ein bißchen zu bequem, dies jetzt der Mitarbeiterin in Doberan vor die Füße zu legen. Die möchte ich ausdrücklich in Schutz nehmen. Ich füge hinzu: Einer Frau, die 50 Jahre alt ist und 24 Monate arbeitslos war,
hätte ich,
wenn ich Mitarbeiter des Arbeitsamts gewesen wäre, mit allen meinen Mitteln geholfen.
Eine ganz andere Frage ist, ob man, obwohl alles rechtens war, seitens des Antragstellers diesen Zuschuß hätte beantragen sollen. Das bedauert Herr Krause. Diesem Bedauern schließe ich mich an. Aber Recht und Gesetz sind gewahrt worden. Es ist nicht gegen das Recht verstoßen worden.
Ich habe noch einmal den dringenden Wunsch, daß die Fragen kürzer beantwortet werden. Ansonsten benötigen wir die gesamte Zeit für die Beantwortung der beiden Dringlichen Fragen.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Frau Präsidentin, ich versuche es noch einmal: Das Arbeitsamt Doberan hat entschieden. Ob aus weiterer Ferne — in Nürnberg — anders entschieden worden wäre, kann ich nicht beurteilen. Doberan jedenfalls stand der zu beurteilenden Frage näher. Dort ist der gegebene Ermessensspielraum genutzt worden. Ich habe Doberan nicht zu kritisieren. In Doberan wird unter schwierigen Bedingungen gearbeitet. Die Arbeitsmarktlage ist dort schwierig. Es gibt dort ein neues Arbeitsamt. Nicht eine Mitarbeiterin allein kann die ganze Verantwortung tragen.
Ich halte fest: Gegen Recht und Gesetz ist nicht verstoßen worden.
Die zweite Zusatzfrage des Kollegen Schreiner.
Frau Präsidentin! Ich empfinde das Verfahren als äußerst unfair. Ich habe nur kurze Fragen, aber der Minister gibt auf jede Frage weitschweifige Antworten, die ganz andere Themenbereiche betreffen. Das ist hier insoweit ein wirklich ungleicher Kampf.
Ich werde mich aber gleich zu wehren wissen, Herr
Minister, wenn das mit diesem Geschwafel so weitergeht. Das kann man nämlich so wirklich nicht mehr akzeptieren. Es herrscht keine Waffengleichheit zwischen Parlament und Bundesregierung im Rahmen dieser Art von Antworten.
Meine zweite Frage will ich mit der Feststellung beginnen, daß völlig im Gegensatz zu Ihrer Auffassung die Bundesanstalt für Arbeit heute morgen auf Befragen im Ausschuß nachdrücklich erklärt hat, die Gewährung der Zuschüsse sei eindeutig rechtswidrig.
Nun frage ich zusätzlich, ob Sie darüber hinaus die Auffassung der Bundesanstalt für Arbeit teilen, die heute morgen in Person des Vizepräsidenten, der für die gesamte Bundesanstalt sprach, zudem ausgeführt hat, daß von einer angemessenen Beteiligung der Familie Krause, wie sie in § 2 der Ausführungsverordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt gefordert wird, überhaupt keine Rede sein kann und insoweit ein zweiter Grund vorliegt, die Gewährung des Zuschusses als rechtswidrig darzustellen.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Abgeordneter, ich habe noch vor wenigen Minuten mit Herrn Vizepräsident Leven gesprochen. Er bleibt bei seiner Auffassung, daß er, Klaus Leven, anders entschieden hätte. Aber er hat nicht gesagt, daß Doberan rechtswidrig entschieden habe. Das hat er ausdrücklich nicht gesagt, und zwar in Übereinstimmung mit dem Text, den ich von der Bundesanstalt habe.
Frau Präsidentin, ich lese ihn gern noch einmal vor. Das ist ein Text der Bundesanstalt.
— Wenn es gewünscht wird, lese ich ihn noch einmal vor.
Herr Minister, ich wünsche das nicht. Ich habe den Eindruck, daß auch der Fragesteller dies nicht wünscht. Der Text ist wohl allen noch im Gedächtnis.
Herr Kollege Schreiner, Sie hätten dann jetzt die dritte Zusatzfrage.
Ich will jetzt wirklich nicht auf diesem äußerst unangenehmen Vorgang beharren. Ich nehme an, daß zumindest der Vorsitzende des Ausschusses gleich klarstellen kann,
daß dies heute morgen ausdrücklich im Namen der gesamten Bundesanstalt als rechtswidriges Verhalten dargestellt worden ist.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Das bestreite ich.
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Sie bestreiten in der Regel eigentlich immer alles.
Ich komme jetzt zu meiner dritten Zusatzfrage: Wie beurteilt die Bundesregierung das Verhalten der Familie Krause, die zwei andere vom zuständigen Arbeitsamt ausdrücklich angebotene Maßnahmen, die finanziell für das Arbeitsamt und damit für die Beitragszahler deutlich billiger gewesen wären, und zwar in der Förderhöhe, nachdrücklich abgelehnt hat und ausdrücklich auf der dritten Fördermöglichkeit nach § 97 AFG bestanden hat, die mit Abstand die teuerste Förderung ist? Wie beurteilen Sie dieses Verhalten der Familie Krause vor dem Hintergrund des soeben dargestellten Sachverhalts?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Ich beurteile dies so wie mein Kollege Krause. Er hat ausdrücklich gesagt, daß er aus heutiger Sicht diesen Lohnkostenzuschuß nicht mehr in Anspruch nehmen würde, und er hat ausdrücklich dazu gesagt, daß er es bedauert, Anlaß zur öffentlichen Kritik gegeben zu haben.
Das ist, wie ich glaube, ein faires Eingeständnis eines Verhaltens, das ihm heute nicht mehr passieren würde.
Dennoch bleibe ich bei meiner Auffassung, daß nicht gegen Recht und Gesetz verstoßen wurde. Ich wehre mich dagegen, daß die Mitarbeiter des Arbeitsamtes Doberan jetzt als die Schuldigen hingestellt werden sollen. Das ist falsch. Sie haben im Rahmen ihres Ermessensspielraums gehandelt.
Nicht Herr Krause hat entschieden, sondern das Arbeitsamt Doberan.
Die vierte und letzte Zusatzfrage des Kollegen Schreiner.
Herr Minister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die SPD-Fraktion ausdrücklich die Mitarbeiter des Arbeitsamts in Schutz nimmt
und daß die rechtswidrige Gewährung nach § 97 AFG offenkundig nur erklärbar ist durch die massive Pression, die im Arbeitsamt durch die Familie Krause ausgeübt worden ist?
Sind Sie bereit, mir die Frage zu beantworten, wie glaubwürdig eigentlich die Bundesregierung die von ihr seit Wochen und Monaten propagierte Bekämpfung des Mißbrauchs im sozialen Bereich vertreten will, wenn ein Minister dieser Bundesregierung erst dann bereit ist, öffentliches Fehlverhalten einzugestehen, wenn andere Organe, etwa die Presse, über dieses Fehlverhalten berichtet haben?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Abgeordneter, wenn ein Arbeitgeber einen ausländischen Arbeitnehmer zu einem Hungerlohn beschäftigt, dann verstößt er gegen Recht und Gesetz. Das werden wir bekämpfen.
Wenn jemand zu seinem Lohn noch Arbeitslosengeld bezieht, dann verstößt er gegen das Gesetz, und das werden wir bekämpfen.
Wenn etwas im Rahmen des Rechts geschieht, dann hat kein Staat der Welt die Möglichkeit der Sanktion. Allerdings bleibe ich dabei — ich habe das ja auch ausdrücklich gesagt —: Recht und Gesetz sind eine Sache. Aber nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, ist deshalb auch schon richtig.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wenn es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, dann kann dennoch nicht jeder so fahren, wie er will. Es gibt Verantwortung.
In der Tat: Das ist zu kritisieren. Das hat Herr Krause getan. Ich schließe mich seinem Bedauern an.
Ich stütze zwar nicht die Inanspruchnahme, aber ich stütze den Rechtsstaat. Das, was sich im Rahmen der Gesetze bewegt, kann von mir nicht sanktioniert werden. Dies gilt auch dann, wenn ich einen Vorgang nicht billige.
Frau Präsidentin, bin ich erschöpft?
Ob Sie erschöpft sind, Herr Kollege Schreiner, kann ich nicht beurteilen.
Aber Ihr Fragevolumen ist erschöpft. Deshalb hat jetzt zu einer Zusatzfrage der Kollege Günther Heyenn das Wort.
Ich will mich hier nicht auf eine Diskussion einlassen, Herr Bundesarbeitsminister.
Fest steht, daß niemand das Arbeitsamt Bad Doberan kritisiert hat. Fest steht aber auch, daß der Vizepräsident der Bundesanstalt für Arbeit — —
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Günther Heyenn— Sie halten doch vielleicht einmal den Mund. Oder melden Sie sich! Was soll dieses Angequatsche von der Seite?
— Was soll das Angequatsche von der Seite?
Lassen Sie mich aber auch ganz deutlich sagen, daß der Vizepräsident der Bundesanstalt für Arbeit, wenn er im zuständigen Ausschuß diese Entscheidung als rechtswidrig einstuft, das nicht als Privatperson, sondern für die Bundesanstalt für Arbeit macht.Ich möchte aber eine Frage an Sie richten, Herr Bundesarbeitsminister.
Es ist von Ihnen auch die Zusätzlichkeit angesprochen worden. Das heißt, es muß ein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen werden. Über die Rechtslage war die Familie Krause voll aufgeklärt;
denn sonst hätte man den zuständigen Sachbearbeitern ja nicht für den Fall einer Ablehnung mit einem Widerspruch drohen können.
Kollege Heyenn, jetzt ist Ihr Vorspann genauso unerträglich lang wie manche Antworten.
Er war lang, gut.
Es ist nicht meine Sache, das zu beurteilen. Ich bitte Sie, zur Frage zu kommen.
Herr Bundesarbeitsminister, meinen Sie nicht auch, daß es sich um Krokodilstränen des Herrn Krause handelt, wenn er jetzt sein Bedauern ausdrückt, obwohl er sich zur Zeit der Antragstellung sehr wohl darüber im klaren sein mußte, daß ein zusätzlicher Arbeitsplatz bei dem effektiven Bedarf, den die Familie Krause für eine solche Beschäftigung hatte, nicht geschaffen werden würde und daß somit dieser Antrag von vorneherein rechtswidrig war?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Frau Präsidentin, zum ersten Teil halte ich noch einmal, auch für die Öffentlichkeit, fest, daß Herr Vizepräsident Leven auch mir gegenüber festgestellt hat, daß er den Ermessens- und Beurteilungsspielraum anders genutzt hätte, als es vor Ort geschehen ist. Aber vor Ort sind sie nun einmal näher an der Sache als in Nürnberg. Das heißt nicht, daß die Entscheidung in Doberan rechtswidrig ist. Dagegen wehre ich mich mit Entschiedenheit unter Bezugnahme auf Texte der Bundesanstalt ausdrücklich. Die Nutzung des Beurteilungs- und Ermessungsspielraums wäre bei Herrn Leven und sicherlich auch bei anderen anders ausgefallen. Aber das betrifft nicht die Frage der Rechtswidrigkeit.
Was ich zur Wertung jenseits des Rechtes zu sagen hatte, habe ich hier vor diesem Hause deutlich klargemacht.
Zur Frage selber: In diese Beurteilung und das Ermessen geht der Grundsatz der Zusätzlichkeit ein. In Doberan sind die fünf Handicaps, die ich genannt habe, offenbar so schwer genommen worden, daß das Arbeitsamt Doberan dieser Frau den Vorzug vor möglichen anderen gab. Das ist richtig.
Ich möchte in Erinnerung rufen, daß wir nicht in der Regierungsbefragung, sondern in der Fragestunde sind. Da gibt es unterschiedliche Regeln, und ich bitte Sie, sich auf allen Seiten daran zu halten.
Kollege Heyenn, die zweite Zusatzfrage.
Ganz kurz, Herr Bundesarbeitsminister: Wenn ein Bundesminister Bedarf für eine Haushaltshilfe hat und sie bezahlen kann, meinen Sie, daß dies dann ein zusätzlicher Arbeitsplatz ist, oder ist es ein vorhandener Arbeitsplatz, unabhängig davon, ob er besetzt ist oder nicht?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Ich hätte alles getan, um dieser Frau zu helfen. Ich stimme mit Krause darin überein, daß in der Tat eine angemessene Beteiligung des Arbeitgebers es nahegelegt hätte, daß der Antragsteller, die Familie Krause, auf einen Zuschuß verzichtet hätte.
— Frau Präsidentin, ich stelle meine Position fest. Was daran Krokodilstränen sind, überlasse ich dem Hohen Hause.
Ich weiß nicht, warum Sie mich ansprechen. Ich habe über Ihre Tränen nicht befunden.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Ich dachte nur, Ihre mütterliche Art würde mich in Schutz nehmen, Frau Präsidentin.
Nein, das ist wie bei den Erschöpfungszuständen des Kollegen Schreiner. Ich bitte Sie, mich hier außen vor zu lassen und Ihren Zwist unter sich auszumachen.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Nein, Frau Präsidentin, ich wollte Ihren mütterlichen Schutz in Anspruch nehmen.
Ich weiß, Herr Minister, daß Sie hin und wieder mütterliche Gefühle von mir erwarten. Ich glaube aber, vom Alter her ist es eher so, daß Sie väterliche Gefühle mir gegenüber haben könnten.
Nun kommt der Kollege Hans Büttner mit der nächsten Zusatzfrage.
