Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünsche einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.Ich teile zunächst mit: Der frühere Kollege Bernhard Jagoda hat am 7. Februar 1993 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Sein Nachfolger, der Abgeordnete Erhard Niedenthal, hat am 8. Februar 1993 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen ganz herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
Nun zur Parlamentsarbeit: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Lage in der Stahlindustrie und ihren regionalen Auswirkungen
2. Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in O-1561 Potsdam, Bauhofstraße 2-8 — Drucksache 12/3149- 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu den dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92 — Drucksache 12/4304 —4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/93 — Drucksache 12/4305 —5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wilfried Bohlsen, Dr. Rolf Olderog, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Manfred Richter , Horst Friedrich, Ekkehard Gries, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Prävention und Bekämpfung von Öltankerunfällen— Drucksache 12/4307- 6. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Patentvergabe des Europäischen Patentamtes auf genmanipulierte Lebewesen7. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Conradi, Dr. Eckhart Pick, Achim Großmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Baugesetzbuchs— § 22a — Drucksachen 12/3626, 12/4317 -8. Aktuelle Stunde: Verhältnis zu den osteuropäischen NachbarstaatenVon der Frist für den Beginn der Beratung soll bei Tagesordnungspunkt 4 a und b abgewichen werden.Weiter ist vereinbart worden, Tagesordnungspunkt 13, Suchtstoffübereinkommen, abzusetzen und Tagesordnungspunkt 16 bereits am Donnerstag nach Tagesordnungspunkt 11 zu beraten.Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und Zusatzpunkt 2 auf:3. Überweisung im vereinfachten VerfahrenErste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Konstitution und der Konvention der Internationalen Fernmeldeunion vom 30. Juni 1989— Drucksache 12/4134 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Post und TelekommunikationZP2 Beratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in O-1561 Potsdam, Bauhofstraße 2-8— Drucksache 12/3149 —Überweisungsvorschlag: HaushaltsausschußEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie auch damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis h sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:4. Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
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12062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Präsidentin Dr. Rita Süssmutheines Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze— Drucksache 12/3630 —
Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/4309 -Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Ludwig Stieglerb) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Akte vom 17. Dezember 1991 zur Revision von Artikel 63 des Europäischen Patentübereinkommens— Drucksache 12/3537 —
Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/4310 —Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Gres Ludwig Stieglerc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Petitionsausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Beratungen des Petitionsausschusses im parlamentarischen Jahr 1991 bis 1992— Drucksachen 12/3128, 12/4194 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Gero Pfennigd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Aufstellung eines mehrjährigen Programms zur Entwicklung von Gemeinschaftsstatistiken über Forschung, Entwicklung und Innovation— Drucksachen 12/2867 Nr. 2.21, 12/3975 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Martin Mayer
Siegmar MosdorfDr.-Ing. Karl-Hanz Laermanne) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zum Gesetz über die Verminderung der Personalstärke der Streitkräfte
und zum Gesetz zur Anpassung der Zahl der Beamten im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung an die Verringerung der Streitkräfte
— Drucksachen 12/2206, 12/4248 —Berichterstattung:Abgeordnete Brigitte Schulte Johannes Ganz (St. Wendel)f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Verordnung zur Änderung der Vierundzwanzigsten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/3445 , 12/4230 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmanng) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 87 zu Petitionen— Drucksache 12/4260 —h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 88 zu Petitionen— Drucksache 12/4261 —ZP 3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses
zu den dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92— Drucksache 12/4304 —Berichterstattung: Abgeordneter Horst EylmannZP 4 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses
zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/93— Drucksache 12/4305 —Berichterstattung: Abgeordneter Horst EylmannEs handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Ich beginne mit Tagesordnungspunkt 4 a: Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf zur Änderung des Patentgesetzes, Drucksachen 12/3630 und 12/4309. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12063
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthlen, sich zu erheben. — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 b: Einzelberatung und Schlußabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf zum Europäischen Patentübereinkommen, Drucksache 12/3537. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/ 4310, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen?— Enthaltungen? — Keine. Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Beratungen seines Petitionsausschusses in den Jahren 1991 und 1992, Drucksache 12/4194. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung bei zwei Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 d: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Vorschlag der EG zur Aufstellung eines Programms der Entwicklung von Gemeinschaftsstatistiken, Drucksache 12/3975. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 e: Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Bericht der Bundesregierung zum Personalstärkegesetz und Bundeswehrbeamtenanpassungsgesetz, Drucksache 12/4248. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Gegenstimmen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 f: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, Drucksache 12/4230. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Tagesordnungspunkt 4 g und 4 h: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/4260 und 12/4261. Das sind die Sammelübersichten 87 und 88. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei zwei Enthaltungen angenommen.Zusatzpunkt 3: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Enthaltungen angenommen.Zusatzpunkt 4: Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu einer weiteren Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei zwei Gegenstimmen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Dr. Gerald Thalheim, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDStruktur- und sozialverträgliche Verwertung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern durchführen— Drucksache 12/3476 — Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
RechtsausschußHaushaltsausschußb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim, Brigitte Adler, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDZum Siedlungskauf-Modell der Bundesregierung in den neuen Bundesländernzu dem Antrag der Abgeordneten Horst Sielaff, Dr. Gerald Thalheim, Hinrich Kuessner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDRichtlinie für die Durchführung der Verwertung und Verwaltung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen— Drucksachen 12/2126, 12/2545, 12/3563 —Berichterstattung:Abgeordneter Siegfried Hornungc) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Werner Schulz , Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENLage und Zukunft der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/2324, 12/2837 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Abgeordnete Dr. Gerald Thalheim.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der politischen Wende in der ehemaligen DDR stand fest, daß die Verwertung der sogenannten volkseigenen Flächen eine der wichtigsten Entscheidungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit werden würde.Die überwiegende Zahl der Aktivisten der Wende, bis hin zu den Parlamentariern der ersten frei gewählten Volkskammer, hatte das Ziel, dieses Bodeneigentum vor allem für den Aufbau wettbewerbsfähiger Landwirtschaftsbetriebe in den neuen Ländern einzusetzen. Dieser Landbesitz sollte primär den ortsansässigen Landwirten zugute kommen, unabhängig
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12064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Br. Gerald Thalheimdavon, in welcher Betriebsform sie das Land bewirtschaften wollten.Deshalb war es folgerichtig, daß die SPD-Bundestagsfraktion den Vorschlag unterbreitete, das Land Siedlungsgesellschaften zu übereignen, die unter Berücksichtigung der regionalen Belange für die Verwertung zuständig sein sollten. Das Ziel war, die Siedlungsgesellschaften unter die Kontrolle der Länderparlamente zu stellen — wohlgemerkt, unter die von vier CDU-dominierten Länderparlamente.Dieses komplizierte Problem sollte im Rahmen eines demokratischen Verfahrens geklärt werden. Wir mußten jedoch sehr bald erkennen: So viel Demokratie war an dieser Stelle nicht gewünscht. In Bonn hatte man ganz andere Absichten.Trotz Einigungsvertrag und Karlsruher Urteil wurden die Befürchtungen der Menschen in den ländlichen Regionen der ehemaligen DDR bestätigt. Nicht ihr Schicksal, nicht ihre Zukunft war es, die die Politiker von CDU und F.D.P. am Rhein bewegte, sondern die Frage, wie in Umgehung des Karlsruher Urteils eine „Wiedergutmachung in Land" und nicht nur eine Entschädigung, wie es das Karlsruher Urteil ausdrücklich zuläßt, durchzusetzen ist.
Meine Damen und Herren, ich gebe zu, als Neuparlamentarier mußte ich in diesem Hause sehr vieles dazulernen. Ich hatte z. B. kaum Vorstellungen, was Lobbyismus bedeutet.
In einer in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen Aktion habe ich erkennen müssen, was Lobbyismus eigentlich bedeutet. Die Verbände der bis 1949 Enteigneten haben auf allen Wegen versucht, ihre Interessen durchzusetzen.
Am 26. Juni des vergangenen Jahres, Herr Hornung, wurde eine Richtlinie zur Verwertung des Landes im Besitz der Treuhandanstalt verabschiedet.
Herr Thalheim, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Ja, bitte.
Herr Kollege, sind Sie der Auffassung, daß die Enteignung der ehemaligen Grundbesitzer durch die Kommunisten in der DDR — wenn auch vielleicht auf Geheiß von Moskau — richtig war?
Herr Gallus, Sie wissen, darum geht es hier nicht.
— Herr Gallus, ich werde in meiner Rede noch darauf eingehen. Sie waren bis vor kurzem Mitglied der Bundesregierung. Heute steht u. a. auch eine Große Anfrage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mit zur Diskussion. Die Verfasser haben der Bundesregierung in Frage 6 den Vorwurf gemacht, sie habe das Karlsruher Urteil umgangen. Die Bundesregierung beantwortet Frage 6 dieser Großen Anfrage mit dem lapidaren Satz: „Der Vorwurf ist unbegründet."
— Lesen Sie sich bitte noch einmal diese Anfrage durch.
Herr Thalheim, der Abgeordnete Gallus hat noch eine Zusatzfrage.
Ja, bitte.
Herr Kollege, verstehen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eigentlich so, daß eine Entschädigung nur in Geld und nicht auch in Form von Grund und Boden erfolgen kann?
Herr Gallus, im weiteren Verlauf meiner Rede werde ich genau auf den Punkt noch einmal eingehen.
Herr Thalheim, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Weyel?
Ja, bitte.
Herr Kollege, es ist ja sicher dem ganzen Hause bekannt, daß die Frage der Enteignungen vor Gründung der eigenständigen deutschen Staaten nach dem Krieg auch im Zusammenhang mit den Zwei-plus-Vier-Gesprächen gesehen werden muß und daß bei diesen Festlegungen internationale Vereinbarungen eine Rolle spielten. Ich glaube, aus der damaligen Situation heraus war das eine notwendige Entscheidung. Ob man sie irgendwann revidieren kann, weiß ich nicht, denn es sind ja internationale Vereinbarungen.
Was war jetzt die Frage?
Frau Kollegin, ich setze das als bekannt voraus.Wer damals glaubte, es würden endlich langfristige Pachtverträge abgeschlossen — Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, haben das ja auch im Ernährungsausschuß gefordert —, sah sich getäuscht. Obwohl diese Richtlinie in enger Zusammenarbeit zwischen dem Bundesfinanzministerium und der Treuhandanstalt erarbeitet worden war, kam sie nicht zur Anwendung. Diese Richtlinie hatte einen Mangel: Die Anliegen der Alteigentümer, vor allem derjenigen — das betone ich ausdrücklich —, die selbst nicht Landwirtschaft betreiben wollten, waren darin nicht genügend berücksichtigt. Seit dieser Zeit versuchten die Vertre-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12065
Dr. Gerald Thalheimter der Alteigentümer in unzähligen Diskussionsrunden im Kanzleramt unter Leitung von Herrn Gerster, ihre Interessen durchzusetzen,
was ihnen auch weitgehend gelungen ist. Vor allem haben sie den Abschluß langfristiger Pachtverträge um ein Jahr hinausgeschoben, was die Perspektive vieler Betriebe enorm verschlechterte und in der Landwirtschaft der neuen Länder zum Investitionshemmnis wurde.Nach der jetzt vorliegenen Ergänzung der Richtlinie erhalten die zwischen 1945 und 1949 Enteigneten eine Vorrangstellung vor allen Mitbewerbern. Das wird mit dem schwammigen Begriff „Interessenausgleich" kaschiert.
Der jetzige Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hat als Vorstandsmitglied der Treuhandanstalt die Katze aus dem Sack gelassen. Nach seiner Auffassung stellt diese Regelung eine „Priorität der Priorität" dar.
— Wohlgemerkt, Herr Susset, damit ist nicht die Priorität vor Nachfolgebetrieben ehemaliger LPGs auf der Bewerberliste gemeint, sondern die Priorität vor anderen Wieder- und Neueinrichtern aus den neuen Bundesländern. „Priorität der Priorität" : Herr Gallus, das ist der erste Teil der Antwort auf Ihre Frage. Reden Sie mit Ihrem Kollegen Rexrodt.Noch verhängnisvoller für die Bewerber aus Ostdeutschland ist die Tatsache, daß der Begriff „existenzbedrohender Flächenentzug" nicht geklärt ist. Obwohl die genannte Treuhandrichtlinie alle Fragen bis ins Detail regelt, wurde ausgerechnet diese Begriffsbestimmung ausgespart. Es ist also zu befürchten, daß Alteigentümer den Zuschlag erhalten, egal, wie viele Arbeitsplätze in noch existierenden oder neugegründeten Betrieben verlorengehen. Dafür könnten individuelle Beispiele nachgeliefert werden.
Jetzt muß ich doch kurz unterbrechen.
— Es mag ja sein, daß es für Sie furchtbar klingt, aber man muß den Redner noch verstehen können.
Ja, es ist in der Tat furchtbar, aber es ist leider die Wahrheit.
Eine Regelung, wo und nach welchen Kriterien eine Überprüfung der Entscheidung vorgenommen werden muß, ist jedenfalls nicht getroffen worden. Ohne Belang scheint zu sein, wieviel Altschulden solche Betriebe zu bedienen haben und wie hoch die Vermögensansprüche ausgeschiedener Mitglieder sind.
Im Siedlungs- und Landerwerbsprogramm ist eine Regelung gefunden worden, nach der über das sogenannte pauschalierte Verfahren ehemalige Landeigentümer wesentlich besser bedient werden sollen, als wenn der Verkehrswert zugrunde gelegt würde. — Herr Gallus, ich komme jetzt auf den Ihre Frage betreffenden Teil zu sprechen. — Das bedeutet, daß ein Subventionstatbestand zugunsten dieser Gruppe geschaffen wird. Schlimm ist, daß Gesellschafter von Kapitalgesellschaften von dem Siedlungskaufprogramm ausgeschlossen werden.
Letzteres ist besonders fragwürdig.
Während in diesem Haus unwürdig um eine angemessene Entschädigung der Opfer des SED-Regimes, die jahrelang im Gefängnis gesessen haben, gestritten wurde, weil angeblich kein Geld vorhanden war, während noch immer ungeklärt ist, ob Aussiedler aus den ehemaligen Ostgebieten zumindest 4 000 DM erhalten sollen, während Kreispachtgeschädigte, die ähnlich schlimme Enteignungen wie die Opfer der Bodenreform erleiden mußten, bis heute keine Mark zu erwarten haben, soll lediglich der Gruppe der Alteigentümer, die oftmals in der Bundesrepublik Lastenausgleich erhalten hat und wesentlich bessergestellt ist, ein erhebliches Geschenk gemacht werden.
Auch hier klafft eine riesige Gerechtigkeitslücke, Herr Köhler.
Herr Thalheim, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten von Schorlemer?
Ja, bitte.
Herr Kollege, Sie haben vorhin von dem Unrecht der Bodenreform gesprochen. Würden Sie die Frage des Kollegen Gallus, ob die brutale Bodenreform von 1945 bis 1949 ein Unrecht war, jetzt einmal klar mit Ja oder Nein beantworten?
Selbstverständlich war es ein Unrecht. Herr von Schorlemer, das Problem besteht doch ganz klar darin — das habe ich hier darzulegen versucht —, daß sich Entschädigung und Wiedergutmachung auch für diese Gruppe daran orientieren müssen, was vergleichbare Gruppen, die ihren Wohnsitz in der ehemaligen DDR haben, an Entschädigung bekommen. Ich habe ganz klar auf das Defizit aufmerksam gemacht: Diejenigen, die im Gefängnis gesessen haben, und diejenigen, die von Kreispachtverträgen betroffen waren — das sind enteignungsgleiche Tatbestände —, haben keine Mark zu erwarten. Denen müssen Sie einmal erklären, warum einzig und allein die Gruppe der Alteigentümer — allen ist gleichermaßen Unrecht widerfahren — bessergestellt worden ist.
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12066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dr. Gerald ThalheimIch lade Sie gern einmal zu einem Gespräch ein. Ich bin gespannt, wie Sie denjenigen, die 1953 von ihrem Hof vertrieben wurden und heute unter die Kreispachtregelung fallen, erklären wollen, warum sie weniger als diejenigen bekommen sollen, die vier Jahre vorher vom gleichen Schicksal betroffen waren. An einem solchen Gepräch wäre ich sehr interessiert.
Unsere Kritik an diesem Vorgehen der Bundesregierung wird von seiten der Regierungsparteien oft mit dem Hinweis abgetan, wir würden für die ehemaligen LPGs Partei ergreifen. Dabei wird so getan, als wäre die Herkunft eines Betriebes — sprich: ehemalige LPG — Entscheidungskriterium für Gut und Böse. Oft genug ist eine ganz andere Herkunft die Trennungslinie. Was manche Geschäftsführer von ehemaligen LPGs im Rahmen der Umwandlungsbeschlüsse mit den ehemaligen Inventar- und Landeinbringern sowie Mitgliedern gemacht haben, ist schlimm. Was manche Westberater und Glücksritter unternommen haben, ist dagegen kriminell. Der in der Januarausgabe der „Deutschen Landwirtschaftszeitung" beschriebene Fall in der Gemeinde Gallin ist leider kein Einzelfall.Die gegenwärtige Situation ist geeignet, die Kluft zwischen Ost und West eher zu vertiefen, als sie zu vermindern. Dafür trägt die Bundesregierung mit ihren Entscheidungen erhebliche Mitverantwortung.
Unser Ziel ist das Gegenteil. Das wird nur erreicht, wenn die Menschen in den neuen Ländern ihre Chance erhalten.Bezogen auf die Vergabe von Land im Besitz der Treuhandanstalt sind wir bescheiden geworden, Herr Hornung. Wir fordern nichts anderes als die Umsetzung der Richtlinie der Treuhandanstalt vom 26. Juni 1992 ohne die aktuellen Zusätze.
Also: Keine Bevorzugung der Alteigentümer bei der Verpachtung des Landes, sondern Vergabe des Pachtzuschlags an jene, die das beste Betriebskonzept besitzen.
— Herr Kollege, denken Sie einmal an den Fall Hohen Wangelin. Dort erhält ein jetziges Mitglied der Bundeswehr ohne fachliche Qualifikation den Zuschlag. In der Richtlinie steht aber, es werde nach fachlicher Qualifikation entschieden. Dieser junge Mann hat noch nicht einmal studiert; er will erst noch studieren. Das ist seine fachliche Qualifikation.
Unsere weiteren Forderungen sind: Selbstbewirtschaftung der Flächen und kein existenzbedrohender Flächenentzug sowie ein Siedlungskauf, der auch Gesellschafter juristischer Personen mit einbezieht.
Als nächster spricht der Abgeordnete Ulrich Junghanns.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn auch die heute vorliegenden Anträge und Anfragen älteren Datums sind — die Gesamtthematik „Agrarwirtschaft in den neuen Bundesländern" bleibt politisch, wirtschaftlich und sozial brisant.Eine vielseitig strukturierte, leistungsfähige und umweltverträgliche Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen, die nachhaltig im Wettbewerb besteht, ist unser Ziel. Ich bin sehr dankbar, daß das unser neuer Bundesminister für Landwirtschaft, Herr Jochen Borchert, mit aller Deutlichkeit bekräftigt hat. Um dem Gestalt zu geben, war, gemessen an der Kompliziertheit des Vorhabens, bis dato wenig Zeit. Dennoch werden nach zweieinhalb Jahren die Konturen davon für jedermann schon deutlich.Eingebettet in den tiefgreifenden Reformprozeß der europäischen Landwirtschaft werden zweifelsfrei scharfe Zäsuren in allen Dörfern abverlangt, aber auch gleichzeitig echte wirtschaftliche Chancen aufgezeigt, die sich die Bauern in den neuen Bundesländern bestimmt nicht nehmen lassen.
Eine solche Gesamtsicht wird erst legitim, wenn man sich auch tabulos den Problemen dieses gewaltigen Umstrukturierungsprozesses zuwendet. Ja, wir haben Erfahrungen sammeln können, die die vorbehaltlosere Diskussion um den Strukturwandel der deutschen Landwirtschaft insgesamt angestoßen haben. Andererseits sind wir auch mit Fehlentwicklungen und Defiziten konfrontiert, die dargestellt und politisch bewertet werden müssen, um sie gegebenenfalls rechtzeitig korrigieren zu können.
In diesem Sinne möchte ich Ihnen zu drei Problemkreisen meine Meinung sagen: Wir Agrarpolitiker der Koalition sind uns darin einig, daß der notwendige Strukturwandel in der ostdeutschen Landwirtschaft letztlich nur solide, d. h. tragfähig wird, wenn die damit verbundenen Vermögensauseinandersetzungen ohne Verzug nach den geschaffenen rechtlichen Grundlagen vollzogen werden. Aber genau daran mehren sich die Zweifel. Unüberhörbar sind die zahlreichen Hinweise auf Vergehen und Vorwürfe
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12067
Ulrich Junghannshinsichtlich Duldungen gerade in diesen, naturgemäß die Emotionen der Beteiligten schürenden Fragen der Vermögensregelung. Untersuchungen aller neuen Länder geben Beleg dafür. Auch die Arbeitsgruppe Landwirtschaft der CDU/CSU-Fraktion hat sich bei einem Termin mit Betroffenen in Salzwedel über die Situation in Sachsen-Anhalt informiert.Aus Überprüfungen von ehemaligen LPGs nach § 70 Abs. 3 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes stellt sich der Sachverhalt bis dato wie folgt dar: 248 Anträge zur Überprüfung von 181 Unternehmen sind zu bearbeiten. Von den 200 bereits geprüften Eingaben konnte nur die Hälfte ohne Beanstandung abgeschlossen werden. Die vertiefte Überprüfung der anderen Hälfte ergab: In ca. einem Drittel der weitergehend geprüften Fälle wurden Verstöße gegen das Landwirtschaftsanpassungsgesetz bzw. strafbare Handlungen festgestellt.
Trotz formeller Umwandlungsmängel besteht in vielen Fällen keine rechtliche Handhabe für eine Revision oder Nachbesserung, insbesondere weil die betroffenen Personen die erforderlichen rechtlichen Schritte nicht oder in unzureichender Form ergriffen haben.Bei schwerwiegenden Einzelfällen erfolgt eine Abgabe an die Staatsanwaltschaft. Bisher liegen noch keine Ergebnisse vor.Bei diesen Überprüfungen stieß man auf folgende Vorgehensweisen: Zum einen gibt es das Bestreben, Abfindungsansprüche ausscheidender Mitglieder durch Bewertung nach Liquidationsbilanz oder durch Unterbewertung zu kürzen oder zu vereiteln.
Zweitens ist das Bestreben deutlich, durch unvertretbare Rückstellungen, z. B. für unerkannte Baumängel oder sogar für Lohnzahlungen, diese Vermögensauseinandersetzung zu erschweren.Drittens wird offenkundig: Ausnutzung des eigenen oder erkauften Wissensvorsprungs — Partner sind oftmals Anwälte aus den alten Bundesländern; da gebe ich meinem Kollegen Thalheim recht — in Rechts- und Bilanzfragen aus althergebrachter Leitungsposition bei der Anwendung der Gesetzesvorschriften gegen die ausscheidenden Mitglieder, etwa Verfahrensausgrenzung oder auch Einschüchterung.
Verständlich wird da die zunehmende Unzufriedenheit über die Praxis der Eigentumsauseinandersetzungen. Hiervon gehen nach unserer Auffassung in hohem Maße Gefahren für den Umstrukturierungsprozeß aus.
Herr Junghanns, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thalheim?
Natürlich.
Herr Kollege Junghanns, warum hat die Bundesregierung erst im Dezember diese Arbeitsanweisung zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz vorgelegt, obwohl Ihnen bekannt war, daß zu dem Zeitpunkt alle Fristen verstrichen waren, und Ihnen zudem bekannt war, daß wir bereits im Frühjahr vergangenen Jahres mit einer Kleinen Anfrage auf die Mängel der Vermögensauseinandersetzung aufmerksam gemacht hatten? Sie haben damals die Meinung geäußert, daß darauf nicht zu reagieren sei.
Ich weiß nicht, wann ich die Meinung geäußert haben soll, die Sie hier schildern. Im vergangenen Jahr ist mit der Herausgabe der Erläuterung zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz klargestellt worden, daß im Grunde genommen die rechtliche Basis für die Vermögensauseinandersetzung gegeben ist und auf dieser Basis ein Vollzugsdefizit insbesondere unter den hauptverantwortlich Handelnden — darauf komme ich noch zu sprechen —, den Ländern, zu verzeichnen ist.
Dieser Sachstand war uns Veranlassung, Hilfestellung durch eine solche Erläuterung zu geben. An der gesetzlichen Grundlage hat sich im Grunde genommen nichts geändert, aber die Hilfestellung gegenüber den hauptverantwortlich Handelnden, den Ländern, ist auf diese Weise erfolgt.
Der Kollege Thalheim hat noch eine Zusatzfrage.
Teilen Sie die Auffassung — heute geht es ja um die Frage der Landvergabe durch die Treuhandanstalt —, daß, wenn den Betrieben Flächen entzogen werden, natürlich die Vermögensauseinandersetzung auf einer geringeren Fläche erfolgen muß und für die Betriebe deshalb um so schwieriger wird?
Die Auffassung, daß die Vermögensauseinandersetzung durch den Umfang der Landbewirtschaftung beeinflußt wird, teile ich.
Ich bekräftige auf Grund der dargestellten Sachstände noch einmal die Erwartung unserer Arbeitsgruppe gegenüber dem BML, umgehend alle Handlungsmöglichkeiten zur Überwindung solcher Unrechtstatbestände auszuloten und zu ergreifen.Wir gehen davon aus — das muß ich in aller Deutlichkeit sagen —, daß das geschilderte Vorgehen Verstöße gegen das Landwirtschaftsanpassungsgesetz sind, die keine Duldung erfahren dürfen. In diesem Sinne ist die Hilfestellung gegenüber den hauptverantwortlich Handelnden, den Ländern, beim Abbau des Vollzugsdefizits zu verstehen: Verstärkung der Beratungs- und Informationsaktivitäten bis
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Ulrich Junghannshin zum Rechtsbeistand, schneller Aufbau der Landwirtschaftsgerichte und straffere Bindung aller Förderinstrumente an den Vollzug der Vermögensauseinandersetzung.Zum zweiten zur Verwertung ehemals volkseigener Flächen. Der Kollege Uli Köhler wird im einzelnen darauf eingehen. Das gestattet mir, zwei politische Fragen in diesem Zusammenhang besonders anzusprechen.Massiv halten sich die Vorwürfe — Herr Dr. Thalheim hat das heute bekräftigt —, das sogenannte Gerster-Papier laufe der Struktur- und Förderpolitik in unseren Ländern zuwider. Zunächst wollte man das an der Prioritätenliste, dann am Verfahren nachweisen. Wie ich selber immer wieder erleben konnte, nähren sich solche Auffassungen, wenn sie nicht politisch motiviert sind, aus nachweisbar verbreiteter Unkenntnis des Inhalts des Konzepts.Ich möchte zur helfenden Klarstellung folgendes sagen. Die Vergabe der Pachtverträge erfolgt auf der Grundlage der eingereichten Betriebskonzepte. Das beste, gekoppelt mit der Betriebsleiterbefähigung, wird den Zuschlag bekommen. Erst wenn mehrere gleichwertige Anträge respektive Betriebskonzepte vorliegen, greift die mit allen neuen Ländern abgestimmte Rangfolge für die Verpachtung.Wenn der Pachtpreis — auch das müssen wir mit aller Deutlichkeit hervorheben — auf Grund der unterschiedlichen Vermögenssituation in Ost und West ein untaugliches Entscheidungskriterium ist — ich glaube, das erkennen wir ja an —, kann es trotz aller Mängel und Ermessensspielräume, die damit verbunden sind, nur auf das Betriebskonzept ankommen.Im übrigen halte auch ich es für geboten, die örtlichen Neueinricher im ersten Rang einzubeziehen, wobei aber allen mit der Materie Vertrauten stets klar gewesen ist, daß mit einer Anhäufung immer neuer Bewerbergruppen im selben Rang die Entscheidung zwischen den Betriebskonzepten immer schwieriger wird.Logischerweise ergeben sich daraus Verfahrensprämissen. Konkurrierende Betriesbskonzepte können — auch das ist für das politische Verständnis dieses Konzeptes wichtig — nur von Fachleuten vor Ort, in den Landkreisen von den Bodenkommissionen bewertet und entschieden werden. Auf deren Vorschläge muß sich die BVVG stützen. Wenn sie dem nicht folgt — das steht eindeutig drin —, muß eine Einigung mit dem zuständigen Landesminister — ich sehe Sie gerade, Herr Zimmermann — gemeinsam erarbeitet werden.Schon dieser Abriß des Inhalts und des Verfahrens beschreibt, daß de facto die fachliche Entscheidungskompetenz für die Vergabe des Bodens bei den Landesbehörden liegt.
—Ja, wo sollte sie denn sonst sein? Und jetzt frage ich: Was bleibt da an Vorwurf gegen die Bundesregierung im Umgang mit diesem Verfahren übrig?Diese Vorwürfe — das halte ich für das politisch Verwerfliche in dieser Sache — bezüglich der Pachtentscheidungen treffen eigentlich die örtlichen Bodenkommissionen.
— Ich unterhalte mich über jeden Fall differenzierend.Ich meine, daß es in dieser Situation, in der wir uns befinden, sehr viel besser ist, uns für die Unterstützung dieser komplizierten Arbeit einzusetzen und nicht diese Fragestellung in den politischen Verriß zu geben. Das ist das Gefährliche. Eigentlich geht es uns darum, daß diese Pachtverträge jetzt schnellstmöglich abgeschlossen werden.
Zweitens ist die Verwertung der Treuhandflächen, die ja ihren Ursprung in den Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage haben, ein Feld, auf dem sich alle jene profilieren wollen, die die Alteigentümer aufs Korn genommen haben. Das hat ja vorhin eine Rolle gespielt.Ich meine: Wenn sich in einer Pachtkonkurrenz der ortsansässige Wiedereinrichter gegen die Rückkehr eines Alteigentümers erklärt, ist das vielleicht nachvollziehbar.Es muß uns aber alle hellwach machen und gemeinsam aufbringen, wenn der Landwirtschaftsminister von Brandenburg — und ich finde es gut, daß Sie heute da sind, Herr Zimmermann — am 28. Oktober 1992 — vor dem Landtag so geschehen — für seine Rede natürlich gegen unser Konzept der Flächenverwertung Beifall mit der Äußerung einholen will — ich darf Sie zitieren, Herr Zimmermann —: „Zum Schluß möchte ich Ihnen heute versichern: Ich werde nicht der Agrarminister von Baronen und Grafen."
In einer Zeit, die uns alle lehrt, daß wirtschaftliche und soziale Einheit in hohem Maße davon abhängt, wie bei den Menschen in Ost und West Verständnis füreinander geschaffen wird, belastet eine derartige Verschärfung der Auseinandersetzung um dieses Land das Zusammenwachsen in unvertretbarer und unverantwortbarer Weise.
— Das ist nicht eine rhetorische Frage, Herr Sielaff. Ich kann nicht nachvollziehen, mit welchem Ziel, wenn nicht mit dem Interesse an Trennung und Diffamierung, solche Kampagnen gefahren werden.Für uns möchte ich folgendes erklären. Natürlich steht für uns die breitgestreute Eigentumsbildung in den neuen Bundesländern im Vordergrund. Aber gerade gestützt auf die Eigentumsregelungen zum Einigungsvertrag und auf das einschlägige Bundesverfassungsgerichtsurteil werden wir auch keine Aus-
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Ulrich Junghannsgrenzung der durch die Bodenreform enteigneten Alteigentümer zulassen.
— Was denken Sie, wenn solche wichtigen Dokumente in so einer Auseinandersetzung auf diese Art und Weise gefahren werden! Schauen Sie sich in den Dörfern um!
Es ist — das sei zur Erläuterung noch gesagt — das Prinzip der Selbstbewirtschaftung in Verbund mit der Wahrung des Eigentums der Bodenreformbegünstigten und der örtlichen Pachtinteressen, das diese Position für jedermann ausreichend begründet.Ich sage das mit aller Deutlichkeit zum einen deshalb, weil ich mit aller Konsequenz gegen Spekulationen diesbezüglich auftrete, und zum anderen, weil ich aus eigenem Erleben erfahren konnte, daß entgegen der verbreiteten Angstschürerei von diesen aufgenommenen Landwirtschaftsbetrieben viele wirtschaftliche Impulse und Motivationen für die Dorfentwicklung ausgehen. Nicht unfruchtbare Konfrontation, sondern nutzbringendes Miteinander haben wir als Politiker in dieser sehr sensiblen Frage zu transportieren.
Schließlich noch zur Situation in den Dörfern. Wir wissen, daß die Beschäftigungsbilanzen in den Dörfern gerade für Frauen besonders schlecht sind. Arbeitslosenzahlen von über 50 % sind dort verbreitet. Zu Recht wird da besondere Hilfe angemahnt.
— Herr Gallus, in dieser Frage ist mein Bezugspunkt bei dem Vergleich ein anderer als Ihrer.
Davon gehe ich aus, und davon habe ich in meiner politischen Arbeit auszugehen.
— Ich gehe doch nicht von 100 % aus. Ich gehe davon aus, daß im Rahmen dieses Umstrukturierungsprozesses die Frauen aus einer Arbeit herausgegangen sind; das ist der Bezugspunkt.
Herr Gallus hat die Möglichkeit einer Zwischenbemerkung.
Herr Gallus soll das dann erläutern.
Ich möchte noch einmal mit aller Deutlichkeit sagen — auch an die neuen Bundesländer gerichtet —: Mit der Landwirtschaft selbst ist keine Arbeitsbeschaffungspolitik zu betreiben. Die harte Marktsituation und die vergleichbar schlechte Einkommenslage, die auch der jüngste Agrarbericht ausgewiesen hat, schließen ein solches Ansinnen aus.
Unsere Möglichkeit, mit der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz" hier Abhilfe zu schaffen, ist anerkennenswert. Die eingesetzten Summen sind horrend. Aber diese Aufgabenstellung allein führt uns nicht aus der Misere in den Dörfern heraus.
Unumgänglich ist es deshalb, meine ich, den ländlichen Raum und die Dörfer unmittelbar und mehr als bisher in die Wirtschaftsförderung direkt einzubeziehen.
Die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur als Gemeinschaftsaufgabe ist damit unser Ansatzpunkt.
Wir haben folgendes aufzunehmen. Die stadtfernen ländlichen Räume werden für eine wirtschaftliche Ansiedlung erst dann attraktiv, wenn die Städte aus den Nähten platzen oder zu teuer werden. An diesem Punkt sind wir noch nicht, und darauf kann bei uns keiner warten. Die Konsequenz daraus ist die Korrektur der Konditionen der Gemeinschaftsaufgabe Wirtschaftsstruktur.
Ich sage das an dieser Stelle, weil gerade in diesem Jahr über diese Konditionen neu für den Zeitraum ab 1994 befunden wird. Weil es eine Bund-LänderAngelegenheit ist, möchte ich die Agrarpolitiker aller Fraktionen dafür gewinnen, mitzuhelfen, daß die neuen Bundesländer weiterhin eine besondere Förderpräferenz erhalten und die Konzentration auf die strukturschwächsten Gebiete erfolgt.
Dazu sollten die Förderkriterien stärker auf die Einwohnerdichte, das Bruttoinlandsprodukt der Region, die Infrastrukturversorgung und die Belange des zweiten Arbeitsmarktes ausgerichtet werden. Angebracht erscheinen mir auch Bonuspunkte für Projekte im ländlichen Raum und in Rand- und Grenzregionen. Der Bund und die Länder sollen bei der Vergabe aller strukturwirksamen Mittel und Aufträge nicht weiter ausschließlich nach dem Bedarfsprinzip gehen, sondern strukturschwache Räume — insbesondere unserer Länder — bevorzugen.
Ich bin der Auffassung, mit einem solchen Rückenwind durch die Gemeinschaftsaufgabe Wirtschaftsstruktur werden sich auch die Selbsthilfekräfte in den ländlichen Räumen besser mobilisieren lassen.
Ich danke dafür, daß Sie zugehört haben.
Als nächster spricht der Abgeordnete Günther Bredehorn.
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12070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beiden Schwerpunkte dieser Debatte, die Privatisierung der landwirtschaftlichen Flächen und die Entwicklung der Ostlandwirtschaft, stehen in einem sehr engen Zusammenhang. Daß es bei der Umstrukturierung der Ostlandwirtschaft weiterhin knirscht, liegt zum Teil auch daran, daß dieser Zusammenhang bei den praktischen Entscheidungen zuwenig Berücksichtigung gefunden hat.
Die Jahrespachtverträge der Treuhandanstalt haben keine Bewirtschaftungssicherheit geschaffen. Neue Arbeitsplätze und Einkommen entstehen nur durch Investitionen. Investiert wird jedoch nur dort, wo die Eigentumsverhältnisse gesichert sind.
Klare Eigentumsregeln sind Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer Marktwirtschaft. Nur Eigentum schafft Verantwortung.
Die F.D.P. hat sich stets zur Garantie des privaten Eigentums bekannt. Zusammen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion habe ich anläßlich der Zustimmung zum Einigungsvertrag zu Protokoll gegeben, daß die getroffenen Regelungen für die Enteignungen in den Jahren 1945 bis 1949 auf dem Gebiet der DDR als Festschreibung von Unrecht nicht unkorrigiert hinnehmbar seien und es dem gesamtdeutschen Parlament vorbehalten bleiben müsse, abschließende Entscheidungen über staatliche Ausgleichsleistungen zu treffen. Wir hatten damals formuliert, daß als Ausgleichsleistungen nicht nur Geldzahlungen, sondern auch Vorkaufsrechte, Pachtrechte und Teilrückgabe von Grund und Boden in Frage kämen.
Das Unrecht der Enteignung 1945 bis 1949 läßt sich natürlich nicht voll wiedergutmachen. Wir sollten aber doch versuchen — das sehe ich als unsere Verpflichtung an —, einen Teil Wiedergutmachung zu leisten. Dieses Ziel bestätigte -- das ist etwas anderes als das, was Herr Thalheim formuliert hat — auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom April 1991. Es wies darauf hin, daß es im Einzelfall von der Interessenlage angezeigt sein könne, den von den unrechtmäßigen Enteignungen Betroffenen den Rückerwerb ihres ehemaligen Eigentums einzuräumen.
Das war für uns die rechtliche Grundlage, um durch eine rasche Privatisierung durch Verkauf der Treuhandflächen die offenen Eigentumsfragen zügig zu entscheiden. Das war ja unser Ziel.
Damit sollte Investitionssicherheit geschaffen, die
Agrarumstrukturierung gefördert und auch den Alteigentümern Interessenwahrung gewährt und deren Aufbauwille im Osten mobilisiert werden.
Die Konzepte aus der sogenannten Laufs- und Gerster-Kommission haben dem und der dahinterstehenden Eigentumsidee sehr weit Rechnung getragen.
Bei dieser Debatte hat die SPD kaum eine Rolle gespielt. Sie hatte und hat — das haben wir heute wieder gehört — kein eigenes Konzept. Sie hat sich im vorigen Jahr darauf beschränkt, unsere Vorschläge durch die sozialistische Brille zu betrachten und abzulehnen.
Wir haben heute morgen Herrn Thalheim gehört. Seine Rede hat das noch einmal erschreckend deutlich gemacht. Ich muß fragen, ob denn diese Position, die Herr Thalheim hier vertreten hat, auch die Position der SPD ingesamt zum Eigentum ist.
Wenn das so sein sollte, sind wir und unsere Bürger heute sehr viel klüger geworden.
Auch der hier zitierte Landwirtschaftsminister Zimmermann hat da schon einiges zum besten gegeben. Gut, ich will hier keine Schärfe hineinbringen. 40 Jahre haben sich natürlich ausgewirkt. Aber eines muß ich Ihnen sagen, Herr Minister: Bei uns in Norddeutschland, in meiner Heimat, in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, könnten Sie nicht Landwirtschaftsminister werden, dann da ist der Landwirtschaftsminister auch für die Deichgrafen zuständig.
Herr Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Thalheim?
Gern.
Herr Kollege Bredehorn, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Bundesrepublik Deutschland — ich meine die Bundesregierung — bei den sogenannten Mauergrundstücken und bei den Grundstücken, die auf Enteignungen zu DDR-Zeiten zurückgegangen sind, überhaupt keine Probleme hat, den ehemaligen Besitzern Entschädigungen zu verweigern, also hier durchaus DDR-Unrecht zu ihren Gunsten hinnimmt?
Herr Kollege, wir in unserer Fraktion haben damit durchaus erhebliche Probleme. Aber es gibt Gerichtsurteile, die das durchaus anders entschieden haben; ich kann nur sagen: leider.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12071
Es wird eine weitere Zusatzfrage gewünscht.
Ihre Haltung ändert aber nichts an meiner Bewertung der Bundesregierung.
Die zweite Frage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die ehemaligen volkseigenen Güter, die ja auch auf die Enteignung bis 1949 zurückgehen, zu über 50 % — das zeigen die ersten Unterlagen vom BMF — an ihre ehemaligen Eigentümer zurückgegangen sind, wobei es von uns kein Wort der Kritik gegeben hat?
Ich kann den Wahrheitsgehalt dieser 50 % jetzt nicht prüfen.
Meine Zahlen sind etwas anders. Trotzdem: Wenn es so ist, ist das ja zu begrüßen. Ich meine, wir sollten versuchen, dieses Unrecht ein klein bißchen wiedergutzumachen.Die Quintessenz meiner Ausführungen ist: Ich habe den Eindruck, ginge es nach der SPD-Fraktion, würde überhaupt nicht privatisiert.
Anders kann ich die Ablehnung des Siedlungs- und Landerwerbsprogamms durch die SPD nicht interpretieren.
Daß am Anfang unseres jetzt vorliegenden Konzepts die langfristige Verpachtung steht und es erst danach zur eigentlichen Privatisierung kommt, ist auf einen politischen Kompromiß zurückzuführen. Ich bin die ganze Zeit bei diesen Gesprächen in dieser Kommission dabeigewesen
und muß hier auch ein Wort des Dankes an die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern sagen. Wir waren sehr weit auseinander und sind aufeinander zugegangen. Nur so kann man zu diesem Kompromiß kommen.
Es bedurfte besonderer politischer Anstrengungen, um wenigstens Teile des ursprünglichen Privatisierungskonzepts zu retten. Nach langwierigen, zähen und schwierigen Verhandlungen auch unter Einbeziehung der Landwirtschaftsminister der neuen Bundesländer haben wir ein Wiedereinrichterprogramm zur Verwertung ehemals volkseigener landwirtschaftlicher Flächen vorgelegt, das einen großen Teil der bestehenden Unsicherheiten beseitigt. Die BVVG ist angewiesen, dieses Konzept jetzt umzusetzen.An seinem Anfang steht die langfristige Verpachtung — in der Regel auf zwölf Jahre — der bisher volkseigenen Flächen. Um die Pacht der Flächen können sich neben den Wiedereinrichtern mit und ohne Restitutionsanspruch die ortsansässigen Neueinrichter, die LPG-Nachfolgeunternehmen und nicht ortsansässige Neueinrichter bewerben. Grundsätzlich wird der Zuschlag nach dem Betriebskonzept einschließlich der beruflichen Qualifikation des Antragstellers erteilt. Nur wenn mehrere gleichwertige Angebote vorliegen, kommt es zu einer Rangfolgeentscheidung, bei der zunächst die Wiedereinrichter mit und ohne Restitutionsanspruch und ortsansässige Neueinrichter — hier gibt es also keine Benachteiligung, wie es in Ihrem Antrag teilweise noch steht —, dann die LPG-Nachfolgeunternehmen und dann die nicht ortsansässigen Neueinrichter berücksichtigt werden.Mit den Grundsätzen für ein Landerwerbsprogramm beginnt zeitversetzt im Wirtschaftsjahr 1995/96 die Privatisierung. Dabei sollen frühere Eigentümer landwirtschaftlicher Flächen, die wegen der Enteignung in den Jahren 1945 bis 1949 Ausgleichs- oder Entschädigungsansprüche haben, die Möglichkeit erhalten, diese Leistungen statt in Geld durch Übereignung landwirtschaftlicher Flächen zu erhalten. Die Ausgleichsleistungen in Natur sollen sich, ohne daß ein Rechtsanspruch besteht, auf das ehemalige landwirtschaftliche Grundvermögen der Berechtigten erstrecken. Der Wert der Erwerbsflächen muß wertmäßig der Geldentschädigung nach dem Entschädigungsgesetz entsprechen. Damit sollen die Alteigentümer, denen durch die entschädigungslose Enteignung großes Unrecht widerfahren ist, ein kleines Stück Wiedergutmachung erhalten.In einem zweiten Schritt der Privatisierungsphase soll es zu einem Siedlungsprogramm kommen. Der Wert der Flächen wird dann staatlich gefördert. Die Konditionen dafür liegen noch nicht im einzelnen fest.Unter den genannten Einschränkungen bedeutet dieses Konzept mehr Bewirtschaftungssicherheit für die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern, eine kleine Wiedergutmachung und eine Beförderung der Idee des Eigentums. Die Sicherheit der Verfügung über Grund und Boden steigt. Die Kreditfähigkeit der Landwirtschaft wird gesichert. Insgesamt ist das Konzept, wie ich schon sagte, ein Kompromiß zwischen sehr weit auseinanderliegenden Interessen.Ich fordere die Bundesregierung auf, das im Entwurf jetzt vorliegende Entschädigungsgesetz im Kabinett zu verabschieden und uns dann vorzulegen. Ich weiß, daß es dort sehr unterschiedliche und widerstreitende Interessen gibt. Aber ich meine, wir sollten es in den Fraktionen und in den Ausschüssen jetzt beraten.
— Wir brauchen es jetzt — da sind auch Ihre Mitarbeit und Ihre Vorschläge gefordert —, damit Klarheit und Sicherheit einkehren und die Entwicklung positiv und vernünftig in den neuen Ländern weitergehen kann.
Kürzlich schrieb ein Kommentator der „Frankfurter Allgemeine Zeitung" über die Gutsherrenart der alten Kader. Mit spitzer Feder, aber eingeengtem Blickwin-
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12072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Günther Bredehornkel hat dieser eigentlich kompetente Kommentator einen einseitigen und nicht ausreichend recherchierten Artikel verfaßt. Aus der Praxis höre ich vielmehr, daß die große Masse der Alteigentümer pragmatische Entscheidungen trifft und es in den allermeisten Fällen zum Interessenausgleich kommt. Die Unzufriedenheit, so wird versichert, sei Bleichverteilt. Es gebe sie bei den Wiedereinrichtern, den LPG-Nachfolgeunternehmen, den Neueinrichtern und bei den Alteigentümern.Ferner stimmt nicht, daß Rückerwerb ausgeschlossen ist, wenn die Treuhand eine Verpachtung abgelehnt hat. Das Landerwerbs- und Siedlungsprogramm eröffnet Kaufmöglichkeiten, auch wenn an Dritte verpachtet worden ist. Im übrigen läuft die langfristige Verpachtung im Augenblick gut an. Bis Mitte dieses Jahres sollen mehr als die Hälfte der Bewirtschaftungszusagen in langfristige Pachtverträge umgewandelt sein.Es muß sich allerdings noch herausstellen, wie sich die Kündigungsklausel auswirkt, die in die Verträge aufgenommen werden soll. Danach ist die Kündigung der verpachteten Flächen vorgesehen, für die ein rechtskräftiger Rückübertragungsbescheid vorliegt. Die Bewirtschaftungssicherheit wird dann nicht eingeschränkt, wenn diese Möglichkeit am besten gründlich vor Ort geprüft wird und eventuell auch vom Investitionsvorranggesetz Gebrauch gemacht wird.Diese schrittweise Privatisierung, die wir jetzt angehen, ist, wie ich meine, besser als gar keine Privatisierung. Sie wird die Umstrukturierung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern voranbringen. Die strukturelle Entfaltung kann also mit verbesserten Rahmenbedingungen weitergehen. Den Grundstein hierfür haben wir mit der Koalitionsvereinbarung für diese Legislaturperiode gelegt. Damals habe ich zusammen mit meinen Kollegen durchgesetzt, daß unsere Zielvorstellung eine bäuerlich strukturierte Landwirtschaft mit Betrieben in unterschiedlicher Rechtsform ist.
Diese Rahmensetzung war richtig. Es war eine der besten Entscheidungen, die im Zusammenhang mit dem Einigungsprozeß getroffen worden sind.
Denn sie gibt einer grundsätzlich vorteilhaft strukturierten Landwirtschaft in den neuen Bundesländern hervorragende Startbedingungen für den Wettbewerb im Binnenmarkt. Nicht durch die Einengung, sondern durch die Vielfalt der Strukturen haben die unternehmerischen Landwirte gute Chancen, sich am Markt mittelfristig durchzusetzen.Die Umstrukturierung zu wettbewerbsfähigen Betrieben hält in den neuen Bundesländern an. Die Anzahl der Existenzen steigt.Zur Statistik: Dort sind über 20 000 Betriebe vorhanden. Davon sind rund 17 000 Betriebe Familienbetriebe; so würden wir sie hier nennen. Überwiegend geschieht dies allerdings im Nebenerwerb. Es gibt aber auch immerhin 6 500 Haupterwerbsbetriebe miteiner Durchschnittsfläche von 300 ha. Es gibt mehr als 1 500 eingetragene Genossenschaften mit durchschnittlich rund 1 500 ha. Des weiteren gibt es über 1 600 GmbHs und andere Kapitalgesellschaften mit durchschnittlich 1 400 ha.Wichtig ist aber auch, zu wissen, daß über 75 % der landwirtschaftlichen Flächen in der Hand sogenannter juristischer Personen sind.
Nur knapp 25 % sind in der Hand natürlicher Personen.Damit ist eine Entwicklung eingetreten, die ich im Frühjahr 1990, als wir hier den Agrarbericht debattierten, vorhersagte. Die Strukturen von Ost und West werden sich aufeinander hin entwickeln. Das ist gut so. Ich meine, wir sollten das — da appelliere ich auch an die Berufskollegen in den alten Bundesländern — als gemeinsame Chance begreifen.
Die sowieso starken Impulse für den Strukturwandel werden um den Aspekt der Unternehmerlandwirtschaft zunehmen. Es wird sich die Erkenntnis ausbreiten, daß auch unter veränderten Rahmenbedingungen nach der EG-Agrarreform und einer GATT-Einigung die Landwirtschaft in geeigneten Strukturen durchaus Zukunftschancen hat. Der Angleichungsprozeß hin auf ein effizienteres und vom Staat und seinen Subventionen unabhängigeres Niveau wird sich fortsetzen.Dabei sind die bereits vollzogenen Anpassungen in den neuen Bundesländern außerordentlich hoch. Von den rund 850 000 Arbeitskräften in der DDR-Landwirtschaft, von denen allerdings über 150 000 nicht direkt in der Landwirtschaft, sondern im sozialen Bereich, in Baukolonnen usw. waren, sind bis heute rund 600 000 ausgeschieden. Gut 250 000 von ihnen sind in den Vorruhestand gegangen oder beziehen Altersübergangsgeld oder werden in andere Berufe umgeschult. Der Anteil der Arbeitslosen und derer, die sich mit AB-Maßnahmen zufriedengeben müssen, überwiegt. Nur die wenigsten konnten normal in Rente gehen.
Das sind sehr harte und nur schwer erträgliche Einschnitte, zu deren Linderung allerdings sehr hohe Summen für das Arbeitslosengeld, das Altersübergangsgeld, das Kurzarbeitergeld und die AB- sowie die Umschulungsmaßnahmen aus dem Bundeshaushalt aufgewendet wurden und weiterhin aufgewendet werden, damit dieser harte Wechsel einigermaßen sozialverträglich ablaufen kann.
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12073
Günther BredehornEs gibt eine Reihe weiterer Anpassungsprobleme. Auf alle will und kann ich hier nicht eingehen.Hervorzuheben sind allerdings die Mißstände, die es bei der Vermögensauseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz immer wieder zu beklagen gibt. Die teilweise vorhandene Manipulation der Bilanzen, wodurch den Anspruchsberechtigten Vermögen entzogen wird, muß aufhören. Auch die Länder selber müssen hier schärfer kontrollieren und ihre Verantwortung wahrnehmen. Die Betroffenen dürfen nicht zögern, ihre Sorgen zu artikulieren. Die Landwirtschaftsgerichte vor Ort müssen endlich funktionsfähig und in Gang gebracht werden.Die Chancen der unternehmerischen Landwirtschaft und der Ernährungswirtschaft in den neuen Bundesländern sind für die Zukunft, wie ich meine, gut. Die mit erheblichen Bundesmitteln geförderten neuen, sehr modernen und schlagkräftigen Verarbeitungsbetriebe — denken Sie an die neuen Molkereien und die entstehenden Käsereien, Schlachthäuser, Kartoffelverarbeitungsbetriebe und den Obst- und Gemüsebereich — haben ihre Produktion aufgenommen bzw. werden sie aufnehmen, um hochwertige Qualitätsprodukte oder regionale Spezialitäten auf dem kaufkräftigen europäischen Markt anzubieten. Die Landwirtschaft im Osten Deutschlands hat die Schäden einer jahrzehntelangen Planwirtschaft natürlich noch nicht überwunden.
Herr Bredehorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
Aber gerne.
Herr Kollege Bredehorn, Sie haben vorhin gesagt, die Landwirtschaftsgerichte müßten installiert werden und ihre Arbeit aufnehmen. Heißt das im Klartext, daß derzeit drüben in weiten Bereichen ein sogenannter rechtsfreier Raum besteht?
Ich hoffe nicht, daß ein rechtsfreier Raum besteht. Aber es gibt ja erhebliche Schwierigkeiten. Wir wissen das. Das ist natürlich auch aus der Geschichte heraus zu verstehen.
— Man muß die Gerichte mit qualifizierten und befähigten Personen besetzen. Das muß so laufen, wie wir es hier kennen.
Ich habe eine Nachfrage. Woran liegt es denn, daß nach so langer Zeit die Länder bisher nicht in der Lage waren, die Gerichte entsprechend einzurichten und auch die Beisitzer zu bestellen?
Ich habe hier noch einmal ganz eindeutig dazu aufgefordert. Man muß sicher sehen, daß es teilweise schwierig wird, entsprechend qualifizierte Bürger dafür zu finden. Man kann nur mit Nachdruck fordern — es gibt ja diese Menschen dort durchaus —, hier die Verantwortung der Länder wahrzunehmen und diese Gerichte zu besetzen, so daß sie ihre Arbeit aufnehmen können, damit die Menschen auf den Dörfern im ländlichen Raum ihr Recht bekommen.
Ich hatte Ihnen gesagt, daß natürlich die Schäden einer jahrezehntelangen Planwirtschaft in den neuen Bundesländern noch nicht überwunden sind. Aber durch gezielte Investitionsförderung entstehen in den neuen Bundesländern wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Unternehmen in unterschiedlichen Rechtsformen, die schon in naher Zukunft vielen bäuerlichen Betrieben in Westdeutschland überlegen seien und gute Marktchancen haben werden.
Nach den agarpolitischen Entscheidungen zur Entwicklung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern, die wir hier gemeinsam, teilweise aber auch kontrovers, im Bundestag getroffen haben und die die Bundesregierung umsetzt, sehe ich die Zukunft der Ost-Landwirtschaft sehr zuversichtlich. Ich bin davon überzeugt, die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern wird sich in Produktion, Verarbeitung und Vermarktung zu einer Spitzenregion in Europa entwickeln. Daran sollten wir alle mitarbeiten.
Ich bedanke mich.
Als nächster Redner spricht der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein sensibles Thema bewegt uns heute früh. Wenn es um Eigentum geht, schlagen Emotionen immer hoch. Das ist bekannt. Noch viel stärker ist dies der Fall, wenn es um Bodeneigentum geht, weil ein Bauer natürlich ganz andere Beziehungen zu seinem Boden hat als vielleicht jeder andere zu Eigentum. Das ist auch gut so, denn sonst würde die Landwirtschaft nicht funktionieren. Man muß das so betrachten.
Meine Damen und Herren der Koalition, Herr Thalheim und ich sind auf einem Bauernhof geboren und groß geworden. Wir haben 1960 die Zwangskollektivierung erlebt. Ich sage das heute so. Wir waren zwar noch jung an Jahren, aber wir haben das erlebt. Deshalb brauchen wir keine Belehrungen über Eigentumsbeziehungen und Eigentumsbegriffe. Das möchte ich hier eindeutig sagen, weil auch wir mit diesen Fragen etwas zu tun hatten.
Eine zweite Bemerkung: Herr Junghanns und Herr Bredehorn, ich stimme mit vielen Teilen Ihrer Reden überein, und zwar vor allem, was wettbewerbsmäßig stark strukturierte Landwirtschaft anbelangt. Das muß
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12074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dr. Fritz Schumann
ein Ziel sein, das wir gemeinsam angehen. Ich bin sehr dafür. So habe ich auch die Rede von Herrn Thalheim verstanden. Die Chancengleichheit, für die wir von Anfang an sorgen müssen, sehe ich gefährdet. Die sehe ich mit dem, was gegenwärtig gemacht wird, arg gefährdet.
— Das sehe ich nicht so. Ich komme in meinen weiteren Ausführungen dazu, Herr von Schorlemer. Ich werde noch etwas dazu sagen, wie das funktioniert.
Ich darf mich aber zunächst vielleicht einmal den vorliegenden Anträgen zuwenden.
— Herr Susset, auch bei solchen Betrieben müßten Sie einmal nachprüfen, wieviel Geld vom Staat in die Landwirtschaft fließt. Leider kommt ganz wenig bei den Bauern an. Das wissen auch Sie. Das Geld bleibt ganz woanders.
— Herr Gallus, nur 30 % der staatlichen Zuwendungen kommen bei den Bauern an. Das ist das Problem. Darüber sollten wir einmal reden.
Ich würde jetzt gern zum Thema kommen und über die Anträge der SPD zur Verwertung der ehemals volkseigenen landwirtschaftlichen Flächen reden, die ich als ein Minimum des unbedingt Notwendigen betrachte. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist das leider vielleicht auch das maximal Mögliche. Das ist sehr bedauerlich, weil damit wohl eine einmalige Chance für eine Bodenpolitik vergeben wird, die tatsächlich dem Anspruch des Grundgesetzes hinsichtlich der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gerecht würde.
In vielen deutschen Städten, darunter auch Bonn, gibt es zwar Straßen, die den Namen des Vorsitzenden des Bundes deutscher Bodenreform, Professor Dr. Adolf Damaschke, tragen — er lebte vor ungefähr 100 Jahren —, aber von seinen Ideen will offenbar heute keiner mehr etwas wissen. Auch in vielen westdeutschen Städten gibt es diesen Straßennamen. Er scheint also offenbar anerkannt zu sein.Ende Januar fand in Seelow, im Wahlkreis des Herrn Junghanns, ein dreitägiges Symposium unter dem Motto "Entstaatlichung der Landwirtschaft und ländliche Entwicklung in Osteuropa" statt. Darannahmen rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 14 ost-, zentral- und westeuropäischen Staaten teil, unter ihnen die Vorsitzende des Agrarausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der Erste Vorsitzende des Landwirtschaftsausschusses des Europaparlaments, Brandenburgs Justizminister, Europa-, Bundes- und Landtagsabgeordnete verschiedener Fraktionen sowie Wissenschaftler und Praktiker.Allgemeiner Konsens dieser Beratung bestand darin, daß der Boden als nicht vermehrbares Gut keine Ware sein darf — das haben wir dort gemeinsam festgestellt —, dafür aber die reale Verfügungsgewalt über den Boden im Interesse der Allgemeinheit ausgeübt werden sollte.Dazu sollten die Gemeinden stärker an einer neuen Bodenordnung beteiligt werden. Konkret wurde die nicht neue Forderung erhärtet, daß die Gemeinden selbst Eigentümer des ehemaligen volkseigenen Bodens werden sollten
bzw. eine regionale Treuhand oder Kommunen über den Verkauf von Nutzungsrechten, Verpachtung, Erbpacht und ähnliche Möglichkeiten diesen Boden verwerten sollten.Das heißt: Wir haben überhaupt nichts dagegen, daß der Boden privat genutzt wird. Das sollte auch die Eigentumsverhältnisse in keiner Weise einschränken. Es geht doch um die private Nutzung des Bodens.
Dies kann man genausogut mit Erbpacht, mit Verpachtung von Nutzungsrechten und auch mit vererbbaren Nutzungsrechten erhalten. Dazu gibt es übrigens eine Menge interessanter Beispiele. Bei vorhandenem politischen Willen bestünde dafür nach wie vor eine reale Chance, zumal bisher nur ein Bruchteil der ehemals volkseigenen Fläche verkauft wurde.Die Übertragung ehemals volkseigener Flächen in das Eigentum der Kommunen hätte mehrere Vorteile. Erstens erhielten sie zwar bescheidene, dafür aber dauerhafte Einnahmen. Zweitens würde verhindert, daß ehemals volkseigenes Bodeneigentum wieder in die Hände von Privateigentümern gelangt, die es nicht selbst bewirtschaften, sondern es lediglich als Quelle von arbeitslosem Einkommen nutzen würden. Dagegen verwahren wir uns.
Es geht doch nicht darum, daß — wie im Falle meines Dorfes — der Enkel desjenigen, der 1945 enteignet wurde, zurückkommt und wieder wirtschaftet. Mit dem haben wir von Anfang an eine enge Kooperation gemacht. Der tankt seinen Traktor bei uns, der preßt bei uns das Stroh, und wir legen ihm die Rüben. Das funktioniert hervorragend. — Der ist zurückgekommen. Dagegen ist gar nichts einzuwenden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12075
Dr. Fritz Schumann
Es geht aber darum, daß wieder Leute in Berliner Offizierskasinos Skat spielen und die Landarbeiter ihr Land bewirtschaften. Dagegen haben wir etwas.
— Sagen Sie nicht so laut „Quatsch" ! Dann beweisen Sie bitte, daß das wirklich Quatsch ist! Dann gehen wir da mit. Ich habe gesagt, wie unser Standpunkt dazu ist.Drittens wäre für die Kommunen die Frage der Vergabe von Bauland für Eigentumswohnbauten kein Problem mehr, der Bodenspekulation würde weitgehend die Grundlage genommen, und die öffentlichen Mittel für den Bau von Sozialwohnungen und anderen würden tatsächlich zu mehr Wohnraum führen als unter heutigen Bedingungen, unter denen ein großer Teil von Bodenerwerb ja nicht den Bodeneigentümern zufließt. Die wenigsten Bauern können ja Bauland zu horrenden Preisen verkaufen. Auch Sie wissen, daß dazwischen meistens eine ganze Menge Spekulanten sind, die zum Schluß das Geld einkassieren. Es sind also nicht die Bauern.
Daß das natürlich auch Einfluß hat auf die weitere Verbesserung der Arbeitsverhältnisse und daß das vielleicht zusätzliche Arbeit schaffen könnte, will ich nur am Rande erwähnen.Zur derzeitigen Konzeption der Verwertung der ehemals volkseigenen landwirtschaftlichen Grundstücke möchte ich die Position unserer PDS/Linke Liste zusammenfassen.Erstens bestehen wir auf Einhaltung des Gesetzes vom 22. Juni 1990 der letzten Volkskammer über die Übertragung des Eigentums und die Verpachtung volkseigener landwirtschaftlich genutzter Grundstücke an Genossenschaften, Genossenschaftsmitglieder und andere Bürger, das laut Einigungsvertrag nach wie vor fortgeltendes Recht ist.Dieses Gesetz korrigierte die vorher gesetzlich geregelte Privilegierung der LPG. Das war tatsächlich so. Diese mußte korrigiert werden — das ist völlig richtig; einverstanden damit —, um allen Eigentums- und Wirtschaftsformen Chancengleichheit im Wettbewerb zu eröffnen. Das entspricht auch dem § 2 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes.Die Prioritätenliste der Treuhandanstalt bei der langfristigen Verpachtung, nach der die juristischen Personen im Konkurrenzfall, also bei gleichwertigen Betriebskonzepten mehrerer Interessenten, hinter nichtrestitutionsberechtigten Alteigentümern sowie ortsansässigen Wieder- und Neueinrichtern rangieren, widerspricht diesem Gesetz.
