Protokoll:
12134

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 12

  • date_rangeSitzungsnummer: 134

  • date_rangeDatum: 21. Januar 1993

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 19:55 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/134 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 134. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 11583A Nachträgliche Überweisung eines Gesetzentwurfs an den Finanzausschuß . . . . 11583D Begrüßung der Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses der Assemblée Nationale 11585C Andrea Lederer PDS/Linke Liste (zur GO) 11583D Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (zur GO) 11584 B Dr. Werner Hoyer F.D.P. (zur GO) . . . 11585A Tagesordnungspunkt 5: Vereinbarte Debatte zur deutsch-französischen Freundschaft anläßlich des 30. Jahrestages des Elysée-Vertrages Dr. Hans Stercken CDU/CSU 11585D Dr. Peter Glotz SPD 11588B Dr. Helmut Haussmann F D P 11590D Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 11592A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 11592D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 11594 C Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Drucksache 12/4152) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Asylrecht ist unverzichtbar (Drucksache 12/3235) Erwin Marschewski CDU/CSU . . . . . 11595 B Hans-Ulrich Klose SPD 11597 C Jörg van Essen F.D.P. 11599A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 11600 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11602D Wolfgang Lüder F.D.P. . . . . . . . 11603 D Dr. Jürgen Schmude SPD 11604 D Rudolf Seiters, Bundesminister BMI . . 11605B, 11609 C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11608A, 11612A Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 11609A Dr. Herbert Schnoor, Minister des Landes Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . 11610 D Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11610D, 11620A Arne Fuhrmann SPD 11611A Dr. Edmund Stoiber, Staatsminister des Freistaates Bayern 11612B Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 11613 D Detlev von Larcher SPD 11615 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. . 11618A Detlev von Larcher SPD 11618D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ 11620B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ CSU 11621D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 11622 B Hans-Joachim Otto (Frankfurt) F.D.P. 11622D Horst Peter (Kassel) SPD . . . . . . . 11623 D Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU 11624 A Dr. Jürgen Schmude SPD 11625 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste (Erklä- rung nach § 32 GO) 11627B Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des von den Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs im Berufsverkehr („JobTicket" Gesetz) (Drucksache 12/3573) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung der besoldungs- und steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitgeberzuschüssen zur Benutzung des ÖPNV („JobTicket") (Drucksache 12/4123) Marion Caspers-Merk SPD 11628D Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . 11630B Horst Friedrich F D P. 11631C Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 11632C Rainer Brüderle, Staatsminister des Landes Rheinland-Pfalz 11633 B Elke Ferner SPD 11634 A Theo Magin CDU/CSU 11635 D Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär BMF 11637A Tagesordnungspunkt 2: Fragestunde (Fortsetzung) — Drucksache 12/4132 vom 15. Januar 1993 — Vergabe von Aufträgen nach Taiwan angesichts des Auftragseinbruchs im deutschen Schiffbau MdlAnfr 21 Ortwin Lowack fraktionslos Antw StSekr Dr. Dieter von Würzen BMWi 11638A ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . . 11638A Kenntnis der Bundesregierung über private Waffengeschäfte MdlAnfr 22, 23 Friedhelm Julius Beucher SPD Antw StSekr Dr. Dieter von Würzen BMWi 11638C ZusFr Friedhelm Julius Beucher SPD . 11638D Einrichtung eines privaten Bahnbewachungsdienstes bei der Bundesbahn nach Zuordnung der Bahnpolizei zum Bundesgrenzschutz MdlAnfr 37 Horst Kubatschka SPD Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 11639C ZusFr Horst Kubatschka SPD 11639 C ZusFr Hildegard Wester SPD 11639D ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. . . . . . 11640A Reisezeitvorteile beim Ausbau der Eisenbahn im Vergleich zum ostdeutschen Autobahnverkehr MdlAnfr 38 Horst Kubatschka SPD Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 11640A ZusFr Horst Kubatschka SPD 11640 C Nichteinhaltung der Fristen beim Beginn der Arbeiten zur Elektrifizierung der Bundesbahnstrecke Neumünster-Kiel MdlAnfr 39, 40 Jürgen Koppelin F.D.P. Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . . 11640D, 11641 B ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P. 11641A, B Privatisierung des Fährbetriebes Puttgarden mit Hauptsitz in Rostock; personelle Veränderungen MdlAnfr 41, 42 Antje-Marie Steen SPD Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . . 11641D, 11642C ZusFr Antje-Marie Steen SPD . . . . 11642A, D Erfahrungen mit der Anwendung des Verkehrswegeplanungs-Beschleunigungsgesetzes in den neuen Ländern MdlAnfr 49, 50 Klaus Harries CDU/CSU Antw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV . 11643C, D ZusFr Klaus Harries CDU/CSU 11643 C Störfall im Atomkraftwerk Philippsburg im Dezember 1992 MdlAnfr 51 Siegrun Klemmer SPD Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 11644C ZusFr Siegrun Klemmer SPD 11644 D ZusFr Horst Kubatschka SPD 11645 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 III Einhaltung der Verpackungsverordnung durch die Zigarettenindustrie MdlAnfr 54, 55 Steffen Kampeter CDU/CSU Antw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 11645C, 11646A ZusFr Steffen Kampeter CDU/CSU . . 11645D, 11646A Verfahren bei der Auftragsvergabe für die Informationskampagne „Besser Wohnen" des Bundesbauministeriums; Anforderungen an die Berater MdlAnfr 57, 58 Iris Gleicke SPD Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 11646C, 11647 B ZusFr Iris Gleicke SPD . . . . 11646D, 11647C Versendung von Einladungen durch das Bundesbauministerium zu Seminaren über Wohneigentumsbildung aus der Adressensammlung der Aktion „Besser Wohnen"; Verstoß gegen den Datenschutz MdlAnfr 63, 64 Gabriele Iwersen SPD Antw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 11648A, C ZusFr Gabriele Iwersen SPD . . . . 11648A, D ZusFr Dr. Ulrich Janzen SPD 11648 C ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . 11649A Zusatztagesordnungspunkt 4: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktsituation und zum Abbau von Arbeitsplätzen Wolfgang Roth SPD 11649 C Jochen Feilcke CDU/CSU 11650C Jürgen Türk F.D.P. . . . . . . . . . . 11651 C Petra Bläss PDS/Linke Liste 11652 C Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11653 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 11654 C Adolf Ostertag SPD 11656B Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 11657 B Paul K. Friedhoff F D P. 11658A Dr. Uwe Jens SPD 11659B Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 11660C Konrad Gilges SPD 11661 C Peter Keller CDU/CSU 11662 C Heinz-Adolf Hörsken CDU/CSU . . . 11663 B Vizepräsident Helmuth Becker 11653 C Tagesordnungspunkt 7: a) — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten (VerjährungsG) (Drucksache 12/3080) — Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten (Drucksachen 12/2332, 12/4140) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zur Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Drucksachen 12/2132, 12/4140) Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11664C Dr. Hans de With SPD . . . . . . . . . 11664 D Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . . 11666 B Jörg van Essen F.D.P. 11667 A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . . 11667C Horst Eylmann CDU/CSU 11668B Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ . 11669C Tagesordnungspunkt 3: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Notenwechseln vom 25. September 1990 und vom 23. September 1991 über die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte und zu dem Übereinkommen vom 25. September 1990 zur Regelung bestimmter Fragen in bezug auf Berlin (Drucksache 12/4021) IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. März 1992 über den Offenen Himmel (Drucksache 12/4074) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes (Drucksache 12/4022) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksache 12/4072) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Dezember 1991 über eine Zusammenarbeit und eine Zollunion zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik San Marino (Drucksache 12/4073) f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. April 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Argentinischen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen (Drucksache 12/4075) g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ukraine über die Binnenschiffahrt (Drucksache 12/4081) h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland (Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz) (Drucksache 12/4047) i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1979 über die Anerkennung von Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Staaten der europäischen Region (Drucksache 12/4077) j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (Drucksache 12/4071) k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 27. November 1990 über den Beitritt der Italienischen Republik, vom 25. Juni 1991 über den Beitritt des Königreichs Spanien und vom 25. Juni 1991 über den Beitritt der Portugiesischen Republik zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 (Gesetz zu Beitritten zum Schengener Übereinkommen) (Drucksache 12/3804) l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Reichsheimstättengesetzes (Drucksache 12/3977) m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Bachmaier, Dr. Hans de With, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Besserer Schutz vor Kfz-Diebstählen (Drucksache 12/4023) n) Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft: Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1991 — (Drucksache 12/4063) o) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Deutsche Nuklearexporte in den Irak (Drucksache 12/1984) n Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen (Drucksache 12/4103) . . . . 11670B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 V Tagesordnungspunkt 4: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 616 31 — Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit — (Drucksachen 12/3653, 12/3983) b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 05 — Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital und am Sonderfonds der Interamerikanischen Entwicklungsbank sowie an der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft — (Drucksachen 12/3490, 12/3984) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 04 (Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital der Afrikanischen Entwicklungsbank und am Afrikanischen Entwicklungsfonds) (Drucksachen 12/3420, 12/3985) d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 60 04 Titel 642 31— Erstattungen an die Länder nach § 172 des Bundesentschädigungsgesetzes — (Drucksachen 12/3887, 12/4118) e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 (Von den EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben) (Drucksachen 12/3886, 12/4119) f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgaben im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 11 13 Titel 646 11 — Erstattung des Sozialzuschlags für Rentenempfänger in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet — (Drucksachen 12/3888, 12/4120) g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 05 Titel 526 04 — Kosten für Sachverständige, Architekten und Spezialingenieure — (Drucksachen 12/3757, 12/4121) h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der Filmarchivierung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung des Kinematheksverbundes (Drucksachen 12/5233, 12/3569) i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 84 zu Petitionen (Drucksache 12/4100) j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 85 zu Petitionen (Drucksache 12/4101) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Sechsundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung (Drucksachen 12/3479, 12/4162) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertneunzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz — (Drucksachen 12/3278, 12/4163) 11672A Zusatztagesordnungspunkt 8: Wahl der Mitglieder für den Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt (Drucksache 12/4161) 11673B Tagesordnungspunkt 8: Beratung des Antrags der Abgeordneten Lieselott Blunck (Uetersen), Hans Gottfried Bernrath, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Fraktion der SPD: Einsatz der Gentechnik und anderer neuartiger biotechnologischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion (Drucksache 12/3463) Lieselott Blunck (Uetersen) SPD 11673 D Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 11673A Lieselott Blunck (Uetersen) SPD . . . 11675D, 11680 D Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . . 11678B Dr.-Ing. Karl-Heinz Laermann F.D.P. . 11679B Horst Kubatschka SPD 11680A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11681 D Editha Limbach CDU/CSU 11682 C Dr. Marliese Dobberthien SPD , . . . 11684 A Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim) CDU/ CSU 11685B Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . , 11686B Tagesordnungspunkt 9: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Rolf Schwanitz, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über einen erleichterten Altersübergang für Arbeitnehmer und Arbeitslose in den ostdeutschen Bundesländern (Altersübergangsgeldgesetz) (Drucksache 12/3974) b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Altersübergangsgeld bis 1995 (Drucksache 12/3737) Renate Jäger SPD 11687C Jochen Feilcke CDU/CSU 11688D Dr. Gisela Babel F.D.P. 11689D Petra Bläss PDS/Linke Liste . . . . . . , 11690D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 11691D Karl-Josef Laumann CDU/CSU 11692 D Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA 11693B Renate Rennebach SPD . . . . . . . . 11694D Heinz-Jürgen Kronberg CDU/CSU , . , 11697A Tagesordnungspunkt 10: Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung (... Strafrechtsänderungsgesetz) (Drucksachen 12/1739, 12/4151) Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 11698C Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU . 11699A Dr. Hans de With SPD 11699D Burkhard Zurheide F.D.P 11700C Nächste Sitzung 11701D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11702* A Anlage 2 Urangewinnung der Wismut AG unter Anwendung von Schwefelsäurelaugungen MdlAnfr 25 — Drs 12/4132 — Siegrun Klemmer SPD SchrAntw PStSekr Dr. Erich Riedl BMWi 11702* C Anlage 3 Akzeptanz des Dienstleistungsabends; volkswirtschaftliche Vor- und Nachteile MdlAnfr 26, 27 — Drs 12/4132 — Ernst Hinsken CDU/CSU SchrAntw PStSekr Rudolf Kraus BMA . . 11702* D Anlage 4 Arbeitslosengeldkürzung bei Arbeitnehmern von in Konkurs geratenen Betrieben, z. B. der Karosseriefabrik Voll in Würzburg MdlAnfr 28, 29 — Drs 12/4132 — Walter Kolbow SPD SchrAntw PStSekr Rudolf Kraus BMA . . 11703* C Anlage 5 Erfüllung der Beschäftigungspflichtquote für Behinderte in allen Ressorts MdlAnfr 30 — Drs 12/4132 — Regina Kolbe SPD SchrAntw PStSekr Rudolf Kraus BMA . 11703* D Anlage 6 Höhe der vermeidbaren Kosten durch die Weiterführung des aufzulösenden Labors für Munition 2 der ehemaligen NVA in Vogelsesang MdlAnfr 31, 32 — Drs 12/4132 — Heinz-Alfred Steiner SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 11704* B Anlage 7 Ersatz des Sea-King-Rettungshubschraubers in Westerland durch Sea-Lynx ohne witterungsunabhängige SAR-Versorgung MdlAnfr 33, 34 — Drs 12/4132 — Werner Ringkamp CDU/CSU SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 11704* D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 VII Anlage 8 Planungen zum Bau der A 44 zwischen Kassel und Eisenach MdlAnfr 35, 36 — Drs 12/4132 — Joachim Tappe SPD SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 11705* B Anlage 9 Auswirkungen der Privatisierung des Fährbetriebs Puttgarden mit Hauptsitz in Rostock MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/4132 — Reinhold Hiller (Lübeck) SPD SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 11705* C Anlage 10 Tarifverträge zwischen der neu gegründeten GmbH des Fährbetriebes Puttgarden und den Beschäftigten; Personalstärke MdlAnfr 45, 46 — Drs 12/4132 — Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 11706* A Anlage 11 Nachteilsausgleich für die betroffenen Gemeinden und Einsatz eines zusätzlichen Fährschiffes auf der Vogelfluglinie im Zuge der Privatisierung des Fährbetriebes Putt-garden MdlAnfr 47, 48 — Drs 12/4132 — Lieselott Blunck (Uetersen) SPD SchrAntw PStSekr Wolfgang Gröbl BMV 11706' B Anlage 12 Konservierungsmittel in lösungsmittelfreien Farben; Umwelt- und Gesundheitsgefahren MdlAnfr 52, 53 — Drs 12/4132 — Susanne Kastner SPD SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU 11706* C Anlage 13 Weitere Entwicklung der Städtebauförderung in den alten Bundesländern MdlAnfr 56 — Drs 12/4132 — Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMBau . . . . . . . . . . . . . . . . . 11707* A Anlage 14 Interessenkonflikte beim Einsatz von Beratern mit Anstellungsverträgen entsprechender Unternehmen durch das Bundesbauministerium im Zusammenhang mit der Aktion „Besser Wohnen" MdlAnfr 59, 60 — Drs 12/4132 — Otto Reschke SPD SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMBau . . . . . . . . . . . . . . . . . 11707* A Anlage 15 Erkenntnisse des Bundesbauministeriums über das Sammeln von Adressen in den Infobussen für die Aktion „Besser Wohnen" durch Berater, insbesondere der Firma „mibeg" MdlAnfr 61, 62 — Drs 12/4132 — Dr. Christine Lucyga SPD SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMBau 11707 * C Anlage 16 Maßnahmen zur Förderung der industriellen Sicherheitstechnik MdlAnfr 65, 66 — Drs 12/4132 — Dieter Schanz SPD SchrAntw StSekr Dr. Gebhard Ziller BMFT . . . . . . . . . . . . . . . . . 11707 * D Anlage 17 Kürzung der öffentlichen Fördermittel für FuE-Aktivitäten im Bereich der Sicherheit von Verfahren und Anlagen des Arbeitsschutzes MdlAnfr 67, 68 — Drs 12/4132 — Lothar Fischer (Homburg) SPD SchrAntw StSekr Dr. Gebhard Ziller BMFT 11708 * B Anlage 18 Aufstieg von Angestellten, die für Personalratstätigkeit freigestellt sind, in einerseits den mittleren, andererseits den gehobenen und den höheren Dienst MdlAnfr 69 — Drs 12/4132 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA 11708* D Anlage 19 Internationale Handlungsfähigkeit der Bundesregierung; Blauhelm- und Kriegseinsätze auf freiwilliger Basis MdlAnfr 71 — Drs 12/4132 — Hans Wallow SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 11709* A VIII Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Anlage 20 Politische Stimmen für bzw. gegen eine Übernahme von mehr militärischer Verantwortung durch die Bundesrepublik Deutschland MdlAnfr 72, 73 — Drs .12/4132 — Gernot Erler SPD SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 11709* B Anlage 21 Vorgehen gegen ungerechtfertigte beleidigende Angriffe von ausländischen Regierungen und Medien auf Deutschland MdlAnfr 74 — Drs 12/4132 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 11709* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11583 134. Sitzung Bonn, den 21. Januar 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Berger, Hans SPD 21. 1. 93 Böhm (Melsungen) CDU/CSU 21. 1. 93 * Wilfried Brandt-Elsweier, Anni SPD 21. 1. 93 Duve, Freimut SPD 21. 1. 93 Francke (Hamburg), CDU/CSU 21. 1. 93 ** Klaus Gallus, Georg F.D.P. 21. 1. 93 Gattermann, Hans H. F.D.P. 21. 1. 93 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 21. 1. 93 Gerster (Mainz), CDU/CSU 21. 1. 93 Johannes Graf, Günter SPD 21. 1. 93 Großmann, Achim SPD 21. 1. 93 Grünbeck, Josef F.D.P. 21. 1. 93 Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 21. 1. 93 Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 21. 1. 93 Haschke CDU/CSU 21. 1.93 (Großhennersdorf), Gottfried Hasenfratz, Klaus SPD 21. 1. 93 Hilsberg, Stephan SPD 21. 1. 93 Huonker, Gunter SPD 21. 1. 93 Jaunich, Horst SPD 21. 1. 93 Koschnick, Hans SPD 21. 1. 93 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 21. 1. 93 Günther Kretkowski, Volkmar SPD 21. 1. 93 Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 21. 1. 93 Dr. Mahlo, Dietrich CDU/CSU 21. 1. 93 Marx, Dorle SPD 21. 1. 93 Meckelburg, Wolfgang CDU/CSU 21. 1. 93 Mehl, Ulrike SPD 21. 1. 93 Müller (Wesseling), CDU/CSU 21. 1. 