Herr Minister, wie glauben Sie Ihre Kampagne gegen den Mißbrauch
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12690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Hans Büttner
von Sozialleistungen noch glaubwürdig vertreten zu können, wenn Sie hier einen Vorgang, der nach der Darstellung im Ausschuß heute vormittag aufgezeigt hat, daß die Familie Krause mit äußerster Planmäßigkeit von Anfang an nur diese Frau und nur mit diesem Zuschuß genau zum 1. November einstellen wollte, einen Tag nachdem sie die Voraussetzungen erfüllt hat, obwohl sie schon vorher, wenn auch weniger als 18 Stunden, im Hause Krause beschäftigt war, was sozusagen eine Subventionserschleichung im höchsten Maße darstellt, in dieser Form zu rechtfertigen versuchen, obwohl Herr Krause noch am Samstag und Sonntag in öffentlichen Stellungnahmen weder Einsicht noch sonst etwas gezeigt hat, sondern dies als rechtmäßigen Vorgang dargestellt hat? Wie wollen Sie unter diesem Gesichtspunkt überhaupt noch glaubwürdig vor die Öffentlichkeit treten?Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Kollege, ich werde auch weiterhin — andere Möglichkeiten habe ich auch gar nicht — nur Rechtsverstöße bekämpfen. Ein Rechtsverstoß liegt nach Auffassung der Bundesanstalt nicht vor. Ich habe keine Möglichkeit einzuschreiten, was nicht heißt, daß ich die Inanspruchnahme billige, so wenig wie auch mein Kollege Krause sie jetzt für richtig hält. Insofern teile ich die Ansicht meines Kollegen Krause und wünsche uns allen, daß jeder, der einen Fehler macht, ihn so schnell einsieht. Wer hier in diesem Saale keinen Fehler gemacht hat, der möge den ersten Stein werfen. Ich bekenne, daß ich schon viele Fehler gemacht habe.
Dazu muß ich jetzt aber nicht schon wieder einen Kommentar geben. Kollege Büttner, die zweite Zusatzfrage.
Halten Sie es nicht für bedenklich, wenn Sie sich als Minister einer Regierung nur noch auf formale Rechtspositionen zurückziehen, wo es jetzt gefordert wäre, wenigstens einige moralisch vorbildliche Handlungsweisen einer Regierung aufzuzeigen?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Wir sind ein Rechtsstaat und handeln innerhalb des Rechtsstaates. Das ist eine große, verläßliche Basis.
Ich will noch einmal hinzufügen, daß ich das Gesetz nicht für die einzige Handlungsmaxime halte und nicht für die einzige Grenze, die unser Handeln bestimmt. Insofern geht mein Appell an alle, allerdings nicht nur an Politiker, die Vorbildfunktion, die alle Personen des öffentlichen Lebens haben, ernster zu nehmen. Da teile ich Ihre Ansicht.
Nun hat der Kollege Günter Rixe das Wort. — Er ist schon weg. Dann tut es mir leid.
Als nächster hat der Kollege Gerd Andres das Wort.
Herr Bundesarbeitsminister, ich komme auf die Frage 1 des Abgeordneten Schreiner zurück. Ich frage Sie knapp und präzise, ob Sie im vorliegenden Fall Krause den Eigenanteil, den die Familie gezahlt hat, auch im Sinne der Anordnung der Bundesanstalt für angemessen halten.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Das geht in die Gesamtbewertung ein, dieser Person in schwieriger Lage zu helfen.
Damit wir nicht ganz vergessen, um was es eigentlich geht: Es geht um eine Frau, die es sehr schwer hat.
Wir dürfen also nicht vergessen, daß es um einen Menschen geht, der es sehr schwer hatte. Dem hätte ich auch geholfen.
Wenn der Eigenanteil angemessen gewesen wäre, hätte Krause heute nichts zu bedauern. Ich bedaure mit ihm, daß es nicht so war.
Zweite Zusatzfrage des Kollegen Andres.
Herr Bundesarbeitsminister, wir wollen nicht darüber streiten, ob das formaljuristisch rechtmäßig war oder nicht, sondern es geht um eine Frage der moralischen Bewertung. Nachdem wir heute morgen im Ausschuß erfahren haben, daß Frau Krause mit einer weiteren Person in der letzten Augustwoche das erste Gespräch mit dem Arbeitsamt geführt hat, daß danach das Arbeitsamt zwei andere Vorschläge gemacht hat, daß Frau Krause dann angedroht hat, daß, wenn die von ihr vorgesehene Förderungsmöglichkeit nicht bewilligt wird, Widerspruch eingelegt wird, daß die arme betroffene Person, von der Sie hier völlig zu Recht sprechen, die Kriterien faktisch erst zum 1. Oktober erfüllt hat, und daß dem Arbeitsamt bekannt war, daß es sich bei der Antragstellerin urn die Gattin des Bundesverkehrsministers handelte: Halten Sie ein solches Verhalten nicht für moralisch höchst anzweifelbar?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Kollege Andres, die Gattin eines Bundesministers hat ein Anrecht darauf, genauso behandelt zu werden wie jeder andere. Deshalb kann sie auch Widerspruch einlegen. Ich habe das in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht zu kritisieren. Was die Inanspruchnahme von Fördermaßnahmen anlangt, habe ich mein Werturteil gesprochen, aber ich lege Wert darauf,
daß Politiker vom Rechtsstaat genauso behandelt werden wie jeder andere Mensch.
Nun kommt eine Zusatzfrage der Kollegin Barbara Weiler.
Herr Minister Blüm, Ihnen ist sicher bekannt, daß nicht nur Parlamentarier der
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Barbara WeilerOpposition, sondern auch solche aus Ihren eigenen Reihen diesen Vorfall für höchst bedenklich, ja skandalös halten. Wenn Sie sich jetzt auf Rechtsfragen, juristische Beurteilung und Auslegungen zurückziehen, dann möchte ich gerne von Ihnen wissen, ob Sie es nicht für angebracht halten, das AFG dahingehend zu ändern, daß Lohnkostenzuschüsse an private Haushalte in Zukunft ausgeschlossen werden.Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Frau Kollegin, zunächst einmal habe ich mich nicht auf das Recht zurückgezogen. Ich habe ausdrücklich eine Bewertung meinerseits, die in Übereinstimmung mit der von Herrn Krause steht, hinzugefügt. Ich habe betont gesagt — ich darf es wiederholen —, daß ich es bedaure. Ich habe mich nicht auf das Recht zurückgezogen.Zum zweiten Punkt: Nein, dem Vorschlag würde ich mich nicht anschließen. Wenn ein Langzeitarbeitsloser im Haushalt Arbeit findet, ist mir das genauso lieb, als wenn er woanders Arbeit findet, denn es ist besser, im Haushalt Arbeit zu finden, als arbeitslos zu Hause zu sein. Diesen Grundsatz würde ich weiterhin aufrechterhalten.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin Weiler.
Ihnen ist doch sicherlich bekannt, Herr Minister Blüm, daß sehr viele Träger, Gruppen, Arbeitsloseninitiativen und auch Altenheime und ähnliche Institutionen durch die reduzierte Arbeitsmarktpolitik der Regierung große Schwierigkeiten haben, ihre Aufgaben zu erfüllen. Dann wäre es doch möglich, daß mit den beschränkten Mitteln, die von Ihrer Seite zur Verfügung stehen, in erster Linie in diesen Bereichen geholfen wird statt den privaten individuellen Haushalten. Wenn Sie es weiter laut Gesetz zulassen wollen, dann ist meine Frage, wie Sie den Mißbrauch durch private Arbeitgeber verhindern können.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Erstens. Wir betreiben keine reduzierte Arbeitsmarktpolitik, sondern wir stellen ein größeres Finanzvolumen für die Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung als jede Regierung vor uns.
Zweitens. In der Tat muß gerade von den Arbeitsämtern in den Ermessensspielraum und in die Beurteilungskriterien einbezogen werden, wo die arbeitsuchenden Arbeitslosen am besten untergebracht werden können. Das mag von Ort zu Ort höchst verschieden sein. Deshalb sind die Initiativen, die Sie erwähnt haben, auch höchst notwendig.
Aber ich fühle mich außerstande, in Bonn zu entscheiden, wo in Bad Doberan die beste Beschäftigungsmöglichkeit besteht.
— Zu dem, was Sie bei abgeschaltetem Mikrofon gesagt haben, habe ich Ihnen meine Bewertung erklärt.
Nun hat zu einer Zusatzfrage der Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Lieber Kollege Blüm, bei allen „mütterlichen" Gefühlen, die Sie gegenüber Frau Schmidt hegen, die ich auch verstehen kann,
bleibt für mich eine sachliche Frage übrig: Hat denn die Bundesanstalt auch überprüft — dazu ist sie ja verpflichtet —, ob Bundesminister Krause diese sicher unterstützenswerte Haushaltshilfe — Sie haben es ja dargestellt — auch zu einem geringeren Fördersatz angenommen hätte? Was haben die Recherchen ergeben? Ich möchte mich bei dieser Frage nicht völlig auf das verlassen, was in der Presse gestanden hat.
Dr. Nobert Blüm, Bundesminister: Richtig ist, daß die Zentralstelle in Nürnberg nicht jede Vergabe vor Ort überprüft. Dies gehört zu den autonomen Aufgaben der Arbeitsverwaltung vor Ort. Diese Überprüfung muß im Rahmen von Recht und Gesetz erfolgen. Die Beurteilungsmaßstäbe mögen verschieden sein. Allerdings ist es nicht die Aufgabe der Bundesanstalt, Entscheidungen für Bad Doberan zu treffen.
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat allerdings darauf hingewiesen, daß er gerade die Landesarbeitsämter darauf aufmerksam gemacht hat, daß bei der Vergabe solcher Lohnkostenzuschüsse strengere Maßstäbe anzulegen sind.
Die zweite Zusatzfrage, Kollege Lowack.
Lieber Kollege Blüm, liegt es außerhalb Ihrer Vorstellungskraft, daß ich mit „Bundesanstalt" natürlich nicht unbedingt Nürnberg gemeint habe, sondern letztlich die ausführende Behörde?
Könnten Sie bitte meine erste Frage beantworten, ob überprüft wurde, ob der Antragsteller auch mit einem geringeren Fördersatz einverstanden gewesen wäre, den zu gewähren die Bundesanstalt oder die entsprechende Behörde der Bundesanstalt verpflichtet ist, und welches das Ergebnis dieser Recherchen war?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Ich gehe davon aus, daß in die Ermessens- und Beurteilungsspielräume vor Ort auch diese Fragen eingegangen sind, denn auch das geschieht nach Recht und Gesetz.
Nun hat das Wort zu einer Zusatzfrage der Kollege Claus Jäger.
Herr Bundesminister, teilen Sie meine Auffassung, daß auf diesen Fall unseres Kollegen Krause jenes Wort aus der Bibel anzuwenden ist, daß ein Sünder, der umkehrt und Buße tut, im Himmel mehr Freude auslöst als 99 gerechte Fragesteller von der SPD?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Herr Jäger, Sie treffen meine Beurteilung, in der ich gesagt habe: Wenn jeder, der einen Fehler gemacht hat, ihn so schnell einsieht und daraus die Konsequenzen zieht,
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Bundesminister Dr. Norbert Blümnämlich die Gelder zurückzahlt und das Ganze bedauert,
hätten wir für die politische Kultur in Deutschland einen großen Fortschritt gemacht.
Ich erinnere an das schöne Wort: Deine Rede sei ja, ja, nein, nein — wenn das möglich ist. Es wäre in diesem Fall möglich gewesen.
Nun hat zu einer Zusatzfrage der Kollege Conny Gilges das Wort.
Herr Bundesminister, dies ist ja der klassische Fall eines ungerechtfertigten Mitnahmeeffekts aus den ABM-Programmen durch Arbeitgeber. Da Sie den Mißbrauch bei den Arbeitnehmern und den Arbeitslosen bekämpfen wollen, frage ich: Stellen Sie jetzt auch vermehrt Überlegungen an, wie man eine Strategie entwickeln kann, auch den Mißbrauch durch Arbeitgeber zu bekämpfen?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Sehr wohl, Herr Kollege. Von Anfang an hat sich die Mißbrauchsbekämpfung keineswegs ausschließlich gegen Arbeitnehmer gerichtet. Ich sehe ein großes Feld des Mißbrauchs beispielsweise bei Arbeitgebern im Baubereich, die mit Lohndumping ausländische Arbeitnehmer ausbeuten. Das ist ein klassisches Feld des Mißbrauchs durch Arbeitgeber.
Ich habe den Mißbrauch nie nur einer Seite zugeschoben. Auch zur Schwarzarbeit gehören immer zwei: der schwarz Arbeitende und derjenige, der ihn schwarz beschäftigt. Insofern richtet sich der Kampf gegen die Ausnutzung des Sozialstaates immer nach allen Seiten.
Eine zweite Frage des Kollegen Gilges.
Ich finde es schon gut, daß Sie es als Mißbrauch titulieren.
Ich habe eine zweite Frage, Herr Bundesminister. Bezogen auf den Skandal von Minister Krause hat heute der ehemalige Bundesminister Möllemann gesagt — ich zitiere jetzt den Kölner „Express" —: „Man hat das Gefühl, man sei der letzte Blödmann, weil man als einziger eine Konsequenz gezogen hat." Sind Sie der Meinung, daß Herr Möllemann der letzte Blödmann aus der Bundesregierung war?
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister: Da ich die Frage mehr für karnevalistisch als ernst zu nehmend halte,
möchte ich sie in diesem Hohen Hause nicht beantworten, Frau Präsidentin.
Herr Minister, das steht Ihnen frei.
Weitere Zusatzfragen liegen mir nicht vor. Herzlichen Dank, Herr Bundesminister.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Dr. Dietmar Keller werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministes der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 3 des Kollegen Klaus Harries. — Da der Kollege Harries nicht anwesend ist, verfahren wir nach der Geschäftsordnung.