Es ist eine Privilegierung mit umgekehrtem Vorzeichen. Genauso inakzeptabel ist die Bevorzugung der durch die Bodenreform Enteigneten bzw. ihrer Erben innerhalb der bereits privilegierten Gruppe — Herr Thalheim hat das richtig gesagt — als Priorität der Prioritäten.Unsere Forderung lautet deshalb: Gleichberechtigung aller im Osten ansässigen Interessenten. Hinter diesen haben lediglich nicht ortsansässige Neueinrichter zu rangieren, was in der Praxis den Vorrang der kapitalschwachen ostdeutschen Bewerber bedeutet.Zweitens bitten wir dringend darum, Regelungen zu finden, die auch bei Ansprüchen restitutionsberechtigter Alteigentümer dem jeweiligen langfristigen Pächter maximale Sicherheit geben. Sollte diese mittels Investitionsvorrangverfahren möglich sein, hätten wir keine Einwände dagegen. Auf jeden Fall brauchen die Betriebe ausreichende Garantien, damit sie nicht Gefahr laufen, ins Blaue hinein zu investieren. Niemand ersetzt ihnen nämlich bei Flächenentzug bereits getätigte Investitionen. Ohne Investitionen — da befinde ich mich sicherlich in voller Übereinstimmung mit dem ganzen Haus — sind eben auch in der Landwirtschaft keine wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze möglich. Das müssen wir sicherlich so deutlich sagen.Drittens lehnen wir, ebenso wie die SPD-Fraktion, ein Landerwerbsprogramm für nichtrestitutionsberechtigte Alteigentümer entschieden ab. Damit würde die Bodenreform de facto einfach umgeworfen.Viertens fordern wir die gleichberechtigte Einbeziehung von Anteilseigentümern der Genossenschaften und anderen Gesellschaftern juristischer Personen in das Siedlungsprogramm sowie den Ausschluß von nichtrestitutionsberechtigten Alteigentümern, die Land nicht zur Selbstbewirtschaftung, sondern lediglich zur Verpachtung mit der später immer noch möglichen Option des Verkaufs subventioniert bekommen sollen. Diesen Subventionstatbestand wollen wir nicht haben.Auf die Antwort der Bundesregierung zur Großen Anfrage — —
Herr Schumann, Ihre Redezeit ist beendet.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Die Zeit ist immer sehr knapp. — Ich bedanke mich.
Zur Kurzintervention hat das Wort der Abgeordnete Gallus.
Ich kann auch warten, bis Minister Zimmermann gesprochen hat.
Jetzt sind Sie dran!
Doch, doch! — Frau Präsidentin! Folgendes möchte ich hier sagen:Es liegt mir fern, hier eine gewisse Schärfe reinzubringen. Auch wenn Herr Schumann bei der PDS ist und ich sein Programm über Eigentum nicht kenne, so
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12076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Georg Gallushabe ich ihn mit den fachlichen Vorstellungen, die er hat, immer geachtet.Es ist nicht einfach, die Angleichung des Ostens an den Westen auch im agrarischen Bereich zu vollziehen.
Das brauchen wir uns hier nicht gegenseitig vorzuhalten.
Eine Sorge, die ich habe und die ich hier noch einmal zum Besten geben möchte, ist allerdings folgende: Zum ersten hat die Bundesregierung im Koalitionsabkommen Betriebe unterschiedlicher Rechtsform festgelegt. Ich habe mich ganz bestimmt entscheidend dafür eingesetzt. Dafür habe ich in vielen anderen Gebieten der Bundesrepublik Prügel bekommen.Zu den unterschiedlichen Rechtsformen, zu der Sorge, die ich habe, kann ich nur sagen, daß ich geglaubt habe, daß ein Wettbewerb der Strukturen stattfinden würde. Jetzt sehe ich, daß in bezug auf den einzelnen bäuerlichen Privatbetrieb eine Verhärtung auf der Basis von 75 % stattfindet.
Das ist meine große Sorge, und zwar deshalb, weil wir einen Fehler gemacht haben in bezug auf die Altschuldenregelung.Da muß ich Ihnen, Herr Thalheim, radikal widersprechen. Die ist nämlich bei den Betrieben, die — in unterschiedlicher Rechtsform — gut geführt werden, so gut, daß sie keine Gewinne machen sollen. Sie verdienen aber Geld. Das sehen wir auch jetzt im Grünen Bericht. Und was tun sie? — Sie treiben die Löhne hoch. Die Löhne sind nämlich im Agarbereich zum Teil schon höher als im Westen. Das ist das erste.Hinzu kommt, was absolut verwerflich ist: Sie treiben die Pachtpreise in die Höhe, gehen jetzt rum bei denen, die privat gepachtet haben,
und animieren die Leute, ihre Pacht zu kündigen, damit das alles wieder zum großen Haufen kommt.
Das ist eine Entscheidung, die meines Erachtens sogar revidiert werden muß.Sie können sich also jetzt nicht hinstellen und sagen, wir hätten nichts getan, um die größeren Betriebe in den unterschiedlichen Rechtsformen nicht entsprechend zu stützen. Daß es dort auch Betriebe gibt, deren Betriebsleitung nichts taugt, wissen wir auch.Ich habe geglaubt, das würde mehr Bewegung geben hin zum privaten Betrieb. Aber da scheint mir eine Verhärtung einzutreten. Wir müssen aufpassen, daß das nicht der Fall ist. Es dürfen nicht Situationen geschaffen werden, in denen die alten Strukturengewissermaßen mit Gewalt aufrechterhalten werden sollen.
Als nächster hat das Wort der Minister für Landwirtschaft des Landes Brandenburg, Herr Zimmermann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der brandenburgischen Landwirtschaft greift eine stille Krise um sich. Keine Massenkundgebungen und Proteste begleiten bislang den Verlust der Mehrzahl ländlicher Arbeitsplätze. Stärker ist die Stimmung geprägt von Ratlosigkeit, Resignation und zunehmend auch von Verbitterung.Viele Mitglieder ehemals landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften haben ihr Vermögen, ihren Arbeitsplatz, ihren bisherigen Lebensinhalt verloren. Knapp 40 000 von vormals 189 000 Beschäftigten in der Landwirtschaft Brandenburgs sind übriggeblieben.Die Arbeitslosigkeit auf dem Lande ist erdrückend. Viele Menschen sagen mir, daß es ihnen insgesamt schlechter geht als vor der Wende.
Ich glaube es ihnen, und ich füge hinzu: Wehe unseren Politikern, wenn unsere Menschen im Osten den letzten Hoffnungsschimmer verlieren und sich von der Politik nur noch verschaukelt fühlen!
Der zweifellos notwendige Umstrukturierungsprozeß in der Landwirtschaft wird von vielen Menschen in seiner Brutalität oftmals nicht begriffen. Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich machen.Erstes Beispiel: Das Kreisgericht Neuruppin — bei uns arbeiten die Kreisgerichte; entgegen dem, was hier behauptet wird, daß in den neuen Bundesländern die Landwirtschaftsgerichte nicht arbeiten — verurteilte kürzlich mehrere Landwirte dazu, an sie bereits ausgezahlte Inventarbeiträge aus ihrer ehemaligen LPG-Liquidation an den Konkursverwalter zurückzuzahlen.
Durchaus Rechtens, werden Sie vielleicht sagen. Der Personenkreis, um den es hier geht, besteht aber zu 80 % aus Rentnern, die zum Teil in sehr hohem Alter sind. Sie wurden großteils Anfang der 60er Jahre gezwungen, ihr Inventar in die LPG einzubringen. Heute zwingt sie ein Gericht, den Gegenwert ihrer Kühe, Maschinen und Geräte, also die Inventarbeiträge, zugunsten des Hauptgläubigers ihrer alten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12077
Minister Edwin Zimmermann
LPG, einer westdeutschen Großbank, zurückzuzahlen.
Von den Betroffenen werden beide Entscheidungen als Unrecht erlebt, jedoch mit einem Unterschied.
Jetzt hören wir Herrn Zimmermann zu, und jeder, der fragen möchte, kann Fragen stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke schön. — Damals, in den 60er Jahren, war die Zwangskollektivierung die Entscheidung eines Unrechtsstaates, dessen Ende sie herbeigesehnt haben; heute ist es die Entscheidung eines Rechtsstaates, den sie sich so nicht vorstellen können.
Das, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sind die Auswirkungen des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes, das Sie mit Ihrer Mehrheit gegen viele Bedenken beschlossen haben. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten zugunsten der Betroffenen in dieses Gesetz noch einige Änderungen einbringen können.
Dieses Gesetz wird noch viel Leid und Unverständnis im ländlichen Raum bringen. Das ist allein Ihr Werk.
Zweites Beispiel. Im Landkreis Beeskow steht zur Zeit ein ehemals volkseigenes Gut zur Privatisierung an. An der öffentlichen Ausschreibung durch die Treuhandanstalt beteiligten sich zwei Brandenburger Landwirte, Vater und Sohn, die den Betrieb gemeinsam in Form einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechtes bewirtschaften wollen. Selbstverständlich unterliegen sie im Wettbewerb. Sie konnten in der Vergangenheit nicht, wie ihre westdeutschen Konkurrenten, ausreichend Kapital bilden. Die öffentlichen Fördermittel im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben würden gerade zur Finanzierung des Besatzvermögens ausreichen, nicht aber zusätzlich für den Kauf des Bodens. Diese Landwirte fragen: Warum wird das Gut nicht an uns verpachtet? Warum tauchen auf den Anbieterlisten der Treuhandanstalt immer wieder die Namen wohlbekannter Viehhändler aus Westdeutschland auf?
Diese haben nach der Wende — —
Herr Minister Zimmermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Priebus?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte bitte zu Ende reden. Diese haben nach der Wende am Ausverkauf der Viehbestände Millionenverdient, häufig mit mehr als fragwürdigen Methoden.
Dies war die Konsequenz des totalen Zusammenbruchs ihrer Märkte, und es war ihre erste Erfahrung mit einer Marktwirtschaft und einem Rechtsstaat, der sie weder nach dem 1. Juli 1990 noch heute geschützt hat.Meine Damen und Herren, in Brandenburg, wie wohl auch in anderen ostdeutschen Ländern, ist ein gigantischer Verteilungskampf um Kapital, verbleibende Arbeitskräfte und — das ist das Thema von heute — Boden im Gange. Meine Aufgabe ist es, Ihnen nahezubringen, wo verantwortbare Agrarpolitik zu stehen hat. Verantwortbare Agrarpolitik kann für meine Landesregierung und mich nicht heißen, gegen Alteigentümer, gegen westdeutsche Bürger oder gegen fremde Staatsangehörige zu Felde zu ziehen.
Uns sind grundsätzlich alle willkommen, die sich in den Aufbau unserer Wirtschaft und Landwirtschaft einbringen, investieren, für Arbeitsplätze sorgen und zum Erhalt des ländlichen Raums beitragen.
Gerade deshalb stehe ich auch fest an der Seite unserer Landwirte, die über 40 Jahre keine Chancen hatten, Eigentum zu erwerben, und die heute chancenlos sind, wenn sie beim Bodenerwerb oder bei der Verpachtung von Gütern und sonstigen landwirtschaftlichen Flächen mit privilegierten Konkurrenten mithalten sollen.Wir wollen verhindern, daß aus Resignation und Verbitterung Ablehnung und Haß entstehen, wenn die bereits erkennbaren Ansätze einer inneren Kolonisation überzogen werden.
— Wir nicht! Für mich ist das Prinzip der breiten Eigentumsstreuung und auch der langfristigen Verpachtung eine Form der Vermögensbildung, kein bloßes Lippenbekenntnis. Daher frage ich die Bundesregierung, ob sie sich diesem in jedem Zielkapitel des Agrarberichts nachzulesenden Prinzip wirklich verschrieben hat, wenn sie mit Stolz verkündet — wie heute schon erwähnt —, von 150 inzwischen privatisierten Gütern sei die Mehrzahl an Alteigentümer übergegangen, Güter, meine Damen und Herren, deren Durchschnittsgröße über 1 000 ha liegt.Wir Brandenburger fordern Chancengleichheit auf allen Feldern der Agrarpolitik ein, auch wenn wir damit beim Bund vielleicht auf Granit stoßen,
Chancengleichheit in der Förderungspolitik, die unshartnäckig verweigert wird, Chancengleichheit bei
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12078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Minister Edwin Zimmermann
der Verteilung der rund 6,5 Milliarden DM Bundesmittel für die agrarsoziale Sicherung,
Chancengleichheit erst recht im Verteilungskampf um den wichtigen Produktionsfaktor Boden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gallus?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Minister können Sie wirklich aus Überzeugung hier vor dem Deutschen Bundestag hinstehen und sagen,
daß der Osten, was die Landwirtschaft anbetrifft, in der Förderung gegenüber dem Westen benachteiligt worden ist?
Können Sie das mit gutem Gewissen behaupten und mit Zahlen belegen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Gallus, ich erkenne es hoch an, wie im Osten auch im landwirtschaftlichen Bereich geholfen wird. Wenn ich hier über Chancengleichheit rede, dann rede ich über die Möglichkeiten, die ich gerade benannt habe, und eine davon ist — unser heutiges Thema — die chancengleiche Teilhabe an der Verwertung und Verwendung von Grund und Boden. Dies müssen Sie sehen.
Herr Gallus hat noch eine Zusatzfrage, Herr Minister.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Darf ich vielleicht fortfahren?
Wenn Sie nein sagen, dann muß er sich damit abfinden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte gern fortfahren.
In Brandenburg hält die Treuhandanstalt mit rund 400 000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche rund ein Drittel, d. h. jeden dritten Hektar, landwirtschaftlicher Fläche in treuhänderischem Eigentum, von knapp 600 000 ha Waldflächen ganz zu schweigen. Wir bestreiten dem Bund die von ihm behaupteten Rechte als Treuhandgeber für diesen enormen Bodenfonds. Wir bestreiten dem Bund seinen politisch skandalösen Eigentumsanspruch auf das ehemals preußische Grundvermögen. Wir bestreiten dem Bund auch das Recht, mit diesem Bodenfonds grundsätzlich verbriefte Landesaufgaben im Bereich der Strukturpolitik notfalls gegen Landesinteressen wahrzunehmen —
das alles außerhalb des parlamentarisch-demokratischen Raums auf der Grundlage von Richtlinien, die quasi im Wege der dienstaufsichtsrechtlichen Weisung durch Beamte des Bundesfinanzministeriums der Treuhandanstalt verordnet werden. — Wie lange lassen Sie sich als Abgeordnete dieses Hohen Hauses diesen Zustand überhaupt noch bieten, meine Damen und Herren?Diese zwei Sätze möchte ich nachdrücklich unterstreichen, und sie sollten alle Parlamentarier des Bundes und der Länder, egal, wo sie stehen, zur Besinnung herausfordern. Es darf nicht sein, daß Richtlinien über Art und Weise der Verwertung dieses größten land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes — zumindest in Europa — an allen Parlamenten und erst recht an den betroffenen Bundesländern vorbei letztlich durch dienstaufsichtsrechtliche Anweisung von Bonner Ministerien Bestandskraft erlangen.
Wir Brandenburger werden uns leidenschaftlich dagegen wehren, daß bestimmte Gruppen von Landerwerbern im Rahmen eines Entschädigungsgesetzes Privilegien zugesprochen werden sollen. Aber wir wünschen uns diese Auseinandersetzung in unseren Parlamenten in einem demokratischen Verfahren und nicht in einem Schattenboxen gegen „ Gerster-Kommission "oder „Bohl-Papiere",
deren Rechtswirksamkeit je nach Lust und Laune bejaht oder bestritten werden kann.
Aber wir sind auch kompromißfähig. Wir haben dem Bund und der Treuhandanstalt schon vor einem Jahr angeboten, die Verwaltung und Verwertung dieser Flächen unbeschadet der unterschiedlichen Rechtspositionen im Wege eines Geschäftsbesorgungsvertrags durch Landeseinrichtungen selbst vorzunehmen. Wir sind jüngst noch einen Schritt weiter gegangen. Wir haben dem Bund sogar den Erwerb dieser Flächen durch unser Land vorgeschlagen, damit beim Bund wenigstens die Kasse stimmt, sollte er, was wir nicht hoffen, im Rechtsstreit obsiegen.Auf alle diese Angebote haben wir außer „nein" und Schweigen nichts gehört. Wer wollte uns da den Argwohn verübeln, der Bund bereite sich insgeheim auf eine Revision der Bodenreform vor, auf die Revision einer der elementaren Bestandteile des deutsch-deutschen Einigungsvertrags!
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12079
Minister Edwin Zimmermann
Ich sehe an Ihrer Diskussion, meine Damen und Herren, daß sich die Reise hierher gelohnt hat, und ich hoffe, daß sie auch fruchtet.Danke.
Als nächster spricht der Abgeordnete Richard Bayha.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die deutsche Einheit, über die wir uns vor zwei Jahren alle so sehr gefreut haben, ist sicherlich eine Aufgabe für Generationen und erfordert von uns allen große Anstrengungen, vor allem — das glaube ich jedenfalls — einen gegenseitigen Lernprozeß.
Ich möchte gern das Wort Toleranz gegen Polemik setzen. Das gilt ganz besonders, meine ich, wenn wir uns mit dem sehr sensiblen Thema Eigentum und Eigentumsangelegenheiten beschäftigen. Das Wort Eigentum eignet sich für Polemik überhaupt nicht. Eine der Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft, mit der wir im Westen Deutschlands wieder groß geworden sind, ist z. B. der Begriff Eigentum. Eine der Grundlagen einer vernünftigen Agrarpolitik ist ebenfalls der Begriff Eigentum. Deshalb habe ich es nicht gern, wenn hier darüber polemisiert wird. Gerade dieses Haus, der Deutsche Bundestag, eignet sich dafür am wenigsten.
Unserer Generation ist es beschieden, das historische Werk der Wiedervereinigung zu gestalten, die Weichen zu stellen und die ersten mühsamen Aufbauarbeiten zu leisten. Dabei müssen wir natürlich auch gelegentlich Rückschläge hinnehmen können, müssen auch bereit sein, persönliche Opfer zu bringen. Wenn ich das Wort Opfer hier erwähne, muß ich auch sagen: Ich stelle in den Diskussionen der letzten Jahre immer wieder fest, daß zwar vom Opferbringen geredet wird, daß aber dann, wenn es darum geht, wirklich Opfer zu bringen, und die Regierung sich erdreistet, einmal Opfer vom Volk zu verlangen, Widersprüche von allen Seiten kommen, insbesondere natürlich auch aus der Opposition in diesem Hause. Wie paßt das eigentlich zusammen?
Aber ebenso, meine Damen und Herren, dürfen wir ja auch erste erfreuliche Entwicklungen unseres gemeinsamen Bemühens erleben. Was in diesen 28 Monaten — man muß sich einmal vergegenwärtigen: es ist ja erst 28 Monate her — in den neuen Bundesländern an verfassungsrechtlichen, an verwaltungstechnischen Aufbauarbeiten, an ersten Infrastrukturmaßnahmen, an Existenzgründungen bereits geschaffen und geleistet worden ist, kann sich durchaus sehen lassen, und ich lasse mir das nicht gern vermiesen.
Verehrter Herr Minister Zimmermann, wenn Sie beklagen, daß in Ihrem Land einiges an verwaltungs- oder auch verfassungsrechtlichen Dingen nicht umgesetzt und an Aufbauarbeit nicht geleistet wird, dann
kann ich Ihnen nur sagen: Tun Sie als Landesminister was in Ihrem Land!
Sie haben viele Möglichkeiten, um hier einiges dazu beizutragen. Wir meinen, daß es da bei Ihnen gelegentlich hapert.
An diesen Feststellungen ändert sich auch nichts dadurch, daß hier ständig herumlamentiert wird, polemisiert wird und kritisiert wird. Ich rate allen, die nur diese drei Begriffe kennen: Krempeln Sie doch mal die Ärmel hoch, und tun Sie was!
Dann kommen wir auch im Bereich der Landwirtschaft weiter.
Herr Bayha, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Weyel?
Bitte sehr.
Herr Kollege Bayha, stimmen Sie mir zu, daß „Ärmel hochkrempeln" manchmal schwierig ist, wenn man einen kapitalstarken Gegner hat und man gegen dieses Kapital konkurrieren soll?
Frau Weyel, ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu. Genau bei einer solchen Angelegenheit muß man dann nämlich auch von allen Seiten mit viel Gefühl, Anstand und Würde an die Lösung der Probleme herangehen.
Ich verweise hier noch einmal auf das Problem des Eigentums. Ich habe mich im Bereich der jungen Bundesländer sehr engagiert, weil ich an der Lösung der Probleme mithelfen will, nicht deshalb, weil ich mir dort etwas unter den Nagel reißen wollte; daran denke ich überhaupt nicht.
Weil ich persönlich dort engagiert bin, weiß ich auch, daß es möglich ist, in den Eigentumsfragen durchaus für beide Seiten befriedigende Lösungen zu finden, wenn man das Problem mit Toleranz angeht. Das empfehle ich allen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen.
— Das habe ich auch heute gemerkt. Wenn ich die Aussagen von Herrn Thalheim noch einmal Revue passieren lasse, dann muß ich sagen: Ich habe in der Tat den Eindruck, daß einiges an Toleranz fehlt
und daß in den Gehirnwindungen noch einiges an altem Denken drin ist, was jetzt eigentlich einmal herauskommen sollte.
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12080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Richard BayhaMeine Damen und Herren, es sollte uns aber auch Ansporn sein, weiterhin tatkräftig an dieser großen Gemeinschaftsleistung far die nachfolgenden Generationen mitzuwirken. Großen Herausforderungen hatte und hat sich insbesondere auch die Landwirtschaft zu stellen, die mit der Umwandlung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in andere Rechtsformen oder in Wiedereinrichter die erste Hürde im Umstrukturierungsprozeß genommen hat. Dieser Prozeß ist zwar noch lange nicht abgeschlossen, hat aber hinsichtlich der Betriebsgrößen, des Arbeitskräftebesatzes, der Ausgliederung nichtlandwirtschaftlicher Betriebszweige, der Wiederzusammenlegung von Tier- und Pflanzenproduktion schon enorme Strukturveränderung bewirkt.Die Auffassung, die aus den Anträgen und Großen Anfragen, die heute hier behandelt werden sollen, hervorgeht, das gehe alles zu langsam, kann ich jedenfalls nicht teilen.
Von den 4 500 ehemaligen genossenschaftlichen Großbetrieben haben sich etwa drei Viertel in deutlich kleinere eingetragene Genossenschaften bzw. Kapitalgesellschaften umgewandelt.
Sie bewirtschaften zur Zeit rund 75 % der landwirtschaftlichen Fläche. Das ist auch nach meiner Auffassung noch zuviel, und das wird sich noch ändern. 24 % der landwirtschaftlichen Fläche werden von den rund 5 500 landwirtschaftlichen Einzelunternehmen im Haupterwerb — das ist eine stolze Zahl, insbesondere angesichts der Tatsache, daß der Nebenerwerb in dieser Zahl nicht enthalten ist — und 930 Personengesellschaften, die in der Regel Vater-Sohn-Betriebe. sind und die diesen Haupterwerbsbetrieben gleichzusetzen sind, bewirtschaftet.Diese umstrukturierten Betriebe sind deutlich größer als in den alten Bundesländern.
So beträgt die durchschnittliche Betriebsgröße der Einzelunternehmen im Haupterwerb 135 ha — mit steigender Tendenz —, die der Personengesellschaften rund 400 ha, die der eingetragenen Genossenschaften etwa 1 500 ha und die der Kapitalgesellschaften 1 000 ha, wobei für die beiden letzteren für die Größe sinkende Tendenz gilt. Dies begrüße ich und halte ich auch für richtig. Wir brauchen keine Mammutunternehmen; sie waren auch in der alten DDR nicht die besten.Gleichzeitig erfolgt ein drastischer Arbeitskräfteabbau, so daß der Arbeitskräftebesatz je Hektar landwirtschaftlicher Fläche heute im Durchschnitt sogar schon niedriger ist als in den alten Bundesländern, während er 1989, zu Zeiten der ehemaligen DDR, um ein vielfaches höher lag. Ich kenne viele Fälle, wo er um ein Zehnfaches höher lag. Ich muß den Betriebsleitern und all denen, die sich dort in den jungen Ländern engagiert haben, ein Kompliment machen. Denn gerade dies ist eine Gratwanderung. Man muß Personal abbauen, und das geht nur dann, wenn ich moderne Maschinen und Einrichtungen kaufen, alsoinvestieren kann. Investieren kann ich aber nur, wenn ich Geld habe.Da kommt den Landwirten und der Landwirtschaft insgesamt in den jungen Bundesländern etwas entgegen, worüber heute kaum noch gesprochen wird, nämlich der Geldumtausch im Verhältnis 1:1, bei den Betrieben 1 : 2. Wäre dieses Verhältnis nicht gewesen, dann wäre in den meisten ehemaligen LPGs, bei denen stattliche Beträge umgestellt worden sind, das Geld für eine Änderung weder in gesellschaftsrechtlicher Form noch in privatrechtlicher Form überhaupt möglich gewesen.
Dazu kommen beträchtliche Unterstützungen seitens des Bundes in den letzten zwei Jahren. Wenn Sie durch die jungen Bundesländer mit offenen Augen gehen, dann sehen Sie auch, daß sich in der Landwirtschaft eine durchaus positive Entwicklung sehr rasch vollzogen hat.
Zu verzeichnen ist auch ein erheblicher Produktionsrückgang — das ist gar kein Gegensatz zu dem, was ich gerade gesagt habe —: in der pflanzlichen Produktion vor allem als Folge verringerter Anbauflächen und veränderter Anbaustrukturen, in der tierischen Produktion auf Grund des radikalen Abbaus der Tierbestände. Hier verlief die Entwicklung wegen der negativen Auswirkungen auf die Verarbeitungsbetriebe in den letzten Jahren geradezu besorgniserregend
— das kommt dazu —, scheint aber jetzt zum Stillstand gekommen zu sein, weil man den Verzehr der eigenen Produkte wiederentdeckt hat.Insgesamt kann man aber feststellen, daß der ökonomische und ökologische Anpassungsprozeß, der mit umfangreichen Maßnahmen und beträchtlichen finanziellen Mitteln, insbesondere auch zur sozialen Flankierung, von der Bundesregierung unterstützt wird, schon erheblich weit fortgeschritten ist. Ich meine, daß wir im Bereich der Land- und Ernährungswirtschaft sogar schon einen beträchtlichen Schritt weiter sind als in anderen Wirtschaftsbereichen, insbesondere viel weiter als in der Industrie.
Dort sind die großen Probleme, nicht in der Landwirtschaft, nicht beim Handwerk und schon gar nicht im ländlichen Raum. In den Städten liegen die großen Probleme.Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß die Privatisierung der Ernährungsindustrie durch die Treuhandanstalt ebenfalls weit fortgeschritten ist, nämlich voraussichtlich Ende dieses Jahres abgeschlossen sein wird,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12081
Richard Bayha— auch mit erheblichen staatlichen Förderungen. Am Ende dieses Prozesses werden Betriebe stehen, die zu den wettbewerbsfähigsten und modernsten in der Europäischen Gemeinschaft, teilweise wahrscheinlich sogar zu den besten in der Welt gehören werden.
Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Impuls für die weitere Entwicklung der Landwirtschaft wird von der nun begonnenen Neuordnung des Bodens ausgehen. Im Juli vergangenen Jahres ist die Verwertung der Treuhandflächen angelaufen, bei der zur Wahrung der Chancengleichheit die Verpachtung dem Verkauf vorgeschaltet ist. Die Pachtverträge sollen in der Regel auf zwölf Jahre angelegt werden, um den Landwirten mehr Sicherheit für Investitionen und die wirtschaftliche Entwicklung der Betriebe zu geben. Allerdings wird auch die Neuordnung des Bodens ein langwieriger Prozeß werden, nicht nur wegen vielfach noch zu klärender Eigentumsverhältnisse, sondern auch weil Flächenaustausch und Flurbereinigungen in diesen Ländern demnächst notwendig sind.Mit diesen agrarstrukturellen Maßnahmen, bei denen auch infrastrukturelle und ökologische Belange berücksichtigt werden müssen, wird ein weiterer wichtiger Schritt zum Aufbau der effizienten Landwirtschaft getan. Im Hinblick auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit werden gegenwärtig auch die Förderkonzepte überprüft — zumindest hinsichtlich der Förderobergrenzen —, urn sie den Bedingungen in den neuen Bundesländern anzupassen. Es ist anzunehmen, daß demnächst weitere Fördergrundsätze überprüft und geändert werden, die allzusehr vom agrarpolitischen Leitbild des kleinen bäuerlichen Familienbetriebs in Westeuropa, natürlich auch in Westdeutschland geprägt sind.Meiner Ansicht nach werden die sich hier abzeichnenden Strukturen einen ganz entscheidenden Einfluß auf zukünftige agrarstrukturpolitische Zielvorstellungen des Bundes nehmen und sich auch auf die westdeutschen Strukturen auswirken.Über eine grundlegende Reform der Agrarstrukturpolitik — —
Herr Bayha, Ihre Redezeit ist beendet.
— Gestatten Sie mir noch einen kurzen Schlußsatz.
Ziel muß eine im Binnenmarkt und im weltweiten Agrarhandel konkurrenzfähige deutsche Landwirtschaft sein, d. h. auch eine Agrarwirtschaft, die wieder mehr an den marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtet ist und die es tüchtigen Landwirten ermöglicht, die Einkommen aus der Produktion zu erwirtschaften und nicht abhängig zu sein von staatlichen Transferleistungen, die letztlich ungewiß sind, nicht nur weil die Staatskassen eines Tages leer sein könnten, son-dem auch weil sie dem Wandel politischer und gesellschaftlicher Strömungen unterworfen sind.
Die Auffassung der Opposition — —
Herr Bayha, es ist Schluß!
—, die ja in den Anträgen zum Ausdruck kommt, der Strukturwandel sei zu schlecht, teilen wir nicht. Deshalb lehnen wir sie ab.
Als nächster spricht der Abgeordnete Hinrich Kuessner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Anfang der Überlegungen zur Gestaltung der Einheit Deutschlands stand das Geld. Dieses Thema hat uns nie verlassen. Die Frage der Kosten wurde immer drückender.Manches wurde beim Einigungsprozeß von der Bundesregierung falsch eingeschätzt. So ging man beim Abschluß des Einigungsvertrages noch davon aus, daß der Abschluß des operativen Geschäftes der Treuhandanstalt einen Gewinn bringen wird.Aber der eigentliche Fehler ist nicht diese Fehleinschätzung; der eigentliche Fehler ist aus meiner Sicht, daß das wirklich vorhandene Kapital in den neuen Ländern nicht genutzt wurde. Ich meine das Humankapital, die Menschen. Die Bundesrepublik hat einen Zuwachs von rund 16 Millionen Menschen erhalten. Dieses Humankapital wurde verschleudert. Die Bundesregierung hat nicht ernsthaft darüber nachgedacht, wie es genutzt und entwickelt werden kann.Bei der Umstrukturierung haben die Überlegungen, wie die Menschen in den neuen Ländern zum Motor für den Aufbau Ost werden können, nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das hat dem Wirtschaftsstandort Deutschland geschadet.Auch bei der Umstrukturierung der Landwirtschaft ist das so. Es wurde nicht überlegt, was getan werden muß, damit die Landwirte aus dem Osten in der Marktwirtschaft bestehen können; an erster Stelle stand das Bestreben, die vorhandenen Betriebsstrukturen zu beseitigen und möglichst Besitzverhältnisse zu schaffen, wie sie vor 1949 bestanden.
Die Zeit dazwischen wollte man ungeschehen machen.
Bei diesem Konzept vergaß man aber, daß Geschichte nicht zurückzudrehen ist.
Die Menschen haben inzwischen in den Dörfern gelebt und gearbeitet. — Ich will nicht das alte System wieder, aber ich will, daß beachtet wird, daß dort Menschen leben und in der DDR gelebt haben, nicht nur Kommunisten.
Bei allem, was geschieht, müssen diese Menschen berücksichtigt werden.
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12082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Hinrich KuessnerDie Landwirtschaftspolitik in Bonn nach der Einheit wurde — das haben wir hier schon diskutiert — durch die Lobby der Großgrundbesitzer bestimmt.
Trotz Einigungsvertrag und Karlsruhe nimmt die Bundesregierung auf sie so viel Rücksicht, daß bis heute vernünftige Lösungen verhindert werden.
In den verschiedenen Betriebsformen wollten viele Landwirte aus dem Osten nach der Wende privatwirtschaftlich arbeiten. Aber die entscheidende Voraussetzung wurde ihnen nicht gewährt. Immer wieder hat die SPD angemahnt, daß langfristige Pachtverträge von der Treuhandanstalt auszureichen sind. Von den 3 293 Pachtanträgen in Mecklenburg-Vorpommern sind jetzt erst 49 mit einer Vereinbarung von 12 Jahren unterschrieben.
Wer so arbeitet, verhindert den Aufbau Ost in den Dörfern.
Dies ist nicht nur unsere Meinung, diese Meinung hat auch der CDU-Landwirtschaftsminister Brick aus Schwerin massiv vertreten.In Übereinstimmung mit allen Parteien in Mecklenburg-Vorpommern und mit allen Agrarministern aus den neuen Ländern haben wir am 6. Mai 1992 verlangt, daß die langfristige Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen zumindest gleichberechtigt neben den Verkauf der Flächen gestellt wird.
Aber das Interesse der Regierungskoalition war einzig und allein, die Alteigentümer zu bedienen. Am 24. Juni und am 7. Oktober 1992 waren Sie von der Koalition noch dagegen, den Kreis der Begünstigten eines Förderprogramms über den Kreis der Alteigentümer hinaus auszuweiten. Nachzulesen ist dies in der Drucksache 12/3563. Dies konnten Sie zum Glück nicht durchhalten, weil Ihnen Ihre eigene Gefolgschaft im Osten hier nicht gefolgt ist.Enttäuschend empfinde ich, daß sich die CDU-Bundestagsabgeordneten aus Ostdeutschland dem Diktat der Alteigentümer gegen die Interessen der Menschen bei uns weithin gebeugt haben.
Immer wieder haben Sie die Diskussion verschleppt. — Bitte sehr.
Herr Kollege, bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Hier steht ein Alteigentümer. Wir haben nichts, keine Vorteile erreicht, auch wir Alteigentümer nicht, soweit wir hier mitarbeiten.
Eine Frage: Können Sie mir ehrlich zugeben, daß hier eine Polemik gegen Alteigentümer falsch ist und daß wir hier alle bemüht sind, das Beste zu erreichen, daß wir sogar versuchen, zu akzeptieren, daß wir die größten Opfer bringen sollen? Aber dann möchten wir wenigstens so viel Verständnis erwarten, daß wir nicht noch diffamiert werden. Hier stehe ich, lieber Kollege Thalheim.
Ich glaube, die Frage ist gestellt.
Meine Uhr geht aber weiter.
Entschuldigung, die halte ich an.
Danke.
Ich gehe gern darauf ein. Ich habe mir auch vorgenommen, das in meiner Rede differenzierter darzustellen. Sie werden dazu noch einiges hören.
— Sie müssen nur etwas länger zuhören und dürfen nicht immer schon vorher rufen.
Also jetzt antwortet der Abgeordnete dem Grafen Schönburg-Glauchau.
Ich halte das für sehr wichtig. Wir sind ja beide, als diese Diskussion hier in Bonn aufkam, in einem Gespräch mit Alteigentümern gewesen. Da waren eigentlich nur drei Abgeordnete anwesend. Ich will es mal sagen: Wer war da? Dieser Kollege, dann der Kollege von der PDS und ich. Da waren keine Abgeordneten der F.D.P. dabei, da war kein weiterer Abgeordneter.
Das war die erste grundlegende Diskussion zu diesem Thema. Ich denke, daß wir damals eine gute Diskussion gehabt haben. Wir haben unsere gegenseitigen Positionen ernsthaft dargestellt. Mein Anliegen war damals, daß sich die Alteigentümer deutlich machen, daß die Geschichte weitergegangen ist und daß man wirklich berücksichtigen muß, daß inzwischen in den Dörfern vieles entstanden ist.Ich bin aus Ostpreußen. Wenn ich jetzt fordern würde, ich will dort, wo meine Eltern 1945 oder 1944 Ostpreußen verlassen haben, unbesehen weitermachen, dann geht das so nicht.
Das geht so nicht! Die Geschichte ist weitergegangen. Sie ist auch in Mecklenburg-Vorpommern weitergegangen. Das muß wesentlich differenzierter betrachtet werden, und wir müssen zu einem Konsens kommen. Das ist das Problem. Diesen Konsens müssen wir gemeinsam erreichen. Dazu kann man aber nicht, wie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12083
Hinrich KuessnerSie, alles stillhalten. Bei uns geht langsam alles kaputt, und Sie vergessen,
daß in dieser Zeit wichtige Entscheidungen die Voraussetzung sind, daß auch die Einheimischen eine Chance bekommen. Wenn diese Entscheidungen nicht positiv vorangetrieben werden, dann passiert, was ich befürchte, daß durch Verschleppen der Unterschrift unter langfristige Pachtverträge Einheimische — die sowieso wenig Kapital haben, die dann Kapital nicht aufnehmen können — keine Chance haben, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg, in Thüringen, in Sachsen und Sachsen-Anhalt künftig wirklich Landwirt zu sein. Das ist das Problem.
Es gibt eine Zusatzfrage.
Eine Zusatzfrage: Herr Kollege, würden Sie dann statt der Diffamierung zugeben, daß wir gemeinsam daran arbeiten, daß jeder seine Chance kriegt, aber daß wir dann auch gemeinsam dabei sind, daß nicht neue Juden entstehen, daß nicht eine kleine Schar bleibt, die wegen ihrer Geburt oder wegen ihres Namens oder wegen ihres alten Eigentums völlig ausgeschlossen wird? Geben Sie mir zu, daß wir gemeinsam daran arbeiten, daß jeder, auch die Landwirte, bei uns zu Hause ihre Chance bekommen? Aber nicht gegen mich spielen!
Ich bin dazu gerne bereit, ich möchte Sie dann aber auch auffordern, daß die negativen Beispiele, die im Osten leider eine erhebliche Rolle spielen, genauso aufgearbeitet und angefaßt werden. Ich werde hier noch einmal drei Beispiele nennen. Es ist schon erschreckend, daß diese Beispiele im Grunde nicht richtig aufgegriffen werden und die Alteigentümer auch ganz klar Farbe bekennen und sagen: Dies sind nicht die Leute, die wir für die richtigen halten. Dann distanzieren Sie sich davon.
Ich will ein Beispiel aus meinem Wahlkreis im Landkreis Demmin nennen. Ich denke, das ist eine entscheidende Frage. Dort herrschen Verhältnisse, die ich als Wildost bezeichne. Dort hat der Nachkomme eines Alteigentümers 70 Hektar unter den Pflug genommen und Getreide ausgesät, ohne daß er ein Stück Papier in der Hand hatte, ohne daß er dieses Land gekauft oder gepachtet hätte.
Er hatte eine Zusage aus der Treuhandanstalt. In der Treuhandanstalt sitzt ein Verwandter von ihm. Ganz uneigennützig ist sein Vater gleich nach der Einheit in diesen Landkreis gekommen
und hat das Amt für Landwirtschaft übernommen. Er hat den besten Boden für seinen Sohn ausgesucht. Der Sohn wollte, da er es mit Papieren nicht durchsetzen konnte, Fakten schaffen.
Mein Anliegen ist, daß die Eigentümer in diesem Fall ganz klar Farbe bekennen und sagen: Das ist eine Sache, die wir nicht dulden.
— Es ist noch nicht aufgearbeitet. Es ist im Dezember vorigen Jahres passiert.
— Natürlich muß man so ein Beispiel nennen. Es passiert nämlich nichts. Die Treuhand hat erst reagiert, als die Leute massiv Stellung genommen hatten und die Gefahr bestand, daß Gewalt ausbricht.Ein anderer Fall. Sie sagen immer, daß Konzepte und Ausbildung eine Rolle spielen. Gucken Sie sich Hohen Wangelin an: Ein 21jähriger Bundeswehrsoldat erhält den Zuschlag.Das sind leider keine Einzelbeispiele. Ich will Ihnen ein weiteres aus Sachsen-Anhalt nennen: von der Agrargenossenschaft Börde" in Rottmersleben/ Schackensleben. Durch die Entscheidung der Treuhandanstalt und durch das rücksichtslose Vorgehen der Alteigentümer, die dort agieren und für das Pachten hohe Preise zahlen, besteht die Gefahr, daß dieser Agrargenossenschaft 1 000 Hektar entzogen werden. Hier werden durch Entscheidungen der Treuhand westdeutsche Alteigentümer den einheimischen Landwirten vorgezogen. Es wird mit allen Tricks gearbeitet. Es kommt sogar dazu, daß Alteigentümer Rechnungen in Höhe von 20 000 DM verschleppen. Die umstrukturierte LPG kommt in der Tat in wirtschaftliche Schwierigkeiten.Bekennen wir uns bei diesen negativen Beispielen gemeinsam dazu, daß wir so etwas nicht dulden! Nur dann werden wir eine Chance haben.
— Wenn es Einzelbeispiele sind, bekennnen wir uns doch gemeinsam dagegen!
Dann können wir dieses Problem grundsätzlich anders beseitigen.Das ist für mich genauso verwerflich — ich muß das deutlich sagen — wie rechtsextremistische Ausschreitungen. Denn ein solches Handeln ist Ursache für Gewalt und Extremismus. In meinem Wahlkreis lassen sich die Menschen solche Handlungen nicht mehr länger gefallen. Bei Wiederholung dessen, was in Demmin passiert ist, wird das nicht mehr so einfach hingenommen, wie mir viele Leute in den Dörfern
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12084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Hinrich Kuessnergesagt haben, sondern es wird zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.
Dann werden wir in Politik und, Öffentlichkeit alle wieder das helle Entsetzen bekommen. Mit Ihren politischen Vorgaben verursachen Sie solche Konflikte.
Herr Kuessner, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Heinrich?
Gern.
Herr Kollege, Ihre Beispiele sind sehr beeindruckend.
Ich möchte Sie aber bitten, auch solche Beispiele anzuführen, wo sich Agrargenossenschaften weigern, Wiedereinrichtern Land zur Verfügung zu stellen. Auch das wird laufend praktiziert.
Was Sie hier berichten, ist ausgesprochen einseitig und tendenziös.
Es ist ganz richtig, daß es auch auf der anderen Seite negative Beispiele gibt. Meine Praxis ist, daß ich diesen Beispielen genauso nachgehe. Ich will die Diskussion nicht undifferenziert führen. Das ist überhaupt nicht mein Anliegen. Ich werde jetzt in meinem Konzept fortfahren. Sie werden feststellen, daß ich in bezug auf die Alteigentümer differenzierter denke.
Wir sind nicht dagegen, daß Alteigentümer bei der Bodenverwertung berücksichtigt werden. Aber wir wollen keine Bevorzugung dieser Gruppe. Es gibt gute Beispiele, wo man sich vor Ort geeinigt hat und wo man gut nebeneinander wirtschaftet.
Bei konkurrierenden Bewerbungen sind die Entscheidungen nicht einfach. An vielen Stellen leisten Mitarbeiter der Treuhandanstalt, der BVVG, der Landwirtschaftsämter und der Bodenkommissionen gute Arbeit. Sie kommen zu vernünftigen Entscheidungen. All diesen Mitarbeitern gilt unser Dank. Aber die politischen Vorgaben stimmen noch immer nicht.
Das nutzen einige skrupellos aus und verderben alles, wenn ihnen nicht schnell Einhalt geboten wird.
Die langfristige Verpachtung hätte längst abgeschlossen werden müssen. Das Entschädigungsgesetz muß endlich auf den Tisch des Parlaments. Beim Förderprogramm — wie immer Sie es auch nennen —
müssen die einheimischen Landwirte zuerst eine Chance bekommen.
Alteigentümer, die in den neuen Ländern selber wirtschaften und investieren wollen, sind uns willkommen. Aber sie dürfen keine Vorrangstellung erhalten. Die Qualifikation des Bewerbers und das vorgelegte Betriebskonzept müssen über den Zuschlag entscheiden. Die Bauern im Osten wollen keine Bevorzugung, sondern eine Gleichbehandlung, nicht mehr und nicht weniger. Das müssen wir ihnen auch politisch gewähren.
Der Aufbau Ost wird nur mit den Menschen in Ostdeutschland gelingen. Wer sie jetzt entmündigt, wird über immer längere Zeiten Geldtransfers von West nach Ost zur Verfügung stellen müssen. Das muß die Bundesregierung endlich verstehen lernen. Noch läßt sich auf dem Lande vieles vernünftig regeln. Aber wer es jetzt nicht macht, legt einen weiteren sozialen Sprengsatz in Ostdeutschland.
Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Hans-Ulrich Köhler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zu Anfang meiner Rede den Ausführungen des Kollegen Bayha anschließen. Auch ich distanziere mich ganz klar von polemischen Äußerungen. Denn mit Polemik können wir dieses Problem nicht lösen.
Wir diskutieren heute darüber, wie die Bundesregierung Treuhandflächen an Landwirte in den neuen Bundesländern verteilen soll. Richtig ist, daß wir im Landwirtschaftsanpassungsgesetz zugelassen haben, daß landwirtschaftliche Betriebe in allen Rechtsformen geführt werden können. Das ist die erste Chancengleichheit,
die wir ohne Wenn und Aber eingeräumt haben.
Das bedeutet, daß die Nachfolgeunternehmen der LPGen und ehemaligen volkseigenen Güter als Pächter nicht nur die Flächen der Grundeigner, sondern bis zur Wende auch 100 % der Treuhandflächen bewirtschaftet haben.
Daraus kann und darf aber kein Gewohnheitsrecht werden.Für die Umstrukturierung der Landwirtschaft in den neuen Ländern ist es unabdingbar, daß sich hinsichtlich der volkseigenen Flächen die Bewirtschaftungsverhältnisse ändern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12085
Hans-Ulrich Köhler
Derjenige, der bisher volkseigene Flächen bewirtschaftet hat, wird Teile dieser Flächen abgeben müssen. Zieht man diese Konsequenz nicht, dann findet der Strukturwandel nur bei den ehemals nichtvolkseigenen Flächen, nicht aber bei den Treuhandflächen statt. Das wäre ein Ergebnis, meine Damen und Herren, das keiner von uns wünschen kann.Rund 1,3 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzter Flächen aus der Enteignung im Zuge der Bodenreform 1945/49 müssen privatisiert werden, und zwar in einer Weise, daß bäuerliche Einzelbetriebe wieder existenzfähig werden.Wenn Sie, meine Damen und Herren, mit Wiedereinrichtern oder auch Existenzgründern im Bereich der Landwirtschaft in den neuen Ländern reden, werden Sie dort kaum auf Verständnis stoßen, wenn juristische Personen bevorzugt werden sollen, wie das in gewissem Umfang von der SPD gefordert wird,
vor allem deshalb nicht, weil diese juristischen Personen häufig direkte Nachfolger der LPGen sind, bei denen die jetzigen GmbH-Geschäftsführer mit den damaligen LPG- oder Kooperationsvorsitzenden identisch sind.
Wir stehen bei der Bodenpolitik nicht nur vor politischen und wirtschaftlichen Problemen der gerechten und sozialverträglichen Durchführung der Verwertung und Verwaltung ehemaliger volkseigener land- und forstwirtschaftlichen Flächen, sondern auch vor einem emotionalen Problem. Viele fühlen sich von den LPG-Nachfolgeorganisationen über den Tisch gezogen.
Es war deshalb ein guter und richter Weg, daß eine Sonderkommission im Bundeskanzleramt, an der Abgeordnete der Koalitionspartner sowie die Treuhand und die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH beteiligt waren, ein Programm erarbeitet hat, das einvernehmlich mit den Agrarministern der fünf Bundesländer verabschiedet wurde.
Eine sinnvolle Verwertung wird es nur bei größtmöglichem Konsens zwischen allen Betroffenen geben.
Das ist richtig. Herr Minister Zimmermann, Sie sind heraus. Entschuldigung.In diesem Programm wurde festgelegt, daß die Privatisierung wegen des anhaltenden strukturellen Umbruchs in der Landwirtschaft der jungen Bundesländer in drei Stufen vollzogen wird: die erste Stufe in der Form der langfristigen Verpachtung, die zweite Stufe Landerwerbs- und Siedlungsprogramm, die dritte Stufe Verkauf zum Verkehrswert, Verwertung der Restflächen. Dieses Drei-Stufen-Modell sichert nach unserer Auffassung den Aufbau wettbewerbsfähiger privater Betriebe und ist die Grundlage einer geordneten Bodenpolitik.Ich will mich hier und heute nur mit dem besonderen Problem der langfristigen Verpachtung und der dazugehörigen Richtlinie beschäftigen. Die in der Regel zwölfjährige Verpachtung ist nicht nur Grundlage für einen geordneten späteren Verkauf der Flächen, sondern auch Basis für eine vernünftige Kalkulation in den Betrieben.Um sicherzustellen, daß auch tatsächlich existenzfähige Betriebe entstehen, ist es richtig, daß das Betriebskonzept und die berufliche Qualifikation des Antragstellers oder Betriebsinhabers in erster Linie Grundlagen für den Zuschlag von Pachtflächen sind. Wenn diese Qualitätsmerkmale erfüllt sind, dann ist es auch gerechtfertigt, daß bei gleicher Qualität des Konzeptes und bei gleichwertigen Geboten Wiedereinrichter und Bodenreformopfer sowie andere frühere selbständige Landwirte und deren Erben sowie am 3. Oktober 1990 ortsansässige Neueinrichter den Vorrang vor LPG-Nachfolgeunternehmen haben.
An dritter Stelle stehen vor der Wende nicht ortsansässige Neueinrichter, wenn sie bisher noch keine Treuhandflächen gepachtet haben.Im Sinne eines Interessenausgleiches ist es auch gerechtfertigt, daß bei Konkurrenz innerhalb der Gruppe der Wiedereinrichter und der ortsansässigen Neueinrichter — also der Neueinrichter — das möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen —, die zum Zeitpunkt der Wende noch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gelebt haben, Bodenreformopfer zumindest insoweit berücksichtigt werden, als sie in keinem Fall leer ausgehen. Dies wäre ein Teilbeitrag zur Wiedergutmachung.
Sie mögen die Festlegung einer Rangfolge kritisieren. Wenn man aber die Niederlassungen der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, die über die Vergabe der Pachtverträge entscheiden, und die Landwirtschaftsämter, die zur Vorbereitung von Entscheidungen Empfehlungen abgeben sollen, nicht alleine lassen will, muß man für den Fall gleichwertiger Gebote Rangfolgen festlegen; anderenfalls läßt man die Entscheider allein. Daß die LPG-Nachfolgeorganisationen bei einer solchen Rangfolge an zweiter Stelle stehen müssen, ist selbstverständlich, wenn man eine Umstrukturierung auch bei den ehemals volkseigenen Flächen ernsthaft befürwortet.
Gleichzeitig ist bei der Verpachtung zu berücksichtigen, daß bestehende Betriebe nicht durch Entzug von bisher von ihnen bewirtschafteten Flächen in ihrer Existenz gefährdet werden. Von hier aus wieder eine Chancengleichheit. Diese Regelung ist auch deshalb notwendig, weil eine Reihe von ortsansässigen Nachfolgeunternehmen einen nicht unbeträchtlichen Teil der Altschulden und sozialen Verpflichtungen übernommen haben.Was die LPG-Nachfolgeunternehmen angeht, so ist zusätzlich darauf hinzuweisen, daß diese durch das
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Hans-Ulrich Köhler
Land, das ihren Mitgliedern gehört, in aller Regel über einen Grundstock verfügen, während Neueinrichter fast ausschließlich auf die Pacht fremder Flächen angewiesen sind.
Nicht zu kritisieren ist auch, daß die Pächter zur Selbstbewirtschaftung verpflichtet sind und nur in wenigen Ausnahmefällen und nur für eine Übergangszeit aus triftigen Gründen eine Unterverpachtung zugelassen wird. Nur so läßt sich Bodenspekulation zumindest einschränken. Ich hoffe, daß in der Zwischenzeit das Skatspielen im Offizierskasino dann beendet ist.
Diese wichtigen Grundlagen der Richtlinie sind für die Arbeit der Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH verbindlich.Meine sehr verehrten Damen und Herren, vom Gesetzgeber wurde ein Instrumentarium geschaffen, das eine vernünftige Bodenpolitik in den Bundesländern ermöglicht. Mit der Richtlinie wird versucht, zwischen den unterschiedlichen Interessen auszugleichen und das wirtschaftlich Notwendige und Vernünftige nicht aus den Augen zu verlieren.
Das Instrumentarium ist ausreichend, um Mißbrauch und Spekulation zu verhindern. Aber es muß auch angewandt werden. Hier ist jeder von uns gefordert. Wenn wir in Bonn Gesetze machen und nicht dafür sorgen, daß sie in den Ländern umgesetzt werden, dann können wir hier strampeln, wie wir wollen, dann passiert nichts.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 28 der Geschäftsordnung erteile ich unserem Kollegen Egon Susset das Wort.
Die Ausführungen von Herrn Minister Zimmermann haben mich bewogen, doch zwei Sätze zu der falschen Aussage, die Sie hier machten, zu sagen. Sie sprachen von der Chancengleichheit bei der Förderung. Wir haben bewußt — vorhin hat Kollege Gallus schon darauf Bezug genommen — die Förderung der Landwirtschaft in den neuen Ländern im Vergleich zur Förderung der Landwirtschaft in den alten Ländern verbessert.
Wir haben davon gesprochen, was hier bei uns auf Grund der EG-Effizienzverordnung gilt: daß beispielsweise ein Betrieb keine Förderung erhalten kann, der über 60 Milchkühe hat, daß ein Betrieb im soziostrukturellen Einkommensausgleich nur bis zu
25 000 DM bekommen kann, soweit es eine gute Landesregierung gibt, d. h. soweit die Länder den Anteil bezahlen.
Hier haben Sie nicht dazu beigetragen, Chancengleichheit für die Landwirte in Brandenburg herbeizuführen, weil Sie nicht bereit waren, die 35 % Länderanteil aufzubringen.
Ich meine, Herr Minister Zimmermann, wir sollten, wenn wir Vergleiche anstellen, tatsächlich auch im Deutschen Bundestag darum besorgt sein, daß nicht falsche Meldungen nach außen gehen. Die Förderung ist zu Recht in den neuen Bundesländern großzügiger als in den alten Bundesländern. Aber das sollte dann auch zum Ausdruck kommen.
Nun habe ich noch einen Satz zum Kollegen Kuessner zu sagen. Herr Kollege Kuessner, ich habe ins Handbuch geguckt und gelesen: Theologie, Beruf Pfarrer. Ich möchte Ihnen empfehlen: Auch wenn man in der Politik ist, ist es die Aufgabe des Theologen, zu versöhnen und nicht zu verhetzen.
Zu einer weiteren Zwischenbemerkung hat jetzt Herr Kollege Hinrich Kuessner das Wort.
Ich möchte die Bemerkung des Kollegen zurückweisen, daß ich hier „verhetzt" habe.
Mein Anliegen habe ich, so denke ich, auch in dem Gespräch mit dem Vertreter der Alteigentümer in einer differenzierten Äußerung deutlich gemacht. Wenn Sie hingehört haben, haben Sie das auch mitbekommen.
Ich würde Ihnen wirklich empfehlen: Führen Sie die Gespräche einmal direkt; dann wären Sie auch differenzierter in der Beurteilung.
Den Ausdruck Verhetzung finde ich schon sehr beleidigend.
Ich würde Sie bitten, bei dieser Beurteilung differenzierter vorzugehen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrages der Fraktion der SPD zur Struktur- und sozialverträglichen Verwertung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen in den neuen Ländern auf Drucksache 12/3476 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? —
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Vizepräsident Helmuth BeckerIch höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 12/3563. Der Ausschuß empfiehlt unter Nr. 1, den Antrag der Fraktion der SPD zum Siedlungskauf-Modell auf Drucksache 12/2126 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ist der Antrag der SPD abgelehnt.Wer stimmt nunmehr Nr. 2 der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu, den Antrag der Fraktion der SPD zu einer Richtlinie für die Durchführung der Verwertung und Verwaltung volkseigener land- und forstwirtschaftlicher Flächen auf Drucksache 12/2545 abzulehnen? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie eben ist auch dieser Antrag der SPD abgelehnt.Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes fiber die Verbreitung jugendgefährdender Schriften— Drucksache 12/4195 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Frauen und Jugend RechtsausschußAusschuß für Familie und SeniorenInnenausschußNach einer Vereinbarung des Ältestenrates ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserer Kollegin Ilse Falk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, die Sie übrig geblieben sind! Vor dem Frühstück die Computerspiele „Golden Axe" und „Fantasy", nach der Schule die Broschüren „Endsieg" Nr. 2 und 3, dazu die CD der Gruppe „Störkraft" „Dreckig, kahl und hundsgemein" und schließlich am Abend „Drei Lederhosen in St. Tropez", „Zombie 3" oder aber — ein Wunschfilm deutscher Fernsehzuschauer — „Katharina, die nackte Zarin".Kommen so unsere Kinder und Jugendlichen gut über den Tag? Entspricht dieses vielfältige Medienangebot unserer Vorstellung einer Erziehung zum mündigen Bürger oder zur mündigen Bürgerin? Erreichen wir mit diesen Mitteln Achtung vor der Würde des Menschen, Solidarität mit Älteren, mit Schwächeren, gegenseitige Toleranz und Anerkennung?Alle eben genannten Medien standen, zum Teil seit längerem, auf der Liste der indizierten Medien der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Geprüft wird auf Antrag von Jugendämtern, Landesjugendbehörden oder des Bundesministeriums für Frauen und Jugend, ob ein Film oder Computerspiel, eine Zeitschrift oder CD als jugendgefährdend eingestuft werden muß.Solche Medien sind Filme, Liedtexte oder Schriften, die verrohend wirken, zu Gewalttätigkeiten, Verbrechen oder Rassenhaß anreizen und den Krieg verherrlichen. Es sind Filme und Schriften, in denen Frauendiskriminierung und Pornographie die Handlung bestimmen. Indizierte Medien werden im Bundesanzeiger von der Bundesprüfstelle bekanntgegeben und unterliegen damit bestimmten Abgabe-, Verbreitungs-, Vertriebs- und Werbebeschränkungen.Ebenfalls dem Schutz von Kindern und Jugendlichen dienen sollen die §§ 131 — Gewaltverherrlichung — und 184 — Pornographie — des Strafgesetzbuches sowie das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit. Und auch der Rundfunkstaatsvertrag vom 31. August 1991 verweist auf diese strafgesetzlichen Bestimmungen und führt in seinem § 3 Abs. 2 aus: „Sendungen, die geeignet sind, das körperliche oder seelische Wohl von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, dürfen nicht verbreitet werden, es sei denn ...". Und dann folgt die Aufzählung der Bedingungen, unter denen eben doch eine Sendung erlaubt ist.Wo also liegt das Problem, wenn es doch eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen gibt, die unsere Töchter und Söhne schützen?Zum einen ist da das sogenannte Elternprivileg in Art. 6 unseres Grundgesetzes. Dort heißt es dem Sinn nach hoffnungsvoll: Über die Rechte und Pflichten der Eltern bei der Pflege und Erziehung der Kinder wacht die staatliche Gemeinschaft. Aber wie? Hinter der Haustür ist die Bedienung von Fernsehern, Videorecordern, CD-Playern und Computerspielen kinderleicht im wahrsten Sinne des Wortes, auch nach 23 Uhr. In Klammern sei dazu vermerkt: Hinter derselben Haustür werden im übrigen alljährlich allein laut amtlicher Statistik mehr als 23 000 Kinder von Eltern und Verwandten mißhandelt; die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch viel höher.Zum zweiten: Wen erreicht die verdienstvoll arbeitende Bundesprüfstelle mit ihrer Liste der indizierten Medien? Insider und Fachleute aus dem Jugendbereich, denen der Bundesanzeiger zugänglich ist, und diejenigen, denen nach dem Gesetz die Entscheidungen der Bundesprüfstelle zugestellt werden müssen, also das Bundesministerium für Frauen und Jugend, die Länder, soweit möglich die Verfasser und Verleger der Schrift sowie andere am Verfahren beteiligte Behörden, Verbände und Personen. Also all diejenigen, die ohnehin schon sensibilisiert sind.Und vor allem: Was kann die Bundesprüfstelle bei Verstößen tun? Wenig. Eine Indizierung ist keine Zensur. Sie hat nicht das generelle Verbot eines Mediums zur Folge. Und Strafen greifen natürlich erst, wenn Verstöße überhaupt der Bundesprüfstelle bekannt werden.Also schauen die Erwachsenen eben weiter nach 23 Uhr indizierte Filme an, zum Teil zwar um einige der schrecklichsten Sequenzen gekürzt, aber dieses dann nur auf Grund freiwilliger Selbstkontrolle der Sender und nicht etwa als Konsequenz des Indizierungstatbestandes. Oder die lieben Kleinen nehmen solche Filme halt selber auf Video auf, können sie doch häufig viel besser als wir mit der Technik
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Ilse Falkumgehen. Das weitere können Sie sich dann ausmalen.Ich komme auf die Ausnahmeregelungen im Rundfunkstaatsvertrag zurück. § 3 besagt dort, daß indizierte Filme zwischen 22 bzw. 23 und 6 Uhr ausgestrahlt werden dürfen, weil der Veranstalter annehmen darf, daß Kinder und Jugendliche unter 16 bzw. 18 Jahren die Sendungen zu dieser Zeit „üblicherweise" nicht wahrnehmen. Dazu Zahlen: Bis zu 500 000 sechsjährige — ich betone: sechsjährige — bis 13jährige Mädchen und Jungen sitzen nach 23 Uhr vor dem Bildschirm. Man kann sich jetzt trefflich darüber streiten, ob es wirklich 500 000 oder „nur" 100 000 sind. Aber ich denke, jedes einzelne Kind ist zuviel.Mord und Totschlag schon in den Nachrichten, Blut- und Ekelfilme, Gewaltverherrlichung, Pornographie und Schmuddelsex: Unseren Kindern und Jugendlichen bietet sich alltäglich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und bei den privaten Sendern ein Cocktail, der seine Fortsetzung im wirklichen Leben findet. „Batman" und „Karate-Kid" schlagen im Kindergarten zu. In der Schule erpressen mafiose Banden Mitschülerinnen und Mitschüler. Mitbringsel auf Teenager-Partys sind Messer, Schlagstöcke, Reizgas und Revolver. Skin-Songs auf CDs und Computerspiele runden diese Medienlandschaft ab.Immer mehr Eltern, Erzieher- und Lehrerverbände prangern dieses zweifelhafte „Angebot" an, weil sie zu Recht Schäden in der geistigen und seelischen Entwicklung ihrer Kinder fürchten und schwere Beeinträchtigungen des Wohles von Mädchen und Jungen voraussehen. Denn direkt kann man sie ja meist nicht wahrnehmen. In Kommentaren und Presseberichten, die derzeit zu lesen sind, werden zur Abhilfe oftmals Gesetzesverschärfungen verlangt, wird der Ruf nach Indizierung solcher Medien lauter.Aber nicht um eine Verschärfung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften geht es in der heutigen Diskussion, sondern allein um eine Ergänzung der Regelungen über die Auswahl von Beisitzern. Das mag gut und wichtig sein. Immerhin wird damit einer Forderung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen.Ich begrüße es auch, daß uns die Aussicht auf die Verabschiedung eines Bundesgremiengesetzes im Zusammenhang mit dem Gleichberechtigungsgesetz Anlaß zu der Hoffnung gibt, daß in Zukunft mehr Frauen der Bundesprüfstelle als Beisitzerinnen angehören werden.Ich frage mich aber, ob dieses schon der Weisheit letzter Schluß sein kann, wenn die Bundesprüfstelle für Fernsehanstalten und Btx nicht zuständig ist, wenn Antragsverfahren bis zu 4 Monate dauern können, wenn Medien, die der Kunst oder der Wissenschaft zugeordnet werden, von der Indizierung ausgenommen sind, wenn Hochglanzzeitschriften, die z. B. Seite um Seite nackte Kinder darstellen, nicht indiziert werden können, weil es sich um „saubere" Darstellungen handelt — und doch jeder weiß, wie sehr auch solche Hefte den Konsum von Kinderpornographie anregen können —, wenn über die Verbreitung undBenutzung von CDs und Computerspielen unter Kindern und Jugendlichen überhaupt keine Kontrolle möglich ist, wenn jugendlichen Gewalttätern bei Übergriffen auf Menschen und Sachen Beifall gespendet wird, wenn das Verantwortungsbewußtsein von Video-Produzenten und TV-Veranstaltern mit Umsatzzahlen und Einschaltquoten korreliert.Angesichts der Flut an gefährdenden Einflüssen durch Filme, Spiele, Liedtexte, Bücher und Zeitschriften müssen die Anforderungen eines umfassenden Jugendschutzes einer sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Einzellösungen werden weder dem veränderten Medienangebot noch der tatsächlichen Nutzung durch die jugendlichen Konsumenten gerecht. Für einen wirksamen Jugendschutz müssen Fachleute aus dem Jugendbereich, Erzieher und Lehrer, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und nicht zuletzt die Vertreter der Medien zusammenarbeiten.Zudem sollten verstärkt Informationen über den Gang des Verfahrens veröffentlicht werden, d. h. wie Bürger mithelfen können, ein offensichtlich jugendgefährdendes Medium einem Prüfungsverfahren zuzuführen. So ist wenig bekannt, daß die Prüfstelle nur auf Antrag tätig werden darf und daß nur die obersten Jugendbehörden der Länder, die Landesjugendämter, die Jugendämter und die Bundesministerin für Frauen und Jugend antragsberechtigt sind. Insgesamt sind das in der Bundesrepublik etwa 800 Stellen, an die sich Bürgerinnen und Bürger wenden sollten, wenn ihnen Erkenntnisse über gefährdende Schriften vorliegen.Im einzelnen ist zudem notwendig, die Kompetenzen der Bundesprüfstelle u. a. im Bereich der Fernsehanstalten und des Btx zu erweitern. Darüber hinaus ist denkbar, daß sich die TV-Veranstalter und Video-Produzenten in einer Freiwilligen Selbstkontrolle analog der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmbranche zusammenschließen. Bestehende Sanktionsvorschriften müssen in bezug auf ihre Durchsetzbarkeit in der Praxis geprüft werden.Informationsveranstaltungen in Kindergärten und Schulen können Eltern helfen, das Medienverhalten ihrer Kinder zu hinterfragen und sich bewußt mit den angebotenen Programmen auseinanderzusetzen. In Schulen sind darüber hinaus z. B. Projektwochen für Schülerinnen und Schüler zu Gewalt in den Medien denkbar.Meine Damen und Herren, ich denke, es ist deutlich geworden, daß der wichtigen und wirklich verdienstvollen Arbeit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften viele Grenzen gesetzt sind und wir uns auch an dieser Stelle klarmachen müssen, daß alle staatlichen und gesetzgeberischen Maßnahmen wirkungslos bleiben müssen, solange wir als Eltern unsere Aufgabe nach Art. 6 des Grundgesetzes, nämlich die „Pflege und Erziehung der Kinder", nur als Recht und nicht als Pflicht begreifen und andere Instanzen für die persönliche Entwicklung unserer Töchter und Söhne verantwortlich machen.