93 Alfons Oesinghaus, Günther SPD 21, 1. 93 Pfeifer, Anton CDU/CSU 21. 1. 93 Reimann, Manfred SPD 21. 1. 93 Rempe, Walter SPD 21. 1. 93 Reschke, Otto SPD 21. 1. 93 Rixe, Günter SPD 21. 1. 93 Rode (Wietzen), Helmut CDU/CSU 21. 1. 93 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 21. 1. 93 Ingrid Dr. Starnick, Jürgen F.D.P. 21. 1. 93 Voigt (Frankfurt), SPD 21. 1. 93** Karsten D. Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 21. 1. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Erich Riedl auf die Frage der Abgeordneten Siegrun Klemmer (SPD) (Drucksache 12/4132 Frage 25): Trifft es zu, daß die in einer Antwort der Bundesregierung erwähnten „zwischen 500 und maximal 1 200 t Uran", die „in den kommenden Jahren noch anfallen" werden, nicht nur deshalb anfallen, weil sie aus der bereits vor der Wende in das Gestein eingeführten Schwefelsäure gelöst werden müssen, sondern daß die WISMUT beabsichtigt, in Folge von angeblich „aus bergtechnischen Gründen notwendigen" Sprengungen auch heute und/oder in Zukunft Laugungen mit Schwefelsäure durchzuführen, obwohl damit nicht nur Uran, sondern zahlreiche Giftstoffe und Schwermetalle aus dem Boden gelöst werden, obwohl es für deren vollständige Bergung keinerlei Konzept gibt, obwohl erst in mehrjährigen Untersuchungen erforscht werden müßte, ob ein Verzicht auf zusätzliche Laugungen nicht ökologisch sinnvoller wäre, und von welcher Behörde wurden solche Laugungen evtl. schon genehmigt oder liegen Genehmigungsanträge vor? Alle aus der Untertage-Laugung in den kommenden Jahren anfallenden Uranmengen sind Abfallprodukt einer geordneten Stillegung und Sanierung des Bergwerkes Königstein. Dabei unterliegen alle Maßnahmen der Genehmigung der zuständigen Berg- und Umweltbehörden. Die Sanierung des Bergwerkes Königstein erfordert die Lösung einer Vielzahl sehr schwieriger Einzelprobleme. Die Wismut stützt sich bei ihren Sanierungsvorschlägen dabei auch auf den Sachverstand international erfahrener Gutachter. Die wichtigste Zielsetzung der Sanierung besteht darin, die Kontamination eines für die regionale Trinkwasserversorgung wichtigen Grundwasserleiters auch nach der Flutung der Grube zu verhindern. Hierfür müssen die bereits begonnenen Laugungsprozesse planmäßig zu Ende geführt werden. Ob auch die Blöcke gelaugt werden müssen, die im Anschluß an die letzte aus Gründen der Bergsicherheit mit Genehmigung der Bergbehörde im Juni 1992 vorgenommene Sprengung eingrichtet worden sind, wird z. Z. im Genehmigungsverfahren geprüft. Anlage 3 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rudolf Kraus auf die Fragen des Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) (Drucksache 12/4132 Fragen 26 und 27): Welche Dienstleistungsbereiche außer dem Einzelhandel haben sich nach den Erkenntnissen der Bundesregierung dem vor drei Jahren eingeführten verkaufsoffenen „Dienstleistungsabend" angeschlossen, und wie wird er vom Verbraucher angenommen? Welche quantifizierbaren volkswirtschaftlichen Vor- und Nachteile ergeben sich nach den Erkenntnissen der Bundesregierung aus dem verkaufsoffenen Donnerstagabend? Zu Frage 26: Nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen wird der Dienstleistungsabend besonders intensiv im Einzelhandel genutzt und ist hier von den Verbrauchern gut angenommen worden. So haben nach einer Darstellung des IFO-Instituts von 1992 von den rd. 400 000 Einzelhandelsunternehmen mit einem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11703* Ladengeschäft rd. 10 % die Möglichkeit genutzt, „manchmal oder fortlaufend am Donnerstagabend ihr Geschäft bis 20.30 Uhr zu öffnen". In den Hauptzentren der Großstädte beteiligen sich 80 bis 100 % der Einzelhandelsgeschäfte am Dienstleistungsabend. Relativ gering war dagegen die Beteiligung bzw. die Nutzung des Dienstleistungsabends in anderen Dienstleistungsbereichen. Dies wird auch durch eine im Dezember von der Forschungsstelle für den Handel, Berlin vorgelegte Studie bestätigt, die im Auftrag des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu den „Städtebaulichen Auswirkungen veränderter Ladenschlußzeiten (Dienstleistungsabend)" durchgeführt worden ist. Die Studie kommt auf Grund schriftlicher Umfragen bei 280 bundesdeutschen Städten und Fallstudien in 7 aus der schriftlichen Umfrage ausgewählten Städten (Frankfurt am Main, Karlsruhe, Duisburg, Bremen, Lüneburg, Regensburg, Coburg) zum Ergebnis, daß sich an den längeren Öffnungszeiten private und öffentliche Dienstleister nur in geringem Umfang beteiligt haben. Von Ausnahmen abgesehen — in manchen Städten haben Behörden mit Publikumsverkehr am Donnerstag Sprechzeiten bis 18.00 Uhr — beschränkt sich die Abendöffnung auf den Einzelhandel. Auffallend ist jedoch, daß die in der Umfrage ermittelte Beteiligungsquote von privaten und öffentlichen Dienstleistern nahezu gleich ist: — Handwerk — 4,6 % — andere Dienstleistungsbetriebe, wie z. B. Friseure, Reisebüros, Reinigungen — 4,0 %, — Banken-4,3%, — Post — 4,7 % — sonstige Behörden.— 4,3 %. Der unzureichende Erfolg des Dienstleistungsabends in diesen Bereichen wird in dieser Untersuchung damit erklärt, daß sich der Dienstleistungsabend zu einem Tag für Familieneinkäufe entwickelt hat, bei dem häufig auch die Gestaltung des Abends nach dem Einkauf (z. B. Kinobesuch, Gaststättenbesuch u. a. m.) von vornherein mit auf dem Programm steht. Zu Frage 27: Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen des Dienstleistungsabends lassen sich nur schwer quantifizieren. Umsatz- und Beschäftigtenentwicklung sowie die Veränderung der Wettbewerbsverhältnisse sind von vielen Faktoren abhängig, so daß es kaum möglich ist, strukturelle und konjunkturelle Veränderungen einem bestimmten Faktor wie z. B. den geänderten Öffnungszeiten durch die Einführung des Dienstleistungsabends zuzuordnen. Wegen der vergleichsweise begrenzten Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten durch den Dienstleistungsabend können bisher nur Tendenzaussagen gemacht werden. So hat sich nach einigen neueren Untersuchungen z. B. ergeben: Der Erfolg des Dienstleistungsabends ist von einer hohen Beteiligung des Einzelhandels abhängig, da der Verbraucher am Dienstleistungsabend eine Vielzahl von Angeboten miteinander vergleichen will. Zum Teil konnten erhebliche Mehrumsätze besonders bei bestimmten Betriebsformen (Kauf- und Warenhäuser, Filialisten usw.) und bestimmten Standorten (zentrale Lage, periphere Stadtlagen, aber auch Mittel- und Oberzentren) erzielt werden. Diese Mehrumsätze konzentrieren sich auf bestimmte Bereiche solcher Waren, die „gemeinsam" gekauft werden, wie Textilien, Schuhe, Unterhaltungselektronik, Computertechnik, Autozubehör. Eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften kann bisher kaum festgestellt werden. Im wesentlichen wurden Umschichtungen bzw. zeitliche Umgruppierungen zu Ganztags- und Teilzeitbeschäftigten vorgenommen. Anlage 4 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rudolf Kraus auf die Fragen des Abgeordneten Walter Kolbow (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 28 und 29). Wie beurteilt die Bundesregierung die auf Weisung der Bundesanstalt für Arbeit von Arbeitsämtern aufgrund willkürlich fiktiver Festlegung des Bemessungsentgeltes nach § 112 AFG vorgenommene Kürzung des Arbeitslosengeldes der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von in Konkurs gegangenen Betrieben, wie es zuletzt im Dezember 1992 bei etwa 260 Beschäftigten der insolventen Karosseriefabrik Voll in Würzburg der Fall war? Was gedenkt die Bundesregierung gegen diese Benachteiligung zu unternehmen? Ob die Entscheidungen des Arbeitsamtes Würzburg, die Sie ansprechen, dem geltenden Recht entsprechen, läßt sich nur auf Grund einer Prüfung im konkreten Einzelfall beurteilen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit hat eine Überprüfung aller Leistungsfälle veranlaßt. Über das Ergebnis der Prüfung werde ich Sie unterrichten. Anlage 5 Antwort des Parl. Staatssekretärs Rudolf Kraus auf die Frage der Abgeordneten Regina Kolbe (SPD) (Drucksache 12/4132 Frage 30): Was hat die Bundesregierung veranlaßt, in dem Kabinettsbeschluß vom 3. Dezember 1992 auf teilweise Bleichlautende Beschlüsse zurückzugreifen, welche durch das Kabinett schon am 4. Dezember 1991 beschlossen und in der Drucksache 12/2050 veröffentlicht wurden, damit endlich die Beschäftigungspflichtquote von Behinderten in allen Ressorts einschließlich der nachgeordneten Geschäftsbereiche wieder erfüllt wird, und warum glaubt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, daß die Beschlüsse vom 4. Dezember 1992 gerade dieses Mal Signalwirkung haben werden? Der Beschluß der Bundesregierung vom 2. Dezember 1992 über die Förderung der Einstellung und Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst des Bundes ist im Zusammenhang mit dem 11704* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 ersten Kabinettsbeschluß vom 4. Dezember 1991 zu sehen. Der Beschluß von 1991 ist gefaßt worden, um der bereits damals absehbaren rückläufigen Beschäftigungsentwicklung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst des Bundes wirksam zu begegnen. Die besondere Bedeutung, die die Bundesregierung der dauerhaften Eingliederung Schwerbehinderter in ihrem Bereich zumißt, mögen Sie daran kennen, daß der Bundeskanzler die Staatssekretäre mit dieser Aufgabe betraut hat. Auf der Grundlage der Angaben der Ressorts und der Beratungen in zwei Staatssekretärsbesprechungen im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung für die Kabinettssitzung am 2. Dezember 1992 einen Bericht erstellt. Der Beschluß vom 2. Dezember 1992 greift auf den ersten Beschluß zurück, vertieft ihn und führt ihn weiter. Die Signalwirkung des neuen Kabinettsbeschlusses liegt darin, daß die öffentlichen Arbeitgeber in den Ländern und Gemeinden dazu veranlaßt werden sollen, dem Beispiel des Bundes zu folgen und selbst solche oder ähnliche Maßnahmen zu treffen. Dies gilt gerade im Hinblick auf die unzureichende Erfüllung der Beschäftigungspflicht insbesondere bei den obersten Landesbehörden in den neuen Bundesländern mit Quoten von 0,56 bis 2,6 v. H., aber auch in den alten Ländern (Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen, die Quoten von unter 4 % aufweisen). Aus diesem Grund hat Bundesminister Bohl bereits den ersten Kabinettsbeschluß mit Schreiben vom 21. Februar 1992 den Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder übersandt und an sie appelliert, ihrer Beschäftigungspflicht nachzukommen. Es ist beabsichtigt, auch den 2. Kabinettsbeschluß in gleicher Weise den Ländern bekanntzugeben. Die besondere Bedeutung des neuen Kabinettsbeschlusses liegt vor allem in der klaren Aussage, im Jahre 1993 wieder die volle Erfüllung der Pflichtquote (mit 6 %) erreichen zu wollen. Anlage 6 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen des Abgeordneten Heinz-Alfred Steiner (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 31 und 32): Welche Gründe haben dazu geführt, daß das seit August 1991 durch Entscheidung des Bundesministers der Verteidigung — Rü Z1 — aufgelöste Labor für Munition 2 der ehemaligen NVA in Vogelgesang im September 1992 noch nicht aufgelöst war? Welche vermeidbaren Personal- und Betriebskosten sind durch die Weiterführung der Einrichtung entstanden? Zu Frage 31: Die Entscheidung des Bundesministers der Verteidigung zur Auflösung des Labors für Munition 2 (LfM 2) in Vogelgesang vom 27. August 1991 hat das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung der Wehrbereichsverwaltung VII (WBV VII) mit Schreiben vom 25. September 1991 mitgeteilt und um Kündigung des Personals gebeten. Nach Klärung der Zuständigkeiten forderte die Standortverwaltung (StOV) Leipzig den Leiter des LfM 2 mehrfach auf, die Personalakten zu übergeben. Dies geschah erst nach einem Erlaß der WBV VII vom 22. Januar 1992, der auch die Einleitung der Kündigungsverfahren anordnete. Zu Frage 32: Unter Berücksichtigung eines angemessenen Bearbeitungszeitraumes vom Datum der ministeriellen Auflösungsanweisung, dem 27. August 1991, hätten die Kündigungen für das Personal etwa im Oktober 1991 ausgesprochen werden können. Die Kündigungen sind am 12. Oktober 1992 erfolgt. Es ergeben sich für diesen Zeitraum überschlägig folgende Kosten: Personalkosten ca. 625 000 DM Betriebskosten ca. 125 000 DM gesamt ca. 750 000 DM Im laufenden Schadensbearbeitungsverfahren wird geprüft, inwieweit diese Kosten vermeidbar waren. Daraufhin kam es zu Verhandlungen zwischen der StOV Leipzig und dem Leiter des LfM 2, die zu keinem Einvernehmen führten. Die WBV VII ordnete deshalb am 30. März 1992 an, die Kündigungen auszusprechen. Die daraufhin erfolgten Kündigungen scheiterten in der Folgezeit an der Ablehnung des Personalrats, dessen Haltung — Ankündigung von Rechtsbehelfen, die in der Folgezeit nicht eingelegt wurden — zu weiterem Aufschub führte. Am 12. Oktober 1992 kündigte die StOV Leipzig den 12 Mitarbeitern des LfM 2 erneut. Der Personalrat hat auch diesen Kündigungen nicht zugestimmt, im Gegensatz zur ersten Kündigung aber auf Schritte im Sinne des Bundespersonalvertretungsgesetzes verzichtet. Die Personalmaßnahmen im Zusammenhang mit der Auflösung des LfM 2 waren damit abgeschlossen. Das BMVg hat — nachdem es auf diesen Sachverhalt am 6. Oktober 1992 erneut aufmerksam gemacht worden war — eine sofortige Klärung eingeleitet. Der Abschluß der Auflösung wurde inzwischen berichtet. Ob die lange Bearbeitungsdauer auf das Verhalten von Bediensteten zurückzuführen ist, wird gegenwärtig im Rahmen einer Schadensbearbeitung geprüft. Anlage 7 Antwort des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen des Abgeordneten Werner Ringkamp (CDU/CSU) (Drucksache 12/4132 Fragen 33 und 34): Trifft es zu, daß Absichten bestehen, den Sea-King-Rettungshubschrauber von Westerland abzuziehen, bzw. ist er bereits abgezogen und durch Sea-Lynx ersetzt? Trifft es zu, daß der Sea-Lynx eine witterungsunabhängige SAR-Versorgung auf Grund seiner geringeren Flugzeit und technischen Konzeption nicht ermöglicht? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11705* Zu Frage 33: Es bestehen langfristig keine Absichten, den SEA KING-Rettungshubschrauber von Westerland abzuziehen. Auf Grund einer Engpaßsituation bei den SEA KING-Besatzungen wurde jedoch eine bis zum 1. Oktober 1993 befristete Interimslösung angeordnet. Dabei wird der SEA KING-Rettungshubschrauber auf Westerland von Montag bis Freitag durch SEA LYNX ersetzt. An diesen Tagen wird die SAR-Bereitschaft mit SEA KING in Kiel gestellt, wodurch die verbandsinterne Ausbildung zum notwendigen Aufwuchs von fliegendem Personal gewährleistet ist. An den Wochenenden verlegt der Kieler SEA KING-Bereitschaftshubschrauber jeweils nach Westerland. Zu Frage 34: Der SEA LYNX ist zwar nicht als Rettungshubschrauber konzipiert, kann aber durchaus in den Grenzen seiner Einsatzparameter zum Rettungsdienst eingesetzt werden. Sollten seine Fähigkeiten im Einzelfall überfordert sein, wird auf die SEA KING-Rettungshubschrauber aus Kiel oder Borkum zurückgegriffen. Darüber hinaus ist der SEA LYNX als Bordhubschrauber der Marine grundsätzlich ebenso witterungsunabhängig wie der SEA KING. Seit der vorübergehenden Aufnahme der SAR- Bereitschaft in Westerland mit SEA LYNX waren weder Einsätze im Rahmen der Nothilfe undurchführbar, noch mußte ein Einsatz abgelehnt werden. Anlage 8 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Joachim Tappe (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 35 und 36): Wie weit und wie konkret sind die Planungen zum Bau der A 44 zwischen Kassel und Eisenach in der Zwischenzeit gediehen? Mit welchen Realisierungszeiträumen für weitere Vorplanungen, für Planfeststellung und für die bauliche Fertigstellung rechnet die Bundesregierung für den Bau dieses Abschnittes? Zu Frage 35: Mit Zustimmung des Bundeskabinetts hat der Bundesminister für Verkehr die A 44 zwischen Kassel und Eisenach als „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit" definiert und damit im Vorgriff auf den Bundesverkehrswegeplan 1992 eine schnelle planungsrechtliche Vorbereitung ermöglicht. Schon Mitte Dezember 1992 hat das planende Ing.-Büro Kocks Consult die Endfassung der verkehrswirtschaftlichen Untersuchung für die A 44 zwischen Kassel und Eisenach anläßlich einer Sitzung des Planungsbeirates vorgestellt. Darin wird die Notwendigkeit für den Bau einer 4streifigen Bundesfernstraße belegt. Die Erhebungen zur Identifizierung relativ konfliktarmer Korridore und Bereiche hoher Konfliktdichte im Rahmen der Umweltverträglichkeitsstudie werden voraussichtlich in diesem Frühjahr abgeschlossen. Erst dann kann über mögliche Trassenvarianten zum Bau der A 44 entschieden werden; danach beginnt die konkrete Projektplanung. Zu Frage 36: Zwar können beim derzeitigen Planungsstand noch keine konkreten Angaben über Planung und Bau der A 44 getroffen werden. Der Bundesminister für Verkehr wird sich aber angesichts dieser als eines der Projekte Deutsche Einheit wichtigen Maßnahme weiterhin dafür einsetzen, daß von der zuständigen Auftragsverwaltung des Landes Hessen alle Möglichkeiten einer beschleunigten Planung konsequent genutzt werden. Das Bemühen des Bundesministers für Verkehr, die A 44 auf ganze Länge von der Landesgrenze Hessen/ Thüringen bis zur A 7 bei Kassel in den Geltungsbereich des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes einzubeziehen, wurde vom Land Hessen über den Bundesrat verhindert. So kann jetzt nur für den östlichen Teilabschnitt von der Landesgrenze bis zur B 27 bei Oetmannshausen von der Möglichkeiten zur Planungsbeschleunigung Gebrauch gemacht werden. Eine bessere Grundlage für ein beschleunigtes Verfahren bietet dann allerdings das Beschleunigungsgesetz, das als Entwurf vom Bundeskabinett beschlossen, jetzt dem Bundesrat zur Stellungnahme vorliegt. Anlage 9 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 43 und 44): Wie wirkt sich die Festlegung auf einen Hauptsitz der Deutschen Fährschiff GmbH in Rostock auf die noch auszubauenden Infrastrukturmaßnahmen in Puttgarden und auf die dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen des Bahnhofes Puttgarden aus, und wo sind die Schnittstellen zwischen der privaten Fährbetrieb GmbH und den anderen Einrichtungen der Deutschen Bundesbahn? Welche Auswirkung hat die Verlegung auf die Beschäftigten der verbleibenden Einrichtungen der Deutschen Bundesbahn (Bahnhof, Restaurant, Abfertigungsanlage)? Zu Frage 43: Die Deutsche Fährgesellschaft Ostsee mbH wird neben ihrem Hauptsitz in Rostock mit eigenständigen Niederlassungen an den Hafenstandorten vertreten sein. Von den beiden Bahnen und der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee mbH werden gegenwärtig die Schnittstellen erarbeitet. Abhängig hiervon ergeben sich anschließlich die Sanierungs- bzw. Investitionsmaßnahmen von Deutscher Fährgesellschaft Ostsee mbH bzw. Deutsche Bundesbahn/Deutsche Reichsbahn. Zu Frage 44: Die Beschäftigten bei den verbleibenden Einrichtungen der Bundesbahn sind von der Gesellschaftsgründung nicht betroffen. 11706* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Anlage 10 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 45 und 46): Wann und mit welchen Inhalten wurden die Tarifverträge zwischen der neu gegründeten GmbH des Fährbetriebs Puttgarden und den Beschäftigten abgeschlossen, und befinden sich diese in Übereinstimmung mit den in Planung befindlichen Vorgaben der zukünftigen sogenannten Bahnreform? Ist mit Entlassungen bzw. Reduzierung der Personalstärke zu rechnen? tZu Frage 45: Tarifverträge wurden noch nicht abgeschlossen. Die Unterzeichnung des Tarifvertrages wird voraussichtlich im Februar dieses Jahres erfolgen. Der Inhalt der Entwürfe orientiert sich an den Tarifverträgen anderer Reedereien. Es wird davon ausgegangen, daß es nach Vorliegen der konkreten Überleitungsbedingungen im Rahmen der Strukturreform Bahn einer Anpassung bedarf. Zu Frage 46: Im Rahmen der Gesellschaftsgründung sind keine Entlassungen vorgesehen. Die Deutsche Fährgesellschaft Ostsee mbH erarbeitet gegenwärtig mit der DB/DR ein eigenständiges Personalkonzept. Danach werden nichtüberleitwillige Mitarbeiter im Rahmen eines örtlichen Sozialplanes anderweitig bei den Bahnen beschäftigt. Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Wolfgang Gröbl auf die Fragen der Abgeordneten Lieselott Blunck (Uetersen) (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 47 und 48): Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Fährbetrieb Puttgarden in der Region wichtige Impulse für den Arbeitsmarkt und die Gewerbeansiedlung gegeben hat, und gedenkt die Bundesregierung einen entsprechenden Nachteilsausgleich für die betroffenen Gemeinden zu gewähren? Bleibt es bei dem zugesagten zusätzlichen Fährschiff auf der Vogelfluglinie? Zu Frage 47: Der Bundesregierung ist die Bedeutung des Fährverkehrs für die regionale Wirtschaft bekannt. Durch die Umstrukturierung werden wirtschaftliche Nachteile für die Region nicht entstehen, eher sind durch die größere Flexibilität künftig eine Ausweitung der Geschäftsfelder und damit auch wirtschaftlicher Vorteile zu erwarten. Es ist im übrigen nicht nachvollziehbar, wieso die genannten Impulse für den Arbeitsmarkt und die Gewerbeansiedlung von einer privaten Gesellschaft nicht ausgehen sollen. Zu Frage 48: Die Deutsche Fährgesellschaft Ostsee mbH wird über eine solche Investition nach Erarbeitung ihrer Jahres- und Mittelfristplanung eigenständig zu befinden haben. Diese Entscheidung wird entscheidend von der Linienplanung der Gesellschaft abhängen und frühestens Ende 1993 zu beantworten sein. Anlage 12 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf die Fragen der Abgeordneten Susanne Kastner (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 52 und 53): Welche Konservierungsmittel werden in lösungsmittelfreien Farben verwendet, und welche Umwelt- und Gesundheitsgefahren gehen von ihnen möglicherweise aus? Wie beurteilt die Bundesregierung Untersuchungsergebnisse der schwedischen Naturschutzbehörde in bezug auf schädliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der biologischen Reinigungsstufe in Kläranlagen durch Konservierungsmittel in lösungsmittelfreien Farben, und wie soll der Gewässer- und Gesundheitsschutz in diesem Fall sichergestellt werden? Zu Frage 52: Beim Biozideinsatz für Farben ist zwischen Topfkonservierung, d. h. befristeter Konservierung angebrochener Gebinde und der Biozidausrüstung eines Farbanstrichs, welche diesen langfristig gegen einen mikrobiellen Angriff schützen soll, zu unterscheiden. Rezepturmeldungen an das Umweltbundesamt zu „schadstoffarmen Lacken" ergeben, daß in 80 bis 90 % aller Fälle Isothiazoline (allein oder auch zusammen mit anderen Bioziden) als konservierende Wirkstoffe eingesetzt werden. Andere Wirkstoffe sind z. B. Carbamate, Benzimidazole und Harnstoffderivate. Die Biozidkonzentration topfkonservierter Farben orientiert sich an der minimalen Wirkkonzentration des Biozids, während bei der Konservierung des Farbanstrichs von einem Mehrfachen dieser Konzentration auszugehen ist. Konservierungsmittel können bei besonders empfindlichen Personen Kontaktallergien hervorrufen. Dies kann noch dadurch begünstigt werden, daß wasserlösliche Farben in der Handhabung angenehmer sind und deshalb Schutzmaßnahmen bei der Anwendung weniger notwendig erscheinen lassen. Darüber hinausgehende Kenntnisse der umwelt- und gesundheitsrelevanten Eigenschaften der in wasserlöslichen Farben eingesetzten Konservierungsmittel liegen der Bundesregierung bisher nicht vor. Der Einsatz von Konservierungsmitteln und ggf. von Fungiziden ist jedoch für alle Arten von Farben üblich und damit kein besonderes Problem „lösungsmittelfreier" Farben. Unter Umwelt- und Gesundheitsaspekten ist der Verzicht auf lösungsmittelhaltige Farben als überaus positive Entwicklung zu werten. Zu Frage 53: Der Bundesregierung sind die Untersuchungen der schwedischen Naturschutzbehörde über mögliche Auswirkungen von Konservierungsmitteln in lösungsmittelfreien Farben auf die Funktionsfähigkeit der biologischen Reinigungsstufe in Kläranlagen bisher nicht bekannt. Das Umweltbundesamt hat jedoch Anfang Januar den Auftrag erhalten, zu der angesprochenen Problematik eine fachliche Stellungnahme abzugeben, in die auch die schwedischen Untersuchungen einfließen sollen. Nach Vorliegen des Berichtes werde ich Ihnen gerne eine ergänzende schriftliche Antwort zukommen lassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11707* Anlage 13 Antwort des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Frage des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) (CDU/CSU) (Drucksache 12/4132 Frage 56): Wie stellt sich die Bundesregierung die weitere Entwicklung der Städtebauförderung in den alten Bundesländern vor, und teilt sie die Überzeugung, daß die Städtebauförderung auch in den alten Bundesländern für eine positive Konjunkturentwicklung vor allem in den strukturschwachen Regionen notwendig ist? In der mit den Regierungen der alten Ländern auf der Grundlage des Artikels 104a Abs. 4 Grundgesetz abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarung in der Fassung vom 2. Mai/17. Dezember 1991 sind, vorbehaltlich einer Bestätigung durch den Haushaltsgesetzgeber und nach Maßgabe des Bundeshaushaltsplans, für 1994 Finanzhilfen des Bundes in Höhe von 380 Mio. DM zur Förderung städtebaulicher Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen vorgesehen. Über die Umsetzung dieser Vereinbarung wird die Bundesregierung bei der Aufstellung des Haushaltsentwurfs 1994 entscheiden. Anlage 14 Antwort des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Fragen des Abgeordneten Otto Reschke (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 59 und 60): Welche Bedenken hatte das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau wegen der Tatsache, daß es zu Interessenkonflikten kommen mußte, weil Berater eingesetzt wurden, die bereits Anstellungsverträge von Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche in der Tasche hatten? Wer führte die Aufsicht über die Berater? Zu Frage 59: Ein Interessenkonflikt läßt sich nicht aus der Tatsache herleiten, daß einige Berater bereits vor Beendigung ihrer Ausbildung Anstellungsverträge mit Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche hatten. Der Umstand, daß die Berater im Rahmen ihrer Ausbildung auf Gebieten unterrichtet worden waren, die für die Beratungstätigkeit notwendig waren (Vertragsrecht, Steuerrecht, Baufinanzierung, Wohnungsbauförderung) und daß die Qualität ihrer Ausbildung offenbar so gut war, daß sie bereits vor Abschluß ihrer Schulung Anstellungszusagen hatten, machte sie für diese Aufgabe besonders geeignet. Zu Frage 60: Die Berater wurden vor Ort jeweils von einem Teamleiter der Firma „mibeg" geführt. Dessen Aufgabe umfaßte Personalführung und Aufsicht über die inhaltliche und organisatorische Beratungstätigkeit. Darüber hinaus führte auch die Firma Severin & Partner die Aufsicht vor Ort. Anlage 15 Antwort des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Fragen der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 61 und 62): War das Sammeln von Adressen in den Informationsbussen durch Berater und die Durchführung von Beratungsseminaren Bestandteil des Beratungskonzepts? Hat das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau von der Tatsache, daß die von der Firma „mibeg" in den Informationsbussen der Bundesregierung im Rahmen der Aktion „Besser Wohnen" eingesetzten Berater Adressen von Ratsuchenden gesammelt haben, erst durch die Veröffentlichung im Magazin „Stern" erfahren, oder seit wann waren dem Ministerium diese Vorgänge bekannt? Zu Frage 61: Gegenstand des Beratungsauftrages war, die Bürger über die Mietenreform, das Sonderwohngeld, das Bau- und Planungsrecht und alle mit den Wohnungsbauförderungsprogrammen der Bundesregierung zusammenhängenden Fragen zu informieren. Zum Beratungsauftrag gehörte es, Adressen dann aufzuschreiben, soweit von den Fragestellern zusätzliche schriftliche Ausführungen durch das Bundesbauministerium gewünscht wurden. Die Absicht der Firma „mibeg", über den Beratungsauftrag hinaus zu kostenlosen Seminaren einzuladen, war dem Bundesbauministerium nicht bekannt. Zu Frage 62: Soweit Adressen notiert wurden, um den Bürgern zusätzliche schriftliche Ausführungen seitens des Bundesbauministeriums zukommen zu lassen, war dies bekannt und Gegenstand des Auftrages. Über den Auftragsumfang hinaus wurde den Ratsuchenden die kostenlose Teilnahme an einem Baufinanzierungsseminar angeboten. Davon hat das Bundesbauministerium erstmals am 12. Januar 1993 erfahren. Soweit von den Ratsuchenden Name und Anschrift notiert wurde, geschah dies nach Auskunft der Firma „mibeg" auf deren ausdrücklichen Wunsch nach zusätzlicher Information und Beratung mit dem Ziel, eine Einladung zu einem Seminar über die Schaffung und den Erwerb von Wohneigentum zu erhalten. Diese Seminare wurden durchgeführt von der Firma „Contact GmbH", einer gemeinnützigen Tochtergesellschaft der Firma „mibeg". Die Teilnahme an dem Seminar war kostenlos. Personal- und Sachkosten der Seminare wurden zu 100 % aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit finanziert. Anlage 16 Antwort des Staatssekretärs Dr. Gebhard Ziller auf die Frage des Abgeordneten Dieter Schanz (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 65 und 66): Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß — trotz anerkennenswerter freiwilliger Maßnahmen und Beteiligung der Industrie — durch langfristige staatliche Förderung von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (Fuß-Aktivitäten), die der Sicherheit von Verfahren und Anlagen sowie dem Umwelt- und 11708* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Arbeitsschutz dienen, dafür gesorgt werden muß, daß ein Höchstmaß an speziellem sicherheitstechnischen Know-how zum Erreichen dieses Zieles zur Verfügung steht? Hält die Bundesregierung die Entwicklung der Sicherheitsforschung zur Vermeidung und Begrenzung von Störfällen und zur Bewältigung von Notfällen, soweit sie sich auf technische Einrichtungen hinsichtlich der Prozeßführung bei der Produktion, zur Lagerung, zum Umschlag und zum Transport von gefährlichen Stoffen bezieht, für abgeschlossen, oder geht sie davon aus, daß diese Aufgaben allein durch eigenverantwortliches Handeln und durch Selbstverpflichtungserklärungen durch die Industrie zu bewältigen sind? Zu Frage 65: Das angefragte Ziel interpretiere ich als Streben nach einem Höchstmaß an Sicherheit beim Betrieb verfahrenstechnischer Anlagen aus Gründen des Umwelt- und Arbeitsschutzes. Die Bundesrepublik Deutschland ist hochindustrialisiert mit einem hohen Anteil verfahrenstechnischer Industrie und besitzt eine hohe Bevölkerungsdichte. Aus der Schadensstatistik des Verbandes der Sachversicherer ergibt sich, daß dies ein erhebliches Gefährdungspotential für Mensch und Umwelt bedeutet. Diese Gefährdung muß und kann, wie die Vergangenheit gezeigt hat, mit einem hohen Stand von Wissen und Verantwortung beherrscht werden. Viele technische Neuentwicklungen bergen neuartige Risiken. Um den erreichten Stand der Sicherheit zu halten und nach Möglichkeit weiter zu verbessern, ist es nach Ansicht der Bundesregierung erforderlich, sicherheitsrelevante Forschungsarbeiten parallel zur technologischen Entwicklung zu betreiben und laufend weiter zu entwikkeln. Die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob und in welcher Höhe, ungeachtet der Verpflichtung der Wirtschaft, für die Sicherheit ihrer Verfahren und Anlagen zu sorgen, weiterhin eine staatliche Forschungsförderung notwendig ist. Zu Frage 66: Wie zu Nr. 65 bereits beantwortet hält die Bundesregierung Sicherheitsforschung für eine langfristige Aufgabe, wobei der sichere Umgang mit gefährlichen Stoffen einen Schwerpunkt bildet. Die Bundesregierung hat u. a. mit der Bildung des Technischen Ausschusses für Anlagensicherheit und der Störfallkommission am 15. Januar 1992 amtlich gemacht, daß es eine hoheitliche Aufgabe ist, die Voraussetzungen für eine sichere Handhabung von Gefahrstoffen zu schaffen. Ob eigenverantwortliches Handeln und Selbstverpflichtungserklärungen der Industrie ausreichen, um die erforderliche Sicherheit im Umgang mit der Technik zu garantieren, müßte sorgfältig geprüft werden. Derartige Angebote der Wirtschaft liegen der Bundesregierung bisher nicht vor. Anlage 17 Antwort des Staatssekretärs Dr. Gebhard Ziller auf die Fragen des Abgeordneten Lothar Fischer (Homburg) (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 67 und 68): Warum beabsichtigt die Bundesregierung die Kürzung der öffentlichen Fördermittel für FuE-Aktivitäten im Bereich der Sicherheit von Verfahren und Anlagen des Arbeitsschutzes? Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß durch diese Kürzung insbesondere kleine und mittelständische Betriebe, die einen wesentlichen Bereich unserer Volkswirtschaft ausmachen, benachteiligt werden? Zu Frage 67: Es bestehen keine Kürzungsabsichten. FuE-Vorhaben zur Sicherheit von Verfahren und Anlagen des Arbeitsschutzes werden unterstützt: — durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz, Dortmund. Sie befaßt sich seit Jahren in dem Programmschwerpunkt „Sicherheitstechnik" mit dem Gebiet „Sicherheit von Verfahren und Anlagen" . Gegenwärtig laufen 13 Vorhaben in diesem Schwerpunkt mit einem Gesamtfördervolumen von über 2 Millionen DM. In der Forschungsplanung dieser Bundesanstalt befinden sich derzeit 13 Vorhaben zu dieser Thematik mit einem geschätzten Fördervolumen von rund 2,4 Millionen DM. — im Förderschwerpunkt „Laserforschung und Lasertechnik " des Bundesministeriums für Forschung und Technologie beschäftigen sich 20 deutsche Forschergruppen als Teil zweier europäisch angelegter Verbundvorhaben (EU 642, EU 643) mit der Sekundärgefährdung von Laseranwendungen in der industriellen Materialbearbeitung (Fördersumme ca. 9 Millionen DM; 1991 bis 1994) sowie der Laseranwendung in der Medizin (Fördersumme ca. 7 Millionen DM; 1991 bis 1994). Zu Frage 68: Nein, denn wie dargelegt bestehen Kürzungsabsichten nicht. Anlage 18 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Druck-. sache 12/4132 Frage 69): Welche besondere persönliche Qualifikation (evtl. Parteizugehörigkeit) muß vorliegen, damit ein(e) Angestellte(r) des Auswärtigen Dienstes, die (der) wegen Tätigkeit im Personalrat freigestellt wurde, vom mittleren in den gehobenen und vom gehobenen in den höheren Angestelltendienst aufsteigen kann, ohne die jeweils ausgeschriebene Stelle überhaupt angetreten zu haben, und warum gibt es, im Gegensatz hierzu, ein echtes Auswahl- und Prüfungsverfahren beim Aufstieg vom einfachen in den mittleren Angestelltendienst? Im Bereich des Auswärtigen Amts werden Stellen für den sogenannten Angestelltenaufstieg ohne Ausnahme ausgeschrieben, wobei sich jeder geeignete Bedienstete bewerben kann. Die Auswahl erfolgt allein nach Leistungsgesichtspunkten. Hierbei können sich auch freigestellte Mitglieder des Personalrats bewerben, die gem. § 46 Abs. 3 Satz 6 BPersVG nicht benachteiligt werden dürfen. Das Verbot personalratsbedingter Nachteile hat der BMI mit Rundschreiben vom 9. Juni 1987 dahin konkretisiert, daß ein vom Dienst freigestelltes Personalratsmitglied auch dann zu befördern bzw. höherzugruppieren ist, wenn von vornherein feststeht, daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11709* dieser Bedienstete wegen seiner Freistellung auf dem in Betracht kommenden Dienstposten nicht eingesetzt werden kann. Das Auswahl- und Besetzungsverfahren erfolgt in Abstimmung und unter Beteiligung des Personalrats. Das formalisierte Auswahlverfahren beim Aufstieg vom einfachen in den mittleren Angestelltendienst wurde im September 1992 abgeschafft. Anlage 19 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache 12/4132 Frage 71): Wie begründet der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, seine Auffassung, daß die außenpolitische internationale Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nur mit sogenannten, nach der Charta der Vereinten Nationen freiwillig zu leistenden Blauhelm- und Kriegseinsätzen gewährleistet sei, angesichts der Tatsache, daß Japan als UNO-Mitglied und zweitgrößte Industrienation der Welt seine militärische Beteiligung bei der UNO auf 2 000 Soldaten mit eingeschränkten Blauhelmfunktionen beschränkt hat? Die Position Japans ist mit der des wiedervereinigten Deutschland insofern nicht vergleichbar, als Deutschland Mitglied von EG, WEU und NATO ist und deshalb darauf achten muß, daß es auf Dauer keine Sonderrechte innerhalb dieser Wertegemeinschaft in Anspruch nehmen kann. Im übrigen kann Japan aufgrund gesetzlicher Regelung schon heute mit militärischem Personal an friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen teilnehmen. Darüber hinaus hat in Japan eine Diskussion darüber eingesetzt, ob die Verfassung nicht mit dem Ziel geändert werden muß, japanischen Streitkräften die Beteiligung an weitergehenden Einsätzen der Vereinten Nationen zu ermöglichen. Anlage 20 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Drucksache 12/4132 Fragen 72 und 73): Welches sind aus der Sicht der Bundesregierung die zehn wichtigsten zitierbaren internationalen Wortmeldungen, unter Nennung der Namen, des Datums und der jeweiligen Fundstelle, aus dem mehrfach von der Bundesregierung angesprochenen Chor von Politikern unterschiedlicher Länder, die Bonn mit Nachdruck drängen, endlich mehr militärische Verantwortung bei multilateralen militärischen Aktionen zu übernehmen? Hat die Bundesregierung auch gegenteilige Stimmen verzeichnet, die Deutschland eher zur Zurückhaltung in der Frage der Beteiligung an multinationalen Militäraktionen auffordern, und welches sind hierbei die aus der Sicht der Bundesregierung gewichtigsten? Zu Frage 72: Der Generalsekreätr der Vereinten Nationen erklärte während seines Deutschlandbesuchs am 12. Januar 1993 in SAT 1 (News): „Ich möchte nicht in innere Angelegenheiten eingreifen. Aber ich hoffe, daß Deutschland bei allen militärischen friedenssichernden Maßnahmen dabei sein wird. Deutschland trägt als bedeutende Macht Verantwortung und müßte mitmachen." Vor der Bundespressekonferenz erklärte er am 11. Januar 1992: „Wir brauchen eine vollständige Teilnahme der Bundesrepublik an friedenserhaltenden, friedensschaffenden, friedensdurchsetzenden Maßnahmen. Dies ist ein Muß für stärkere Vereinte Nationen. ... das ist die Ansicht der internationalen Gemeinschaft." Von einer Reihe befreundeter Regierungen ist der Bundesregierung bekannt, daß sie ähnliche Erwartungen an uns richten wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Dies gilt insbesondere für unsere Partner in EG, WEU und NATO. Zu Frage 73: Die Bundesregierung hat solche Stimmen nicht verzeichnet. Anlage 21 Antwort des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) (Drucksache 12/4132 Frage 74): Was hat die Bundesregierung bisher unternommen bzw. was plant sie für die Zukunft, um Deutschland und seine Bürger vor ungerechtfertigten, falschen, beleidigenden verbalen Angriffen von ausländischen Regierungen und ausländischen Medien zu schützen? Die Bundesregierung hat sich des Themas „Rechtsextremistische Gewaltkriminalität gegen Ausländer in Deutschland" im Rahmen der Politischen Öffentlichkeitsarbeit im Ausland bereits seit Ende 1991 angenommen und die ausländische Öffentlichkeit objektiv über — die den hiesigen Behörden bekannten Fakten, — die von Justiz und Sicherheitsbehörden ergriffenen Maßnahmen, — die Entschlossenheit der Bundesregierung, der ausländerfeindlichen Gewalt mit politischen und erzieherischen Mitteln gegenzusteuern — sowie über Stellungnahmen sowohl deutscher Politiker als auch aus anderen Teilen der Gesellschaft unterrichtet. Unsere Auslandsvertretungen haben insbesondere im vergangenen Jahr, als diese Gewaltkriminalität einen Höhepunkt erreichte, umfangreiches Material erhalten, das sie in die Lage versetzte, die ausländische Öffentlichkeit — insbesondere die dortigen Medien sowie Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung — über die getroffenen Gegenmaßnahmen und die Haltung der Bundesregierung zu unterrichten. 11710* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 Bundesminister Kinkel hat sich persönlich eingeschaltet und in einem Namensartikel, der von zahlreichen wichtigen ausländischen Zeitungen abgedruckt wurde, die Gewaltakte deutlich verurteilt und darauf hingewiesen, daß diese Täter und ihr Umfeld in der deutschen Gesellschaft nur eine kleine Minderheit darstellen, deren Gewalttaten von der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung verurteilt wird. Gerade auf letztere Tatsache hat sich unsere Öffentlichkeitsarbeit angesichts eindrucksvoller Demonstrationen und Lichterketten seit November 1992 stützen können. Den von Ihnen angesprochenen Schutz hat — neben anderen Aktivitäten — z. B. der Namensartikel von Bundesminister Kinkel bewirkt. Nach Auffassung der Bundesregierung ist das ausländische Medienecho zu den Vorgängen in Deutschland insgesamt kaum anders ausgefallen als in deutschen Medien. Neben unverhohlener Kritik, teilweise auch unsachlichen und verzerrten Darstellungen, finden sich differenzierte Berichte und Meinungsäußerungen, die es an Verständnis für die schwierige Lage Deutschlands nach der Vereinigung nicht fehlen lassen. Die Bundesregierung wird die ausländische Öffentlichkeit auch weiterhin gezielt und umfassend über ihre Maßnahmen und deren Wirkung unterrichten.
Gesamtes Protokol
Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213400000
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Asylrecht ist unverzichtbar
— Drucksache 12/3235 —
2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs im Berufsverkehr (,,Job-Ticket" Gesetz)