Die Frage 4 des Kollegen Augustinowitz wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Herzlichen Dank, Frau Kollegin Geiger.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Die Frage 5 des Kollegen Horst Kubatschka wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Frage 6 des Kollegen Claus Jäger auf:
Treffen Äußerungen aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu, daß in Deutschland noch 200 bis 250 nicht enttarnte Agenten der Stasi in „hervorgehobenen Positionen" sitzen, und hat die Bundesregierung bejahendenfalls ein Konzept zur Enttarnung und Unschädlichmachung dieser Agenten?
Herr Kollege Jäger, bei der kürzlich genannten Zahl von 200 bis 250 noch nicht enttarnten Agenten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in „hervorgehobenen Positionen" handelt es sich um eine Schätzung, die dem derzeitigen Erkenntnisstand des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Grund der Aufarbeitung der Akten der ehemaligen DDR-Nachrichtendienste entspricht.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz geht allen Hinweisen auf Agenten der DDR-Dienste mit dem Ziel nach, sie zu enttarnen bzw. ihre Übernahme durch fremde Nachrichtendienste, z. B. die Nachfolgedienste des KGB, zu verhindern. Die hierbei im einzelnen verfolgte Konzeption kann aus naheliegenden Gründen öffentlich nicht dargestellt werden.
Zusatzfrage, Kollege Jäger.
Herr Staatssekretär, ich bin absolut damit einverstanden, daß die Methoden hier nicht öffentlich dargestellt werden können. Ich möchte Sie nur fragen, ob die Bundesregierung bei der Suche nach Erkenntnissen bereits alle vorhandenen Stasi-Akten ausgewertet hat.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Meines Wissens nicht. Dazu ist der Umfang einfach zu groß.
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Zweite Zusatzfrage.
Ich habe noch die Zusatzfrage, Herr Staatssekretär, ob die Bundesregierung einen Zusammenhang mit den kürzlich in der Öffentlichkeit genannten 4 000 Fällen von Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats sieht, die beim Generalbundesanwalt liegen. Könnten davon auch solche Fälle betroffen sein?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, die Zahl 4 000 ist mir in diesem Zusammenhang nicht bekannt. Ich bin bislang von einer wesentlich geringeren Zahl ausgegangen. Wenn sich die Hinweise bei uns genügend weit verdichtet haben, werden wir die Unterlagen dem Generalbundesanwalt übergeben. Wir haben hier keine Rückstände.
Ich habe gerade gesehen, daß der Kollege Harries jetzt da ist. Besteht noch Bedürfnis nach einer mündlichen Beantwortung, wo auch Frau Staatssekretärin Geiger noch anwesend ist, oder wollen Sie die Fragen schriftlich beantwortet haben, Kollege Harries?
Ich bitte vorweg um Entschuldigung, Frau Präsidentin, daß ich nicht pünktlich da war. Ich bin ein Opfer des Fernsehers geworden. Ich bitte um Entschuldigung. Aber durch ein kurzes Gespräch mit der Staatssekretärin ist mein Anliegen erledigt. Ich bedanke mich sehr.
Ich würde empfehlen, daß solche Gespräche häufiger stattfinden. Herzlichen Dank, Herr Kollege.
Wir kommen dann zur Frage 9 des Kollegen Werner Ringkamp:
Hält die Bundesregierung angesichts des europäischen Binnenmarktes die generelle Beschränkung der Beihilfefähigkeit auf in Deutschland entstandene Aufwendungen noch für zeitgemäß?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ringkamp, die Antwort lautet: Die Bundesregierung hält es auch angesichts des europäischen Binnenmarktes weiterhin für system- und interessengerecht, bei nichtdienstlichem Aufenthalt im Ausland die Beihilfefähigkeit von im Ausland entstandenen Krankheitskosten auf die Höhe der Inlandskosten zu beschränken. Krankheitsaufwendungen im Ausland sind in gleichem Umfange beihilfefähig wie Krankheitsaufwendungen im Inland.
Hiervon gibt es eine sachgerechte Ausnahme: Wenn die Behandlung im Ausland aus medizinischen Gründen notwendig ist, entfällt die Beschränkung auf die Inlandskosten.
Zusatzfrage, Herr Kollege? — Keine.
Dann kommen wir zur Frage 10 des Kollegen Werner Ringkamp:
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, den § 13 Abs. 2 der Beihilfeverordnung dahin gehend zu ändern, daß bei Erkrankungen außerhalb des üblichen medizinischen Erfahrungsschatzes eines Amts- oder Vertrauensarztes auch Sachverständige der Ärztekammer oder anerkannte Wissenschaftler gutachtlich tätig werden können?
Eduard Lintner, Pari. Staatssekretär: Die Antwort: Einer Änderung des § 13 Abs. 2 der Beihilfevorschriften des Bundes bedarf es nicht, da bereits nach dieser Vorschrift die Festsetzungsstelle das Gutachten eines Amts- oder Vertrauensarztes einholen kann. Vertrauensarzt kann jeder Arzt sein, den die Festsetzungsstelle im Einzelfall heranzieht, z. B. wegen seiner besonderen Fachkunde.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, was empfiehlt die Bundesregierung, wenn deutlich erkennbar wird, daß ein Amtsarzt oder ein Vertrauensarzt einfach auf Grund seiner Ausbildung, die meistens schon ein paar Jahre zurückliegt, nicht in der Lage ist, einen konkreten Krankheitsfall, z. B. bezüglich Umweltallergien oder ähnlichem, zu erkennen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Dann müßte der jeweils zuständige Arbeitgeber für die notwendige ergänzende Ausbildung sorgen.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Die Fragen 7 und 8 werden schriftlich beantwortet — das hatte ich vorhin vergessen zu erwähnen —, ebenso die Fragen 11 und 12. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zur Verfügung. — Er steht nicht zur Verfügung. Wer steht denn dann für das Wirtschaftsministerium zur Verfügung? — Steht denn irgend jemand von der Bundesregierung zur Verfügung? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich muß sagen, daß ich das für etwas eigenartig halte.
Die Fragen 24 und 25 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 23 des Kollegen Klaus Beckmann muß somit unbeantwortet bleiben. Ich hoffe, daß sich das in irgendeiner Form aufklärt. Wir werden das anzusprechen haben. — Kollege Beckmann.
Frau Präsidentin, um die personellen Potentiale des Bundeswirtschaftsministeriums nicht allzusehr zu schwächen, ziehe ich diese Frage zurück.
Herzlichen Dank. Trotzdem wird dieses ein Nachspiel haben müssen.Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Ich habe niemandem zu danken.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung.
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12694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Vizepräsidentin Renate SchmidtIch rufe die Frage 26 des Kollegen Dr. Ilja Seifert auf:Mit welchen gesetzgeberischen Maßnahmen oder Verordnungen und bis wann will die Bundesregierung die finanziellen Nachteile ausgleichen, die gehörlosen Menschen dadurch entstehen, daß sie Schreibtelefone benutzen müssen, die bauartbedingt das fünf- bis achtfache an Zeit gegenüber herkömmlichen Telefonen benötigen ?
Herr Kollege Dr. Seifert, die Bundesregierung hat sich im Rahmen ihrer Politik zur Eingliederung Behinderter schon seit einigen Jahren mit den Belangen hörbehinderter Menschen befaßt. Daher ist das Problem der Mehrbelastung von hörbehinderten Schreibtelefonbenutzern bekannt.
In der Vergangenheit ist bereits des öfteren auch von Mitgliedern des Deutschen Bundestages der Wunsch an die Bundesregierung herangetragen worden, hörbehinderten Menschen, die ein Schreibtelefon benutzen, einen Ausgleich für die durch diese Benutzung entstehenden überdurchschnittlich hohen Telefongebühren zu verschaffen.
Die Bundesregierung hat daraufhin eingehend geprüft, ob diesem Personenkreis eine weitergehende Gebührenbefreiung eingeräumt werden kann. Leider hat sich eine solche Möglichkeit als nicht realisierbar herausgestellt.
Zunächst ist zu berücksichtigen, daß außergewöhnliche Aufwendungen und Mehrbelastungen wegen Behinderungen schon auf vielfältige Weise, z. B. durch den Behindertenpauschbetrag nach dem Einkommensteuergesetz, die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr etc., ausgeglichen werden.
Eine weitere Befreiung von den Telefongebühren durch das Unternehmen Deutsche Bundespost Telekom ist mit deren gesetzlichen Aufgaben, den Bedarf an Telekommunikationsleistungen im Rahmen der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten aus eigener Ertragskraft zu decken, nicht vereinbar.
Die Bundesregierung sieht darüber hinaus auch keine Möglichkeit, die finanzielle Mehrbelastung aus dem Sozialbereich auszugleichen. Ein solcher Ausgleich, der mit der Erstattung der Gebührenausfälle der Deutschen Bundespost Telekom verknüpft sein müßte, ist angesichts der derzeitigen Haushaltslage nicht realisierbar. Gesetzgeberische Maßnahmen sind daher zur Zeit nicht beabsichtigt.
Zusatzfrage, Kollege Seifert.
Herr Staatssekretär, da Sie selbst darauf hinwiesen, daß das bereits seit längerem bekannt ist und auch hier im Hause schon zur Sprache kam, jetzt aber sagen, daß die angespannte Situation momentan nicht zulasse, etwas zu machen, frage ich Sie: Warum haben Sie es dann nicht schon vor zehn Jahren gemacht? Denn die Menschen, die auf Schreibtelefone angewiesen sind — das wissen Sie doch so gut wie ich —, haben kaum eine andere Möglichkeit zu kommunizieren.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seifert, ich kenne nicht die Gründe, die vor zehn Jahren zur Ablehnung geführt haben. Das kann ich im Augenblick nicht nachvollziehen.
Zusatzfrage, bitte, Kollege Dr. Seifert.
Herr Staatssekretär, nach Ihren Ausführungen habe ich den Eindruck, daß der Gleichheitsgrundsatz nicht gewahrt ist; denn Sie sagen selbst — das ist zu Protokoll genommen worden —, daß eine wesentlich höhere Belastung für die Menschen eintritt, die keine andere Möglichkeit haben, als Schreibtelefone zu benutzen.
Wie wollen Sie unter diesem Gesichtspunkt die Gleichheit für Telefonbenutzer, die hören können, und Telefonbenutzer, die nicht hören können, herstellen? Ich bitte, nicht den Satz zu wiederholen, daß man als Behinderter umsonst mit dem Bus fahren kann; denn das hat mit dem Benutzen eines Telefons nichts zu tun.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Seifert, ich kann nicht erkennen, daß hier der Gleichheitsgrundsatz verletzt ist; denn es gibt andere Möglichkeiten, die ich aufgezeigt habe, in einem gewissen Umfang Hilfe zu bekommen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Lowack, bitte.
Herr Kollege, ist der Bundesregierung bewußt, daß Gehörlosigkeit in den meisten Fällen zu einer weit größeren Isolation und Verarmung führt, als es beispielsweise blinden Menschen passiert? Gebietet nicht doch der Gleichheitsgrundsatz angesichts der Unterstützung, die z. B. Blinde bekommen, daß man mehr für die Gehörlosen tut?
Horst Günther, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, ich kann Ihnen zusichern, daß wir selbstverständlich zu jedem Zeitpunkt in der Lage sind, die Situation noch einmal zu überprüfen. Die derzeitige Beschlußfassung habe ich für die Bundesregierung vorgetragen. Ich will aber gerne in eine erneute Überprüfung eintreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Fragen 27 und 28 der Frau Kollegin Siegrun Klemmer sollen schriftlich beantwortet werden. Das gilt ebenfalls für die Fragen 29 und 30 der Frau Kollegin Dr. Maria Böhmer. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen damit zur Frage 31 des Kollegen Adolf Ostertag:Wie viele Projekte nach § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes wurden in den neuen Ländern in den ersten zehn Wochen nach Inkrafttreten geschaffen, und wie verteilen sie sich auf die neuen Bundesländer?Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993 12695
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, die Bundesanstalt für Arbeit hat mit Erlaß vom 18. Februar 1993 ihren Dienststellen die Anordnung des Verwaltungsrates und die hierzu ergangene Durchführungsanweisung zu § 249 h AFG bekanntgegeben.Derzeit laufen die Antrags- und Bewilligungsverfahren für zahlreiche Maßnahmen in verschiedenen Bereichen, z. B. in der Braunkohle und der Chemie. Diese Verfahren sind noch nicht abgeschlossen, zumal zwischen den Ländern und der Treuhandanstalt noch Abstimmungen zur Hauptfinanzierung der geplanten Maßnahmen laufen.Die Bundesregierung geht davon aus, daß die zwischen Bund und Ländern getroffene Vereinbarung zur Finanzierung eingehalten wird. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geht ferner davon aus, daß im Verlauf des Jahres 1993 rund 70 000 Menschen in Maßnahmen nach § 249h AFG eintreten können. Es können weniger, aber auch mehr sein; es gibt hier keine Begrenzung.
Zusatzfrage des Kollegen Ostertag.
Herr Staatssekretär, warum ist dann eigentlich der Erlaß an die Arbeitsämter so spät herausgegangen? Wir wissen doch, daß die Not auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Ländern sehr groß ist. Es war lange vorhersehbar, daß weitere ABM- Stellen dringend nötig sind. Es müßte doch mindestens nach einem Vierteljahr möglich sein, erste Ergebnisse vorlegen zu können.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, zunächst einmal: Das Gesetz ist relativ spät verabschiedet worden. Sie wissen, daß es noch im Vermittlungsausschuß war. Wir haben der Arbeitsverwaltung aber signalisiert — diese hat das an ihre Dienststellen, diese wiederum an die in Frage kommenden Betriebe oder entsprechenden Bereiche weitergegeben —, daß Vorarbeiten geleistet werden können. Wenn dennoch bis zum heutigen Tage keine Übersicht vorliegt, liegt es einfach daran, daß die Komplementärfinanzierung noch nicht fertiggestellt ist und die einzelnen Objekte noch nicht vollständig sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Ostertag.