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Ich erteile nun unserem Kollegen Wilhelm Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, daß wir die Gelegenheit nutzen können, bei diesem Gesetzesvorhaben nicht nur über den eigentlichen, sehr engen Zweck zu sprechen, sondern auch über den allgemeinen Kinder- und Jugendmedienschutz. Ich bin der Kollegin Falk auch dankbar, daß sie das für ihre Fraktion schon einbezogen hat. Deswegen werde auch ich mein Schwergewicht in meiner Rede darauf legen; meine Kollegin Simm wird dann mehr auf den eigentlichen Ursprung des heutigen Anlasses eingehen.Wir haben nämlich nicht nur über das Gesetz zu sprechen, das einen sehr eng begrenzten Rahmen setzt, sondern wir haben darüber zu sprechen, daß es im gesamten Kinder- und Jugendmedienschutz große qualitative Lücken gibt. Insofern ist die heutige Debatte ein guter Anlaß, hierauf aufmerksam zu machen. Gleichwohl sage ich, daß mir einfach noch zuwenig aufgearbeitet ist, was auf diesem Feld stattfindet und wie man dem begegnen kann.Machen wir uns nichts vor: Es sind längst nicht mehr nur noch die Probleme von Pornoheften oder Porno-videos allein, die nach wie vor mehr oder weniger versteckt in den Handel kommen, obwohl dem Betrachter der Szene neben den harten Sachen die subtil angelegten Produkte wie die angebliche FKK-Zeitschrift „Sonnenfreunde" ebenfalls einiges Kopfzerbrechen bereiten.Die Bundestags-Kinderkommission, deren Sprecher ich zur Zeit bin, hat fraktionsübergreifend gerade heute morgen im Rahmen der Vorlage ihres Zwischenberichts vor der Bundespressekonferenz ihre besondere Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, daß es insbesondere bei den elektronischen Medien kaum noch ein Halten bei der Programmauswahl in bezug auf Gewalt, Horror und Sex gibt. Leider sind auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht frei davon, wenngleich sie im Vergleich mit den privaten Sendern noch einigermaßen zivile Programme fahren.Ich mache auf die Zahlen aufmerksam, die durch mehrere Untersuchungen in den letzten Wochen und Monaten der Öffentlichkeit bekanntgegeben worden sind: Pro 7 mit einem Gewalt-, Horror- und Sexanteil von fast 10 % am Gesamtprogramm, 4 000 Fernsehleichen wöchentlich auf den deutschen TV-Kanälen oder 132 indizierte Filme, also verbotene Filme, in den Privatsendern zwischen Januar und August 1992. Das alles ist eine deutliche Warnung für uns alle.Aber wir müssen dann auch handeln, wir müssen konkret etwas dagegen unternehmen. Ich persönlich habe bereits im Februar 1992 gegen den Fernsehsender SAT 1 ein Strafverfahren in Gang gebracht, um die Ausstrahlung eines damals nach dem GjS indizierten Filmes klären zu lassen. Ich denke, wir müssen auch die Verantwortlichen in den Ländern, die die Überwachung der Rundfunk- und Fernsehprogramme vorzunehmen haben, stärker als bisher auf ihre Verantwortlichkeit aufmerksam machen.Allerdings zeichnen sich die nächsten Dimensionen in diesem heiß umkämpften Markt schon jetzt ab: Vom europäischen Ausland werden per Satellit demnächst möglicherweise — wie sie heißen — Hardcore-Pornos gesendet, die zu jeder Tages- und Nachtzeit in die deutschen Wohnstuben flimmern können. Wer weiß, daß Kinder heutzutage — Frau Falk hat es angedeutet; auch mir persönlich geht es übrigens so — den meisten Eltern im Gebrauch von Decodern, Videorecordern und ähnlichen Geräten weit überlegen sind, der weiß auch, daß einem ungehinderten Konsum dieser Machwerke bei der jüngeren Generation damit kaum Bremsen gesetzt sind.Hinzu kommt offensichtlich mit großen Schritten eine neue Entwicklung am Computermarkt. Ich habe letztens gelesen, daß es Disketten gibt, auf denen bei ganz unverfänglicher Aufmachung von außen die härtesten Computerpornos, -Spiele oder wie immer man das bezeichnen soll, enthalten sind.Rundfunkstaatsvertrag, Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, europäische Fernsehrichtlinie, die wir übrigens Gott sei Dank demnächst im Hause diskutieren werden, alles ist mehr als unzulänglich, geradezu hilflos ausgestaltet, wenn es darum geht, die Sendung solcher gefährdender Filme zu verhindern. Der Handlungsbedarf ist groß, wenn man aus gesellschaftspolitischer Überzeugung und vor allem im Interesse des Wohls der Kinder gegen diese Entwicklungen wirksam angehen will.Will das diese Bundesregierung überhaupt? Frau Merkel mag man diesen Willen noch einigermaßen abnehmen. Aber sonst? War es nicht diese Regierung, war es nicht dieser Kanzler, der mit 25 Milliarden DM an Subventionen aus Steuermitteln dafür gesorgt hat, daß durch die Verkabelung dieser Republik der Weg in diese Entwicklung überhaupt erst bereitet worden ist, und der es, obwohl viele, viele Warnende seinerzeit schon darauf aufmerksam gemacht haben, nicht wahrhaben wollte, daß Entwicklungen, wie in den USA schon lange vorgezeichnet, auch bei uns eintreten werden. Kinder, die am Tag im Durchschnitt zwei Stunden und mehr vor dem Fernsehapparat sitzen — in verkabelten Haushalten eine halbe Stunde mehr —, sind ein warnendes Signal auch für die Dimension, die sich dahinter verbirgt.Nun hat in diesen Tagen die CDU, wie man lesen konnte, die Schaffung eines Mediengewissens in Form einer Konvention der Verantwortlichkeit vorgeschlagen. Ein solcher Verhaltenskodex nach Art einer freiwilligen Selbstkontrolle muß — Frau Falk, Sie und Ihre Kollegen will ich dabei direkt ansprechen — den immer weiter fortschreitenden Entwicklungen auf dem Mediensektor aber wohl völlig hilflos gegenüberstehen, weil rein die kommerziellen Interessen den Ablauf des Sendeprogramms bestimmen. Die Landesmedienanstalten versagen bei dieser Aufgabe doch jetzt schon, weil ihnen die rechtliche Handhabe nicht gegeben worden ist. Was soll dann wohl eine freiwillige Selbstkontrolle nach dieser Art ausrichten?Natürlich muß man sich die Frage stellen, ob die aufgezeigten notwendigen Reaktionen nicht nur dem übertriebenen Denken einiger weniger Eiferer entspringen. Dazu sage ich ein entschiedenes Nein.
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Wilhelm Schmidt
Immer mehr Untersuchungen haben das Fernsehverhalten von Kindern durchleuchtet; ich habe einige Zahlen eben schon genannt. Wenngleich auch die Wirkungsforschung noch in einigem Streit lebt — auch das muß man wohl zugeben —, ist es inzwischen doch wohl unumstritten, daß Gewalt, Horror und Sex in einem Maß auch Kinderseelen beeinflussen, wie es nun nicht mehr verniedlichend hingenommen werden kann.In diesem Zusammenhang möchte ich wieder einmal an das Endgutachten der Gewaltkommission erinnern. Ich tue das immer sehr gern, wenn ich in diesem Hause zu solchen Themen rede; denn das steht offenbar wohlbehütet in manchen Bücherschränken bei uns in Abgeordnetenbüros und wird überhaupt nicht mehr beachtet und für solche Zwecke herausgeholt. Ich empfehle Ihnen, noch einmal nachzulesen, wie schon Ende der 80er Jahre diese hochkarätige Kommission, von der Bundesregierung berufen, auf die schwerwiegenden Folgen für Kinder und Jugendliche aufmerksam gemacht hat.Gerade die sehr selten erfolgende Aufarbeitung von Fernseherlebnissen zwischen Kindern und Eltern bringt doch erhebliche seelische Beeinflussungen bei den Kindern — das ist mittlerweile unumstritten —, zumal dann, wenn sie mit anderen Faktoren zusammentreffen, die im familiären Umfeld heute bedauerlicherweise nicht sehr selten anzutreffen sind, nämlich Schulstreß, Elternprobleme, Spiel- und Bewegungsmangel, Orientierungslosigkeit in Freizeit und Ausbildung, Wohnungsprobleme. Sie sind Gefahren für eine Übernahme von Handlungsmustern aus diesem Fernseh- und Computergenre.Das System Elternhaus/Schule schafft es jedenfalls eindeutig nicht mehr, dem Überangebot negativ wirkender elektronischer Produkte wirkungsvoll entgegenzuwirken. Zu schnell sind die Entwicklungen auf diesem Riesenmarkt. Wir brauchen tatsächlich wirkende gesetzliche Regelungen. Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, gegen diese Tendenzen massiv anzugehen. Wenn wir das nicht schaffen, werden wir uns nach meiner Auffassung sehr erschrecken, was Rassenhaß, grausame Gewalttätigkeiten, die Menschenwürde verletztende Darstellungen, Pornographie und Kriegsverherrlichung in nächster Zeit in den Köpfen unserer Kinder und durch die tatsächlichen Handlungen, die daraus folgen, noch anrichten können.Ich fordere deswegen nicht nur aus meiner Sicht, sondern auch aus der Sicht der Kinderkommission des Bundestages eine schnelle Aufarbeitung der Möglichkeiten und damit auch eine schnelle Umsetzung für einen wirksameren Kinder- und Jugendschutz im Zusammenhang mit den Medien in Deutschland. Natürlich haben wir dabei die Grenzen der Informationsfreiheit und der Zensur zu beachten. Ich meine aber auch, daß wir den Handlungsbedarf schon jetzt sehr deutlich erkennen können. Wir sollten uns im Rahmen dieses Gesetzes, aber auch weit darüber hinaus, schnellstens an die Aufarbeitung begeben.Damit die beteiligten Ministerien, die Frau Merkel heute hier vertritt, künftig noch mehr als bisher an die Kinder denken, wollte ich die Gelegenheit nutzen, Frau Merkel, Ihnen den heute der Bundespressekonferenz vorgestellten Zwischenbericht der Kinderkommission zu überreichen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften ist gerade 40 Jahre alt. Noch 1973 galten Schriften, die mit Bildern für Nacktkultur warben, als „offenbar schwer jugendgefährdend". Heute können wir darüber nur lachen. Heute erhitzen brutale Videos, harte Pornos und rassistische Computerspiele noch nicht einmal die Gemüter von Kindern.Ein unübersehbares Angebot — Fernsehen, Videos, Btx, Computerspiele, Bücher, Zeitschriften, Comics, Schallplatten und Tonkassetten — überflutet den Markt — und dies wahrlich nicht vom Feinsten. Es ist heute unbestritten, daß ständiger Konsum von Gewaltdarstellungen abstumpft. Sind wir uns eigentlich der Spirale bewußt?Im Rahmen einer präventiven Jugendarbeit wurde im Mai 1954 als weisungsungebundene Bundesoberbehörde die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ins Leben gerufen. Sie ist mit gerichtsähnlichen Funktionen ausgestattet und kann Indizierungsverfahren bei Mediendarstellungen und gewaltverherrlichenden Schriften einleiten, die Kinder und Jugendliche sittlich gefährden, also — ich zitiere — „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen und Rassenhaß anreizende und den Krieg verherrlichende Schriften".Durch die Indizierung werden Verlage zur Selbstkontrolle und zur Umstellung der Produktion veranlaßt. Überdies dürfen Schriften, die in der Liste bekanntgemacht sind, nicht im Einzelhandel, im Versand, in Leihbüchereien, an Kiosken oder anderen Verkaufsstellen vertrieben, verbreitet oder verliehen werden.Die Bundesprüfstelle kann nur auf Antrag der Obersten Jugendbehörden der Länder, der Landesjugendämter, der Jugendämter und der Bundesministerin für Familie und Jugend tätig werden. Das monatlich zusammentretende Zwölfergremium, das sich aus einer/einem Vorsitzenden der Bundesprüfstelle, acht Gruppen- und drei Länderbeisitzern zusammensetzt, entscheidet, von Ausnahmen abgesehen, dauerhaft über eine Indizierung. Aber auch die Indizierung hat nicht ein generelles Verbot zur Folge. Ebensowenig gehören Beschlagnahmen und die Einbeziehung von Medien zum Tätigkeitsbereich der Bundesprüfstelle. Aber Programme, die in der Videofassung indiziert sind, dürfen laut Rundfunkstaatsvertrag erst nach 23 Uhr gesendet werden. Nur, was nützt es, wenn auch noch dann Hunderttausende von Kindern vor dem Fernseher sitzen? Wo sind die Eltern? Schon im Bett?
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Dr. Margret Funke-Schmitt-RinkZiel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist, verfahrensrechtliche Verbesserungen für die Durchführung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, insbesondere für die Ernennung von Beisitzern, zu erreichen; denn vom Bundesverfassungsgericht ist 1990 die Auswahl der Beisitzer als verfassungsrechtlich unzulänglich angemahnt worden. Wünscht man sich also schnelle Entscheidungen hinsichtlich einer Indizierung von Medien jugendgefährdenden Inhalts, so ist zu begrüßen, daß die Personengruppen und Verbände, die Beisitzer vorschlagen, z. B., aus Kunst, Literatur, Buchhandel, Jugendarbeit, Lehrerschaft und Religionsgemeinschaften, laut Gesetzentwurf künftig im Gesetz näher bestimmt werden sollen. Auch für die Anbieter von Videoprogrammen und die im Bildträgervertrieb Tätigen soll es eine klare Rechtsgrundlage für ihre Beteiligung geben.Um ein unverzügliches Handeln bei offenbar schwer jugendgefährdenden Medien zu garantieren und den Vertrieb schnellstmöglich zu unterbinden, ist es vielleicht auch dringend notwendig, daß die Bundesprüfstelle im Dreiergremium, also Vorsitzende bzw. Vorsitzender und zwei weitere Mitglieder, auch im vereinfachten Verfahren Maßnahmen einleiten kann — so ist es bisher im Gesetzentwurf nicht vorgesehen — und die Betroffenen gegen die hier gefaßte Entscheidung nicht mehr Beschwerde einlegen können.Die im Gesetzentwurf festgelegten Verfahrensregeln sind also im Sinne stringenter Jugendschutzbestimmungen als positiv zu bewerten. Das Instrumentarium zum Verbot sittlich gefährdender Schriften für Kinder und Jugendliche muß effizienter gestaltet werden. Der Bundesprüfstelle, der auf diesem Gebiet eine große Verantwortung zukommt, muß der Rücken gestärkt werden.Fazit: Es gibt zu viele Gewaltdarstellungen in den Medien. Bei allen gesellschaftlichen Gruppen muß ein radikales Umdenken einsetzen. Hohe Einschaltquoten dürfen nicht das letzte Ziel von Fernsehmachern sein, und Eltern müssen öfter den Abschaltknopf bei Fernsehen und Videos bedienen. Am wirkungsvollsten wäre es allerdings, wenn es endlich eine gemeinsame ständige „Abrüstungskonferenz" der öffentlich-rechtlichen und der privaten Medien gäbe. Ich wiederhole es — vielleicht bleibt der Appell doch nicht ungehört —: Ich meine eine gemeinsame ständige „Abrüstungskonferenz" der öffentlich-rechtlichen und der privaten Medien.Im Bereich von gewaltverherrlichenden Schrift-, Bild- und Tonträgern ist es zwingend, nicht mehr liberal, sondern restriktiv gegen die Hersteller und Vertreiber vorzugehen. Es ist notwendig, in die Entscheidungsgremien der Bundesprüfstelle durch die Länder und durch die gesellschaftlichen Gruppen gezielt Frauen zu entsenden. Hier setzt im übrigen das vorgesehene Bundesgremienbesetzungsgesetz im Entwurf eines Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes an, wonach der Bund darauf hinzuwirken hat, daß eine angemessene Repräsentanz von Frauen in den öffentlichen Gremien geschaffen wird.Frauen müssen in der Diskussion über die Eindämmung jugendgefährdender Darstellungen mehr Einfluß bekommen; denn in den meisten Fällen sindFrauen die Opfer von Gewalt und sadistischer Sexualität — und dies nicht nur in Hartpornos.Danke.
Nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „So weit ist es gekommen: Jeder dritte Berliner Schüler bewaffnet." Meldungen wie diese über die alarmierend hohe Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen haben sich in der letzten Zeit gehäuft. Von den Kultusministerien in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern in Auftrag gegebene und vor kurzem veröffentlichte Studien belegen, daß Gewalt in der Schule mittlerweile zum Alltag gehört und Jugendliche immer mehr ihren Ausweg rechts suchen.Das Kölner Institut für empirische Psychologie kam nach einer repräsentativen Befragung von Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland zu dem Ergebnis, daß fast jeder dritte Jugendliche als konsequent ausländerfeindlich eingestuft werden müsse. Als Leitbilder für Gewalt nehmen Kinder und Jugendliche an erster Steller Rechtsradikale und Skins sowie Film-und Fernsehhelden, die sich mit brutaler Gewalt durchsetzen.Diese überaus besorgniserregende Entwicklung macht ein offensives Handeln der Bundesregierung erforderlich. Der Jugendpolitik neue Akzente zu geben heißt auch, gesetzliche Grundlagen, die Jugendfragen betreffen, den neuen Erfordernissen anzupassen. Dazu zähle ich auch das heute zur Debatte stehende Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften trägt eine große Verantwortung. Um so unverständlicher ist es mir, warum die Bundesregierung die hierfür vom Bundesrat gemachten Vorschläge ablehnt. Der Bundesrat fordert, daß Frauen und Männer bei der Berufung in die Bundesprüfstelle zu gleichen Anteilen berücksichtigt werden. Außerdem will er in dem Gesetz festgeschrieben wissen, daß als Vorsitz der Prüfstelle für mindestens jede zweite Amtszeit eine Frau von der zuständigen Ministerin benannt wird.Ich halte das für eine Selbstverständlichkeit; schließlich ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung weiblich und sind Frauen leider noch immer vorrangig und häufig sogar allein für die Heranwachsenden zuständig.Ich denke, das qualifiziert sie zusätzlich für die Mitarbeit in einer solchen Bundesprüfstelle, die darüber befindet, welche Schriften jugendgefährdend sind.Die Tatsache, daß Gewalt gegen Frauen und Pornographie in den Medien eine furchtbare Dimension bekommen haben, muß sich auch in der Besetzung eines solchen Gremiums niederschlagen.
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12092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Petra BlassDie gleichberechtigte Teilnahme von Frauen — eine Selbstverständlichkeit? Offenbar nicht.Solange Frauen diese Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung der Gesellschaft nur in verschwindend geringer Zahl wahrnehmen können, ist ihr Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben nicht tatsächlich verwirklicht. Daraus folgt die Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die diese Teilhabe verbessern und damit der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebotes dienen.Diese Sätze stammen nicht von mir. Ich entnahm sie dem Bericht der Bundesregierung über die Berufung von Frauen in Gremien, Ämter und Funktionen. Dort kommt die Bundesregierung immerhin auch zu der bemerkenswerten Erkenntnis, daß eine Verbesserung der Lage nicht von selbst und ohne weiteres Zutun eintritt.Doch wie sieht es in der Praxis aus? Goodwill-Erklärungen zur Überwindung der eklatanten Unterrepräsentanz von Frauen sind das eine. In dem besagten Gremienbericht kündigt die Bundesregierung Maßnahmen an, die verantwortliche Stellen dazu anhalten, sich aktiv um die Einbeziehung von Frauen zu bemühen. Dazu sollten die bestehenden Regelungen und Gesetze, die für die Besetzung von Gremien gelten, auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden.Ausdrücklich betont wird die Notwendigkeit der gesetzlichen Verankerung einer „Frauen-Berücksichtigungsklausel" in einem „übergreifenden Gremien-Gesetz oder aber konkret in den einzelnen Gesetzen". Wir haben aber bis jetzt weder das eine noch das andere.Was das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften betrifft: Ein Schritt voran wäre die Festschreibung, daß die Entscheidungen in der Bundesprüfstelle künftig mindestens zu 50 % von Frauen getroffen werden.Meine Damen und Herren, die Praxis hat gezeigt, daß Regelungen mit bloßem Appellcharakter nicht geeignet sind, den Anteil von Frauen in Gremien tatsächlich zu erhöhen. Die PDS/Linke Liste unterstützt deshalb die Forderung des Bundesrates nach einer verbindlichen gesetzlichen Regelung.Ich bin fest davon überzeugt, daß eine aktive Frauenpolitik einen Beitrag dazu leisten kann, die Jugendpolitik effizienter zu machen.Ich danke.
Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Josef Hollerith das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegt der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften auf Bundestagsdrucksache 12/4195 vor.Das GjS, das hier zur Änderung ansteht, stammt aus dem Jahre 1961. Es legt fest, welche Medieninhalte jugendgefährdend sind. Das sind insbesondere — ich zitiere § 1 GjS — „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeiten, Verbrechen und Rassenhaß anreizende sowie kriegsverherrlichende Medien".Unter Schriften im Sinne des GjS fallen auch alle übrigen Medien, z. B. Computerspiele und Videos.Es ist die Aufgabe der Bundesprüfstelle, die Kinder und Jugendlichen vor jugendgefährdenden Medien zu schützen. Im Rahmen des Gesetzes ist die Bundesprüfstelle diesem Auftrag seit Jahrzehnten gerecht geworden.Die eigentliche Problematik liegt allerdings darin, daß letztendlich nicht die Bundesprüfstelle entscheidet, was jugendgefährdend ist, sondern der Zeitgeist. Dieser ist bekanntlich dem Wandel unterworfen.In der heutigen Zeit wird die Jugend mit Medienimpulsen überflutet. Die Sendemöglichkeiten ebenso wie die Empfangsmöglichkeiten haben sich vervielfacht. Der Kampf um die Einschaltquoten, um den Verkauf der Werbezeiten hat sich entsprechend entwickelt.Der Auftrag der Bundesprüfstelle muß heute deshalb über die Ausblendung jugendgefährdender Schriften hinaus auf die Gewinnung von Medienqualität abzielen. Medienqualität, Medienpädagogik, der richtige Umgang mit Medien, das ist heute eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe geworden.Grundlage für den Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 1990 zum pornographischen Roman „Josefine Mutzenbacher", in der u. a. Inhalt und Umfang der Regelung über die Auswahl der Beisitzer für die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften verfassungsrechtlich als unzulänglich und nachbesserungsbedürftig gerügt wurden. Dem Gesetzgeber wurde daher aufgegeben, bis 1994 die Gremienbesetzung neu zu regeln.Die Zielsetzung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist daher die verfahrensrechtliche Verbesserung zur Durchführung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, insbesondere bei der Ernennung von Beisitzern. Konkret geht es also im wesentlichen um die Regelungstechnik für die Gremienbesetzung.Die Lösung läßt sich in vier Punkten zusammenfassen: Erstens. Innerhalb der acht aus § 9 Abs. 2 GjS ersichtlichen Kreise — das sind Kunst, Literatur, Buchhandel, Verlegerschaft, Jugendverbände, Jugendwohlfahrt, Lehrerschaft und Kirchen — werden nunmehr jeweils auch die Personengruppen und Verbände im Gesetz bestimmt, die für die Entsendung von Beisitzern in Betracht kommen.Die jetzt namentlich bestimmten und in den § 9 Abs. 2 GjS bezeichneten Gruppen zugeordneten Organisationen entsprechen denjenigen Verbänden, die — nach aktuellem Stand — schon bisher Beisitzer gestellt und damit die Aufgabenerfüllung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften mit getragen haben. Diese Organisationen sind nach ihrem Erscheinungsbild so bedeutend und in ihrem Fortbe-
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Josef Hollerithstand gesichert, daß es sachgerecht erscheint, sie im Gesetz zu erwähnen und ihnen je ein eigenes Vorschlagsrecht für einen Beisitzer und einen stellvertretenden Beisitzer zuzuordnen.Sie werden um diejenigen Organisationen ergänzt, die von ihrer fachlichen Ausrichtung und gesellschaftlichen Bedeutung her zwar ebenfalls zur Mitarbeit in der Bundesprüfstelle berufen sind, sich an deren Entscheidungstätigkeit jedoch noch nicht bzw. nicht mehr beteiligt haben.Zweitens. Die Regelungen über die Auswahl von Beisitzern werden ferner mit dem Ziel ergänzt, die in den beteiligten Kreisen vertretenen Auffassungen zumindest tendenziell vollständig zu erfassen.Drittens. Zugleich wird auch eine klare Rechtsgrundlage für die Beteiligung der Verbände der Anbieter von Videoprogrammen sowie der im Vertrieb von Bildträgern Tätigen in das Gesetz aufgenommen.Wegen des in den letzten Jahren zu einem erheblichen Marktvolumen angewachsenen Videomarktes spielt auch die Indizierung von Videoprogrammen bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften eine erhebliche Rolle und hat einen beträchtlichen Anteil an deren Tätigkeitsfeld.Es ist daher eine Klarstellung angebracht, daß zum Buchhandel und zur Verlegerschaft in vergleichbarer Weise auch am Videomarkt Beteiligte gehören. Diese Kreise haben damit Gelegenheit, als Gruppenbeisitzer an der Spruchtätigkeit der Bundesprüfstelle mitzuwirken.Viertens. Schließlich wird klargestellt, daß die Anrufung des Zwölfergremiums nach § 15 Abs. 4 GjS gegen eine Entscheidung des Dreier-Gremiums keine Verfahrensvoraussetzung für eine Klage gegen nach § 15a Abs. 1 GjS ergangene Entscheidung des Dreier-Gremiums darstellt.Neues und höchst brisantes Aufgabenfeld der Bundesprüfstelle heute ist die Bekämpfung rechtsradikaler Medien. So liegen nach Aussage der Vorsitzenden der Bundesprüfstelle derzeit 40 Anträge auf Überprüfung rechtsradikaler Fan-Magazine und Rockmusik vor. 20 rechtsradikale Magazine wurden bisher schon in die Liste aufgenommen.Zunehmend hat sich die Bundesprüfstelle auch mit jugendgefährdenden Darstellungen auf dem Computer — z. B. KZ-Spiele; ein trauriges Beispiel dafür ist der sogenannte Nintendo Game Boy — zu beschäftigen, die in letzter Zeit äußerst brutal sind und insbesondere Kinder ansprechen.Problematisch ist, daß, seit die Bundesprüfstelle nicht mehr für Btx zuständig ist, die Verbreitung von Kinderpornographie in diesem Bereich leider wieder zugenommen hat. Kinderpornographie ist auch ein Thema, das leider viel zu lange stark tabuisiert war.
— Das stimmt leider, Frau Kollegin. — Angesichts der großen Schädigungen, die die betroffenen Kinder und Jugendlichen durch sexuelle Mißhandlungen erfahren, ist es jedoch notwendig und richtig, daß nunmehrdas Schweigen gebrochen und in der Öffentlichkeit Sensibilität für dieses ernste Problem geweckt wird.
Wir sind uns in diesem Hause Gott sei Dank einig über die Problematik und über die Notwendigkeit des Handelns.Wie wichtig der Schutz der Kinder und der Jugend ist, zeigt auch der Vorschlag der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. So hat die Kinderkommission kurz vor Weihnachten der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgeschlagen, bei der Neugestaltung des Grundgesetzes mit aufzunehmen, daß jedes Kind ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung hat und daß die staatliche Gemeinschaft die Rechte des Kindes zu schützen und zu fördern hat.Kinder sind uns anvertraut. Sie vor Verletzung ihrer Menschenwürde zu schützen ist in erster Linie die Pflicht ihrer Eltern, aber auch die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft insgesamt. Ich bitte Sie: Stellen wir uns gemeinsam diesem Anliegen, um bestmögliche Lösungen zu erzielen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat unsere Frau Kollegin Erika Simm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlaß für den heute zu beratenden Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 1990, mit der das Verfahren zur Auswahl der Beisitzer für die Bundesprüfstelle als unzureichend geregelt und deswegen als verfassungsrechtlich mangelhaft befunden wurde. Es ist schon gesagt worden: Diese Entscheidung erging zum Roman „Josefine Mutzenbacher". Ich denke, die Tatsache, daß dies so ist, zeigt vielleicht auch schon ein gewisses Dilemma auf, nämlich die Kluft zwischen dem, worüber Gerichte entscheiden, und unseren wirklichen Problemen im Bereich des Medienjugendschutzes.Das Bundesverfassungsgericht hat die derzeit geltende Regelung — es handelt sich um § 9 Abs. 2 GjS — zwar nicht für verfassungswidrig erklärt, jedoch ihre Anwendbarkeit auf die Zeit bis zum Ende des Jahres 1994 beschränkt und dem Gesetzgeber damit den Auftrag erteilt, alsbald eine Neuregelung zu treffen. Diesem Auftrag kommen wir zur Zeit mit der Beratung des Gesetzentwurfs nach.Die Bundesprüfstelle, deren Aufgabe es ist, über den jugendgefährdenden Charakter von Schriften — dazu zählen auch Bildträger — zu befinden, trifft ihre Entscheidung in Gremien, an denen Beisitzer beteiligt sind, die neben den Bundesländern aus acht festgelegten Gruppen ausgewählt werden. Diese Gruppen wiederum sollen für die Beurteilung des jugendgefährdenden Charakters oder der künstlerischen Bedeutung von Schriften besonders qualifiziert
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12094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Erika Simmsein; so hat es jedenfalls das Bundesverfassungsgericht ausgelegt und definiert.Während die vom Verfassungsgericht beanstandete noch geltende Regelung die acht Gruppen, aus denen die Beisitzer zu benennen sind, nur allgemein bezeichnet, zählt der vorliegende Entwurf, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechend, bei den einzelnen Gruppen nun jeweils die Organisationen, Verbände und Körperschaften, die ein Vorschlagsrecht haben, ausdrücklich auf. Außerdem ist vorgesehen, daß auch nicht genannte Gruppen künftig Vorschläge machen können, um das ganze Meinungsspektrum mit einzubeziehen.Des weiteren enthält der Gesetzentwurf, den wir beraten, Festlegungen für das Auswahlverfahren bei den Beisitzern und die Verfahrensregelung bei Klageerhebung, die hier bereits dargestellt worden ist. Ich erspare es mir, noch weiter darauf einzugehen.Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme Einwendungen gegen diese Regelungen nicht geltend gemacht, jedoch darauf hingewiesen, daß die Beteiligung von Frauen in der Bundesprüfstelle bisher sehr gering war. Er hat Vorschläge zum Vorschlags- und Auswahlverfahren unterbreitet, die eine Besetzung der Entscheidungsgremien der Bundesprüfstelle mit Männern und Frauen in jeweils gleicher Zahl gewährleisten würden. Ich meine, wir sollten den Bedenken des Bundesrates bei den weiteren Beratungen des Gesetzentwurfes Rechnung tragen. Die in der Gegenäußerung der Bundesregierung dagegen vorgebrachten Argumente vermögen jedenfalls mich nicht zu überzeugen.Die Bundesprüfstelle soll schließlich durch ihre Besetzung gewährleisten, daß in ihre Entscheidungen einerseits die Sachkunde der im Medienbereich und für den Jugendschutz relevanten Verbände und Organisationen, andererseits aber auch die Auffassungen und Wertvorstellungen in der Pluralität, wie sie in unserer Gesellschaft bestehen, einfließen können. Ich denke, dies erfordert nicht nur eine Beteiligung der relevanten Gruppen, Organisationen und Verbände, sondern auch eine gleiche Beteiligung von Männern und Frauen im Entscheidungsprozeß, denn Frauen bewerten auf Grund ihrer immer noch andersartigen Sozialisation gerade Gewalt und Pornographie durchaus anders als Männer. Noch immer sind es vorwiegend Frauen, die in unserer Gesellschaft die Kinder betreuen und im Zweifel den engeren alltäglichen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben und von daher genauer wissen, womit sich Kinder in der Freizeit beschäftigen und wie sich dies auf ihr Verhalten und ihre Entwicklung auswirkt.Die von der Bundesregierung gegen die Vorschläge des Bundesrates geltend gemachten Bedenken sind in meinen Augen nicht stichhaltig. Es sind die altbekannten Argumente, die man immer zu hören bekommt, wenn man, um eine gleichgewichtige Frauenbeteiligung zu erreichen, Regelungen ins Gespräch bringt, die den Geruch der Quotierung haben.Die Position unserer Frauenministerin, Frau Merkel, hierzu ist ja hinlänglich bekannt. Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß" tritt sie in ihren Sonntagsreden zwar vehement für mehrFrauenbeteiligung — insbesondere auch in den Gremien des Bundes — ein, ist aber nicht bereit, durch verbindliche Regelungen zur Gremienbesetzung die Parität auch wirklich sicherzustellen. Ihre Hoffnung, gutgemeinte Appelle und die Zeit würden das schon regeln, ist unbegründet.Man muß sich nur vor Augen halten, wie die Entscheidungsgremien der Verbände und Organisationen, welche die Vorschläge für die Beisitzer in der Bundesprüfstelle machen, normalerweise besetzt sind. Auch dort sind die Frauen in der Regel ja nur schwach vertreten. Das mag bei einer der Gruppierungen, die Beisitzer an die Bundesprüfstelle entsenden sollen, beim Verein katholischer deutscher Lehrerinnen, anders sein, aber ich denke, daß das Kommissariat der deutschen Bischöfe üblicherweise keine Frauen entsenden wird. Daß Männergremien vorwiegend Männer in die Bundesprüfstelle entsenden, vermag nicht zu verwundern. So wird ein Zustand perpetuiert, den wir meiner Meinung nach nur ändern können, indem wir, wie vom Bundesrat vorgeschlagen, verbindliche Regelungen festlegen, die eine gleiche Besetzung der Entscheidungsgremien der Bundesprüfstelle mit Männern und Frauen sicherstellen.
Sie ist um des Jugendschutzes willen sachlich geboten.Ich verweise auf eine Parallele, an die man nie denkt und wo es eine solche Quotierung aus dem gleichen Gesichtspunkt, nämlich dem der Sachkunde und der Beurteilungsmöglichkeit, die gerade Frauen zusätzlich einbringen können, schon gibt: Das ist das Jugendschöffengericht, für das das JGG verbindlich vorschreibt, daß einer der beiden Schöffen eine Frau sein muß.Wir sollten die Beratung dieses ja eher marginalen Gesetzentwurfs meines Erachtens auch zum Anlaß nehmen, Aufgabenstellung, Arbeitsweise und Effizienz der Bundesprüfstelle einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Der Ausschuß für Frauen und Jugend hat dies kürzlich im Rahmen einer Unterrichtung getan. Dabei ist eine Reihe von Problemen, die die Prüfstelle hat, zutage getreten, deren wir uns annehmen sollten. Nur am Rande sei erwähnt: Auch die Leiterin der Bundesprüfstelle, Frau MonssenEngberding, hat es durchaus als Mangel betrachtet, daß die Frauen nicht stärker in den Gremien vertreten sind.Um einen effektiven Jugendschutz zu gewährleisten, sollten die Entscheidungen der Bundesprüfstelle rasch ergehen. Diesbezüglich kann die jetzige Verfahrensdauer von drei bis vier Monaten im Zwölfergremium und von zwei bis drei Monaten im Dreiergremium nicht zufriedenstellen. Ich habe den Eindruck, daß die gegenwärtige Verfahrensdauer auch mit der personellen Ausstattung der Prüfstelle zu tun hat, denn die inhaltliche Arbeit, so insbesondere die Abfassung der Entscheidungen, muß dort gegenwärtig von nur zweieinhalb Juristinnen geleistet werden. Außer der Vorsitzenden sind im Regelfall alle anderen Mitglieder der Entscheidungsgremien Laien. Daß es sich um Juristinnen handelt, hat etwas damit zu tun,
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Erika Simmdaß es in dieser Behörde praktisch keine Aufstiegschancen gibt.Es müßte im Personalbereich etwas geschehen. Wir sollten in diesem Zusammenhang aber auch darüber nachdenken, ob es wirklich das Gelbe vom Ei ist, die Entscheidungsgremien mit Ausnahme der Vorsitzenden ausschließlich mit Laien zu besetzen.Was den Zuständigkeitsbereich der Bundesprüfstelle betrifft, scheint es mir ein großes Problem zu sein, daß die Bundesprüfstelle keinerlei Zuständigkeit für die Bereiche Rundfunk und Fernsehen hat und daß es auch keine institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen diesen Bereichen gibt. So fehlt es beispielsweise an einer Verpflichtung der Sender, vor Ausstrahlung eines Films bei der Bundesprüfstelle anzufragen, ob nicht bereits zwischenzeitlich eine Indizierung vorliegt.Für gerade sinnwidrig halte ich es, daß es zulässig ist, nach 23 Uhr indizierte Sendungen auszustrahlen, denn schließlich kann heute jedes Kind mit einem Videogerät umgehen. Dadurch wird meiner Meinung nach der Jugendschutz voll unterlaufen und die Bundesprüfstelle als bloße Alibiveranstaltung diskreditiert.Diese Gesetzesvorlage könnte ein Anlaß sein, über den Jugendmedienschutz in unserem Land grundsätzlich zu diskutieren. Wir sollten diese Gelegenheit nutzen.
Meine Damen und Herren! Zum Schluß dieser Debatte erteile ich jetzt der Frau Ministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat denke ich, daß diese Gesetzesänderung eine Gelegenheit ist, über den Jugendmedienschutz zu debattieren. Wir haben eben allerdings fast mehr über Frauenpolitik debattiert, was zwar auch wichtig und richtig ist, aber der Anlaß dieser Gesetzesänderung ist eben weniger ein frauenpolitischer, zumal die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Frau Simm, immerhin von einer Frau geleitet wird. Dies hätte man auch einmal sagen können, wenn man schon zehn Minuten über den Frauenanteil in der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften spricht. Ich glaube, daß wir die Frage des Frauenanteils im Beisitzergremium der Bundesprüfstelle nicht anhand des heute zu beratenden Gesetzes regeln sollten sondern generell. Ich habe dazu im Gremiengesetz Vorschläge unterbreitet. Damit möchte ich diesen Teil erst einmal beenden.Wir haben im Gesetzentwurf Änderungen im Zusammenhang mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gemacht und den Vorgaben entsprochen. In der Neufassung sind jene Organisationen aus acht Bereichen aufgeführt, die je einen Beisitzer haben sollen und die die nötige Vielfalt garantieren.Diese Bereiche werden ergänzt um Organisationen, die von ihrer fachlichen Ausrichtung und gesellschaftlichen Bedeutung her ebenfalls geeignet sind, an der Entscheidungstätigkeit mitzuwirken. Insofern ist das Beratungsgremium sicherlich vielfältiger geworden.Ich muß aber auch sagen, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts uns sicherlich richtige Vorgaben gibt, auf der anderen Seite aber auch deutlich macht, wie schwer es oft ist, in den Fragen des Jugendmedienschutzes, wenn es zu richterlichen Entscheidungen kommt, voranzukommen und an der Sache zu arbeiten und nicht immer wieder in formalen Fragen steckenzubleiben.Ich möchte an dieser Stelle zuallererst den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundesprüfstelle ganz herzlich für ihre Arbeit danken. Die Vielfalt der Medien und damit auch ihr Einfluß haben zugenommen. Sie haben sich in einem fast revolutionären Tempo verändert. Insofern hat auch die Arbeit der Bundesprüfstelle ein ganz anderes Gesicht erhalten. Video, Computer und Btx haben in den letzten Jahren völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Insofern sind natürlich auch die Möglichkeiten des Mißbrauchs gewachsen. Die Quantität der Medien hat zugenommen; das kann man nicht immer von der Qualität sagen. Gewalt in den Medien ist unverkennbar leider fast alltäglich und allgegenwärtig, ob in Computerspielen, in denen auf primitive Weise die Verfolgung und Tötung von Menschen simuliert wird, ob auf Schallplatten, in denen zur Gewalt gegen Ausländer aufgefordert wird — wir haben das in den letzten Monaten in erschreckender Weise erlebt —, ob in Horror-Videos mit geradezu bestialischen Szenen — jeder, der die Bundesprüfstelle einmal besucht hat, wird das bestätigen können — oder ob in Kinofilmen oder Fernsehsendungen, in denen Gewalt verklärt, verharmlost oder als dramaturgisches Mittel häufig, zu häufig eingesetzt wird.Wir sollten aber angesichts dieser Debatte auch keine pauschale Medienschelte betreiben. Medien sind in unserer modernen Gesellschaft natürlich eine Chance. Sie sind gerade für heranwachsende Kinder und Jugendliche eine Chance, auf andere Art, als wir heutigen Erwachsenen es getan haben, zu lernen, Informationen aufzunehmen. Ich betone das ausdrücklich. Es geht nicht um Zensur oder Verbote. Dieser Vorwurf an die Politiker geht völlig an der Realität vorbei. Dies ist nicht bezweckt und dies ist nicht gewollt.Herr Schmidt — er ist nicht mehr da — hat darauf hingewiesen, daß es die CDU gewesen sei — dieses Argument kommt immer wieder —, die dafür gesorgt habe, daß es eine vernünftige Vielfalt an Medien gibt. Es glaubt ja wohl niemand in diesem Lande, daß die Pluralität der Medien — dazu gehören auch private Anbieter — in einem aufgeklärten, demokratischen europäischen Land auf Dauer zu verhindern wäre. Es ist natürlich richtig gewesen, diese Vielfalt zuzulassen und gesetzlich zu regeln. Aus meiner DDR-Erfahrung kann ich nur sagen: Viele waren froh, daß es RTL plus schon gab, als die Öffentlich-Rechtlichen auf der Insel Usedom und anderswo entlang der polnischen Grenze
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12096 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Bundesministerin Dr. Angela Merkelnoch nicht zu empfangen waren. Es war eine Bereicherung des Informationsangebots.
— Daß Sie enttäuscht sind, kann ich mir vorstellen. Sie mußten ja wahrscheinlich auch nicht so viele Jahre ohne ARD und ZDF leben.Aber das hält uns nicht davon ab, klar hervorzuheben, daß Gewaltdarstellungen in Medien ganz unzweifelhaft auch gewaltfördernde Auswirkungen haben können. Die Diskussion, ob es bis ins Detail wissenschaftlich nachweisbar ist, in welcher Weise welche Gewaltdarstellung welche Wirkung hervorruft, ist wirklichkeitsfremd. Wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen verantwortungsvoll erziehen wollen, sind wir verpflichtet, Gefährdungen, wo sie realistisch und möglich erscheinen, abzuwenden, auch ohne daß wir das letzte Forschungsergebnis und die letzte direkte Verquickung erkennen können.
Schon der Gewaltbericht der Bundesregierung hat gezeigt, daß es unter bestimmten Prädispositionen natürlich eine Wirkung zwischen gewaltdarstellenden Medienereignissen und der Handlung von Kindern gibt. Was mir besonders Sorgen macht, ist immer wieder die lebensnah gezeigte Gewalt, wo sich Realität und im Medium erlebte Realität miteinander vermischen und es so erscheint, als ob bestimmte Gewaltdarstellungen dazu geeignet sind, Lösungen für Konflikte im Leben des Kindes zu bieten.Ich bin überrascht, wie trotz aller Pressefreiheit, die ich befürworte und für richtig halte, mit großer Selbstverständlichkeit immer wieder Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit auch für jugendgefährdende Schriften und Filme reklamiert werden. Das ist erst kürzlich wieder deutlich geworden, als es um den Fall, der die Gesetzesinitiative ausgelöst hat, nämlich das Buch „Josefine Mutzenbacher", ging. Die Bundesprüfstelle hatte auf Grund der veränderten Bedingungen die Indizierung erneut vorgenommen. Diese Indizierung hat tatsächlich wieder Kritik hervorgerufen. Die Kritiker sind mit keinem Wort darauf eingegangen, daß es sich bei diesem Buch um die Lebensgeschichte eines Mädchens in der Zeitspanne vom fünften bis zum 13. Lebensjahr handelt, das zur Kinderprostitution und zur Kinderpornographie gezwungen wurde. In „Josefine Mutzenbacher" wird nicht etwa ein Leidensweg, sondern ein erstrebenswerter Lebensweg dargestellt.Jeder, der mit sexuellem Mißbrauch von Kindern zu tun hat — wir diskutieren ja gerade Gesetzesänderungen am Beispiel des § 184 des Strafgesetzbuches— , wird wissen, welche Wirkungen solche Bücher haben können. Ich halte es für einen Teil der oft sehr zweigleisig geführten Diskussion in unserer Gesellschaft, daß auf der einen Seite Kinderpornographie angeprangert wird, auf der anderen Seite aber solche Indizierungen auch wieder kritisiert werden. Wir müssen schon geradlinig argumentieren, wenn wir in diesem Bereichen vorankommen wollen.Vizepräsident Helmuth Becker Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Sie wissen, daß ich Ihre Initiativen in Sachen Gewalt im Fernsehen und Formen der Fernsehpornographie unterstütze. Gerade deswegen stelle ich an Sie die Frage: Ist es sinnvoll, ein in den letzten Generationen immer wieder umstrittenes literarisches Buch wie das, das Sie eben zitiert haben, sozusagen anzulegen auf die schreckliche Wirklichkeit von heute? Ich glaube, niemand tut das. Keiner der Leser dieses Buches hat es nötig, daraus solche Praxis zu holen, sondern wir haben auch eine ganz andere grauenvolle Wirklichkeit, die mit diesem Buch nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie künftig in Ihrem berechtigten Zorn nicht gerade mit diesem Buch argumentieren würden; denn dann würden wir in literarische Dimensionen geraten bis hin zum Dreißigjährigen Krieg, wo eine ganze Reihe von Jugendlichen und Kindern berührt sein würden.
Ich bleibe dabei, daß ich es für sinnvoll halte, auch an diesem Beispiel die Indizierung erneut durchzuführen. Das hält uns nicht davon ab, daß an schlimmeren, modernen, neueren Beispielen diese Indizierung selbstverständlich auch durchgeführt wird. Aber ich halte diese meine Meinung für richtig. Ansonsten freue ich mich, daß Sie generell meine Anliegen unterstützen. Das wird uns jetzt nicht auseinanderbringen.
Ich halte es für richtig. Sie haben mich ja gefragt, ob ich es für richtig halte.Die Bundesprüfstelle und die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft in Wiesbaden sind die wichtigsten Kontrollinstanzen, wenn es um Jugendmedienschutz geht. Daneben gibt es noch die Landesmedienanstalten. Es ist heute hier mit Recht gesagt worden, daß die Kooperation zwischen diesen verschiedenen Einrichtungen sicherlich verbessert werden könnte. Angesichts der Herausforderungen, die es heute gibt, werde ich mich in meiner Tätigkeit als Jugendministerin um eine solche verbesserte Kooperation auch immer wieder bemühen, weil die Jugendlichen und natürlich auch die Eltern nicht fragen, welche Instanz nun gerade für welche Sorte Medium wann zuständig ist, sondern mit Recht erwarten, daß solche Kontrollinstanzen miteinander kooperieren, zusammenarbeiten. Dieses kann verbessert werden.Ich will aber noch einmal sagen, daß seit 1980 die Bundesprüfstelle, die sicherlich nur indizieren kann, wie heute hier gesagt wurde, doch immerhin 2 200 Filme als jugendgefährdend eingestuft hat. 146 Videos waren es allein seit 1992. Dazu kamen 180 indizierte Computerspiele seit 1985. Ich glaube, dies sind doch wirklich bemerkenswerte Ausmaße, die uns noch einmal zeigen, wie viele indizierungsfähige Machwerke auf dem Markt sind.Wir müssen natürlich im Auge behalten — und das erschwert die Arbeit der Bundesprüfstelle sicherlich an vielen Stellen —, daß die technische Entwicklung
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Bundesministerin Dr. Angela Merkelin großem Tempo voranschreitet. Es gibt jetzt in Amerika bereits sogenannte Laser-Video-Disketten. Diese machen es möglich, daß sich der Zuschauer eines Videofilmes über Computer selbst in brutale Handlungen mit einbringen kann. Das verschärft dann diese Vermischung von Realität und Fiktion noch in herausragender Weise. Wir haben Hinweise darauf, daß diese Disketten auch schon zum nächsten Weihnachtsfest in der Bundesrepublik Deutschland erhältlich sein werden. Wir müssen uns auf diese technischen Entwicklungen vorbereiten, damit wir nicht von ihnen beherrscht werden. Dazu muß die Bundesprüfstelle natürlich auch in die Lage versetzt werden.Es gibt eine Reihe von Tricks, mit denen Programmmacher immer wieder versuchen, die bestehenden Regelungen — auch die Rundfunkstaatsverträge — zu umgehen, indem versucht wird, indizierte Teile aus Filmen herauszuschneiden und dann in einer neuen Fassung den Film doch wieder zu senden. Auch dies erschwert sehr die Kontrollmöglichkeiten.Ich möchte an dieser Stelle doch noch sagen, daß ich alle Versuche der Selbstregulierung, der Selbstkontrolle der Medien begrüße. Ich begrüße, daß sich die Verantwortlichen in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten klar gegen Gewalt und Frauen herabwürdigende Darstellungen ausgesprochen haben; aber ich glaube, es gibt niemanden in diesem Land, der für Medien verantwortlich ist, der das Recht hat, sich von der Frage „Wieviel Gewalt gibt es in den Medien?" von vornherein zu verabschieden und zu sagen: Mich geht das nichts an. Ich finde die Diskussion an manchen Stellen schon etwas bemerkenswert; aber ich denke, wir müssen auch vermehrt — das soll heute nicht der Hauptaspekt dieser Debatte sein — darüber nachdenken, wie wir Eltern und Lehrern dabei helfen können, mit den Medien verantwortlich umzugehen und die Kinder so zu erziehen, daß sie nicht von den Medien beherrscht werden. Es geht darum, Medien wie z. B. Computerspiele — so zu kaufen und zu benutzen, daß sie für die Entwicklung der Kinder und der Jugendlichen förderlich sind und nicht etwa die Gewaltbereitschaft unterstützen. Diese Verantwortungsbereitschaft wird aus meiner Sicht auch nicht immer so wahrgenommen, wie ich mir das als Jugendministerin wünsche. Auch hier müssen unsere Anstrengungen fortgesetzt werden.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 12/4195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Innenausschuß vorgeschlagen. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall; dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P.
Reform des Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention
— Drucksache 12/4324 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst unserem Kollegen Friedrich Vogel.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Besonderheit des Antrags, der Ihnen vorliegt, besteht darin, daß der Deutsche Bundestag aufgefordert wird, eine Initiative der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu unterstützen. Ich werde am Schluß dazu noch eine Bemerkung machen.Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat am 6. Oktober 1992 fast einstimmig einen Bericht zur Reform des Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention verabschiedet. Sie hat darin die dringliche Notwendigkeit einer Reform dieses Kontrollmechanismus, der aus dem Ministerkomitee, der Menschenrechtskommission und dem Menschenrechtsgerichtshof besteht, betont. Außerdem empfiehlt die Parlamentarische Versammlung dem Ministerkomitee bestimmte Vorstellungen für diese Reform. Der Kern dieser Empfehlung ist, an Stelle des bisherigen zeitaufwendigen Kontrollmechanismus — ich wiederhole: Ministerkomitee, Menschenrechtskommission, Menschenrechtsgerichtshof — soll nach den Vorstellungen der Parlamentarischen Versammlung lediglich ein Gerichtshof und dieser mit vollzeitbeschäftigten Richtern treten. Wir sprechen vom Single-Court-System in der Sprache des Europarats.Die Entwicklung des Europarates, vor allem die Erhöhung der Zahl der Mitgliedstaaten auf derzeit 26 — es waren schon einmal 27; dadurch, das sich die CSFR aufgelöst hat, sind es 26, es werden aber wohl bald 28 sein; 1950, als die Europäische Menschenrechtskonvention beschlossen wurde, waren es 15 — und die Zunahme der Inanspruchnahme der Menschenrechtsinstitutionen der Europäischen Menschenrechtskonvention, vor allem nach der Eröffnung des Individualzugangs zur Kommission und zum Gerichtshof, hat dazu geführt, daß die Behandlung eines Einzelfalls inzwischen im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre in Anspruch nimmt. Dazu muß man bedenken, daß die Straßburger Institutionen erst angerufen werden können, nachdem der nationale Rechtsweg erschöpft ist, der seinerseits in aller Regel mehrere Jahre dauert. Ein Bürger also, der seine Menschenrechte geltend macht, muß heute ein halbes Leben lang darum kämpfen.Das, meine Damen und Herren, ist unerträglich. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist längst ein Opfer ihres eigenen Erfolges geworden.Die Situation wird sich noch verschlimmern, wenn weitere Staaten in den Europarat aufgenommen wer-
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Friedrich Vogel
den. Man rechnet mit bis zu über 40 Mitgliedstaaten. Erforderlich ist deshalb eine radikale Reform, wie sie von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vorgeschlagen wird.Adressat der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung ist das Ministerkomitee des Europarates, das seit Jahren über eine Reform diskutiert, aber bislang nichts entschieden hat. Auch die hier beantragte Unterstützung richtet sich letztlich an das Ministerkomitee des Europarates. Die Bundesregierung, an die wir uns um Unterstützung wenden, hat eine wichtige Stimme im Ministerkomitee, und Außenminister Kinkel hat ja dankenswerterweise in einem Brief an mich bereits seine Unterstützung der Vorschläge der Parlamentarischen Versammlung zugesagt.Mit großer Befriedigung habe ich auch das gemeinsame Kommuniqué der deutschen Justizministerin und des französischen Justizministers vom 4. Dezember 1992 zur Kenntnis genommen, in dem sich beide für eine baldige und grundlegende Reform und für einen ständig tragenden Gerichtshof unter Verzicht auf die Vorprüfung durch eine Kommission ausgesprochen haben.Nicht der einzige, aber der größte Widerstand gegen diese Reform kommt noch aus der britischen Administration. Ich halte es für gut, dies auch klar zu benennen. Deshalb habe ich die dringende Bitte an die Bundesregierung, die Beratungen über die Reform auf der politischen Ebene des Ministerkomitees zu führen und insbesondere auf möglichst hoher Ebene mit der britischen Regierung über das Reformziel zu reden. Solange Vertreter der Administration diesen Gegenstand behandeln, rechne ich nicht damit, daß es ein Ergebnis gibt. Dies müssen die politisch Verantwortlichen entscheiden, und das ist die Bitte, mit der wir es heute zu tun haben.Wenn die grundlegende Reform nicht kommt — und das kann man unschwer voraussagen —, wird die Qualität des europäischen Menschenrechtsschutzes abnehmen. Dies, meine ich, wäre nicht zu verantworten. Bisher stehen wir mit dem europäischen Menschenrechtsschutz einzig in der Welt da, und dies soll auch so bleiben.Ich habe am Anfang gesagt, daß ich noch einmal auf die Besonderheit dieses Antrages zurückkommen werde, mit dem wir eine Initiative der Parlamentarischen Versammlung des Europarates unterstützen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir daraus eine Übung werden ließen, Initiativen, die von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates kommen, auch hier zu behandeln, und ich kündige jetzt schon an, daß ich einen ähnlichen Antrag zum europäischen Minderheitenschutz einbringen werde.
— Ja, dann sind Sie diesmal schneller gewesen, Herr Kollege Bindig, aber im Anliegen sind wir uns einig.Die Parlamentarische Versammlung hat eine Empfehlung zum Minderheitenschutz verabschiedet, undhier werden wir das gleiche Anliegen in einem Antrag vorbringen.Ich habe zwei Minuten von meiner Redezeit gespart und hoffe, daß sie nicht von anderen beansprucht werden.
Meine Damen und Herren, in dieser mehr öffentlichen Ausschußsitzung — ich glaube, das kann man wohl so sagen — erteile ich als nächstem Redner unserem Kollegen Rudolf Bindig das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wollen wir hoffen, daß es uns gelingt, wenn die Quantität nicht da ist, es auf die Qualität zu konzentrieren.
Das europäische regionale Menschenrechtsschutzsystem bietet bereits derzeit im Vergleich zu den wesentlich schwächeren Instrumenten im UN-System den wichtigsten förmlichen Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte. Das europäische System ist etabliert, es ist anerkannt, und es hat sich in den letzten Jahren auch durchaus bewährt. Allerdings droht dieses System zum Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. Es gibt eine Reihe von Strukturproblemen in diesem System, die von Anfang dort angelegt waren.Es gab bei der Einrichtung des Systems eine Diskussion, ob man mehr ein Verwaltungsverfahren wählen solle oder ein rechtsförmliches Verfahren eines Gerichtshofes. Man hat sich damals für ein Mischsystem entschieden. Es gab eine Reihe Länder, die Bedenken hatten, die Urteile eines Gerichtshofes anzuerkennen. Sie haben gesagt, daß sie bereit seien, Verwaltungsverfahren anzuerkennen, und sie haben vor allen Dingen auch gehofft, daß bestimmte Verfahren vertraulich behandelt werden könnten. Es wurde deshalb ein Mischsystem geschaffen, in dem Einzelfälle also zunächst in ein Verwaltungsverfahren hineingehen und nur unter bestimmten Regeln an den Gerichtshof weitergegeben werden; sie wechseln damit aus einem vertraulichen in ein öffentliches Verfahren. Zwischen den beiden Verfahren hat es immer dadurch eine Brücke gegeben, daß durch fakultative Erklärungen gesagt werden konnte, man akzeptiere den rechtsförmlichen Weg. Im Laufe der Gültigkeit des europäischen Systems haben immer mehr Staaten diese Bereitschaftserklärung abgegeben. Das war eine gute Methode, Staaten, die zunächst noch gezögert haben, allmählich an den Rechtsweg und das rechtsförmliche Verfahren heranzuführen.Trotz oder gerade wegen der vorhandenen Akzeptanz des Menschenrechtsschutzsystems gibt es jetzt Probleme. Es staut sich eine Vielzahl von Fällen auf. Im Dezember 1991 gab es 2 433 anhängige Verfahren. 1 670 davon waren noch nicht einmal von der Kommission behandelt worden. Die Zahl der Fälle, die an den Gerichtshof überwiesen werden, hat erheblich zugenommen. Es waren im Jahre 1991 345 Fälle. In den Jahren vorher bewegte sich das immer nur in der Größenordnung von 20 bis 30 Fällen. Das zeigt, daß
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Rudolf Bindigmit dem Bekanntwerden dieses Verfahrens dann auch die Zahl so zugenommen hat, daß es zu dem Stau gekommen ist, den es jetzt zu überwinden gilt.Wenn man bedenkt, daß sich demnächst noch zwei Zusatzprotokolle zur Menschenrechtskonvention auswirken werden, die es möglich machen, weitere Fälle vor den Gerichtshof zu bringen, nämlich das Protokoll, daß jetzt auch der Beschwerdeführer vor den Gerichtshof gehen kann — bisher konnten es nur der betroffene Staat oder die Menschenrechtskommission —, wird der Stau noch größer werden.Die Zahl der Europaratsmitglieder wird zunehmen, die Zahl der Fälle wird überproportional zur Bevölkerung steigen, weil in den neuen Mitgliedsländern dieses ein wichtiges Element zur Einführung der Grundrechte ist. Außerdem sollen die Verfahren ja auch für Nichtmitgliedsländer geöffnet werden.Zwei Wege wären denkbar, das derzeitige Verfahren zu reformieren. Der eine Weg wäre, zu versuchen, das bestehende System noch effizienter zu machen, Kammern zu bilden, was ja schon versucht worden ist, um nicht alle immer in die Beratung einzubeziehen. Der zweite Weg wäre eine grundsätzliche Reform, indem das bisherige zweistufige Verfahren aufgegeben wird und indem zu dem einen rechtsförmlichen Verfahren eines einheitlichen und einzigen Gerichtshofes übergegangen wird, der die jetzige Kommission und den Gerichtshof für Menschenrechte ersetzen soll. Dieser Gerichtshof müßte dann mit einigen Kammern arbeiten, um effektiv zu sein, wobei das Interesse des jeweils betroffenen Staates dadurch berücksichtigt werden kann, daß ein Mitglied des betroffenen Staates in dieser Kammer sitzt.Diese Reform wird von einer großen Mehrheit der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und auch von einer großen Mehrheit dieses Hauses getragen. Wir alle sind der Auffassung, daß die Reform in dieser Richtung in Gang gebracht werden sollte. Deshalb hat die Bundesregierung starken Rückenwind, wenn sie sich in dieser Frage engagiert und in diesem Sinne im Ministerrat tätig wird.Wir haben ja erlebt, daß der Ministerrat und auch die Kommission aus sich heraus nicht in der Lage waren, eine solche Reform in Gang zu bringen. Es bedurfte der parlamentarischen Initiative im Europarat, und hier im Bundestag verstehen wir es als eine Aufforderung an die Bundesregierung, in diesem Sinne tätig zu werden.Ich meine, daß über diese Reform, über die wir hier diskutieren, hinaus noch eine weitere Reformüberlegung in diesem Mechanismus anstünde. Ich erinnere an die Hürde, daß ein Fall erst auf die europäische Ebene kommt, wenn der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft worden ist. Diese Hürde bedürfte wohl auch einmal einer Diskussion.Es gibt eine Reihe von Ländern, in denen die innerstaatlichen Verfahren so wenig gesichert sind, daß kaum Fälle auf die europäische Ebene gelangen. Gerade diese Länder sind natürlich die problemreichsten Länder; ich denke hier vor allem an die Türkei.Es ist doch bemerkenswert, daß wir aus diesem Land immer wieder Berichte über erhebliche Menschenrechtsverletzungen haben. Die internationale Kommission gegen Folter hat jetzt einen erschreckenden Bericht vorgelegt. Trotzdem kommen aus diesem Land sehr wenig Fälle vor die europäischen Instanzen. Dies zeigt, daß auch hier eine Notwendigkeit besteht, weiter über eine Reform auch des Zugangsmechanismus nachzudenken. Auch wenn das im Moment noch nicht Gegenstand unseres Antrags ist, gilt es dieses hier einzubringen.Wie könnte der Zeitplan aussehen, wenn effektiv an dieser Frage auf europäischer Ebene gearbeitet wird? Es müßte gelingen, noch dieses Jahr das Zusatzprotokoll soweit voranzubringen, daß es im Herbst bei dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europaratsmitglieder in Wien fertig ausgearbeitet vorliegt.
Die Ratifizierung könnte nächstes Jahr erfolgen. Das Protokoll könnte, wenn ich einmal von einem optimalen Zeitplan ausgehe, 1995 in Kraft treten. Wenn es dann gelingt, alle neuen Fälle gleich in diesem neuen Gremium zu behandeln, also in dieses rechtsförmige Verfahren einzubringen, bestünde die Möglichkeit, in den nächsten Jahren den Berg der aufgestauten Altfälle abzuarbeiten.Wir können nur hoffen, daß die Hindernisse, die es in anderen Staaten gegen die Reform der Kontrollmechanismen noch gibt, überwunden werden und daß es der Bundesregierung durch aktives Tätigwerden im Ministerrat gelingt, diese Vorschläge voranzubringen. Der ganze Deutsche Bundestag wenigstens unterstützt das, was von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausgearbeitet und vorgelegt worden ist.