— Drucksache 12/3573 —
3. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung der besoldungs- und steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitgeberzuschüssen zur Benutzung des ÖPNV („JobTicket")

— Drucksache 12/4123 —
4. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktsituation und zum Abbau von Arbeitsplätzen
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen
— Drucksache 12/4103 —
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Sechsundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 12/3479, 12/4162 —
7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertneunzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz -
- Drucksachen 12/3278, 12/4163 —
8. Wahl der Mitglieder für den Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt
— Drucksache 12/4161 —
9. Eidesleistung von Bundesministern
10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung eines Ausschusses Treuhandanstalt
— Drucksache 12/4153 —11. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1992 Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1992 — (BBVAnpG 92)

— Drucksachen 12/3629, 12/4165, 12/4169 —Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit das bei einzelnen Punkten der verbundenen Tagesordnung erforderlich ist, abgewichen werden.
Außerdem ist interfraktionell vereinbart worden, den Gesetzentwurf eines lnvestitionserleichterungs-
und Wohnbaulandgesetzes, Drucksache 12/3944, nachträglich auch dem Finanzausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann haben wir es so beschlossen.
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, die erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes — Art. 16 — von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Jedenfalls soll die Debatte aber auf vier Stunden verlängert werden.
Wird dazu das Wort gewünscht? — Bitte schön.

Andrea Lederer (PDS):
Rede ID: ID1213400100
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Gruppe PDS/Linke Liste beantrage ich die Absetzung dieses Tagesordnungspunkts. Für den Fall, daß Sie das ablehnen, beantrage ich mindestens die Verlängerung der Debattenzeit auf vier Stunden.
Zur Begründung: Die Regierungsparteien und die SPD haben einen Entwurf für einen neuen Art. 16 a des Grundgesetzes eingebracht. Dieser Entwurf ist im Hauruck-Verfahren auf die Tagesordnung gebracht worden. Schon das rechtfertigt die Absetzung von der Tagesordnung.
Was aber noch viel schwerer wiegt: Dieser Entwurf ist nur die halbe Wahrheit. Abgesehen von der Tatsache, daß mit diesem Entwurf das Individualrecht auf Asyl grundsätzlich abgeschafft wird, sieht er vor, daß Länderlisten und andere Bestimmungen zur Aushöhlung der Rechtswegegarantie in Gesetzen geregelt



Andrea Lederer
werden, die hier mit einfacher Mehrheit, d. h. mit den Stimmen der Regierungsparteien, beschlossen werden können. Selbst denjenigen, die sich noch der Illusion hingeben, die SPD habe tatsächlich den Erhalt des Individualrechts auf Asyl durchsetzen können, werden sich die Augen öffnen, wenn sie die ganze Wahrheit erfahren. Diese ganze Wahrheit werden sie durch die Folgegesetze erfahren, die dieser Gesetzentwurf vorsieht.
Deswegen sind wir der Auffassung, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung nur stattfinden kann, wenn wirklich alles auf den Tisch kommt, was seitens der großen Koalition zu diesem Punkt geplant ist.
Wenn Sie diesem Antrag nicht Folge leisten sollten, beantrage ich, die Debattenzeit auf mindestens vier Stunden zu verlängern. Die vorgesehene Verfassungsänderung wird diese Republik verändern. Hierfür eine Zeit von zwei Stunden einzuräumen ist ein Skandal. Ein einfacher Brief des Bundeskanzlers ist Ihnen eine sechsstündige Sitzung wert gewesen. Diese Zäsur in der demokratischen Kultur dieses Landes soll nur läppische zwei Stunden wert sein.
Offensichtlich wollen sich nun die Parteien der großen Asylkoalition einer ausführlichen Debatte und Kritik an dem sogenannten Kompromiß entziehen. Wieder einmal haben die Fraktionen hinter dem Rücken der beiden Gruppen, die — ich muß besser sagen: weil sie — die einzige Opposition in diesem Hause sind, einen Deal getroffen. Wir sind nicht gefragt worden, ob von der ursprünglich vorgesehenen Debattenzeit von vier Stunden abgewichen werden soll.
Dahinter läßt sich nur eines vermuten: Sie wollen diese Verfassungsänderung durchpeitschen und jegliche Kritik daran abwürgen, die Auseinandersetzung mit den Argumenten der Kritikerinnen und Kritiker beenden. Sie wollen durch eine kurze Debattenzeit absehbar verhindern, daß Rednerinnen und Redner aus Ihren Fraktionen, die eine kritische Haltung zu dem Kompromiß einnehmen, überhaupt zu Wort kommen können. Denn eines ist klar: Bei einer Debattenzeit von zwei Stunden werden die Fraktionsführungen argumentieren. Das sind genau diejenigen, die diesen Kompromiß ausgehandelt haben.
Deshalb beantrage ich hilfsweise die Verlängerung der Debattenzeit auf vier Stunden.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213400200
Als nächster in dieser Geschäftsdebatte hat Herr Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213400300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Stunden Debattenzeit sind für einen Komplex, in dem mindestens die Außenpolitiker, die Innenpolitiker und die Verfassungspolitiker der Fraktionen und Gruppen zu Wort kommen müssen, zu wenig. Bitte sagen Sie mir, wie man in zehn Minuten Redezeit auf diese drei Komplexe eingehen soll! Das ist vernünftig nicht möglich. Insofern muß dieses Verfahren kritisiert werden. Ich halte den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste für begründet.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Ich bedaure freilich, daß die PDS/Linke Liste nicht auf den Kompromiß einer dreistündigen Debatte eingegangen ist.
Meine Damen und Herren, es ist dringend nötig, daß wir bei dem Komplex, wie ich ihn charakterisiert habe, die Debattenzeit nicht verkürzen: nicht nur im Blick auf das, was hier im Parlament gesagt werden muß, sondern auch im Interesse einer nach meiner Überzeugung völlig desorientierten deutschen Öffentlichkeit. Dieser Öffentlichkeit muß vom Parlament klargemacht werden können, was unter Menschenrechts- und Grundrechtspolitik zu verstehen ist. Denn Sie sehen und hören es alle: Das, was einst zur Gründung der Vereinten Nationen, zur Abfassung der Menschenrechtsdeklaration, zur Abfassung der Europäischen Menschenrechtskonvention und auch des Art. 16 im Grundgesetz geführt hat, geschieht in diesem Europa ununterbrochen weiter. Das heißt doch: Menschenrechts- und Grundrechtspolitik muß deutlich machen, daß die Menschenrechte und die Grundrechte Konstanten sind, die zu niemandes Disposition stehen, weder in Serbien noch in der Bundesrepublik oder wo auch immer. Das muß der Öffentlichkeit verdeutlicht werden.
Zweitens. Der desorientierten Öffentlichkeit muß verdeutlicht werden, was Verfassungspolitik ist. Was Sie vorgelegt haben, dieses wirre Gemisch aus Verfassungsgrundsätzen, einfacher Gesetzgebung und Verwaltungsrecht, ist nicht Verfassungspolitik. Das muß in diesem Parlament der Öffentlichkeit deutlich gemacht werden können.
Drittens ist es für mich alarmierend, wenn der polnische Innenminister laut und deutlich sagt, daß man in Polen die Meinung habe, die reiche Bundesrepublik Deutschland wolle ihre Lasten und Probleme, die sie mit dem Flüchtlingsproblem hat, auf Polen abschieben. Will sich dieses Parlament dazu mißbrauchen lassen, daß hier beschlossen wird, wer in Europa welche Flüchtlinge aufnimmt? Herr Außenminister, wollen Sie sich daran beteiligen? Ich als Abgeordneter dieses Parlaments will es nicht. Das ist nicht Europäisierung des Flüchtlingsproblems, an dem alle Länder und alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland leiden.
Ich denke, die Bürger in unserem Lande, die mit Lichterketten und nicht endende Demonstrationen und Privatinitiativen darauf warten,

(Zuruf von der F.D.P.: Reden Sie einmal zur Geschäftsordnung!)

von der Regierung zu hören, wie diese Rechte gesichert werden sollen, haben eine andere Antwort verdient als die der Politikverweigerung, die von hier ausgeht.

(Zuruf von der F.D.P.: Sie mißbrauchen die Geschäftsordnung)

Wir wissen alle, daß die Politikverweigerung der Grund für die tiefe Politikverdrossenheit in unserem Land ist.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt aber endlich zur Geschäftsordnung! Jetzt reicht's!)




Dr. Wolfgang Ullmann
Für all das zwei Stunden: Das verstehe, wer will.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213400400
Herr Abgeordneter Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1213400500
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte nicht zur Asyldebatte sprechen, sondern zur Geschäftsordnung.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Namens und in Abstimmung mit den Fraktionen dieses Hauses lehne ich den Geschäftsordnungsantrag ebenso wie den Hilfsantrag der PDS/Linke Liste ab.
Das Thema, das heute in zweistündiger Debatte auf die Tagesordnung gesetzt wird, ist nicht neu. Auch die Details, die in den letzten Tagen vereinbart worden sind, sind nicht mehr neu. Im Gegenteil: Die Bürger hatten sogar den Eindruck, daß nach der grundsätzlichen Vereinbarung, die im Herbst bzw. kurz vor Weihnachten zustande gekommen ist, das Thema eigentlich schon abgeschlossen sei; dabei beginnen wir gerade erst die parlamentarischen Beratungen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Um so wichtiger ist es, daß wir diese parlamentarischen Beratungen endlich auf den Weg bringen; für jede weitere Verzögerungstaktik hätten die Bürger wohl kaum Verständnis.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Widerspruch der Abg. Andrea Lederer [PDS/ Linke Liste])

Darunter wird auch die Sorgfalt der Beratungen nicht leiden, denn heute wird lediglich die Verweisung in die Ausschüsse beschlossen. Ich unterstreiche noch einmal: Die sorgfältige Beratung dieses schwerwiegenden und wichtigen Pakets in den Ausschüssen wird unter der Tatsache, daß wir heute im Plenum mit einer zweistündigen Debatte beginnen, mit Sicherheit nicht leiden.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Geschäftsordnungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste abzulehnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213400600
Wir kommen damit zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Absetzungsantrag.
Wer stimmt für den Absetzungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist der Absetzungsantrag gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste und bei wenigen Ablehnungen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht angenommen. Die Mehrheit von SPD, CDU/CSU und F.D.P. hat ihn einstimmig ahgelehnt.

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Asylabschaffungskoalition!)

Interfraktionell wird zu dem Tagesordnungspunkt eine Debattenzeit von zwei Stunden vorgeschlagen.
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat dagegen vier Stunden beantragt.
Wer stimmt für den Vorschlag der Gruppe PDS/ Linke Liste? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Vorschlag der Gruppe PDS/Linke Liste ist bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen aus der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich gehe davon aus, daß damit der interfraktionelle Vorschlag einer Debattenzeit von zwei Stunden angenommen ist.
Meine Damen und Herren, bevor wir in den nächsten Tagesordnungspunkt eintreten, möchte ich anläßlich des 30. Jahrestages des Elysée-Vertrags die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses der Assemblée Nationale auf der Tribüne ganz herzlich begrüßen, die heute aus diesem Anlaß in den Deutschen Bundestag gekommen sind und heute morgen eine gemeinsame Sitzung mit unserem Auswärtigen Ausschuß durchführen.
Ich denke, daß gerade dieser Tag mit der folgenden Debatte aus Anlaß des 30. Jahrestages des ElyséeVertrages uns in Erinnerung ruft, wie wichtig dieses Aussöhnungs- und Freundschaftswerk für Deutschland und den Einigungsprozeß in Europa ist.
Ich heiße Sie im Namen des Deutschen Bundestages herzlich willkommen.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD — Beifall bei der PDS/ Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich wünsche unseren beiden Parlamenten, daß wir weiterhin anläßlich dieses Geburtstages wissen, welch große Verpflichtung wir in Europa haben, und daß wir dieser Verpflichtung gerecht werden. Herzlich willkommen!
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte zur deutsch-französischen Freundschaft anläßlich des 30. Jahrestages des Elysée-Vertrages
Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Dr. Hans Stercken zu uns.

Dr. Hans Stercken (CDU):
Rede ID: ID1213400700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen aus der Assemblée Nationale! Dies ist nicht nur ein Tag der Franzosen und der Deutschen! Dies ist ein Gedenktag für alle Europäer, die sich — wie wir — Rechenschaft darüber geben sollten, was denn eigentlich ohne den Konsens der Deutschen und Franzosen erreicht worden wäre. Man kann sich und anderen diese Frage ersparen. Doch ich bin heute einmal nicht bereit, die unzähligen Ermunterungen anderer europäischer Freunde zu verdrängen, die uns zu beherztem Handeln zwischen Bonn und Paris aufgefordert haben.