Kann es nicht auch damit zusammenhängen, daß die AB-Maßnahmen nach § 249 h nur wegen der untertariflichen Bezahlungen möglich sind und deswegen die Trägergesellschaften oder einzelne Träger keine Anträge stellen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das glaube ich nicht.
Wir kommen jetzt zur Frage 32 des Kollegen Ostertag:
Wie bewertet die Bundesregierung die Arbeit der Selbstverwaltungsorgane der Bundesanstalt für Arbeit vor dem Hintergrund, daß die Vergabe der im Solidarpakt vereinbarten 2 Mrd. DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unter Umgehung des üblichen Verfahrens lediglich in Verantwortung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung erfolgt, und in welcher
Weise wird sich die Bundesregierung aufgrund ihrer Ankündigung, das Geld für ABM-Beschäftigte in eine „vernünftige Relation" zu den Einkommen auf dem „ersten Arbeitsmarkt" zu stellen, an tarifvertragliche Regelungen halten?
Herr Staatssekretär, bitte.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, die Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit hat eine wichtige Funktion bei der Gestaltung des Einsatzes der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
Der Bundesanstalt für Arbeit wird die Durchführung des ABM-Stabilisierungsprogramms durch Verwaltungsvereinbarung übertragen. Innerhalb der Bundesanstalt für Arbeit ist der Vorstand und somit ein Organ der Selbstverwaltung für den Abschluß einer solchen Vereinbarung zuständig. Die Gewährung der Zuschüsse aus dem ABM-Stabilisierungsprogramm an die ABM-Träger erfolgt analog den Regelungen von ABM nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Das heißt, sowohl die von der Selbstverwaltung erlassene ABM-Anordnung als auch die mit der Selbstverwaltung abgestimmten Durchführungsanweisungen und Erlasse finden entsprechende Anwendung.
Um mit den zur Verfügung gestellten Mitteln möglichst vielen zu helfen, ist vorgesehen, daß das für die Förderung maßgebliche Arbeitsentgelt für Vollzeitarbeit bei Beginn der Maßnahme 2 500 DM brutto monatlich nicht übersteigen darf. Sofern das tarifliche Entgelt höher ist, kann eine Förderung nur erfolgen, wenn die Arbeitszeit entsprechend herabgesetzt wird. Mit dieser Regelung wird sichergestellt, daß ein Wechsel in ein urgefördertes Arbeitsverhältnis attraktiv bleibt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ostertag.
Wie kann die Bundesregierung und auch die Bundesanstalt solch eine Anordnung in Übereinstimmung bringen, mit ihrer Verpflichtung zur Neutralität, nicht in die Tarifautonomie einzugreifen? Dies bedeutet ja faktisch, daß auch untertarifliche Löhne gezahlt werden.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, diese Ansicht, Herr Kollege Ostertag, teile ich überhaupt nicht. Im Rahmen dieser 2 500 DM kann der Vertrag durchaus mit tariflichen Leistungen in entsprechender Weise ausgestaltet werden. Es ist lediglich ausgeschlossen, daß Beschäftigungen angenommen werden können, die eine höhere Bezahlung mit sich bringen. Die Tarifautonomie ist hierbei absolut gewahrt.
Herr Kollege Ostertag.
Gelten für Ost- und Westdeutschland die gleichen Sätze?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, diese Sätze gelten für Ostdeutschland.
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12696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Parl. Staatssekretär Horst Günther— Es gelten andere Fördersätze. Diese liegen zwischen 75 % und 90 %. In Ausnahmefällen, wenn z. B. in den entsprechenden Bereichen eine um gegenüber dem Durchschnitt 30 % höhere Arbeitslosigkeit nachgewiesen wird, kann die Förderung bis zu 100 % betragen.
Das war eine nicht erlaubte dritte Zusatzfrage des Kollegen Ostertag und die Antwort darauf.
Nun kommen wir zu Frage 33 unseres Kollegen Ernst Hinsken:
Welche Summen wurden in der Vergangenheit pro Arbeitsfall im Rahmen von Sozialplänen der Stahlindustrie zur Verfügung gestellt, und mit welchen Summen pro Arbeitsfall rechnet die Bundesregierung für die kommenden Sozialpläne in diesem Bereich?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, die zwischen den Betriebspartnern der Eisen- und Stahlindustrie geschlossenen Sozialplanvereinbarungen waren und sind, da sie unternehmensbezogen ausgestaltet werden, in ihren Einzelleistungen sehr unterschiedlich. Bei den Frühpensionierungen ab dem 55. Lebensjahr lag die sozialplanrechtliche Einkommensgarantie für den einzelnen Arbeitnehmer bis zum Übergang in den Bezug der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit zwischen 85 % und 95 seines letzten Nettoarbeitsentgelts. Das Unternehmen hat in diesen Fällen das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe des Arbeitnehmers bis zur Höhe dieses Garantiesatzes aufgestockt.
Die Effektivkosten der Stahlunternehmen betragen dabei für einen Zeitraum von fünf Jahren zwischen 60 000 und 100 000 DM pro Arbeitnehmer.
Nach der Richtlinie des Bundes zu Art. 56 § 2 b des Montanunionvertrages können den Stahlunternehmen im allgemeinen 50 % ihrer Effektivkosten erstattet werden. Diese Beihilfeleistung, die aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, betrug im Durchschnitt für den Zeitraum von fünf Jahren zwischen 25 000 und 40 000 DM. Der Anteil der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die sich an den sozialen Beihilfen finanziell beteiligt, betrug im Durchschnitt zusätzlich insgesamt etwa 6 000 DM pro Arbeitnehmer.
Die Bundesregierung rechnet damit, daß das Leistungsniveau der künftig abzuschließenden Sozialpläne im Hinblick auf die angespannte Finanzlage der Stahlunternehmen günstigstenfalls unverändert bleiben wird.
Darf ich Ihre zweite Frage gleich mitbeantworten? Herr Präsident, gestatten Sie dies?
Wenn Herr Hinsken einverstanden ist.
Selbstverständlich, Herr Präsident.
Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Hinsken auf:
Welche prozentuale Beteiligung des Bundes im Rahmen der aufzulegenden Sozialpläne in der Stahlindustrie hält die Bundesregierung für vertretbar?
Bitte sehr.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Die zweite Frage beantworte ich wie folgt: Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat zur sozialen Flankierung des anstehenden umfangreichen Anpassungsprozesses in der europäischen Stahlindustrie zusätzliche Mittel in Höhe von 480 Millionen DM für die Jahre 1993 bis 1995 zur Verfügung gestellt. Innerhalb der Bundesregierung wird zur Zeit die Weiterleitung dieser zusätzlichen Hilfen, die etwa 7 000 DM pro Arbeitnehmer betragen, an die Stahlindustrie mit dem Ziel geprüft, unternehmensbedingte Kündigungen nach Möglichkeit zu vermeiden. Die sich daraus ergebende prozentuale Beteiligung des Bundes an den effektiven Sozialplankosten der Unternehmen hängt vom Ergebnis dieser Prüfung ab.
Herr Kollege Hinsken, Sie haben insgesamt vier Zusatzfragen. Die erste, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, treffen Meldung zu, daß jetzt Beträge im Rahmen der Sozialpläne in der Größenordnung zwischen 30 000 und 180 000 DM pro Arbeitsfall gezahlt werden sollen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Dieses ist mir nicht bekannt, Kollege Hinsken.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß dies Summen wären, die ins Astronomische gehen und einfach nicht mehr erbracht werden können, auch vor dein Hintergrund, daß z. B. mittelständische Unternehmen, wenn sie in Schwierigkeiten kommen, bei weitem nicht in der Lage sind, überhaupt ein Zehntel der Beträge zahlen zu können?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Hinsken, ich gehe davon aus, daß die zur Verfügung gestellten Mittel, zum einen die von mir angesprochenen 480 Millionen DM aus EG-Mitteln, zum anderen die im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellten 200 Millionen DM für 1993, nicht aufgestockt werden, es sei denn, die Verhandlungen in Brüssel führen dazu, daß man sich zu einer Aufstockung entscheidet. Das hängt aber ganz davon ab, in welcher Größenordnung der Abbau von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie in Deutschland oder in Europa überhaupt stattfindet. Unter diesen Voraussetzungen kann ich mir nicht vorstellen, daß solche Fördersätze zustande kommen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Hinsken.
Herr Staatssekretär, inwieweit beteiligen sich die betroffenen Länder an der Ausfüllung dieser Sozialverträge?
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Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Die Lander beteiligen sich nach meiner Kenntnis nicht an der Sozialplangestaltung.
Noch eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, in Ihrer Antwort wiesen Sie darauf hin, daß es sich um montan-mitbestimmte Betriebe handelt. Pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß, wenn es nicht montan-mitbestimmte Betriebe wären, die astronomischen Zahlen, die ich vorhin genannt habe, nicht Platz greifen könnten?
Horst Günther, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Hinsken, die Förderung beruht auf dem Montanvertrag. Das schließt natürlich automatisch andere Bereiche aus. Für andere Bereiche gibt es meines Erachtens solche konkreten Verträge nicht. Das sind alte Verträge, die vor vielen Jahren speziell für den Montanbereich geschlossen wurden.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Grünewald.
Herr Staatssekretär, sind Ihnen Fälle aus der Industrie bekannt, in denen alternative Arbeitsplätze für die Stahlarbeiter angeboten, diese aber nicht angenommen werden, weil man zunächst einmal die gesamte Abfindung bekommen möchte? Sehen Sie da vielleicht Möglichkeiten, finanziell günstigere Lösungen auch für den Arbeitsmarkt zu finden?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Grünewald, direkte Einzelfälle sind mir nicht bekannt. Mir ist aber wohl bekannt, daß es im Zuge des Abbaus bei der Stahlindustrie, der jetzt bevorsteht, allein mit Sozialplanregelungen nicht gehen wird und daß man händeringend nach neuen Arbeitsplätzen für diejenigen sucht, die nicht unter die Sozialplanregelung fallen. Insoweit wird ihrem Begehren ohnehin Rechnung getragen, daß alles in Bewegung gesetzt wird, um die entsprechenden Möglichkeiten, bei anderen Arbeitgebern unterzukommen, auszuschöpfen.
Eine Frage des Kollegen Kubatschka, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen oder nicht bestätigen, daß es für die Maxhütte in Bayern ähnliche Verträge gegeben hat, d. h. daß Abfindungen gezahlt worden sind?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Soviel ich weiß, fällt die Maxhütte auch unter den Montanunionsvertrag. Wenn dies stimmt, kann sie selbstverständlich die Beihilfen in Anspruch nehmen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Ist Ihnen bekannt, welche Abfindungen im Vorstandsbereich der Stahlindustrie gezahlt wurden?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Nein, das ist mir nicht bekannt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung
Die Fragen 13 und 14 des Kollegen Paul Friedhoff sollen schriftlich beantwortet werden. Dasselbe gilt für die Frage 15 des Kollegen Jürgen Türk.
Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zu Frage 16 des Kollegen Josef Grünbeck:
Welche Struktur hat das laut Auskunft der Bundesregierung innerhalb der Treuhandanstalt ausgebaute Controlling-Instrumentarium, und welche Ergebnisse wurden bisher erzielt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Grünbeck, nach Beendigung des operativen Geschäfts wird die Treuhandanstalt viele tausend Verträge mit teilweise sehr unterschiedlichem Inhalt abgeschlossen haben. Diese Verträge müssen hinsichtlich der darin vereinbarten Rechte und Pflichten überprüft werden. Die Überprüfung wird sich zudem über einen längeren Zeitraum erstrecken.Das Vertragscontrolling — Vertragsmanagement — der Treuhandanstalt wird dezentral von den kaufmännischen Direktoraten der Unternehmensbereiche und der Niederlassungen bzw. Geschäftsstellen wahrgenommen. Derzeit sind sechs Abteilungen in der Zentrale und je eine Abteilung in den 15 Niederlassungen und Geschäftsstellen mit dem Vertragsmanagement betraut. Die zentrale Koordination dieser Bereiche erfolgt über das Direktorat Koordination! Vertragsmanagement. Dieses Direktorat hat die Richtlinienkompetenz und die Koordinations- und Servicefunktion für das Vertragsmanagement. Hier werden auch fallweise Task-Force-Einheiten gebildet, die in besonders schwierigen und bedeutenden Fällen tätig werden.Insgesamt sind gegenwärtig in der Zentrale 130 und in den Niederlassungen 307 Mitarbeiter im Bereich Vertragsmanagement beschäftigt. Im Rahmen der Kontrolle der vom Investor übernommenen Verpflichtungen zur Schaffung bzw. Erhaltung von Arbeitsplätzen und zur Durchführung von Investitionen liegen bisher Ergebnisse nur für das Jahr 1991 vor.Von den Investoren, die für 1991 einklagbare Zusagen abgegeben haben, haben nur 11 % die vereinbarten Größenordnungen nicht erreicht. In den meisten dieser Fälle hätte eine unmittelbare Erhebung des Pönales die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der betroffenen Unternehmen verstärkt. Es wurde daher nur in wenigen Fällen unmittelbar die Zahlung eines Pönales eingefordert.In Gesprächen mit den Unternehmen, die ihre Zusagen nicht eingehalten haben, sucht die Treu-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldhandanstalt nach individuellen Lösungsmöglichkeiten.Die Überprüfung der Zusagen für das Jahr 1992 wird voraussichtlich frühestens im Mai abgeschlossen sein.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Grünbeck, bitte.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Sorge, daß bei den restlichen, noch immer in großer Zahl vorhandenen Betrieben durch die lange Zeit, bedingt zum Teil durch das Einholen immer wieder neuer Gutachten, der Markt gerade für die mittelständischen Produktionsbetriebe wegbricht und die Zukunftschancen jeden Tag geringer werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Soweit sich die Frage auf die noch im Portefeuille der Treuhandanstalt befindlichen rund 4 000 Unternehmen bezieht, teile ich diese Sorge nicht generell, denn rund 70 % der Unternehmungen haben eine nur geringe Zahl von Beschäftigten. Wir sind mit der Treuhandanstalt guter Hoffnung, daß wir sie der Privatisierung zuführen können. Bei den großen Unternehmen der Schwerpunktbereiche Kohle und Chemie sieht die Sache natürlich anders aus. Lassen Sie mich es so formulieren: Das sind nicht unsere schönsten Töchter.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Grünbeck.