Frau Kollegin Dr. Cornelia von Teichman, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieviel Divisionen hat der Europarat? Das könnte man in Anlehnung an das bekannte Wort Stalins über den Papst fragen. Die Antwort „keine" würde hier wie dort mit ihrem scheinbaren Realismus über die Realität hinwegtäuschen. Denn die Arbeit des Europarates für die Menschenrechte hat in den letzten 40 Jahren beachtliche Erfolge erzielt, auch ohne jede militärische oder sonstige Machtentfaltung. Die Verwirklichung der Menschenrechte in den Mitgliedstaaten ist einer ständigen, präzisen und für die betroffenen Staaten oftmals peinlichen Kontrolle unterworfen worden — mit nachhaltigem Effekt nicht nur bei denen, die vorübergehend vom Pfade der Tugend abgewichen sind und sich im Europarat vor aller Welt an den Pranger gestellt sahen — ich erinnere an die schlimme Zeit der Obristendiktatur in Griechenland —, sondern auch mit nachhaltigem Effekt bei den klassischen Demokratien des Westens, die sich oft genug durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben belehren lassen müssen, daß es im einzelnen noch
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Dr. Cornelia von Teichmanhaperte mit der Einhaltung der Konvention. Dem Europarat und seinen Institutionen gebührt Dank für diese Arbeit,
deren Wirkung ja übrigens weit über Europa hinausreicht.Unser heutiger Antrag soll dazu dienen, diese Arbeit noch wirkungsvoller zu gestalten; denn der Gerichtshof ist in eine Art Erfolgsfalle geraten, weil er immer wieder bewiesen hat, daß es sich lohnt, ihn anzurufen. Deswegen geschieht das auch immer häufiger — mit dem Ergebnis, daß der Gerichtshof heute total überlastet ist und an seinem eigenen Erfolg zu ersticken droht.Dem wollen wir abhelfen durch die Schaffung eines einzigen, mit vollzeitbeschäftigten Richtern besetzten Gerichtshofs an Stelle des jetzigen doppelgleisigen Systems von Kommission und Gerichtshof.Der Gerichtshof würde dadurch nicht nur in den Stand versetzt, seine jetzt schon vorhandene große Arbeitsbelastung zu bewältigen, sondern auch, sich den gewaltigen Aufgaben zu stellen, die im künftigen Europa auf ihn warten.Zwar hat die friedliche Revolution der Jahre 1989/90 große Fortschritte bei der Durchsetzung der Menschenrechte in Europa gebracht, und wir Deutschen — das möchte ich an dieser Stelle einmal betonen — haben Grund, stolz darauf zu sein, daß unsere Mitbürger in den neuen Bundesländern an der Spitze dieser Revolution gestanden haben. Das wollen wir doch über all dem Hickhack und Kleinklein des deutschen Einigungsprozesses nicht vergessen!
Aber diese historische Rolle verpflichtet auch. Sie verpflichtet zur Wachsamkeit gegenüber den vielfältigen Gefahren, die gerade in der veränderten politischen Landschaft Europas den Menschenrechten drohen, insbesondere den Rechten der Minderheiten, der Flüchtlinge, der Frauen und der Behinderten, und zwar nicht nur in manchen Staaten des ehemaligen Ostblocks, wo nationalistische und rassistische Kräfte das friedliche Zusammenleben der Völker gefährden, sondern auch bei uns, wo die schändlichen ausländerfeindlichen Übergriffe der letzten Monate für viele im In- und Ausland die Frage wieder aufgeworfen haben, ob die Deutschen denn gar nichts dazugelernt haben.Hunderttausende haben dagegen ein Zeichen gesetzt, durch Lichterketten und friedliche Demonstrationen aller Art. Es waren keine Berufsdemonstranten und Dauerprotestierer, sondern ganz normale Mitbürger, von denen die meisten wahrscheinlich zum erstenmal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen haben. Auch wenn jetzt mancherorts versucht wird, diese Aktionen ins Lächerliche zu ziehen — ich sage: Sie haben bewirkt, daß die Stimmung in diesem Lande wieder umgeschlagen ist und die Rechtsradikalen gemerkt haben, daß ihre dummen und menschenverachtenden Sprüche keineswegs wieder salonfähig geworden sind. Auch für unsere Freunde im Ausland ist das ein wichtiges Zeichen gewesen.Ich sehe auch unsere Debatte heute als ein solches Zeichen. Es steht Deutschland gut an, bei der Durchsetzung der Menschenrechte in Europa und der Stärkung der Institutionen des Europarates eine besonders aktive Rolle zu spielen: vor dem Hintergrund unserer Geschichte, deren schrecklichstes Kapitel vor 60 Jahren begann, vor dem Hintergrund der friedlichen Revolution in Ostdeutschland, die uns Verpflichtung sein sollte zur Unterstützung der Freiheit und Menschenrechte überall in Europa, vor dem Hintergrund der jüngsten menschenrechtswidrigen Übergriffe in unserem Lande.Der Ihnen vorliegende Antrag bekundet das fortdauernde tiefe Bekenntnis des Deutschen Bundestages zur Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Durchsetzung. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag.Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Gerd Poppe, Sie sind der nächste Redner. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Monaten wurde an dieser Stelle die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum Zivilpakt der Vereinten Nationen beschlossen. Vorausgegangen war dem ein jahrzehntelanges Lavieren der jeweiligen Bundesregierungen und Parlamentsmehrheiten. Häufig geschah dies mit dem Argument, mit einem minder qualifizierten Individualbeschwerdeweg auf UNO-Ebene könnte der anerkannt hohe Standard der entsprechenden Regelungen im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgehöhlt und unterlaufen werden.Auch während der Ratifizierungsdebatte im Oktober wurde von allen Beteiligten immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig die Bewahrung und der Ausbau eines überzeugenden Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene sei — gerade jetzt, wo sich die meisten der in Ost- und Mitteleuropa entstehenden jungen Demokratien anschicken, sich auf Europa und seine Institutionen zuzubewegen.Inzwischen wird die Wirksamkeit der Kontrollmechanismen und damit die Überzeugungskraft der Europäischen Menschenrechtskonvention durch ebendiese, an sich erfreuliche Entwicklung in Frage gestellt.Der der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung zugrunde liegende Bericht des Menschenrechtskomitees des Europarats — Berichterstatter war damals unser Kollege Vogel — läßt überdeutlich werden, wie belastet die bestehenden Strukturen — im wesentlichen Kommission und Gerichtshof — sind, insbesondere seit die Zahl der Mitgliedsländer des Europarats auf zur Zeit 26 gestiegen ist.Die durchschnittliche Dauer der insgesamt rund 2 400 anhängigen Verfahren ist mittlerweile auf über sechs Jahre angewachsen. Dabei sind über 1 500 dieser Verfahren noch nicht einmal auf der Ebene der Kommission angekommen, wo erfahrungsgemäß ein
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Gerd Poppegroßer Prozentsatz der Beschwerden endgültig beschieden wird.Und es werden täglich mehr. Einige der neuen Mitgliedsländer haben die Europäische Menschenrechtskonvention noch nicht ratifiziert. Es ist zu erwarten, daß sich — nach erfolgter Ratifizierung — die Anzahl der Beschwerden noch einmal deutlich erhöhen wird, gerade weil in diesen Ländern neu erkannte Menschenrechtsgefährdungen wie z. B. mangelnder Schutz von Minderheitenrechten besonders großes Gewicht haben.Die personell und materiell unzureichend ausgestattete Menschenrechtskommission kann ihren wachsenden Aufgaben nicht mehr gerecht werden und verkommt damit zusehends zu einer Klagemauer, die immer länger wird.Die Reformvorschläge liegen mit der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung in dem heute hier debattierten Antrag klar auf dem Tisch. Natürlich wird ein einheitlicher Gerichtshof mit vollzeitbeschäftigten Richtern und Mitarbeitern arbeiten müssen, ohne die an eine Bewältigung der sprunghaft wachsenden Anforderungen einfach nicht mehr zu denken ist. Nur schnell muß es geschehen.Selbst wenn alle Konventionsmitglieder jetzt handeln und die vorgeschlagenen Verbesserungen beschließen, wird es vielleicht noch bis zum Jahr 2000 dauern — ich bin nicht ganz so optimistisch wie Kollege Bindig —, bis die unvermeidliche Übergangsphase abgeschlossen ist.Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinwirken — und dies auch vor allem durch eine überzeugende aktive Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland —, daß das bislang bewährte europäische System zum Schutze der Menschenrechte bis dahin keinen Infarkt erleidet und an sich selbst erstickt, sondern schleunigst reformiert und ausgebaut wird.
Frau Kollegin Angela Stachowa, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Obwohl mir nur drei Minuten Redezeit zur Verfügung stehen, gestatten Sie mir an dieser Stelle in eigener Sache eine kurze Bemerkung zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages bzw. zum Umgang mit dieser Geschäftsordnung. Darin heißt es in § 78 Abs. 5, daß „die Beratungen der Vorlagen frühestens am dritten Tage nach Verteilung der Drucksachen" beginnen. Jene, um die es jetzt geht, erreichte mich nach mehrmaligen dringlichen Anfragen bei der Bundestagsverwaltung per Fax gestern abend nach 19 Uhr.
Für diese „Abendpost" dem Absender trotzdem noch meinen Dank.
Dies erlebe ich als Mitglied der Gruppe PDS/Linke
Liste, wenn wir nicht am Einbringen der Vorlage
beteiligt sind, nicht zum erstenmal. Es mag dringende Fälle geben, wo Abweichungen von § 78 Abs. 5 nötig sind. Ich glaube nicht, daß es in diesem Fall dringlich und nötig war.
Ich möchte hier Schlichtweg um Fairneß und Kollegialität bitten.
Ich stimme der Beschlußvorlage zu, möchte aber heute nicht dazu sprechen.
Meine Damen und Herren, als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs sagen, daß die Bundesregierung den hier vorliegenden Antrag der beiden Regierungsfraktionen ausdrücklich begrüßt. Die seit langen Jahren steigende Zahl der Beschwerden in Straßburg — allein eine Verdreifachung in den letzten 15 Jahren — hat zu einer unzumutbaren Verlängerung der Verfahrensdauer geführt.
Durch den möglichen Beitritt weiterer Staaten zu dieser Konvention halten Experten eine weitere Verdreifachung für denkbar. Die Europäische Menschenrechtskonvention, ursprünglich für zehn bis zwölf Staaten konzipiert, droht somit zum Opfer des eigenen Erfolgs zu werden.
Die Bundesregierung hält die Europäische Menschenrechteskommission und den Europäischen Gerichtshof in Straßburg für ganz wesentliche Institutionen. Sie sind das einzige internationale Kontrollsystem, das es Einzelpersonen ermöglicht, vor einem internationalen Gericht Handlungen oder Unterlassungen ihres eigenen Staates im Hinblick auf eine internationale Menschenrechtskonvention überprüfen zu lassen. Dieses System hat sich bewährt und in über 40 Jahren das Vertrauen der Bürger erworben.
Nunmehr wird die Konvention eine wichtige zusätzliche Rolle spielen, und zwar beim Schutz der Menschenrechte in den bereits beigetretenen und beitrittswilligen Staaten in Mittel- und Osteuropa. Wir haben daher erst recht die Verpflichtung, die Funktionsfähigkeit dieses wichtigen menschenrechtlichen Instrumentariums zu erhalten.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?
Herr Duve, das ist ja furchtbar nett. Das Problem ist nur: Ich habe jetzt schon drei Minuten von fünf Minuten, die mir zugeteilt wurden, verbraucht.
Ich werde dafür kämpfen, daß Ihnen diese Frageminute nicht angerechnet wird, Herr Staatsminister.
Bitte, Kollege Duve.
Herr Staatsminister, Sie haben das Engagement der Bundesregierung für diesen Ge-
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Freimut Duverichtshof dargestellt. Ich möchte Sie fragen: Wie stark ist das Engagement der Bundesregierung für den von allen Seiten immer wieder geforderten und diskutierten Strafgerichtsfhof der UNO in Sachen Völkermordkonvention der Vereinten Nationen?
Das ist heute eigentlich nicht das Thema, aber Sie wissen, daß der auf einen Vorschlag des früheren Außenministers Genscher zurückging. Insofern kann das Engagement der Bundesregierung gar nicht stark genug sein.
Seit Jahren werden im Europarat in Straßburg zwei Reformmodelle diskutiert, nämlich das von der Bundesregierung unterstützte Fusionsmodell, bei dem Kommission und Gerichtshof zu einem einzigen Gericht vereint werden sollen, sowie ein von Schweden und den Niederlanden favorisiertes Modell, nach dem das Kontrollsystem zu einem Gerichtshof mit zwei Instanzen ausgebaut werden soll.
Die Bundesregierung setzt sich nachhaltig für das Fusionsmodell ein. Lassen Sie mich noch einmal kurz die wichtigsten Argumente zusammenfassen.
Erstens. Die internationale Menschenrechtskontrolle ist subsidiär gegenüber dem nationalen Rechtsschutz. Wir brauchen daher nicht zwei internationale Instanzen, nachdem die Einzelfälle national bereits von mehreren Gerichten überprüft worden sind.
Zweitens. Die internationale Kontrolle muß schnell und effektiv sein. Ein einziger Gerichtshof ermöglicht kürzere Verfahren als zwei Instanzen.
Drittens. Eine Instanz ist für den Beschwerdeführer kostengünstiger und auch insgesamt finanziell tragbarer.
Das Fusionsmodell wird von etwa der Hälfte der Mitgliedstaaten des Europarates befürwortet, damn-ter Österreich, Schweiz, Frankreich. Dagegen gibt es eine größere Zahl von Staaten — dazu zählen Großbritannien, Schweden, die Niederlande und Italien —, die gegen eine Fusion sind. Sie bevorzugen die Umwandlung zu einem Gericht mit zwei Instanzen. Einige haben sich allerdings noch nicht festgelegt. Im Expertenausschuß des Europarates war eine Einigung bislang nicht zu erzielen.
— Das haben wir allerdings auch in der letzten Sitzung des Ministerrates feststellen können, in der ich noch einmal für unser Modell eingetreten bin.
Das Auswärtige Amt hat bei einer Reihe von Mitgliedstaaten des Europarates demarchiert, um für das Fusionsmodell zu werben. Die Antworten sind unterschiedlich, aber durchaus ermutigend. In der vergangenen Woche haben Konsultationen zwischen den Leitern der Rechtsabteilungen des britischen Außenministeriums und des Auswärtigen Amtes in Bonn ausschließlich zu diesem Thema stattgefunden.
Bei all unseren Bemühungen dürfen wir allerdings nicht außer acht lassen, daß eine sinnvolle Reform nur im Einvernehmen aller 26 Vertragspartner möglich ist. Eine Reform erfordert vor allem auch eine Änderung der Konvention einschließlich Ratifizierung durch sämtliche nationalen Parlamente. Daß dies kein einfaches Unterfangen sein wird, brauche ich Ihnen nicht zu erklären.
Die Diskussion wird also mühsam bleiben. Wir müssen in diesem Jahr — ich bin mit Ihnen völlig einig, Herr Bindig — zumindest sicherstellen, daß sich alle Staaten wenigstens auf die Grundzüge einer Reform einigen. Dies sollte spätestens bis zum Wiener Europagipfel der Regierungschefs im Herbst dieses Jahres erreicht werden. Er hätte dann zumindest eine konkrete Beschlußlage. Wir hatten ja gegen die Konferenz an sich Bedenken, denn wir haben gesagt: Es müssen ja dann auch Ergebnisse zustande kommen. — Hier wäre ein solches Ergebnis. — Wir müssen uns aber leider darüber im klaren sein, daß bis zu einem endgültigen Inkrafttreten einer solchen Reform leider noch Jahre vergehen werden.
Die Bundesregierung wird sich jedenfalls — seien Sie sicher — mit Engagement für eine Reform einsetzen. Sie wird dem Bundestag, wie in der Entschließung erbeten, regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen berichten.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren; der Einwand der Frau Kollegin Stachowa ist berechtigt. Wir haben heute morgen zwar beschlossen, daß wir von den Regelungen für die Beratung von Vorlagen abweichen, aber nur für die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b. Ich gehe trotzdem davon aus, daß Sie nicht verhindern wollen, daß wir die Beratungen nach dieser ersten Lesung in den Ausschüssen in Gang setzen.
Wir werden die Angelegenheit im Ältestenrat zur Sprache bringen, damit Ihre Chance bei den weiteren Beratungen gewahrt bleibt.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/4324 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? —
Die Frage ist, ob wir den Antrag, da er von allen unterstützt wird, hier nicht gleich verabschieden können. Ich möchte diesen Antrag stellen, Herr Präsident.
Dann müssen wir Frau Stachowa fragen, ob sie mit dieser Vorgehensweise einverstanden ist.
Ich habe, glaube ich, gesagt: Ich stimme der Beschlußvorlage
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Angela Stachowazu. Ich möchte auf Grund der Tatsachen, die hier vorliegen, nur nicht dazu sprechen. Ist das eindeutig?
Ja, danke.
Meine Damen und Herren, wenn Einverständnis herrscht — ich sehe nicht, daß jemand widerspricht —, dann können wir über den vorliegenden Antrag so abstimmen. Wer stimmt diesem Antrag zu? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dieser Antrag ist dann einstimmig verabschiedet.
Meine Damen und Herren ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans Büchler , Freimut Duve, Arne Börnsen (Ritterhude), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Interesse an der deutschen Sprache in den
Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas
— Drucksachen 12/2242, 12/2780 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Gert Weisskirchen (Wiesloch), Karsten D. Voigt (Frankfurt), Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den mittel- und osteuropäischen Staaten in Bildung, Wissenschaft und Kultur
— Drucksachen 12/3368, 12/4159 —
Berichterstattung: Abgeordnete Werner Ringkamp
Dr. Peter Eckardt
Dirk Hansen
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Freimut Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Damen und Herren auf der Besuchertribüne! Da wir so wenige sind, beziehe ich Sie in unsere Beratungen ein.
Herr Kollege Duve, wir können leider unsere zahlreichen Gäste auf der Besuchertribüne nicht in die Beratungen einbeziehen. Das ist nicht möglich.
— Und sie können keine Zwischenfragen stellen.
Ich danke für den völlig korrekten Hinweis, Herr Präsident.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Muttersprache eint uns rascher und leichter als das Vaterland. Bei unserem geliebten Deutsch sind wir uns auf allen Seiten des Hauses rasch einig. Es ist wunderbar. Man kann es leider oft verhunzen. Unser Umgang mit ihm hier im Parlament ist oft umgekehrt proportional der Wertschätzung, die wir unserer deutschen Muttersprache entgegenbringen.Allzu leichtfertig mißhandeln wir, was wir lieben. Stellen Sie sich vor, der Name unserer Einrichtung Parlament — das Wort hat ja etwas mit der Sprache zu tun — wäre seinerzeit eingedeutscht worden, und wir würden „Sprechament" heißen und wären danach „Sprechamentarier" und hätten lauter „sprechamentarische Anfragen" und „sprechamentarische Staatssekretäre". Um wieviel sorgfältiger würden wir mit dem kostbaren Gut umgehen, dessen wohltuende Wärme uns eint und dessen verletzende Schärfe uns oft trennt.Anders als beim Vaterland haben wir mit der Muttersprache keine Grenzprobleme. Wir können uns die Muttersprachen anderer aneignen, ohne sie jemandem wegzunehmen. Und umgekehrt können sich andere unserer Sprache bemächtigen, ohne daß wir uns entmachtet vorkommen müssen. Unsere Sprache ist ein kostbares Gut, das trotz aller Widerstandskraft sorgsam behandelt werden will.Fast 100 Millionen Menschen in aller Welt sprechen Deutsch, die meisten davon in Deutschland. Derzeit lernen in aller Welt 18 Millionen Menschen Deutsch außerhalb Deutschlands, davon 12 Millionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Es ist eine große Aufgabe und eine große Verantwortung. Wir finden nicht, daß Aufgabe und Verantwortung von der Bundesregierung in jedem Moment der letzten drei Jahre nach Wegfall des Eisernen Vorhangs angemessen gewürdigt worden sind. Aber wir verkennen nicht die ungeheuren Anstrengungen der letzten Jahre und wollen die damit Befaßten in der Bundesregierung ausdrücklich loben. Aber ich erinnere mich an die Haushaltsdebatten im Jahre 1991, als erst der Auswärtige Ausschuß das Auswärtige Amt hat antreiben müssen, um ein Konzept vorzulegen und mehr zu tun als bisher. Wichtig ist, daß wir uns in einigen Grundfragen einig bleiben, denn wir bewegen uns auf sensiblem Gelände.Erstens. Die Förderung der deutschen Sprache ist kein Mittel irgendwelcher Machtpolitik. Wir wollen das einander Verstehen und Verständigen erleichtern und natürlich auch das Verstehen und Verständigen zwischen Fraktionsmitgliedern, Regierung und Parlament, Frau Kollegin, nicht erschweren.Zweitens. Wir empfinden uns nicht als Teilnehmer einer Sprach- und Kulturolympiade im Wettbewerb mit anderen europäischen Freunden.
Im Gegenteil. Wir würden uns freuen, wenn wir eines Tages gemeinsam mit Franzosen, Italienern und Engländern Sprachschulen in Osteuropa fördern könnten, so daß das Gemeinsame des bisherigen Westeuropa stärker als ein Kulturwettbewerb zum Ausdruck kommt.
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12104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Freimut DuveDrittens. Wir sind skeptisch, ob die oft salopp formulierte Vermutung stimmt, Sprachexport fördere den Wirtschaftsexport. Die Japaner und Koreaner hätten auf dem Weltmarkt keine Chancen. Im Gegenteil. Gerade die Exporteure dieser beiden Länder wissen genau, daß ihr Export wenig Chancen hätte, wenn sie ihrerseits nicht andere Sprachen erlernen würden. Genau das war bisher auch die Stärke der deutschen Wirtschaft. Da wird häufig etwas salopp formuliert. Also: kein Sprachexport, sondern Mitwirkung am Knüpfen eines gesamteuropäischen Kulturnetzes, das in diesem 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise immer wieder zerrissen und zerfetzt wurde.Ich will besonders das Programm, das der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit Unterstützung des Parlaments aufgestellt hat, erwähnen. Dieses Programm ist von außerordentlicher Bedeutung, denn da geht es auch um die Mittel der Kulturverständigung. Es geht um Bücher. Es geht um Programme für das Loch, das nach dem Ausfall der DDR-Buchlieferungen entstanden war. Ich finde dieses Programm hervorragend und freue mich auch, daß der Börsenverein des Deutschen Buchhandels Vertreter zu dieser Debatte heute geschickt hat.
Herr Kollege Duve, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schloten?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Duve, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Schließung von Bibliotheken von Goethe-Instituten im Ausland durch die Bundesregierung?
Ich habe in meiner Eigenschaft als Mitglied der Versammlung des Goethe-Institutes diese Maßnahme sehr scharf kritisiert, gemeinsam mit meinem hier anwesenden Kollegen Dr. Köhler von der CDU.
Wir werden dieses hier auch im Parlament zur Sprache bringen. Es geht nicht an, daß es künftig GoetheInstitute ohne Bibliotheken gibt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Köhler? — Bitte.
Herr Kollege Duve, könnten Sie, da wir gemeinsam fechten, den Kollegen Schloten darüber aufklären, daß diese Schließung nicht auf Beschlüsse der Bundesregierung, sondern auf den Bundesrechnungshof, den Rechnungsprüfungsausschuß und andere parlamentarische Gremien zurückzuführen ist?
Herr Kollege Dr. Köhler, ich habe nicht die Zeit, um die wirklichen Hintergründe
dieser angeblichen Rechnungshof- und Rechnungsprüfungsausschußentscheidung und das wirkliche Interesse mancher Beteiligter, auch in den hier zur Rede stehenden Institutionen, an dieser Entscheidung darzustellen. Ich bräuchte dazu eine halbe Stunde. Aber ich bin der Sache auf der Spur.
Zum Schluß möchte ich sagen: Liebe Kollegen, wir haben unsere Große Anfrage mit Bedacht „Das Interesse an der deutschen Sprache in den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas" genannt. Wir haben nicht vom Bedarf gesprochen. In der Antwort wird immer vom Bedarf gesprochen. Ich bin übrigens — das möchte ich hier ausdrücklich sagen — unserem Kollegen Hans Büchler und seinem Mitarbeiter sehr dankbar, der die wichtige Vorarbeit zum Erstentwurf dieser Großen Anfrage gemacht hat. Ich möchte mit diesem Dank an meinen Kollegen, der leider heute nicht anwesend sein kann, meine Rede beenden und mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit bedanken, die Sie ihr gezollt haben.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Volkmar Köhler.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Freimuth Duve hat eben die Bundesregierung gelobt und getadelt. Ich möchte die SPD-Fraktion loben, daß sie diese Große Anfrage gestellt hat, und ihr schwaches Gedächtnis tadeln, denn vor gerade eben drei Jahren haben namhafte, diesem Parlament aber nicht mehr angehörende Mitglieder dieser Fraktion den Beschlußempfehlungen im Auswärtigen Ausschuß betreffend eine verstärkte Förderung der deutschen Sprache aus der Furcht vor Kulturimperialismus und Sprachimperialismus nicht zustimmen können. Möglicherweise sind wir auf dem Weg zur Erkenntnis, daß es hier gar nicht um unsere Befindlichkeit geht, sondern um eine Nachfragesituation auf der Welt, die wir gar nicht erzeugt haben, die da ist und auf die wir intelligente und wirksame Antworten finden müssen. Das, was in dieser Anfrage gefragt ist, fördert nicht alles zutage, über was wir hier reden müssen, sondern eigentlich nur den Teil, der sich der unmittelbaren Unterstützung durch die Bundesrepublik und durch die entsprechend verantwortlichen Stellen der Regierung und der Mittlerorganisationen erfreut.In Wahrheit ist das, was in der Frage der deutschen Sprache weltweit geschieht, noch vielmehr, und entsprechend unklar ist auch die Zahlenbasis. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen — ich beziehe mich auf die Studien von Professor Glück von der Universität Bamberg — werden allein 2,5 Millionen Schüler in der Europäischen Gemeinschaft von 30 500 Deutschlehrern in der deutschen Sprache unterrichtet — interessanterweise eine Zahl, die sich durch eine gewisse Stagnation auszeichnet. Für Osteuropa und
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Dr. Volkmar Köhler
die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gehen die gleichen Schätzungen — dabei ist allerdings Vollständigkeit nicht gegeben — von 73 000 Lehrern und 13,2 Millionen Schülern aus. Bisher war eine gängige Zahl, daß wir bis 1989 als Bundesrepublik 10,2 Millionen Schüler auf der Welt, die Deutsch als erste Fremdsprache lernten, zu betreuen hatten. Nun liegt diese Zahl erheblich über 20 Millionen.Noch wichtiger ist dabei aber die enorme Dynamik, die in diesem Feld zu beobachten ist und uns täglich vor neue Aufgaben stellt.In den Grundschulen der Tschechoslowakei haben im Schuljahr 1989/90 50 % der Schüler Deutsch als erste Fremdsprache gewählt. Auf 40 Studienplätze für Germanistik an der Prager Universität bewarben sich 1 000 Interessenten. In Polen sind bis Anfang 1992 20 000 Stellen von Russischlehrern gestrichen worden. 6 000 dieser Lehrer sollen künftig eine westliche Sprache unterrichten. Nach amtlichen Angaben fehlen in Polen 10 000 bis 12 000 Deutschlehrer, in der bisherigen Tschechoslowakei 8 000, in Ungarn 6 000.
Dies setzen wir einmal in Relation zu der Zahl von 150 Programmlehrern, die von den Bundesländern entsandt worden sind, und der Zahl von weiteren 150 solcher Lehrer, die vom Bund entsandt worden sind — die Zahl steigt jetzt allerdings —, um zu zeigen, wie gewaltig die Dimension des Bedarfs ist und wie wenig wir leider tun können.Zur Pflege des Deutschen geschieht auf der Welt unendlich viel. Wenn wir eine adäquate Bezahlung leisten müßten, meine Damen und Herren, würden uns wirklich die Augen übergehen.Was wir für den sprachlichen Bereich beim Goetheinstitut, beim DAAD, bei den deutschen Auslandsschulen usw. aufwenden, beziffert sich auf wenig mehr als eine halbe Milliarde DM. Die knapp 200 000 Deutschlehrer, die es im nichtdeutschen Sprachraum gibt, würden schon bei einem Jahresdurchschnittsgehalt von 18 000 DM 3,6 Milliarden DM kosten. Das ist das Dreifache des gesamten Haushalts für auswärtige Kulturpolitik. Würden sie wie deutsche Studienräte bezahlt, dann wären es 15 Milliarden DM. Von den gesamten Sachkosten habe ich dabei überhaupt noch nicht gesprochen.Wozu — darüber hat Kollege Duve soeben ja auch nachgedacht — dient dies alles? Was ist der Zweck? Inwieweit ist es kulturelles Geschehen? Inwieweit ist es wirtschaftliches Interesse? — Nun ist die Sprache zweifellos ein ganz entscheidender Teil des Humankapitals, aber natürlich auch ein ganz wichtiges Kommunikationsmittel bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Die Beispiele, die Sie gewählt haben, nämlich Korea und Japan, ziehen hier nur zum Teil.Ich halte die Diskussion, die an manchen deutschen Instituten geführt wird, nämlich darüber, ob Sprache zu einem ganz überwiegenden Prozentsatz der Übermittlung von Kultur zu dienen habe oder wozu sie eigentlich diene, für eine äußerst künstliche Diskussion. Was machen wir eigentlich mit einem jungenMenschen, der Deutsch erlernt, weil er Rilke lesen will, und dann plötzlich in die Fallstricke des Kapitals gerät, weil ihm jemand anbietet, sein Deutsch auch für wirtschaftliche Zwecke zu nutzen, und er schwach genug ist, es zu tun, und, verführt vom Mammon, diesen Spuren folgt? Werden wir ihn zur Strafe von den Einladungslisten des Goethe-Instituts streichen wollen? — Es ist lächerlich, das, was ein Mensch mit erworbenen Fähigkeiten tut, so vorplanen zu wollen und ihn so vereinnahmen zu wollen.Die deutsche Sprache steht, wie wir inzwischen wissen, in der Interessensskala im allgemeinen weltweit an zweiter Stelle, und zwar nach dem Englischen. Das gilt übrigens auch z. B. für die sprachlichen Anforderungen, die bei Stellenausschreibungen der Wirtschaft in der EG gestellt werden. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß wir beim Englischen eben nicht nur vom Vereinigten Königreich sprechen, sondern auch von Australien, von Kanada, von den Vereinigten Staaten usw. Aber Deutsch steht deutlich an zweiter Stelle, und das ist eine ungeheure Chance und Aufgabe, die uns in Zukunft noch viel Mühe machen wird; denn der Aufwuchs der deutschen Auslandsschulen, vor allem im Raum östlich der Oder, steht uns ja noch bevor und ist im Etat überhaupt noch nicht entscheidend wirksam geworden. Da sind es bisher die Stipendien, da sind es die Goethe-Institute. — Ich glaube, daß wir eine Menge mehr tun müssen.Nach dem gestrigen Gespräch des Unterausschusses für auswärtige Kulturpolitik mit der Kultusministerkonferenz möchte ich Dank sagen und wirklich mit Bewunderung hervorheben, in welchem Maße dort Arbeit geleistet wird: durch Stipendien, durch Einladungen von Deutschlehrern oder von Schülern, die Deutsch erlernen, zu entsprechenden Fachtagungen, zu entsprechendem Austausch. Das geht über die Entsendungsprogramme weit hinaus. Wir wünschen uns alle, daß in demselben Maße, in dem unsere Schulen und Hochschulen im Laufe der Jahrzehnte intensive Kontakte und Beziehungen zu korrespondierenden Einrichtungen in der westlichen Welt aufgebaut haben, dies nun auch nach Osten hin geschieht.
Dies wäre eine Leistung, die unsere staatlich finanzierten Programme noch weit übertreffen könnte.Ich möchte an dieser Stelle auch darum bitten, daß unser redliches Bemühen, die neuen Bundesländer hier mit einzubeziehen, dort noch stärker aufgegriffen wird. Wenn auch Sachsen-Anhalt im Rahmen der vorhandenen Quote Lehrer zur Verfügung stellt, so bleibt auf der anderen Seite doch festzustellen, daß Thüringen nur zwei Lehrer und Mecklenburg-Vorpommern sogar nur einen Lehrer gefunden hat, die nach Mittelosteuropa und in die russische Föderation entsandt werden können. Das kann eigentlich nicht das letzte Wort sein.Ich verbinde mit dieser Bemerkung sehr wohl eine hohe Anerkennung für die Lehrerinnen und Lehrer, die bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen; denn dies ist kein Zuckerschlecken, und die Lebensum-
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Dr. Volkmar Köhler
stände sind schwer. Sie leisten uns einen großen Dienst, für den wir dankbar sein sollten.
Es ist interessant, daß in den Staaten östlich der Oder die Nachfrage nach Deutsch mit 20,10 % — hinter Englisch mit 54,88 % — doppelt so hoch ist wie nach Französisch, daß Spanisch, Italienisch erst viel später kommen, daß in Ungarn die Nachfrage nach Deutsch sogar an allererster Stelle, in Polen knapp hinter Englisch an zweiter Stelle liegt.
Wenn wir dies alles sehen, müssen wir erkennen: Daraus erwachsen enorme Verpflichtungen und enorme Möglichkeiten.Worin besteht eigentlich die Chance einer Sprache im weltweiten Konzert? — Da gibt es eine Reihe von wichtigen Kriterien:Da ist einmal der Ausbaugrad der Sprache zu beachten, d. h. in wie vielen Funktionen sie verwendbar ist.
Da ist weiter die Frage nach der Größe der Sprachgemeinschaft zu stellen, die diese Sprache trägt. Diese Sprachgemeinschaft ist inzwischen — wenn wir einmal die nichtdeutschen deutschsprachigen Länder außer acht lassen — auf 80 Millionen Menschen angestiegen. Das muß bewußtgemacht werden.Weiter spielt die Attraktivität einer Sprache als Fremdsprache eine Rolle. Hier liegt Deutsch als eine relativ komplizierte Sprache nicht übermäßig gut, aber auch nicht übermäßig schlecht.Eine entscheidende Rolle spielt weiter, wie eine Sprachgemeinschaft mit ihrer Sprache umgeht, was sie in die Pflege dieser Sprache investiert. Das ist das Zurverfügungstellen von Wörterbüchern für die wichtigsten und meisten Sprachen der Welt, mit denen wir korrespondieren. Das ist auch die Übersetzung fremdsprachiger Literatur in unsere Sprache. Das alles gehört dazu, wenn es darum geht, unserer Sprache die gewünschte Bedeutung zu geben.Des weiteren gehört der Bildungswert der Sprache dazu, und es gehört auch der wirtschaftliche Wert in der internationalen Kommunikation dazu.Dies alles zusammen macht die Chance einer Sprache aus. Schauen wir auf diese Skala, dann erkennen wir, daß Deutsch in den meisten Punkten gute und wichtige Voraussetzungen erfüllt,
Voraussetzungen, die uns die Chance geben — wir wollen ja nicht die Ersten sein; wir machen keine aggressive Sprachpolitik —, erstklassig zu sein. Das entspricht den wahren Interessen sowie der wirtschaftlichen und politischen Rolle, die diesem Land weltweit zukommt.Danke.
Als nächster spricht der Kollege Dirk Hansen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muß die Debatte über die deutsche Sprache in Mittel- und Osteuropa vor dem Hintergrund des deutschen Herbstes 1992 betrachten. Die Deutschen und damit natürlich auch die deutsche Sprache haben dadurch einen neuen Hintergrund bekommen. Ich glaube, wir müssen mit Stichworten wie Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, ja sogar Antisemitismus — Begriffe, von denen wir glaubten, sie seien, auf uns bezogen, eigentlich überwunden — doch wieder umgehen lernen. Insofern, denke ich, ist es richtig, in einer solchen Debatte nachdenklicher zu sein hinsichtlich des Exports von deutscher Sprache, gerade auch in die Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas,
und hinsichtlich der Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes.Es sind ja gerade diese Europäer, die darauf schauen, was die deutsche Politik in diesem Bereich an Kooperation und Vermittlung deutscher Sprache und Kultur zu bieten hat. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, davon zu sprechen, daß auswärtige Kulturpolitik nur dann gedeihen kann, Herr Staatsminister, wenn eine geistige Atmosphäre geschaffen ist, die ein Aufeinanderzugehen möglich macht.Theodor Heuss — es sei erlaubt, ihn zu zitieren — hat vor vielen Jahren zu Recht davon gesprochen, daß bei der auswärtigen Kulturpolitik ein „freudiges Geben und ein freudiges Nehmen" sich entsprechen müßten. Erst der Geist der Toleranz, der gegenseitigen Akzeptanz und auch der Neugierde aufeinander wird ein friedliches Zusammenleben der Völker möglich machen, und erst auf dieser geistigen Grundlage werden sich dann politische und auch wirtschaftliche Beziehungen ausbauen lassen.Dabei ist es sicherlich sekundär, wenn die heutige Debatte auch im Hinblick darauf geführt wird, daß der Aufbau der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen — oder man sollte besser sagen: der Wiederaufbau verlorengegangener Beziehungen, die gerade auch die damalige DDR mit Osteuropa hatte — ein Aufgabenfeld ist, das neu gesehen werden muß. Ich betone hier ausdrücklich, das ist eine sekundäre Betrachtungsweise.Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage macht deutlich, daß, bezogen auf Ost-, Mittel- und Südosteuropa, bei der Vermittlung der deutschen Sprache eine besondere Aufgabenstellung besteht. Von ca. 18 Millionen Deutschlernenden weltweit — Herr Köhler meint, es seien sogar 20 Millionen — leben ca. zwei Drittel allein in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas.Der Bildungsausschuß ist im Mai des vergangenen Jahres in Warschau, in Prag und im Baltikum gewesen. Da stellt sich vor Ort tatsächlich die Frage, wie die dort artikulierten Bedürfnisse erfüllt werden können: Entsendung von Deutschlehrern, Einsatz von Büchern und Lehrmaterialien, Fortbildung der einheimischen Deutschlehrer, verstärkter Ausbau deutscher
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Dirk HansenAuslandsschulen und nicht zuletzt auch Ausbau weiterer Goethe-Institute in diesen Ländern. In Riga ist das ja Gott sei Dank erfolgreich gelungen. Tallinn und Vilnius warten gewissermaßen noch; leider ist es im Moment nicht sofort machbar.Es soll nicht beckmesserisch nachgekartet werden, wie lange es gedauert hat, etwa das Goethe-Institut in Prag einzurichten, das erst vor wenigen Tagen eröffnet worden ist. Die administrativen Schwierigkeiten auf unserer Seite und die wohl dort vorhanden gewesenen organisatorischen Schwierigkeiten sind nicht zu verkennen. Dieses Goethe-Institut ist — wie viele andere auch — Brückenkopf oder Pfeiler. Ich denke, sie müssen eher tiefgegründet sein; denn flachwurzelnd fallen sie leicht um und haben keinen Bestand.Herr Köhler hat mit ein paar Zahlen, die Interessierte im übrigen nachlesen mögen, darauf hingewiesen, daß es immer noch zu wenige sind, die sich auf ein Abenteuer Ost einlassen wollen. Aber auch die Zahlen seitens des Bundes und der Länder sind reduziert worden. Dennoch verdeckt dies nicht den Bedarf, der artikuliert wird.Wir müssen trotz aller bekannten Haushaltsschwierigkeiten gerade auf diesem Felde doch noch energischer und engagierter dazu beitragen, daß das gegenseitige Verstehen gefördert wird, das ja erst auf der Basis von Kenntnissen möglich wird. Bei dem Einsatz von Mitteln zur Völkerverständigung handelt es sich um weitgreifende Zukunftsinvestitionen. Welches bessere Mittel kann man sich vorstellen als die Sprachvermittlung? Denn von der Sprache geht alles aus; Sprache drückt unser Denken aus. Erst wenn wir uns verständigen können, können wir uns auch verstehen und dann auch häufiger und näher zusammenkommen.
Ich bitte alle Fraktionen, dieses zu unterstützen.
Nun spricht die Kollegin Angela Stachowa.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Sprache ist die Seele der Völker. Fremdsprachen beherrschen eint die Menschen unterschiedlicher Völker mehr, als jeder Dolmetscher zu helfen vermag. Insofern ist der Wunsch vieler Menschen, eine Fremdsprache zu erlernen, nur verständlich und zu begrüßen. Daß die deutsche Sprache in Europa zu denjenigen gehört, die als Bindeglied zwischen den Menschen fungiert, ist eine Tatsache, die niemand leugnen kann.
Um so verständlicher ist, daß gerade das geeinte Deutschland mit seiner Wirtschaftskraft Erwartungen weckt und eine große Verantwortung trägt. Daß die Mittel zur Förderung der deutschen Sprache in den genannten Ländern von 6,7 Millionen DM im Jahre 1989 auf knapp 37 Millionen DM im Jahre 1992 erhöht wurden, ist tatsächlich beachtlich. Sie werden aber, wie es Fachleute einschätzen, in der Zukunft nicht ausreichen; denn zu berücksichtigen ist, daß der Bedarf wachsen wird, und zwar u. a. dadurch, daß die
Leistungen der ehemaligen DDR auf dem Gebiet der Unterstützung der deutschen Sprache kompensiert werden müßten. Immerhin waren beispielsweise 1989 121 Lektoren aus der DDR — im Vergleich zu nur 27 Lektoren aus der BRD — an Universitäten dieser Länder tätig. 1991 belief sich die Zahl der aus Mitteln des geeinten Deutschlands geförderten Lektoren auch auf nur 87. Sollte die deutsche Sprache eventuell zu einer der Amtssprachen der EG werden, so wird sie als Fremdsprache noch attraktiver.
Meine Damen und Herren, die Antwort der Bundesregierung in der Drucksache 12/2780 auf die Große Anfrage der Abgeordneten der SPD-Fraktion zeigt bei gründlichem Durchlesen, daß ungeachtet bestimmter Erfolge noch nicht alles so läuft wie gewünscht.
Wer von Ihnen Länder Osteuropas in jüngster Vergangenheit besucht und sich mit Fragen der deutschen Sprache befaßt hat, der muß ganz einfach aus den Schlußfolgerungen der Praxis eingestehen, daß die Zahlen über die Mittel der Bundesregierung zur Förderung der deutschen Sprache nur eine Seite der Medaille sind. Was mich an dem äußerlich so gut klingenden und mit vielen finanziellen Spritzen versehenen Programm der Bundesregierung stört, ist das — ich wage es so zu sagen — Unpersönliche. Lehrerausbildung, Lehrerfort- und -weiterbildung sind sicher unbestreitbar wichtig. Aber die Zahl der Stätten der Begegnung von Menschen, die Deutsch sprechen, Kunst und Literatur kennenlernen wollen, ist nach meiner Kenntnis noch zu gering. Sogar vor dem Wandel in Osteuropa sehr aktive Einrichtungen wie das Goethe-Institut haben nach meinen Erkenntnissen, z. B. in Ungarn, in ihren Aktivitäten nachgelassen, bzw. geplante Außenstellen sind aus Kostengründen nicht eröffnet worden. Die in den Zeiten der DDR geschaffenen sogenannten Kultur- und Informationszentren sind leider in der Regel zusammen mit der DDR untergegangen. Sie waren nicht nur sogenannte ideologische Vorposten des Sozialismus, sondern in großem Maße auch tatsächliche Begegnungsstätten.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Den Verweis auf begrenzte finanzielle Mittel im Vergleich zu den Anforderungen kann ich verstehen, muß aber wiederholen, was ich an dieser Stelle in einem anderen Zusammenhang bereits einmal gesagt habe. Warum mußten ganze Paletten frischgedruckter Lesebücher vernichtet werden, wenn zugleich viele Schulen und Bibliotheken in den Ländern Osteuropas über einen Mangel an Büchern in deutscher Sprache klagen?
— Ich bin noch nicht fertig. — Ein kleiner Anhang, z. B. mit entsprechenden Hinweisen auf Aktualisierung, so hätte mit wenig Mitteln viel erreicht werden können. Und gerade Lesebücher für die unteren Klassenstufen wären meines Erachtens dort sehr willkommen gewesen.
Frau Kollegin, würden Sie bitte zum Schluß kommen.
Der Beschlußempfehlung in der Drucksache 12/4159 gebe ich
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Angela Stachowameine Zustimmung in der Hoffnung, daß der geforderte Bericht nicht erst zu Weihnachten vorliegt.
Und nun spricht der Kollege Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir jetzt miteinander erörtern, erörtern wir ebenso wie den vergangenen Tagesordnungspunkt im Konsens, weil es sich nicht lohnt, fundamental darüber zu streiten, welche Hilfen wir den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den mittel- und osteuropäischen Staaten geben. Aber es lohnt sich, zu versuchen, das, was Bund, Länder und Gemeinden und übrigens auch die EG machen, zu erörtern und gemeinsam zu verstärken. Das ist das Wichtige, was hinter der Philosophie, der Grundüberlegung dieses Antrages steht.
Zu der Debatte, die gegenwärtig — zaghaft erst — über die Entwicklung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion begonnen hat, hat Johannes Willms, der kürzlich zum Feuilleton-Chef der „Süddeutschen" avanciert ist, in der letzten Wochenendausgabe — lesen Sie es bitte nach, Herr Staatsminister, es ist ganz interessant — einen Artikel veröffentlicht, dessen Überschrift heißt: „Alte Frontlinien, neue Bruchstellen".
Willms versucht, wie viele nach dem Fall der Mauer, einen neuen Begriff für Europa, unseren alten Kontinent, zu finden. Ich finde, das ist das eigentlich Spannende, das sich dahinter verbirgt: Endlich verlassen wir, so hoffe ich, das Ghetto der Siegerpose — wir im Westen — und das Ghetto des Selbstmitleids — wie viele im Osten. Wir hatten uns nach dem euphorischen Jahr 1989 alle allzu schnell, Ost wie West, zurückgezogen auf uns selbst, auf den eigenen Egoismus, den „sacro egoismo" — und der grenzt verdammt eng an Chauvinismus.
Endlich wird die Frage konkret gestellt: Was also — so fragt Willms — ist Europa? Er meint, um ihn noch einmal zu zitieren, die Antwort läge in der Tradition der westlichen Aufklärung. Und er spitzt zu — ich zitiere —: „Die Annahme, Rußland gehöre zu Europa, war seit je irrig." Seine Argumentationsfigur führt, anders als er selbst glaubt, zurück in das alte Schisma, das unseren Kontinent allzu lange auseinanderriß, fällt weit hinter die Aufklärung zurück. Europa reduziert sich auf West-Rom, auf die atlantisch geprägte Zivilisation, schreibt er.
Es ist wahr: Mit der Wiedergeburt Rußlands können auch ungeheure Gefahren das Licht der Gegenwart erblicken. Und es ist wahr: Rußland wird sich in seinen verschütteten kulturellen Werten erst mühsam wiederentdecken. Rußland kann sich auch verlieren in diesem schwierigen Prozeß der neuen Aneignung auf der Suche nach der Selbstverständigung.
Aber — und ich nenne Rußland ganz exemplarisch für die gesamte Entwicklung im Osten unseres Kontinents — wenn wir Rußland und die übrigen neuen Nationalstaaten alleine lassen auf ihrem mühseligen Weg zur Selbstverständigung und wenn wir auch
ideologisch oderkulturell die Mauern und die Brüche, die es ja gibt zwischen Ost und West, selbst neu verfestigen, indem wir West-Rom gegen Ost-Rom stellen, dann allerdings sehe ich die große Gefahr, daß wir den Autismus, in dem sich Osteuropa verfangen kann, selbst noch kulturell untermauern. Es wäre hochgradig gefährlich, wenn wir diese Debatte, wie Jean Willms sie richtig angestoßen hat, im gleichen Tenor noch verlängern oder vertiefen würden.
Ich kann nur hoffen und wünschen — der Antrag, den wir heute gemeinsam verabschieden werden, und der Bericht, den dann die Bundesregierung vorlegen wird, wären ja ein schöner Anreiz dazu —, daß neu überlegt wird, was wir alles tun können, um Kultur, Bildung und Wissenschaft zu fördern, um die Einrichtungen, die vorhanden sind, zu unterstützen, um die engen Verknüpfungen, die es zwischen den Schulen und Universitäten gibt, zu vertiefen und Städtepartnerschaften zwischen Riga und Bremen, Moskau und Berlin oder Freiburg und Lwiw weiterhin intensiv zu pflegen.
Da können staatliche Förderinstrumente immer nur Initialzündungen sein. Das, was die Menschen untereinander besser machen können, sollen sie tun. Wir werden sie dabei ermutigen.
Herzlichen Dank.
Und nun spricht der Staatsminister Helmut Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist hier ganz interessant gewesen: Herr Kollege Duve, Sie haben die Verhunzung der deutschen Sprache zu Recht angesprochen; vielleicht darf ich den Hinweis geben, daß die Gefahr einer weiteren Verhunzung durch eine in einigen Teilen sehr merkwürdige Rechtschreibreform droht. Vielleicht kann man das einmal im zuständigen Ausschuß besprechen; sonst müssen wir weitere Lesebücher, Frau Kollegin, einstampfen. Wir finden eine „Verdeutschung" von Begriffen, an die wir uns als Europäer sehr gewöhnt haben, gar nicht gut.Herr Kollege Weisskirchen, Sie haben gerade Rußland angesprochen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie das getan haben. Ich glaube, man muß langsam wegkommen von der Vorstellung, daß Rußland immer nur Gefahr bedeutet. Es wäre ja denkbar, daß ein neues Rußland eine neue Chance für Europa bedeuten könnte.
Im übrigen muß unseren baltischen Freunden, Frau von Teichman, gelegentlich auch klar gemacht werden, daß östlich ihrer Grenze nicht Asien beginnt, was man dort immer wieder hört.Ich will nur einige Bemerkungen zu dem machen, was heute hier von allen Fraktionen übereinstimmend angesprochen worden ist, und sagen, daß sich die Bundesregierung der Herausforderung natürlich bewußt ist — der Deutsche Bundestag desgleichen —, daß die Nachfrage, die wir derzeit gerade aus den östlichen Nachbarstaaten erleben, was Bildung, Wis-
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Staatsminister Helmut Schafersenschaft, deutsche Sprache, Aus- und Weiterbildung, Programmarbeit des Goethe-Instituts betrifft, so groß ist, daß wir noch nicht in der Lage sind, darauf so zu reagieren, wie wir es natürlich gerne möchten.Die Bundesregierung versucht — und das tut sie schon mit einem gewissen Erfolg —, das bewährte Instrumentarium der deutschen kulturellen Außenpolitik jetzt auch im Osten einzusetzen und anzuknüpfen an — man kann schon sagen jahrhundertealte Traditionen einer kulturellen Zusammenarbeit.Gleichzeitig wollen wir damit auch einen Beitrag leisten zur Unterstützung und Entwicklung der neuen Demokratien dort. Ich glaube, daß dieser Raum — gerade weil Deutsch in diesen Ländern immer beliebt war und weil, wie Herr Köhler schon gesagt hat, 13 von 20 Millionen Menschen, die weltweit Deutsch lernen, in diesem Raum leben — einen Schwerpunkt unserer Arbeit ausmachen muß.Wir haben versucht, mit der verstärkten Entsendung von Lektoren und Lehrern, mit intensivierten Fortbildungsprogrammen für Lehrer, mit Lehrmittelspenden, mit Fernlehrangeboten, aber auch mit der Weiterführung der intensiven Spracharbeit der früheren DDR — allerdings nicht immer mit den Lesebüchern, die sie uns dort hinterlassen hat — zu reagieren.Wir haben auch, beginnend im laufenden Haushaltsjahr, ein dreijähriges Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Sprache in dieser Region aufgelegt, das mit einem Volumen von zunächst 42 Millionen DM zusätzliche Akzente setzen wird. Aber auf mittlere Sicht reicht es eben nicht aus, die Nachfrage, die wir von allen Seiten — Sie haben darauf hingewiesen — immer wieder erfahren, abzudecken.Was wir deshalb zunächst machen müssen ist größtmögliche multiplikatorische und strukturverbessernde Wirkung zu entfalten, d. h. die Ausbildung von Ausbildern und Lehrbuchautoren und den Aufbau von Lehrerausbildungsstätten und andere Maßnahmen zu fördern, die mittelfristig das Ziel der Selbstversorgung verfolgen.Der Bildungs-, Hochschul- und Wissenschaftsbereich ist angesprochen worden. Hier gibt es die Möglichkeit, aus dem Gesamtkonzept zur Beratungshilfe beim Aufbau von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft in den Ländern Mittel- und Osteuropas sowie in den neuen unabhängigen Staaten einiges zur Verfügung zu stellen. Hier waren insgesamt 427 Millionen für 1992 vorgesehen. Wir haben 1993 530 Millionen zur Verfügung. Mehr als ein Drittel dieser Summen entfällt auf Maßnahmen in den genannten Bereichen.Ich darf zum Schluß sagen, meine Damen und Herren, daß sich die haushaltsmäßigen Voraussetzungen für eine, wie ich meine, anständige Pflege unserer auswärtigen Kulturpolitik leider nicht verbessert haben; wir alle wissen das. Aber ich glaube, daß die Bundesregierung entschlossen bleibt, die sich vor allem in Osteuropa bietenden Möglichkeiten im Rahmen dessen, was wir tun können, zu nutzen und damit einen ganz entscheidenden Beitrag dazu zu leisten, was wir alle wollen: den Frieden, der auf diesemKontinent letztlich nur dann stabilisiert und auf Dauer erhalten werden kann, wenn der kulturelle Austausch ganz erheblich zunimmt. Wir sollten den Wert eines solchen Austausches nicht unterschätzen in einer Zeit, in der eben andere Werte in den Vordergrund gerückt sind.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Zusammenarbeit mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Drucksache 12/4159. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3368 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Punkt 9 der Tagesordnung:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Augustinowitz, Heribert Scharrenbroich, Wolfgang Vogt (Dünen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Zurheide, Klaus Beckmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Keine protektionistische europäische Regelung für die Einfuhr von Bananen
— Drucksachen 12/3959, 12/4264 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Augustinowitz Burkhard Zurheide
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jürgen Augustinowitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt Kollegen, denen bei diesem Thema vor allem der Song „Ausgerechnet Bananen" einfällt. Aber wenn man sich der Sache ein wenig mehr zuwendet, kommt man zu der Erkenntnis, daß ein bißchen mehr dahintersteckt.Die EG-Staaten hatten im Dezember 1992 gegen die Stimmen Deutschlands und Dänemarks ein neues Einfuhrregime für Bananen beschlossen, das ab 1. Juli 1993 die bislang zollfreien Importe nach Deutschland unmöglich machen würde. Es sieht vor, das Einfuhrkontingent von sogenannten Dollarbananen auf 2 Millionen t festzulegen. Von diesem Kontingent
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Jürgen Augustinowitzentfielen zwei Drittel auf traditionelle Dollarbananenimporteure und ein Drittel auf AKP-Bananen und andere. Zusätzlich würden für dieses Kontingent gemeinsame Außenzölle in Höhe von 20 % und für die Menge über 2 Millionen t sogar von 170 % aufgeschlagen, um damit die Marktchancen der teurer produzierten Bananen aus Überseegebieten der EG zu verbessern.Bislang führt Deutschland 1,4 Millionen Tonnen Dollarbananen pro Jahr ein. Dank der Geduld Konrad Adenauers, der 1957 die Unterzeichnung des Protokolls zwei Wochen verzögert hatte,
war die gesunde Frucht zollfrei und somit verbraucherfreundlich preisgünstig.Schon als der erste Vorschlagsentwurf im letzten Jahr bekannt wurde, hatte die CDU/CSU ihre Ablehnung ausgedrückt und einen Antrag in die parlamentarischen Beratungen eingebracht, der diese protektionistische europäische Regelung für die Bananeneinfuhr ablehnte. Wir sind den Bundesministern Spranger, Kiechle und Borchert besonders dankbar, daß sie sich in den Verhandlungen vehement gegen diesen EG-Vorschlag eingesetzt haben.
Heute nacht gab es im EG-Agrarrat Gott sei Dank keine Einigung. Für morgen ist ein neues Ministertreffen angesetzt. Deutschland, Dänemark, Belgien und die Niederlande hielten ihre Blockade gegen die Vorschläge der EG-Kommission zur zukünftigen Importregelung aufrecht. Diese vier Staaten verfügen im Ministerrat gemeinsam über eine Sperrminorität.Wir finden diesen EG-Vorschlag inakzeptabel. Wir stellen uns gegen ihn, weil er nicht für weniger, sondern für mehr Protektionismus eintritt. Wir sind gegen diesen EG-Vorschlag, weil er in laufende Verträge eingreift. Wir können dem EG-Vorschlag auch deshalb nicht zustimmen, weil das künstliche Hochtreiben der Preise zu einer starken Verteuerung für den Verbraucher in Deutschland führen würde, was sinnlos wäre und nur den Ärger über Brüssel verstärken würde.Wir lehnen ihn ab, weil die süd- und lateinamerikanischen Staaten, die Bananen anbauen, Entwicklungsländer sind. Sie haben genügend strukturelle, wirtschaftliche und soziale Probleme. Es ist abzusehen, daß durch diesen EG-Vorschlag Hunderttausende von Bewohnern der Bananenanbaustaaten von Arbeitslosigkeit direkt oder indirekt betroffen wären.
Seriöse Schätzungen sprechen von Einnahmeverlusten von über 500 Millionen DM für diese Länder. Außerdem besteht die große Gefahr, Herr Kollege Hauchler, daß die Landbevölkerung eine Alternative zum Bananenanbau im Drogenanbau sieht. Auch so würde dieser EG-Vorschlag auf uns zurückfallen.Für die Verbraucher in Deutschland bedeutet der Vorschlag eine unnötige und unsinnige Verteuerung der Bananen. An den Hauptumschlagsplätzen in den Küstenländern, z. B. in Bremen, würden Arbeitsplätze verlorengehen. Strukturschwache Gebiete würden so zusätzlich belastet.
Herr Kollege Augustinowitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?
Wenn es nicht angerechnet wird: Gerne.
Einem bananenpolitischen Sprecher selbstverständlich nicht.
Herr Kollege, Sie sprechen von Verbraucherfreundlichkeit. Ist Ihnen bekannt, daß die wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen, die sich in vielen Entwicklungsländern abspielen, weitgehend darauf zurückzuführen sind, daß die Preise für Rohstoffe und Agrargüter in der Dritten Welt gegenüber Produkten aus den Industrieländern im Trend gefallen sind, daß also fallende terms of trade praktisch eine wesentliche Basis für dieses Problem bilden? Je billiger Bananen und Kaffee sind, um so schlimmer ist die Situation gerade für Kleinbauern in bestimmten Gebieten der Dritten Welt. Man kann also nicht undifferenziert auf totale Liberalisierung setzen. Wie erklären Sie sich eigentlich, daß die Bundesrepublik bei Fertigtextilien und bei Weizen auf Abschirmung des deutschen und des europäischen Marktes setzt, bei Bananen jedoch eine totale Liberalisierung will?
Herr Kollege, wir reden heute nicht über Textilien, sondern über Bananen.
Zweitens will ich Ihnen dazu sagen: Machen Ihnen nicht die Proteste der süd- und mittelamerikanischen Länder Sorgen, die sich gegen diese EG-Bananenregelung wenden und deren neun Präsidenten heute zusammengekommen sind?
— Im Moment antworte ich auf Ihre Frage, Herr Kollege. — Es geht nicht darum, in diesem kleinen Punkt die Welt zu verbessern. Es geht ganz speziell um die Einführung dieser EG-Bananenregelung. Die lehnen wir aus wohlüberlegten Gründen ab.
Es ist auch zu fragen, Herr Kollege Hauchler, warum sich die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag im Wirtschaftsausschuß, im Landwirtschaftsausschuß und im Europaausschuß für unseren Antrag ausgesprochen hat, während sie im originär zuständigen Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit das ablehnt. Sie bieten hier das gleiche Bild wie sonst auch: Sie wissen selbst nicht, was Sie wollen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12111
Jürgen AugustinowitzDie lateinamerikanischen Bananenproduzenten beraten bereits heute über Maßnahmen gegen die Europäische Gemeinschaft. Der politische und wirtschaftliche Schaden wäre groß, wenn es so käme. Es wäre gut, wenn wir bei der bevorstehenden 9. SanJosé-Konferenz in San Salvador, wo es um den Friedensprozeß in Mittelamerika geht, mit einem guten Ergebnis aufwarten könnten. Es ist gut, daß sich die Bundesregierung betont gegen den EG-Vorschlag gewandt hat.
Denn so kann sie als angesehener Partner der Entwicklungsländer im Rahmen der Gespräche mitwirken.Im Vorschlag der Kommission sind auch rechtliche Verstöße enthalten. Er bedeutet eine Diskriminierung des Handels. Er ist durch eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel gekennzeichnet. Die Europäische Gemeinschaft hat auf diesem Gebiet einen Selbstversorgungsgrad von lediglich 20 %. Des weiteren verstößt er gegen GATT-Prinzipien.Unser Vorschlag besteht aus rechtlichen und entwicklungspolitischen Gründen darin, daß die Regelung des EG-Markts für Bananen GATT-konform gestaltet und in die laufenden Verhandlungen der Uruguay-Runde einbezogen wird, daß keine die südamerikanischen und mittelamerikanischen Erzeugerländer schädigende Forderung in Kraft tritt, daß kein diskriminierender Verteilungsmechanismus etabliert wird, daß der Bananenhandel nicht durch staatliche Einwirkung erschwert werden soll und daß die Hilfe, die es für EG-AKP-Bananenerzeuger geben soll, innerhalb der bestehenden Instrumente eingesetzt wird.Wir lehnen diesen Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft aus ökonomischen, außenwirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und verbraucherpolitischen Gesichtspunkten ab. Das Parlament — es ist gut, daß wir heute darüber reden, Herr Minister Borchert; gestern wurde es abgelehnt, und heute reden wir darüber — stärkt unserem Minister Borchert den Rücken für morgen, 18 Uhr, wenn erneut der EG-Rat zusammenkommt, und wir hoffen, daß wir letztlich Erfolg haben und daß Dänemark nicht, weil es im Moment die Präsidentschaft hat, in die Versuchung kommt, der Sache trotzdem zuzustimmen.
Nun hat die Kollegin Brigitte Adler das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der bisherigen Diskussion über die Einführung einer einheitlichen EG- Bananenimportregelung standen vor allem wettbewerbs- und verbraucherpolitische Aspekte im Vordergrund. Es wird zu Recht beklagt, daß die geplante Marktorganisation für Bananen einen dirigistischen Eingriff in den Bananenmarkt, vor allem in der Bundesrepublik, darstellt: Qualitätsnormen, Ausgleichszahlungen, Einfuhrkontingente, Vorschriften für Bananenimporteure etc., die wir ebenso ablehnen,wie es im Antrag der Koalitionsfraktionen gefordert wird.Wir müssen davon ausgehen, daß diese Marktorganisation erneut Unruhe in die sich hinschleppende Uruguay-Runde des GATT bringen wird. Besonders die amerikanischen Verhandlungspartner werden die Interessen ihrer betroffenen multinationalen Handelsunternehmen verteidigen. Der Bananenhandel, der ursprünglich aus der laufendenden Uruguay-Runde ausgeklammert war, kann so zum Stolperstein werden. Diese Gefahr sehen wir. Wir teilen diesbezüglich die Kritik, die in dem Antrag zum Ausdruck kommt.
Weiterhin muß festgestellt werden, daß die protektionistische Ausrichtung der Kommissionsvorschläge, die sowohl die Bananenerzeugung in einigen AKP-Staaten als auch EG-Bananen schützen sollen, nicht geeignet sind, die wirtschaftliche Abhängigkeit der betroffenen AKP-Länder mittel- und langfristig zu verringern. Das Gegenteil könnte der Fall sein. Unerwünschte Monostrukturen könnten festgeschrieben und sinnvolle Diversifikationsmaßnahmen verzögert werden.Aus den genannten Gründen kann die SPD-Bundestagsfraktion der Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zustimmen — entgegen dem Votum, das die Arbeitsgruppe der SPD im Ausschuß abgegeben hat. Dieses Votum im Ausschuß enthielt nicht die Zustimmung zu den Vorschlägen der EG-Kommission.
Dies wurde in den Beratungen ausdrücklich hervorgehoben. Vielmehr war es damit begründet, daß aus entwicklungspolitischer Sicht eine Bananeneinfuhrregelung andere Schwerpunkte setzen sollte.In diesem Zusammenhang ist zunächst die Situation in den von einer Freihandelsregelung besonders betroffenen AKP-Staaten zu betrachten. Die Struktur der Bananenerzeugung in diesen Ländern ist zum größten Teil durch kleinbäuerliche Betriebe mit vergleichsweise hohen Produktionskosten gekennzeichnet. Ohne eine Form des Protektionismus wären diese Erzeuger auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig. Die Folge einer liberalen Einfuhrregelung wäre zwangsläufig der Verlust dieser Existenzgrundlage. Dieser Protektionismus besteht ja zur Zeit.Wir kennen dieses Problem in der EG sehr genau. Die Erhaltung der Lebensfähigkeit unserer Landwirtschaft, die nur eingeschränkt auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist, funktioniert ebenfalls nur über einen milliardenschweren Protektionismus.