Dr. Hans Stercken
Wir sind nie eine geschlossene Gesellschaft gewesen, und wir wollen es auch nicht sein. Niemand in Europa ist daran gehindert, so schnell mit uns voranzugehen, wie wir uns dies auch weiterhin verordnen wollen.
Dies ist keine Stunde der Selbstgerechtigkeit. Vieles hätte vielleicht gründlicher oder auch schneller geschehen können, aber diese wehleidige Betrachtungsweise hilft uns nicht weiter.
Wenn sich unsere Jugend in unseren Visionen wiederfinden soll, können wir nicht nur vom Europa der Großväter schwärmen. Das technologische Zeitalter muß sich gerade auch in der Politik mit humanen Zielsetzungen erkennbar verbinden, wenn wir den jungen Menschen in Deutschland und Frankreich begreiflich machen wollen, daß es uns um eine neue Qualität der Politik für künftige Generationen geht.
Das ist keine Sonntagsrede! Trotz eines weithin wegreformierten Geschichtsunterrichts können doch unsere Kinder begreifen, daß dieser europäische Friede und darinnen die deutschfranzösische Symbiose nicht vom Himmel gefallen sind, wenn man es auch als ein Geschenk des Himmels bezeichnen möchte.
Darf man ausnahmsweise über Politik auch einmal etwas Gutes sagen? Die Überwindung unzähliger Spannungen und Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland empfinde ich bis auf den heutigen Tag als eine Sensation, für die ich unendlich dankbar bin.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wo anders auf der Welt gibt es zwei Staaten, die ihr Schicksal so weitgehend miteinander verbanden? 30 Jahre haben nichts von dieser Aktualität genommen.
Man kann natürlich auch fragen: Was wurde nicht erreicht? Wo sind alte Gefühle wach geblieben? Nicht alles, was in unseren Ländern geschieht, bereitet uns Freude; manchmal empfinden wir sogar tiefe Sorgen. Ist das ein Grund, den Tag unseres Gedenkens mit zögerlichen und allein kritischen Worten zu belasten? Nein, wir brauchen Ermunterung, Hoffnung, Mut und Zuversicht.
Viele von uns hätten ihren Kindern keinen Weg in die Zukunft gewiesen, wenn wir ihnen nur Skepsis und Argwohn vermittelt hätten. Auch die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme unserer Tage lassen sich nur auf einer solchen Grundlage meistern. Es gab schwierigere Situationen in Frankreich und in Deutschland. Wir sollten davon sprechen, daß wir damit fertigwerden wollen, weil wir die neuen Herausforderungen angenommen haben.
Dazu gehört auch das Verlangen nach einer gemeinsamen Außenpolitik in Europa. Die grausame Teilung Europas hatte wenigen Veranlassung gegeben, über freiheitliche Alternativen nachzudenken. So standen beim Zusammenbruch künstlich geschaffener Strukturen nur die alten Denkmodelle des Ersten und Zweiten Weltkriegs zur Verfügung. Bis zu
den Einsichten dieser unserer Tage war es ein langer, ein zu langer Weg. Wir dürfen uns gerade als Franzosen und Deutsche von diesem schlechten Beispiel nicht entmutigen lassen.
Die Planungsstäbe in Bonn und Paris müssen zusammen planen, ehe die Kinder in den Brunnen fallen. Botschaften im Ausland, Konsulate, Kulturinstitute der Deutschen und Franzosen, der Europäer wären noch erfolgreicher und interessanter, wenn sie viel enger zusammenarbeiten würden. In manchen Ländern könnte man unsere Vertretungen vereinigen, wenn man sich vom alten Denken noch stärker lösen könnte.
Das gilt insbesondere für den europäischen Osten und die Dritte Welt. Damit möchte ich auch sagen, daß der europäische Osten nicht eine Aufgabe für die Deutschen und Afrika nicht eine Aufgabe für die Franzosen und Lateinamerika nicht eine Sache der Spanier ist. Wir stehen für eine Gemeinschaft ein, und dies erweitert unsere Chancen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist eben die neue Qualität von Politik. Mehr gemeinsame Diplomatie würde ihre Wirkung verstärken.
Eine Gemeinschaft der Freizügigkeit braucht nicht zwölf Stempel, zwölf Visa, zwölf Konsuln. Brauchen wir das Personal nicht für wichtige neue Aufgaben?
Die Zusammenarbeit unserer Länder im Bereich von Wirtschaft und Währung verläuft, meine ich, vorteilhaft. Darf man bei dieser Gelegenheit einmal der Bundesbank für eine solidarische Politik gegenüber unseren französischen Freunden danken?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch beim Ausbau einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, die der Stärkung des europäischen Pfeilers im Atlantischen Bündnis dienen soll, vereinen Deutschland und Frankreich ihre Bemühungen. Im Entwurf eines Entschließungsantrages, den die Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD gemeinsam hätten einbringen können, hieß es:
Der Deutsche Bundestag, überzeugt, daß das europäische Einigungswerk unvollständig bleiben muß, solange es nicht auch Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung umfaßt, würdigt die im Maastrichter Vertrag angelegte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als qualitative Fortschreibung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit und als Ausgangspunkt für die Entwicklung auch einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Dazu kann das mit der deutsch-französischen Erklärung vom 22. Mai 1992 beschlossene Eurocorps ein konkreter Beitrag sein, mit dem gleichzeitig der europäische Pfeiler im Bündnis und die Atlantische Allianz insgesamt gestärkt werden.



Dr. Hans Stercken
Der letzte Abschnitt, den ich hier verlesen habe, der speziell auf das Eurocorps Bezug nimmt, fand nicht die Zustimmung der SPD-Fraktion.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Die Regierungsfraktionen hätten gerne herausgestellt, daß die deutsch-französischen Vereinbarungen in der jetzt vorliegenden Form die Verbindung mit der Atlantischen Allianz deutlich verstärken. Das belgische und spanische Interesse an einer baldigen Mitwirkung sind ebenso ermutigend wie die beabsichtigte Aufstellung eines weiteren Corps, an dem sich die Niederlande, Dänemark und Deutschland beteiligen.
Meine Damen und Herren, wir müssen vermeiden, daß die Geschichte über uns hinweggeht. Zu Kompromissen sollten wir immer bereit sein, aber nicht zu faulen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wir wollen unserer Verantwortung nachkommen. Wer aussteigt, zerstört auf Dauer die Idee der kollektiven Sicherheit und der Integration, mit denen sich alle westlichen Bündnisse von herkömmlichen, zerbrechlichen Paktsystemen unterscheiden. Haben wir nicht längst gelernt, daß unsere Allianzen oft ebensoviel politische und gesellschaftliche Bedeutung haben wie militärische?
Sonderwege sind oft nicht nur pazifistische Spaziergänge, sondern sie sprengen die Gemeinschaft. Am Ende steht mehr Zerstörung als Idylle.
Vielleicht trägt aber dieser Tag der Freude mit dazu bei, daß Sie diese Einstellung, für die Sie das Monopol in Europa besitzen, korrigieren. Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Wir haben ja auch die „Nullifikation", wie Golo Mann die Ratifizierung mit einer Präambel nannte, überwunden.
Meine Damen und Herren, wer spricht davon heute noch? Ich könnte die Erklärungen jener Tage verlesen; tun wir es besser nicht. Die normative Kraft des Faktischen hat uns eingeholt, und sie wird weiter wirken. Davon bin ich überzeugt.
Die millionenfache Begegnung im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks und die Millionen privater deutscher und französischer Jugendlicher, die wir ständig in beiden Ländern treffen, gehören auch zu dieser „Normalität". Sie produzieren keinen Ärger, so daß ihre publizistische Wahrnehmung gering ist. Daß auf dem Bildschirm Frankreich in Deutschland und Deutschland in Frankreich eine marginale Rolle spielen, bedauern viele Korrespondenten in beiden Ländern. Aber ihre Redaktionen meinen nun eben einmal, daß sie sich auf Republikaner und Le Pen konzentrieren sollten, so daß die elektronische Entmündigung auf andere Weise kompensiert werden muß.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

Wir sollten dem Fernsehkanal „ARTE" unser Interesse zuwenden. Aber er muß ebenso in Betracht ziehen, daß es nicht nur um Lieschen Müller, sondern auch um Dr. Lieschen Müller geht.
Frankreich unterhält den größten Teil seiner Kulturinstitute in Deutschland. Die Arbeit des GoetheInstitutes in Frankreich verdient unsere Anerkennung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das bedeutet nicht, daß Literaten und Chronisten auf beiden Seiten ihren Beitrag leisten würden. Der Austausch und die Beschäftigung mit dem anderen waren nach dem Krieg trotz der aufgerissenen Gräben lebhafter. Könnte es sein, daß wir den entspannten Zustand nicht mehr als eine Herausforderung empfinden? Begnügen wir uns mit Banalität und Mediokrität? Ich möchte Herrn Dr. Töpfer ausdrücklich dafür danken, daß er jährlich Dutzende französische und deutsche Schüler und Studenten für ihre Beiträge und Doktorarbeiten in Straßburg auszeichnet. Wir brauchen noch mehr Herausforderung und Motivation zu geistiger, zu kultureller Zusammenarbeit.
Das gilt auch für die Kooperation zwischen den Universitäten und Akademien. Ich halte dies für eine Priorität, um derentwillen anderes einmal zurückstehen sollte. Zu den besonders aktuellen Bereichen wissenschaftlicher Zusammenarbeit von Universitäten und Akademien gehören Humanwissenschaften und Technologie. Junge Menschen in Deutschland und in Frankreich wollen wissen, wie ihre Welt morgen aussehen soll; sie wollen wissen, ob überzeugende Zielsetzungen heute bereits präjudiziert werden.
Ein Wort zu unseren schönen Sprachen: Da inzwischen auch die Kultusminister wissen, daß Universitäten und Examina in den Nachbarländern etwas taugen, und die Studienabschlüsse anerkannt werden, können sich nun unsere Kinder ohne ministerielle Behinderung in Frankreich ausbilden lassen. Das motiviert endlich zum Erlernen der anderen Sprache — und das gilt nicht nur für Studenten. Somit können deutsche Romanisten in Frankreich sogar Romanistik studieren. Das hat 30 Jahre harte Arbeit in der Verwaltung gekostet.
Dieses kleine Nachgrollen verstellt mir nicht den Blick dafür, welche vorzüglichen Maßnahmen von offiziellen und privaten Trägern im Laufe dieser 30 Jahre unternommen worden sind. Aber es muß nicht alles vom Vater Staat subventioniert werden. Stärkerer Ansporn soll zu mehr persönlichem Einsatz führen.
Wir haben bisher nur über exekutive Aufgaben nachgedacht. Deutsche und französische Parlamentarier haben längst die Phase des Kennenlernens und Informierens hinter sich gelassen, mit der viele Parlamentarierreisen begründet werden. Die Auswärtigen Ausschüsse und die bilateralen Gruppen beider Parlamente entwickeln unterdes gemeinsame Überzeugungen. Dazu gehört die Erweiterung unserer Zusammenarbeit um den polnischen Auswärtigen Ausschuß. Die erste Sitzung im Deutschen Bundestag, an der auch die polnische Ministerpräsidentin und der vormalige Ministerpräsident Mazowiecki teilnahmen, hätte nicht konkreter und ergebnisreicher verlaufen können. Es ist ein großer Vorteil für eine erfolgreiche Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn, wenn



Dr. Hans Stercken
sie sich auf einen deutsch-französischen Konsens abstützen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

In gleicher Weise hat übrigens das Deutsch-Französische Jugendwerk im letzten Jahr mehr als 1 000 Jugendliche aus unseren östlichen Nachbarstaaten an den bilateralen Veranstaltungen beteiligt.
Die Ausschüsse und Parlamentariergruppen beraten mindestens einmal im Jahr. Die beiden Gruppen begegnen sich jährlich zusätzlich zum Karlsfest in Aachen.
Das Kolloquium Charlemagne bestreiten wir gemeinsam mit der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer. Die Themen der letzten Jahre waren u. a. technologische Zusammenarbeit, europäische Freizügigkeit, Medien in beiden Ländern, gemeinsame Sicherheitspolitik, gemeinsame Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, gemeinsame Außenpolitik? Ist das ein Fernziel? Ist das eine Arbeitshypothese? Oder ist das unsere feste Absicht gemeinsamer Politik gegenüber dem europäischen Osten? Mit Polen haben wir schon einen Anfang gemacht, und der Zufall wollte es, daß auch unsere ungarischen Freunde wie Gyula Horn und sein Vertreter Scoti dabei waren.
Gemeinsame Politik auf dem Balkan, gemeinsame Politik im Mittelmeer, im Nahen Osten, im Maghreb, in Afrika; gemeinsame Politik in der Gemeinschaft im Sinn der Vereinbarungen von Maastricht — das alles ist sicherlich nicht leicht.
Aber ist es unerreichbar? Ich glaube das nicht. Der weitere Zerfall alter Strukturen muß uns eine Mahnung sein. Diese Welt braucht mehr Einheit. Die deutsch-französische Freundschaft ist auf diesem Willen zur Einheit begründet. Sie soll deshalb an diesem Tag gefeiert werden. Vive l'amitié franco-allemande!

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213400800
Als nächster spricht in dieser Debatte der Abgeordnete Dr. Peter Glotz.

Prof. Dr. Peter Glotz (SPD):
Rede ID: ID1213400900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bringe ich hier zum Ausdruck, daß die deutschfranzösische Freundschaft, wie sie sich in diesem Vertrag und in seiner Praxis der letzten 30 Jahre spiegelt, für uns unverändert ein Kernstück deutscher Außenpolitik ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Konrad Adenauer und Charles de Gaulle haben am 22. Januar 1963 gemeinsam erklärt, daß die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem französischen Volk, die eine jahrhundertealte Rivalität beendet, ein geschichtliches Ereignis darstellt. Das ist im Jahr 1993 genau so richtig, wie es im Jahr 1963 war.
Ich füge hinzu: Die Akkolade, der symbolische Kuß, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle später
im Dom von Reims tauschten, ist wie der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto eine der großen symbolischen Gesten der Zweiten Republik. Der Geist, der hinter diesen Gesten steht, sollte auch die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands prägen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Welches historische Kapitel dieser Vertrag abgeschlossen hat, können sich Jüngere oft gar nicht mehr vorstellen. Als Robert Schuman in einem persönlichen Brief an Konrad Adenauer seinen Vorschlag einer Montanunion begründete, schieb er an den damaligen Bundeskanzler, daß ihn bei seinem Vorschlag eine einzige Idee leite: Wenn beide Länder in der Lage wären, die Steigerung der Produktion von Eisen und Stahl beim jeweils anderen zu kontrollieren, dann sei das das sicherste Mittel, einen zukünftigen Krieg zu vermeiden. Also man dachte nicht so sehr an die gemeinsame Entwicklung von Kapazitäten, wie wir es jetzt tun, man dachte an die gegenseitige Kontrolle.
Ich glaube, an diesem Punkt muß man fast ein bißchen pathetisch sagen: Wir verneigen uns vor denen, die dieses gegenseitige Mißtrauen bekämpft und schließlich auch überwunden haben.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Ich meine Briand und Stresemann, ich meine Adenauer und de Gaulle. Konrad Adenauer hatte die Größe, in der Ratifizierungsdebatte vor 30 Jahren auch August Bebel zu erwähnen. Bebel und Liebknecht gehören in die Ahnenreihe, weil sie die Annexion Elsaß-Lothringens kompromißlos abgelehnt haben. Das war zu ihrer Zeit Landesverrat; aber heute wissen wir, daß es Patriotismus war.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Den Vertrag begleitet von Anfang an die Furcht, er könne zu einer Sonderbündelei zwischen zwei großen europäischen Nationen führen. Als er abgeschlossen wurde, hatte der Gaulle gerade sein Veto gegen die Aufnahme Englands in die Gemeinschaft formuliert. Das führte auch bei uns Sozialdemokraten damals zu warnenden Hinweisen. Ich zitiere Herbert Wehner, der damals der Redner meiner Fraktion in dieser Debatte war. Er sagte:
Nur dann, wenn die Aussöhnung des deutschen und des französischen Volkes als Mittel zum Zweck der Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft dient, können wir sicher sein, daß wir die Stufen zu den Vereinigten Staaten von Europa und damit entscheidende Voraussetzungen für die Sicherung des Friedens bauen.
Wir Sozialdemokraten halten diese prinzipielle Festlegung, daß das deutsch-französische Bündnis Europa dient, auch heute noch für vollständig richtig.
Die 30jährige Praxis zeigt allerdings — da stimme ich Herrn Stercken absolut zu —, daß europäischer Fortschritt dort nicht möglich ist, wo zwischen Bonn und Paris gravierende Uneinigkeit herrscht. Vorschläge und Reformen bleiben stecken, wenn — ich



Dr. Peter Glotz
denke an die Agrarpolitik — zwischen diesen beiden kein Interessenausgleich zustande kommt.
Es mag sein, daß Deutsche und Franzosen das Prinzip, nichts gegeneinander im politischen Alltag zu tun, gelegentlich ein bißchen übertrieben haben. Ich denke z. B. an die Vorschläge der niederländischen Präsidentschaft im Vorfeld des Maastrichter Vertragswerks. Aber die Praxis zeigt: Die bilaterale Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland ist die Voraussetzung für jeden nennenswerten europäischen Fortschritt.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Gleichzeitig wissen wir: Frankreich und Deutschland brauchen Europa; beide Länder brauchen Europa als Motiv und letztlich auch als Rechtfertigung ihrer gemeinsamen intensiven Zusammenarbeit. Das eine ist so notwendig wie das andere.
Im übrigen habe ich als Sozialdemokrat keine Probleme, zu würdigen, daß die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Bundeskanzler, der ein Christdemokrat ist, und dem französischen Präsidenten, der ein Sozialist ist, dem Geist des Vertrages entsprochen hat.
Unsere französischen Partner sollen wissen: Was die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland als eine europäisch angelegte Politik betrifft, gibt es im Prinzip zwischen Opposition und Regierung keinen Widerspruch.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber nur im Prinzip!)

Damit diese Feststellung nicht als Schmusekurs ausgelegt wird — Herr Rüttgers hat schon zu einem kleinen Zwischenruf angesetzt —,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

weise ich auch auf den Dissens hin, der es dieses Mal verhindert hat, daß wir eine gemeinsame Entschließung gemacht haben. Herr Stercken hat schon davon gesprochen. Ich muß dazu keine langen Worte machen. Die Frage gemeinsamer europäischer Streitkräfte mag sich stellen, wenn eine zentrale europäische parlamentarisch kontrollierte Regierung vorhanden ist. Das Deutsch-Französische Corps ist unserer Meinung nach nicht ausreichend durchdacht. Das zeigt schon das langwierige Theater, das um die Frage gespielt wurde, ob und wie es dem NATO-Oberbefehl unterstellt werden soll.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Das wurde aber erfolgreich abgeschlossen!)

Es ist ein Mangel an Augenmaß, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, eine gemeinsame Entschließung in einer so wichtigen Frage an einem solchen Phantom wie diesem Corps scheitern zu lassen.