Betrifft die Zahl von 11 % auch die mittelständischen Produktionsbetriebe? Betrifft sie nicht eher die Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die soeben erwähnten 11 % — eine erstaunlich günstige Zahl; es wäre schön, wenn wir sie für 1992 halten könnten — sind eine Durchschnittszahl für alle 11 200 privatisierten Unternehmen.
Ich rufe die Frage 17 unseres Kollegen Josef Grünbeck auf:
Kann die Bundesregierung Auskunft über die Erfolge geben, die westdeutsche Unternehmer durch Übernahme von Treuhandbetrieben erzielt haben?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Grünbeck, das Vertragscontrolling der Treuhandanstalt dient der Kontrolle vertraglicher Verpflichtungen, nicht jedoch der Kontrolle der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung der privatisierten Unternehmen. Die Frage nach den Erfolgen durch die Übernahme von Treuhandbetrieben kann daher leider nicht beantwortet werden — allenfalls in der Tendenz.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Grünbeck.
Wären Sie dann so nett, sie „in der Tendenz" zu beantworten.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Hier ist zwischen den ganz normal privatisierten Betrieben und — worauf wir mit der Treuhandanstalt besonders stolz sind — den rund 1 840 MBOs, die ganz überwiegend von Bürgern der neuen Länder geführt werden, zu differenzieren. Mit Sicht auf diese MBOs haben wir Umfragen gemacht, die uns die Erkenntnis vermittelt haben, daß nur 10 % die Zukunftsaussichten als ungünstig ansehen; die anderen 90 % sind also zufrieden. Diese Zahlen lassen sich in etwa auch auf die übrigen privatisierten Unternehmen der Treuhandanstalt umrechnen.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Grünbeck.
Noch eine letzte Frage, Herr Staatssekretär: Trifft das auch auf die Textilindustrie zu?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das kann ich in dieser generellen Form leider nicht bestätigen, denn wir haben neben sektoralen auch branchenmäßige Verwerfungen, und zu diesen außerordentlich schwierigen Branchen gehört auch und insbesondere die Textilindustrie.
Ich rufe nunmehr die Frage 18 des Kollegen Dr. Peter Ramsauer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den möglichen kalkulatorischen Zinsgewinn bei der Verlagerung der Gehaltszahlungen der Beamten und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes von Anfang bzw. Mitte des Monats an das Monatsende, und welche Einsparungen lassen sich daraus bei Bund, Ländern und Gemeinden erzielen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ramsauer, bei der Beamtenbesoldung handelt es sich als Ausfluß des verfassungsrechtlich verankerten Alimentationsprinzips um Unterhaltsleistungen. Diese sind nach allgemeinen Grundsätzen jeweils im voraus zu erbringen. Die Zahlungstermine für Angestelltenvergütungen hingegen und für Löhne sind tarifvertraglich festgelegt. Die für eine Verlegung an das Monatsende notwendige Zustimmung der Gewerkschaften, der Tarifpartner des öffentlichen Dienstes, ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erlangen.
Deshalb stellt sich für die Bundesregierung die Frage eines mit der Verschiebung verbundenen kalkulatorischen Zinsgewinns nicht. Es wäre aus unserer Sicht allenfalls eine hypothetische Betrachtung.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Ramsauer.
Herr Staatssekretär, ich habe, ehrlich gesagt, mit einer ähnlichen Beantwortung gerechnet. Deswegen möchte ich die Zusatzfrage stellen, ob es, abgesehen von der verfassungsmäßigen Lage im Hinblick auf das Alimentationsprinzip und ungeachtet der tarifvertraglichen Vereinbarungen, weitere Gründe dafür gibt, daß heute im öffentlichen Dienst nach wie vor am Monatsanfang bzw. zur Monatsmitte gezahlt wird. Gibt es Gründe, die sich vor allen Dingen für einen Vergleich mit den anderen Bereichen außerhalb des öffentlichen
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Dr. Peter RamsauerDienstes, mit anderen Bereichen des Arbeits- und Wirtschaftslebens eignen würden?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, andere Gründe gibt es nicht. Insbesondere bei der Beamtenbesoldung gibt es nur den Bezug auf den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Alimentation.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Ramsauer.
Eine zweite Zusatzfrage. Geben Sie meiner Beurteilung recht, daß eine solche Verschiebung den einzelnen Betroffenen pro Jahr weniger belasten würde als die Verschiebung der Gehaltserhöhung urn drei Monate, die in diesem Jahr vorgesehen ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Im Sinne einer hypothetischen Betrachtung sage ich: Die zeitliche Verschiebung im Sinne eines Zurückstellens der monatlichen Vergütungen würde eine einmalige kurzfristige Belastung — gemildert durch notwendig werdende Überbrückungshilfen — sein.
Sie haben zwei Zusatzfragen. Sie haben eine Frage gestellt, die Frage 18, und dazu gibt es zwei Zusatzfragen.
Nun kommen wir zur Frage 19 der Frau Kollegin Gudrun Weyel:
Welche Regelungen hat die Bundesregierung getroffen, um bei der Aufgabe von militärischen Einrichtungen im Gebiet der alten Länder Grundstücke frei zu machen von militärischen Aufbauten, Bauschutt und gefährlichen Bestandteilen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Weyel, die Bundesfinanzverwaltung übernimmt freigegebene, bisher von der Bundeswehr genutzte Grundstücke erst nach Beseitigung aller akuten Gefahrenstellen, von denen eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen könnte. Bei von den alliierten Streitkräften freigegebenen Liegenschaften trägt der Bund die Kosten der Beseitigung von gegebenenfalls noch vorhandenen Gefahren gegen Erstattung durch die Streitkräfte. Militärische Aufbauten werden dabei übernommen.
Frau Kollegin Weyel, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie definieren, was Sie unter Gefahrenstellen verstehen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wir differenzieren j a im allgemeinen Ordnungsrecht unter zwei Kategorien. Das eine — und dies erwähnte ich — sind die unmittelbaren Gefahren, die für Leib und Leben bestehen oder zur Störung der öffentlichen Ordnung führen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Weyel.
Würden Sie Bauschutt, der durch Sprengung der militärischen Einrichtungen auf einem Gelände entstanden ist, das inzwischen für die Bevölkerung frei zugänglich ist, auch für Kinder und Jugendliche, das aber in keiner Weise abgesichert ist, als Gefahrenstelle bezeichnen, und in welcher Form kann man dann die militärischen Stellen heranziehen, wenn das Gelände schon an die Bundesvermögensverwaltung übergeben ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Bauschutt würde ich je nach Art und Ausmaß schon als eine allgemeine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ansehen mit der Konsequenz, daß — wie jeder andere Eigentümer — auch die Bundesvermögensverwaltung, wenn sie verfügungsberechtigt ist, diesen Bauschutt zu Lasten der alliierten Streitkräfte zu beseitigen hätte.
Wir kommen jetzt zur Frage 20 der Frau Kollegin Weyel:
Auf welcher Verwaltungsebene müssen Kommunen mit dem militärischen Bereich bzw. der Bundesvermögensverwaltung verhandeln, um ein Grundstück entsorgungsfrei übernehmen zu können?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Für Verhandlungen über den Erwerb bundeseigener Grundstücke sind die Bundesvermögensämter als örtliche Dienststellen zuständig. An den erforderlichen Sanierungskosten beteiligt sich der Bund bis zur Höhe des Kaufpreises. Dies setzt voraus, daß die Beseitigung der Verunreinigung erforderlich ist, um den vertraglich vorgesehenen Gebrauch des Grundstücks zu ermöglichen. Der Erwerber hat sich grundsätzlich mit einem Eigenanteil von 10 % an den Kosten zu beteiligen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Weyel.
Herr Staatssekretär, welchen Rat würden Sie einem Bürgermeister geben, der bestrebt ist, für seine Gemeinde ein solches Grundstück zu nutzen, auf dem — wie gesagt — noch alle militärischen Sprengreste liegen, der sich bisher mit allen Behörden bis hin zur Wehrbereichsverwaltung herumgeschlagen hat und niemanden in dieser Welt findet, mit dem er vernünftig über das Grundstück und die Beseitigung dieses Schutts reden kann, und dem lediglich der Ratschlag gegeben wurde, die Gemeinde möge doch diesen Bauschutt als Sondermüll auf ihre Kosten beseitigen lassen?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, es ist natürlich schwierig, jetzt zu einem konkreten Einzelfall Auskunft zu geben, ohne die Details zu kennen, aber es gilt schon meine abstrakte Aussage, daß das Grundstück für den vertraglich vorgesehenen Zweck herzurichten ist. Darauf hat die Belegenheitsgemeinde einen Anspruch. Konkret zu Ihrer Frage: Ich würde der Gemeinde dringend anempfehlen, in erneute Verhandlungen mit der örtlich zuständigen Bundesvermögensverwaltung ein-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldzutreten — dies um so mehr nach dieser Fragestunde.Vizepräsident Helmuth Becker Wir kommen dann zur Beantwortung der Frage 21 unseres Kollegen Dr. Michael Luther:Unterstützt die Bundesregierung die Ansicht, daß die Substanz der Volltuchwerke Crimmitschau GmbH mit ihren nahezu lebendig erhaltenen Produktionsanlagen aus der Jahrhundertwende als für die industrielle Revolution markante Industrieanlage für die Zukunft bewahrt werden sollte und somit als Westsächsisches Textilmuseum Crimmitschau weitergeführt werden sollte?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Luther, die Bundesregierung kann zu der Frage, ob die Substanz der Volltuchwerke Crimmitschau GmbH als Westsächsisches Textilmuseum Crimmitschau weitergeführt werden sollte, keine Stellung nehmen. Nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes im Bereich der Kultur sind sowohl die Einrichtung als auch die Förderung von Museen und vergleichbaren Institutionen grundsätzlich Ländersache. Die Frage der Errichtung eines neuen Museums kann daher allein vom Land Sachsen bzw. von der Stadt Crimmitschau unter Berücksichtigung der museumspolitischen Zielsetzungen des Landes, der vorhandenen Museumsstrukturen und der finanziellen Auswirkungen beurteilt werden.
Zusatzfrage des Kollegen Luther, bitte.
Herr Staatssekretär, ich habe nicht gefragt, ob die Bundesregierung das als Museum erhalten will, sondern ob sie das Anliegen unterstützt, das als Museum zu unterhalten. Die sächsische Landesregierung macht das, und deswegen wollte ich eigentlich die Frage in dieser Richtung beantwortet wissen, weil diese Einrichtung momentan noch Treuhandbetrieb ist und deswegen eine Zuständigkeit des Bundes doch gegeben ist.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich darf wiederholen, Herr Kollege Luther: Nach der verfassungsmäßig gegebenen Kompetenzverteilung ist das zunächst einmal Sache des Landes. Der Bund ist nur in Ausnahmefällen, etwa bei Museen von überregionaler Bedeutung, aufgerufen, an der Mitfinanzierung mitzuwirken. Es ist also erst einmal eine Sache des Landes und der Belegenheitsstadt.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Luther? — Nein.
Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 22 des Kollegen Dr. Michael Luther:
Hält die Bundesregierung den Verkauf dieser Einrichtung an die Stadt Crimmitschau zum Zwecke der Fortführung als Textilmuseum zum Verkehrswert für zweckmäßig?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Treuhandanstalt ist bei Verkäufen von Betrieben, Betriebsteilen, Grundstücken und anderen Vermögensgegenständen grundsätzlich verpflichtet, vom aktuellen Verkehrswert auszugehen. Auch im Hinblick auf die Produktionsstätte 7/1 der Volltuchwerke Crimmitschau kann von diesem Grundsatz nicht abgewichen werden. Allerdings ist der Verkehrswert eines Grundstücks von der konkret zulässigen Nutzung abhängig und wird z. B. von planungsrechtlichen Einschränkungen der Nutzung, etwa Denkmalschutzauflagen, beeinflußt.
Zusatzfrage des Kollegen Luther, bitte.
Herr Staatssekretär, sind Sie wie ich der Meinung, daß der heute im Raum stehende Preis für das Objekt das Ziel der Fortführung als Textilmuseum, daß das Land Sachsen ausdrücklich befürwortet, gefährdet und damit der Wert dieser einmaligen noch erhaltenen Konfiguration verlorengehen kann?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich kann konkret zu dem Stand der Preisverhandlungen nichts sagen, aber uns ist bekannt, daß es Verhandlungen zwischen der Treuhandanstalt und der Belegenheitsstadt gibt und daß die Treuhandanstalt, weil — wie eben gesagt — die Wertfindung auch sehr von der zukünftigen Nutzung abhängig ist, bei den Verkaufskonditionen selbstverständlich auf solche Aspekte Rücksicht nehmen wird. Das setzt allerdings voraus, daß die Stadt konkret ein Angebot vorlegt und dabei eine Vorstellung entwickelt, was sie mit diesem Betriebsgebäude machen will, wofür sie es nutzen will, wie sie es gestalten will. Nach meinem Kenntnisstand fehlt es leider an einer solchen konkretisierten Darstellung durch die Stadt gegenüber der Treuhandanstalt.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Luther, bitte.