Aus diesen guten Gründen können wir diese Schutzmaßnahmen zumindest teilweise rechtfertigen. Wir haben das Glück, über die notwendigen finanziellen Mittel zu verfügen. Die AKP-Staaten sind dazu nicht in der Lage.
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12112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Brigitte AdlerAus entwicklungspolitischer Verantwortung müssen wir dieser Tatsache Beachtung schenken. Überdies erscheint es fragwürdig, wenn der Projektionismus der anderen kritisiert, der eigene aber mit vitalen Interessen gerechtfertigt wird.Wir sollten hier zukünftig etwas ehrlicher sein und zu der Notwendigkeit stehen, daß in bestimmten Situationen Schutzmaßnahmen hier, aber auch in anderen Regionen und Ländern unumgänglich sind; denn wir sollten uns nichts vormachen: Einseitige Freihandelsstrategien lösen eben nicht alle Probleme.
Die Bananenerzeugung in den Ländern Süd- und Mittelamerikas hat ein völlig anderes Gesicht. Die Produktion wird meist auf Großplantagen durchgeführt, die in den letzten Jahren ausgeweitet wurden. Diese Entwicklung führte zu einem erheblichen Raubbau an der Natur, wovon vor allem Regenwälder nicht unberührt blieben. Wenn man die Notwendigkeit der Erhaltung der tropischen Regenwälder ernst nimmt, kann man dies nicht einfach übergehen. Ernstzunehmen sind ebenso kritische Berichte über die Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Plantagenarbeiterinnen und -arbeiter.In Anbetracht dieser Mißstände stimmt es bedenklich, daß in der bisherigen Diskussion an keiner Stelle die Frage gestellt wurde, warum die mittel- und südamerikanischen Länder am kostengünstigsten produzieren. Auch an dieser Stelle muß aus entwicklungs- und globalökologischer Sicht auf Defizite aufmerksam gemacht werden.Die Ausgestaltung einer EG-Bananeneinfuhrregelung hat deshalb gravierende Auswirkungen, egal, ob sie mehr liberalistisch, wie es sich die Bundesregierung vorstellt, oder mehr protektionistisch nach dem Strickmuster der EG-Kommission ausfällt. Als weltweit wichtigster Bananenimporteur hätte die EG realistische Chancen, die bestehenden sozialen und ökologischen Mißstände einerseits und die entwicklungspolitischen Notwendigkeiten andererseits in einem ausgewogenen Handelskonzept in Einklang zu bringen. Hier wäre die Möglichkeit gegeben, einen Interessenausgleich zwischen den unterschiedlich betroffenen Erzeugerländern herzustellen.Eine ausgewogene Handelsvereinbarung, die entwicklungspolitische, soziale und ökologische Aspekte berücksichtigt, fände mit ziemlicher Sicherheit auch die Zustimmung der Verbraucher.
Als nächster spricht der Kollege Burkhard Zurheide.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gegenstand der Debatte, die wir heute führen, ist bestenfalls halb so lachhaft, wie es auf den ersten Blick erscheint. Es geht nämlich nicht nur um eine Frucht und die Zuneigung einer ganzen Nation zu ihr; es geht um ganz grundsätzliche, elementare Fragen.Der Vorschlag der EG-Kommission, die Einfuhr von Bananen aus Nichtmitgliedsländern zu erschweren, ist nichts anderes als unverblümter, blanker Protektionismus und im übrigen GATT-widrig. Alleiniges Ziel ist es, die in einigen Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft produzierten Bananen konkurrenzlos zu stellen.
Da diese Produkte auf dem Markt, der für Bananen wenigstens in Deutschland noch besteht, wegen ihres Preises und anderer Kriterien nicht konkurrenzfähig sind, soll nun etwas nachgeholfen werden, und die erheblich günstigeren Bananen aus Ländern der Dritten Welt sollen so verteuert werden, daß sie ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren.Dies soll von der auch aus marktwirtschaftlichen Gründen äußerst „überzeugenden" Bestimmung begleitet werden, auch noch Einfuhrkontingente festzulegen. Wenn es eines weiteren Beweises für den zumindest partiellen Irrsinn des europäischen Agrarmarktes bedurft hätte, er stünde hier und heute zur Beratung an.Nun gibt es sonnige Gemüter, die meinen, es könne ja wohl nicht schädlich sein, wenn nunmehr auch das „Marktsegment Bananen" vollständig geschlossen würde, da die Europäische Gemeinschaft ihren Agrarmarkt doch auch ansonstigen schon nahezu abgeschottet habe. Nein, die Verhinderung einer europäischen Bananenmarktordnung muß der Impuls für die Öffnung des europäischen Agrarmarkts für Produkte aus der Dritten Welt sein. Wir sollten mit unserer so oft beschworenen Forderung Ernst machen, die wirksamste Entwicklungshilfe sei ein freier Handel. Dies wird nicht von heute auf morgen und auch nicht überall gehen; aber man sollte anfangen und nicht noch eine Entscheidung in die falsche Richtung treffen.Aber die Bananendebatte in der Europäischen Gemeinschaft hatte einen zweiten Höhepunkt. Als man erkannt hatte, daß es nicht gelingen konnte, die Interessen der Dollarbananen exportierenden Lander einfach vom Tisch zu wischen, wurde ein Schweigegeld ausgelobt. Die EG-Kommission verstieg sich zudem von einer gehörigen Portion Arroganz nicht ganz freien Vorschlag, die angestrebte Bananenordnung auch noch dadurch zu flankieren, daß man denjenigen Entwicklungsländern, die Dollarbananen exportieren, zum Ausgleich Geld zahlen will, damit diese, wie es hieß, ihre Produktion diversifizieren, im Klartext: etwas anderes anbauen, können.Es ist grotesk, wenn in den Entwicklungsländern die Vorzüge der Marktwirtschaft gepriesen werden und dann dafür gesorgt wird, daß intakte Produktionsprozesse, in denen auch noch konkurrenzfähige Produkte hergestellt werden, zerstört werden. Warum eigentlich werden nicht die hochentwickelten europäischen Agrarproduzenten zur Diversifizierung ihrer Produktion gedrängt, wenn konkurrenzunfähige Produkte wie Bananen hergestellt werden? Und welche Produkte sollen denn anstelle von Bananen in den lateinamerikanischen Ländern angebaut werden? Kokain?Nein, die Europäische Gemeinschaft muß von ihrem bananenpolitischen Irrweg herunterkommen. Die
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Burkhard Zurheideangestrebte Bananenmarktordung ist heller Wahnsinn.Ich habe die Mitglieder der SPD im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht verstanden, als sie den Antrag der Koalition abgelehnt haben. Ich höre aber heute mit Freude, daß sich bei der SPD eine Meinungsänderung vollzogen hat. Natürlich kann man darüber nachdenken, wie die Arbeitsverhältnisse derjenigen verbessert werden können, die auf den Bananenplantagen arbeiten. Nur, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde die Verordnung in Kraft treten, so bräuchten wir uns um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Bananenpflücker überhaupt keine Gedanken zu machen, weil diese nämlich ihren Arbeitsplatz verlieren würden.
Welche sozialen Folgen dies für die Familien dieser Menschen hätte, brauche ich Ihnen wohl nicht ausdrücklich zu sagen.Die Verhandlungsposition der Bundesregierung, die erfreulicherweise starken Widerstand, und zwar in toto, gegen den Vorschlag der Kommission geleistet hat und die auch gestern einen ersten Teilerfolg erzielen konnte, wird natürlich erheblich stärker und erheblich besser, wenn sie in die weiteren Verhandlungen mit einem nahezu einstimmigen Beschluß des Bundestages gehen kann, den wir glücklicherweise erwarten dürfen.Ich freue mich daher, daß die Sozialdemokraten den Beschlußvorschlag doch noch mittragen wollen. Das konnte man vorgestern schon erahnen, als ihre stellvertretende Fraktionsvorsitzende Matthäus-Maier in einer Pressemitteilung verkündete, die verbraucherfeindliche Bananensteuer — nicht Bananensteuerlüge — müsse gestoppt werden, und damit das richtige Signal gab, nämlich daß es auch im Interesse der deutschen Verbraucher notwendig ist, diesen Unsinn zu stoppen.Die F.D.P. unterstützt daher die Bundesregierung ausdrücklich in ihrem Bestreben, diese Bananenmarktordnung zu verhindern. Wenn diese Bemühungen fehlschlagen sollten, so muß geprüft werden, ob ein Rechtsbehelf, etwa eine Klage zum Europäischen Gerichtshof, in Betracht kommt. Selbst wenn dies auch nur ansatzweise Aussicht auf Erfolg hätte, sollte es unternommen werden, weil, wie ich denke, dieses Thema auch in der Öffentlichkeit so wichtig genommen wird, wie es angemessen ist.Der Europäische Binnenmarkt darf nicht zu mehr, er muß zu weniger Protektionismus führen.Vielen Dank.
Das Wort hat die Frau Kollegin Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer, wenn nicht Abgeordnete aus den neuen Bundesländern, ist prädestiniert, sich zu dem jüngsten europäischen Zankapfel, der Banane, zu äußern?
Wir sind es nicht deswegen, weil wir von der Leitfrucht des bundesrepublikanischen Obstes oder vom Geschäft mit ihr besonders viel verstehen, sondern weil wir in der ehemaligen DDR dabei sind, der Grundbedürfnisbefriedigung mit einem Rekordverzehr von ca. 25 kg Bananen pro Kopf der Bevölkerung — in den alten Bundesländern 14 kg — mit allem Nachdruck gerecht zu werden.
In diversen entwicklungspolitischen Debatten haben wir die Abschaffung des bisher praktizierten europäischen Protektionismus gegenüber den Ländern der Dritten Welt gefordert. Der vorliegende CDU-Antrag, scheinbar gegen Protektionismus, entspricht jedoch nicht unseren Intentionen. Aus unserer Sicht soll hier lediglich eine Form des Protektionismus durch eine andere oder eine bestehende ersetzt werden. Auf der Strecke bleiben in dem einen wie in dem anderen Fall die Kleinproduzenten in den Ländern der Dritten Welt.Selbst wenn im Antrag der CDU/CSU die Gefahr massiver Arbeitsplatzverluste in den bananenproduzierenden Ländern erwähnt wird, liegt der Hauptbeweggrund für diesen Antrag doch wohl eindeutig auf nationaler Ebene: Hafen- und Lagerwirtschaft z. B. in Hamburg und Bremen, Verbraucherinteressen etc.
Hinterfragt werden muß auch, wer letzten Endes in den Entwicklungsländern die Nutznießer einer Aufrechterhaltung des bisherigen Status quo im Bananengeschäft sind. Augenscheinlich sind es die Großproduzenten, die auf immer mehr erweiterten Anbauflächen unter massivem Einsatz von Pestiziden und miserablen Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten auf Kosten der Umwelt und der Menschen die in Deutschland so beliebten Billigbananen produzieren. Das ist ein entwicklungspolitisch sehr fragwürdiger Zustand, dem der vorliegende Antrag Kontinuität zu verleihen versucht.Genauso fragwürdig ist allerdings die geplante entgegengesetzte Protektionierung von sogenannten Kolonialbananen, die für Volkswirtschaften der bananenexportierenden Länder unabsehbare Folgen haben wird.Die PDS/Linke Liste unterstützt dagegen die Überlegungen des sogenannten Bananenbündnisses aus Agrar- und Dritte-Welt-Gruppen, das statt Importhöchstmengen garantierte Exportquoten fordert, die für alle Bananenproduzenten nach aktuellen Marktanteilen festgelegt werden müßten.Die Bananenmarktordnung ist zutiefst ungerecht, ebenso wie die derzeitige Weltwirtschaftsordnung, und nur ein exemplarisches Beispiel für diese Art, die Welt zu ordnen. Das Problem besteht nicht darin, dem ohnehin ziemlich verwöhnten bundesdeutschen Verbraucher Niedrigstpreise zu sichern. Langfristig wich-
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Dr. Ursula Fischertiger ist es, allen Bananenproduzenten Absatzmöglichkeiten offenzuhalten und gleichzeitig z. B. über Zölle Mittel aufzubringen, die in den betreffenden Entwicklungsländern die Umstellung auf andere, umweltverträglichere und doch absetzbare Agrarprodukte ermöglichen. Es geht also um weniger überchemisierte Großplantagen und um mehr ökologisch verträglichen Anbau durch selbständige Bauern und Kooperativen.Was die so erzeugten Bananen mehr kosten, sollte uns unsere Umwelt in der vielbeschworenen „Einen Welt" wert sein.
— Warum nicht LPGs? Die sind zum Teil effizient gewesen.
Ich hoffe, ich habe das alles richtig verstanden: daß uns irgendwelche bananenpolitischen Irrwege zu bananenpolitischen Bündnissen führen. — Ich erteile dem Kollegen Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Ausgerechnet Bananen sind in aller Munde.
40 Kilo verzehrte jeder Deutsche 1992. Angesichts der Streitigkeiten in der EG sollten wir den Begriff „Zankapfel" aus dem deutschen Wortschatz streichen und künftig von „Zankbananen" reden. Vielleicht hingen im Paradies ja wirklich Bananen am Baum.
Doch im Ernst: Die geplante Abschottungspolitik der EG gegenüber den sogenannten Dollarbananen und die beabsichtigte Förderung der EG-Bananenproduzenten mit 12 500 DM pro Hektar aus Mitteln der Europäischen Gemeinschaft ist weder ökonomisch noch entwicklungspolitisch sinnvoll. Eine Quotenregelung für Bananen brächte für Lateinamerika einen Verlust von, so sagen unsere Experten, jährlich 350 Millionen Dollar — Sie sagten: 500 Millionen DM — und würden mindestens 170 000 Arbeitsplätze kosten.
Andererseits würde die völlige Freigabe des Handels die Existenz der Kleinbauern in den AKP-Staaten bedrohen, die sich gegen die Konkurrenz der Multis in Lateinamerika nicht durchsetzen können.
Zu Recht werden die ökologischen und sozialen Bedingungen, unter denen die Dollarbananen produziert werden, beklagt. Den Preis für diese billigen Bananen bezahlen die Plantagenarbeiter und -arbeiterinnen Lateinamerikas in Form von niedrigen Löhnen, von gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen und der Vergiftung ihrer Umwelt durch übermäßigen Einsatz von Pestiziden.
Auf diesen Zusammenhang hat — auch ich will es erwähnen — das „Bananenbündnis 92", das sich im vergangenen Jahr gebildet hat, hingewiesen.
— Es ist nicht mit uns verwandt, aber ich wollte den Namen doch aus Sympathie noch einmal erwähnen. Wir sehen in der Tat das Problem ähnlich wie dieses „Bananenbündnis 92".
Wir kommen allerdings zu einer anderen Schlußfolgerung und unterstützen ausdrücklich den Antrag der Koalition. Denn wir sind der Überzeugung, daß protektionistische Maßnahmen die Situation in Lateinamerika nicht verbessern würden. Im Gegenteil, der Zwang, noch billiger zu produzieren, würde die Lage der Landarbeiterinnen und Landarbeiter nur verschlechtern bzw. zur Arbeitslosigkeit führen.
Notwendig ist es, in allen Produktionsländern arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen durchzusetzen, die eine angemessene Entlohnung und menschenwürdige Lebensbedingungen ermöglichen. Das ist durch einfachen Protektionismus nicht zu erreichen.
Da also die Verbraucher so und so künftig für die geliebte Banane mehr bezahlen müssen, ist es entwicklungspolitisch sinnvoller, einen gerechten Marktpreis für Bananen aus Lateinamerika und der Karibik zu zahlen, als EG-Produzenten zu subventionieren.
Vielen Dank.
Minister Jochen Borchert hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ministerrat hat in den beiden vergangenen Tagen in sehr schwierigen Verhandlungen die sogenannte Formalisierung des Ratsbeschlusses über eine EG-Bananenregelung vom 17. Dezember 1992 beraten. Dabei konnte keine Einigung erzielt werden. Die Ministerratssitzung ist in der vergangenen Nacht unterbrochen worden. Sie wird morgen fortgesetzt. Bis dann werden insbesondere die belgische und die niederländische Regierung ihre Haltung noch einmal beraten. Ich hoffe, daß wir dann zu einer einvernehmlichen Lösung kommen können.Die Verhandlungen über eine zukünftige europäische Bananenregelung haben sich von Anfang an sehr schwierig gestaltet, und es ging auf beiden Seiten um berechtigte Interessen: Interessen der europäischen Verbraucher, der Drittlandproduzenten, und zwar der AKP-Länder und der lateinamerikanischen Länder, und des Handels. Auf der anderen Seite stehen die ebenso berechtigten Interessen der europäischen Bananenproduzenten. Ich habe sowohl im Rat als auch in zahlreichen bilateralen Gesprächen mit dem dänischen Ratspräsidenten, mit dem Agrarkommissar
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Bundesminister Jochen BorchertSteichen sowie mit anderen Kollegen im Rat die Haltung der Bundesregierung unmißverständlich deutlich gemacht. Ich darf mich hier sehr herzlich für die Unterstützung heute durch das Parlament bedanken; sie wird für die weiteren Beratungen sicher förderlich sein.Sie wissen, daß diese Haltung der Bundesregierung schon im Entstehungsstadium eines EG-KommissionVorschlags von der Bundesregierung, insbesondere vom Bundeskanzler in einem persönlichen Schreiben an den Kommissionspräsidenten Delors dargestellt worden ist. Das Bundeskabinett hat zuletzt in der Kabinettsitzung am 17. Dezember 1992 diese Haltung bestätigt. Die Bundesregierung wird diese Haltung auch bei den weiteren Verhandlungen mit Nachdruck vertreten. Ich darf diese Position deshalb hier noch einmal wiederholen:Die Einfuhrregelung für Dollar-Bananen muß GATT-konform sein und darf die Lieferinteressen der lateinamerikanischen Länder nicht beeinträchtigen. Das heißt, das bisherige Liefervolumen von ca. 2,4 Millionen t muß aufrechterhalten werden und entsprechend dem Verbrauchszuwachs steigen können. Diese Einfuhrmengen dürfen nur mit dem im GATT gebundenen Zoll von 20 % belastet werden. Darüber hinausgehende Importe dürfen nicht mit einem prohibitiven Zoll von 850 Ecu/t — das entspricht einem Zollsatz von 180 % — belastet werden. Allenfalls wäre nach der Uruguay-Runde in dem Tarifizierungsmodell ein Zoll von 50 bis 70 % denkbar, der aber dann innerhalb von sechs Jahren wieder weitgehend abzubauen wäre. Mit einer derartigen Einfuhrregelung könnten sich nach meiner Einschätzung die lateinamerikanischen Entwicklungsländer einverstanden erklären.Gestern haben diese Länder gegen die — jetzt schon — bestehenden Einfuhrbeschränkungen Frankreichs, Großbritanniens und Spaniens ein sogenanntes Panel-Verfahren beim GATT eröffnet. Bliebe es beim derzeitigen Kompromiß, würde auch die Uruguay-Runde Gefahr laufen, auf der Bananenschale auszurutschen. Der Verteilungsschlüssel für das Zollkontingent muß die bestehenden Handelsströme berücksichtigen, er darf nicht zu einer Benachteiligung der Dollar-Bananen-Händler führen. Nach dem Dezember-Kompromiß würde das Handelsvolumen der Dollar-Bananen-Händler halbiert. Wir lehnen diese Verteilung ab; sie ist eindeutig diskriminierend und damit vertragswidrig. Wir haben vorgeschlagen, den traditionellen Importeuren 90 % des Kontingents zuzuteilen und 10 % für Händler mit EG- und AKP-Bananen bzw. andere neue Händler bereitzustellen.Die Bundesregierung war sich der schwierigen Situation der EG- und AKP-Länder stets bewußt und ist auch bereit zu helfen, etwa durch eine Verbesserung von Produktion, Qualität und Marketing. Die Bundesregierung hat sich auch bereit erklärt, für eine Übergangszeit direkte Einkommenshilfen zu gewähren. Damit könnte ein Interessenausgleich zwischen AKP-Ländern und lateinamerikanischen Ländern möglich sein, und es könnten soziale, ökologische und Verbraucherinteressen berücksichtigt werden. Bleibt es bei dem restriktiven Dezember-Beschluß, sind derartige Hilfen und die damit verbundenen EG-Ausgaben nicht zu rechtfertigen.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu einer europäischen Regelung für die Einfuhr von Bananen, Drucksache 12/4264. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/3959 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit mit deutlicher Mehrheit angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Dr. Margrit Wetzel, Michael Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Öltankerunfällen und deren katastrophalen Folgen far Mensch und Natur
— Drucksache 12/4267 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wilfried Bohlsen, Dr. Rolf Olderog, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Manfred Richter , Horst Friedrich, Ekkehard Gries, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Prävention und Bekämpfung von Öltankerunfällen
— Drucksache 12/4307 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dietmar Schütz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spätestens nach den dicht aufeinanderfolgenden großen Tankerhavarien der „Regen Sea", „Braer" und zuletzt der „Maersk Navigator" um die Jahreswende 1992/93 kann es für uns keine Ausrede mehr geben, die parlamentarische Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen dieser Öltankerkatastrophen auf die lange Bank zu schieben. Wir müssen den parlamentarischen Druck auf die zuständigen Ressorts der Bundesregierung und auch
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12116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dietmar Schützder zuständigen Gremien außerhalb unseres politischen Einflußbereichs erhöhen. Es muß endlich konkret gehandelt werden, damit weitere Unfälle, womöglich in der Nord- und Ostsee, vermieden werden. Die SPD hat deshalb jetzt, vorbereitet durch die Arbeitsgruppen Umwelt und Verkehr, einen Antrag vorgelegt, in dem klar die Richtung aufgezeigt wird, in der die Bundesregierung tätig werden muß. Dieser Antrag kann noch ergänzt werden, er zeigt aber auch auf, wohin wir wollen.Wir begrüßen es auch, daß der Verkehrsausschuß auf unsere Initiative hin schon sehr bald eine Anhörung zu den im Antrag angesprochenen Problemen durchführt, um sachverständig unser, ich denke, gemeinsames Anliegen einer konzeptionellen Weiterentwicklung in der Tankersicherheit und der Sicherheit des Transports von Öl zu unterstützen.Öltankerhavarien sind keine sporadischen Unglücksfälle, die gleichsam mit der Unabwendbarkeit von Naturkatastrophen über Mensch und Umwelt hereinbrechen. Im Gegenteil, oftmals werden diese Unfälle erst möglich, weil zahlreiche seit langem bekannte notwendige Maßnahmen zur Minderung der Risiken der Öltankerschiffahrt bis heute nicht umgesetzt sind. Hält man sich vor Augen, daß gegenwärtig rund 3 000 Tanker jährlich 1,4 Milliarden t 01 über das Meer transportieren, dann sind in Anbetracht des mangelhaften Zustands zahlreicher Schiffe, der unzureichenden Qualifikation der Besatzungen und der vielfach ungenügenden Sicherheits- und Haftungsbestimmungen Tankerunglücke geradezu vorprogrammiert.Ein Blick auf die jüngere Entwicklung zeigt, daß sich in den letzten 15 Jahren allein elf große Tankerunglücke ereignet haben — von den kleineren Unfällen will ich gar nicht sprechen —, bei denen sich etwa 1 Million t 01 ins Meer ergossen haben.Es ist zwar richtig, daß von den 3,2 Millionen t Rohöl, die jährlich ins Meer gelangen, das meiste durch die Förderung und den Abfall und die Abwasserversorgung verursacht wird und nur ein Bruchteil, nämlich nur 5 %, auf Öltankerunfälle zurückzuführen ist. Den dringenden Handlungsbedarf in Sachen Öltankerunfälle mit ihren besonders katastrophalen Auswirkungen verringert dieses Größenverhältnis jedoch nicht. Die tägliche Ölverschmutzung sollte uns vielmehr dazu führen, in MARPOL etwas mehr zu tun.Obwohl bereits jeder einzelne Unfall Anlaß genug gewesen sein sollte, politisch eine schnelle und umfassende Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen zu veranlassen, sind entsprechende Schritte von der Bundesregierung und den EG-Partnern insbesondere auf IMO-Ebene immer wieder hinausgezögert worden. Seit langem arbeitet beispielsweise die EG-Kommission an dem Problem, wie die bisher in der IMO vereinbarten Sicherheitsstandards erzwungen und die Hafenstaatenkontrollen verbessert werden könnten. Ebenso wie der Ministerrat scheut auch sie sich jedoch, auf die Beschlußkompetenz zurückzugreifen.Was, so müssen sich die Bundesregierung und die EG insbesondere mit Blick auf das energische Handeln der USA fragen lassen, muß eigentlich nochgeschehen, bis endlich gehandelt wird? Was steht beispielsweise einer schnellen Ausweisung von Routen für Öltanker oder europäischen Hafenzufahrtsbeschränkungen entgegen? Warum ist eine Verschärfung der Hafenstaatenkontrollen bis heute nicht gelungen? Betrachtet man die Zögerlichkeit der Regierungen in dieser Frage, drängt sich der Eindruck auf, daß nur auf öffentlichen Druck etwas geschieht und es erst einer noch größeren Anzahl von Katastrophen bedarf, damit die notwendigen Schritte zügig angegangen werden. Ein zusätzlicher Beschleunigungsfaktor in Form eines weiteren Unfalls, womöglich vor der deutschen Nordseeküste, sollte spätestens seit dem Unglück der „Braer" nicht mehr nötig sein.Im Zusammenhang mit der Forderung nach einer effektiven Unfallprävention wird häufig darauf verwiesen, daß etwa 80 % aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, was dann den Schluß nahelegen könnte, daß alle Verbesserungsbemühungen ohnehin nur sehr begrenzten Erfolg haben würden. Ich halte aber diese Argumentation für irreführend, ja, für sehr gefährlich.Der pauschale Hinweis auf den Risikofaktor Mensch wird der jeweiligen Unfallsituation oft nicht gerecht. Am Beispiel der „Braer" läßt sich exemplarisch zeigen, daß eine Verbesserung der Rahmenbedingungen der Öltankerschiffahrt die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls erheblich reduziert hätte, bevor das individuelle Fehlverhalten des Kapitäns wirksam werden konnte. Vor dem Hinweis, daß der Kapitän viel zu spät Hilfe angefordert hat, muß die Frage stehen, warum das Schiff schlagartig manövrierunfähig werden konnte. Die Vermutung liegt nahe, daß das Schiff bereits mit gravierenden technischen Mängeln unterwegs war.Wären schärfere Sicherheitsinspektionen und kontinuierlich strengere Hafenstaatenkontrollen durchgesetzt worden, wie dies unser Antrag fordert, hätte ein derartiger Maschinenschaden vielleicht vermieden werden können. Wir müssen mit effektiveren Inspektionen künftig für mehr Sicherheit sorgen. Dazu gehört auch, daß bei Nichteinhaltung der Auflagen künftig konsequent Anlauf- bzw. Auslaufverbote ausgesprochen werden müssen.Ferner stellt sich die Frage, ob die Qualifikation der Besatzung und insbesondere die Kommunikationsfähigkeit zwischen griechischem Kapitän, polnischem Ingenieur und philippinischer Besatzung wirklich den Anforderungen entsprochen haben, die eine Krisensituation mit sich bringt. Notwendig sind eine Aus- und Weiterbildung der Besatzungen gemäß dem technischen Fortschritt und die Schaffung einer einheitlichen Arbeitssprache. Ich weiß, daß diese Forderungen auch Bestandteil des Katalogs der zuständigen EG-Minister sind. Einer schnelleren Umsetzung sollte deshalb nichts im Wege stehen; sie sollten damit anfangen.Ein weiteres Beispiel: Warum ist die enge und bei Schlechtwetter schwierige Passage zwischen den Shetlands und der schottischen Festlandküste nicht für Öltanker gesperrt bzw. diese Sperre nicht lückenlos überwacht worden?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12117
Dietmar SchützMeine Kolleginnen und Kollegen, wir müssen in Zukunft sicherstellen, daß Öltankerschiffe und sonstige Schiffe mit erheblichem Gefährdungspotential durch Festlegung von internationalen Schiffahrtsrouten von Küsten, insbesondere von ökologisch empfindlichen oder gefährlichen Küsten, ferngehalten werden.
Das Befahren dieser Routen — das ist richtig — muß mit einer Meldepflicht gekoppelt und durch land- und satellitengestützte Überwachungssysteme endlich effektiv kontrolliert werden. Dies sind alles Faktoren, die längst hätten verbessert werden können und müssen, um diese konkrete Havarie zu vermeiden.Darüber hinaus müssen grundsätzliche Rahmenbedingungen geändert werden. Wie in der Verkehrspolitik und in der Energiepolitik gilt auch für die Ölförderung und den Öltransport: Jeder Liter 01, den wir nicht fördern und transportieren, belastet unseren CO2-Haushalt weniger und erzeugt keine Gefahren beim Transport. Wir verfeuern den kostbaren Rohstoff Öl in Millionen Tonnen, die wir in Gefahrguttransporten übers Meer heranholen. Jeder Fortschritt in der Energiepolitik, der den Ölverbrauch reduziert, ist also auch ein Fortschritt in der Vermeidung von Gefährdungspotentialen und in der Vermeidung von Gefahrguttransporten.Wenn wir gleichwohl in absehbarer Zeit nicht auf die Anlandung von Öl verzichten können, sollten wir auch die Art des Transportes untersuchen. Die Ölversorgung der niederlausitzer petrochemischen Industrie kann z. B. durch Ölpipelines von Wilhelmshaven sichergestellt werden. Warum müssen wir mit Ölgroßtankern noch durch die Ostsee fahren? Das wäre vermeidbar.Schließlich noch ein Blick auf die versicherungsrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Welt-Öltankerflotte fährt. Sie ist nahe an mafiaähnlichen Strukturen. Auf der Basis des Lloyd-Registers of Shipping hat die „Zeit" in ihrer jüngsten Ausgabe dargestellt, daß Liberia, jetzt ein Land ohne Rechtsstrukturen und mit einer Rate von 61 % Analphabeten, an der Spitze der Tankernationen steht. Über 20 % der weltweiten Tankertonnage fahren unter liberianischer Flagge. Der Reiz für die Schiffseigner an diesen Billigflaggen liegt in den niedrigen Steuern, fehlenden Tarifrechten, laschen Sicherheitsauflagen und nicht vorhandenen Rechtsstandards.Diese Strukturen, die die Verantwortlichkeit für eine Tankerhavarie aushebeln, werden von Reedern und Eignern durch Eigentumsschachteln noch unterstützt, die eine Haftung für eingetretene Schäden vollends verhindern.Die bei den Shetland-Inseln verunglückte „Braer" gehört dem in London lebenden Norweger Arvid Bergwall und Michael Huttner aus den USA. Dort, im Staat Connecticut, hat die Firma Bergwall & Huttner Ship-Management ihren Sitz. Betrieben wurde das Schiff von der in Liberia registrierten Tochtergesellschaft Braer-Corporation der Bergwall & Huttner Holding. Die Braer-Corporation hat den Tanker an eine Gesellschaft auf den Bermudas ausgeliehen, diezwei Gesellschaften in New York als Reeder beauftragt hat. Gechartert wurde der Tanker von der US-Gesellschaft Ultra-Mar.Ich glaube, diese Konstruktionen zeigen, daß wir vor allem Rechtsinstrumente schaffen müssen, die haftungsrechtlich und versicherungsrechtlich die Verantwortlichkeiten festschreiben. Die Versicherungsgesellschaften dürfen Versicherungen nicht mehr abschließen, wenn derartige „Wegtauchmöglichkeiten" — bei Tankern ist Abtauchen ja schwer denkbar; aber sie tauchen haftungsrechtlich weg — bei der Haftungsfrage auftreten können. Je kompetenzloser der Flaggenstaat im Standard der Technik und in der Überwachung der Qualifikation der Mannschaft ist, desto höher muß die Versicherungsprämie ausfallen. Wer Mindeststandards nicht erfüllt, darf nicht fahren, weil Versicherungsschutz nicht gewährt wird.
Die Flaggenstaaten müßten in die Haftungs- und Schadenersatzfonds einbezogen werden. Die Schadensersatzpflicht muß sich dabei auf alle Folgen des Unfalls erstrecken. Konkret heißt das, sowohl die Bekämpfung der Umweltschäden als auch die Sanierung der betroffenen Regionen und der Aufbau neuer Existenzen müssen künftig von den Versicherungen abgedeckt werden.Gerade die hohe Zahl veralteter Tanker, die dem technischen Standard nicht mehr entsprechen, stellt einen Risikofaktor dar. Wir müssen versuchen, diese alten Schrottlauben von den Meeren zu verbannen. Wenn wir dies schaffen, ist das gleichzeitig ein entscheidender Impuls für unsere Werftenprogramme. Wir brauchten nicht zu subventionieren, sondern wir könnten Tanker bauen. Das durchzusetzen ist ein Gebot der Stunde.Ich danke Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen.
Als nächste spricht die Kollegin Bärbel Sothmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Aktuellen Stunde am 14. Januar haben wir uns mit dem Tankerunglück vor den Shetland-Inseln befaßt. Der Rohöltransport auf See bleibt ein brisantes Thema. Die Serie der großen Tankerunfälle reißt nicht ab. Nur kurze Zeit nach der letzten Katastrophe verseuchte der unter liberianischer Flagge fahrende Supertanker „Maersk Navigator" in der Straße von Malakka das Meer mit 40 000 t Rohöl. Auch hier wieder die bekannten Ursachen: Billigflaggen und menschliches Versagen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat bereits umfangreiche Initiativen zur Vermeidung und Bekämpfung von Öltankerunfällen auf nationaler wie auch internationaler Ebene ergriffen. Ich möchte besonders den Fünf-Punkte-Plan und die Einsetzung der interministeriellen Arbeitsgruppe hervorheben,
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Bärbel Sothmannvon der bereits in der nächsten Woche der erste Bericht zu erwarten ist.Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich diese Maßnahmen der Bundesregierung. Wir sind jedoch der Meinung, daß die angestrebten Verbesserungen bei der Sicherheit des Tankerverkehrs noch immer nicht ausreichen. Wir sind darüber hinaus der Meinung, daß sich weitere Überlegungen auch verstärkt auf den Bereich der Nord- und Ostsee konzentrieren müssen. Unsere Strategien müssen sich in erster Linie auf die Unfallverhütung konzentrieren, aber auch auf Schadensbegrenzungen erstrecken.In dem Koalitionsantrag der Fraktionen von CDU/ CSU und F.D.P. fordern wir bessere Vorsorge- und Entsorgungseinrichtungen an Nord- und Ostseeküste. Wichtig ist es, insbesondere den Abtransport von kontaminiertem Material sicherzustellen. Wir brauchen darüber hinaus die Ausweisung und besondere Sicherung von Renaturierungszellen; denn „saubere Inseln" beschleunigen die Wiederbesiedlung. Wir fordern ferner für den Bereich der Nord- und Ostsee die Schaffung einer ständigen Einrichtung „Umweltschutz und Seeverkehr", um eine schnelle Diagnose über die Auswirkungen von Öltankerunfällen zu gewährleisten. Darüber hinaus sind bessere Sicherheitsstandards für den Bau und die Ausrüstung der Öltanker unabdingbar, Stichwort: Doppelhüllenbauweise. Der Wettbewerb darf sich nicht länger am geringsten Sicherheitsstandard orientieren. Die Übergangsregelungen für Alttanker müssen auf maximal 15 Jahre verkürzt werden.Zu unseren übrigen verkehrstechnischen Forderungen, meine Damen und Herren, wird mein Kollege Börnsen noch Stellung nehmen.Die Vorstellungen der SPD decken sich in vielen Punkten mit den unseren. Sie sind jedoch teilweise nicht realisierbar. Dies betrifft insbesondere die Punkte 2.2, 2.3 und 2.4 Ihres Antrages. Hier fordert die SPD beispielsweise die Einbeziehung der Flaggenstaaten in die Schadensersatz- und Haftungsfonds, die Hinterlegung von 20 000 DM pro Tonne verlorener Ladung nach einem Unfall sowie die Verkürzung der Laufzeit nicht nachrüstbarer Tanker auf höchstens fünf Jahre.Meine Damen und Herren der Opposition, Maximalforderungen, wie Sie sie aufstellen, scheinen angesichts der ökologischen und ökonomischen Katastrophen nach Tankerunfällen wünschenswert. Solche Maximalforderungen bergen allerdings die Gefahr, die Durchsetzung notwendiger Maßnahmen zur Sicherheit der Seeschiffahrt international zu verzögern. Internationale Akzeptanz ist allerdings eine unabdingbare Voraussetzung für einen sicheren Rohöltransport auf See.Bis Juni müssen konkrete Vorschläge der EG zur besseren Sicherheit der Seeschiffahrt auf den Tisch. Ein gemeinsames Vorgehen der Bundestagsfraktionen tut jetzt not. Das heißt, wir müssen alle an einem Strang ziehen.
Nun spricht die Kollegin Ingeborg Philipp.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Öltankerunfällen und deren katastrophalen Folgen sollten zu einem Umsteuern in der Energiepolitik führen. Ein niedriger Ölpreis kann eben nur auf Kosten von Menschen und Umwelt erhalten werden.
1986 gab es durch den Ölpreisverfall einen neuen Verbrauchsschub. Anstatt dem durch Preisverfall völlig falschen Marktsignal durch eine Importabgabe auf Mineralöl, Gas und Drittlandskohle entgegenzuwirken, unternahm die Bundesregierung nichts, um den ansteigenden Ölimporten entgegenzuwirken. Dieser Vorwurf muß auch der EG-Kommission gemacht werden. Mit dieser Importabgabe könnten Energieeffizienzverbesserungen, Energieeinsparungsmaßnahmen, die Nutzung regenerativer Energiequellen und auch die volkswirtschaftlich sinnvolle Stützung heimischer Energieträger, wie der Steinkohle, finanziert werden, natürlich auch ein effizientes Verkehrssystem.
Energienutzung hat immer einen Preis. Entweder sorgen wir auf Kosten von Menschen durch Minimallöhne und bei hohen Unfallquoten für billiges Erdöl, Erdgas und Welthandelskohle — parallel dazu wird in der Regel die Umwelt ruiniert —, oder wir wählen den sanfteren Weg: Wir minimieren die Ölimporte durch zielgerichtete Importabgabe und Umsteuerung auf heimische Energieträger. Dann gibt es mehr Arbeitsplätze bei uns und weniger gefährliche und menschenunwürdige Arbeitsplätze in den erdölexportierenden Drittweltländern, außerdem ein niedrigeres Gefahrenpotential auf den Weltmeeren.
Unsere Welt braucht einen entscheidenden Hoffnungsimpuls. Wir müssen vom Vorteildenken wegkommen und Gemeinwohldenken praktizieren. Darauf kommt es an, und diesen Weg müssen wir gehen.
Danke.
Als nächste spricht die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Häufung von Tankerunfällen in den letzten sieben Wochen zeigt uns deutlich, daß die bisher beschlossenen Maßnahmen, die gerade auch von der Bundesregierung ergriffen wurden, zur Prävention noch nicht ausreichen. Es ist eine Reihe weiterer Maßnahmen nötig, um Tankerunfälle wirkungsvoll zu verhindern. Das haben wir von den Koalitionsfraktionen aus unserer Sicht in dem entsprechenden Antrag dargelegt.Das Vorsorgeprinzip muß dabei absolute Priorität haben. Das gilt bei allen internationalen Bemühungen, aber das gilt natürlich ganz besonders für die Nord- und Ostseeküste.Besonders wichtig ist dabei die Weiterentwicklung und Koordinierung von Know-how. Dazu soll die Datensammlung, Beratung und Forschung bei Wissenschaft, Industrie und Verwaltung koordiniert werden. Es geht dabei nicht etwa um die Schaffung einer weiteren Behörde, sondern um die vernünftigte Koordinierung der Arbeit. Durch eine solche Bündelung
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Birgit Homburgerdes Wissens kann dann im Falle eines Unfalls eine schnelle und realistische Diagnose über die Auswirkungen gemacht werden. Die schiffahrtstechnischen Aspekte müssen dabei stärker mit ökologischen Aspekten in Einklang gebracht werden.Wir haben diesem Umstand in unserem Antrag dadurch Rechnung getragen, daß wir das Hoheitsgebiet in Koordination mit anderen Nord- und Ostseeanrainerstaaten auf 12 Seemeilen erweitern wollen. Dadurch werden Überwachungskompetenzen der einzelnen Staaten ausgeweitet.Darüber hinaus fordern wir von der Bundesregierung eine Übersicht über die sachlichen und personellen Mittel, die für die Vorsorge und Bekämpfung von Ölunfällen zur Verfügung stehen.In diesem Zusammenhang erwarten wir eine Bewertung des Mitteleinsatzes hinsichtlich der zeitlichen Dimension, aber auch der Wirksamkeit, auch unter Berücksichtigung der besonderen Wetterlagen, urn festzustellen, ob weitere Maßnahmen in diesem Bereich erforderlich sind.Über die international nötigen Maßnahmen besteht in einigen Punkten Einigkeit auch mit der SPD, so z. B. bei der Festlegung küstenferner Routen und bei dem ausgesprochen wichtigen Punkt einer einheitlichen Arbeitssprache auf den Schiffen. Zu den anderen Punkten, in denen zwischen unseren Anträgen Differenzen bestehen, hat die Kollegin von der CDU gerade Stellung genommen.Es wird geschätzt, daß ca. 80 % der Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind; der Kollege Schütz hat das vorhin bereits ausgeführt. Deshalb sind für uns vor allen Dingen Verbesserungen im Schiffsmanagment und bei der Ausbildung der Besatzung dringend erforderlich.Die Sicherheit der Tanker kann durch verschiedene Maßnahmen erhöht werden. Von fünf europäischen Werften wurde z. B. der sogenannte E-3-Tanker entwickelt, der nach Ansicht der Germanischen Lloyd derzeit ein Optimum an Sicherheit bieten würde. Dabei ist die Pufferzone zwischen Schiffs- und Tankwand doppelt so groß, wie z. B. von der IMO gefordert. Zusätzlich wird der Tanker in weitere Einzeltanks unterteilt. Weitere Verbesserungen dieser neuen Tankerkonstruktion zeigen, daß auch die Ingenieure aus den letzten Katastrophen gelernt haben und dieses zur Erhöhung der Sicherheit umgesetzt haben.Der Bau solcher hochentwickelten und sicheren Tanker muß weiter gefördert werden, indem nach einer angemessenen Umrüstungszeit, die wir auf maximal 15 Jahre begrenzen wollen, nur noch Tanker, die dem IMO-Standard entsprechen, in den EG-Häfen und in den Häfen der Nord- und Ostseeanrainerstaaten entladen werden dürfen. Die Bundesregierung ist hier aufgefordert, auf eine internationale Vereinbarung hinzuwirken.Als Mittel zur Förderung der Sicherheit sieht die F.D.P.-Fraktion auch die Maßnahme einer gemeinschaftlichen Erhöhung der Hafengebühren für Tanker, die nicht von anerkannten Klassifizierungsgesellschaften überprüft wurden.Meine Damen und Herren, wir werden noch eine ganze Reihe von Gelegenheiten haben, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen, insbesondere in den Ausschüssen. Meine Fraktion wird für Überweisung in den Verkehrsausschuß plädieren. Da bei uns zwischen den Umwelt- und den Verkehrspolitikern keinerlei inhaltliche Differenzen bestehen, redet bei uns die Umweltpolitik.Danke.
Nun spricht der Kollege Wolfgang Börnsen zu uns.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, daß sich nicht nur die Regierung dieser Thematik annimmt, sondern auch das Parlament. Ich bedanke mich für die sehr sachliche Einführung durch meinen Kollegen. Dadurch ist deutlich geworden, wie wichtig uns dieses Thema ist und wie sehr es uns auf den Nägeln brennt.Öltanker sind schwimmendes Dynamit auf unseren Meeren. Öltanker führen, wenn sie havarieren, zu einer Ölkatastrophe. Fauna und Flora werden zerstört. Wir Menschen werden dabei um einen Teil der Schöpfung betrogen.Als 1967 mit der „Torrey Canon" das erste große Öltankerunglück passierte, begann man in jedem Land, am Sicherheitsstandard zu arbeiten und ihn zu verbessern. 25 Jahre später läßt sich feststellen: Es hat weitere 27 große Öltankerunfälle gegeben. Die Abstände sind immer kürzer geworden. Die bisherige Strategie der Risikominderung hat versagt. Das bisherige Sicherheitsinstrumentarium reicht offensichtlich nicht aus, weil nationale Alleingänge nur punktuelle Erfolge erzielen. Die Seeschiffahrt ist international. Nur ein weltweit abgestimmtes Öltankersicherheitsprogramm mit verbindlich einzuhaltenden Auflagen für die Reeder und mit empfindlichen Strafen hat Aussicht, die Serie der Schreckensmeldungen zu beenden.So greift auch das, wie ich finde, sehr vorbildliche Oil Pollution Act der USA zu kurz; denn schon beginnen Schiffahrtsunternehmen, amerikanische Häfen zu meiden. Das darf nicht der Weg sein.Der Trend zur Billigflagge hat in den vergangenen zwei Jahren rapide zugenommen. Die Einsparungen gehen auf Kosten der Sicherheit und führen dazu, daß unter Billigflagge jeder zweite Öltanker älter ist als 15 Jahre. Ältere Schiffe machen dabei 82 % aller Schiffsverluste aus. Nur eine eindeutige Altersbegrenzung und ein weltweites Kontrollsystem können dazu beitragen, daß nicht noch der letzte rostige „Seelenverkäufer" zu einer Goldgrube wird.Auslaufen dürfen nur Tanker, die technisch intakt sind, mit qualifizierter Crew, einem verläßlichen nautischen Rückgrat, einer gemeinsamen Bordsprache, die eine Sicherheitsroute, die ihnen vorgegeben worden ist, und auch die Lotsenpflicht einhalten. Reeder, Ladungseigner und Charterfirmen müssen in Zukunft mit wirtschaftlich knallharten Auflagen rechnen, wenn sie sich nicht an diese Vorschriften halten.
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Wolfgang Börnsen
Öltanker der alten Generation, die keine Sicherheit garantieren, gehören international geächtet. Gefahrgut gehört nicht unter die Billigflagge. Europa muß damit beginnen. Die EG ist einer der größten Ölkunden der Welt. Sie kann die Kraft zu einem Sicherheitsdiktat aufbringen. Das Fünf-Punkte-Programm der Bundesregierung ist, wie ich finde, ein guter Ansatzpunkt für eine neue Sicherheitsstrategie und auch zur Entwicklung des EG-Sicherheitstankers; dessen Entwicklung in Bremen und Kiel muß noch schneller und entschlossener vorangebracht werden.Nur: Technische Perfektion ist nicht alles. Unser Kollege Schütz hat schon gesagt: Das menschliche Versagen spielt dabei eine ganz große Rolle. Zu 90 % ist es für Tankerunglücke ursächlich. Dort müssen wir ansetzen. Wir müssen dafür sorgen, daß es nicht mehr zu diesem menschlichen Versagen kommt.
Kollege Börnsen, der Kollege Peter möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Börnsen, darf ich Sie so verstehen, daß Sie sich in bezug auf den ganzen Katalog von Maßnahmen, die Sie überprüft haben wollen, auch mit dem Gedanken tragen, das zweite Schiffsregister, das uns ja vor das Problem des Ausflaggen gestellt hat, mit in diesen Katalog aufzunehmen?
Herr Kollege, wir müssen in diesem Zusammenhang viel intensiver über ein europäisches Schiffsregister beraten. Das zweite Schiffsregister bei uns hat teilweise zu Erfolgen geführt, indem es die Ausflaggung gehemmt hat. Aber wir sehen heute, daß die nationalen Zweitregister — auch das von Norwegen und Dänemark —nur eine beschränkte Wirkung gehabt haben. Wir müssen zu einem gemeinsamen europäischen Schiffsregister kommen, damit die Reeder nicht in die Billigflaggenländer gehen. Das ist das eigentliche Problem. Darüber sind wir uns auch hoffentlich einig.
Ich möchte gerne zum Schluß kommen. Wir von der Union räumen der Prävention bei Tankerunfällen ersten Rang ein. Wir sind für besondere Schutzmaßnahmen im Bereich von Nord- und Ostsee. Wir halten Sofortmaßnahmen für notwendig, sind aber gegen Aktionismus und Utopien.
Wir müssen uns auch von dem Glauben befreien, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Havarien von Ölriesen verhindern, dann sei die Meeresverschmutzung durch Öl auch gestoppt. Weit gefehlt! Eines muß man wissen: Nur 5 % der jährlichen Meeresverschmutzung werden durch die großen Unfälle von Öltankern verursacht. Viel schlimmer sind die heimlichen, die versteckten Einleiter. Wenn wir Ernst machen wollen mit dem Abbau der Meeresverschmutzung, dann müssen wir uns besonders um diese versteckten, heimlichen Einleiter kümmern. Da müssen wir ansetzen. Ich finde, daß unsere Institutionen, angefangen vom Glücksburger Flottenkommando bis hin zu den großen Überwachungsorganisationen, ein Gutteil dazu beitragen, daß wir hinsichtlich der Verhinderung der Ölverschmutzung in Nord- und Ostsee vorbildlich sind.
Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/4267 und 12/4307 an den Ausschuß für Verkehr zur federführenden Beratung und an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/4295 —
Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zur Verfügung.
Ich rufe Frage 19 des Abgeordneten Christoph Matschie auf:
In welcher Form soll die Sanierung der durch die Tätigkeit der WISMUT kontaminierten oder anderweitig in Mitleidenschaft gezogenen Gebäude, Wohnbereiche und Grundstücke erfolgen, die nicht zum Eigentum der WISMUT GmbH gehören?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Herr Kollege, die Untersuchungen zur Ermittlung des Sanierungsbedarfs von Liegenschaften, die auf Grund früherer Wismut-Tätigkeit kontaminiert sind, heute aber eben nicht mehr im Eigentum der Wismut stehen, sind noch nicht abgeschlossen. Insbesondere das Projekt des Bundesamtes für Strahlenschutz „Radiologische Erfassung, Untersuchung und Bewertung bergbaulicher Altlasten" ist auf einen Zeitraum bis 1996 angelegt.
Nach Auffassung der Bundesregierung sind die jeweiligen Rechtsträger für etwaige Sanierungsmaßnahmen verantwortlich, für die im übrigen in genehmigungsrechtlicher Hinsicht grundsätzlich die gleichen Anforderungen gelten wie für die im Eigentum der Wismut GmbH befindlichen Flächen. Eine Haftung des Verursachers oder des Rechtsfnachfolgers könnte lediglich dann in Betracht kommen, wenn die Rückübertragung nach den seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften nicht rechtmäßig erfolgte. Unbeschadet davon haftet die Wismut allerdings für Bergschäden, die durch den Uranbergbau der sowjetischdeutschen Aktiengesellschaft Wismut außerhalb des Betriebsgeländes entstanden sind oder entstehen.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
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Herr Staatssekretär, es liegen ja auch schon erste Ergebnisse dieser Untersuchungsprogramme vor. Ich verweise jetzt nur auf die Radonmessungen in Wohngebäuden. Dabei wurden teilweise Werte festgestellt, die um den Faktor 1 000 über den Grenzwerten liegen. Die Bürger sind darüber informiert worden. Es gibt aber keine Kenntnis darüber, inwieweit hier Sanierungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen und wer die Kosten für diese Sanierung trägt. Können Sie darüber Auskunft geben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es ist grundsätzlich so, daß der Eigentümer sanierungspflichtig ist. In einem Gutachten wird darüber hinaus die Rechtsauffassung vertreten, daß es auch andere Haftungsregelungen geben könnte. Die Bundesregierung ist jedoch der Auffassung, daß dies grundsätzlich die Sache des jeweiligen Eigentümers ist. Soweit eigene Flächen der Wismut betroffen sind, wäre diese sanierungspflichtig.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Stimmen Sie mir zu, daß die Sanierung des Wismut-Gebietes eine nationale Aufgabe darstellt und daß es von daher fraglich ist, ob beispielsweise den Hauseigentümern oder den Wohnungseigentümern zugemutet werden kann, die Kosten für eine Sanierung von Kontaminationen, die durch die Tätigkeit der Wismut entstanden sind, selbst zu übernehmen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Rechtsfragen, die hinter Ihrer Frage stehen, sind umstritten. Soweit es sich um Flächen handelt, die noch im Eigentum der Wismut stehen, ist es eindeutig, daß der Eigentümer sanierungspflichtig ist.
Soweit dies außerhalb der vom Bund im Rahmen der Sanierung geförderten Projekte geht, ist es grundsätzlich Angelegenheit der jeweiligen Grundstückseigentümer, es sei denn, es handelt sich um Bergschäden.
Zusatzfrage, Kollegin Klemmer.
Herr Staatssekretär, da Sie gerade dargestellt haben, daß die jeweiligen Eigentümer für Sanierungsmaßnahmen zuständig sind, frage ich Sie: Meinen Sie nicht, daß die Eigentümer in den Fällen, in denen die Länder Sachsen und Thüringen oder aber Städte und Gemeinden Eigentümer dieser Liegenschaften sind, in bezug auf das, was wir an — einem internationalen Standard angemessener — Sanierung erwarten können, zumindest für die nächsten zehn Jahre finanziell völlig überfordert sind und daß es sich von daher eigentlich von selbst versteht, daß der Bund auch finanziell als Sanierungsträger eintreten muß?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich verstehe grundsätzlich Ihr Anliegen, daß
Sie auch aus der Sicht der betroffenen Länder versuchen, den Bund in Anspruch zu nehmen. Dies ist allerdings eine Frage, die man unabhängig von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften als die generelle Rechtsfrage sehen muß, wer sanierungspflichtig ist.
Es ist nach unserer Rechtsauffassung grundsätzlich so, daß der jeweilige Eigentümer, soweit es sich nicht um Bergschäden handelt, nach der jetzigen gesetzlichen Regelung sanierungspflichtig ist. Würde man davon abweichen, dann müßte man möglicherweise eine generell abweichende Regelung treffen. Das hätte finanzielle Folgen, die man natürlich genau zu bedenken hätte. Aber ich sage noch einmal: Die dahinterstehende Rechtsfrage ist durchaus umstritten. Die Bundesregierung befindet sich auch noch in Gesprächen im Hinblick auf die Sanierungspflichten.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht mehr vor.
Wir kommen zu Frage 20 der Abgeordneten Siegrun Klemmer:
Wie hoch ist der Schaden, der der bundeseigenen WISMUT GmbH durch kriminelle Machenschaften von Scheinfirmen, teilweise von WISMUT-Mitarbeitern gegründet, im Zusammenhang mit der Abnahme von Kohleasche aus Kraftwerken entstanden ist, und gedenkt das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft Strafanzeige zu erstatten bzw. bei der geschädigten WISMUT GmbH personelle Konsequenzen zu ziehen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, über die Höhe des Schadens, der der Wismut GmbH durch Veruntreuung über die Einschaltung von Drittfirmen bei der Abnahme von Asche aus Kraftwerken entstanden ist, kann die Bundesregierung zum derzeitigen Stand des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens noch keine genauen Angaben machen. Nach Auskunft der zuständigen Staatsanwaltschaft dürfte es sich jedoch um mehrere Millionen DM handeln.
Auf Veranlassung des Bundeswirtschaftsministeriums hat die Geschäftsführung der Wismut GmbH im Frühjahr des vergangenen Jahres Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Chemnitz erstattet. Das Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen, hat allerdings zwischenzeitlich dazu geführt, daß im November und Dezember 1992 gegen zwei Personen, davon ein Wismut-Mitarbeiter, Haftbefehle erlassen wurde. Die Geschäftsführung der Wismut GmbH hat entsprechend dem Stand des Ermittlungsverfahrens die erforderlichen personellen Konsequenzen gezogen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, können Sie Angaben darüber machen, wann und durch wen genau Ihr Ministerium von diesen Unregelmäßigkeiten erfahren hat, oder haben Sie nur durch Einrede von Konkurrenten davon erfahren, oder sind Ihre Informationen auf eigene Ermittlungen zurückzuführen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich nehme an, daß Sie auf einen aktuellen
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12122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard GöhnerPresseartikel in dieser Angelegenheit Bezug nehmen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß das Bundeswirtschaftsministerium Ende 1991 aus zum Teil anonymen Hinweisen Kenntnis von möglichen Unregelmäßigkeiten beim Bezug der Kraftwerksasche durch die Wismut GmbH erhalten hat. Daraufhin haben wir das in solchen Fällen einzig Mögliche getan, nämlich die Wismut GmbH gebeten, die Staatsanwaltschaft einzuschalten; und das ist geschehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, meinen Sie nicht, daß diese Unregelmäßigkeiten auch deshalb möglich sind, weil es das Ministerium bisher versäumt hat, in der personellen Spitze der Wismut GmbH eine stärkere strukturelle Veränderung vorzunehmen, die es bestimmten Mitarbeitern dort, die über ein großes Insiderwissen und alte Kontakte verfügen, nicht länger ermöglicht und erleichtert, solche Unregelmäßigkeiten vorzunehmen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, es geht hier um kriminelle Machenschaften, und auf Grund der Hinweise aus dem Bundeswirtschaftsministerium an die Geschäftsführung der Wismut ist die Staatsanwaltschaft eingeschaltet worden. Auch die personellen Konsequenzen sind unverzüglich eingeleitet worden. Ich sehe hier auch bei der Wismut GmbH keine Versäumnisse, erst recht nicht dort, wo die anonymen Hinweise eingegangen sind.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Matschie.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zuzugeben, daß eventuell schon zu einem früheren Zeitpunkt personelle Konsequenzen hätten gezogen werden müssen und daß die Bundesregierung hier in der Verantwortung gestanden hat?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist ein arbeitsrechtliches Problem. Allein auf Grund eines Verdachts sind arbeitsrechtliche Maßnahmen, z. B. eine Kündigung, noch nicht möglich, wohl aber eine Beurlaubung. Erhärten sich diese Verdachtsmomente, sind weitergehende Schritte möglich. Diese sind in dem vorliegenden Fall auch erfolgt. Ich meine daher, daß jedenfalls nach den uns vorliegenden Erkenntnissen konsequent vorgegangen wurde, um diese Machenschaften zu beenden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Simon Wittmann werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bernd Wilz zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 23 des Kollegen Bernd Reuter.
Beabsichtigt die Bundesregierung, Sanitätseinheiten nach Somalia zu entsenden?
Frau Präsidentin! Ich beantworte die Frage wie folgt:
Das Bundeskabinett hat am 17. Dezember 1992 beschlossen, die humanitäre Hilfe durch verstärkten Einsatz von Transportflugzeugen der deutschen Luftwaffe fortzusetzen und den Vereinten Nationen anzubieten, zur Unterstützung ihrer friedenserhaltenden Maßnahmen in Somalia — UNOSOM — innerhalb befriedeter Regionen ein verstärktes Nachschub-/Transportbataillon der Bundeswehr für humanitäre Aufgaben einzusetzen.
Die deutschen Soldaten sollen nur zu ihrer Selbstverteidigung bewaffnet sein und im Rahmen von UNOSOM II in einem sicheren Umfeld - „secure environment" — eingesetzt werden.
Das Angebot wurde den Vereinten Nationen übermittelt. Eine Rückäußerung dazu steht noch aus, ebenfalls das erforderliche Mandat. Erst aus dem Mandat wird sich die Zusammensetzung des vorgeschlagenen deutschen Unterstützungsverbands ergeben.
Unabhängig von Art und Stärke des Kontingents wird die sanitätsdienstliche Versorgung der eingesetzten Soldaten durch Sanitätspersonal sichergestellt werden. Ob dazu eine gesamte Sanitätseinheit erforderlich ist, kann derzeit noch nicht beurteilt werden.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, Soldaten haben die Frage an mich herangetragen, wie es mit dem Versicherungsschutz aussieht. Viele Soldaten haben Lebensversicherungen abgeschlossen und mir dargelegt, daß die Versicherer Kriegsfälle ausdrücklich ausschließen. Was gedenken Sie zu tun, um denen zu helfen, die einen solchen Auslandseinsatz machen müssen?Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe eben vorgetragen, daß bisher überhaupt noch nicht entschieden ist, ob und wann und in welchem Umfang Sanitätspersonal nach Somalia geht. Sollte Sanitätspersonal dorthin gehen, würde auch die versorgungsrechtliche Frage eindeutig geklärt sein. Im Grundsatz gilt das, was wir für Kambodscha vereinbart haben, u. a. daß die Frage der Lebensversicherung eindeutig geklärt ist und für die Frage der Unfallversicherung, weil diese mit dem Unfallversicherer noch nicht klar geregelt ist, eine Garantieerklärung der Bundesregierung vorliegt. Insofern wären die Soldaten eindeutig gesichert.Darüber hinaus werden wir demnächst einen Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag eingebracht haben. Es wird der Entwurf eines Auslandsverwendungsvorsorgegesetzes — AVVG — sein,
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Parl. Staatssekretär Bernd Wilzmit dem auch alle sonstigen Kriterien — ebenfalls für das zivile Personal — eindeutig geklärt werden.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Wenn, wie Sie schildern, bisher noch nichts geklärt ist, möchte ich Ihnen die Frage stellen, warum bereits jetzt Sanitätsfahrzeuge in Hildesheim mit Tarnanstrichen versehen werden?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, natürlich ist geklärt, was wir angeboten haben und was wir zu tun bereit wären. Aber da noch kein Mandat erteilt ist und die UNO noch keine entsprechende Beschlußlage herbeigeführt hat, stellt sich diese Frage im Moment konkret nicht.
Wenn Fahrzeuge bereits mit Tarnfarben versehen sind, so müssen Sie dies vor folgendem Hintergrund sehen: Es gab im Dezember das Angebot der Bundesregierung an die UNO und in Verbindung damit die Überlegung, ein Vorauskommando nach Somalia zu schicken, das dort Erkundungen vornehmen sollte. Im Zusammenhang damit hat das deutsche Heer, sozusagen vorausplanend, einige Fahrzeuge mit Tarnfarbe versehen. Dies hat aber überhaupt keine Bedeutung für die Frage, ob oder wann solche Fahrzeuge nach Somalia gehen würden.
War das eine Zusatzfrage, Herr Kollege Weiß? — Jetzt noch eine Zusatzfrage des Kollegen Matschie.
Herr Staatssekretär, geschahen diese Aktivitäten — so würde ich es mal nennen — auf Anfrage von seiten der UNO, oder wurde hier von der Bundesregierung selbst ein Angebot an die UNO unterbreitet, solche Einsätze eventuell vorzunehmen?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Die erste Feststellung dazu ist, daß es einen dauerhaften Kontakt der Bundesregierung zur UNO gibt. Zweitens haben wir selber Offiziere in New York, nämlich zwei. Drittens hatte sich die UNO zum Somalia-Einsatz eindeutig festgelegt. Im Rahmen dessen hat dann die Bundesregierung vorausschauend auf der Grundlage des von mir eben Erwähnten ein Angebot unterbreitet.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Staatssekretär, Sie waren sehr wortreich, haben die Frage aber eigentlich nicht beantwortet. Gab es eine Aufforderung der UNO an die Bundesrepublik, Einheiten zu stellen?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Es gab dies nicht in dem Sinne, daß eine formale Aufforderung erging, etwa: „Ihr Deutschen müßt etwas stellen. " Aber es gab eine eindeutige Festlegung, was die UNO insgesamt erwartet, in welchen Schritten sie vorgehen würde und wollte. Das ist eine Aufforderung an alle UNO-Partner. Dies versteht sich von selbst.
Im übrigen gibt es natürlich auch unmittelbare Kontakte zwischen Vertretern der UNO und der Bundesregierung. Aus alledem heraus ist die Bundesregierung zu diesem Angebot gekommen.
Weitere Zusatzfragen zu dieser Frage liegen nicht vor.
Wir kommen zu Frage 24 des Kollegen Reuter:
Sollen hierbei auch Wehrpflichtige beteiligt werden?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Ich beantworte die Frage wie folgt: Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit würden grundsätzlich an der genannten Aufgabenstellung beteiligt. Grundwehrdienstleistende und Reservisten würden nach dem Prinzip der Freiwilligkeit ausgewählt.
Ist ein solcher Einsatz mit dem Gelöbnis und mit dem Eid, den die Soldaten geleistet haben, in Einklang zu bringen? Ich frage deshalb, weil mir die Soldaten erklärt haben, daß sie den Eid geleistet hätten, das Territorium der Bundesrepublik zu verteidigen, aber nicht den, irgendwo in der Welt eingesetzt zu werden.