(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im übrigen halten wir es in dieser Frage mit Willy Brandt, der vor wenigen Jahren an diesem Platz gesagt hat:
Ich unterschätze nicht die Rolle, die Symbolismen spielen können, doch Entscheidungen zur Substanz können nicht durch Symbolik ersetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist richtig: Substanz!)

Damit ist der Konflikt zwischen den Fraktionen — den wir nicht aufblasen wollen — erklärt.
Wichtiger als irgendwelche Corps sind die Bemerkungen, die auch Herr Stercken gewürdigt hat und die sich mit der kulturellen und beispielsweise mit der sprachlichen Zusammenarbeit beschäftigen. Sie haben es ja zitiert. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Zusammenarbeit, „zusätzlichen Anreiz zu schaffen", heißt es in dieser Entschließung, „damit mehr Deutsche und Franzosen die Sprache des Partnerlandes erlernen". Dann wird von der Einrichtung zweisprachiger Zweige in allen Schulformen gesprochen, die mit dem gleichzeitigen Erwerb des deutschen Abiturs und des französischen Bac enden sollten.
Diese Forderung, die wir ja nicht von uns aus durchsetzen können, verdient die Unterstützung des ganzen Deutschen Bundestages. Ich betone das, weil das zentralistische Frankreich hier einem föderalistischen Deutschland gegenübersteht und weil wir keine Schulpolitik betreiben können. Wir können nicht aus eigener Machtvollkommenheit bilinguale Schulen gründen, aber wir können aus unserer außenpolitischen Kompetenz heraus sagen: Die zuverlässige Zusammenarbeit beider Nationen verlangt, daß die Menschen einander besser verstehen, als sie das heute noch tun, und daß es einen Kern von Menschen gibt, die sich auch sprachlich verständigen können, die nicht nur ein Essen bestellen oder nach einer Straße fragen können, sondern die die Intellektualität des anderen verstehen, weil sie seine Sprache verstehen.
Ich denke, ich spreche nicht nur für meine Fraktion, wenn ich sage: Die Kultusminister, welcher Partei sie auch angehören, sind aufgefordert, die ungeheure Bedeutung solch bilingualer Erziehung für die Freundschaft und das Zusammenwachsen unserer Völker zu erkennen und diese Erkenntnis auch in die Wirklichkeit umzusetzen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

Europa wird nur gelingen, wenn es ein Europa der Völker wird; und die Völker müssen sich gegenseitig verstehen können.
Eine solche Debatte hätte wenig Sinn, wenn sie sich nur als Feier — Sie haben das Wort gebraucht, Herr Kollege Stercken — verstünde. Wir dürfen die kritischen Aspekte nicht ausblenden. Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat in den letzten 30 Jahren viel bewirkt. Aber sie steht auch vor einer Bewährungsprobe. Ich frage kritisch: Könnte es nicht so kommen, daß in Bonn und Paris die Vorkämpfer weiterer gemeinsamer Initiativen zur Stärkung der Gemeinschaft, zur Vertiefung der Gemeinschaft eher schwächer werden?



Dr. Peter Glotz
Tatsache ist: Der Entscheidungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft bleibt intergouvernemental, und teilweise renationalisiert er sich auch. Das gilt für die Franzosen, die jetzt mitten im Wahlkampf stehen. Starke Kräfte in Frankreich denken zuerst einmal an ein wirtschaftliches, soziales, monetäres Aufholen gegenüber Deutschland, an die Sicherung des französischen Status, und kümmern sich auch um neue Alliierte im ganzen Europa. Und auch wir sehen uns ja immer stärker in eine nationale Logik des wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus gedrängt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: die Status-quo-EG ist nicht imstande, dem einen oder dem anderen eine wirklich bedeutsame Hilfestellung zu leisten.
Deshalb müssen wir das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich mit wacher Sensibilität weiterentwickeln. Ich möchte auf zwei Beispiele hinweisen und dabei vor allem auf die deutschen Verpflichtungen eingehen. Es gibt auch französische; aber es ist nicht unser Part, das zu sagen.
Das eine Problem ist die Orientierung Deutschlands nach Osten und die Orientierung Frankreichs auf den Süden. Wundern darf sich niemand über diese Tatsache. Sie ergibt sich aus geopolitischen und geschichtlichen Gründen. Aber wir müssen diese unterschiedlichen Interessen verarbeiten. Es führt nicht weiter, wenn wir Deutschen alle naselang den Franzosen mangelndes Verständnis für Mittel- oder Osteuropa vorwerfen. Unsere Kritik wäre erst dann berechtigt, wenn wir uns um den Süden Europas so kümmern würden, wie wir hoffen, daß sich die Franzosen um den Osten Europas kümmern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf übellaunige Äußerungen, die Deutsche gelegentlich über das mangelnde Verständnis der Franzosen für die Rechte des Europäischen Parlaments machen. Es ist ja richtig: Da gibt es ein Demokratiedefizit. Aber besser als eine rasch fertige Kritik an den Franzosen wäre eine intensive Gewissenserforschung der Deutschen über die Konstruktion von Demokratie in einem Europa, das demnächst nach unseren eigenen Beschlüssen 20 oder mehr Nationalstaaten umfassen soll. Es könnte uns passieren, daß wir bei dieser Gewissenserforschung erkennen müssen, daß auch wir keine so durchdachte Konzeption zu der Frage haben, wie eigentlich Demokratie in einem Raum funktionieren soll, in dem es noch keine gemeinsamen Institutionen, vor allem aber keine gemeinsame Öffentlichkeit gibt.
Deutschland und Frankreich haben den Vertrag von Maastricht ratifiziert. Das ist gut so. Dazu stehen wir. Wir dürfen es aber nicht dahin kommen lassen, daß diese Ratifikation unsere Energien so erschöpft hat, daß wir vor einer weiteren Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft resignieren müßten. Wir dürfen nicht zwischen Baum und Borke hängenbleiben, sondern müssen uns klarmachen: Wenn wir nicht mehr voran können — so ähnlich hat es auch der Bundeskanzler ausgedrückt —, müssen wir zurück. Keiner von uns kann das wollen, weder in Frankreich noch in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich zitiere einen skeptischen Beobachter, den Publizisten Claus Koch. Ich übernehme seine Skepsis nicht, schon gar nicht für meine ganze Fraktion. Claus Koch hat in der Kritik an uns allen, die wir Maastricht zugestimmt haben, gesagt:
Es könnte sein, daß gerade der trügerische Schein eines Beschlusses, den zu befolgen niemand mehr hinreichende Energie aufbringt, die Diskussion um die Europa-Konstruktion weiterhin auf einem sterilen Weg festhält, daß die Fähigkeit der politischen Klassen, die sich aus ihrem Selbstbetrug nicht lösen können, weiter wächst.
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, daß sich diese Besorgnisse als gegenstandslos erweisen! Noch haben wir vielleicht die Kraft dazu; aber wir müssen auch alle Kraft anstrengen. Wer das will, muß auf das deutsch-französische Bündnis setzen.
Ich möchte am Schluß noch einmal an Herbert Wehner und an seine Rede in der Debatte heute oder morgen vor 30 Jahren erinnern, in der er gesagt hat: Die Aussöhnung des deutschen und des französischen Volkes ist ein Mittel zum Zweck der Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft. Und dann hat er von den Vereinigten Staaten von Europa gesprochen, von den Stufen dahin. Wir haben das nicht vergessen, meine Damen und Herren. Wir Sozialdemokraten denken so, wie Herbert Wehner es damals ausgedrückt hat.

(Beifall bei der SPD)

Ich schließe mit dem Satz: Die deutsch-französische Gemeinschaft ist nicht der Sprengsatz Europas; sie muß die Lokomotive Europas sein. Nur, wenn wir im Geist dieses Vertrages weiterarbeiten, werden wir unsere europäischen Ziele erreichen können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213401000
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (FDP):
Rede ID: ID1213401100
Verehrte Frau Präsidentin! Chers collègues de l'Assemblée Nationale! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir würdigen heute ein Friedenswerk von außerordentlicher Bedeutung, an dem Liberale wie Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und heute Klaus Kinkel wesentlichen Anteil haben.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und Helmut Haussmann! — Gerd Andres [SPD]: Und Bangemann! Und Möllemann! Da könnt ihr alle aufzählen!)

Diese Aussöhnung in einer, historisch gesehen, sehr kurzen Zeitspanne zwischen zwei früheren Erbfeinden grenzt an ein Wunder. Wir Deutschen spüren heute: Diese Aussöhnung wurde zum wesentlichen Bestandteil des politischen Vertrauenskapitals, das sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erworben hat. Dieses Modell zwischen Franzosen und Deutschen kann auch zum Vorbild für die Annäherung mit Polen werden.



Helmut Haussmann
Letztlich war die deutsch-französische Aussöhnung auch eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Herstellung der deutschen Einheit. Es ist richtig: Die Beziehungen beider Länder waren nicht von Anfang an von Harmonie getragen. Immer wiederkehrende Auseinandersetzungen über die Rolle der NATO, über das Verhältnis zu den USA, über den Beitritt von England und immer wieder über Währungsfragen waren an der Tagesordnung. Trotzdem hielt diese Schicksalsgemeinschaft, weil sie nicht nur von Regierungen gewollt, sondern vom Willen und vom Konsens der Völker getragen war.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine Freundschaft zwischen zwei Völkern läßt sich eben nicht anordnen, sondern die Beziehungen müssen von unten wachsen. Über 1 600 Städtepartnerschaften, über 2 000 Schulpartnerschaften sind das beste Beispiel.
Wir Deutschen müssen uns heute bewußt werden, wie sehr wir selber durch die engen Beziehungen zu Franzosen bereichert wurden. Frankreich ist und bleibt ein Land mit intakten Traditionen, mit einer großen Kultur, mit mondialen Interessen und Verantwortungen und, mehr denn je, mit einer Wirtschaft, die zusammen mit der deutschen Wirtschaft zur Spitze in Europa gehört. Ich sage bewußt: Nur zusammen gehören Deutschland und Frankreich heute ökonomisch zur Weltspitze. Dies ist ja auch der tiefere Sinn der Maastrichter Verträge zur Wirtschafts- und Währungsunion. Gerade hier sehe ich die Zukunft unserer beiden Länder. Die Zeit der eng abgeschotteten Nationalökonomien ist abgelaufen. Ich wiederhole: Zwölf verschieden agierende nationale Handels- und Finanzminister machen in Tokio oder in Washington längst keinen Eindruck mehr. Nur eine wirkliche Wirtschafts- und Währungsunion im Zentrum Europas mit einem intakten deutsch-französischen Kern macht uns und unsere Gesellschaften auf Dauer zukunftsfähig.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Allein mit einer gehobenen Europäischen Freihandelszone werden die Europäer langfristig nicht mit den längst vollendeten und voll integrierten Wirtschafts- und Währungsunionen in den USA und Japan konkurrieren können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Verehrte Kollegen, deshalb liegt für mich neben der kulturell-persönlichen Aussöhnung unserer Völker das zweite Wunder gerade in diesem Wirtschafts- und Währungsbereich.
Voraussetzung war, daß unsere französischen Freunde den Wert der Währung, der bei uns in Deutschland historisch eine so große Rolle spielt, akzeptiert haben. Wichtig war, daß die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank akzeptiert wird. Belohnt wurde Frankreich inzwischen mit einer der stabilsten Währungen der Welt, auf die es zu Recht stolz sein kann.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wichtig für uns war, daß Bundeskanzler Kohl damals die Unumkehrbarkeit des Wegs zur einheitlichen europäischen Währung akzeptiert hat.
Wichtig für uns wird sein, nicht vorschnell über die GATT-Verhandlungen zu urteilen, sondern zu verstehen, was der ländliche Bereich, die Landwirtschaft, die Weinbauern nicht nur im landwirtschaftlichen Bereich, sondern für die Gesellschaft Frankreichs bedeuten. Der einzige französische Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften hat zu Recht darauf hingewiesen: Nur wer die Bedeutung des ländlichen Bereichs für die Gesamtgesellschaft von Frankreich begreift, kann den Weg in die Modernität schaffen.
Meine Damen und Herren, das Ja zu Maastricht in Frankreich war letztlich auch ein Ja zur deutschfranzösischen Beziehung. Beide Länder werden belohnt: Deutschland damit, daß Frankreich heute mit großem Abstand die meisten Investitionen in den neuen Bundesländern hat. Frankreich wird mit einer Spitzenstellung belohnt. Die Wiedervereinigung war letztlich ein Konjunkturprogramm auch für Frankreich. Wenn sich heute Firmen wie Renault rühmen, daß sie japanische Firmen als Nummer 1 in Deutschland übertroffen haben, so ist das eine stolze Leistung für Frankreich, die mich auch persönlich freut.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Daß führende deutsche Markenartikler wie Birkel oder Adidas in französischen Mehrheitsbesitz übergegangen sind, gehört zur Normalität der Beziehungen unserer beiden Länder; denn viel zu lange waren wir zu sehr auf Import und Export ausgerichtet. Die gegenseitige Beteiligung und der Austausch von Managern müssen eigentlich die Regel werden.
Schließlich ist zu wünschen, das diese großen Fortschritte in der Wirtschafts- und Währungsunion nicht allein bleiben, sondern daß wir zu einer wesentlichen qualitativen Weiterentwicklung der politischen Zusammenarbeit kommen und daß dies der Ausgangspunkt für eine letztlich gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik wird. Ich empfinde es als etwas kleinlich, daß die Sozialdemokraten nur wegen des Eurocorps nicht mitgemacht haben.

(Zurufe von der SPD: Nur?)

Eine gemeinsame Erklärung aller drei großen Fraktionen wäre dem heutigen Tag angemessen gewesen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich weiß als früheres Regierungsmitglied, wie eng die Abstimmung im Verteidigungsrat und im Wirtschafts- und Währungsrat ist. Ich halte es deshalb für dringend notwendig, daß die Parlamente nachziehen. Wir müssen sehr viel mehr gemeinsame Fachausschuß- und Plenarsitzungen machen, damit nicht auch im bilateralen Verhältnis ein Defizit des Parlaments eintritt.
Letztlich — da knüpfe ich an das an, was Herr Stercken und Herr Glotz gesagt haben — ist die Sprache der Zugang zum Verständnis für die Seele der Völker. Ich hoffe, daß auch die deutschen Kultusminister mehr als bisher einen Beitrag leisten. Je früher in den Grundschulen Französisch vermittelt wird, um so besser ist es. Ich habe immer kritisiert, daß es in Europa zu wenig Verständnis führt, wenn wir uns



Helmut Haussmann
letztlich nur auf Englisch als allgemeine Sprache einlassen.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos])

Die gegenseitigen Verluste — weg von der Nationalsprache — sind zu groß. Darum hoffe ich, daß wir auch im Bereich der Sprachvermittlung Fortschritte machen.
Ich schließe, indem ich sage: Ich spüre und weiß es von vielen Freunden, daß meine Generation persönlich, beruflich, aber auch politisch bereit ist, diese Freundschaft weiterzutragen. Vive l'amitié franco-allemande!

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213401200
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Hans Modrow.

Dr. Hans Modrow (PDS/LL):
Rede ID: ID1213401300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geschichte hat de Gaulle glücklicherweise nicht recht gegeben, der schon ein halbes Jahr nach Abschluß des ElyséeVertrages noch im Jahre 1963 warnte: Verträge sind wie Rosen und junge Mädchen, sie blühen und verwelken.
Mit diesem Vertrag wurde Aussöhnung gestaltet. Die Feindschaft zwischen beiden Nachbarstaaten, die wiederholt in blutige Kriege mündete, wurde beendet. Sie wurde abgelöst durch Zusammenarbeit und Partnerschaft.
Wenn heute die umfassenden Beziehungen der Bundesrepublik mit Frankreich und ihre guten Perspektiven gewürdigt werden, sollte man nicht außer acht lassen, daß für die deutsch-französische Aussöhnung auch die DDR Beachtliches geleistet hat. Das gilt nicht nur für den kulturellen Bereich.

(Lachen bei der CDU/CSU)

— Ja, es war so. Die letzte Begegnung, die Mitterrand mit einem Vertreter der DDR hatte, war bekanntlich im Dezember 1989 mit dem damaligen Ministerpräsidenten.
Die Grenze zwischen Frankreich und der Bundesrepublik, früher eine Trennlinie von angeblichen Erbfeinden, hat längst ihren trennenden Charakter verloren. Erreicht wurde dies nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Kontakten, Verträgen und Vereinbarungen, durch Zusammenarbeit in Grenzregionen, durch Partnerschaft an entscheidenden Punkten der Volkswirtschaft, durch unzählige institutionelle Klammern. Das ist eine höchst wichtige Erfahrung, wenn es um die Zusammenarbeit und Aussöhnung mit unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn geht. Hier ist gewiß manches geschehen. Aber wenn es um die Ausfüllung geschlossener Verträge geht, vermißt man bei der Bundesregierung leider allzuoft politischen Willen und vor allem konrete Schritte.
In diesem Zusammenhang kann man nicht übersehen, daß der deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht nur Segensreiches entsprungen ist. Das gilt für den Vertrag von Maastricht wie für das Schengener Abkommen. Schließlich gingen ihnen jeweils deutsch-französische Initiativen voraus. Beide Verträge, so unterschiedlich sie auch sein mögen, haben ein gemeinsames Ziel: die Abschottung gegenüber dem übrigen Europa.
Zu umfassender und kontinuierlicher Zusammenarbeit mit den Staaten Mittelost- und Südosteuropas, zu einer echten Aussöhnung mit diesen Völkern gibt es aber keine vernünftige Alternative.
Es ist ein Trugschluß, zu glauben, man werde den neuen Risiken ökonomischer, sozialer aber auch politischer Natur letztlich mit militärischen Mitteln beikommen können. Nur so ist doch zu erklären, daß sich die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Außen- und der Sicherheitspolitik vor allem auf gemeinsame Waffenproduktion oder die Planung und die Durchführung gemeinsamer militärischer Einsätze ausrichtet. Die deutsch-französische Brigade wird gar als Kerntruppe einer europäischen Interventionsarmee gefeiert.
Wie die Bundesregierung die deutsch-französische Zusammenarbeit überhaupt weiterzubehandeln gedenkt, könnte man vielleicht daran ablesen, daß ausgerechnet ein ehemaliger Verteidigungsminister als Beauftragter dafür bestellt wurde. Deutschland ist heute weder in Richtung Westen noch in Richtung Osten Frontregion.
Wie sinnvoll und nutzbringend wäre es, wenn sich beide Staaten heute auf eine Außen- und Sicherheitspolitik einigen könnten, die sich auf politische, ökonomische, soziale und ökologische Aspekte konzentriert! Hier liegt ein weites ungenutztes Feld, das dem Elysée-Vertrag eine völlig neue, beruhigende Perspektive gäbe: Aufbau einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsgemeinschaft.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213401400
Als nächster spricht der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213401500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Elysee-Vertrag steht für 30 Jahre freundschaftliche Verbundenheit und Zusammenarbeit mit unserem Nachbarn Frankreich, und er steht für 47 Jahre Frieden und Freiheit, die längste Friedensperiode seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa. Dieser Friedensperiode verdanken wir unsere Einbindung in die Atlantische Allianz und die Europäische Gemeinschaft mit der deutsch-französischen und deutschamerikanischen Partnerschaft als Kern.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD])

Ein Jahrhundert blutigen, irrsinnigen Ringens hatte unsere Völker angeblich zu ewigen Erbfeinden gemacht. Der Elysée-Vertrag setzte den Rahmen für eine einzigartige Aussöhnung — das eigentliche Wunder der Nachkriegszeit, wie de Gaulle sagte. Diese Versöhnung war wesentlicher Bestandteil des politischen Vertrauenskapitals, das die Bundesrepublik Deutschland in Ost und West langsam erwerben
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11593
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
konnte und das schließlich zu unserer Wiedervereinigung führte.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Eberhard Brecht [SPD])

Das französische Volk hat in besonderer Weise mit uns gefühlt, als die Mauer fiel. Wie kein anderes Land engagierte sich Frankreich wirtschaftlich und kulturell in den neuen Bundesländern.