Nach meiner Kenntnis ist das aktuell anders. Vielleicht läßt sich das noch korrigieren. Aber würden Sie unter dieser Voraussetzung die Möglichkeit sehen, beispielsweise unter der Auflage Erhalt als Textilmuseum und Erhalt der dafür erforderlichen Arbeitsplätze, das Objekt wie bei anderen Verkäufen der Treuhandanstalt für 1 DM zu verkaufen, was ja in anderen Fällen als Verkehrswert angesehen werden konnte?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Wenn denn ein solches Konzept vorliegt, anders als ich es hier gesagt habe, obschon das aktualisierter, bei der Treuhandanstalt abgefragter Sachstand ist — die letzten Verhandlungen haben im November 1992 stattgefunden —, dann hat die Gemeinde zunächst einmal den Vorteil, daß nicht, wie sonst üblich, ein öffentliches Bieterverfahren durchgeführt wird, sondern daß man sich über eine in einem vereinfachten Verfahren mögliche Verkehrswertfindung verständigt. Wenn man dann die zukünftige Nutzung mit einbezieht, findet das bei den auszuhandelnden Verkaufskonditionen Berücksichtigung. Das kann im Einzelfall — ob das in diesem Einzelfall so ist, vermag ich nicht zu sagen — bis zu einem Kaufpreis von 1 DM führen, etwa bei Naturschutz- und sonstigen Auflagen und keinerlei sonstiger baurechtlicher Nutzung. Aber das kann ich für diesen Fall natürlich nicht sagen. Das müssen die Vertragspartner fair miteinander aushandeln.
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Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung der Fragen aus dem Bereich des Bundesministers der Finanzen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung steht und Herr Parlamentarischer Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung. Die Fragen 35 und 36 der Frau Renate Schmidt sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 37 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch auf:
Wie haben sich in den letzten zwölf Monaten die Diebstähle auf Bahnhöfen und in Zügen — einschließlich der Schlafwagen — der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn entwickelt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Entsprechendes Datenmaterial ist, nachdem zum 1. April 1992 ein neues Erfassungsraster für die Bahnpolizeistatistik eingeführt wurde, für den Zeitraum April bis Dezember 1992 verfügbar. Es ist, da es für elf regionale Bereiche erhoben wird, recht umfangreich, allerdings auf Grund des kurzen Zeitraums bisher nur bedingt aussagekräftig.
Zusatzfrage des Kollegen Hirsch, bitte.
Herr Staatssekretär, wenn Sie sagen, daß Ihr Material bedingt aussagekräftig sei: Sind Sie dann wenigstens bereit, uns die bedingte Aussage einmal darzustellen? Das ist doch keine Antwort, entschuldigen Sie bitte.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich habe auf eine ähnliche Reaktion von Ihnen gehofft, um Ihnen dann anbieten zu können, Ihnen das gesamte Material zur Verfügung zu stellen. Dann werden Sie selbst feststellen, daß es kaum möglich ist, auf eine solch präzise Frage nun vor diesem Forum eine ganz präzise Antwort zu geben. Dies hängt einfach damit zusammen, daß wir z. B. die ersten Daten jeweils aus dem zweiten Quartal haben. Da gab es einen Einstieg mit einer Zahl X; die Zahlen jetzt vorzutragen würde zu weit führen. Im dritten Quartal ist diese festgestellte Zahl dann jeweils angestiegen, so daß man zunächst vermuten könnte, es hat eine Steigerung krimineller Akte gegeben. Aber im vierten Quartal sanken die festgestellten Zahlen dann wieder ab, allerdings nicht mehr auf das Maß, was im zweiten Quartal festgestellt wurde. Nun aber die Antwort zu wagen, die Entwicklung sei so und nicht anders gewesen, geht mir etwas zu weit. Ich biete Ihnen und allen interessierten Kolleginnen und Kollegen an, das Zahlenmaterial zu bekommen. Dann können wir im nächsten Jahr vom zweiten Quartal an feststellen, wie man die jeweiligen Zahlen beim Vergleich der Jahre 1992 und 1993 werten muß.
Zusatzfrage des Kollegen Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, die Klagen über Diebstähle auf Bahnhöfen und in den Zügen der Bundesbahn oder der Reichsbahn, besonders in den Schlafwagen, sind nicht neu; sie sind wirklich zahlreich. Wollen Sie mir wirklich sagen, daß es vor dem April vergangenen Jahres keine statistische Erfassung gegeben hat, d. h. daß die Bundesbahn, die ja über eine Bahnpolizei verfügt hat, die kriminellen Handlungen in ihrem Bereich überhaupt nicht statistisch erfaßt hat, so daß Sie keine Aussage dazu machen können?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das will ich nicht sagen, Herr Abgeordneter. Aber es geht doch um eine ganz präzise Fragestellung und darum, daß wir einen Vergleich der neuen statistischen Werte mit denen, die vorher festgestellt wurden, nicht herbeiführen können. Ich könnte Ihnen schon sagen, wie die Zahlen vor der neuen Statistik gewesen sind; das würde ich Ihnen gern schriftlich zur Verfügung stellen. Auch die Werte vom zweiten Quartal 1992 an können Ihnen zur Verfügung gestellt werden. Da man aber nicht von der gleichen Ausgangsposition ausgeht, kann ich hier keine Wertungen vornehmen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Carstensen.
Herr Staatssekretär, ich habe gerade aufgemerkt, als Sie sagten, daß im vierten Quartal die Diebstähle zurückgegangen sind; das ist ja das Winterquartal. Kann dies daran liegen, daß die Leute dann wegen der etwas zu schlecht geheizten Waggons die Hände in den Taschen gehabt haben?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es kommt darauf an, in wessen Taschen.
Ich rufe Frage 38 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch auf:
Hält die Bundesregierung es für geboten, daß die Deutsche Bundesbahn die Reisenden über die ihnen drohenden Gefahren besser als bisher aufklärt, oder was gedenkt sie sonst zu tun, um den erheblichen Anstieg der Diebstähle zu bekämpfen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Für Schlaf- und Liegewagenfahrten hat die Deutsche Bundesbahn ein Sicherheitsmerkblatt entwickelt, das beim Kauf der Fahrkarten verteilt wird und die Reisenden auf die Gefahr von Diebstählen hinweist. Die deutschen Bahnen planen, in Zusammenarbeit mit dem Weißen Ring ein weiteres Merkblatt mit Warnhinweisen in bezug auf Taschendiebe zu erstellen. Zusätzlich werden an bestimmten Brennpunkten, z. B. Frankfurt/Main Hauptbahnhof, zu bestimmten Zeiten Warnhinweise über Lautsprecher gegeben. Auch sind im Bereich mehrerer Grenzschutz- und Bahnpolizeiämter besondere Einsatzgruppen mit Zivilfahndern eingesetzt worden, um die Diebstahlkriminalität an Brennpunkten gezielt zu bekämpfen.
Herr Kollege Hirsch, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, obwohl ich relativ viel mit der Bahn fahre — das muß ich voranschicken — habe ich von irgendwelchen
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Dr. Burkhard HirschMerkblättern, von denen Sie hier berichten, bisher nichts gesehen. Halten Sie denn die Maßnahmen, die Sie darstellen, angesichts der wirklich gravierend ansteigenden Klagen der Kundschaft und meines Wissens auch Zahlen der Diebstähle, die die Leute erheblich belasten, für ausreichend?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ob das, was man unternimmt, um Diebstähle zu verhindern, jeweils ganz ausreichend ist, wage ich zu bezweifeln, auch in diesem Fall. Aber Sie sehen, daß wir z. B. mit dem Weißen Ring zusammenarbeiten. Wir werden die Entwicklung weiter im Auge behalten und gegebenenfalls noch nachlegen müssen.
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, die Bahnpolizei ist vom Bundesgrenzschutz übernommen worden. Planen Sie denn in der Frage des Einsatzes des Bundesgrenzschutzes — bei der Beobachtung der Züge oder was immer — irgendwelche besonderen Maßnahmen, und glauben Sie, daß bisher ausreichend geschieht?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Wir haben bislang nicht den Eindruck, daß hier Klagen am Platze sind, müssen aber, nachdem die Bahnpolizei dem BGS zugeordnet ist, als BMV die Dinge sehr wohl auch weiterhin im Auge behalten. Das versteht sich. Aber wir sollten über das hinaus, was ich eben gesagt habe, daß wir uns bemühen, z. B. auch mit dem Weißen Ring für geeignete Maßnahmen zu sorgen, zunächst nicht weitere Dinge unternehmen, sondern die Ergebnisse abwarten.
Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, da, seitdem die Umstrukturierung der Bahnpolizei abgeschlossen ist, ein privater Überwachungsdienst beauftragt und eingesetzt wird: Ist es beabsichtigt, die privaten Überwachungsdienste auch in dem in Rede stehenden Bereich einzusetzen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich möchte dabei verbleiben, daß wir weitere Schritte erst dann überlegen sollten, wenn sich bei der neuen Statistik wirklich heraustellt, daß die Entwicklung negativer verläuft, als zur Zeit abzusehen.
Herr Staatssekretär, ich glaube, daß das Thema, das hier angeschnitten worden ist, von ganz besonderer Bedeutung ist und daß wir wirklich alles tun sollten, in diesem Bereich für mehr Sicherheit zu sorgen.
Ich rufe Frage 39 der Frau Kollegin Elke Ferner auf:
Treffen Meldungen zu, daß die Stelle des Präsidenten der Bundesbahndirektion Saarbrücken nicht mehr besetzt werden soll, und wie soll die Bundesbahndirektion Saarbrücken künftig geführt werden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Vorstände der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn haben vor dem Hintergrund der vom
Bundeskabinett am 17. Februar 1993 gebilligten Gesetzentwürfe zur Umgestaltung des Unternehmens beschlossen, frei werdende Präsidentenstellen wie im Falle der Bundesbahndirektion Saarbrücken bis zu einer endgültigen Regelung der künftigen Struktur des Unternehmens nicht wieder zu besetzen. Die Dienstgeschäfte des Präsidenten werden in derartigen Fällen von dem amtierenden Vizepräsidenten wahrgenommen.
Zusatzfrage der Frau Kollegin Ferner.
Ist denn nach einer etwaigen Bahnreform davon auszugehen, daß die Funktionen, die die jetzigen BD-Präsidenten innehaben, regional auch gerecht verteilt werden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das ist natürlich eine sehr viel weitergehende Fragestellung, die in der Frage einer Kollegin von Ihnen gleich noch einmal aufgegriffen wird. Selbstverständlich ist es so, daß nach Privatisierung der Bahn auch die Strukturen der jetzigen Bahn unter die Lupe zu nehmen sind. Um sich dort die Wege für etwaige Entscheidungen offenzuhalten, ist der Beschluß ergangen, daß man frei werdende Stellen nicht wieder neu besetzen will. Das hat aber nun nichts mit bestimmten ausgewählten Orten zu tun. Vielmehr wird eine Stelle, wenn sie frei geworden ist, einfach nicht wieder besetzt. Das kann also große, sehr große Bundesbahndirektionen genauso wie nicht ganz so große treffen.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Elke Ferner,
Nach welchen Kriterien werden denn in Zukunft Stellen, die altersbedingt frei geworden sind, noch einmal neu besetzt? Können da Kriterien wie vorhandenes Ausbesserungswerk, Betriebswerke, Rangierbahnhöfe oder geplante Güterverteilzentren usw. eine Rolle spielen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Diese Maßnahme hat ja nur vorübergehenden Charakter. Die Vorstände wollten sicherstellen, daß man Manövriermöglichkeiten bei Personalentscheidungen behält. Deswegen ist gesagt worden, daß bis zur endgültigen Klärung dieser Strukturfragen freiwerdende Stellen nicht besetzt werden sollen. Darüber hinaus beinhaltet das keine inhaltliche Festlegung.
Frau Kollegin Müller, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Meldungen in der Presse, daß eine Stelle nicht mehr besetzt wird, lösen auch im Unterbau solcher Stellen gehörige Verwirrungen beim Personal aus. Können Sie etwas über den Zeitrahmen sagen, wann endgültig damit zu rechnen ist, daß eine Entscheidung getroffen wird, wie es weitergehen soll? Denn es wird im Endeffekt nicht nur die Präsidentenstelle betreffen, sondern auch die Stellen weiterer Bediensteter,Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist der Sinn dieses Beschlusses der Vorstände, Flexibilität zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993 12703
Parl. Staatssekretär Manfred Carstensbehalten. Ich habe soeben geantwortet: bis zu einer endgültigen Regelung der künftigen Struktur des Unternehmens.Nun erwarten wir, daß das Gesetz in diesem Jahr — im Deutschen Bundestag und abschließend auch im Bundesrat — verabschiedet wird, so daß es die privatisierte Bahn ab 1. Januar 1994 gibt. Von dieser privatisierten AG erwarte ich schon, daß sie schnell entscheidet und nach dem 1. Januar 1994 auch Regelungen bezüglich der künftigen Struktur trifft.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt als letzte Frage in der Fragestunde die Frage 40 der Frau Kollegin Elko Ferner auf:
Welches sind die wirtschaftlichen Daten, die den ebenfalls gemeldeten Stillegungsbeschlüssen des DB-Vorstandes für verschiedene Einrichtungen der Deutschen Bundesbahn im Saarland zugrunde liegen, und wie bewertet die Bundesregierung diese Vorschläge angesichts der Bedeutung Saarbrückens im Hinblick auf die Hochgeschwindigkeitsbahn POS und andere europäische Verkehrsinfrastrukturnetze?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Dann stimmt die von mir soeben gemachte Aussage nicht, Frau Kollegin, daß ähnliche Fragestellungen noch zu beantworten seien. Ich bitte, das zu entschuldigen. Aber Sie werden sich, da die Fragen allesamt von Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Region kommen, sicherlich austauschen, so daß Sie dann die Information dem Antwortbrief entnehmen können.