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, zunächst muß man mal unterscheiden, über wen wir hier miteinander sprechen. Berufssoldaten und Zeitsoldaten leisten einen Eid, während Wehrpflichtige das öffentliche Gelöbnis ablegen. In dem einen Fall heißt es: „Ich schwöre. " In dem anderen Falle heißt es: „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen, das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen." Wenn man dies als Wehrpflichtiger so gelobt, dann heißt das: Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung, zu dienen — die Politik wird durch die Bundesregierung festgelegt — und im übrigen den Rechtsstatus der Deutschen wahrzunehmen. Insofern deckt sich das absolut, entweder auf der freiwilligen Basis für Wehrpflichtige und Reservisten oder auf der Grundlage des normalen dienstlichen Auftrags für Berufs- und Zeitsoldaten.
Eine Zusatzfrage, Kollege Reuter.
Gab es am 23. Dezember einen Erlaß oder einen Brief an die Soldaten, in welchem der Auftrag, den sie zu erfüllen haben, neu definiert wurde, und sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es doch von Bedeutung ist, daß ein Soldat, sei er nun Wehrpflichtiger oder Zeitsoldat, der ein Gelöbnis oder einen Eid leistet, zunächst davon ausgehen konnte, daß er auf der Grundlage des Grundgesetzes zur Verteidigung unseres Landes eingesetzt wird, und ist das, was jetzt von seiten der Bundesregierung geplant und beabsichtigt ist, nicht eine Abweichung von diesem von dem Soldaten zu leistenden Auftrag?Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Zunächst habe ich festzustellen, Herr Kollege, daß alles, was wir tun, in Einklang mit dem Grundgesetz steht.Zweite Aussage: Das Bundeskabinett hat im Februar letzten Jahres eine eindeutige Beschlußlage darüber herbeigeführt, was wir tun oder nicht tun. Darüber hinaus hat das Bundesministerium der Ver-
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12124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Parl. Staatssekretär Bernd Witzteidigung im Herbst letzten Jahres verteidigungspolitische Richtlinien erarbeitet und herausgegeben. Daraus geht eindeutig hervor, was wir zu leisten haben, nämlich Landesverteidigung, erweiterte Landesverteidigung — das ist das, was wir Bündnisverteidigung nennen —, humanitäre Hilfe. Dies ist zunächst einmal eindeutig und klar. Alles andere kennen Sie aus der Diskussion, in die wir, d. h. die Koalitionsparteien und die Sozialdemokraten, miteinander getreten sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Helmut Schäfer.
Herr Kollege Wilz, sind Sie, nachdem Sie und ich die Gelegenheit hatten, diensttuende Bundeswehrsoldaten in Kambodscha, Somalia, aber auch im ehemaligen Jugoslawien bei der Durchführung humanitärer Hilfsmaßnahmen zu sprechen, mit mir nicht vielleicht auch der Meinung, daß festzustellen ist, daß sich diese Soldaten vielleicht mehr, als ich es hier je von Soldaten in Deutschland gehört habe, außerordentlich hoch motiviert fühlen angesichts dieser humanitären Leistungen, deren Ergebnis sie jeden Tag selbst beobachten können?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schäfer, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage. Ich möchte sie eindeutig mit Ja beantworten und hinzufügen, daß das, was die Soldaten in Phnom Penh leisten, ein Vorbild für die Deutschen in aller Welt ist, daß dort die zivile Bevölkerung begeistert ist von dem durch die Deutschen eingerichteten Hospital; denn wir helfen auch der Zivilbevölkerung. Es ist auch großartig, was unsere Besatzungen nach Sarajewo oder nach Somalia an Hilfsgütern geliefert haben. Ich glaube, dies hat unsere Soldaten exzellent motiviert. Wir befinden uns, Herr Kollege Schäfer, auf einem hervorragenden Niveau.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen dann zu den weiteren Fragen 25 und 26 der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid. Sie werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Das gilt ebenso für die Frage 27 des Abgeordneten Norbert Gansel, für die Fragen 28 und 29 der Kollegin Ingrid Köppe sowie für die Fragen 30 und 31 des Kollegen Gernot Erler. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum nächsten Geschäftsbereich, dem des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 32 des Kollegen Karl Stockhausen:
Was will die Bundesregierung unternehmen, damit Importe von geschlachtetem Rindvieh aus den Niederlanden, die aus importierten Kälbern aus England stammen, wegen der dort herrschenden Rinderseuche BSE unterbunden werden?
Herr Kollege Stockhausen, Frau Präsidentin, wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich die beiden Fragen des Abgeordneten Karl Stockhausen gern im Zusammenhang beantworten.
Wenn der Herr Kollege damit einverstanden ist — er ist es —, dann gerne. Also rufe ich auch die Frage 33 des Abgeordneten Stockhausen auf:
Treffen die in den Medien geäußerten Befürchtungen zu, daß hierdurch mit einer Gefährdung der Bundesbürger gerechnet werden muß?
Die Bundesregierung kann keine einseitigen Maßnahmen ergreifen, um die Einfuhr von Kalbfleisch aus den Niederlanden, das von britischen Kälbern stammt, zu unterbinden, da die Einfuhr von lebenden Kälbern aus Großbritannien, deren Mast und Schlachtung in den Niederlanden im Einklang mit dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht stehen. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften lassen die Einfuhr von Kälbern aus Großbritannien in alle Mitgliedstaaten, also auch in die Bundesrepublik Deutschland, zu.
Nach einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Veterinärausschusses der Europäischen Gemeinschaft, der die Grundlage für die politische Entscheidung des Agrarrates war, ist eine Erkrankung von Kälbern bis zu einem Alter von sechs Monaten an BSE nicht zu erwarten. Eine Übertragung von BSE über das Fleisch dieser Kälber ist somit auszuschließen. Aus diesem Grunde treffen die in der Fernsehsendung WISO geäußerten Befürchtungen nicht zu.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Stockhausen.
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir zustimmen, daß gerade in unserer Bevölkerung ein großes Mißtrauen gegenüber dem besteht, was allgemein von offizieller Seite erklärt wird, und daß die Tatsache, daß man hier von Holland aus mit Fleisch versorgt wird, zu einem vergrößerten Mißtrauen unserer Bürger gegenüber der EG und auch gegenüber dem Europa von Maastricht führt?
Öffentliche Darstellungen könnten dazu führen, daß in der Tat die Bevölkerung verunsichert wird. Ich kann hier aber versichern, daß der BSE-Erreger bisher nicht auf Kälber übertragen wurde und somit auch eine Erkrankung der Kälber bis zum sechsten Monat auszuschließen ist. Außerdem haben die EG-Richtlinien bestimmt, daß Rindfleisch oder Kälber nur aus BSE-freien Beständen exportiert werden dürfen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege.
Würden Sie mir zustimmen, daß bei unserer Bevölkerung ein großes Mißtrauen herrscht in bezug auf die Kontrollierbarkeit in einigen anderen EG-Mitgliedstaaten und daß es von daher von den Bürgern nicht so abgenommen wird, wie es offiziell von der Regierung oder der EG festgestellt wird?
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Herr Kollege Stockhausen, es gibt ganz klare Vorschriften zur Kontrolle von Lebensmitteln. Diesen Kontrollen unterliegen auch die anderen EG-Staaten.
Eine dritte Zusatzfrage, Herr Kollege.
Erlauben Sie vielleicht eine Frage zu den gesundheitlichen Risiken. Ich weiß nicht, ob es nun selbsternannte oder tatsächliche Experten sind, die diese Aussage gemacht haben, die Sie gegeben haben und die von der EG festgestellt worden ist, daß also Kälber bis zu sechs Monaten keine Gefahr bedeuten; aber es ist so, daß diese Aussage von diesem Personenkreis bestritten und gesagt wird, daß die Krankheit eine Langzeitwirkung habe und es heute keine gesicherten Erkenntnisse gebe, daß dies nicht der Fall sei.
Herr Kollege, dieser Erreger ist bisher nur im Gehirn von erkrankten Rindern festgestellt worden, d. h., der Erreger ist nie im Muskelfleisch isoliert worden. Der Erreger selbst ist ja auch nicht bekannt. Die Erkrankung ist also nie in das Muskelfleisch übergegangen, so daß vom Veterinärausschuß ganz klar gesundheitliche Bedenken ausgeschlossen werden können.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Dann rufe ich die Frage 34 des Kollegen Kubatschka auf:
Hält die Bundesregierung einen Kausalzusammenhang zwischen geringeren Temperaturen in Warmwasseranlagen und dem vermehrten Auftreten der „Legionella pneumophila"- Bakterien, die die „Legionärskrankheit" verursachen, für möglich, und falls ja, welchen Handlungsbedarf sieht sie?
Herr Kollege Kubatschka, Legionellen sind typische Feucht- und Wasserkeime und finden sich natürlicherweise in allen Oberflächengewässern außer im Salz- und Seewasser. Ihre optimale Vermehrungstemperatur liegt etwa zwischen 35 °C und 42 °C, jedoch können auch 50 °C sehr lange Zeit toleriert werden.
Die Infektion erfolgt üblicherweise durch die Inhalation kontaminierter Aerosole und kann dann zu schweren Lungenentzündungen führen. Als wichtigste Maßnahme zur Prävention kann nur auf die sachgerechte Temperaturführung in den Warmwassersystemen hingewiesen werden.
Das Bundesgesundheitsamt hat bereits mehrfach Stellung zu dem Problem bezogen und Empfehlungen sowohl für Ärzte und Krankenhäuser als auch für die Allgemeinheit ausgesprochen. Zur Weiterentwicklung der Diagnostik und Überwachung der Infektionen durch Legionellen ist außerdem beabsichtigt, am Bundesgesundheitsamt ein nationales Referenzzentrum für Legionellose einzurichten.
In die Trinkwasserverordnung wurde 1990 eine Regelung aufgenommen, wonach das Gesundheitsamt bereits im Verdachtsfall Untersuchungen auf diesen Keim anordnen kann. Auch im technischen Bereich wurden entsprechende Empfehlungen zur Minderung des Legionellenrisikos ausgesprochen, so
in den DIN-Normen für Warmsprudelbecken und für raumlufttechnische Anlagen sowie für die Wasserversorgung durch den Deutschen Verein des Gas- und Wasserfaches e. V. Einen weiteren Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung derzeit nicht.
Herr Kollege Kubatschka, bitte.
Frau Staatssekretärin, über den Kausalzuammenhang zwischen geringeren Temperaturen und der Krankheit haben Sie aber nichts ausgesagt. Das war ja meine Frage.
Die niedrigeren Temperaturen können zur Vermehrung der Legionella pneumophila führen. Darum wird empfohlen, diskontinuierlich das Wasser auf mindestens 70 °C zu erhitzen und damit auch die Leitungen zu spülen, damit diese Keime abgetötet werden.
Sie sind sich darüber im klaren, daß wir alle im Gegensatz zur Frau Parlamentarischen Staatssekretärin kein Medizinstudium hinter uns haben.
Bitte die nächste Frage, Herr Kollege.
Das ist aber auch für einen Nichtmediziner interessant.
Frau Staatssekretärin, ist die Tendenz dieser Krankheit steigend oder fallend? Wie viele Menschen werden im Jahr in der Bundesrepublik von dieser Krankheit befallen?
Man nimmt an, daß es ca. 3 000 bis 5 000 Erkrankungen gibt. Die genaue Zahl kann nicht ermittelt werden, weil diese Pneumonien recht gut auf Tetracycline ansprechen. In der Regel beginnt die Behandlung früher, d. h. ehe der Keim isoliert und angezüchtet wird.
Wünscht sonst jemand eine Zusatzfrage? — Nein. Dann, Frau Doktor, danken wir Ihnen.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit abgearbeitet.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.Der Fragesteller der Frage 35 ist nicht im Saal. Deshalb wird die Frage nach der Geschäftsordnung erledigt.Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 38 und 39 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 40 auf, die unsere Kollegin Gabriele Iwersen gestellt hat:Verfolgt die Bundesregierung noch immer das Ziel, die Bahnstrecke Sande-Esens zu regionalisieren, und wenn ja, weshalb vermindert sie die Attraktivität der Strecke durch Herabstufung des Bahnhofes Jever zu einem eingleisigen Haltepunkt bei gleichzeitigem Abbau des zweiten Gleises, welches für den Begegnungsverkehr unerläßlich ist?Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
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12126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Frau Kollegin Iwersen, konkrete Absichten eines Dritten, die Bahnstrecke Sande - Esens zu übernehmen, sind weder dem Bundesminister für Verkehr noch der Deutschen Bundesbahn bekannt. Die Umwandlung des Bahnhofes Jever in einen Haltepunkt bedeutet keine Verschlechterung des Reisezugangebotes, da Begegnungen von Reisezügen im Bahnhof Jever selbst bei einem Stundentakt nicht erforderlich sind.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, vorausgesetzt, das Konzept der Bundesbahn wird umgesetzt, wonach Strecken dieser Größenordnung eben doch zur Regionalisierung vorgesehen sind — nach meiner Ansicht hat es auch bereits Gespräche zwischen dem Land Niedersachsen und der Bundesbahn in dieser Hinsicht gegeben —, muß man damit rechnen, daß diese kleinen Strecken Teil eines ÖPNV-Netzes zur Versorgung der ländlichen Fläche sein werden. Man kann dann nicht mehr unbedingt am Stundentakt festhalten, sondern muß auf das Gesamtnetz abstellen. Dabei ist sehr wohl ein Begegnungsverkehr wünschenswert, wenn man zum Beispiel die Strecke mit kleineren Zugeinheiten oder mit Leichttriebwagen in einem kürzeren Zeittakt befährt. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß sich die Deutsche Bundesbahn von dieser Strecke gar nicht trennen will?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist in der Tat so, daß es eine Rahmenvereinbarung zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Lande Niedersachsen gibt, nach der Überlegungen darüber angestellt, werden sollen, wie in Zukunft eine Regionalisierung aussehen könnte, über die wir ja jetzt allgemein in Deutschland verstärkt reden. Es ist natürlich unser Interesse, gemeinsam mit den Ländern zu überzeugenden Lösungen zu kommen. Deswegen werden dort im Moment Untersuchungen angestellt, die aber keine negativen Wirkungen haben sollen, sondern die Voraussetzungen dafür bringen sollen, daß sich Bahn und Land später einigen können.
Zweite Zusatzfrage.
Ich kann es sehr gut verstehen, daß die Herabstufung zum Haltepunkt im Augenblick zu vertreten ist. Aber stimmen Sie mit mir darin überein, daß der tatsächliche Abbau eines Gleises bereits eine Tatsache schafft, die auf Dauer negative Auswirkungen haben wird?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Über ein Gleis, das nicht mehr da ist, kann man in Zukunft nicht fahren. Das ist eine Feststellung, die wir sicherlich gemeinsam treffen können.
Unwiderlegbar.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Unwiderlegbar.
Aber es wird Ihnen um diese Bestätigung nicht gehen. In der Tat ist es so, daß das, was bislang auf dieser Strecke geschehen ist und was noch geplant ist, lediglich Wirtschaftlichkeitsgründe hat. Insofern wäre es an der Zeit, nun möglichst schnell auch zwischen den beteiligten Stellen im Lande Niedersachsen und der Deutschen Bundesbahn zu Fortschritten zu kommen, die für die Region eine bestmögliche Regelung bringen.
Wünscht zur Frage 40 noch jemand eine Zusatzfrage zu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Warum werden bei Streckenabschnitten der Deutschen Bundesbahn, die zur Regionalisierung vorgesehen sind, entgegen einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern Gleisanlagen demontiert mit dem Ergebnis, daß auf der sonst eingleisigen Strecke Zugbegegnungen auch in Zukunft verhindert werden?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der Bundesregierung sind keine Fälle bekannt, in denen die Deutsche Bundesbahn bei konkreten Übernahmeabsichten Dritter solche Gleisanlagen demontiert, die für Zugbegegnungen im Rahmen des Betriebskonzeptes des übernehmenden Betreibers erforderlich wären. Zwischen Bund und Ländern gibt es keine Vereinbarung, die den Rückbau entsprechender Gleisanlagen behandelt.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir Zahlen nennen, wie hoch der Gewinn für die Bundesbahn ausfällt, wenn sie z. B. 100 m Gleis abbaut, natürlich Lohnkosten eingeschlossen? Es muß ja einen Grund haben, daß derartig gehandelt wird.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das möchte ich Ihnen auf Anhieb lieber nicht beantworten. Aber damit könnten Sie auch nicht sehr viel anfangen. Ich möchte lediglich Ihnen und auch den anderen Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck bringen, daß man bereits seit 1985 keine planmäßige Begegnungen von Reisezügen auf dieser Strecke mehr hat. Vom Güterverkehr wurde mitgeteilt, der Tarifpunkt Jever müsse aufgegeben werden; und das alles immer nur aus Wirtschaftlichkeitserwägungen. Alles, was man seitens der Bundesbahn auf dieser Strecke unternommen hat, war nie gegen die Region gerichtet, sondern war marktgerecht, dem Angebot angepaßt und einfach notwendig, um nicht übertriebene Ausgaben zu machen. Dem Bedarf konnte man dabei immer gerecht werden.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, eine ausweichende Antwort ist selbstverständlich zulässig. Nur, die Feststellung, daß Sie lieber nicht antworten, ist in diesem Hause eigentlich ungebräuchlich. Die Frau Kollegin hatte eine ziemlich konkrete Frage gestellt. Ich kann mir vorstellen, daß die Antwort nicht sozusagen aus der Tasche zu ziehen ist. Aber vielleicht kann die Antwort auf die Frage wenigstens schriftlich nachgereicht werden.
Zweite Zusatzfrage.
Eine letzte Frage, Herr Staatssekretär: Halten Sie es für möglich, daß der augenblickliche Abbau des Gleises eine Art Druckmittel darstellt, damit die Landesregierung schneller zu Verhandlungen mit der Bundesbahn über die Zukunft dieser Strecke bereit ist?
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Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Nein.In Ergänzung der anderen soeben angesprochenen Frage möchte ich noch sagen, Herr Präsident, daß man natürlich auch die Nachhaltigkeit einer Frage gewichten muß; denn zu beantworten, was durch Stillegung einer Strecke von 100 m eingespart wird, kann man nicht auf Anhieb zum Ausdruck bringen. Insoweit biete ich, auch unter Zuhilfenahme Ihres Angebotes, Herr Präsident, eine schriftliche Beantwortung der Frage an.
Vielleicht läßt sich eine Bruchrechnung unter Annahme einer längeren Strecke ausführen.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Die Fragen wird der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek beantworten.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, die Fragen 42 und 43 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 44 auf, die die Kollegin Siegrun Klemmer gestellt hat:
Ist die Bundesregierung bereit, wegen des großen öffentlichen Interesses und im Interesse einer möglichst raschen Hilfeleistung an die betroffenen Menschen, Erkenntnisse zu veröffentlichen, die ihr nach Angaben der Presse zur radioaktiven Verseuchung weiter Teile Rußlands vorliegen, und hat die Bundesregierung erste Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen gezogen, etwa in Form eines Hilfsangebots, das zunächst in Hilfe zur wissenschaftlichen Erfassung des Schadensumfangs bestehen könnte?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Frau Kollegin Klemmer, die Bundesregierung hat Erkenntnisse aus Presseberichten und Berichten der Internationalen Atomenergieorganisalion über radioaktive Kontaminationen in Rußland, die durch den Reaktorunfall in Tschernobyl und durch die Tätigkeit der Produktionsvereinigung Majak im Südural verursacht wurden. Insbesondere im letztgenannten Kontaminationsgebiet ist von einer erheblichen Belastung der dort lebenden Menschen und der Umwelt auszugehen. Die zugänglichen Erkenntnisse sind bereits veröffentlicht.
Auf Ersuchen der russischen Regierung führt der Bundesminister für Umwelt seit dem Jahre 1991 im Rahmen humanitärer Hilfeleistungen Radioaktivitätsmessungen in den vom Reaktorunfall in Tschernobyl kontaminierten Gebieten Rußlands durch. Die technische Durchführung des Projekts liegt beim Forschungszentrum Jülich. Die Kosten dieses Projekts betragen ca. 13 Millionen DM. Bisher wurden bei diesem Projekt in Rußland ca. 220 000 Menschen auf
ihren Radioaktivitätsgehalt untersucht. Die Ergebnisse werden den ausgemessenen Menschen schriftlich mitgeteilt. Das Forschungszentrum Jülich hat diese Meßergebnisse in einem der Öffentlichkeit zugänglichen Bericht zusammengestellt.
Das Bundesamt für Strahlenschutz hat in den Monaten August und September 1992 mit Voruntersuchungen in der Süduralregion begonnen, um im Jahre 1993 Ganzkörpermessungen durchführen zu können. Die Kosten dieses Projekts betragen mehr als 2 Millionen DM.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, meinen Sie, daß das, was Ihrem Ministerium an Erkenntnissen vorliegt, dem tatsächlichen Sachstand entspricht? Wenn Sie meinen, daß die Gefährdungspotentiale größer sind als das, was Sie wissen, frage ich Sie: Was werden Sie unternehmen, um zu Gesamterkenntnissen zu kommen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, wir müssen natürlich eindeutig zwischen den zwei kontaminierten Gebieten unterscheiden. Um Tschernobyl herum ist das Raster schon relativ eng. Es liegt auch ein erster Untersuchungsbericht mit Ergebnissen der Meßaktion vor, und zwar in dem Bereich der Hauptrichtung der Verbreitung der radioaktiven Wolke nach dem dortigen Unfall.
Zum Südural gibt es eine erste Veröffentlichung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, die ich Ihnen gerne auch, wenn Sie sie noch nicht haben sollten, übergeben möchte, und zwar zu dem Ereignis, auf das Sie abstellen, nämlich dem nuklearen Unfall im südlichen Ural im Jahre 1957. Dieser Bericht macht sehr detaillierte Aussagen zur Strahlenbelastung sowie zu durchgeführten Untersuchungsprogrammen und Langzeitbeobachtungen der damaligen Sowjetregierung.
Selbstverständlich wird die Bundesregierung bemüht sein, das Untersuchungsprogramm im Südural — wenn sich herausstellt, daß auf Grund der Transparenz der Behörden dort weitere Erkenntnisse objektiviert werden können — aufzustocken.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, meinen Sie, daß das, was Sie soeben an Zahlen in bezug auf die finanzielle Unterstützung vorgetragen haben, und das, was Rußland alleine an finanziellen Mitteln aufzubringen in der Lage ist, ausreicht, oder sehen Sie die Notwendigkeit, daß die Bundesregierung eventuell über die EG-Schiene und die dort aufgelegten Programme versucht, zusätzliche finanzielle Mittel zur Beseitigung dieser Schäden aufzubringen?Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Sie haben vollkommen recht. Zum einen dienen die Hilfsmaßnahmen auch als Hilfe zur Selbsthilfe für die russische Regierung. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ausführen, daß der russischen Regierung auch einige Meßfahrzeuge zum Zwecke weiterer Untersuchungen geschenkt wurden.
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Parl. Staatssekretär Dr. Bertram WieczorekZum zweiten kann natürlich die Bundesrepublik Deutschland nicht alleine diese Meßprogramme durchführen und finanzieren. Das hat auch Kapazitätsgründe. Ich verweise ganz besonders nicht nur auf EG-Maßnahmen, sondern auch auf den sich jetzt füllenden Fonds der G 7, die ja im letzten Jahr bei dem Treffen im Sommer in München vereinbart hatten, einen solchen Hilfsfonds, der nicht nur zur Verbesserung der Sicherheit von Kernreaktoren dienen soll, sondern auch zu weiteren Untersuchungen, bereitzustellen, um diese Programme durchzuführen.
Bitte, Frau Hartenstein.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung bestätigen oder aber läßt sie nachprüfen, ob Pressemeldungen zutreffen, wonach in Rußland zwei Fünftel der Fläche nicht nur auf Grund der Tschernobyl-Katastrophe, sondern auch auf Grund früherer Atomunfälle und auf Grund fahrlässigen Umgangs mit Atommüll radioaktiv verseucht seien?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Hartenstein, einerseits gibt es über die Internationale Atomenergieorganisation solche Recherchen. Andererseits stellt die Bundesregierung solche Recherchen im Rahmen der bilateralen Beziehungen an. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß unmittelbar ein Besuch des Bundesumweltministers in Rußland ansteht und diese Frage dort ein ganz wichtiger Punkt der Gespräche und der Festlegung weiterer Maßnahmen sein wird.
Weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 45 und 46 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich für Ihre Antworten, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Staatsminister Helmut Schäfer steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Lowack auf:
Trifft es zu, daß der Taiwan im letzten Herbst besuchende Bundesminister für Wirtschaft und der ihn begleitende Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Wolfgang Gröbl, aufgrund einer Intervention des Auswärtigen Amtes bei ihrem Aufenthalt in Taipeh weder mit dem Präsidenten der Republik China, dem in Taiwan geborenen, in der Bevölkerung hoch angesehenen Lee Deng-hui, noch mit dem Außenminister Fredrick Chien, einem in den USA ausgebildeten Wirtschaftsfachmann zusammengetroffen sind, und zu welchem Zweck diente ggf. diese Intervention?
Herr Kollege Schäfer, ich bitte um ihre Beantwortung.
Herr Kollege, der frühere Bundesminister für Wirtschaft hat seine Reise nach Taiwan im vergangenen Herbst nicht in offizieller Funktion unternommen. Dem privaten Charakter seiner Reise entsprechend hat es bei der Programmgestaltung keine Detailabstimmung seitens der Bundesregierung gegeben. Über das Programm in Taiwan und seine Begleitung
u. a. durch den Parlamentarischen Staatssekretär Gröbl hat Bundesminister Möllemann selbst entschieden.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Sehr verehrter Herr Staatsminister, da Sie eine Teilabstimmung einräumen, würde mich interessieren, ob mit dem Auswärtigen Amt auch abgestimmt war, daß Gesprächspartner der damalige Ministerpräsident Hau, ein Vertreter der konservativen Kreise innerhalb der Kuomintang, war, der jetzt nach den Wahlen zum Legislativ-Yuan, die weitgehend nach deutschem Vorbild erfolgt sind, zurückgetreten ist, weil er durch die Schwächung der Kuomintang glaubte, diesen Schritt vollziehen zu müssen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich hatte soeben gesagt, daß über den Programmablauf, der bei dem Besuch von Herrn Möllemann in Taiwan erfolgt ist, keinerlei Abstimmungen mit dem Auswärtigen Amt erfolgt sind, sondern Herr Möllemann in eigener Regie entschieden hat, mit wem er sich dort trifft und aus welchen Gründen er diese, aber nicht jene Persönlichkeit sehen will.
Bitte, Herr Lowack.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit entgegenzunehmen, daß mir von Beteiligten — auch soweit ich hier Namen genannt habe — ausdrücklich das Gegenteil mitgeteilt wurde, wonach nämlich das Auswärtige Amt in einer ähnlichen Form, wie ich sie dargestellt habe, interveniert hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann nur wiederholen, daß das Auswärtige Amt in der Frage der Programmgestaltung nach meinen Kenntnissen nicht interveniert hat.
Wünscht jemand eine weitere Zusatzfrage zur Frage 47 zu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Ist es richtig, daß Schwimmbad und Sauna des Gästehauses „Petersberg" von Staatsgästen fast nicht genutzt werden, gleichwohl aber eine Nutzung durch private Gäste des „Petersberg" bisher nicht zugelassen worden ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Gästehaus Petersberg GmbH hat die Bundesregierung darauf hingewiesen, daß Schwimmbad und Sauna von Staatsgästen relativ selten benutzt werden. Es wird zur Zeit geprüft, unter welchen Voraussetzungen diese Räumlichkeiten für eine Drittnutzung freigegeben werden können.
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege Ringkamp? — Dann rufe ich die Frage 49 des Kollegen Ringkamp auf:Welche sonstigen Räume des „Petersberg" dürfen ausschließlich von Staatsgästen genutzt werden, in welchem Umfang ist das im einzelnen bisher geschehen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12129
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Räume des sogenannten Südflügels des Gästehauses Petersberg stehen zur ausschließlichen Nutzung durch die deutschen Verfassungsorgane und ihre Gäste zur Verfügung. Es handelt sich um fünf Gesellschaftsräume, sieben Suiten und 14 Zimmer.Seit Eröffnung des Gästehauses im August 1990 haben 5 844 Übernachtungen und 512 Veranstaltungen durch Staatsgäste überwiegend im Südflügel stattgefunden. In diesem Zeitraum ist bei Übernachtungen 54mal auch der kommerziell genutzte Teil des Gästehauses einbezogen worden.
Eine Zusatzfrage.
Geben die bisherigen Erfahrungen des staatlich genutzten Teils des Petersberges Anlaß zu Überlegungen, eventuell neue Nutzungsmöglichkeiten anzudenken? Denn der Auslastungsgrad, gemessen an üblichen Hotelübernachtungen, scheint doch sehr gering zu sein.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, man muß davon ausgehen, daß es sich nicht um ein übliches Hotel handelt, sondern um eine von der Bundesregierung nach den Beschlüssen des Deutschen Bundestages, speziell des Haushaltsausschusses, zunächst einmal für die Nutzung durch Staatsgäste in Bonn endlich zur Verfügung stehende Räumlichkeit, die im Vergleich zu anderen Hauptstädten der Welt relativ spät geschaffen werden konnte. Ich glaube nicht, daß der Bundestag und der Haushaltsausschuß eine dreistellige Millionensumme zur Verfügung gestellt hat, um ein Hotel direkt zu fördern. Das war nicht die Absicht.
Keine weitere Zusatzfrage.
Kollege Lamp ist inzwischen auch eingetroffen. Ich rufe die Frage 50 des Kollegen Lamp auf:
Welche Kosten sind dem Bund bisher durch den laufenden Betrieb des Gästehauses „Petersberg" insgesamt entstanden, und inwieweit konnten diese durch Drittnutzung vermindert werden?
Es geht weiterhin um den Petersberg, Herr Staatsminister. Bitte sehr.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, durch den laufenden Betrieb des Gästehauses Petersberg sind dem Bund in den Haushaltsjahren 1990, 1991 und 1992 je 4,8 Millionen DM, zusammen also 14,4 Millionen DM, an Kosten entstanden. Diese wurden in Form eines in dieser Größenordnung veranschlagten und in den Haushalt eingestellten Bundeszuschusses an die Gästehaus Petersberg GmbH gezahlt. Für 1993 ist ein sogar verringerter Zuschuß in Höhe von 4,53 Millionen DM veranschlagt.
Wie hoch die Kosten des Bundes gewesen wären, wenn das überwiegend drittgenutzte Gästehaus Petersberg ausschließlich für Staatsgäste zur Verfügung gestanden hätte, läßt sich nicht sagen. Anhaltspunkte für die Größenordnung mögen die Umsätze der Betreibergesellschaft, d. h. der Steigenberger AG,
sein, die sich — ohne den Bundeszuschuß —1990 auf 2,4 Millionen DM, 1991 auf 8 Millionen DM und 1992 auf 8,5 Millionen DM beliefen.
Herr Kollege Lamp, wollen Sie nachfragen? — Nein.
Ich rufe die Frage 51 des Kollegen Dr. Rolf Olderog auf:
In welchem Umfang ist das Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg in Königswinter seit seiner Eröffnung in seinen einzelnen Teilen von Staatsgästen genutzt worden, und inwieweit hat im Rahmen einer Öffnung für die Barger eine private Nutzung im einzelnen stattgefunden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Seit Eröffnung des Gästehauses im August 1990 haben — ich sagte es schon einmal — 5 844 Übernachtungen und 512 Veranstaltungen durch Staatsgäste überwiegend im Staatsgästetrakt stattgefunden. Bei Übernachtungen wurde 54mal auch der kommerziell genutzte Teil des Gästehauses einbezogen. Die private Nutzung durch Bürger umfaßt Übernachtungen und Veranstaltungen aller Art vom Restaurantbesuch bis zu Kongressen.
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege Olderog? — Dann rufe ich die Frage 52 des Kollegen Rolf Olderog auf:
Ist die Bundesregierung bereit, zukünftig den Beschlüssen des Bundestages zu entsprechen und in größerem Umfang eine private Nutzung zuzulassen, und wie soll dieses zukünftige Nutzungskonzept im einzelnen aussehen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das bestehende Nutzungskonzept entspricht bereits jetzt in vollem Umfang den Beschlüssen des Bundestages. Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages hat in seiner Sitzung vom 19. Juni 1985 die bestehenden Haushaltssperren für den Petersberg unter der Auflage aufgehoben, das Gästehaus Petersberg der Nutzung durch Private zu öffnen, soweit es nicht für Staatsgäste oder staatliche Veranstaltungen benötigt wird. Dieser Auflage ist dadurch entsprochen worden, daß nur ein kleiner Teil des Petersberges ausschließlich staatlicher Nutzung vorbehalten bleibt, sein überwiegender Teil jedoch uneingeschränkt der Öffentlichkeit zugänglich ist.
Eine umfassende Freigabe des gesamten Komplexes für die Drittnutzung würde nicht nur grundlegenden Sicherheitserfordernissen widersprechen, sondern den Charakter des Petersbergs als Gästehaus der Bundesregierung aufheben.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Haushaltsausschuß die Mittel für den Umbau des Peters-bergs in dreistelliger Millionenhöhe diesem Gästehauszweck gewidmet hat, nicht aber einer privaten Betreibergesellschaft ein Hotel errichten wollte.
Unabhängig davon werden derzeit im Hinblick auf die gegenwärtige Haushaltslage intensive Überlegungen angestellt, ob und wie der für ein staatliches Gästehaus stets erforderliche Bundeszuschuß durch eine Erweiterung der Drittnutzung auf Teile des Staatsgästetraktes zusätzlich reduziert werden kann.
Eine Zusatzfrage, bitte.
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12130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Herr Staatsminister, wann erwarten Sie das Ergebnis dieser Prüfung?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das ist schwer vorauszusagen, da ich nicht sicher bin, welche einzelnen Überlegungen angestellt werden müssen. Ich darf aber darauf hinweisen, daß in einer der vielen Fragen zum Petersberg die Nutzung des Schwimmbades angesprochen worden ist. Um dieses Schwimmbad nutzen zu können, muß man auf bestimmte Sicherheitsvorkehrungen Rücksicht nehmen, weil es nur vom Regierungsflügel aus erreichbar ist. Das macht die Situation etwas schwierig. Deshalb kann ich Ihnen auch nicht voraussagen, was an Möglichkeiten besteht, die Nutzung zu verbessern und anderen Hotelgästen den Zugang zu öffnen, weil bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden müssen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, darf ich das Auswärtige Amt bitten, mich schriftlich zu unterrichten, wenn diese Prüfung abgeschlossen ist, und mir das Ergebnis der Prüfung mitzuteilen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Selbstverständlich, Herr Kollege, nehme ich diese Bitte gern entgegen und gebe sie weiter.
Wünscht jemand von den Kolleginnen und Kollegen zu diesem Fragenkomplex eine weitere Zusatzfrage zu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Da die Fragesteller der beiden Fragen, die jetzt noch kämen und die nicht mit Sauna und Südflügel zu tun haben, nicht um schriftliche Beantwortung gebeten haben, bedanke ich mich für Ihre Antworten. Der Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen ist damit abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Eckart Kuhlwein auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Standorte Ratzeburg und Schwarzenbek des Bundesgrenzschutzes auf absehbare Zeit zu garantieren, oder gibt es Pläne der Bundesregierung, einen der Standorte oder beide im Zusammenhang mit einer künftigen Nutzung des Bundeswehrstandortes Lanken/Elmenhorst durch den BGS aufzuheben?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die Standorte Ratzeburg und Schwarzenbek der Bundesgrenzschutzabteilung Nord I und Nord II aufzugeben. Es wird lediglich geprüft, ob eine Nutzung des Übungsplatzes der Bundeswehr in Elmenhorst/Lanken durch den Bundesgrenzschutz in Frage kommt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung, wenn ihre Entscheidung so ausgefallen ist, wie Sie es eben vorgetragen haben, bereit, dies den BGS-Beschäftigten in Ratzeburg und Schwarzenbek förmlich und offiziell mitzuteilen, um die unerträgliche Unsicherheit abzubauen, die dort dadurch entstanden ist, daß Sie als Parlamentarischer Staatssekretär von einem Kollegen einen Brief bekommen haben, in dem die Auflösung von Standorten des BGS im Kreis Herzogtum Lauenburg vorgeschlagen worden ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, ich glaube nicht, daß der dortige Kommandeur über die Haltung des Bundesinnenministeriums im Zweifel sein kann. Wir haben lediglich auf ein Anschreiben reagiert. Es hat ein Gespräch dazu stattgefunden, in dem wir unsere Positionen nicht verändert haben. So gesehen besteht gar kein Anlaß zur Unruhe.
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 56 der Kollegin Ulrike Mehl auf:
Warum beabsichtigt die Bundesregierung vorhandene Katastrophenschutzschulen zu schließen, u. a. Rendsburg, ohne daß sie ein neues Ausbildungskonzept für den erweiterten Katastrophenschutz erarbeitet hat, was bereits vor Jahren vom Bundesrechnungshof unter heftiger Kritik des bestehenden Konzeptes angemahnt worden ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, in seiner Stellungnahme vom 25. Juli 1989 zu der Mitteilung des Bundesrechnungshofes über die Prüfung der Organisation des Zivilschutzes, Teilbericht Aus- und Fortbildung vom 22. Februar 1989, hat der Bundesminister des Innern die Bemerkung des Bundesrechnungshofes zur Konzeption für die Ausbildung in den einzelnen Zivilschutzbereichen zurückgewiesen. Mit Weitergeltung der bestehenden Rechtslage für die Erweiterung des Katastrophenschutzes ist die Konzeption für die Ausbildung der Helfer, Funktionsträger und Führungskräfte durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die zusätzliche Ausbildung des Katastrophenschutzes vom 27. Februar 1972 vorgegeben.
Neben den Katastrophenschutzschulen in Burg an der Mosel und Johannisburg (Hessen) ist auch die Schule Rendsburg in den Prüfungsvorschlag zur Rationalisierung der Schulkapazität einbezogen worden, da sich hier rein rechnerisch die Möglichkeit einer Zusammenlegung z. B. mit der Katastrophenschutzschule des Landes Niedersachsen in Bad Nenndorf anbietet.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Mehl.
Können Sie mich einmal darüber aufklären, was gilt? Es gibt eine Anfrage des Kollegen Koppelin zu genau dieser Frage. Darin heißt es: „Gedacht ist im übrigen aber nicht an eine kurzfristige Auflösung der kleinen Katastrophenschutzschulen, sondern an eine organisatorische Anbindung als Außenstelle."
In dem Schreiben von Staatssekretär Priesnitz an den Innenminister des Landes Schleswig-Holstein — das ist vom 8. Januar — heißt es: „Die Randlage
Ulrike Mehl
Rendsburgs im Norden des Bundesgebietes und die vorgegebenen Einzugsbereiche der Katastrophenschutzschulen in Bad Nenndorf ... lassen die Beibehaltung des Schulstandortes Rendsburg wirtschaftlich kaum vertretbar erscheinen."
Aus dem Erstgenannten ist eine große Pressemeldung entstanden, in der es hieß: Rendsburg wird nicht dichtgemacht, sondern wird als Außenstelle angebunden. In dem zweiten Schreiben heißt es, es sei sehr unwahrscheinlich, daß die Schule bestehenbleibe, obwohl sie erst 1989 eingerichtet wurde, also nagelneu ist.
Es gibt Fälle, in denen man so etwas wirklich aufgliedern muß. Ich glaube, das ist hier so ein Fall. Gleichwohl lassen Sie mich daran erinnern, daß die Fragen in der Fragestunde kurz sein sollen.
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, ich führe das darauf zurück, daß wir uns in einem Prüfungsvorgang befinden und gerade auf dem Sektor des Zivilschutzes und des Katastrophenschutzes Veränderungen vorgenommen werden. Gültig ist in jedem Fall die Auskunft, die ich Ihnen jetzt erteilt habe, nach der eben diese Schule mit in die Prüfung einbezogen ist, aber ein endgültiges Ergebnis dazu noch nicht mitgeteilt werden kann.
Vielleicht können Sie mir trotzdem erklären, wie Herr Priesnitz zu der Einschätzung kommt, daß Rendsburg „wirtschaftlich kaum vertretbar" ist. In dem Schreiben heißt es auch noch, daß nach der Prüfung, die Sie gerade erwähnt haben, voraussichtlich im Sommer dieses Jahres mit den Ländern gesprochen werden soll. Ich kann Sie nur fragen: Wissen Sie, was es vor Ort bedeutet, wenn solche Briefe dort ankommen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, ich bin Abgeordneter und habe auch einen Wahlkreis. Deshalb kann ich mir schon vorstellen, was so etwas bedeutet.
Sie werden mir aber auch zugeben müssen, daß Prüfungsvorgänge dynamische Prozesse sind. Das heißt, die jeweilige Momentaufnahme muß noch nicht identisch sein mit dem Prüfungsergebnis. Deshalb bitte ich schlicht und einfach darum, daß wir vom Innenministerium alle Gesichtspunkte, die eine Rolle spielen — einen davon haben Sie aus dem Brief zitiert —, prüfen dürfen, um dann zu einem fundierten fachlichen Ergebnis zu kommen.
Eigentlich wären wir jetzt schon am Ende der Fragestunde. Aber ich schlage vor, daß wir die Zusatzfrage des Kollegen Kuhlwein und die zweite Frage der Kollegin Mehl noch mit behandeln.
Bitte, Herr Kollege Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung in dem von Ihnen für die Standorte angekündigten Prüfungsprozeß die Randlage Rendsburgs und Schleswig-Holsteins auch insoweit
berücksichtigen, daß gerade in solchen Randlagen Bundeseinrichtungen besonders dringend erforderlich sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kuhlwein, Sie sprechen mir als einem Abgeordneten aus einem Wahlkreis in einer früheren Randlage aus dem Herzen, kann ich nur sagen.
Jetzt rufe ich noch die Frage 57, die ebenfalls die Kollegin Mehl gestellt hat, auf:
Aufgrund welcher Kriterien kam es zu der im Bericht der Bundesregierung an den Innenausschuß im Oktober 1992 genannten Überlegung, die Schule in Rendsburg aufzulösen, und in welcher Weise wurde die dort genannte Prüfung tatsächlich durchgeführt?
Ich bitte um Beantwortung.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nach dem Bericht an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages zur zukünftigen Organisationsstruktur des Bundesamtes für Zivilschutz vom 30. September 1992 soll geprüft werden, ob drei kleinere Katastrophenschutzschulen schrittweise aufgelöst werden können. Kriterium für diesen Prüfungsvorschlag war, daß vor dem Hintergrund der besonderen Haushaltslage sowie der im Rahmen der Aufstellung des Bundeshaushalts 1993 vorgegebenen Absenkung der mittelfristigen Finanzplanung für die Titelgruppe „Erweiterung des Katastrophenschutzes" mit der Zusammenlegung von Schulen Haushaltsmittel eingespart werden können.
So haben auch schon die Berichterstatter für den Einzelplan 36 im Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages den Titelansatz für die jährliche Durchführung der Ausbildung an den Katastrophenschutzschulen bei Kapitel 36 04 Titel 525 41 in dem vom Bundeskabinett beschlossenen Haushaltsentwurf 1993 um 2 Mio. DM auf 16,3 Mio. DM gekürzt.
Die Prüfung für die Zusammenlegung soll nach haushaltsrechtlicher Genehmigung der Neukonzeption für die Erweiterung des Katastrophenschutzes in Abstimmung und unter Beteiligung der betroffenen Länder durchgeführt werden.
Ich kann nur sagen: alles klar!
Ich weiß schon, warum ich nicht Haushaltspolitikerin bin. — Die Sätze waren sehr gezirkelt. Aber ich werde das noch einmal nachlesen können.
Vielleicht können wir dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär den Rat mit auf den Weg geben, den Damen und Herren Mitarbeitern zu sagen, daß sie ein solches wohl korrekt und rechtlich feuerfest verfaßtes Stück noch ins Deutsche übersetzen mögen.
Ich möchte trotzdem noch einmal nach den Kriterien fragen, und zwar auch im Anschluß
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12132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Ulrike Mehlan die Frage von eben, weil in dem genannten Brief ja auftaucht, daß ein Kriterium für die Verlegung oder die Schließung der Schule die Randlage Schleswig-Holsteins ist. Es müßte ja genau umgekehrt sein. Welches ist denn in diesem Fall das Kriterium, und welches sind die darüber hinausgehenden Kriterien?Ich sage auch, warum ich das frage: weil ich von denen, die diese Arbeit vor Ort machen, die Information habe, daß mindestens der bisherige Ausbildungsbedarf weiterhin vorhanden ist — es ist sogar ein erweiterter Bedarf gegeben — und überhaupt nicht zu begreifen ist, warum eine Fahrerei nach Hamburg oder sonstwohin geplant wird, statt die Schule dort zu lassen, wo sie sich seit zwei Jahren befindet.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Mehl, Sie nennen jetzt eine ganze Reihe von Gesichtspunkten, die alle ihr Gewicht haben. Sie werden sicherlich auch entsprechend bedacht werden. Am Ende muß dann eine Entscheidung stehen, die ich nicht vorwegnehmen kann. Ich kann Ihnen nur versichern, daß all das, was Sie vortragen oder uns in Schreiben und dergleichen schon vorgetragen haben, in den Entscheidungsprozeß ernsthaft einbezogen wird.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung. Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Keine weiteren israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten
— Drucksachen 12/824, 12/2425 —
Berichterstattung:
Abgeordnete
Reinhard Freiherr von Schorlemer Katrin Fuchs
Ulrich Irmer
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Maßnahmen gegen Israel-Boykott-Verpflichtungen deutscher Firmen bei Verträgen mit Drittländern
— Drucksachen 12/554, 12/4145 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmid
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Zu den Verhandlungen über eine Friedenslösung im Nahen Osten
— Drucksache 12/3237 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Zur Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zu den israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der F.D.P. vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Hans Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn eine Bundestagsdebatte Einfluß auf die Entwicklung politischer Prozesse nehmen will, dann sollte sie hilfreich und konstruktiv sein. Das gilt insbesondere für eine Außenpolitik, die zur Lösung der Probleme anderer Völker und Länder beitragen will.Ich bedauere bei dieser Gelegenheit einmal, daß so häufig die eigene Vorstellungswelt zum Maß aller Dinge gemacht wird und daß die Partner in der Welt oft einer vermeintlich pädagogischen Kur unterworfen werden, bei der weniger mit Einsichten als mit dem Zeigefinger gearbeitet wird.Daß viele Beobachter in aller Welt in diesen Tagen auch ihre Schwierigkeiten mit der Bewertung der Lage in Deutschland, mit seiner Stabilität, mit der Glaubwürdigkeit seines Willens zur sicherheitspolitischen Integration haben, sollte bei unseren Empfehlungen für andere eine bestimmende Rolle spielen. Dabei müssen wir uns an verbindlichen Werten und Normen orientieren, die eine allgemeine Anwendung finden können.Es gibt viele gute Gründe — historische, moralische, politische —, die mich veranlaßt haben, in vier Jahrzehnten Solidarität mit dem Volk des Staates Israel zu üben. Diese Zuwendung hat sich vielfach sogar zur Freundschaft entwickelt.Auf der Grundlage solcher Empfindungen kann mir niemand meine Enttäuschung verdenken, wenn die einleuchtende Resolution 799 zur Einstellung der Siedlungsaktivitäten nur eine sehr begrenzte Respektierung gefunden hat, obwohl jedermann weiß, daß dies die laufenden Verhandlungen ebenso beeinträchtigt wie die Ausweisung nicht nur in terroristische Aktivitäten verstrickter Araber.Wenn wir uns das Bemühen Israels zu eigen machen, einen sicheren Frieden im Nahen Osten zu unterstützen, dann dürfen wir auch unseren Sorgen Ausdruck verleihen, daß höhere Zielsetzungen dadurch gefährdet werden. Einen dauerhaften Frieden wünschen wir Israel und allen seinen Nachbarn. Gäbe es keine anderen Probleme in der Region, so wäre dies schon ein für alle demokratischen Sympathisanten ausreichendes Ziel.Doch Friede in und für Israel ist mehr. Der Konflikt im Irak war nur die Spitze eines Eisbergs nuklearer, chemischer, bakteriologischer und raketentechnischer Anstrengungen zwischen Nordkorea und Libyen, in denen sich kräftige Ambitionen nach politischer Macht und Einwirkung erkennen lassen. Diese
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12133
Dr. Hans SterckenBedrohung betrifft Isrealis und Araber gleichermaßen.Auf einem Seminar der Vereinten Nationen in Lissabon habe ich mich kürzlich mit Israelis und Palästinensern darüber unterhalten können. Wer über das übliche Szenario hinausdenkt, weiß längst, daß die Bedrohung der Sicherheit keinen Unterschied mehr zwischen Israelis und seinen arabischen Nachbarn machen wird. Das weiß Gott nicht beiläufige Projekt eines KSZM-Prozesses im Mittelmeer beruht ja auf der zutreffenden Vermutung, daß die weltweite Veränderung politischer Kraftfelder auch hier die bisherigen Abhängigkeiten und damit die Einordnung in bestimmte Systeme beendet hat.Ich begreife das als eine Chance, die ja schon in einer erfolgreichen amerikanischen Politik genutzt wurde, die schließlich zur Madrider Friedenskonferenz geführt hat. Die bekannten Einstellungen von Ministerpräsident Rabin und Außenminister Peres sind für diesen Prozeß förderlich und bestärken das Vertrauen. Dies sollte Veranlassung zu größerer Flexibilität geben.Die Vereinten Nationen, meine Damen und Herren, sind nicht mehr das Schlachtfeld im Ost-West-Konflikt. Ihre Resolutionen können daher auch nicht mehr so gewertet werden, wie wir es früher einmal gehalten haben, als wir manchen bestärkten, sich auch nicht kollektivem Zwang zu unterwerfen, wenn der Kompromiß eher ein Alibi als eine Lösung darstellte. Heute sind wir für jede Autorität dankbar, die für Beschlüsse der Völkergemeinschaft erzielt werden kann. Viele wünschen sich sogar mit Recht mehr als das, was heute etwa zur Lösung des Konflikts in BosnienHerzegowina angeboten wird. Wenn es aber unsere gemeinsame Politik ist, die Wirkungsmöglichkeiten der Vereinten Nationen auszubauen, dann können wir im Einklang mit unseren Überzeugungen nicht wahlweise verfahren, wenn wir unsere Glaubwürdigkeit wiederherstellen wollen.
Politik im Golf, Nahostpolitik und Politik für die Menschen im ehemaligen Jugoslawien können nur unter diesen Voraussetzungen erfolgreich sein. Wir brauchen sicher auch eine größere Entschlossenheit der Weltgemeinschaft gegen Extremismus, Rassismus und Fundamentalismus. In den anfälligen Regionen stehen solche Bewegungen dem demokratischen Rechtsstaat im Wege. Als Deutsche wissen wir, wovon wir sprechen. Und dies an die Adresse aller Störenfriede, und zwar von dieser Stelle: Es gibt keinen Heiligen Krieg, es gibt nur unheilvolle Kriege!
Wer vom Heiligen Krieg gerade auch in diesen Tagen und noch am heutigen Tag spricht, muß wissen, daß er nicht immer Partner, auch nicht unser Geschäftspartner sein kann.
Nicht jeder Handelsmann, meine Damen und Herren,denkt so. Doch Regierung und Parlament solltendenjenigen, die so denken, dies verleiden. Es gehtletzten Endes auch um die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen. Wer will dem Betroffenen die Gegenwehr versagen, wenn er diesen gigantischen Waffenhandel nicht einzuschränken vermag?Der Abbau der Ost-West-Spannungen hat das Interesse an Lieferungen und Investitionen drastisch reduziert. Dabei gehört nach unseren Vorstellungen zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff auch die Stabilität, die ohne wirtschaftliche Konsolidierung überhaupt nicht zustande kommt.An solchen Problemen hat es in der Region wirklich keinen Mangel und man erinnert sich an Nahum Goldmann, der in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit eine Chance sah, Spannungen abzubauen und Vertrauen zu schaffen.Solche Konzepte, meine Damen und Herren, haben in Europa die Grundlage für unsere Gemeinschaft gelegt. Das sind die Erfahrungen einer erfolgreichen Bewältigung von Konflikten, die sich abwandeln lassen können, um im Sinne von Nahum Goldmann einem anderen Umfeld angepaßt zu werden.Endlich werden solche Gedanken Bestandteil eines bi- und multilateralen Gesprächs. Die Knesseth hat nämlich durch ein Gesetz das Gesprächsverbot mit Palästinensern aufgehoben,
mit dem viele Freunde Israels lange gehörige Schwierigkeiten hatten. Die Freiheit des Gesprächs stärkt demokratische Überzeugung.
Dabei ist für Israel gerade seine Demokratie die stabilste Grundlage für seine Selbstbehauptung.
Es ist mir aber auch nicht entgangen, daß die Vertretung der Palästinenser am Verhandlungstisch repräsentativ sein dürfte für den Willen, demokratische Prozesse zu entwickeln, um dadurch den Wert künftiger Vereinbarungen zu unterstreichen. Wir sollten, denke ich, in dieser Stunde Forderungen nicht nur an die Bundesregierung und an Israel, sondern auch an uns selbst richten.Wird unsere Politik über das verbale Zeugnis nicht hinauslangen, dann werden wir nicht viel bewirken, allenfalls ein Alibi nachweisen. Mehr Einsatz und mehr Identifikation scheinen mir erforderlich, wenn wir zu tragfähigen und verantwortbaren Kompromissen ermuntern. Alte Leerformeln reichen dazu nicht aus; das habe ich im nächtlichen Gespräch mit Israelis und Palästinensern beim UNO-Seminar in Lissabon erfahren.Mit unserem heutigen Beschluß nehmen wir uns auch als Parlament in die Haftung für ein offenes und in die Zukunft weisendes Mitwirken.
Frau Kollegin Elke Leonhard-Schmid, Sie haben das Wort.
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12134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in der Vergangenheit in diesem Hohen Hause oder in der Öffentlichkeit das Thema Israel Mittelpunkt des Interesses war, schwang stets eine emotionale Komponente mit. Anders gesagt: Empfindlichkeiten im Verhältnis zwischen deutschen und israelischen Staatsbürgern waren jederzeit wahrnehmbar.Lassen Sie mich daher ohne Umschweife sagen: Wir haben kein Recht, unsere Geschichte zu verdrängen. Nach der grausamen, verbrecherischen Vernichtung der Juden und des Judentums auf deutschem Boden durch Deutsche kann und darf unser Verhältnis zum Staate Israel niemals frei und unbelastet sein. Es ist kein Feld für Belastungsproben.
Wir tragen in uns die Verpflichtung, mit Entschiedenheit dafür einzutreten, daß sich Vergangenes niemals wiederholen wird.Es ist zu Beginn dieser Debatte festzustellen: Wir sind an die Seite Israels verpflichtet. Gerade das Beispiel Israel verdeutlicht, daß in der Vergangenheit Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik nicht selten getrennte Wege gingen. Der freie Handel findet die absolute Grenze dort, wo er die deutsche Außenpolitik belastet und ihren Zielen zuwiderläuft. Aus diesem Grundsatz lebt das deutsche Außenwirtschaftsrecht.Unsere besondere Beziehung zu Israel hat nicht verhindern können, daß sich in den letzten 40 Jahren deutsche Firmen an einem Anti-Israel-Boykott beteiligten. Seit über 40 Jahren zwangen einige Staaten der Arabischen Liga Unternehmen, die mit ihnen kooperierten, auf geschäftliche Beziehungen mit Israel zu verzichten. Diese langjährige Praxis steht im Widerspruch zum freien Wettbewerb und untergräbt die Grundsätze der freien Marktwirtschaft.
Diese Praxis hat den Staat Israel diskriminiert und ihm wirtschaftlich geschadet. Es ist allen Regierungen gleichermaßen anzulasten — ich vergesse nicht, daß auch wir zwölf Jahre regiert haben —, daß sie 40 Jahre lang nichts gegen diesen Boykott unternommen haben.
Von der Bevölkerung weitgehend unbeachtet haben deutsche Finnen Verträge mit arabischen Partnern unterzeichnet und damit stillschweigend dem Handel mit Israel abgeschworen.Der wirtschaftliche Hintergrund dieses Boykotts liefert eine Erklärung: So verzeichnet die deutsche Industrie einen Gesamtumsatz von etwa 10 Milliarden DM pro Jahr mit den Staaten der Arabischen Liga, die den Boykott getragen haben. Von Unternehmern erwarte ich nicht moralisches Verhalten und auch nicht unbedingt ein ethisches Fundament; von uns allerdings schon.
Ich frage mich deshalb in diesem Zusammenhang: Warum eigentlich hat die Bundesregierung ihre Zuwendungen an die arabischen Nachbarstaaten desIrak zum Ausgleich der Lasten des UN-Embargos am Ende des Golfkrieges nicht an die Beseitigung des Anti-Israel-Boykotts gekoppelt? Die Bundesregierung hatte alle Trümpfe in der Hand. Auch gegenüber den Hardlinern hätte sie damit eine starke Verhandlungsposition gehabt.
Vielleicht war es Redlichkeit, vielleicht aber auch etwas anderes. Die Bundesregierung hat den Umgang mit — ich möchte jetzt nicht den Begriff Doppelstrategien verwenden — Instrumenten auf dieser Ebene wohl nie richtig begriffen — und das ist Provinz.Über Jahre wurde das israelische Deutschlandbild nicht nur von der deutschen Außenpolitik, sondern auch dadurch geprägt, daß die Industrie eine in arabischen Staaten entwickelte AuBenwirtschaftspolitik mitgetragen hat. Ich denke, wir haben hier etwas gutzumachen.Eli Soreq, einem engagierten Hamburger Bürger, haben wir es zu verdanken, daß dieses Thema in die Öffentlichkeit getragen und zur Entscheidung gebracht wurde.
So können wir heute der Empfehlung des Wirtschaftsausschusses zustimmen, den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zum Verbot des Anti-Israel-Boykotts für erledigt zu erklären, da er mit der 24. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung voll und ganz übernommen wurde. Der Deutsche Bundestag hat heute morgen formell auf sein Aufhebungsrecht verzichtet. Ab 1. Mai werden Boykott-Erklärungen, wie sie deutsche Firmen gegenüber Israel abgegeben haben, in der Bundesrepublik verboten sein — Boykott-Erklärungen, die den Staat Israel im übrigen 45 Milliarden US-Dollar gekostet haben.Sicherlich hätten wir das Verbot lieber — wie es im ursprünglichen Entwurf der Verordnung vorgesehen war — zu einem früheren Zeitpunkt in Kraft gesehen. Im September 1991 war die Verordnung fertig; man höre und staune: im September 1991. Dreimal wurde sie von der Tagesordnung des Bundeskabinetts gestrichen, um nun endlich — mit der ungeheuren Verspätung von fast zwei Jahren — Wirklichkeit zu werden. Das Aussitzen dieser Frage — mit welchen Motiven auch immer — hat die Vertrauenskomponente mit Sicherheit nicht gestärkt. Es schmerzt regelrecht, mit ansehen zu müssen, wie wenig zielstrebig die Bundesregierung hier gehandelt hat.
— Herr Kittelmann, machen Sie den Mund zu, dann sehen Sie charmanter aus und auch seriöser.
Aber es ist nicht das einzige Beispiel, das entlarvt, wie schwer sich die Bundesregierung tut, Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik in Gleichklang zu bringen. Wirtschaftliche Schutzinteressen sind als
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Dr. Elke Leonhard-SchmidGrundlage der Außenpolitik ungeeignet; dies um so mehr, als sich zwischenzeitlich zeigte — hören Sie zu, das ist für Sie wichtig —, daß die Lösung schon immer greifbar war.
Wie wir mit Befriedigung hören — Herr Präsident,können Sie für ein bißchen mehr Ruhe sorgen? —, sinddie gemäßigten Staaten der Arabischen Liga bereit —
Frau Kollegin, seien Sie nicht so zimperlich.
— ich werde jetzt nicht sagen, daß ich mich bemühen will —, auf Boykott-Erklärungen zu Lasten Israels zu verzichten. Dies beweist, daß mittels einer geradlinigen Außen- und Außenwirtschaftspolitik dieses Problem schon früher hätte gelöst werden können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch eines hinzufügen: Die ausdrückliche Bejahung der besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Israel entbindet uns nicht von der gesetzlichen Verpflichtung zur Kontrolle von Rüstungsexporten, von der Verpflichtung, sensiblen Produkten, insbesondere aus dem nukleartechnischen Bereich, die Ausfuhr zu verweigern.
Isreael wird in der Länderliste H genannt, der Liste jener Staaten, die durch ABC-Waffen- und Raketenprogramme oder durch sonstige übermäßige Rüstung auffallen. Solange Massenvernichtungsprogramme in dieser Region gegeneinander entwickelt werden, muß dies auch so bleiben. Unsere ethische Verpflichtung darf nicht zur Worthülse degenerieren. Wir Sozialdemokraten haben nie einen Beitrag zu Krieg, Elend und Vertreibung geleistet und werden auch nie einen Beitrag dazu leisten, auch keinen indirekten durch Rüstungsexporte.
Damit keine Zweifel aufkommen, will ich in aller Deutlichkeit wiederholen: Wenn wir uns hier entschieden gegen einen Anti-Israel-Boykott aussprechen, so kann dies keine Liberalisierung im Rüstungshandel oder in der wehrtechnischen Zusammenarbeit bedeuten. Dies liegt nicht an Israel, sondern — im Gegenteil — einzig und allein an unserer tiefen Überzeugung, daß deutsche Exporte grundsätzlich ziviler Natur sein sollten. Eine auf Frieden und Ausgleich angelegte Außenpolitik, besonders im Nahen Osten, darf nicht mit Waffen im Handgepäck auftreten.
Von dieser Einsicht ausgehend — ich wiederhole: nur von dieser Einricht ausgehend — können wir zur Aufrüstung und zur Siedlungspolitik in dieser Region Stellung nehmen.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, folgendes muß ich schnell sagen: Manchmal ist es sehr laut, sehr aggressiv im Saal — meistens wird das vom Redner ein bißchen provoziert —, dann muß ich dazwischengehen. Sie haben das nicht getan; aber ich kenne einen Kollegen der dann vom Rednerpult zurücktritt, beleidigt auf den Präsidenten schaut und von ihm erbittet, daß Ruhe hergestellt wird. Das finde ich nicht in Ordnung. So gut muß ein Redner mit dem Publikum zurechtkommen, daß er bei einiger Unruhe selber wieder für Ruhe sorgt. Wenn es wirklich laut wird und stört, dann gehe ich dazwischen.
Sie wissen, daß das alles aus Sympathie geschieht, Frau Kollegin. Ich hielt es für notwendig, dies zu sagen, um Ihnen meine Bemerkung zu erklären.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Olaf Feldmann.
Herr Präsident, ich bedanke mich für die beruhigenden Einführungsworte. Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, daß ich keine Aggressionen provoziere.Unsere heutige Beschlußempfehlung ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Israels. Hier geht es um die Verletzung elementarer Grund- und Menschenrechte. Deutsche Politik, deutsche Außenpolitik, Frau Kollegin, ist geradlinig, aber nicht wertfrei. Sie ist wertorientiert, orientiert an den Menschenrechten und auf einen friedlichen Interessenausgleich gerichtet.Wir können und wollen als deutsches Parlament zu der völkerrechtlichen Siedlungs- und Vertreibungspolitik der israelischen Regierung hier nicht schweigen. Wir sind durchaus selbstkritisch. Schon die zurückhaltende Sprache der Beschlußempfehlung — wenn Sie sie aufmerksam gelesen haben, dann werden Sie dies festgestellt haben — zeigt, daß es hier nicht darum geht, Israel an den Pranger zu stellen. Frau Kollegin, niemand will hier eine Belastungsprobe. Dieser Beschluß ist ein Appell von Parlament zu Parlament. Abschiebung und Deportation dürfen kein Mittel eines demokratischen Rechtsstaates sein. Ich hoffe, da sind wir uns einig.