(Dr. Helmut Hausmann [F.D.P.]: So ist es!)

Die direkte Erfahrung mit Frankreich, das Erlebnis französischer Sprache und Kultur, war und ist für viele unserer Landsleute dort ein besonderes Erlebnis.
Die deutsch- französische Freundschaft war von Anfang an nicht nur auch Sache der Regierungen und der Medien, sondern Gott sei Dank auch Sache der Menschen. Heute empfinden die Deutschen, daß ihnen die Franzosen, und die Franzosen, daß ihnen die Deutschen von allen Angehörigen fremder Staaten am nächsten stehen. Im Laufe von 30 Jahren ist es zu einer beeindruckenden Anzahl von Partnerschaften zwischen Gemeinden, Städten, Vereinen, kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen gekommen. Größte Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem ständigen Austausch von Millionen junger Menschen im Deutsch-Französischen Jugendwerk zu.
Der Elysée-Vertrag hat, meine Damen und Herren, über die Versöhnung hinaus, zu einem besseren Verständnis für den Partner, für das andere Volk, für seine Kultur und für seine Identität geführt, ohne daß hierdurch die historisch gewachsenen Unterschiede eingeebnet warden wären.
Wie in jeder Partnerschaft zwischen Menschen, Völkern und Regierungen ist natürlich auch das deutsch-französische Verhältnis nicht frei von Interessengegensätzen, Meinungsunterschieden, ja, auch von Mißverständnissen. Wenn die Medien häufig von Krise oder einem bevorstehenden Ende des deutschfranzösischen Sonderverhältnisses sprechen, dann ist das in meinen Augen Unsinn.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Interesse beider Völker an einer Fortführung des engen gemeinsamen Wegs nach Europa ist zu groß, als daß sie diese Gemeinsamkeit aufgeben würden. Roland Dumas hat recht: Die Schwierigkeiten haben eigentlich die Partnerschaft immer fester gemacht.
Ein Blick auf die Umbrüche und Risiken in Mittelost- und Südosteuropa sowie auf Hunger und Elend in der Dritten Welt genügt, um zu wissen: Nur eine starke Gemeinschaft, gerade auch in der deutsch-französischen Zusammenarbeit, kann diesen Herausforderungen begegnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Europa braucht den festen Anker der Europäischen Gemeinschaft mehr denn je. Deshalb ist auch der in Maastricht vereinbarte Schritt zur Europäischen Union so notwendig. Nur eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie gemeinsame Antworten auf die Probleme der Zuwanderung und des organisierten
Verbrechens können den europäischen Völkern eine stabile Zukunft sichern. Deutschland und Frankreich waren in der Vergangenheit der Motor der Integration, und dieser Motor ist in der jetzigen Umbruchphase unentbehrlicher denn je.
Beide Völker, beide Länder bleiben aufgerufen, ihre Freundschaft auch in Zukunft in den Dienst der europäischen Vereinigung zu stellen. Wir wollen ein föderatives, bürgernahes und offenes Europa, ein Europa ohne Schlagbäume und mit einer gemeinsamen Währung. Der enge deutsch-französische Schulterschluß, auch und gerade im Währungsbereich, muß diese Fortentwicklung weiter vorantreiben. Dieses Europa muß das ganze Europa sein, nicht ein westeuropäischer Wohlstandsklub.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Europas Herz — ich habe das schon einmal von dieser Stelle aus gesagt — schlägt eben nicht nur in Paris, London und Bonn, sondern auch in Warschau, Prag und Budapest.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber — auch das sollten wir nicht vergessen — Europa kann nur in enger transatlantischer Verbindung sein inneres Gleichgewicht und seine äußere Handlungsfähigkeit erlangen und halten. Eine Festung Europa wäre nicht nur das Ende der europäischen Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, sie würde auch alle Chancen nehmen, den Teufelskreis von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung in globaler Partnerschaft zu durchbrechen.
Die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufbrechenden Regionalkonflikte — allen voran die tragischen Ereignisse im früheren Jugoslawien, die uns täglich beschäftigen — unterstreichen die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die deutsch-französische Sicherheitspartnerschaft hat durch die Arbeit des DeutschFranzösischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates, durch die Aufstellung der deutsch-französischen Brigade in Böblingen und jüngst das Europäische Corps eine neue Qualität angenommen. Damit haben wir Deutsche und Franzosen einen Rahmen gesetzt, der sowohl den europäischen Pfeiler der Allianz verstärkt, als auch der entstehenden gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Substanz verleiht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dabei bleibt das Atlantische Bündnis für Europa ein unentbehrlicher Sicherheitsanker.
Der Elsysée-Vertrag, meine Damen und Herren, wird heute in der internationalen Politik immer mehr — wie ich finde, zu Recht — als nachahmenswertes Beispiel für Versöhnung und Freundschaft anerkannt, so bereits erfolgreich für die Gestaltung des neuen Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen, so mahnend für das künftige friedliche Zusammenleben im ehemaligen Jugoslawien. Deutsch-französische Freundschaft und Zusammenarbeit sind ein lebendi-



Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
ger Appell: Nie mehr Nationalismus, Fremdenhaß und Bruderzwist in Europa!

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Elysée-Vertrag war von vornherein durch seine europäische Perspektive, seine Öffnung für andere europäische Partner, gekennzeichnet. Diese Offenheit haben wir durch die Einführung trilateraler Außenministerkonsultationen mit dem französischen und dem polnischen Kollegen unter Beweis gestellt. Deutschland und Frankreich müssen ihre bisherige fruchtbare Zusammenarbeit für Europa, ihre gemeinsamen Initiativen im Bereich der Europäischen Gemeinschaft, der KSZE, der WEU, des Europarates und in anderen internationalen Institutionen unbeirrt fortsetzen. Diese geduldige und langfristig angelegte Politik der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Sicherheit aller Europäer war eine wesentliche Voraussetzung für die Überwindung des Ost-West-Konflikts.
Meine Damen und Herren, der gestrige Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten, dem ich von dieser Stelle aus nochmals sehr herzlich gratulieren möchte,

(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

lenkt unseren Blick zwangsläufig über den Atlantik. An die Adresse derer, die zwischen unserer deutschfranzösischen, europäischen Partnerschaft und unserer Partnerschaft über den Atlantik hinweg immer einen Gegensatz konstruieren wollten und wollen, sage ich: Auch und gerade unsere französischen Freunde wissen, daß die Freundschaft von Deutschen und Franzosen mit den USA auch für unsere bilaterale Partnerschaft eine ganz, ganz wichtige Grundlage ist.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es wird immer Aufgabe deutscher Politik sein, dieses Freundschaftsdreieck zu festigen. Ein Entweder-Oder kann es für uns nicht geben. Gerade angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten bei den GATT-Verhandlungen wird es wichtig sein, daß Deutschland und Frankreich den Dialog mit der neuen amerikanischen Regierung über wichtige Strecken gemeinsam führen.
Ich kommte zum Schluß, meine Damen und Herren. 30 Jahre Elysée-Vertrag, 30 Jahre fruchtbarer deutsch-französischer Partnerschaft und Freundschaft — nicht nur Anlaß zu Freude und Genugtuung für die Regierungen, sondern auch für die Parlamente. Die Entschließung, die dem Deutschen Bundestag vorliegt, unterstreicht die hervorragende Bedeutung, die unser Parlament dem Erhalt und der Stärkung dieser Freundschaft beimißt. Daß sie zum unantastbaren Kernbestand unserer Außenpolitik gehört, stand seit der Schaffung der Bundesrepublik Deutschland nie in Frage. So wird es — ich bin sicher — auch in Zukunft bleiben. Der heutige Tag zeigt dies. Ich finde, darüber sollten wir uns gemeinsam freuen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213401600
Als letzter in dieser Debatte spricht der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1213401700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß nach drei blutigen Kriegen innerhalb eines Jahrhunderts seit nunmehr fast 50 Jahren zwischen Frankreich und Deutschland Frieden herrscht — und nicht nur dies, sondern auch so etwas wie Freundschaft, wenn das zwischen Völkern überhaupt möglich ist —, ist wahrhaft Bedenkenswert. Trotz der Bedeutung des französisch-deutschen Vertragswerks, dessen 30jähriges Jubiläum wir heute begehen: die wahrhaft große Leistung ist weniger dieses Vertragswerk, sind weniger die unbestreitbaren Verdienste seiner Verfasser und Vorkämpfer in beiden Ländern, sondern die große Errungenschaft ist die nunmehr seit Jahrzehnten praktizierte Symbiose der beiden Bevölkerungen, die Entwicklung vielfältiger, reicher Beziehungen zwischen Franzosen und Französsinnen — hommage aux copines — und Deutschen auf allen Ebenen der Gesellschaft.
Wir Deutsche haben es vor allem auch Frankreich zu verdanken, daß wir zumindest in einem gewissen Ausmaß Anschluß an die westeuropäische Liberalität und Offenheit gefunden haben, jene Liberalität und Offenheit, von der uns unsere Geschichte der Jahre von 1933 bis 1945 für immer auszuschließen schien. Die deutsche Linke jedenfalls ist heute ohne den ständigen Dialog mit der französischen Linken nicht zu denken. Die ökologische Linke hier bei uns erhält inzwischen von den französischen Ökologen ebenso viele Impulse, wie sie nach dorthin abgibt.
Wir Deutsche verdanken diesem entscheidenden Teil der Öffnung nach Westeuropa, wie ich aus eigenem Leben und Erleben in Frankreich weiß, sehr, sehr viele Momente zivilatorischer, kultureller und auch sozialer Bereicherung. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie sich die deutsche Gesellschaft nach 1945 ohne diese Öffnung nach Westeuropa hin und ohne die intensive vielfältige Berührung mit der Kulturnation Frankreich, aber auch mit Menschen aus anderen Ländern Europas und der Welt entwickelt hätte.
Wie wichtig das für uns war, läßt sich trotz des feierlichen Anlasses ganz gut anekdotisch ausdrükken. Dabei handelt es sich übrigens um ein Bonmot aus Frankreich, das nationale Besonderheiten anspricht. Da heißt es: In England ist alles erlaubt, was nicht verboten ist. In Deutschland dagegen ist alles verboten, was nicht erlaubt ist. Das ist eine Anspielung auf unser strenges, ernstes, auf Totalität hin orientiertes Staats- und Rechtsverständnis. — In Frankreich dagegen — so der Spruch — ist alles erlaubt, auch wenn es verboten ist.
Etwas freier, etwas offener, etwas weniger militärisch und industriell diszipliniert zu sein, das, denke ich, haben wir in Europa und gerade von Frankreich gelernt. Ich hoffe, wir in Deutschland widersetzen uns in der Zukunft allen Tendenzen, diese Entwicklung durch nationalistische Alleingänge wieder zurück zur rigiden, inhumanen deutschen Vergangenheit zu lenken.
Die Angriffe auf Ausländer und Ausländerinnen hier in Deutschland bedrohen auch die Öffnung nach Europa und die mit der französischen Bevölkerung



Dr. Ulrich Briefs
erreichte Symbiose. Allein in Paris spüren z. B. fast 100 000 dort lebende Deutsche — das hat der Kollege Stercken jüngst hier in Bonn ausgeführt — die Nachwirkungen der deutschen Pogrome der jüngsten Zeit hier.

(Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU])

Ich hoffe aber, wir, die Menschen in Deutschland und in Frankreich, widerstehen allen Versuchungen von Teilen unserer Machteliten, eine hochgerüstete deutsch-französische Achse in Europa und gegen den Rest der Welt zu schmieden.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213401800
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/4154. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag bei Enthaltung der SPD, vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/4155. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist bei Enthaltungen aus der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 1 auf:
6. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/4152 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Haushaltsausschuß
ZP1 Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Asylrecht ist unverzichtbar — Drucksache 12/3235 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß
In der Geschäftsordnungsdebatte vor Eintritt in die Tagesordnung haben wir für die Aussprache zwei Stunden beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Erwin Marschewski.

Erwin Marschewski (CDU):
Rede ID: ID1213401900
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn der amerikanische Schriftsteller Pound recht hätte, dann wäre Regierung die Kunst, Probleme zu schaffen, mit deren Lösung
man das Volk in Atem hält. Freude hatte ich an dieser Begriffsbestimmung nie. Sie schien mir passender zu sein für diejenigen, die sich notwendigen Rechtsfortbildungen entgegenstellten, namentlich eine Änderung des Asylgrundrechts nicht akzeptierten.
Freude jedoch, meine Damen und Herren, empfinde ich heute darüber, feststellen zu können, daß der Konsens der demokratischen Kräfte so weit geht, daß nunmehr eine Änderung des Asylgrundrechts möglich geworden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es war ein langer Weg bis hierher. Ich darf daran erinnern, daß die CDU/CSU seit mehr als zehn Jahren eine Änderung des Grundsrechts auf Asyl fordert.
Hatten wir in den siebziger Jahren einen Asylbewerberzugang im Zehntausender-Bereich, so war 1980 erstmals die Grenze von 100 000 überschritten. Hierauf wollten wir reagieren, mußten jedoch erkennen, daß wir die für eine Verfassungsänderung in diesem Hause erforderliche Mehrheit nicht erreichen würden.
Meine Damen und Herren, nur zu häufig wurde uns daher von verschiedenen Menschen in diesem Lande gesagt, auch wir würden eine Lösung in der Asylfrage nicht mit der gebotenen Konsequenz vorantreiben. Dieser Vorwurf war und ist unberechtigt. Wir haben Vorschläge zur Lösung des Asylproblems unterbreitet. Wir hatten aber eben nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit, um dies durchzusetzen.

(Lachen bei der SPD) Das ist das Problem.

Meine Damen und Herren, nunmehr ist die Situation aber anders, und ich freue mich darüber. Im Februar des vergangenen Jahres, also weit vor den gewalttätigen und zu verurteilenden ausländerfeindlichen Ausschreitungen, haben wir einen Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich meine, wir haben dadurch die aktuelle Diskussion wieder beleben können.
Bereits die Zielbeschreibung unseres damaligen Entwurfs macht deutlich, wie groß das Problem des geltenden Asylrechts geworden war. Die nahezu unscheinbare Verfassungsaussage in Art. 16 „Politisch Verfolgte genießen Asyl", geschaffen in einer Zeit, in der kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, in dem zerschossenen und zerbombten Deutschland um Asyl nachzufragen, hatte durch höchstrichterliche Rechtsprechung eine besondere, eine riesige Bedeutung erlangt. Jeder Ausländer, der sich darauf berief, hatte das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Einreise und Aufenthalt bis zum Abschluß des Asylverfahrens sowie auf eine umfassende Prüfung seines Antrags, auch bei völlig aussichtlosem Vortrag.
Dies, meine Damen und Herren, hat zu einer Krise des Asylrechts geführt, und zwar deswegen, weil zunehmend Ausländer unter mißbräuchlicher Berufung auf politische Verfolgung die Beschränkungen für die Zuwanderung, wenn auch menschlich verständlich, umgangen haben. Sie kennen die Zahlen. In den letzten vier Jahren hat sich die Zahl vervierfacht. Wir haben nahezu 450 000 Asylbewerber, gerade aus den Staaten, die ehemals vom Kommunis-



Erwin Marschewski
mus unterdrückt worden sind und jetzt untergegangen sind.
Meine Damen und Herren, Ziel der Reform des Asylrechts muß es daher sein, diejenigen Personengruppen von einem aufwendigen Verfahren auszuschließen, die unseres Schutzes deswegen nicht mehr bedürfen, weil sie nicht aktuell gefährdet sind. Unstreitig — ich sage dies noch einmal ausdrücklich — war hingegen bei allen Vorschlägen, daß den wirklich politisch Verfolgten in diesem Land weiterhin Zuflucht gewährt werden wird, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieses Ziel erreichen wir auch mit dem zwischen den Fraktionen dieses Hauses abgestimmten Entwurf; denn der vereinbarte Art. 16a beginnt mit den Worten: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht."

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Lesen Sie mal weiter!)

Dennoch, meine Damen und Herren, wird die Zahl der Asylbewerber zurückgehen; denn Personen, die über sichere Drittstaaten einreisen, in denen sie keiner Verfolgung ausgesetzt sind, sollen eben dort Schutz finden können, haben keinen Anspruch auf Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen sagt ja Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 wörtlich, daß sie sich nicht auf das Asylrecht berufen können.
Meine Damen und Herren, nach übereinstimmender Auffassung in den Asylverhandlungen zwischen den Fraktionen sollte mit dieser Formulierung sichergestellt werden, daß der einzelne kein Asylrecht genießt, daß der Staat aber ungeachtet dessen die Möglichkeit behält, in Deutschland weiterhin Schutz vor politischer Verfolgung zu gewähren. Weitere Änderungen waren nicht beabsichtigt. Sollte sich herausstellen, daß der nunmehr gefundene, vom Asylkompromiß vom 6. Dezember abweichende Wortlaut des Eingangssatzes nicht gewollte Lücken aufreißt, so wäre er in den parlamentarischen Beratungen zu überarbeiten.
Eine weitere Verbesserung des geltenden Asylrechts, die auch für wirklich politische Verfolgte vorteilhaft ist, wird dadurch erreicht, daß Personen aus Herkunftsländern, in denen nach Überzeugung des Gesetzgebers eine politische Verfolgung nicht stattfindet, von einem aufwendigen Asylverfahren ausgeschlossen werden können. Sie müssen nach Art. 16a Abs. 3 unseres Entwurfs substantiiert Gründe vortragen, die die Regelvermutung außer Kraft setzen.

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Und die bestimmt die Regierung!)