Nun aber zur Antwort, Herr Präsident: Die Bundesbahn richtet ihre unternehmensinternen Planungen an den Prognosen für das Verkehrswachstum insgesamt sowie für den davon auf den Schienenverkehr entfallenden Anteil aus, der in den kommenden Jahren erheblich steigen soll. Von dieser Entwicklung ist abhängig, an welchem Ort und in welcher Form künftig Produktionsstätten vorzuhalten sind. Maßgebliches Kriterium ist dabei, wie die Produktivität verbessert und gesteigert werden kann. Dies ist auch ein wesentliches Ziel der Bahnstrukturreform.
Die Deutsche Bundesbahn entwickelt somit zunächst Grundsatzkonzepte. Dabei standen Entscheidungen zu Einzelmaßnahmen noch nicht an. Dies wäre auch verfrüht.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Ferner.
Nach der Langfristigen Werkeordnung, die vom Bahnvorstand zumindest schon auf den Weg gebracht worden ist, steht z. B. das Ausbesserungswerk Saarbrücken-Burbach zur Disposition. Eventuell freiwerdende Mitarbeiter sollen in die Betriebswerke I, II und in das neu zu bildende Werk III übernommen werden. In der letzten Woche war in der „Saarbrücker Zeitung" zu lesen, daß der Rangierbahnhof, der Bestandteil des Betriebswerkes sein soll, auch dichtgemacht wird. Können Sie einmal sagen, ob die zuständigen Stellen der Bundesbahn, die entsprechenden Abteilungen überhaupt noch miteinander reden und ihre Konzepte aufeinander abstimmen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: In der Tat ist es so — insofern verstehe ich auch Ihre Frage —, daß man jetzt, da es die privatisierte Bahn noch nicht gibt,
nicht sagt: Es gibt keine Planung, es bleibt alles so bis zum Tag X, von dem an die AG zu handeln beginnt. Es gibt z. B. die LWO, die Langfristige Werkeordnung, die natürlich gewisse Konzeptionen entwickelt. Aber dies ist, bezogen auf Ihren Fall, nicht anders zu sehen als überall sonst in Deutschland.
Da gibt es natürlich Zahlenmaterial, da gibt es Gutachten, da gibt es Vorstellungen und Pläne, die man für umsetzungsbedürftig hält. Aber das ist eine Grundsatzbeschlußfassung, wie ich in meiner Antwort zum Ausdruck gebracht habe, die von der AG vorzunehmen ist. Die daraus resultierenden Entscheidungen müssen erst noch getroffen werden. Insofern sollte man nicht allzu große Nervosität an den Tag legen, sondern in Sorgfalt Gespräche führen und dann die weiteren Entscheidungen abwarten und möglicherweise auch flankieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde.
— Nein, ich lasse keine Zusatzfragen mehr zu, weil wir die Fragestundenzeit bereits um dreieinhalb Minuten überschritten haben.
Meine Damen und Herren, die Fragen 41 bis 45 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr werden schriftlich beantwortet. Da wir morgen keine Fragestunde haben, gilt das genauso für die Fragen 46 bis 57 des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie für die Fragen 58 bis 63 des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amtes. Die Antworten auf alle genannten Fragen, also auf die Fragen 41 bis 63, werden als Anlagen abgedruckt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Themen der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Dritter Tropenwaldbericht, Änderung des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen und Verordnung über Immissionsschutz-
und Störfallbeauftragte.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr Kollege Jochen Borchert.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Waldzerstörung in den Tropen ist nach wie vor besorgniserregend. Nach den bisherigen vorläufigen Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, der FAO, belief sich die jährliche Waldzerstörung in den Tropen in dem Zeitraum 1981 bis 1990 auf rund 17 Millionen Hektar. Obwohl diese Zahl inzwischen nach unten auf 15 Millionen Hektar korrigiert ist, ändert dies grundsätzlich nichts an der nach wie vor dramatischen Entwicklung, die unverändert fortschreitet.
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12704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Bundesminister Jochen BorchertVor diesem Hintergrund hat das Bundeskabinett heute den 3. Tropenwaldbericht der Bundesregierung verabschiedet.Der Bericht enthält zunächst eine aktualisierte Analyse der Tropenwaldproblematik, einschließlich der Ursachen und Hintergründe der fortschreitenden Zerstörung der Tropenwälder. Erneut wird deutlich, daß dies nicht vereinfachend auf den Tropenholzexport reduziert werden kann. Vielmehr liegen die Ursachen nach wie vor vor allem in der Umwandlung zu landwirtschaftlicher Nutzung, einschließlich der Brandrodung, aber auch in großflächigen Erschließungs- und Entwicklungsprojekten und sicher auch in einer unsachgemäßen Waldbewirtschaftung, also in Problemen, die in vielfältiger Weise mit dem Bevölkerungsdruck und der Entwicklung in den betroffenen Ländern verknüpft sind.Der Bericht beschreibt ferner die international langfristig anzustrebenden Lösungsansätze aus der Sicht der Bundesregierung. Vor allem muß das Interesse der Tropenwaldländer selbst am Schutz und an der nachhaltigen umweltverträglichen Nutzung dieser Wälder geweckt werden. Die entscheidende Änderung der Rahmenbedingungen muß von innen, also aus dem Interesse der Tropenwaldländer selbst, kommen. Das bedeutet, es muß gezeigt werden, daß eine verantwortliche Nutzung der Wälder unter voller Beachtung des Nachhaltsprinzips einen wichtigen Beitrag zu einer dauerhaften Entwicklung der Tropenwaldländer leistet.Maßnahmen zur Erhaltung der Tropenwälder müssen vor allem auch außerhalb des Forstsektors ansetzen. Hierzu gehören ausgewogene Konzepte einer integrierten Landnutzung und ländlicher Entwicklung. Sie müssen auch zu einer verbesserten Waldbewirtschaftung führen.Schließlich beschreibt der Bericht die laufenden Maßnahmen der Bundesregierung. So wurden z. B. über 300 Millionen DM pro Jahr für forstliche Projekte im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben — mehr als von jedem anderen Geberland.Beim internationalen Pilotprogramm zur Bewahrung der tropischen Regenwälder in Brasilien ist die Bundesrepublik mit Mittelzusagen von 285 Millionen DM der größte Beitraggeber. Die Bundesregierung hat sich darüber hinaus auch an den konzeptionellen Vorarbeiten intensiv beteiligt.Ein Schwerpunkt der Tätigkeit lag im Berichtszeitraum auch bei der Mitwirkung an der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Bei dieser Konferenz sollte neben den vielfältigen Themen von Umwelt und Entwicklung insbesondere der Waldbereich einen Schwerpunkt darstellen, wobei vielfältige Querverbindungen auch zur Tropenwaldproblematik bestanden. Die Bundesregierung hat bei dieser Konferenz eine sehr aktive Rolle gespielt und erreicht, daß erstmals weltweit gültige Grundsätze zur Bewirtschaftung, Erhaltung und nachhaltigen Entwicklung von Wäldern verabschiedet wurden.Im Rahmen der Internationalen Tropenholzorganisation hat sich die Bundesregierung intensiv für die Verabschiedung und Umsetzung von Maßnahmen füreine ökologisch und ökonomisch sinnvolle Nutzung und Erhaltung der Tropenwälder eingesetzt, z. B. für die Entwicklung von Kriterien für die nachhaltige Bewirtschaftung tropischer Wälder und die Verabschiedung von Richtlinien zur Erhaltung der Artenvielfalt in tropischen Naturwäldern.Durch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen sollen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die Entwicklungsländer den auf dem Umweltgipfel von Rio übernommenen Verpflichtungen besser nachkommen können. Die Bundesregierung ist bereit, sich hieran mit 10 Millionen DM zu beteiligen.Im Forschungsbereich hat die Bundesregierung die Kapazitäten für die tropenforstliche Ressortforschung an der Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft in Hamburg erweitert. Auch auf der Ebene der EG hat das tropenforstliche Forschungsnetzwerk inzwischen seine koordinierende Tätigkeit aufgenommen.Die Bundesregierung wird ihre intensiven Bemühungen zur Erhaltung der Tropenwälder unvermindert und in internationaler Zusammenarbeit fortsetzen. Der Blickwinkel wird sich dabei in Zukunft noch mehr auf alle Wälder der Erde erweitern, denn auch außerhalb der Tropen sind die Wälder auf vielfältige Weise bedroht. Weltweite Strategien zu ihrer Erhaltung sind erforderlich.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister.
Zu diesem Themenbereich hat sich Frau Kollegin Dr. Liesel Hartenstein gemeldet. — Bitte.
Herr Minister, der vorige Tropenwaldbericht ist mit großer Zeitverzögerung vorgelegt worden. Wir nehmen gern zur Kenntnis, daß der jetzige Tropenwaldbericht rechtzeitig erscheint.Meine Frage bezieht sich allerdings nicht so sehr auf die Analyse, die darin enthalten sein soll, und auf die Maßnahmen, die Sie vorgetragen haben, sondern sie bezieht sich auf die ganz konkreten Forderungen, die bereits im Beschluß des Deutschen Bundestages vom Oktober 1990 enthalten sind, auf die der letztjährige Tropenwaldbericht keine Antwort gegeben hat.Meine Frage lautet also: Welche Antworten gibt der jetzige Tropenwaldbericht der Bundesregierung beispielsweise auf die Forderungen, daß die Bundesregierung ein nationales Aktionsprogramm zum Tropenwaldschutz zu erstellen habe, daß sie sich für einen Treuhandfonds zum Schutz der Tropenwälder auf internationaler Ebene im Umfang von 10 Milliarden DM einzusetzen habe, daß sie Tropenwaldschutzpläne an Stelle der Tropenforstwirtschafts-Aktionspläne zu erarbeiten und zu verabschieden habe, daß sie auf nationaler Ebene und auf EG-Ebene einen Stufenplan zur Erhöhung der nationalen Mittel und der EG-Mittel zum Tropenwaldschutz anzustreben habe?Die Zeit erlaubt mir nicht, die ganze Reihe der Forderungen hier vorzutragen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993 12705
Dr. Liesel HartensteinMeine Frage: Welche Antwort gibt der jetzige Tropenwaldbericht der Bundesregierung auf diese konkreten Forderungen des Deutschen Bundestages?
Frau Kollegin, der Tropenwaldbericht weist darauf hin, daß die Bundesregierung zur Verwirklichung der Forderungen erhebliche finanzielle Mittel aufwendet, um im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit Länder bei der Aufgabe, Tropenwälder zu erhalten und zu schützen, intensiv zu unterstützen. 300 Millionen DM pro Jahr allein für forstwirtschaftliche Projekte, die dem Schutz des Tropenwaldes dienen, aber auch etwa 285 Millionen DM allein für Brasilien sind ein Zeichen dafür, daß wir versuchen, im Rahmen der bilateralen, aber auch im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit den Erhalt der tropischen Wälder intensiv zu unterstützen.
Noch eine weitere Frage? — Bitte, Frau Kollegin Hartenstein.
Ich habe eine weitere Frage. Der Herr Minister wird sicher verstehen, daß mich die Antwort nicht befriedigt.
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am 20. Mai 1992 in Berlin gesagt, daß er sofort nach der UNCED-Konferenz in Rio dafür sorgen werde, daß Maßnahmen eingeleitet würden, um eine internationale Waldkonvention abschließen zu können.
Meine Frage lautet: Was hat die Bundesregierung im Laufe des letzten Jahres und in den ersten drei Monaten dieses Jahres unternommen, um zu dieser internationalen Waldkonvention zu kommen?
Sie selbst haben durch Ihre Darlegung die Begründung dafür gegeben, daß dies äußerst dringlich ist, weil die Waldvernichtung fortschreitet und weil die Aufforstungsrate heute weltweit im Vergleich zur Vernichtungsrate immer noch 1:10 beträgt.
Die Bundesregierung verfolgt seit Jahren, schon vor dem Umweltgipfel von Rio, das Ziel einer international verbindlichen Waldkonvention. In Rio war eine solche Konvention noch nicht erreichbar.
Der UNCED-Prozeß, an dem die Bundesregierung maßgeblich beteiligt war, hat jedoch zu einer neuen Breite der Diskussion um die weltweite Walderhaltung in der Politik und in der Öffentlichkeit geführt, die über den Forstsektor hinausgeht.
Mit der Walderklärung von Rio liegen erstmals auch weltweit vereinbarte Grundsätze über die Bewirtschaftung, Erhaltung und nachhaltige Entwicklung der Wälder der Erde vor. Ziel muß es sein, die davon ausgehenden Impulse zu nutzen. Dazu sollten die bisher erreichten Ansätze, insbesondere die Walderklärung, aufgegriffen und international verbindliche Vereinbarungen angestrebt werden.
Die Bundesregierung hält am Ziel einer Waldkonvention fest. Es wird jetzt von den weiteren Verhandlungen, aber auch von den Eigenanstrengungen der Industrieländer abhängen, die Entwicklungsländer von den Vorteilen einer Waldkonvention zu überzeugen.