Eine solche Kollektivstrafe widerspricht den Grundsätzen demokratischer und freiheitlicher Staaten, zu denen sich Israel zählt. Das schließt nicht aus, gegen Gewalt und Terror mit rechtsstaatlichen Mitteln vorzugehen. Israel ist stolz auf seinen demokratischen Rechtsstaat. Dann muß es sich aber auch an diesen Maßstäben messen lassen.Durch das Festhalten an der Abschiebungspraxis verliert Israel weltweit an Sympathie. Israel muß sich fragen lassen, ob die Abschiebung nicht mehr schadet als nutzt. Die Radikalisierung droht zu eskalieren, und Gewalt erzeugt Gegengewalt. Selbst viele Israelis stellen die Frage nach dem Selbstverständnis der
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12136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dr. Olaf Feldmanneigenen Demokratie und nach dem Stellenwert der Menschenrechte. Wir wünschen der israelischen Regierung den Mut, sich aus dieser Selbstblockade zu befreien.Die Nahostpolitik der Bundesrepublik steht auf der Grundlage gemeinsamer europäischer Positionen. Die wichtigsten Elemente sind das Existenzrecht Israels in sicheren und anerkannten Grenzen sowie das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und der Gewaltverzicht.Wir haben das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes in den Vereinten Nationen als erstes europäisches Land seit 1974 immer unterstützt. Für uns hat die Formel „Land für Frieden", wie sie in den UN-Resolutionen 242 und 338 festgeschrieben wurde, nach wie vor Gültigkeit. Es kann auf Dauer nicht gut gehen, wenn israelische Regierungen immer wieder UN-Beschlüsse völlig ignorieren.Für uns Europäer ist der Nahe Osten eine Nachbarregion. Stabilität und Frieden dort sind auch für Europa von hoher Bedeutung. Unsere Sicherheit ist mit der Sicherheit im Nahen Osten verbunden. Deshalb müssen sich die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten stärker für den Frieden in der Nahostregion einsetzen. Die EG muß durch konstruktive Vorschläge zur Lösung des Nahostkonflikts beitragen. Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, im Rahmen der EPZ und in direktem Kontakt mit der israelischen Regierung auf die Einstellung der israelischen Siedlungsaktivitäten und die Beachtung der UN-Resolution 799 hinzuwirken.Die politische Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser bleibt das Kernproblem. Wir begrüßen die Aufhebung des Kontaktverbots zur PLO durch das israelische Parlament und sehen darin eine Chance zur Förderung des Nahostfriedensprozesses. Dies ist ein wichtiger Schritt. Herr Kollege Stercken hat als Ausschußvorsitzender darauf schon hingewiesen.Die Bundesregierung sollte den Beschluß der Knesseth aber zum Anlaß nehmen, ihre eigene Haltung zur PLO zu überprüfen. Ich meine, es ist an der Zeit.
Auch die israelische Regierung sollte in direkte Verhandlungen mit der PLO eintreten, denn nur gemeinsam kann der Nahostfriedensprozeß vorangetrieben werden. Nur durch ein Zusammenwirken aller Beteiligter kann es Frieden in Nahost geben, Frieden für Israelis und Frieden für Palästinenser.Ich bedanke mich für die Ruhe und die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren! Der Kollege Freimut Duve hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet, die wir normalerweise erst nach der ersten Runde zulassen. Nur, ich glaube, es würde nicht viel Sinn machen, wenn ich jetzt noch die beiden nächsten Redner abwarten ließe. Deshalb: Bitte, Herr Kollege Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer mehrfach in Tunis in den letzten Jahren mit der PLO und in Israel mit Politikern über die Konflikte gesprochen hat, der sieht sich zu folgender Bemerkung veranlaßt:
Dieser Antrag zu den Boykottmaßnahmen, die von den verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik über viele, viele Jahrzehnte geduldet worden sind, ist von mir im Januar vorigen Jahres geschrieben worden. Er ist dann im Mai eingebracht worden und steht heute hier auf der Tagesordnung.
Das heißt, es hat ein zögerliches Umgehen mit dem Antrag auch deswegen gegeben, weil man sich auf sehr sanfte Weise sozusagen in den Binnenmarkt hineinbegeben wollte, um politisch mit der Wirtschaft keine Probleme zu haben. Hier war man also relativ gut im Umgang damit; in Norddeutschland sagt man manchmal „schlau" .
Dem Gegenstand ist aber jede Schläue unangemessen.
Dies muß ich sagen, weil wir im Zusammenhang mit der Ausweisung der Hamasleute in der Lage waren, in wenigen Wochen, nein, in wenigen Tagen einen Antrag in den Deutschen Bundestag zu bringen. Ich will dies nur gegeneinanderstellen, um uns alle zu warnen, allzusehr Selbstgerechtigkeit mit Gerechtigkeit an diesem Gegenstand zu verwechseln.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Deutschen Bundestag liegen mehrere Anträge vor, die sich auf durchaus unterschiedliche Weise mit Israel beschäftigen. Aus einem Antrag der SPD mit dem Titel „Keine weiteren israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten" wurde der Antrag „Förderung des Friedensprozesses im Nahen Osten", der nun auch von der CDU/CSU und der F.D.P. mitgetragen wird.Die Mehrheit der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt diesen Antrag nicht. Die seltsame Metamorphose dieses Antrages kann nicht verschleiern, daß er einseitig Forderungen an Israel, an einen Partner des Friedensprozesses, richtet. Ich glaube nicht, daß dies besonders hilfreich ist.Wer einmal in Israel war, weiß, wie verhärtet die Fronten auf beiden Seiten sind, bei Israelis und Palästinensern. Um sich näherzukommen, müssen sich beide Seiten bewegen.Israel hat in jüngster Zeit immer wieder seinen guten Willen bewiesen. Ich erinnere an den Verzicht der Israelis, sich trotz der irakischen Angriffe nicht am Golfkrieg zu beteiligen und sich auf reine Defensivmaßnahmen zu beschränken. Ich erinnere an die Bereitschaft, trotz Hunderttausender Zuwanderer aus
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12137
Konrad Weiß
Rußland und Osteuropa die Errichtung von Siedlungen in den besetzten Gebieten erheblich zu begrenzen. Ich erinnere daran, daß Israel trotz fortgesetztem arabischen Terror gesprächsbereit geblieben ist. Allein im Januar 1993 hat es 26 bewaffnete Angriffe auf Israelis gegeben. Seit Dezember wurden mindestens neun Juden von palästinensischen Terroristen getötet.
Darüber steht in den Anträgen der Fraktionen nichts. Wir alle kennen die Zahlen von getöteten Palästinensern. Sie stehen täglich in jeder Zeitung. Von der anderen Seite hören wir nichts. Deswegen habe ich diese andere Seite hier zitiert.
Statt dessen werden in Ihren Anträgen ausschließlich Forderungen an Israel gerichtet.Ich halte es für ganz und gar unerträglich, daß in einem Antrag des Deutschen Bundestages von einer— ich zitiere — „Deportation von Palästinensern durch die israelische Regierung" gesprochen wird.
Auch ich halte die Ausweisung — —
— Herr Kollege Duve, ich werde Ihnen diesen Antrag— — Dann habe ich von der Bundestagsverwaltung einen anderen Antrag bekommen, als er gestellt worden ist.Auch ich halte die Ausweisung der Hamas-Aktivisten für einen Fehler. Aber dafür den Begriff „Deportation" zu gebrauchen, ist unsensibel, wie das auch die deutsche Presse getan hat und wie auch Sie das eben in Ihrer Rede getan haben. Das ist unsensibel und muß jeden Juden auf der Welt schockieren.
Denn das deutsche Wort „Deportation" ist für alle Zeit verbunden mit Begriffen wie Auschwitz und Shoa.Ich vermisse im Antrag der CDU/CSU, der SPD und F.D.P. jeden Hinweis darauf, daß es sich bei den ausgewiesenen Palästinensern mehrheitlich um Aktivisten der Hamas handelt, jene Organisation radikaler Fanatiker, die durch fortgesetzte Terrorakte den Friedensprozeß behindern und die die eigenen palästinensischen Landsleute erpressen und schikanieren.
Dennoch, ich wiederhole es: Der richtige Weg wäre gewesen, sie vor Gericht zu stellen und zu verurteilen, nicht aber sie auszuweisen.Der vorliegende Antrag aber vermeidet eine klare Stellungnahme, so als versuche das deutsche Parlament, sich hinter UN-Resolutionen und EG-Erklärungen zu verstecken. Ich glaube nicht, daß dieses Lavieren den Friedensprozeß in irgendeiner Weisebefördert und für Israelis oder Palästinenser hilfreich ist. Es wäre besser gewesen, auf einen derartigen Antrag zu verzichten.Israel braucht unsere kritische Solidarität, nicht aber diese kaltherzige Diplomatie. Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden wird für alle Zeiten ein besonderes Verhältnis sein. Das mögen wir annehmen wollen oder nicht. Es ist so. Menschenrechte sind unteilbar. Das gilt für Deutsche und gilt für Israelis und gilt für Palästinenser. Israel ist, anders als seine arabischen Nachbarn, ein demokratischer Staat. Die meisten seiner jüdischen und arabischen Bewohner wachen selbst über die Einhaltung der Menschenrechte und wollen in Frieden miteinander leben. Viele Israelis setzen sich entschieden für die friedliche Lösung des Palästinenserproblems ein. Sie brauchen unsere Bevormundung nicht, zumal in Deutschland wieder Fremde verfolgt oder ausgewiesen werden und bei uns friedfertige Bewohner schutzlos dem Terror von Extremisten ausgesetzt waren.Der andere Antrag, Maßnahmen gegen IsraelBoykott-Verpflichtungen deutscher Firmen, soll nach der Empfehlung des Wirtschaftsausschusses für erledigt erklärt werden, weil eine derartige Verordnung der Bundesregierung ergangen sei. Das mag zutreffen. Aber mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Der Sprecher des israelischen Außenministeriums hat soeben Daten vorgelegt, die beweisen, daß arabische Länder trotz entgegengesetzter Zusicherungen nach wie vor den Boykott von Israel verlangen. So hat z. B. Kuwait im vergangenen Jahr fast 3 000mal von amerikanischen Firmen die Aufgabe von Geschäftsverbindungen mit Israel verlangt. Während sich immer mehr amerikanische Firmen diesem Ansinnen verweigern, akzeptieren deutsche Unternehmen nach wie vor die diskriminierenden Bedingungen arabischer Geschäftspartner.Vor allem Franzosen, Deutsche und Briten springen in jede Nische.So zitierte in dieser Woche die „FAZ" den Chef der israelischen Handelskammer, Danny Gillermann. Angesichts dessen kann die Bundesregierung nicht aus der Verpflichtung entlassen werden, wirksam gegen deutsche Unternehmen vorzugehen, die sich zum Handlanger arabischer Regierungen haben machen lassen. Ich fordere die Bundesregierung auf, dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit eine Liste derjenigen Unternehmen bekanntzugeben, die Boykottmaßnahmen gegen Israel akzeptiert haben.
Herr Kollege Weiß, Sie haben Ihre Redezeit sehr weit überschritten.
Einen Satz bitte noch, Herr Präsident. — Denn es kann nicht sein, daß 60 Jahre nach dem „Kauft nicht bei Juden" nun ein „Verkauft nicht an Juden" sang- und klanglos hingenommen wird.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Ursula Fischer.
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12138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wiederholt hat sich der Bundestag auch in dieser Legislaturperiode mit der äußerst sensiblen Krisenregion des Nahen Ostens beschäftigt. Man möchte annehmen, dies geschah, weil immer mehr Deutsche spätestens seit dem Golfkrieg begriffen haben, daß der Nahe Osten inzwischen viel näher ist, als gewöhnlich angenommen wurde. Die umfangreichen Energiequellen dieser Region erweisen sich als unverzichtbar für den Wohlstand und die verschwenderische Konsumgesellschaft dieses Landes. Aber auch die sicherheitspolitische und ökologische Dimension dieser Region sind nähergerückt. Die Ereignisse im Nahen Osten gehen uns somit sehr wohl etwas an.
Meine Damen und Herren, aus historischer Verantwortung und angesichts aktueller Herausforderungen hätten wir Deutsche allen Grund, mit einer überzeugenden Politik zur Lösung des Nahost-Konflikts beizutragen, nicht nur verbal. Ich bezweifle, daß das ernsthaft geschieht.
Ich möchte in Erinnerung rufen: Bereits am 6. November 1973 haben die EG-Staaten in einer NahostErklärung in Brüssel auf die Unannehmbarkeit von Gebietserwerbungen durch Gewalt und darauf verwiesen, daß es für Israel notwendig ist, die Besetzung arabischen Territoriums zu beenden. Das Gipfeltreffen der EG erneuerte in einer weiteren Erklärung am 13. Juni 1980 in Venedig diese Feststellung. Die Teilnehmer stellten zugleich fest, „sie sind zutiefst überzeugt, daß die israelischen Siedlungen den Friedensprozeß im Nahen Osten ernsthaft behindern" . Sie bezeichneten die Siedlungen nach Völkerrecht als ungesetzlich. Das sind zutreffende Erkenntnisse seit vielen Jahren. Es gilt also unzweideutige Erklärungen seitens der EG, von zahlreichen Resolutionen des Sicherheitsrats und der UN-Vollversammlung ganz abgesehen.
Meine Damen und Herren, wir übersehen keineswegs Ansatzpunkte in der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses vom 2. April 1992 zum Antrag der SPD-Fraktion. Auch die PDS/Linke Liste begrüßt den in Madrid eingeleiteten Verhandlungsprozeß. Auch wir erwarten eine umfassende, gerechte und dauerhafte Lösung des Nahost-Konflikts. Der Antrag der SPD und die Beschlußempfehlung entsprechen unseres Erachtens jedoch nicht den Erfordernissen der Zeit und bleiben beträchtlich selbst hinter den obengenannten Erklärungen der EG zurück.
Namens der Bundestagsgruppe PDS/Linke Liste fordere ich die Bundesregierung auf, die Abgeordneten, die deutsche und die internationale Öffentlichkeit darüber aufzuklären, was sie in den letzten Jahren im Rahmen der EG und auf bilateraler Ebene im Sinne der zitierten Erklärungen effektiv unternommen hat, damit der Konflikt einer Lösung näherrückt, und warum sie neuerdings allein auf eine Einstellung der israelischen Siedlungspolitik hinwirken will und über die selbst nach Meinung der EG völkerrechtswidrigen Siedlungen vergangener Jahrzehnte, die den Friedensprozeß im Nahen Osten ernsthaft behindern, keine Silbe mehr verliert, ja, sie sieht in der Siedlungspolitik lediglich die Gefahr der Belastung des Friedensprozesses.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für die sofortige Einstellung aller Handlungen einzusetzen, die den Friedensprozeß im Nahen Osten bereits seit Jahrzehnten ernsthaft gefährden. Man kann nicht die Gewaltpolitik der israelischen Regierung tolerieren und den Kampf gegen sie als Terrorismus im allgemeinen verunglimpfen. Diese Doppelmoral der Bundesregierung muß aufhören. Mehr denn je kommt es darauf an, sich für die sofortige Einstellung der Siedlungspolitik ebenso einzusetzen wie gegen Ausweisungen, Ausgangssperren, Zerstörung des Kultur- und Bildungswesens sowie des Gesundheitswesens und viele andere Formen der kollektiven Bestrafung durch die israelischen Behörden. Ich war in Israel. Ich war auch im Gaza-Streifen. Ich weiß, wovon ich rede.
Wo bleibt die unüberhörbare Stimme der Bundesregierung, die sich gegen die menschenrechtsverletzende und menschenunwürdige Zwangsausweisung von über 400 Palästinensern ausspricht? Es kann wohl nicht bestritten werden, daß die gewaltsame Siedlungspolitik in besetzten arabischen Gebieten ebensowenig dazu dient, eine Atmosphäre zu schaffen, die zu einer gerechten, umfassenden und dauerhaften Lösung des Nahost-Konflikts beiträgt wie die Vergeltungspolitik der israelischen Behörden durch Massenausweisungen, eine Atmosphäre im übrigen, die auch nicht den Interessen der israelischen Bevölkerung dient.
Wenn die Chance, von der die Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses ausgeht, tatsächlich genutzt werden soll, um den israelisch-arabischen Konflikt und die Palästinafrage umfassend zu lösen, dann müssen die Siedlungspolitik und die Massenausweisungen unverzüglich eingestellt werden. Ohne dem ist der Friedensprozeß undenkbar, und die Friedensgespräche sind von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Wir hoffen, daß die Bundesregierung ihre Verantwortung wahrnimmt, damit die Chancen für Aussöhnung zwischen Juden und Arabern, für Frieden und Zusammenarbeit nicht wie so oft vertan werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hans Koschnick hat darum gebeten, eine Zwischenbemerkung machen zu dürfen.Ich erlaube mir an dieser Stelle einen Hinweis an die SPD-Fraktion. Wenn zwei Kollegen wie der Kollege Duve und Sie, die zu einem Thema Gewichtiges zu sagen haben, da sind, sollten sie auf die normale Rednerliste gesetzt werden. Denn das Instrument der Kurzintervention ist dazu gedacht, auf Äußerungen des Vorredners eingehen zu können. Sie, Herr Kollege Koschnick, haben antizipiert, was Ihre beiden Vorredner sagen werden, und sich vorsichtshalber schon drei Redner vorher gemeldet. Die Kurzintervention ist an sich nicht so gedacht. Sie soll der Dialogfähigkeit des Parlaments dienen.Ich erteile Ihnen das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12139
Zur Geschäftsordnung habe ich gebeten, nach Abschluß der ersten Runde einige Sätze sagen zu dürfen. Sie haben dem entsprochen. Danke schön.
Ich bin mit Konrad Weiß einer Meinung, mit einer einzigen Ausnahme: Wir sollten von der Bundesregierung keine Liste von den Firmen anfordern, die sich an den Boykott gehalten haben. Denn das wäre das Register des Deutschen Industrie- und Handelstages. Es würde genügen, die Firmen zu benennen, die sich nicht daran gehalten haben. Das wäre kürzer.
Zweite Bemerkung. Wenn ich eben höre, was über die armen Menschen im Nahen Osten gesagt worden ist — ich teile manches —, dann bitte ich ein wenig nachzudenken. Wir, die wir dagegen sind, daß in ein fremdes Land abgeschoben wird, wir, die wir dafür sind, daß vor Gericht gestellt wird, wissen aber, daß diejenigen, die politische Gefangene in Bautzen eingesperrt haben, früher unter ganz anderen Bedingungen mit ihnen umgesprungen sind, als im Nahen Osten miteinander verkehrt sind. Sie sollten schweigen.
Verzeihung, Herr Kollege Duve — —
— Ja gern; aber zunächst einmal hat nach der Geschäftsordnung die Kollegin Fischer das Recht, kurz auf diese Bemerkung zu antworten.
Herr Kollege, ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, mir hier Schweigen aufzuerlegen. Das muß ich an dieser Stelle wirklich einmal sagen. Wer sich in irgendeinem strafrechtlichen Sinne vergangen hat, sollte vor Gericht gestellt werden — aber von beiden Seiten. Das muß ich hier wirklich betonen.
Ich habe auch mit vielen Israelis gesprochen — z. B. mit den „Frauen in schwarz" oder von der Friedensbewegung —, die genauso denken wie ich, und die würden das hier wahrscheinlich auch aussprechen.
Ich habe in der Dritten Welt gearbeitet, und ich war im Gaza-Streifen, und ich muß sagen: Ich bin so entsetzt; ich habe so etwas — auch unter hygienischen Gesichtspunkten — noch nie erlebt.
Ich kann Ihnen dazu nur eines noch sagen: ich kam aus dem Holocaust-Museum, tief beeindruckt, und ich war in Ostjerusalem und habe beobachten müssen, wie junge Frauen mit langen Haaren mit Maschinenpistolen in der Hand Palästinenser aus den Autos gezerrt haben, junge Palästinenser an die Wand gestellt haben usw.
Ich möchte Sie wirklich bitten, hier wirklich ein bißchen objektiver zu sein und nicht einfach pauschal andere Leute anzugreifen.
Herr Kollege Duve, was war das für eine Wortmeldung? Darf ich das ?feststellen
— Verzeihung, eine Erklärung nach § 31 kommt nach Schluß der Debatte.
Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herrn Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau zwei Jahren haben wir in diesem Hause schon einmal, aber über eine andere Frage diskutiert, nämlich über den Krieg am Golf und die Bedrohung, die von diesem Krieg auf die arabischen Nachbarstaaten, aber auch auf Israel ausgeht. Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, daß nur relativ kurze Zeit danach durch die Nahostfriedenskonferenz in Madrid ein Verhandlungsprozeß eingeleitet worden ist, bei dem erstmals alle Konfliktparteien miteinander sprechen. Auf allen Seiten waren dazu politischer Mut und Weitsicht erforderlich. Es war entscheidend dafür, daß der Nahostfriedensprozeß seither greifbarere Formen angenommen hat.In der Zwischenzeit haben acht Runden direkter bilateraler Verhandlungen über Fragen der regionalen Zusammenarbeit im Nahen Osten zwischen Israel und seinen unmittelbaren Nachbarn und zwei Gesprächsrunden multilateraler Verhandlungen stattgefunden. Israelis — und das war neu — haben zusammen mit Palästinensern, Syrern, Jordaniern, Libanesen und anderen Arabern an einem Tisch Einzelheiten einer Friedensregelung für die Region erörtert.Obwohl noch kein Durchbruch erzielt worden ist, haben diese Verhandlungen die politische Entwicklung im Nahen Osten entscheidend verändert. Auch in der jetzigen sehr schwierigen Lage hat keine der Verhandlungsparteien den Abbruch der Gespräche gefordert. Vielmehr sind sich alle einig, daß der Verhandlungsprozeß bilateral wie multilateral möglichst bald fortgesetzt werden muß.Die Bundesregierung hat diesen Prozeß zusammen mit ihren europäischen Partnern von Anfang an auf allen Ebenen unterstützt. Sie hat sich bei ihrer Mitarbeit von den Prinzipien leiten lassen, die der niederländische Außenminister van den Broek im Namen der Zwölf bereits bei der Konferenz in Madrid hervorgehoben hat: die Entschließungen des Sicherheitsrates Nr. 242 und Nr. 338, der Grundsatz „Land für Frieden", das Recht aller Staaten der Region einschließlich Israels, in sicheren und anerkannten Grenzen zu leben, aber auch das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Mit unseren Partnern teilen wir die Überzeugung, daß es dabei um eine abschließende Gesamtlösung für diesen Konflikt gehen muß — im Interesse aller Betroffenen.Die Bundesregierung hat sich darüber hinaus besonders dafür eingesetzt, die multilateralen Verhandlungen über Fragen der regionalen Zusammen-
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12140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Staatsminister Helmut Schäferarbeit im Nahen Osten zu einem Schwerpunkt der europäischen Mitwirkung zu machen. Sie hat sich dabei von der Überzeugung leiten lassen, daß Europa — insbesondere aus den Erfahrungen der KSZE — bei Fragen wie Rüstungskontrolle und regionale Sicherheit, regionale wirtschaftliche Entwicklung — Wasser, Umwelt, Flüchtlinge — substantielle Beiträge leisten kann.
Dabei sind wir Deutsche besonders gefordert. Gerade bei den wirtschaftlich geprägten Themen wie regionale Zusammenarbeit im Nahen Osten richten sich Erwartungen an uns, die mit unserer Position bei der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit verbunden sind.Wir haben seit Madrid eng mit den Kosponsoren England und Rußland zusammengearbeitet. Vor allem unsere amerikanischen Partner — hier sei Außenminister a. D. Baker noch einmal erwähnt — haben sich große Verdienste um das Zustandekommen und die Fortsetzung der Verhandlungen erworben. Für die Bundesregierung begrüße ich, daß Präsident Clinton von Anfang an keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit gelassen hat, den in Madrid eingeleiteten Verhandlungsprozeß konsequent fortzuführen.Der arabisch-israelische Konflikt und der Streit zwischen Israelis und Palästinensern um das eine Land sind alt, tief und voller Emotionen. Jeder, der den Nahen Osten kennt, wußte daher, daß die Verhandlungen schwierig, voller Hindernisse und daher langwierig sein würden und daß Rückschläge nicht ausbleiben würden.Um so wichtiger ist es, die verbesserte Verhandlungsatmosphäre und die Fortschritte nicht gering zu schätzen, die allmählich erreicht wurden. Im Sommer des vergangenen Jahres hat die Regierungsübernahme durch Ministerpräsident Rabin dazu geführt, den Friedensprozeß auf eine neue Grundlage zu stellen. Der von Rabin sofort verfügte teilweise Siedlungsstopp ist überall nachdrücklich begrüßt worden, auch wenn er hinter der von der internationalen Gemeinschaft seit Jahren immer wieder bekräftigten Forderung nach einem vollständigen Stopp der völkerrechtswidrigen Siedlungsaktivität — das ist vollkommen richtig, sie war von Anfang an völkerrechtswidrig, keine dieser Aktionen ist jemals international gebilligt worden — deutlich zurückbleibt.Die israelische Regierung hat durch weitere positive Schritte — ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Entschärfung des sogenannten PLO-Kontaktverbotgesetzes ihrer Vorgängerregierung —
— ich komme sofort dazu — auch für die anderen Konfliktparteien sichtbar unterstrichen, wie ernst sie es damit meint, die für die Verhandlungen nötigen Kompromisse zu finden.Herr Kollege Feldmann, ich bin außergewöhnlich dankbar, daß Sie heute und gerade jetzt durch zwei Zwischenrufe wieder darauf verwiesen haben, daß dieBundesregierung, dem Beispiel der israelischen Regierung folgend, eine gewisse Zurückhaltung bei der Begegnung mit Vertretern der Palästinenser in Zukunft ablegen kann. Sie scheint mir durch den Beschluß der Knesseth in dieser Frage bei ihrer Rücksichtnahme auf Israel nicht mehr ganz so unter Zwang zu stehen wie in der Vergangenheit.
— Ich habe das, was Herr Feldmann hier gesagt hat, aufgegriffen, und er wird sicher für die Fraktion der F.D.P. und für die der F.D.P. angehörigen Minister diese Forderung vielleicht noch etwas erweitern können.Bundesminister Kinkel hat bei seinem Besuch in Israel am 18. November des vergangenen Jahres den Mut und die Entschlossenheit der israelischen Regierung gewürdigt. Auch die Palästinenser und die beteiligten arabischen Staaten haben durch ihre positive Haltung zur Intensivierung der Gespräche beigetragen.Annäherungen in wichtigen Teilbereichen konnten erzielt werden. Israelis und Palästinenser verhandelten substantiell, wenn auch kontrovers über die Umrisse einer künftigen Interims-Seibstregierung für die israelisch besetzten Gebiete. Wir unterstützen den Vorschlag demokratischer Wahlen in den besetzten Gebieten — ich betone: demokratischer Wahlen — und hoffen, daß über die Modalitäten in absehbarer Zeit Einvernehmen erreicht werden kann.Im Verhältnis zwischen Syrien und Israel erkannte Israel die Anwendbarkeit der Sicherheitsratsresolution Nr. 242 für den Golan an. Syrien sprach daraufhin von der Möglichkeit eines mutigen Friedens. Israel und Jordanien einigten sich über den Entwurf einer Tagesordnung mit dem Ziel einer Friedensregelung.Mit großer Sorge mußten wir zugleich immer wieder feststellen, daß der Friedensprozeß im Nahen Osten auch Gegner, ja, Feinde hat. Es sind die Extremisten auf allen Seiten, Frau Kollegin Fuchs; vollkommen richtig! Es sind diejenigen, die im Nahen Osten und in den besetzten Gebieten Gewalt üben, Maximalvorstellungen verbreiten und die es bewußt darauf anlegen, den Friedensprozeß zu stören.Ich möchte jetzt nicht alle Einzelheiten der Vorkommnisse der letzten beiden oder drei Wochen aufzählen. Es würde fast zu weit führen und könnte Herrn Kollegen Weiß vielleicht doch in irgendeiner Weise beeindrucken, was ich hier gar nicht versuchen will. Ich kann nur sagen, daß der Mord an einem israelischen Soldaten die Entscheidung der israelischen Regierung ausgelöst hat, im Widerspruch zum Völkerrecht 400 Palästinenser auszuweisen. Ich möchte das jetzt hier auch nicht vertiefen, weil, meine Damen und Herren, schon sehr viel in der Weltöffentlichkeit dazu gesagt worden ist.Wir sehen in dem Beschluß der israelischen Regierung vom 2. Februar, die Ausweisung von 100 Palästinensern rückgängig zu machen und die Ausweisungsdauer generell zu verkürzen, ein positives Signal. Wir hoffen und wünschen, daß durch diese
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Staatsminister Helmut SchäferEntscheidung ein Gesamtprozeß in Gang gesetzt wurde, der zur schrittweisen Rücknahme der Ausweisungsverfügung führen wird. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß die Autorität des Sicherheitsrates und die Geltung seiner Resolutionen auch in schwierigen Situationen beachtet werden müssen.
Im gleichen Sinne bleibt Israel verpflichtet — und wir weisen heute nicht zum ersten Mal darauf hin —, die Menschenrechte der Bevölkerung der besetzten Gebiete und die Bestimmungen der vierten Genfer Konvention zu beachten.Meine Damen und Herren, es ist jetzt entscheidend, daß sich alle Kräfte darauf konzentrieren müssen, die mit den jüngsten Entwicklungen verbundenen Risiken und Gefahren für den Nahostfriedensprozeß möglichst bald zu überwinden. Minister Kinkel hat in der letzten Woche der amerikanischen Regierung in Washington zugesichert, daß wir unsererseits zusammen mit unseren europäischen Partnern nach Kräften dazu beitragen wollen.Ich glaube, daß auch die heutige Debatte bei aller Emotionalität, die sie ausgelöst hat, einen sinnvollen Beitrag leistet, und ich darf dazusagen, daß unsere Bemühungen, auch im Rahmen der multilateralen Verhandlungen etwas dazu zu tun, fortgesetzt werden. Wir könnten uns vorstellen, daß z. B. die multilaterale Arbeitsgruppe „Regionale wirtschaftliche Entwicklung", wie von uns vorgeschlagen wurde, in Deutschland tagt. Das würden zugleich die ersten Verhandlungen im Rahmen des Nahost-Friedensprozesses auf deutschem Boden sein. Das wird hoffentlich nicht zu neuerlichen Sensibilitäten führen. Herr Kollege Weiß, wir können unser Verhältnis zu diesem Raum eben nicht ausschließlich und immer wieder auf die Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit reduzieren. Es geht darum, Frieden herzustellen, und zwar fair, gerecht und mit Rücksichtnahme auf die Interessen all derer, die dann gemeinsam in einer Region — so hoffen wir — in Zukunft miteinander leben können.Vielen Dank.
Herr Kollege Dr. Christoph Zöpel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie, Herr Staatsminister, haben darauf hingewiesen, daß es einige Zeit her ist, daß sich der Bundestag das letzte Mal mit den politischen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten beschäftigt hat.
Es ist schwierig, Maßstäbe dafür zu haben, was wichtig ist von dem, was wir hier im Bundestag besprechen. Aber bei diesem Problembereich der Weltpolitik beschleicht mich schon das Gefühl, daß wir mit einer gewissen — so kann man vielleicht sagen — Hilflosigkeit auf Entwicklungen, Lagen, die sich verändern, auf neue Gefahren schauen. Wir wissen nicht so recht, was wir tun sollen. Das mag teilweise auch zum Verdrängen führen.
Die konkrete Thematik heute beschäftigt sich mit den weiterhin zentralen Problemen jeglicher deutschen und europäischen Politik gegenüber dieser Weltregion.
Herr Kollege, verzeihen Sie, daß ich Sie einen Moment unterbreche. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir die Hintergrundkonferenz entweder nach draußen verlegen oder beenden.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.Es geht um das Thema, das immer noch zentral ist für das Verhältnis Europas und auch Deutschlands gegenüber dieser Region und für die Region selbst, um das Verhältnis zwischen den arabischen Staaten und Israel.Wir haben — das ist nicht zu bestreiten bei aller unterschiedlichen Bewertung des Engagements Deutschlands und anderer Länder in der Kuwait-Krise — danach in der Tat mit dem Friedensprozeß von Madrid Hoffnung erlebt und erleben sie noch. Nach dem Regierungswechsel in Israel ist die Hoffnung durch die Beendigung der Besiedlung in den besetzten Gebieten und in jüngster Zeit durch die Aufhebung des Kontaktverbots zur PLO weiter gestiegen.Daß wir jetzt die Ausweisung von rund 400 Palästinensern sehr schnell zu einem Beratungsthema hier machen, hat sicherlich auch etwas mit Enttäuschung zu tun, mit enttäuschten Hoffnungen, die durch die Beendigung der Besiedlung und die Aufhebung des Kontaktverbots zu Recht genährt worden waren.Dennoch, Herr Kollege Weiß, die Frage, ob und in welcher Tonlage wir hier über Israel diskutieren, halte ich für berechtigt. Es macht, glaube ich, Sinn, dazu zu argumentieren, wenn man es bejaht, wie Sie dazu argumentiert haben, der Sie — für mich sehr ernst zu nehmende — Zweifel haben. Dieses Argumentieren hat damit zu tun, daß man über Israel nicht sprechen kann, ohne an deutsche Geschichte zu denken und zu sagen, welche Konsequenzen man zieht, welche Konsequenzen man aus der deutschen und israelischen oder der deutschen und jüdischen Geschichte für das Verständnis für Israel ziehen kann. Ich will beides benennen.Die deutsche Konsequenz aus dieser Geschichte ist für mich ein deutsches Höchstmaß an Friedfertigkeit und Ablehnung von Gewalt. Das ist für mich die Konsequenz daraus, und sie gilt dann überall.Umgekehrt verstehe ich vollständig, wenn Israel aus diesem Abschnitt der Weltgeschichte die Konsequenz zieht, in einem Höchstmaß verteidigungswillig zu sein. Es gibt Unterschiede hinsichtlich der Konsequenzen, die beide Lander ziehen.Weil ich aber für mich diese Konsequenz ziehe, die israelische Haltung zu respektieren und zu verstehen, für die deutsche Haltung ein Höchstmaß an Friedfertigkeit und Ablehnung von Gewalt zu formulieren, ist es, glaube ich, aus dieser Sicht berechtigt, wenn Israelis und Deutsche sich gegenseitig auch kritisch begegnen.In einem Brief, den ich zusammen mit meinem Fraktionskollegen Rudolf Dreßler an den Generalse-
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12142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Christoph Zöpelkretär der israelischen Arbeiterpartei, Nissin Zvili, geschrieben habe, haben wir ausdrücklich und bedacht geschrieben: Wir haben es für notwendig gehalten, daß aus Israel Kritik an den Ausschreitungen gegen Ausländer in Deutschland und hinsichtlich der Gefahr neuen Antisemitismus hier geübt wurde. Wir glauben, auf der gleichen Basis können wir uns kritisch zu der Ausweisung der Palästinenser äußern. Das, finde ich, ist die Basis, hierüber zu sprechen.Auf dieser Basis gelingt es auch, in einen Dialog mit Israelis einzutreten, bei dem es — wenn auch nur begrenzt, wie das auf internationalen Konferenzen entspricht — dann doch möglich ist, zu Erfolgen zu kommen.Ich war bis gestern in Athen auf der Ratstagung der Sozialistischen Internationale. Dort haben wir mit den Stimmen der beiden der Sozialistischen Internationale angehörenden israelischen Regierungsparteien, der Arbeiterpartei und der Mapam, festgestellt: „Die Ausweisung" — ich nehme jetzt das englische Wort, weil darüber viel gestritten wird: expulsion — „ist gegen das Völkerrecht und eine Verletzung der Menschenrechte. "
— Herr Kollege Feldmann, wenn man einen Fortschritt erzielt und dann sofort fragt, warum man vorher noch nicht so fortschrittlich war, kann man ihn gefährden. Das gilt für alle Parteien.Weiter haben wir mit Zustimmung dieser Parteien festgestellt: „Israel sollte alle Forderungen der Resolution 799 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen erfüllen und die Rückkehr aller ausgewiesenen Palästinenser erlauben. Die Entscheidung der israelischen Regierung vom 1. Februar dieses Jahres ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht genug. " Ich glaube, hier zeigt sich, daß es doch Sinn macht, auch kritisch, Herr Kollege Weiß, mit Freunden in Israel zu sprechen.Damit bin ich bei einem Punkt, den ich für wichtig halte: Daß man so zwischen Israelis und Deutschen sprechen kann und manchmal in dem Rahmen, den internationale Konferenzen bilden, zu Fortschritten kommt, hat damit zu tun, daß wir zwischen Israel und Deutschland ein Netzwerk an Beziehungen aufbauen konnten, ein vielfältiges Netzwerk, das nicht zu Einseitigkeiten verführen darf, das aber hält. Das fehlt uns aber gegenüber den meisten, ich möchte sagen: fast allen arabischen Ländern. Hier liegt meine Sorge.
Sie wird noch verstärkt, wenn es nicht gelingt, sich gegenüber der PLO anders einzustellen. Es bringt ja nichts, dieser Bundesregierung zu sagen: Es war schon manchmal etwas verkrampft, wenn wir krampfiger waren als die, für die wir „Krampften".
Gut, wenn sich das jetzt lockert. Es ist sinnvoll, daß wir mit der PLO reden können, weil hier vielleicht am ehesten ein Netzwerk da ist. Es war ja schön, daß wir fast alle führenden Vertreter der Palästinenser bei den Friedensverhandlungen in den letzten Monaten hier in Deutschland sehen konnten. Aber wir müssen dieses Netzwerk mit allen arabischen Ländern aufbauen.Denn es gibt Gefahren. Einer unterliegen wir manchmal selbst. Es gab einen kurzen Disput zwischen meinem Freund Hans Koschnick und Frau Fischer über die Schärfe von Angriffen. Ich möchte das an uns alle richten. Ich glaube, wir gehen in unseren Resolutionen mit anderen Ländern — ob sie der Bundestag als Ganzes verabschiedet oder ob nur einzelne Parteien oder Fraktionen oder Sprecher von einzelnen Gruppen in den Parteien sich dazu äußern — oft in einer Art und Weise verbal-radikal um, die das Entstehen von echten Beziehungen verhindert.
Ich muß sagen, das erschüttert mich. Ich rede jetzt überwiegend sogar von dem, was ich näher beobachte; das ist meine eigene Partei. Dem sollte man insgesamt Rechnung tragen, denn nur dann kann man Netzwerke ausbauen, und das müssen wir gegenüber den Arabern tun. Denn eine Gefahr taucht inzwischen zumindest in der europäischen Presse auf: Hier ist ein neues Feindbild, der Islam, das ist offenkundig. Vielleicht sollten wir alle ein wenig darüber nachdenken, wie Feindbilder entstehen. Daß Abgrenzung — wir diskutieren ja, seitdem die große Grenze durch die Welt gefallen ist, über neue Abgrenzungen; ich halte das nicht für hilfreich — immer wieder Feindbilder gebiert, ist offenkundig. Wir haben diese Debatte; es wäre schrecklich, wenn es zu einem Feindbild Islam käme. Bei den Verurteilungen der Araber müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir alle uns als Europäer begreifen. Durch den Bosnien-Konflikt ist offenkundig geworden, daß, wenn die Religion als Kriterium genommen wird, die Araber als Muslime mehr Recht haben, von gefährlichen Europäern zu sprechen als umgekehrt; ich will das hier einmal deutlich feststellen. Wir reagieren darauf mit Hilflosigkeit. Von daher müssen wir so, wie wir mit Israel sprechen, auch mit den Arabern sprechen. Das geht über die Politik der Regierung hinaus. Es bedeutet für mich verbale Abrüstung, Bemühungen zu sprechen, mit jedem zu sprechen; ich sage ganz bewußt: mit jedem in der islamischen Welt zu sprechen, was kein Verstoß dagegen ist, daß unsere Positionen in bezug auf Menschenrechte und Pluralismus deutlich sind. Aber solange unsere Wirtschaftsunternehmen, wie wir eben diskutiert haben, bei den Arabern den Eindruck erwecken: Kapitalisten reden im politischen Bereich vielleicht nach ihren Prinzipien, aber wenn sie Handel treiben, dann halten sie sich nicht daran — das kann man ja nicht ganz leugnen — —
— Die Reaktion der SPD auf diese Entwicklung in Niedersachsen kennen Sie. Auf der anderen Seite halten wir uns doch besser alle mit dem Zurechnen zurück, wann welcher deutsche Minister oder Ministerpräsident auch in der Verfolgung von aus deut-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12143
Christoph Zöpelscher Sicht berechtigten wirtschaftlichen Interessen sich engagiert hat.
— Herr Kollege Reddemann, vielleicht merken Sie, daß ich bei diesem Problembereich, bei dem wir alle manchmal hilflos sind, bisher darauf verzichtet habe, irgendeine Regierung anzugreifen.
— Frau Kollegin Fuchs, es geht um Lernprozesse.Das genannte Bild vermittelt sich in arabischen Ländern schon; sie erzählen uns das manchmal zynisch. Wir sollten dies ein wenig mehr berücksichtigen. Sie glauben uns nicht, daß wir wirklich für Menschenrechte und Pluralismus sind, wenn der Exportauftrag allemal wichtiger ist als die Durchsetzung dieser Positionen.Noch einmal: In dem Raum südlich von Europa treten Entwicklungen auf, für die wir noch keine Rezepte haben. Auch das ist für mich ein Grund, dann nicht immer zu sagen: Die Regierung hat nicht ... — Die Regierung ist nun einmal nicht viel schlauer als die Opposition. Wenn die Opposition es nicht weiß, dann muß sie sich zurückhalten. Alle europäischen Länder gemeinsam müssen in ihrem Bemühen zu den arabischen Staaten neue Schritte gehen. Dies ist zu einer der wichtigsten Aufgaben europäischer Außenpolitik geworden.Danke schön.
Es ist immer so mißlich. Wenn man glaubt, der Redner ist am Ende, und man ihm dann nicht ins Wort fallen will, weil das rote Licht schon eine Weile blinkt dann glaubt der Redner, er hätte noch viel Zeit.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Verhältnis zu Israel ist erfreulicherweise seit Jahren zunehmend von gegenseitiger Achtung und großer Sympathie begleitet. Unabhängig von dem geschichtlich begründeten besonderen Verhältnis ist dies ein erfreuliches Ergebnis unserer gemeinsamen Beziehungen. Dieses ehrliche Bemühen um gegenseitiges Verstehen wird — das weiß ich — in Israel mehr geschätzt als SprechblasenAussagen, die immer wieder zu vernehmen sind. Ich sage das deshalb, weil derjenige, der seit vielen Jahren Israel regelmäßig besucht und auch in den arabischen Staaten ist, weiß, wie viele Politiker in Israel von uns Deutschen qualitativ zunehmend auch anderes erwarten, als nur Rücksicht auf die geschichtliche Vergangenheit zu nehmen, die gerade Deutschland tragisch belastet.Seit Jahren ist es ein Ärgernis, zu sehen, wie deutsche Unternehmen bei Aufträgen von arabischen Staaten genötigt worden sind, Erklärungen abzugeben, daß sie mit Israel keine Wirtschaftsbeziehungen unterhalten dürfen. So wie deutsche Firmen werden auch andere europäische und amerikanische Firmen zur Abgabe dieser Erklärung gedrängt. Auch hier, Frau Leonhard-Schmid, darf ich daran erinnern, daß diese Praxis seit der Gründung des Staates Israel besteht. Die Bemühungen in Ihrer Rede, Schuldzuweisungen in Richtung der jetzigen Regierung vorzunehmen, sind schon deshalb falsch, weil es gerade diese Regierung ist, die es abgestellt hat.
Dies ist als erfreulich anzusehen. Erfreulich finde ich auch, daß, wenn man genau zugehört hat, zwischen Ihnen und Herrn Zöpel gewisse Welten gelegen haben. Aber es ist auch nicht schlecht, wenn innerhalb einer Fraktion verschiedene Meinungen zum Ausdruck kommen.Die Fraktionen waren sich im Wirtschaftsausschuß und auch im Auswärtigen Ausschuß einig, daß die andauernde diskriminierende Praxis einiger arabischer Staaten abgelehnt werden muß. Es wurde Zeit, im gemeinsamen Interesse geeignete Regelungen zu finden, die diesen Boykottbemühungen entgegenwirken. Die neue Verordnung, die die Bundesregierung beschlossen hat, verbietet deutschen Unternehmen, im Außenwirtschaftsverkehr Erklärungen abzugeben, durch die sich das Unternehmen an einem Boykott gegen einen anderen Staat beteiligt. Dies gilt in Zukunft grundsätzlich und nicht nur im Verhältnis der arabischen Staaten zu Israel. Das steht übrigens, Herr Duve, in keinem Zusammenhang mit dem Binnenmarkt. Seit dem 1. Januar 1993 haben wir den Binnenmarkt. Wenn Ihre Zwischenfrage begründet gewesen wäre, müßte es so sein, daß sich bei der Außenwirtschaftsverordnung, die jetzt in Kraft tritt, mit dem Binnenmarkt etwas verändert. Nein, dies geschieht leider deshalb nicht, weil die EG-Staaten es größtenteils ablehnen, einer Harmonisierung in dieser Frage zuzustimmen.Die Bundesregierung hat enorme Anstrengungen unternommen, um einheitliche EG-Regelungen herbeizuführen. Die EG-Präsidentschaft, die EG-Kommission sind über die Verordnung, die jetzt in Kraft tritt, unterrichtet worden. Bisher waren wir nicht in der Lage, eine EG-weite Regelung durchzusetzen. Ich darf die Bundesregierung auffordern, in diesen Bemühungen nicht nachzulassen. Wir brauchen eine einvernehmliche Regelung, denn wenn wir jetzt den Schritt zum gemeinsamen Europa gemacht haben, hilft es uns wenig, wenn wir Regelungen dieser Art im deutschen Recht umsetzen und im europäischen Recht nicht verwirklichen können. Deshalb darf die EG aus ihrer Verpflichtung nicht entlassen werden, hier ebenfalls eine gemeinsame Regelung zu finden, daß Boykottandrohungen dieser Art aus jedem internationalen Vertrag zu verschwinden haben.Ein deutscher Sonderweg bei Maßnahmen im Israel-Boykott bleibt also problematisch, aber wir werden ihn gehen. Wir werden erleben, daß es
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12144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Peter KittelmannVersuche von einzelnen arabischen Staaten geben wird, deutsche Firmen zu isolieren, und es kann auch zu einseitigen Belastungen und Benachteiligungen der deutschen Wirtschaft kommen. Ich weiß, daß auch Israel nicht daran interessiert ist, daß es keine gemeinsame Regelung gibt. Um so erfreulicher ist es, daß arabische Staaten von dieser Regelung, die seit vielen Jahren besteht, immer stärker abweichen und nicht mehr auf Vertragsklauseln dieses Inhalts bestehen.
— Wenn man informiert ist, weiß man, daß es stimmt.
Mit der Ausnahme im Falle von Syrien und Libyen haben die Gespräche — darüber ist doch im Wirtschaftsausschuß gesprochen worden, Sie saßen doch dabei — ergeben, daß man dabei ist, ein immer größeres Verständnis zu finden.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, daß die Bundesregierung, um nachteilige Auswirkungen bei der Umstellung der Wirtschaftsbeziehungen weitgehend zu vermeiden und die Anpassung an die Neuregelung zu erleichtern, bereit war, den ursprünglichen Termin 1. November 1992 auf den 1. Mai 1993 zu verschieben. Im Wirtschaftsausschuß fand dies breite Zustimmung. Es hat mittlerweile eine ganze Reihe arabischer Staaten ihre Bereitschaft erklärt, ihre Boykottklauseln abzuändern.Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß die wirtschaftlichen Beziehungen zwar eine hervorragende Bedeutung haben, sie sich aber der grundsätzlichen Beziehung zwischen zwei Staaten unterordnen müssen. Deshalb danke ich auch der Wirtschaft, daß sie in dieser Frage das notwendige Verständnis aufbringt, sich in dem angesprochenen Sinne unterordnet, mit uns gemeinsam nach Wegen sucht, um Boykottklauseln in dieser Form in der Zukunft nicht mehr zu unterschreiben, und außerdem dafür sorgt, daß diese Boykottklauseln von den arabischen Staaten auch nicht mehr gefordert werden.Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, sich weiterhin mit größtem Nachdruck für eine europäische und internationale gemeinsame Regelung einzusetzen. Die CDU/CSU appelliert außerdem an die betroffenen arabischen Staaten, ihre, soweit noch vorhanden, diskriminierende Haltung aufzugeben. Sie schadet letztlich den Arabern selber.Schönen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Dezember 1992 hat sich zum fünftenmal der Beginn der Intifada gejährt. Dieser Volksaufstand, der fast täglich Tote und Verletzte, Inhaftierte und Ausgewiesene kostet, ist ein bewundernswertes Beispiel von Mut und Kraft, aber auch von Not und Verzweiflung im Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen und um Menschenrechte.Chaim Weizmann hat, kurz bevor er zum Präsidenten Israels gewählt wurde, gesagt:Ich bin sicher, daß die Welt den jüdischen Staat danach beurteilen wird, wie wir die Araber behandeln.Daraus ist seitens der in Israel herrschenden Kräfte bisher nicht die entscheidende Konsequenz gezogen worden, nämlich Beendigung der völkerrechtswidrigen Besetzung arabischer Territorien und Gewährleistung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser ebenso wie die berechtigte Reklamierung des Rechts Israels auf Frieden, Souveränität und Existenz in gesicherten Grenzen. Zu beenden, und zwar bedingungslos, ist insbesondere die israelische Siedlungspolitik in den arabischen Territorien. Dem SPD-Antrag ist hierin und in der Forderung nach deutscher Hilfe für die arabische Bevölkerung auf der Westbank und im Gazastreifen voll und ganz zuzustimmen.Wir können Forderungen wie die nach einem eigenen palästinensischen Gemeinwesen, das mit Israel souverän seine eigenen Wege der Zusammenarbeit sucht, nur unterstützen, wenn wir uns auch gegen den Terror gegen israelische Bürger und Bürgerinnen und gegen die Menschenrechtsverletzungen in zahlreichen arabischen Ländern wehren.Insbesondere der Begriff des Jihad, des heiligen Krieges, sollte aus dem politischen Denken und aus dem politischen Handeln verbannt werden. Die Politik des Westens gegenüber der arabischen Welt allerdings fördert diejenigen, die den Jihad predigen. Die arabischen Völker haben ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl als z. B. die slawischen Völker oder das deutsche Volk, deren Panslawismus bzw. Alldeutschtum zu den großen politischen und militärischen Katastrophen dieses Jahrhunderts beigetragen haben.Die Bevölkerungen der arabischen Länder nehmen sich schon über die gemeinsame schöne, ausdrucksreiche Sprache als Angehörige der großen arabischen Kulturwelt wahr, ohne daran die Forderung nach nationaler Einheitsstaatlichkeit zu knüpfen. Um so mehr werden sie gegenwärtig durch die Sanktionsspaziergänge der Golfkriegsmächte gegen den Irak gedemütigt, die vor allem die Bevölkerung treffen. Gedemütigt werden sie zugleich durch die Gleichgültigkeit, mit der der Westen die fortlaufende Verletzung von Menschenrechten auch in Palästina duldet.Der ungeheuren historischen Schuld Deutschlands und seiner Bevölkerung gegenüber den jüdischen Menschen in aller Welt wird, glaube ich, am besten Rechnung getragen, wenn wir uns Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie praktiziert werden, entgegensetzen und wenn wir hier bei uns den unerbitt-
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Dr. Ulrich Briefslichen politischen und strafrechtlichen Kampf gegen Rassisten und Antisemiten sowie alt- und neudeutsche Volksverhetzer und Leugner des Völkermordes an den Juden aufnehmen.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Herr Kollege Duve, es ist, was den Ablauf angeht, immer geschickt, erst nach den Abstimmungen eine persönliche Erklärung abzugeben. Da aber das Verfahren in diesem Hause inzwischen so ist, daß am Ende einer Abstimmung ein Schichtwechsel stattfindet, halte ich es für richtig, daß Sie vor der Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung sprechen.
Da der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages mich und auch meinen Kollegen Hans Koschnick vorhin in einer Zwischenbemerkung angesprochen hat, möchte ich gerne eine kurze Erklärung abgeben.
Ich war sehr froh, daß wir vor einiger Zeit, in der vorigen Legislaturperiode, das Instrument der Kurzintervention in unsere Geschäftsordnung eingebracht haben. Ich glaube, daß das sehr sinnvoll ist. Deshalb, Herr Präsident: Wenn jedenfalls ich mich hier zu einer Kurzintervention melde, dann geschieht das ausschließlich aus dem Ablauf der Debatte heraus und hat nichts mit der Zuteilung der Redezeit, die Sie angesprochen haben, zu tun. Ich war froh über die beiden Reden zu diesem Gegenstand, die von meiner Fraktion hier vorgetragen worden sind. Ich will betonen: Es waren Kurzinterventionen, die sich aus der Debatte heraus ergeben haben.
— Nein, ich habe mich vorher gar nicht gemeldet.
Herr Kollege Duve, Sie sind ein erfahrener Parlamentarier, und Sie wissen, daß das Instrument der persönlichen Erklärung nach § 31 eigentlich nicht dazu da ist, um eine Entscheidung des Präsidenten zu kommentieren. Aber ich habe Ihnen nicht unterstellt, daß sich Ihre Fraktion sozusagen Redezeit ertricksen wollte. Das habe ich Ihnen nicht unterstellt.
— Moment, ich habe nur darauf hingewiesen, daß zwei Kollegen, die zu solcher Frage Gewichtiges zu sagen haben, vernünftigerweise von ihrer Fraktion auf die Rednerliste gesetzt werden und nicht das Instrument der Kurzintervention nutzen. Aber wir wollen dies jetzt bitte nicht weiter diskutieren.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten, Drucksache 12/2425. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/4313 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung in der soeben geänderten Fassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Maßnahmen gegen Israel-BoykottVerpflichtungen deutscher Firmen auf Drucksache 12/4145 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/554 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Der Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zu den Verhandlungen über eine Friedenslösung im Nahen Osten auf Drucksache 12/3237 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in den neuen Bundesländern schaffen
— Drucksachen 12/1909, 12/3252 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Herbert Meißner
— Sie sehen, Herr Kollege Rüttgers, was ich mit „Schichtwechsel" gemeint habe.
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.
Jetzt bitte ich, die Konferenz auf der Regierungsbank zu beenden, Herr Staatsminister. Ich bitte die Kollegen, die sich an der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt nicht beteiligen wollen, den anderen Kollegen Gelegenheit zu geben, mitzumachen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Hermann Pohler das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, also der hohe Anteil von Arbeitslosen insbesondere im Osten Deutschlands, sind unumstritten. Unumstritten ist auch die Notwendigkeit von unterstützenden Maßnahmen durch Bund und Länder für die Erhaltung und Schaffung von rentablen bzw. wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen.So weit kann man dem Antrag der PDS/Linke Liste sogar folgen. Doch die weiteren Ausführungen des
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Dr. Hermann PohlerAntrages beinhalten neben einigen bereits praktizierten Maßnahmen vor allem Vorschläge, die aus der Zeit des Dirigismus der sozialistischen Planwirtschaft stammen. Es lohnt nicht, näher auf diese einzugehen.Daß es durchaus nicht eines Antrages der PDS bedarf, um die Entwicklung der Wirtschaft und damit die Sicherung von Arbeitsplätzen zu fördern, sollen folgende Beispiele zeigen:Zur Förderung des ostdeutschen Mittelstandes wurde bekanntlich die Investitionszulage auf 20 % erhöht. Zur Verbesserung der Eigenkapitalhilfe werden zusätzliche Verpflichtungsermächtigungen bis 2,4 Milliarden DM bereitgestellt.Die Treuhandanstalt und die Bundesvermögensverwaltung haben zur Förderung ostdeutscher Existenzgründer Mietkauf, Mietpacht und Kaufpreisstundungen vorgesehen. Nun ist es unsere Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, daß dies in entsprechendem Maße realisiert wird.Nicht unerwähnt bleiben sollen die von der Industrie für 1993 in den neuen Ländern vorgesehenen Investitionen in Höhe von 130 Milliarden DM, und das zu einer Zeit, in der die Wirtschaft in Richtung Rezession geht.Ich glaube, die Bemühungen zur Schaffung neuer, produktiver Arbeitsplätze sind offensichtlich.In diesem Zusammenhang muß allerdings auch etwas zur Lohnpolitik gesagt werden: Bei allem Verständnis für eine Lohnangleichung zwischen Ost und West sollte und muß die Sicherung von Arbeitsplätzen im Vordergrund stehen. Arbeitsproduktivität und Entlohnung stehen nun einmal in engem Zusammenhang.Auch dazu ein Beispiel: In einem Thüringer Treuhandbetrieb der Landmaschinenindustrie wird eine Arbeitsproduktivität von 50 % des Westniveaus ausgewiesen. Die Löhne liegen bei 65 %. Damit liegen die Lohnstückkosten in einem Bereich, der zur Sicherung des Absatzes keine Steigerung zuläßt.Sollte die durch die Gewerkschaft geforderte 26%ige Lohnsteigerung jetzt realisiert werden, sollten wir also ein Lohnniveau von ca. 90 % erreichen, dann sind die roten Zahlen wieder Realität, und die angestrebte Privatisierung rückt in weite Ferne — es sei denn, Arbeitsplätze werden in größerem Umfang abgebaut; denn kein Unternehmen kann bei so einer Diskrepanz erfolgreich geführt werden.
Die Auffassung, die Treuhand wird schon zahlen, erinnert doch stark an die Mentalität in den ehemaligen volkseigenen Betrieben, bei denen der Staat im Endeffekt für alles aufkam.Interessant ist übrigens die Feststellung, daß der Zusammenhang zwischen Lohnkosten und Arbeitsplatzerhaltung bei den Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern durchaus bekannt ist und trotz allem verständlichen Bestreben nach höheren Löhnen weitestgehend akzeptiert wird. Andere Diskussionenwerden in der Regel von außen in die Betriebe getragen.Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang auch das Eingeständnis eines hohen Vertreters der IG Metall, der die Befürchtung äußerte, daß bei Nichtdurchsetzung der Forderung mit einem Mitgliederschwund zu rechnen ist. Daß man dies seitens der Gewerkschaft nicht ohne weiteres hinnehmen möchte, ist verständlich. Die angestrebte Sicherheit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze können so allerdings nicht erreicht werden.Das trifft auch für den vorliegenden Antrag der PDS zu. Er wird daher von uns abgelehnt.Danke schön.
Als nächster spricht der Kollege Herbert Meißner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pohler, Sie haben vieles, was zu diesem Antrag zu sagen ist, gesagt. Herr Schumann, Sie haben bei den Beratungen im Ausschuß teilweise mitgearbeitet und haben gesehen, wie die Lage ist.
Ihr Antrag ist vom 9. Januar 1992 datiert, er ist also wahrlich zeitlich überholt, wobei die inhaltliche Seite grundsätzlich als richtig zu beurteilen ist. Dennoch gibt es in Ihrem Antrag eine ganze Reihe Dinge, die so nicht akzeptiert werden können.
Die Beschlußempfehlung vom 15. September 1992 sagt aus, daß es nach gründlicher Beratung der Aktivitäten der Regierungskoalition, aber auch vieler Aktivitäten der Sozialdemokraten zu ausführlichen und weitergehenden Anträgen gekommen ist, die dem Antrag der PDS/Linke Liste entgegenstehen. Aus seiner Untergliederung wird übrigens klar, daß inhaltlich vieles den Anträgen der SPD entnommen ist.
Vordergründig steht in Ihrem Antrag vieles, was mit unseren Forderungen in Übereinstimmung steht. Leider fehlen aber grundsätzliche Aussagen zu der Finanzierung dessen, was Sie vorschlagen. Das ist die größte Problematik an Ihrem Vorschlag, Herr Kollege Schumann.
Ich möchte ohne jede Polemik weiterhin feststellen, daß einige Elemente in Ihrem Antrag enthalten sind, die der staatlichen Planwirtschaft sehr nahekommen. Das wollen wir natürlich nicht. Da in Ihrem Antrag aber auch wichtige Elemente für den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland aufgeführt sind, empfehle ich meiner Fraktion Enthaltung. Ich selber lehne ihn aber ab.
Danke.
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Türk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag vom 9. Januar 1992 ist natürlich überholt, insbesondere auch deswegen, weil die Bundesregierung eine Reihe der geforderten Maßnahmen realisiert hat und weil bei manchem, wenn
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Jürgen Türkman es täte, genau das Gegenteil der Zielvorgabe einträte, nämlich nicht die Schaffung von wettbewerbsfähigen, sondern von unsicheren Arbeitsplätzen.So können z. B. nicht von vornherein Bundesunternehmen das Ziel sein. Das Ergebnis einer solchen Politik dürfte noch aus DDR-Zeiten bekannt sein.Gleichwohl ist der Titel des Antrages „Wettbewerbsfähige Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in den neuen Bundesländern schaffen" noch immer aktuell, und das wird wahrscheinlich noch einige Zeit so bleiben.Ich glaube, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze können nur wie folgt geschaffen werden:Erstens. Die Privatisierung muß zügig fortgesetzt werden. Dazu gibt es keine Alternative. Das bedingt eine kompetente Geschäftsleitung. Nur ein erstklassiges Management mit genügend unternehmerischem Handlungsspielraum ist in der Lage, tragfähige Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Hier besteht Nachholbedarf. Verbotsstatute der Treuhandanstalt sind kein geeignetes marktwirtschaftliches Instrument.Dabei kann es nicht vorrangiges Ziel sein, überkommene Strukturen um jeden Preis — im wahrsten Sinne des Wortes! — zu erhalten. Vielmehr müssen die finanziellen Mittel für Produktumstellungen und damit für einen neuen Anfang eingesetzt werden.Zweitens. Das privatisierte bzw. in Privatisierung befindliche Unternehmen muß im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit einen Großteil der Arbeitsplätze wegrationalisieren; das ist nun einmal nötig. Damit eröffnet sich Spielraum für die Schaffung neuer Dauerarbeitsplätze.Aber die Schaffung von entsprechenden Rahmenbedingungen für alternative Gewerbe- und Industrieansiedlungen einschließlich Fremdenverkehr, Produktion und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte
— Dienstleistungen —, Herr Schumann, muß vom Staat unterstützt werden; das sage ich hier ganz bewußt. Ob und wie entsprechend den vorhandenen und geschaffenen Rahmenbedingungen und der Absatzlage Ansiedlungen erfolgen, ist allein Sache der Unternehmen, der Investoren.Drittens. Die Schaffung günstiger Standortbedingungen kann sich nicht nur auf die finanzielle Unterstützung beschränken, zumal Geld, wie wir jetzt immer wieder merken, nicht unbegrenzt vorhanden ist, auch weil an anderer Stelle nicht ausreichend gespart wird. Gleichwohl gehe ich davon aus, daß zumindest die angedachte Aufstockung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" um 2,5 Milliarden DM auf einen Bewilligungsrahmen von 6,85 Milliarden DM in den Nachtragshaushalt 1993 eingestellt wird, zumal der Bedarf um einiges höher liegt. Das ist das mindeste.Um so unverständlicher ist es, wenn z. B. Niedersachsens Ministerpräsident Schröder und der Generalsekretär der CDU Nordrhein-Westfalens, Reul, eine Überforderung der alten Bundesländer befürchten. Ist die Wiedervereinigung nun noch die wichtigste gemeinsame Aufgabe, oder ist sie es nicht mehr?
Vor allem jedoch, so meine ich, müssen die vorhandenen Möglichkeiten genutzt werden. Ein günstiger Standortfaktor sind die in großem Umfang zur Verfügung stehenden sogenannten nicht betriebsnotwendigen, aber voll erschlossenen Flächen und Immobilien der Treuhandunternehmen, bei denen die Eigentumsverhältnisse meist geklärt sind.
Warum also sollte man nicht diejenigen nehmen, bei denen das klar ist? Wir sollten der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft mehr Spielraum zur verbilligten Abgabe dieser bundeseigenen Liegenschaften verschaffen.
Das ist das Gemeinnützigste, was wir tun können.Wichtig ist, daß schnell günstige Voraussetzungen für alternative Gewerbe- und Industrieansiedlungen geschaffen werden. Das sollte übrigens für Ost- und Westdeutschland gelten. Das nutzt auch dem Fiskus, denn nur arbeitende Arbeitnehmer und gewinnbringende Unternehmen bringen Steuereinnahmen. Wir müssen die vor Ort vorhandenen Möglichkeiten besser nutzen. Das bedingt Entscheidungen vor Ort — der Region, der Treuhand, der Unternehmen und Investoren. Aber wir sollten dabei bedenken: Zu viele Köche verderben den Brei und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.Schönen Dank.