Auf dem Europäischen Rat von Lissabon im Juni 1992 haben sich die EG-Mitgliedstaaten verpflichtet, für die Schaffung eines internationalen Verfahrens zur Überprüfung der Grundsätze über die nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder einzutreten. Darüber hinaus haben sie sich zur Erstellung nationaler Waldberichte verpflichtet.
Von der zweiten Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa wird die Verabschiedung einer Resolution über die nachhaltige Forstwirtschaft in Europa erwartet; diese Konferenz wird im Juni stattfinden.
Wir haben uns immer wieder dafür eingesetzt und deutlich gemacht, daß die europäischen Länder die Zukunft der Wälder ernst nehmen, daß sie bereit sind, mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Norden muß sich den gleichen Verpflichtungen unterwerfen, wie wir sie von den Tropenwaldländern fordern. Diese Bereitschaft hat die Bundesregierung seit Jahren signalisiert.
Schließlich unterstützt die Bundesregierung eine internationale Initiative zur Gründung einer unabhängigen Kommission, die sich mit der Problematik einer verbindlichen Übereinkunft zur weltweiten Walderhaltung und nachhaltigen Waldbewirtschaftung auseinandersetzen wird. Diese Kommission soll eng mit der UN-Kommission für eine nachhaltige Entwicklung zusammenarbeiten und ihr bis 1995 Bericht erstatten. Hierin sollen auch konkrete Vorschläge enthalten sein, wie die Resultate von Rio zum Schutz des Waldes in praktische Politik umgesetzt werden können.
Ich habe die noch im Aufbaustadium befindliche Kommission nach Deutschland eingeladen, ihr die Unterstützung der Bundesrepublik zugesagt und hoffe, daß es in absehbarer Zeit, in diesem Jahr, zu einer Tagung dieser Kommission in der Bundesrepublik kommen wird. Ich bin sicher, daß dies ein Weg ist, um die Forderungen umzusetzen.
Gibt es zu den Themen, die von der Bundesregierung genannt worden sind, noch weitere Fragen? — Frau Kollegin Weyel.
Herr Minister, unter den angesprochenen Themen ist uns auch das Gesetz zum Änderungsprotokoll vom 6. Dezember 1992 zu dem Europäischen Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen genannt worden. Von dem schönen Titel abgesehen: Welches sind die wesentlichen Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetz, und ist insbesondere zu erwarten, daß es auf dem Gebiet der internationalen Schlachttiertransporte zu Verbesserungen kommt?
Frau Kollegin, das Änderungsprotokoll trägt zur weiteren Harmonisierung des unterschiedlichen Tierschutzrechts in den Mitglied-
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Bundesminister Jochen Borchertstaaten des Europarates bei. Die materiellen Anforderungen der vorliegenden völkerrechtlichen Vereinbarung sind bereits Bestandteil der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland. Es werden also von diesem Änderungsprotokoll keine Veränderungen für die Tierhaltung in der Bundesrepublik ausgehen; aber es gehen davon sicher Veränderungen für die Tierhaltungen in den anderen Mitgliedstaaten aus.Das Problem der Tiertransporte ist in diesem Änderungsprotokoll nicht behandelt. Ich habe aber in der Agrarministerratssitzung in der vergangenen Woche die Kommission noch einmal aufgefordert, die seit Juli 1992 überfälligen Richtlinien für Tiertransporte vorzulegen, und in dieser Agrarministerratssitzung angekündigt, daß ich mich, wenn wir nicht sehr kurzfristig zu einer Vereinbarung über die Begrenzung der Transportzeiten bei Tiertransporten innerhalb der EG kommen, gezwungen sehe, der Bundesregierung und auch dem Bundestag nationale Maßnahmen vorzuschlagen, um die untragbaren Verhältnisse bei Tiertransporten, von denen die Bundesrepublik als Transitland besonders betroffen ist, endlich abzuschaffen. Ich halte die Situation in diesem Bereich für nicht länger hinnehmbar. Ich finde, wir müssen notfalls mit nationalen Maßnahmen reagieren, wenn wir in Europa eine zeitliche Begrenzung der Tiertransporte und eine Betreuung der Tiere während des Transports nicht durchsetzen können.
Eine weitere Frage des Kollegen Carstensen, bitte.
Herr Minister, ich bin Ihnen gerade wegen der letzten Äußerung sehr dankbar. Ich finde, das ist anerkennenswert, und das sollte man hier auch einmal sagen, Herr Präsident.
In diesem Zusammenhang darf ich fragen: Wie steht denn die Bundesregierung in den internationalen Verhandlungen im Bereich des Tierschutzes da? Sind wir dort Vorreiter, oder wie würden Sie unsere Stellung bei den Diskussionen charakterisieren?
Wir sind im Tierschutz sicher weiter als fast alle anderen Länder. Wir sind jetzt darum bemüht, unsere gesetzlichen Tierschutzvorschriften auch in anderen Ländern mit durchzusetzen; denn eine weitere Verschärfung der Auflagen nur in der Bundesrepublik, etwa im Bereich der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung, würde natürlich zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen führen. Unser Bestreben muß es jetzt sein, innerhalb der EG einvernehmlich Tierschutzrichtlinien gesetzlich durchzusetzen, die unseren Anforderungen entsprechen, um damit zu einer Harmonisierung des Tierschutzrechtes auf dem Niveau der Bundesrepublik zu kommen.
Eine weitere Frage des Kollegen Kubatschka.
Herr Minister, im Sinne des Tierschutzes wäre es, wenn möglichst vor Ort geschlachtet würde und die geschlachteten Tiere transportiert würden statt der lebenden Tiere. Was
wird getan, damit das eher erreicht wird, und sind nicht die neuen Hygienevorschriften, die die EG auf diesem Gebiet erläßt, in diesem Sinne kontraproduktiv?
Unsere Forderung ist, daß nicht Tiere transportiert, sondern Tiere vor Ort geschlachtet werden und das Fleisch dann transportiert wird. Die Schlachtkapazitäten dafür sind in Europa in den verschiedenen Regionen eigentlich ausreichend.
Ich sehe nicht, daß die neue Hygienevorschrift die Problematik verschärft, weil auch bei Durchsetzung und Anwendung dieser Hygienevorschrift in den Regionen ausreichende Schlachtkapazitäten vorhanden sind.
Gibt es weitere Fragen von aktuellem Interesse? — Bitte, Frau Kollegin Hartenstein.
Herr Minister, ich darf noch einmal nachfragen, wie Sie die entsprechende EG-Richtlinie beurteilen, die in die Hygienevorschriften übergegangen ist und die tatsächlich zur Folge hat — das ist Ihnen sicherlich bekannt —, daß kleine und mittlere Schlachtbetriebe, auch wenn sie sonst top in Ordnung sind, aufgeben müssen, weil sie die Grenze von 20 Großvieheinheiten pro Woche überschreiten, was dazu führt, daß in ländlichen Regionen eine Ausdünnung der Schlachthöfe erfolgt, was wiederum größere Transportentfernungen zur Konsequenz hat. Wie beurteilen Sie dies alles unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes?
Ich sage noch einmal: Ich glaube nicht, daß dies unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes negative Auswirkungen hat. Unabhängig davon setzen wir uns in den Verhandlungen in Europa — im Gespräch mit der Kommission, aber auch im Ministerrat — dafür ein, daß in der Hygieneverordnung die Grenze von zur Zeit 25 Großvieheinheiten heraufgesetzt wird, um für kleinere Schlachtstätten, die eine regionale Belieferung vornehmen, Ausnahmeregelungen zu erreichen, sie also aus der Hygieneverordnung herauszunehmen.Ich hoffe, daß wir hiermit Erfolg haben, so daß für viele kleinere und mittlere Schlachthöfe, die von der Hygienerichtlinie betroffen sind, eine Ausnahmeregelung erreicht werden kann. Das würde bedeuten, daß sich eine Problematik im Sinne des Tierschutzes dann erst recht nicht stellen würde. Aber selbst wenn wir dies nicht erreichen würden, wären die Transportzeiten zu anderen, größeren Schlachthöfen in der Nähe auch unter dem Gesichtspunkt des Tiertransportes nicht problematisch.Aus meiner Sicht liegt die Problematik der Hygienerichtlinie eher darin, daß mittlere und kleinere Schlachthöfe für die regionale Versorgung des Marktes ausfallen, weil wir diesen Schlachthöfen die umfangreichen Investitionen, die mit der Umsetzung der Hygienerichtlinie verbunden sind, nicht zumuten können.
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Noch eine Frage der Kollegin Weyel, bitte.
Herr Minister, Sie haben in den ersten Wochen in Ihrem Amt sicher anderes zu tun, als sich um jede Einzelheit zu kümmern. Aber könnten Sie sich dem Gedanken öffnen, daß man insbesondere alternativ wirtschaftenden Landwirten oder solchen, die besonders qualifiziertes Vieh halten, die Möglichkeit gibt, bei der Selbstvermarktung einen Schlachtweg zu beschreiten, bei dem sie selber und ihre Kunden sicher sein können, daß sie als Selbstvermarkter das Fleisch abgeben, das sie vorher als lebendes Tier „produziert" haben?
Wir sind in entsprechenden Überlegungen und werden Wege finden, mit denen wir gerade die Direktvermarktung weiter fördern können.
Darüber hinaus sollte man den von Ihnen angesprochenen Gedanken noch weiter aufgreifen. Ich glaube, daß es heute bei Verbrauchern eine hohe Sensibilität dafür gibt, aus welchen Haltungsformen Tiere kommen, wie Tiere von der Geburt bis zum Schlachten gehalten wurden, wie das Fleisch weiterbehandelt wurde. Hier sollten wir die Bemühungen der Landwirtschaft unterstützen, ein Prüfsiegel einzuführen, mit dem dokumentiert wird, daß der gesamte Produktionsprozeß — vom Ferkel oder von der Elterntierhaltung über die Schlachtung bis zum Verkauf des Fleisches über die Ladentheke — kontrolliert worden ist. Das heißt, der Verbraucher weiß dann, aus welcher Produktion dieses Fleisch kommt. Ich bin sicher, er ist bereit, dafür auch einen etwas höheren Preis zu zahlen.
Herr Minister, wenn ich richtig orientiert bin, ist die Hygienerichtlinie die Folge der Forderungen nach einem besseren Verbraucherschutz. Machen nicht gerade die letzten beiden Fragen der beiden Kolleginnen der SPD-Fraktion, die ich nachvollziehen kann, klar, daß es irgendwann einmal kontraproduktiv wird? Auf der einen Seite haben wir auf Grund der Forderungen nach einem besseren Verbraucherschutz Hygienevorschriften, die dafür sorgen sollen, daß wir zu einer besseren Ausstattung der Schlachthöfe kommen, auf der anderen Seite hat dies aber zur Folge, daß der Transportweg zu diesen besser ausgestatteten Schlachthöfen länger wird.
— Die Frage darf man aber stellen.
Herr Kollege, Gegenstand der Hygienerichtlinie sind sicher die Großschlachthöfe, die in großem Umfang schlachten und das Fleisch dann für die Belieferung eines großen Marktes und auch zur Weiterverarbeitung einsetzen. Hier müssen natürlich strengere Hygienevorschriften angewandt werden als bei Schlachthöfen, die nur den
regionalen Markt beliefern. Der Fehler, der sicher auch von manchen, die im Interesse des Verbraucherschutzes diese Hygienerichtlinie gefordert haben, gemacht wird, ist die fehlende Differenzierung zwischen den Großschlachthöfen zur Belieferung großer Märkte, im Grunde genommen europäischer Märkte, und den kleineren Schlachthöfen mit einer regionalen Vermarktung, bei denen der Weg von der Schlachtstätte bis zu den Verbrauchern sehr kurz ist, so daß andere Anforderungen an diese Schlachthöfe gestellt werden können und müssen.
Nun hat Kollege Carstensen eine weitere Zusatzfrage provoziert. Bitte, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Minister, an mich sind in letzter Zeit „unsere" Metzger herangetreten, und diese Metzger — Fleischer, um es auf hochdeutsch zu sagen — sehen darin eigentlich eher eine Konkurrenzmaßnahme der großen Konzerne, um sie auszubremsen und ihnen keine Chance mehr auf dem Markt zu geben. Sehen Sie das auch so?
Nein, Herr Kollege. Ich sehe das nicht so. Wenn Sie mit Metzgern gesprochen haben, dann werden darunter, wenn es tatsächlich Metzger sind, kaum Metzger gewesen sein, die wöchentlich mehr als 25 Großvieheinheiten schlachten.
Aber wir versuchen, gerade im Interesse der kommunalen Schlachthöfe oder der von Metzgern gemeinsam betriebenen Schlachthöfe, die zur Belieferung des regionalen Marktes dienen, eine Regelung zu finden, die diese Schlachthöfe von der Richtlinie ausnimmt und dafür andere Richtlinien schafft, die es ermöglichen, diese Schlachthöfe in der bisherigen Form weiter zu betreiben.
Hier wird deutlich, daß man Großschlachthöfe, die den europäischen Markt beliefern, und Schlachtstätten zur regionalen Belieferung mit unterschiedlichen Maßstäben messen muß. Dafür setzen wir uns ein.
Meine Damen und Herren, ich sehe keine weiteren Fragesteller. Ich möchte aber noch eine Feststellung treffen.Während der Zeit der Regierungsbefragung waren im Saal acht Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete anwesend.
Auf der Regierungsbank haben während dieser Zeitmehrere — Männer und Frauen — Minister, Staatsmi-
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12708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 148. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. März 1993
Vizepräsident Helmuth Beckernister und Parlamentarische Staatssekretäre Platz genommen.
Wenn wir das Instrument „Befragung der Bundesregierung" fortführen wollen, dann müssen wir uns, glaube ich, über diesen Zustand einmal unterhalten.
Meine Damen und Herren, ich beende die Befragung. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 25. März 1993, 9.00 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.