Nun spricht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pohler, Herr Meißner und Herr Türk haben zu Recht schon darauf hingewiesen, daß sich der Antrag der PDS weitgehend erledigt hat und überholt ist, denn zur Investitionsförderung, Regionalförderung, zur Förderung des Absatzes von Ost-Produkten und zum Ausbau der Infrastruktur sind entscheidende Weichenstellungen erfolgt. Im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms sind neue Initiativen vorgesehen, z. B. auch im Zuge der von Herrn Türk soeben angesprochenen Umschichtung der Mittel der Gemeinschaftsaufgabe zugunsten der neuen Länder.Natürlich bleibt die Lage in vielen Betrieben der ostdeutschen Industrie prekär. Vor allem die sich noch im Besitz der Treuhandanstalt befindlichen Unternehmen benötigen zweifellos weitere wirksame Hilfe. Mit dem von der Bundesregierung und der Treuhandanstalt ausgearbeiteten Konzept zur Sicherung und Erneuerung der industriellen Kerne werden aber auch neue Akzente gesetzt, wenngleich deutlich
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnergesagt werden muß: Eine Bestandsgarantie für Unternehmen oder einen vollständigen Entlassungsstopp gibt es darin ebensowenig wie einen Verzicht auf das Ziel der Privatisierung.Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch auf etwas hinweisen, was Herr Kollege Pohler schon angesprochen hat. Weder durch die Anstrengungen der Treuhandanstalt noch durch generelle Transferleistungen von West nach Ost können die notwendigen Voraussetzungen zur Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe geschaffen werden. Die eigentlich doch recht dramatische Gefährdung für den industriellen Neuaufbau Ostdeutschlands und auch die Gefährdung der Bemühungen um den Erhalt industrieller Kerne liegt in dem Tempo der Lohnanpassung, das auf die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Branchen und Unternehmen keinerlei Rücksicht zu nehmen bereit ist, jedenfalls bisher.Dieser Aspekt wird in dem Antrag der PDS leider völlig vernachlässigt. Meine Damen und Herren, zuerst verteilen und dann die dazugehörende Produktion herbeikommandieren: Das ist schon einmal unter der SED gescheitert. Lohnstückkosten, die mit über 70 DM je 100 DM Bruttoinlandsprodukt im Osten die entsprechenden Kosten im Westen von etwas über 40 DM um mehr als 60 % übersteigen, müssen alles gefährden, was die Wirtschaftspolitik zur Erhaltung und Erneuerung der Industrie in den neuen Bundesländern leisten kann.Es muß daher die Möglichkeit gegeben sein, auch schon einmal vereinbarte Lohnsteigerungen zu revidieren oder mit Tariföffnungsklauseln zu versehen. Nur eine solche differenzierte, den Knappheitsverhältnissen Rechnung tragende Entwicklung der Löhne eröffnet die notwendigen Wachstums- und Beschäftigungschancen. Sie kommt damit den betroffenen Arbeitnehmern eher zugute als ein paar Lohnprozentpunkte mehr. Man kann deshalb nur hoffen, daß die laufenden Revisions- und Schlichtungsverhandlungen in dieser Frage Erfolge bringen.
Eine ausreichende Zahl wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in Ostdeutschland kann letztendlich aber auch nur dann geschaffen werden — Herr Kollege Türk, ich glaube, das war es auch, was Herr Reul gemeint hat —, wenn ein länger anhaltender konjunktureller Einbruch in Westdeutschland verhindert wird. Auch deshalb brauchen wir den Solidarpakt, der ein Pakt für mehr Wachstum und Beschäftigung in ganz Deutschland sein muß. Das ist notwendig, um die Arbeitsplätze auch zur Erhaltung industrieller Kerne in den neuen Ländern zu sichern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben es bereits zum Ausdruck gebracht: Der Antrag ist vor mehr als einem Jahr im Bundestag eingebracht worden. Wir wären froh darüber, ihn heute nicht mehr diskutieren zu müssen. Daswäre nicht erforderlich, wenn die Maßnahmen, die beschlossen worden sind, auch tatsächlich gegriffen hätten. Die Tatsachen sehen jedoch anders aus.Die Zahlen sind Ihnen bekannt. Allein im letzten Jahr waren im Durchschnitt 1,18 Millionen Arbeitslose zu konstatieren, darunter 66 % Frauen. Es sind aus unserer Sicht leider keine Tendenzen des Aufholprozesses zu erkennen. Ich habe unseren neuen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt in der gestrigen Fragestunde danach gefragt, welches die Parameter sind, an denen man den Aufholprozeß erkennen kann, aber er konnte mir leider auch keine hinreichende Antwort geben.Das von den Gewerkschaften erkämpfte Instrumentarium aktiver Arbeitsmarktpolitik wäre gefordert, um für weitere Abhilfe zu sorgen. Statt der erforderlichen Ausweitung der Steuerungsmöglichkeiten werden in der augenblicklichen Politik seitens der Bundesregierung Gedanken genau in der umgekehrten Richtung laut. Auf Grund von Haushaltslücken wird die aktive Arbeitsmarktpolitik kurzsichtig eingeschränkt und damit der gegenwärtig vielleicht letzte Strohhalm für fast 1,7 Millionen Menschen weiterhin gefährdet.Aber auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik ist nur ein Zwischenschritt. Ohne eine Ausweitung öffentlicher Investitionen und Absatzförderung sowie Absatzsicherung, ohne die Förderung privater Investitionen — da befinde ich mich sicher in Übereinstimmung mit breiten Kreisen hier im Haus — ist die immense Zerstörung der gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage nicht zu beseitigen. Dem Deindustriealisierungsprozeß in den neuen Ländern muß endlich mit wirksamen Mitteln begegnet werden. Das können wir zur Zeit leider nicht erkennen. In dem Maße, in dem eine weitere Deindustrialisierung zugelassen wird, werden alle Steuerzahler über viele Jahre die Folgen der verfehlten Politik tragen.Während in den alten Ländern von 1 000 Einwohnern 114 in der Industrie beschäftigt sind — im Osten waren es 1989 150 —, sind es in den neuen Ländern jetzt nur noch 62. In Mecklenburg-Vorpommern kommen auf 1 000 Einwohner 30, die in der Industrie beschäftigt sind. In Schleswig-Holstein sind es immerhin mehr als doppelt soviel, obwohl Schleswig-Holstein sicherlich auch ein Agrarland ist.In Mecklenburg-Vorpommern gibt es 18 Kreise, in denen von 1 000 Einwohnern weniger als 20 im produzierenden Gewerbe beschäftigt sind. In drei Kreisen — Greifswald, Grimmen und Röbel — arbeiten sogar weniger als 10 von 1 000 Einwohnern im produzierenden Gewerbe.Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht um die Großindustrie, sondern es geht um das produzierende Gewerbe insgesamt, also einschließlich aller kleinen Handwerksbetriebe. Wie sollen unter diesen Bedingungen wirtschaftliche Kreisläufe in Gang kommen? Wie sollen Kommunen und Länder ihre Steuereinnahmen realisieren können?Die gesellschaftliche Vernunft würde die Förderung gesellschaftlich notwendiger Arbeitsplätze gebieten. Es wäre dringend geboten, eine Politik zum Erhalt von Betrieben der gewerblichen Wirtschaft einzuleiten.
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Dr. Fritz Schumann
Angekündigt wurde sie ja lange genug, und es wurden immer neue Begriffe dafür erfunden. Die Erhaltung industrieller Kerne z. B. wird seit Oktober geradezu beschwörend angekündigt. Es bleibt die Frage, wann es denn nun losgeht.Man muß jetzt hören, daß das Land Thüringen keine Listen der Betriebe vorlegen wird, die zum industriellen Kern gehören, vielleicht mit der berechtigten Begründung, daß es Todeslisten für die anderen Betriebe sind, wenn ein Teil der Betriebe zum industriellen Kern erklärt wird. Mecklenburg-Vorpommern wird auch keine Liste einreichen. Es gibt dort noch ganze 20 Betriebe mit mehr als 200 Beschäftigten, die zur Treuhand gehören. Welche Liste sollen sie von diesen Firmen noch vorlegen? — Das ist die Realität.Wissen Sie, uns — oder vielleicht besser gesagt, mich — schreckt auch die Liquidation eines Betriebes überhaupt nicht ab. Sie glauben nämlich immer, daß wir mit planwirtschaftlichen Ansätzen alles erhalten wollen. Wenn eine Liquidation konstruktiv erfolgt, d. h., wenn es tatsächlich um Betriebe geht, die so erkrankt sind, daß Heilung nicht mehr möglich ist, dann kann durch eine beherzte Liquidation bei gleichzeitiger Neugründung von Betrieben ein durchaus positiver Effekt erreicht werden.Doch das erfordert eben Strukturpolitik, an die Sie vielleicht nicht heranwollen. Es erfordert großzügige Investitionshilfen genauso wie die Nutzung von fachlichem und intellektuellem Potential der Menschen im Osten. Es gab und es gibt sie immer noch: eine große Motivation der Menschen. Sie sollten sie nicht weiter ausgrenzen. Darm läßt sich sicher mit den Menschen auch über Löhne reden und gemeinsam etwas anfangen.Danke.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/ Linke Liste abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung mehrheitlich angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Patentvergabe des Europäischen Patentamtes auf genmanipulierte Lebewesen
Zu dem Thema hat die Gruppe PDS/Linke Liste eine Aktuelle Stunde verlangt.
Als erste Rednerin spricht die Kollegin Dr. Ursula Fischer zu uns.
Frau Präsidentin! Kolleginnen! Kollegen! Meine Gruppe hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um auf eine folgenschwere Entwicklung aufmerksam zu machen: diePatentierung menschlicher, tierischer und pflanzlicher Gene durch das Europäische Patentamt in München.Unmittelbarer Anlaß ist das Ende der Einspruchsfrist gegen die sogenannte Krebsmaus. Es handelt sich um eine Maus, der ein Gen eingeschleust wurde, durch das sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an Krebs erkrankt. Die US-amerikanische Firma du Pont hatte dieses Patent beantragt und bekam es am 13. Mai vergangenen Jahres zugesprochen.Dankenswerterweise haben zahlreiche Verbände und Einzelpersonen gegen dieses Patent, welches sich in Wahrheit nicht nur auf Mäuse, sondern auf alle Säugetiere der Welt bezieht, Einspruch erhoben. Leider muß bezweifelt werden, daß das Europäische Patentamt diesen Einsprüchen stattgibt, da es sich in der Vergangenheit weder um ethische Bedenken gegenüber solchen Patenten noch um gesetzliche und völkerrechtliche Verbote der Patentierung gekümmert hat. Denn, meine Damen und Herren, dieses Krebsmauspatent ist nur eines von vielen tausend Gentechnikpatenten, die das Europäische Patentamt in den letzten Jahren genehmigte. Es befinden sich darunter Patente auf Pflanzen genauso wie solche auf menschliche Gene, z. B. eines auf einen Abschnitt des menschlichen Hormons Interleukin.Mit seinen Genehmigungen setzt sich das Europäische Patentamt bewußt über geltende Richtlinien hinweg. Sowohl im deutschen Patentrecht als auch im Europäischen Patentübereinkommen steht deutlich geschrieben, daß allein Erfindungen patentierbar sind und keineswegs Entdeckungen. Die Beschreibung und Entschlüsselung von Genen stellt jedoch maximal eine Entdeckung und auf keinen Fall eine Erfindung dar. Diese Position wird im übrigen auch vom Präsidenten des Deutschen Ärztebundes, Karsten Vilmar, vertreten.Eigentlich sieht das Europäische Patentübereinkommen darüber hinaus ein Verbot der Patentierung von Pflanzensorten und Tierarten vor. Mit abenteuerlichen Begründungen unterläuft das Europäische Patentamt jedoch diese Bestimmungen,Das Patent auf die „Krebsmaus" wurde genehmigt, weil sich der Patentanspruch nicht nur auf die Maus, sondern auf alle Säugetiere der Welt bezog. Da in dem vorliegenden Fall keine Tierart, sondern eine sehr viel größere Gruppe von Tieren gemeint war, kam das Europäische Patentamt zu dem Schluß, daß Patent sei zulässig.Dieses abenteuerliche Konstrukt soll es ermöglichen, Patente auf Tiere grundsätzlich positiv zu bescheiden. Ähnlich verhält es sich mit der Patentvergabe auf Pflanzen. Auch diese Patente werden genehmigt, weil sie sich nicht auf eine Pflanzensorte, sondern auf eine Vielzahl von Nutzpflanzen beziehen.Übertrage ich diese Argumentation auf einen anderen Bereich, hieße das, Diebstahl wird nur dann bestraft, wenn der Dieb in nur einem Geschäft gestohlen hat. Tut er dies jedoch gleich in mehreren Läden, ist er freizusprechen. Dies kann ja wohl keine vernünftige Rechtsposition sein.
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12150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dr. Ursula FischerDas Europäische Patentamt hat nach jahrelangem Hin und Her die „Richtlinie über biotechnologische Erfindungen" verabschiedet. In der Öffentlichkeit wurde — auch von Abgeordneten des Europäischen Parlaments und des Bundestages — der Eindruck erweckt, nun seien alle Probleme im Bereich der Patantvergabe bei gentechnisch manipulierten Organismen gelöst. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Richtlinie verbietet weder die Patentierung menschlicher noch tierischer Gene. Die Patentierung menschlicher Gene wird im Zusammenhang mit medizinischen Erwägungen sogar ausdrücklich erlaubt. Meine Damen und Herren, ich vermag jedoch nicht einzusehen, warum für die Gesundheitsfürsorge Patente benötigt werden.Hintergrund dieser Richtlinie ist das Interesse der Pharma- und Saatgutindustrie, die wirtschaftliche Verwertung der Gentechnologie zu ermöglichen. 75 % aller Gentechnikpatente werden von wenigen großen Chemieunternehmen beantragt. Allein für ein einzelnes Patent hat der Sandoz-Konzern 400 Millionen Dollar geboten, ein Vorzeichen für die gigantischen Gewinne, welche die Industrie in diesem Bereich erwartet.Beim Europäischen Patentamt liegen Anträge für genmanipulierte Schafe, Stiere, Hunde, Katzen und vieles andere mehr vor. Sollen wir zusehen, meine Damen und Herren, wie Gene Privatbesitz werden? — Nein, meine Damen und Herren, es steht weder Menschen noch Unternehmen zu, die Natur unter sich aufzuteilen.Westliche Konzerne werden mit ihren Patenten eine starke Machtposition gegenüber Ländern des Südens bekommen. Der Gipfel dieser Entwicklung ist erreicht, wenn — wie geschehen — die Firma Merck für eine Million DM das gesamte genetische Material z. B. Costa Ricas aufkauft.Die genetische Vielfalt der Länder des Südens wird nicht ökologisch bewirtschaftet und erhalten. Sie wird in Genbanken gesammelt, deren Aufbau die Weltbank mit 300 Millionen Dollar fördert und auf die sich der Norden den Zugriff ermöglicht. Eine perverse Situation entsteht.Meine Damen und Herren, wir müssen mit allem Nachdruck auf das Europäische Patentamt einwirken, damit es die Patentierung von menschlichen, tierischen und pflanzlichen Genen sofort stoppt. Sie ist rechtswidrig und ethisch nicht zu verantworten. Zudem sollten alle bereits erteilten Patente erneut überprüft werden. Dabei sollten auch die Strukturen des Europäischen Patentamtes einmal durchleuchtet werden, um Fehlleistungen dieses Amtes für die Zukunft auszuschließen.Menschen, Tiere und Pflanzen dürfen nicht wie Gegenstände behandelt werden. Leben darf nicht patentierbar sein.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster spricht der Kollege Klaus-Heiner Leime.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Thematik berührt ein gravierendes moralisches und ethisches Problem, nämlich den Umgang der Menschen mit dem Leben und der Schöpfung und die Grenzen dieses Umgangs.Zu Beginn will ich deshalb gleich sagen, daß für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Patentierung von Erfindungen, die Genmanipulation an Tieren und Menschen zum Gegenstand haben, grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Insbesondere der Mensch, aber auch das Tier, als Mitgeschöpf in dem neuen § 103a BGB durch den Gesetzgeber ausdrücklich so bezeichnet, darf grundsätzlich nicht zum Objekt gewerblicher Schutzrechte gemacht werden.
Dem werden im Grundsatz das Europäische Patentabkommen und die in Vorbereitung befindliche Richtlinie auch gerecht, indem sie die Patentierung von Tierarten prinzipiell ausschließen und im übrigen auch auf das allgemein übliche und verbindliche Gebot der Einhaltung der guten Sitten und der öffentlichen Ordnung verweisen. Damit ist bzw. wird durch die neue Richtlinie ein rechtliches Instrumentarium geschaffen, das meines Erachtens den moralischen und ethischen Grundvorstellungen, von denen ich zu Beginn gesprochen habe, entspricht.Vor diesem Hintergrund lehne ich es aber ab, die noch nicht rechtskräftige und möglicherweise nur vorläufige Entscheidung des Europäischen Patentamtes pauschal zu verurteilen. Ich kenne die Gründe für die Entscheidung des Europäischen Patentamtes im einzelnen nicht,
unterstelle jedoch, daß sich die verantwortlichen Entscheidungsträger in verantwortlicher Weise mit der Wirkung und den Gefahren, dem Leiden der Tiere und dem Tierwohl einerseits und den Vorteilen für die Menschheit, z. B. bessere Krebstherapien, andererseits vor dem Hintergrund des Gebots der Einhaltung der guten Sitten und unserer moralisch-ethischen Grundsätze auseinandergesetzt haben.Im übrigen gilt: Die Gentechnik schreitet mit enormen Schritten voran. Diese Entwicklung läßt sich nicht aufhalten. Die Forschung findet statt, wenn nicht bei uns in Deutschland, dann auf jeden Fall woanders auf der Welt.
Dabei gibt es natürlich immer auch verwerfliche Forschung, die im Einzelfall betrieben werden kann und sicherlich auch betrieben wird. Das ist schwer zu kontrollieren.Vor dem Hintergrund des menschlichen Wohls gibt es aber auf der anderen Seite auch immer eine ethisch und moralisch verantwortliche und verantwortbare Forschung. Sie liegt im Interesse unserer Gesellschaft und muß sowohl geschützt als auch gegenüber Mißbrauchsforschung ausdrücklich privilegiert werden. Dazu dient auch das Patentrecht.Mißbrauch gibt es im übrigen nicht nur bei der Genforschung. Traditionelle Züchtungsmethoden
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Klaus-Heiner Lehneund deren Ergebnisse können genauso verwerflich sein wie übrigens auch andere Erfindungen in ganz anderen Bereichen.Vor diesem Hintergrund erwarte ich von der Europäischen Behörde eine verantwortungsvolle Anwendung der rechtlichen Bestimmungen und einen sorgfältigen Umgang mit ihnen im Rahmen unserer ethischen und moralischen Grundsätze im Interesse des Lebens und der Schöpfung.Abschließend will ich noch einmal ganz klar sagen: Die Patentierung von gentechnischen Erfindungen am Menschen darf es nicht geben. Dies muß die EG-Richtlinie ausdrücklich und für jedermann unzweifelhaft festlegen. Der Mensch darf nicht zum Objekt gewerblicher Schutzrechte werden.Danke schön.
Es spricht die Kollegin Margot von Renesse.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mancher mag es ja seltsam finden, daß sich das Parlament, wo wir doch vor Bergen von Problemen politischer Art stehen, eine Aktuelle Stunde lang mit einer Maus beschäftigt.Aber dieses Mäuslein aus München ist vielleicht der Vorbote einer kopernikanischen Wende und könnte uns, wenn es schlechtgeht, geradezu einen Berg neuer Probleme schaffen, die unversehens in Frage stellen, was bisher Wertkonsens in unserer Gesellschaft war: der austarierte Konsens und die Interessenabwägung zwischen dem Verwertungsinteresse des Erfinders, dem Wert der geistigen Leistung, dem öffentlichen Interesse auf der einen Seite und dem Wert oder der Betrachtung des Lebens und der leblosen Materie und dessen, was das gewerbliche Urheberrecht darüber zu sagen hat, auf der anderen Seite.Damit keine Mißverständnisse auftreten: Wir in der SPD führen keinen fundamentalistischen Feldzug gegen Wissenschaft und Technik, auch nicht gegen Biotechniken und Gentechnologie. Im Gegenteil, wir sind an jedem Fortschritt im menschlichen Können und menschlichen Wissen interessiert. Wir anerkennen auch die Leistung des Erfinders, die durch das Patentrecht mit dem wirtschaftlichen Verwertungsmonopol belohnt wird. Aber im guten Sinne wertkonservativ, wie es wahrscheinlich nur Linke sein können,
erinnern wir an die Wertentscheidungen, die jedem Recht, auch ausdrücklich dem deutschen und europäischen Patentrecht — Herr Lehne hat einige Zitate daraus gebracht — zugrundeliegen. Wir mahnen die Einhaltung dieser Werte an. Darum geht es.Dazu gehört nach § 2 des deutschen und Art. 53 des europäischen Patentrechts die Nichtpatentierbarkeit von Tierarten. Das ist unstreitig. Herr Lehne, auch Sie haben es ja betont.Nur, man kann das, was jetzt in München passiert ist oder vielleicht eines Tages rechtskräftig passieren wird, auch so definieren — Juristen haben das allemal gelernt —, daß, indem die Gensequenz oder das Gen in dem einzelnen Tier und in seiner Nachkommenschaft — in seiner Nachkommenschaft bis ins hundertste Glied — mit den ganzen Abhängigkeitspyramiden, die dazu gehören, dem Eigentumsrecht einzelner unterstellt wird. Damit kann man praktisch den Begriff Tierart, der nicht patentierbar ist, unterlaufen. Das könnte geschehen.
Es ist, wie wir alle wissen, grundsätzlich möglich, daß ein einzelnes Tier patientiert wird. Darüber sind sich manche nicht im klaren. Das ist bisher nur ein theoretischer Fall, da ein wirtschaftliches Interesse des Erzeugers am Verwertungsmonopol nicht für das individuelle Exemplar, sondern nur für die gesamte Nachkommenschaft eines solchen Produkts existiert.Wird indessen das spezielle Gen, mit dem ein Tier durch mikrobiologische Verfahren verändert wurde, auch noch in der Nachkommenschaft zum geistigen Eigentum des Patentinhabers erklärt, so wird die für das Patentrecht wesentliche Unterscheidung zwischen Erfindung und Entdeckung aufgegeben und damit eine der zentralen Wertentscheidungen des Gesetzgebers im Patentrecht überholt.Kann man ein Gen, eine Gensequenz erfinden und geistiges Eigentum daran begründen? Es handelt sich doch vielleicht um Materie, die sich in der Natur bereits vorfindet und wahrscheinlich ebenso wenig patentierbar sein darf wie der Erdteil Amerika für Christoph Columbus.
Diese Unterscheidung war dem Gesetzgeber ja nicht irgenwie beliebig, sondern sie war ihm wichtig. Und warum? Weil der Reichtum der Natur allen Menschen, den Forschern, den Züchtern und natürlich auch unternehmerischen Interessen gleichartig zur Verfügung stehen soll, nicht aber aufgeteilt und parzelliert werden soll wie das Eigentum an Grund und Boden.Wollen wir diese Grundentscheidung aufgeben, die dem menschlichen Geist Freiheit gewährt? Ich meine, das sollte man nicht tun.Kein Zweifel, ein mikrobiologisches Verfahren ist ebenfalls patentierbar, damit sind es nach § 9 des deutschen und Art. 64 des europäischen Patentrechts auch die daraus hervorgehenden unmittelbaren Erzeugnisse.Aber was sind die unmittelbaren Erzeugnisse eines Verfahrens, wenn ich die Definition des Verfahrens, nämlich die zielgerichtete Kette menschlicher Handlungen, erst einmal übernehme? Die unmittelbaren Erzeugnisse — so steht es im Recht — können bei gentechnologischen Eingriffen in Zellen doch nur die damit veränderten Zellen sein. Ein ganzes Tier wie dessen Nachkommenschaft sind Ergebnisse weiterer, hinzutretender Geschehensabläufe, insbesondere der
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Margot von Renessedem Leben eigentümlichen Dynamik der Fähigkeit zur Selbstvermehrung. Diese Lebensdynamik hat unzweifelhaft mit Naturgesetzen zu tun, läuft aber nicht als eine vom Menschen zielgerichtet gestaltete Handlungskette, eben als ein Verfahren ab, sondern steuert sich auf komplexe Weise selber.Als unmittelbares Verfahrenserzeugnis scheidet deshalb bei strenger juristischer Auslegung ein ganzes Tier mit seiner Nachkommenschaft schon aus; es kann also nicht patentierbar sein, wenn wir an den bisherigen Grundentscheidungen des Patentrechts in Europa und in Deutschland festhalten.Die kopernikanische Wende, die in München eingeleitet worden ist und sich möglicherweise fortsetzt mit dem Entwurf der EG-Richtlinie, ist etwas, was wir nicht wollen, und ist etwas, was wir auch in der Stellungnahme der Bundesregierung als bedrohlich erkennen.
Hier sind wir alle aufgerufen, den Sinn des Wertkonsenses in unserer Gesellschaft zu erhalten.Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Kollege Professor Dr. Christoph Schnittler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der alten Bundesrepublik Deutschland war im Jahre 1989 jeder vierte Todesfall auf Krebs zurückzuführen. Damit ist Krebs heute die zweithäufigste und wohl dazu die heimtükkischste Todesursache. In der DDR rangierte der Krebstod zwar nicht ganz so weit vorn, doch war das vielleicht nur eine Folge der niedrigeren Lebenserwartung.Das Problem der Krebsentstehung und -behandlung ist nach wie vor ungelöst; aber man weiß heute, daß es einen solchen Lösungsweg gibt: die Erforschung der molekularen Mechanismen bis hinab auf die Genomebene. Dazu sind Experimente nötig. Zellkulturen allein reichen nicht aus. Das Tierexperiment ist unverzichtbar.In den USA ist 1985 eine Maus gentechnisch mit einer aktivierten Onkogensequenz versehen worden. Sie entwickelt daher Tumore, die denen des Menschen vergleichbar sind, und ist deshalb ein ideales Versuchstier für die Krebsforschung. Der Preis: Die Maus wird sehr rasch an Krebs zugrundegehen, und die Maus muß leiden.Darf der Mensch so etwas tun? Das ist wohl die eigentliche Frage in dieser Aktuellen Stunde. Hierauf muß, meine ich, jeder seine eigene Antwort finden. Meine Antwort ist eindeutig: Ja, er darf es, in der wohlbegründeten Hoffnung, daß damit letztlich menschliches Leid in einem kaum vorstellbaren Ausmaß vermieden oder zumindest gelindert werdenkann und daß dieses Ziel nach menschlichem Ermessen auf keinem anderen Weg erreichbar ist.
Ich verstehe jeden Tierfreund, der hier Bedenken hat, und ich verstehe ihn auch dann noch, wenn er seiner Katze das Mäusefangen durchaus nicht verbieten will. Aber wenn er solche Versuche generell ablehnt, so kann ich ihm auch die Frage nicht ersparen, ob er eigentlich mitverantworten kann, daß weiterhin jeder vierte Mensch an Krebs stirbt, und eben nicht nur Greise, sondern auch Kinder und Jugendliche. Ich bitte alle diejenigen, die Tierschutzbestimmungen weiter verschärfen wollen, sich sorgfältig zu fragen:
— Ich komme noch auf Ihr Thema! — Wird nicht womöglich der bessere Schutz der Tiere mit dem schlechteren Schutz von Menschen, insbesondere von Kranken, erkauft?
Die Krebsmaus verstößt nicht gegen die guten Sitten. Und jetzt bin ich bei dem Thema dieser Anfrage: Daher ist eine Patenterteilung durchaus möglich. Ob man ein Tier überhaupt patentieren soll, darüber kann man sehr wohl nachdenken. Die Juristen sind durchaus der Meinung — und wir werden das noch hören —, daß das möglich ist, und es gibt gute Gründe dafür.
Im vorliegenden Fall — hören Sie bitte zu! — ist expressis verbis das gar nicht geschehen. Das Patent ist nicht auf einen Säuger erteilt worden, dessen Zellen eine aktivierte Onkogensequenz enthalten, sondern patentiert wurde — ich lese Ihnen das jetzt vor —das Verfahren zur Erzeugung eines transgenen nichtmenschlichen Säugers mit erhöhter Neigung zur Entwicklung von Neoplasmen, bei dem spätestens im Achtzellenstadium eine aktivierte Onkogensequenz in einen nichtmenschlichen Säuger eingeschleust wird.Schönes Beamtendeutsch! Patentiert wurde das Verfahren, nicht die Maus selbst.Daran, daß solche wissenschaftlichen Leistungen, obwohl sie nicht Erfindungen im klassischen Sinne sind, patentfähig sein müssen, kann es wohl keinen Zweifel geben; denn neue Entwicklungen in der Gentechnologie erfordern einen enormen geistigen wie auch materiellen Aufwand, und der ist zu einem erheblichen Teil eben nur durch die freie Wirtschaft zu erbringen. Er muß sich mithin lohnen, und ohne eine patentfähige Absicherung ist das schlicht nicht erreichbar.Es bleibt allerdings die Tatsache, daß mit der Gentechnik die Klärung tiefliegender ethischer und rechtlicher Fragen notwendig wird. Der in den USA
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Dr. Christoph Schnittlerimmer noch schwelende Streit, ob Gensequenzen des menschlichen Genoms patentfähig sind, zeigt das wohl noch eindrucksvoller als das Beispiel der Maus.Lassen Sie uns also — das ist mein Anliegen — über diese Fragen weiter gemeinsam nachdenken, aber eben nachdenken und nicht nur nachfühlen !
Herr Abgeordneter, Sie sind längst am Ende Ihrer Redezeit angelangt!
Lassen Sie uns gemeinsam diese Fragen rechtlich besser regeln! Das Patentrecht ist dafür nicht der richtige Platz.
Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Funke hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erteilung von Patenten auf Leben jeder Art, wie sie zu Recht viele Menschen heute beschäftigt und berührt, ist für uns alle, glaube ich, ein sehr sensibler Bereich. Das haben die Beiträge gezeigt. Dies gilt natürlich erst recht, wenn es sich wie im Fall der sogenannten Harvard-Maus oder Krebsmaus um Tiere handelt und wahrscheinlich auch handeln wird.
Das Problem ist in dieser Form erst mit der Gentechnik entstanden. Wer nämlich ein Patent haben will — das ergibt sich aus dem Patentgesetz —, muß seine Erfindungen nämlich so beschreiben, daß sie ein Fachmann beliebig oft und mit dem gleichen Ergebnis wiederholen kann. Das war bei den klassischen Züchtungsverfahren mit durchaus divergierenden Resultaten gar nicht möglich. Deswegen hat es in der Vergangenheit darauf natürlich keine Patente geben können.
— Vielen Dank, daß Sie mir schon vorgesagt haben, was ich im nächsten Satz sagen wollte.
Das Europäische Patentamt hat in den letzten Jahren etliche Patente auf gentechnisch veränderte Pflanzen erteilt. Im Mai 1992 hat es zum ersten Male ein Tier, nämlich die Harvard-Maus, patentiert. Es hat dabei den Leiden, die diese Tiere erdulden müssen, den Nutzen für die Menschheit gegenübergestellt und entschieden, daß dieser Nutzen, also die bessere Erforschung einer der schwersten Krankheiten überhaupt, diese Leiden der Tiere rechtfertigt. Diese Entscheidung wird jetzt im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt und später im übrigen auch noch von den nationalen Gerichten unter dem Gesichtspunkt zu überprüfen sein, ob die Erfindung gegen die guten Sitten verstößt.
Dabei steht fest: Lebende Materie, auch Pflanzen und Tiere, ist grundsätzlich patentierbar. Frau von
Renesse hat schon darauf hingewiesen, daß dieses möglich ist. Nur für Tierarten ist es nicht möglich.
Damit befinden wir uns in Übereinstimmung mit der deutschen Rechtsprechung, mit dem Brüsseler Vorschlag für eine Biotechnologie-Richtlinie, dem Votum des Europäischen Parlaments dazu und der Rechtsauffassung in allen oder jedenfalls nahezu allen Staaten auf dieser Erde und im übrigen mit allen Staaten der EG. Das entbindet vor der Erteilung eines Patents allerdings nicht von einer sorgfältigen Prüfung, was im konkreten Fall patentiert werden soll. Dabei ist im speziellen Fall vor allem zu berücksichtigen, daß Tieren kein Leid zugefügt werden darf, soweit es nicht wirklich unvermeidbar ist.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf einen Punkt hinweisen, der in der öffentlichen Diskussion aus meiner Sicht immer unter den Tisch fällt: Die Erteilung eines Patents gibt ja keinen Freibrief für die Benutzung einer Erfindung. Ob sie gestattet ist, hängt von den allgemeinen Gesetzen ab, hier insbesondere vom Gentechnikgesetz und vom Tierschutzgesetz; aber auch von einer Reihe anderer Gesetze, sowohl was den Pflanzenschutz, als auch was den Tierschutz angeht.
Die Einhaltung dieser Vorschriften wird im Patenterteilungsverfahren nicht geprüft und darf im übrigen dabei nicht geprüft werden. Das Patenterteilungsverfahren ist mithin kein umfassendes öffentlich rechtliches Genehmigungsverfahren.
Ein erteiltes Patent gibt damit lediglich ein zeitlich begrenztes Verbietungsrecht gegenüber Dritten, beispielsweise Mitbewerbern, begründet aber keinerlei Rechte gegenüber dem Staat etwa auf tatsächliche Nutzung dieses Patents. Auch deshalb ist im Grunde genommen das Patentrecht nicht der richtige Ort, die notwendige gedankliche Auseinandersetzung über Sinn und Zweck, Chancen und Risiken der Gentechnologie zu führen.
Das, meine Damen und Herren von der PDS, mag emotional richtig sein, aber von der rechtlichen Seite ist dies hier im Grunde genommen nicht der richtige Platz.
Die äußerste Grenze für die Erteilung eines Patents ist die Sittenwidrigkeit der Erfindung. Hierauf hat Herr Lehne zu Recht hingewiesen. Ob diese Grenze überschritten ist, ist sicher auch bei gentechnischen Erfindungen eine Frage der Prüfung des Einzelfalls. Wer solche Erfindungen macht und sie zum Patent anmeldet, muß sich bewußt sein, daß er sich eine hohe, auch moralisch hohe Verantwortung aufgeladen hat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrte Herren und Damen! Rechtsnormen spiegeln gesellschaftliche Normen und Werte wider; jedes Recht ist werthaltig.
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12154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Edelgard BulmahnDeshalb ist die Frage der Patentierbarkeit von Lebewesen, die in einer ganz entscheidenden Weise auch eine Frage des Wertes ist, den wir Lebewesen in unserer Gesellschaft zumessen, keine Frage, über die Patentbeamte entscheiden können.Die Frage nach der Patentfähigkeit von Tieren berührt die ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft. Sie bedarf deshalb einer breiten öffentlichen Diskussion und einer eindeutigen gesetzlichen Grundlage.Tiere, meine Damen und Herren, sind mehr als eine beliebige Ansammlung von chemischen Substanzen, die zufällig in der Lage sind, sich zu vermehren und zu entwickeln und deshalb schrankenlos der menschlichen Verfügungsgewalt unterworfen werden können.
Der Respekt und die Verantwortung für Tiere, wie es auch im Tierschutzgesetz niedergelegt ist, verbieten meines Erachtens eine solche Einstellung. Tiere haben ein eigenes Lebensrecht Ihr Leben und Wohlbefinden stehen — daran kann und darf es keinen Zweifel geben — unter dem Schutz des Gesetzes.Leben ist keine patentfähige Erfindung des Menschen.
Die vollständige Verdinglichung von Tieren durch eine grundsätzliche und schrankenlose Patentierbarkeit und ihre Reduzierung auf einen genetischen Baukasten müssen weiterhin ausgeschlossen bleiben.Bisher war dies stets die Auffassung von Bundestag und Bundesrat, aber auch der Rechtsprechung. Nahezu gleichlautend bestimmen das deutsche Patentgesetz und das Europäische Patentübereinkommen, daß Patente für Tierarten und im wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Tieren nicht erteilt werden. 'Ich sehe keinen Grund, diese Position nunmehr aufzugeben. Keinen Zweifel kann und darf es daran geben, daß eine Patentierbarkeit von menschlichen Genen und des Menschen selber unter allen Umständen ausgeschlossen ist und bleiben muß. Die Diskussion über die Patentfähigkeit von Tieren darf auch nicht dazu mißbraucht werden, über den Umweg einer Zulassung der Patentierung von Tieren der Patentierbarkeit von menschlichem Erbgut Vorschub zu leisten, wie es in einem Antrag, der dem Europäischen Patentamt München vorliegt, geschieht.
Der Antrag, der sich im wesentlichen auf die Patentierung tierischer Gene bezieht, läuft in den Punkten 18 und 19 darauf hinaus, für die Brustdrüse der Frau ein Patent zu verlangen, um mittels Einschleusung eines Fremdgens ein bestimmtes Protein in der Muttermilch zu produzieren.Leider, meine Damen und Herren, ist dies nicht das einzige Beispiel. Der amerikanische WissenschaftlerCraig Venter meldete 337 Gehirngene vorsorglich zum Patent an. Australische Mediziner ließen sich die Verwendung des Gens patentieren, das bei schwangeren Frauen die Ausschüttung des Hormons Relaxin und damit den Geburtsvorgang steuert.Aber auch damit noch nicht genug: Menschliche Gene seien chemische Verbindungen und patentierbar, wenn sie einem chemischen Verfahren dienen, sagte der Sprecher des Präsidenten des europäischen Patentamtes.Meine Herren und Damen, wenn wir zulassen, daß menschliche Gene patentierbar sind, dann bedeutet dies in der Summe die Zulassung der Patentierung des Menschen. Dies widerspricht in fundamentaler Weise den Wertvorstellungen und den Normen unserer Gesellschaft.
Kein Mensch kann einem anderen Menschen das Recht auf eine schrankenlose Zurverfügungstellung seiner Gene oder seiner Erbanlagen geben. Kein Mensch kann einem anderen Menschen ein schrankenloses Recht über einen anderen Menschen geben. Deshalb brauchen wir hier eine klare definitive nationale und auch eine klare und definitive europäische Rechtsprechung, die dies unmöglich macht und untersagt.Mit seiner Entscheidung vom 14. Juli 1989 auf Abweisung der Patentanmeldung für die sogenannte Krebsmaus hatte die Prüfungsabteilung des Europäischen Patentamtes dann auch im Einklang mit der herrschenden Rechtsauffassung festgestellt, daß Art. 53 b des Europäischen Patentübereinkommens einen Patentschutz für Tiere als solche nicht nur dann ausschließt, wenn eine bestimmte Tierart beansprucht wird, sondern generell. Mit anderen Worten: Das Europäische Patentübereinkommen geht von einem generellen Patentierungsverbot für Tiere aus.
Die Beschwerdekammer des gleichen Amtes hat am 3. Oktober 1990 dieser Auffassung jedoch widersprochen, und zwar mit einer, wie ich meine, schon recht abenteuerlichen Begründung: Es seien nicht Tiere als solche gemeint, sondern Tierarten; eine Patentierung könne insofern nur dann abgelehnt werden, wenn Patentschutz für eine Tierart begehrt werde, nicht aber, wenn es sich um einen Patentschutz für Tiere an sich handele.
Für eine solche Sprachakrobatik habe ich kein Verständnis.Nun will ich nicht bestreiten, daß der Wortlaut des europäischen Patentgesetzes nicht eindeutig ist, zumal in der englischen und der französischen Fassung Begriffe verwendet werden, die allem Anschein nach Synonyme für den deutschen Begriff „Tierart" sind.Wenn das aber so ist, dann sind wir als Gesetzgeber aufgerufen, für die notwendige Klarstellung zu sorgen
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Edelgard Bulmahnund zwar im deutschen und im europäischen Patentrecht.
Alle wesentlichen Entscheidungen — und um solche geht es in dieser Frage — müssen in einer Demokratie vom Parlament getroffen werden. Sie können nicht auf Beamte oder Patentämter abgeschoben werden. In dieser Verantwortung stehen wir. Dieser Verantwortung müssen wir auch gerecht werden.Bei der Frage, wie wir uns entscheiden, müssen wir abwägen. Bei der Abwägung der Fragen, ob bzw. in welchem Umfang, aus welchen Gründen oder unter welchen Umständen Tiere patentierbar sein könnten, dürfen neben ethischen Bedenken auch die möglichen Auswirkungen nicht außer acht gelassen werden. Aber wir müssen hier in diesem Parlament eine Entscheidung treffen. Wir dürfen sie uns von niemandem abnehmen lassen.Ich bitte die Regierung und die Koalitionsfraktionen, dieser Verantwortung, die wir haben, und die uns niemand abnehmen kann, auch gerecht zu werden.
Nun spricht die Kollegin Dr. Hedda Meseke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege, gleich zu Anfang: Ich biete Ihnen das Gegenteil an. Sie kriegen das Kontrastprogramm.Ich bedaure außerordentlich, daß wir dieses diffizile Thema hier im Rahmen einer Aktuellen Stunde aufgreifen. Das einzige, was davon wirklich aktuell ist, ist nämlich das Datum des 13. Februar, zu dem die Einspruchsfrist abläuft. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten uns zuerst in einem geordneten Verfahren in den zuständigen Ausschüssen mit dem Thema befassen können;
denn es ist außerordentlich diffizil.Ich möchte, wenn ich das sage, nicht vergessen lassen, daß es natürlich zahlreiche ethische und moralische Probleme gibt, die schon das Beispiel dieser Krebsmaus aufwirft; denn allein der Begriff Krebsmaus weckt irgendwie schon Aversionen, und man fragt sich, ob dies überhaupt nötig ist. Aber wenn Sie sich vorstellen, welche Schwierigkeiten wir bei der Bekämpfung der modernen Krankheiten haben, und daß 70 % der Krankheiten heute mit den herkömmlichen Mitteln nicht bekämpfbar sind — —
— Das ist erlaubt. Oder?
— Wunderbar; dann wiederhole ich das nicht.
Mein Herr Kollege, wir kommen nämlich zu einem wichtigen Punkt. Die ganze Angelegenheit ist sehr viel weiter gediehen, als Sie überhaupt denken. Wenn Sie sich einmal die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage ansehen, dann können Sie darin lesen, daß die Bundesregierung schon gesagt hat, daß sie — ich zitiere — im Sinne der Auslegung des Europäischen Patentübereinkommens bei der EG weiter verhandelt. Das heißt: Sie hält auf EG-Ebene — das ist freilich noch nicht rechtsgültig — die Erteilung von Patenten für Tiere für denkbar und für rechtlich möglich.
Das ist der zentrale Punkt, den man zur Kenntnis nehmen sollte.Denn, meine Damen und Herren, wenn das rechtlich so ist, dann stellen sich die Fragen: Was mache ich mit einem solchen Patent? Wie begrenze ich ein solches Patent? Denn ein solches Patent auf ein Tier ist mit Sicherheit ein anderes Patent — inhaltlich zumindest für mich — als das für eine unbewegliche Sache.Ich möchte Sie dazu aufrufen, daß wir uns insbesondere im Rechtsausschuß mit dieser Frage befassen. Es geht damm, was wir eigentlich im Patentgesetz ändern müssen, wenn wir dazu kommen, daß wir eine europäische Richtlinie des Inhalts, wie ich sie mir vorstelle und wie sie wahrscheinlich kommt, ins deutsche Recht übernehmen werden.
— Ich sage Ihnen einfach, wie ich das rechtlich sehe. Da ich Erfahrungen in Verhandlungen mit der EG habe, sage ich Ihnen voraus: Wir werden eine solche Richtlinie bekommen.
Dann werden wir darüber diskutieren. Mein Anliegen ist, so früh wie möglich zu diskutieren, was wir mit einem solchen Patent inhaltlich machen. Das ist in meinen Augen sehr viel wichtiger, als die Frage zu diskutieren, ob ein Tier überhaupt patentrechtlich geschützt sein kann; denn das ist eigentlich nur ein Begriff, nicht aber der Kern der Sache.
Damit ich richtig verstanden werde, möchte ich zusätzlich sagen: Ich bin zutiefst der Auffassung, daß man nicht an Begriffen aufhören sollte, zu denken, sondern daß man die Inhalte dessen, was man schützen wird, analysieren muß.
Die Fragen sind: Wo sind die Grenzen? Wo sind die richtigen Grenzen? Hier sind z. B. die zentralen Fragen: Wie lange kann ein solcher Patentschutz dauern? Wie ist er auszugestalten? Kann es wirklich sein, daß es 20 Jahre lang durch das Patent verboten wird, ein solches Tier weiter zu vermehren, und daß ich dafür
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Dr. Hedda MesekeLizenzen einnehmen kann? Ist das denn richtig? Oder müßte es vielmehr so sein, daß hier zum Schutz der Weiterentwicklung unserer Forschung neue Grenzen gezogen werden?
— Sehen Sie, das freut mich.
Als nächster spricht der Kollege Wolf-Michael Catenhusen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann meiner Vorrednerin nur darin zustimmen, daß man bei Begriffen nicht aufhören soll zu denken. Aber wenn die bislang klaren Inhalte eines Begriffs auf einmal in ihr Gegenteil verkehrt werden, muß man doch stutzig werden und sich fragen: Was ist eigentlich in dieser Gesellschaft los?
1980 ist in Amerika zum erstenmal eine Bakterie patentiert worden. In der Begründung dieses Urteils ist ausdrücklich festgeschrieben worden, daß dies mit der Patentierung von Lebewesen im klassischen Sinne, von Tieren und Pflanzen, nichts zu tun habe.
Einige Jahre später hatte der Patentschutz die Pflanzen erreicht, drei Jahre später die Säugetiere. Mittlerweile liegen Patentanträge vor, Gene und Gensequenzen des Menschen patentieren zu lassen.
Was wir erleben, ist, daß eine technische Innovation — das, was wir unter „Patent" traditionell verstanden haben, worauf auch das Patentrecht aufgebaut hat, daß es nämlich um eine Erfindung des Menschen, um eine Sache geht — durch Rechtsprechung, nicht einmal durch einen Akt des Gesetzgebers, so uminterpretiert wird, daß wir uns fragen müssen, was da eigentlich passiert ist.
Diese Aktuelle Stunde hat den Sinn, daß wir einmal überlegen, ob das eine Entwicklung ist, die wir so laufen lassen können, bei der im Grunde genommen große Investitionsinteressen, die sich neuerdings auf einmal auch auf Lebewesen konzentrieren, in völlig selbstverständlicher Weise Patentschutz zur Folge haben. Hat Patentschutz überall dort Platz, wo es um große Gewinne geht? Oder gibt es auch noch andere Gesichtspunkte, die eine Rolle spielen müssen, wenn es um die Frage geht, wie weit Patentschutz ausgedehnt werden kann?
Meine Damen und Herren, die Harvard-Krebsmaus ist nur ein Tier, das für die Grundlagenforschung hergestellt worden ist; man muß sagen „hergestellt". Nur muß man in der Diskussion zwei Dinge unterscheiden. Ich kann vielem von dem, was mein Kollege Schnittler gesagt hat, zustimmen. Es geht hier aber gar nicht darum, ob Krebsmäuse gentechnisch manipuliert hergestellt werden sollen, sondern darum, ob diese Maus patentiert werden darf. Ich meine, daß die Patentierung der Harvard-Krebsmaus ebenso wie besonders die Patentierung von Gensequenzen von Pflanzen, Tieren oder des Menschen nicht nur eine ethische Frage darstellt. Diese Entwicklung behindert
objektiv die Freiheit der Forschung. Die Forschung kann doch gar kein Interesse an dieser Entwicklung haben.
Es ist doch wichtig, festzustellen, daß in Frankreich, in Großbritannien und in Deutschland — hier die Bundesärztekammer — gesagt worden ist: Wir wollen diese Entwicklung hin auf den Menschen nicht. Das ist auch nicht im Interesse der Wissenschaft. Die Patentierung geschieht doch nicht im Interesse der Wissenschaftler, die diese Maus manipuliert haben, sondern im Interesse von Monsanto, die damit Geld verdienen will. Um nichts anderes geht es.
Ich möchte einen zweiten Gesichtspunkt anschneiden. Ich spreche mich gegen die Patentierung dieser Krebsmaus aus und sage deutlich: Man kann hier sehr schön Scheindifferenzierung vornehmen. Aber wenn das Verfahrenspatent dann auch das Produkt, nämlich die Krebsmaus und alle ihre Nachkommen, umfaßt, ist es faktisch ein Patent über ein Tier geworden. Das kann man nicht mehr formal auseinanderdivideren.
Man sollte in der Diskussion auch deutlich ansprechen: Die Züchtung einer solchen transgenen Maus für die biomedizinische Forschung ist meiner Ansicht nach unter bestimmten Zielsetzungen nicht grundsätzlich verboten oder inakzeptabel. Wenn z. B. Gene des Menschen in ein Versuchstier hineingeschleust werden, damit aus der Reaktion eines veränderten, dem Menschen angenäherten Immunsystems — beispielsweise der Reaktion dieser Maus auf ein HIV-Virus — neue Erkenntisse über die Entstehung und den Verlauf von Aids gewonnen werden, so ist das eine Zielsetzung, die auch bei einer Prüfung unter Tierschutzgesichtspunkten eine Abwägung zugunsten dieser Forschung im Einzelfall möglich machen muß.
Auch der Versuch, menschenähnliche Krebsformen in einem Tier zu modellieren, um diese Grundlagenforschung, wie ein solcher Krebs entsteht und verläuft, nicht nur am Patienten durchführen zu müssen, sondern schon am Tiermodell erproben zu können, zeigt, daß hier auch legitime Interessen der Forschung, der biomedizinischen Grundlagenforschung, an solchen Tierversuchen bestehen.
Schönen Dank.
Min spricht der Kollege Heinrich Seesing.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Grunde ist es keine Frage der Gentechnologie, wenn wir über die sogenannte Krebsmaus streiten. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Frage nach der Patentierbarkeit von Leben. Denn man könnte ja auch mit Hilfe anderer Methoden Änderungen in einem Lebewesen herbeiführen, die so bedeutend sind, daß der — jetzt muß man sich fragen: Was ist er eigentlich? — Forscher, der Erfinder, der Techniker oder der Züchter sein Werk für sich und von sich genutzt sehen möchte.
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Heinrich SeesingEines ist klar. Gentechnische Verfahren wirken schneller, genauer und sicherer. Am Ergebnis der Krebsmaus — wenn man das so kurz gefaßt sagen darf — kann man es sehen.Da gelingt es also den Forschern, ein menschliches Krebsgen in Mäuseembryonen einzuschleusen. Ich will jetzt nicht in eine Untersuchung eintreten, ob das aus Sicht des Tierschutzes zu dulden ist oder nicht. Ich will einfach einmal voraussetzen, daß eine solche Forschung aus vielerlei Gründen ethisch zu verantworten ist. Ob die beiden Forscher selbst auf die Idee gekommen sind, ihre krebskranke Maus patentrechtlich zu schützen, weiß ich nicht. Dafür sorgte aber auf jeden Fall der US-Chemiekonzern DuPont. Er nahm die Forscher unter Vertrag und meldete im Jahre 1984 nicht nur das gentechnische Verfahren zur Herstellung von Krebsmäusen, sondern auch das Tier als solches in den USA zum Patent an. 1987 erklärte das amerikanische Patentamt, daß alles unter der Sonne, was vom Menschen geschaffen werde, patentierbar sei. 1988 erhielt DuPont das Patent in den USA. Im Jahre 1989 bissen die Antragsteller beim Europäischen Patentamt in München noch auf Granit.Die Ablehnung war wohlbegründet. Nach dem Europäischen Patentübereinkommen ist eine Patentierung von Tierarten verboten. Die recht tüchtigen Rechtsanwälte von DuPont konnten die Ungenauigkeit der Sprache zum Anlaß nehmen, die Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes anzurufen. Ich gebe Ihnen recht, daß wir uns mit diesen Sprachregelungen auseinandersetzen müssen. Die Beschwerdekammer legte den Begriff „Tierart" — mit meinen Worten gestaltet — so aus: Es soll nicht die Tierart Maus patentiert werden, sondern lediglich ein Tier, das nach einem ganz bestimmten, auch paten-tierbaren Verfahren hergestellt wurde und eine bestimmte Eigenschaft in sich trägt, die andere Mäuse nicht haben.Das Hauptproblem stellt aber nicht diese Krebsmaus dar, sondern vielmehr die Tatsache, daß alle Säugetiere und ihre Nachkommen, denen durch bestimmte gentechnische Verfahren krebsauslösende Gene ins Erbgut gesetzt werden, unter den Patentschutz fallen können. Wenigstens habe ich das so verstanden. Deswegen ist die Unruhe bei vielen Tier-und Umweltschützern so groß.Diese Unruhe wird noch größer werden, wenn man registriert, daß in diesen Tagen in den USA drei weitere Patente auf Mäuse erteilt worden sind. Davon sind zwei für die Forschung in der Humanmedizin gedacht. Eine Maus soll aber nun der Erforschung und Heilung von Tierkrankheiten dienen. In den USA gibt es zur Zeit über 180 Anträge auf Patentierung eines gentechnisch veränderten Lebewesens. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird also der Druck auf das Europäische Patentamt noch stärker werden.Der Deutsche Bundestag hat sich seit der Arbeit der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnololgie" mehrfach mit dieser Problematik befaßt und bisher die Patentierbarkeit von Tieren verneint. Ich gehe davon aus, daß letztlich das Bundespatentgericht feststellen muß, ob die Patentierung einer Maus durch das Europäische Patentamt national rechtlich gültig ist oder nicht. Je weiter z. B. dieKrebsforschung fortschreitet, desto häufiger werden wir vor Abwägungsprobleme gestellt werden.Wenn ich persönlich auch grundsätzliche Vorbehalte gegen eine Patentierbarkeit von Pflanzen, Tieren und erst recht von Teilen des Menschen und von Teilen des menschlichen Genoms anmelde, so kann ich mir im Einzelfall durchaus einen Gewissenskonflikt vorstellen. Vielleicht sind durchschlagende Erfolge in der Krebs- und Aidsbehandlung nur dann möglich, wenn ein bestimmtes, mühselig erarbeitetes Verfahren auch geschützt wird. Ich weiß es nicht.Ein Trost in der ganzen Diskussion ist, daß der Mensch nicht in der Lage ist, absolut neues Leben zu schaffen. Der Mensch muß immer auf das bereits Vorhandene zurückgreifen. Er greift also vielfältig in die Natur, in die Umwelt ein. Er wird das immer tun müssen, um leben zu können. Und wir? Wir müssen denken, nachdenken — wie es vorhin gefordert wurde —, wie weit wir die Dinge treiben lassen wollen. Die Entscheidung eines Patentamtes ist die eine Seite, die ethische Bewertung aber unsere Aufgabe. Und wir können das schon bei den Vorlagen tun, die wir in den Ausschüssen zu beraten haben.Herzlichen Dank.
Nun spricht die Kollegin Dr. Marliese Dobberthien.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verglichen mit der Harvard-Krebsmaus ist ,,Tracy" vermutlich das glücklichere Tier. Tracy ist ein Schaf, wird aber als biologische Fabrik benutzt. Ihr wurde ein menschliches Gen ins Erbgut geschmuggelt. Seither produzieren Tracys Drüsen nicht nur Milch, sondern auch das Enzym Alpha-1-Antitrypsin, Grundlage eines Medikaments gegen ein Lungenleiden. Der britische Hersteller verspricht sich ein Riesengeschäft.Wieviel unglücklicher ist hingegen die Krebsmaus, vom Menschen erschaffen, einzig und allein zu dem Zweck, schnell und sicher tödliche Tumore zu bilden.Der „Sündenfall" begann vor zwölf Jahren. Das US-Patentamt erteilte das weltweit erste Patent auf ein Lebewesen, ein Bakterium. Fortan galt „anything under the sund made by man" prinzipiell als patentfähig, und dank der Vermehrungsfähigkeit auch alle Nachkommen.Aber es blieb nicht bei Bakterien. Tomaten, Austern, Schafe folgten. Die Entwicklung rast in beängstigender Geschwindigkeit voran. Längst geht es um Patente für menschliche Erbinformationen. Menschliche Gene stehen schon länger im Fadenkreuz der Forschung. 1981 wurde in Europa ein Patent für ein Polypeptid mit der Aminosäuresequenz des menschlichen Interferons angemeldet. Für das menschliche Hormon Relaxin, bedeutsam für die Geburt, beantragte ein australisches Institut in Europa ein Patent.Was steht am Ende einer solchen Entwicklung? — Noch wurde einem US-Hersteller für eine haarlose Mäuseart — für Glatzentests — die Patentwürdigkeit
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12158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993
Dr. Marliese Dobberthienaberkannt. US-Ablehnung auch gegenüber dem Begehren, menschliche Erbanlagen unbekannter Funktion zu patentieren.Mit der Patentierung von Lebewesen sind komplexe ethische Fragen verbunden, die mir sehr zu schaffen machen. Bedeutet nicht jede Patenterteilung für lebende Organismen, daß qua Gentechnik das Erbe der Natur in den Privatbesitz von Unternehmen über-führbar wird? — Sowenig wie Luft und Wasser jedoch Privatbesitz sind, sowenig sollte die Genvielfalt dieser Welt zum Eigentum weniger kapitalstarker Unternehmen werden dürfen.
Wenn das Patent für die Krebsmaus rechtskräftig würde, dann hieße das: Nur der US-Konzern DuPont und seine Lizenznehmer dürfen Mäuse gentechnisch manipulieren, diese Tiere vermarkten und mit karzinogenem Material testen; nur DuPont gehören alle natürliche Nachkommen und alle weitere Generationen und Chromosomen dieser Geschöpfe.Unbeantwortet sind für mich auch ethische Fragen. Wer gibt Menschen das Recht, eine Tierart einzig und allein zu erschaffen — zu produzieren wie ein Auto —, um sie als Versuchstiere zu mißbrauchen und dem Tod zu weihen? Während bei den bisherigen Versuchen mit Tieren jedes einzelne Individuum immerhin noch die Chance besitzt, nicht Versuchsopfer zu werden, wird mit der Krebsmaus nämlich eine ganze Tierart ausschließlich menschlichem Zweckdenken unterworfen. Das einzelne Lebewesen verliert jede Identität. Seine einzige Realität ist seine DNS. Eine Tierart wird damit beliebig manipulierbar, austauschbar, erweiterbar, variierbar und wegwerfbar. Mich schaudert vor einem solchen seelenlosen Nützlichkeitsdenken gegenüber der belebten Natur und vor der Hybris des Menschen, sich als Ersatzschöpfer aufzuspielen.So sehen es auch andere Christenmenschen:Wenn gentechnisch veränderte Lebewesen patentfähig werden, zeigt dies, daß Menschen mitLebewesen umgehen wie heute mit Maschinen.So protestieren Ökumene-Leute in ihrer Hannoverschen Erklärung.In krassem Gegensatz dazu steht die Unterschrift des höchsten deutschen katholischen Kirchenrepräsentanten, Bischof Lehmann, der die Deregulierungskampagne der deutschen Gentechniklobby aktiv unterstützt.
Diese Kampagne weckt mit Simplifizierungen und vollmundigen Versprechungen unerfüllbare Hoffnungen dahin gehend, mittels Gentechnik Hunger oder Krankheit besiegen zu können. Als ob der Hunger ein technisches Problem sei und nicht ein Verteilungsproblem!
Es protestieren aber auch jene, zu deren Wohl die Gentechnik angeblich entwickelt wird, nämlich Menschen aus Ländern der Dritten Welt.Wer die Patentierung von Tieren und Pflanzen gestattet, läßt zu, daß genetische Ressourcen, bisher ein Menschheitsgut, zum Privatbesitz und Privileg von Patentinhabern werden. Das sind in der Regel die multinationalen Konzerne der Industriestaaten. Vor allem die vielfältigen genetischen Ressourcen und Reserven der Dritten Welt mit ihrem Artenreichtum sind der Begehrlichkeit des reichen Nordens ausgesetzt. Wie soll aber die Dritte Welt, die heute nicht einmal ihre ökologischen Kostbarkeiten wie den Regenwald vor kommerzieller Ausbeutung und Zerstörung schützten kann, die Ausbeutung und Privatisierung genetischer Ressourcen verhindern können?Und was sagt die Bundesregierung? — Lange hat sie sich vor klaren Stellungnahmen gedrückt. Vor einem Jahr weigerte sie sich, zur Patentierung eines menschlichen Gens aus dem Eierstockgewebe einer Frau ein deutliches Wort zu sagen. „Nicht zuständig", hieß es. Erst neuerdings sind deutlichere Worte zu hören. Das „gene-pharming", durch das mit der Muttermilch — auch bei Frauen — ein pharmazeutischer Wirkstoff produziert werden soll, hält sie immerhin — so heißt es nun — für einen „Verstoß gegen die guten Sitten".Ich halte es für unverzichtbar, daß sich die Bundesregierung in der Auseinandersetzung um die EG-Patentierungsrichtlinie dafür einsetzt, daß Säugetiere oder menschliche Gene niemals patentierungsfähig werden dürfen.
Frau Kollegin, wir sind in der Aktuellen Stunde. Da wären eigentlich fünf Minuten angemessen.
Ja. — Die Verfügungsgewalt über Lebewesen besitzt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen.
Machen wir es dem Europäischen Parlament nach, das heute einen Beschluß gefaßt hat, der die Rücknahme der Münchner Entscheidung verlangt!
Nun spricht der Kollege Peter Harry Carstensen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde führt uns deutlich vor Augen, daß die Biotechnologie schon längst das Stadium von „nur Forschung" verlassen hat und inzwischen ein wichtiger Faktor im wirtschaftlichen Bereich geworden ist. Diese Entwicklung ist durch das Aussprechen möglichst vieler Verbote nicht zum Stillstand zu bringen. Das mag man bedauern wollen, das ist aber nicht mehr zu ändern, insbesondere nicht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 140. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Februar 1993 12159
Peter Harry Carstensen
dadurch, daß man die Bundesrepublik Deutschland in eine gentechnologisch weiße Zone verwandeln will.
Das, so wissen wir, hat noch niemals in der Geschichte der Forschung und Technik funktioniert. Vielmehr gilt es — entsprechend dem Motto bei der Abfassung des Gentechnikgesetzes —, die Chancen und Risiken abzuwägen.
Zweifellos stellt sich hier bei der Gentechnik im Vergleich zur herkömmlichen Technik eine besondere Herausforderung, weil sich Biotechnik naturgemäß mit lebender Materie beschäftigt. Insbesondere stellen sich bei der Vergabe von Patenten auf Tiere und Pflanzen völlig neue Fragen.Wenn erhebliche Forschungskosten — das sind Risiken — auf dem Spiel stehen und wenn erhebliche Wirtschaftsgewinne — das sind Chancen — auf dem Spiel stehen, dann muß man anerkennen, daß biotechnologische Erfindungen ebenso wie die in anderen Technikbereichen einen wie auch immer gearteten Schutz genießen müssen.
Der Anlaß für die heutige Diskussion ist die sogenannte Krebsmaus. Ich gebe zu, mir fällt es schwer, diesen Fall zu werten und objektive Kriterien, z. B. was den Tierschutz angeht, hier anzuwenden. Aber man muß, glaube ich, auch anerkennen, daß es sich auch das Europäische Patentamt bei der ethischen Abwägung dieser Frage nicht leichtgemacht hat. Ich glaube, seine Entscheidung ist auch nachvollziehbar. Die Krebsmaus erhöht wohl eindeutig die Erfolgsaussichten bei der Krebsforschung.
Mir scheint — Sie merken, wie vorsichtig ich formulieren möchte —, auch die objektiv vorhandenen Leiden der bisher verwendeten Versuchstiere werden verringert werden können. Aber keinesfalls rede ich einem Freibrief für das Patentieren von Tieren das Wort. Eine solch schwere Entscheidung muß jeweils für jeden Einzelfall getroffen werden können.
Tiere dürfen nicht beliebig als genetisch konstruierte Versuchsobjekte patentiert werden, ebensowenig als Produktionsstätte irgendwelcher chemischer Verbindungen. Immer ist zwischen dem Befinden des Tieres und dem Nutzen für den Menschen abzuwägen.Die Situation bei der Patentierung oder bei einem irgendwie anders gearteten Schutz von Pflanzen istpragmatisch abzuwägen. Natürlich ist es begrüßenswert, wenn sich durch den Einbau von Resistenzen in das genetische Gefüge von Pflanzen der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zur Bekämpfung von Krankheiten erübrigt. Hier bieten sich auch Möglichkeiten für neue Erzeugnisse und Produkte. Die Bedeutung der Gentechnik für den Pflanzenbau der Dritten Welt ist sicherlich nicht zu unterschätzen.
Aber die rechtlichen Probleme dieser neuen Produkte, meine Damen und Herren, bedürfen schnell einer sauberen und, so glaube ich, auch breit akzeptierten Regelung.Die Europäische Kommission überprüft derzeit ihren Richtlinienvorschlag über den Schutz biotechnologischer Erfindungen. Das ist gut so. Wir unterstützen unsere Bundesregierung bei ihrer Einflußnahme auf diese Richtlinie.Lassen Sie mich zum Schluß nur noch auf eine Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands hinweisen. Darin heißt es:Die Alternative zwischen einem unumschränkten Ja und einem unumschränkten Nein zur Gentechnik führt nicht weiter.
Solche pauschalen Urteile erwecken den fälschlichen Eindruck, als ginge es bei der Gentechnik um die Entscheidung zwischen Heilsweg und Katastrophe. Aber bei der Beurteilung der Gentechnik handelt es sich nicht um die Wahl zwischen Weiß und Schwarz, sondern es kommt auf die Abstufungen, Differenzierungen und Grenzziehungen an.
Dem ist nichts hinzuzufügen.Danke schön.
Weitere Wortmeldungen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, liegen mir nicht mehr vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet und gleichzeitig die heutige Tagesordnung abgehandelt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 12. Februar 1993, 9.00 Uhr ein.
Ich wünsche einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.