Wesentliche Verfahrensverkürzungen ermöglicht schließlich Abs. 4 des Entwurfs, der in Fällen offensichtlicher Unbegründetheit auch die Durchsetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen erleichtert.
Meine Damen und Herren, bis zuletzt verhandlungsbedürftig, weil im Asylkompromiß vom 6. Dezember nicht hinreichend berücksichtigt, waren Regelungen, die es ermöglichen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland europäischen Asylrechtsübereinkommen gleichberechtigt anschließen kann, um
insbesondere auch eine gegenseitige Anerkennung von Asylentscheidungen gewährleisten zu können.
Die diesbezügliche Einigung ist uns am vergangenen Freitag — die Presse schrieb: überraschend — gelungen. Unser Asylgrundrecht, meine Damen und Herren, ist jetzt europafähig. Ich darf sagen: Wer — wie wir alle — die politische Einigung Europas will, der muß auch seine Gesetze so anpassen, daß sie mit den Rechtsordnungen der anderen europäischen Staaten kompatibel sind, daß sie mit diesen Rechtsordnungen übereinstimmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich darf betonen, daß sich die jetzt von uns gefundene Lösung der Asylproblematik auch mit den Vorstellungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften trifft.
Meine Damen und Herren, eines gilt es auszuräumen, nämlich den immer wieder vernommenen Vorwurf, wir hebelten mit den vorgetragenen Ergänzungen das Recht auf Asyl aus,

(Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: So ist es! — Gegenruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)

ja, wir verstießen gegen unsere völkerrechtlichen Verpflichtungen. Dies meine Damen und Herren, entbehrt jeglicher Grundlage;

(Beifall bei der CDU/CSU)

denn das neue Recht stellt sicher, daß jeder politisch Verfolgte Schutz findet. Dies gilt ohne Wenn und Aber.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen ist die Behauptung auf einem Flugblatt, das allen Kollegen des Bundestags zugegangen ist, der Bonner Asylkompromiß führe in die Irre, falsch. Diese Behauptung stimmt nicht mit dem überein, was wir heute vorschlagen. Den politisch Verfolgten — ich sage es noch einmal — wird tatsächlich Asyl und Schutz gewährt, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU und eines Abgeordneten der F.D.P.)

Nur nach den Abkommen von Schengen und Dublin ist entscheidend, in welchem Staat der Asylbewerber als erstes Schutz erreicht hat. Die hierdurch bezweckte Verteilung der Asylbewerber ermöglicht eben eine gerechte Verteilung des Asylbewerberzustroms und der entsprechenden Lasten; denn, meine Damen und Herren, es kann nicht richtig sein, daß diese Lasten innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu mehr als 60 % allein von Deutschland getragen werden.

(Gerd Andres [SPD]: Das stimmt!)

Ja, Herr Kollege, wir sind sicherlich ein reiches Land, aber wir wissen auch, daß nicht alle Probleme hier lösbar sind. Dies gilt erst recht nach der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes. Die Verhandlungen und Gespräche über einen Solidarpakt bringen dies deutlich zum Ausdruck.

(Zurufe von der SPD)




Erwin Marschewski
— Nein, wir können nicht alle Probleme hier in Deutschland lösen.
Soweit aber die Drittstaatenregelung wegen des Zustroms der Asylbewerber insbesondere die Staaten aus dem ehemaligen Ostblock, Polen und die Tschechische Republik, unverhältnismäßig belastet, haben wir unsere Bereitschaft zu ausgleichenden Maßnahmen erklärt. Wir haben dies nicht nur erklärt; die Verhandlungen haben bereits begonnen. Sie wissen, daß Staatssekretär Johannes Vöcking in Warschau war. Sie wissen, daß heute der Innenminister der Tschechischen Republik nach Bonn kommt und daß Rudolf Seiters mit ihm Gespräche führen wird. Wir wollen eine angemessene Beteiligung der Bundesrepublik auch in finanziellen Fragen. Das hat der Asylkompromiß gesagt, und das wollen wir als Bundesrepublik Deutschland auch tun. Dazu fühlen wir uns verpflichtet, meine Damen und Herren.
Die Neuordnung der Asylpolitik, die wir seit langem gefordert haben, konnte endlich erreicht werden. Aber ich sage auch: Sie hätte sicherlich schon eher erreicht werden können und müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wissen, daß wir die möglichen einfachgesetzlichen Änderungen versucht haben. Wir haben in zehn Jahren das Asylverfahrensgesetz rund zehnmal geändert. Wir haben das Ausländeramt in Zirndorf erheblich verstärkt. Wir hatten dort vor zwei, drei Jahren 500 Mitarbeiter; wir sind jetzt bei 3 500 Mitarbeitern.

(Zuruf von der SPD: Das hat lange gedauert!)

Wir haben die Zahl also versiebenfacht.
Ja, meine Damen und Herren, wir haben nun wirklich alles getan — Dank gebührt hier dem Bundesinnenminister —,

(Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

um zu erreichen, daß die vielen Menschen, die in unser Land kommen, auch wirklich entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen behandelt werden. Sie hatten ja die Möglichkeit, zu uns zu kommen.
Ich freue mich darüber, daß wir heute zu einem Kompromiß kommen; denn mit der heute eingebrachten Gesetzesänderung sind wir endlich in der Lage, wirksame legislative und administrative Maßnahmen zur Lösung des Asylbewerberzustroms zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, wir wollen keine Zeit verlieren.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Es ist höchste Zeit!)

Gerade deswegen beraten seit Dienstag Koalition und SPD-Opposition ununterbrochen über ein neues Asylverfahrensgesetz, über ein neues Ausländerrecht, über Leistungsgesetze, über eine Novellierung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes — so heißt dieses Gesetz von 1913.
Zum Schluß meine ganz herzliche Bitte: Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, daß das neue Asylrecht bald in Kraft treten wird. Ich, meine Damen und
Herren, wir alle, und, ich meine, auch Sie, die Opposition, und die Bevölkerung in diesem Lande erwarten eine Lösung. Wir müssen diese Lösung verwirklichen.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213402000
Als nächster spricht Hans-Ulrich Klose.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1213402100
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hat lange gedauert, das ist richtig, denn wir haben uns bei diesem Thema schwergetan, und wir tun uns noch immer schwer, besonders die deutschen Sozialdemokraten. Wir sind dafür kritisiert worden; auch Herr Marschewski konnte eben eine Nebenbemerkung zumindest nicht unterdrücken.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Mild im Verhältnis zum Tatbestand!)

Aber ich finde, wir haben keinen Anlaß, uns wegen unseres Ringens in dieser Frage zu entschuldigen.

(Beifall bei der SPD)

Es geht — ich wünschte, allen wäre das mit dem nötigen Ernst klar — um ein gewichtiges Grundrecht, daß die Autoren des Grundgesetzes nach den bitteren Erfahrungen, die wir in unserer eigenen Geschichte gemacht haben, sehr bewußt in die Verfassung hineingeschrieben haben. Ich habe es in diesem Hause schon einmal gesagt und wiederhole es: Ich werde nicht vergessen, daß zwei der bedeutenden Nachkriegsbürgermeister Hamburgs, Max Brauer und Herbert Weichmann, nach heutigem Sprachgebrauch Asylanten waren, die nur deshalb überlebt haben, weil sie anderswo Asyl gefunden haben. Und wir erinnern uns alle an das Lebensschicksal unseres jüngst verstorbenen Ehrenvorsitzenden Willy Brandt.

(Zuruf der Abg. Andrea Lederer [PDS/Linke Liste])

— Ich will einmal eine Bemerkung in Richtung PDS machen. Ich bemühe mich ja um einen fairen und vernünftigen Umgang auch mit dieser Gruppierung. Aber daß ausgerechnet die PDS, die Nachfolgepartei der SED,

(Zurufe von der PDS/Linke Liste)

die Tausende ins Exil getrieben hat, bis eine Mauer gebaut werden mußte, damit sie nicht mehr fliehen konnten, sich in dieser Frage zur Hüterin der Moral macht, finde ich nicht akzeptabel.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Wir können aus unseren Fehlern wenigstens lernen!)

— Das wäre ja immerhin tröstlich. Wenn Sie denn endlich damit anfangen würden!

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)




Hans-Ulrich Klose
Dazu gehört aber, daß man sich an das erinnert, was in unserer Geschichte geschehen ist. Wir erinnern uns, und dieses Erinnern macht es uns schwer, so schwer, daß eine nicht kleine Minderheit der sozialdemokratischen Fraktion der Grundgesetzänderung am Ende nicht zustimmen wird. Der Kollege von Larcher wird im Verlauf der Debatte für diese Mitglieder sprechen. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, daß ich die Haltung dieser Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht teile, verstehe und respektiere.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Da auf einmal!)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213402200
Ich möchte jetzt doch unterbrechen und sagen: Der Redner hier vorne hat schon erhebliche Zwischenrufe erfahren. Wir sollten einander zuhören. Das Ausmaß der Zwischenrufe darf die Rede nicht so unterbrechen, daß der Redner seinen Gedankengang gar nicht mehr ausführen kann.

Hans-Ulrich Klose (SPD):
Rede ID: ID1213402300
Vielen Dank, Frau Präsidentin, aber es gibt Zwischenrufe, die mich nicht sonderlich stören. Manchmal ist es hilfreich, wenn die Öffentlichkeit solche Zwischenrufe zur Kenntnis nimmt, weil sie zur Erkenntnis beitragen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich habe, meine Damen und Herren, mehrfach erklärt und wiederhole es hier: Die Opposition hat die Aufgabe, die Regierung zu kritisieren und zu kontrollieren. Sie hat ihre Alternativen deutlich zu machen. Sie muß aber um der Menschen und der Sache willen auch zur Zusammenarbeit bereit sein, wenn es nicht anders geht. Das hat nichts mit Anpassung, mit Koalitionsüberlegungen und was da sonst so alles vermutet wird, zu tun. Es geht einzig und allein darum, daß die Opposition die ihr gegebenen beschränkten Mitgestaltungsmöglichkeiten nutzt, um ihren Vorstellungen entsprechend gemeinwohlorientiert zu arbeiten.
Mit dieser Einstellung sind wir in die Verhandlungen über die Zuwanderungs- und Asylproblematik hineingegangen.
Wir haben uns, wie jeder weiß, nur zum Teil durchgesetzt, z. B. nicht bei der Frage der Doppelstaatsangehörigkeit. Hier wäre ein versöhnliches Signal in Richtung auf die lange bei und mit uns lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger möglich und, wie ich finde, auch nötig gewesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wollten das nicht mitmachen. Auch bei unseren Vorschlägen für eine vernünftige Zuwanderungspolitik — genauer: Einwanderung — haben Sie sich nicht sonderlich entgegenkommend gezeigt. Das bedauern wir. Auf der anderen Seite haben auch Sie sich nicht durchsetzen können, vor allem nicht mit Ihrem Ziel, das Asylrecht als Individualrecht abzuschaffen. Der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" wird
auch künftig ein Kernsatz in unserer Verfassung bleiben, und das ist gut so.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was vereinbart worden ist, ist ein Kompromiß. Er bewegt das, was jetzt gemeinsam bewegt werden kann. Wir stehen zu diesem Kompromiß.
Wir bringen heute einen Vorschlag der Fraktionen zur Änderung des Grundgesetzes ein. Das ist ein erster Schritt, um die parlamentarische Beratung voranzubringen. Wir sind uns einig, daß wir, was wir vereinbart haben, im Paket verabschieden, nur im Paket. Ich lege Wert auf diese Feststellung, damit es nicht zu unnötigen Mißverständnissen kommt. Die Sache ist ohnehin schwierig genug, und da sollten unnötige Schwierigkeiten vermieden werden. Hilfreich sind sie ohnehin nicht, wie wir inzwischen gerade bei diesem Thema gelernt haben sollten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, die Ausdehnung des Schengen/Dublin-Mechanismus auf die sogenannten sicheren Drittstaaten — bei deren Bestimmung wir übrigens im Beratungsverfahren durchaus noch einmal überdenken sollten, ob sie durch Gesetz oder möglicherweise durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats erfolgen sollte, das ist nun wahrlich keine Glaubensfrage —, auf Polen, die Tschechische Republik, Österreich und die Schweiz ist ein Kernpunkt der Vereinbarung vom 6. Dezember 1992. Es ist zugleich ein besonders schwieriger Punkt.
Wir haben bei diesem Punkt, dessen politische und außenpolitische Bedeutung uns allen klar ist, immer wieder und mit Nachdruck darauf verwiesen, daß Vereinbarungen vor allem mit Polen und der Tschechischen Republik über Zuständigkeiten, Hilfen und Lastenteilung getroffen werden müssen. Auf die Festschreibung eines formellen Junktims haben wir verzichtet, um die Verhandlungsposition der Bundesregierung nicht übermäßig zu erschweren.
Ich wiederhole hier, was ich in den Verhandlungen, im Gespräch mit den Kollegen Schäuble und Solms, aber auch im Gespräch mit dem Bundeskanzler betont habe: Für uns ist das ein entscheidend wichtiger Punkt, weil wir, die Bundesrepublik Deutschland, die Probleme nicht einfach einseitig bei anderen abladen können und wollen. Wir wenden uns ja auch dagegen, daß derzeit die Probleme ganz überwiegend bei uns abgeladen werden. Alle Gesprächspartner, auch der Bundeskanzler, haben mir versichert, daß sie die politische Bedeutung so sehen wie ich. Der Bundeskanzler hat mir versichert, daß er den Abschluß von fairen Vereinbarungen insbesondere mit Polen zu seiner eigenen Sache machen werde, wofür ich dankbar bin. Die Verhandlungen haben begonnen, was ich gut finde, denn wir sollten uns damit keine Zeit lassen.
Alles in allem, meine Damen und Herren: Die SPD-Bundestagsfraktion steht zu der Vereinbarung vom 6. Dezember 1992. Sie will diese Vereinbarung zügig umsetzen. „Zügig" heißt: so schnell wie mög-



Hans-Ulrich Klose
lieh, aber unter Beachtung der notwendigen Sorgfalt. Ich denke, daß wir uns auch darin einig sind.
Alles in allem also gute Voraussetzungen, um bei diesem, die Menschen so oder so bewegenden Thema zu beweisen, was der Politik derzeit häufig abgesprochen wird: Konsens- und Handlungsfähigkeit. Daran sollte uns allen gelegen sein.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213402400
Als nächster spricht der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1213402500
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Das sagt auch in Zukunft die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Aber dieser Individualanspruch — da hilft kein Herumreden — wird für bestimmte Fälle stark eingeschränkt. Es hat deswegen Kritik in den Parteien — auch in meiner — und insbesondere auch aus den Kirchen gegeben. Wir Liberalen haben uns schwergetan, einer solchen Einschränkung zuzustimmen. Ich selbst habe mich auch lange — aus heutiger Sicht vielleicht zu lange — gegen den Gedanken einer Änderung gewehrt. Liberale, freiheitlich denkende Menschen gehören in Diktaturen immer zu den ersten Opfern, kommen sie nun in rechtem oder linkem Gewand. Sie werden deshalb in besonderer Weise verfolgt und sind auf wirksamen Schutz angewiesen.
Aber das vergangene Jahr mit seiner Steigerung der Asylbewerberzahlen um über 70 % hat überdeutlich gemacht, daß dieses Land die gesamte Zuwanderung — nicht nur in diesem Bereich — besser steuern muß. Es hilft nicht der Hinweis, daß das Asylverfahrens-Beschleunigungsgesetz noch nicht voll umgesetzt ist. Ein bloßes Nachrechnen zeigt, daß eine derart große Zahl von Asylbewerbern wie im letzten Jahr nicht in den einzurichtenden zentralen Aufnahmestellen unterzubringen ist. Ein Beschleunigungseffekt bei der Prüfung der Begehren wird daher mit Sicherheit allein durch dieses Gesetz nicht eintreten.
Wir haben uns in all den Jahren der ständig steigenden Asylbewerberzahlen im Zweifel immer zugunsten der möglicherweise politisch Verfolgten entschieden. Wir haben jetzt das Recht und die Pflicht zu einer notwendigen kritischen Bestandsaufnahme.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dazu gehört, daß nach Ende der Diktaturen und der politischen Verfolgungen in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks gerade aus diesen Ländern eine besonders große Zahl von Menschen kommt, die Mehrzahl nicht aus Gründen politischer Verfolgung, sondern aus wirtschaftlichen Erwägungen. Wir, die Satten, haben nicht den geringsten Anlaß, uns über diese Menschen zu mokieren. Auch unsere Landsleute hat in verschiedenen Perioden der Geschichte der Hunger in die Flucht getrieben. Aber es gehört zu den Ehrlichkeiten in einer Bestandsaufnahme, daß dann nicht Art. 16 GG die Basis für eine Aufnahme in diesem Land sein kann.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wie soll das nötige Vertrauensverhältnis zwischen der Mehrzahl der Ankömmlinge und uns entstehen, wenn die erste Begegnung mit einer falschen Behauptung, nämlich der, politisch verfolgt zu sein, beginnt? Ist es unmenschlich, zu sagen: Wir lösen die Probleme in der Heimat nicht dadurch, daß wir hier die Menschen aufnehmen, sondern durch Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit finanzieller und ideeller Hilfe vor Ort? Jeder, der ohne politisch verfolgt zu sein, um Asyl nachsucht, blockiert einen Platz in unserem Land für andere, die des Schutzes vielleicht noch dringender bedürfen. Ich denke etwa an die vergewaltigten und geschundenen bosnischen Frauen und Mädchen, die Opfer des Bürgerkriegs geworden sind. Ist es unmenschlich, in einer Abwägung zu sagen: Wir möchten lieber noch mehr von ihnen aufnehmen?
Zu einer Bestandsaufnahme gehört für mich eine Erfahrung, die ich vor einigen Jahren beruflich gemacht habe. Eine Schlepperorganisation hatte einen Mann in Sri Lanka, der über zwei Taxen verfügte und damit sicherlich nicht zu den Armen gehörte, dazu gebracht, diese Fahrzeuge zu verkaufen und noch einen weiteren stattlichen Devisenbetrag bei den Verwandten zu sammeln. Er stand nach seiner Entdeckung auf Grund zweier sich widersprechender Asylerklärungen vor dem menschlichen und finanziellen Ruin. Ist es tatsächlich unmenschlich, diesen Schleppern die Grundlage für ihr verbrecherisches Handwerk zu entziehen?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Die Bundesrepublik hat es sich nicht leichtgemacht, obwohl sie seit langem etwa zwei Drittel der Flüchtlinge in der Europäischen Gemeinschaft aufnimmt. Wir haben das Asylrecht nicht schon bei 20 000 Asylbewerbern verschärft, wie das vor wenigen Wochen in Großbritannien geschehen ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

Die Novellierung des Asylrechts hält sich exakt an die Genfer Flüchtlingskonvention. Sie läßt die Abweisung in ein sicheres Drittland zu, die wir in Art. 16 a Abs. 2 vorsehen. Es ist kein Verstoß gegen Menschenrechte, wenn wir jemanden auf den Schutz verweisen, um den er in einem sicheren Drittland hätte nachsuchen können. Es gibt ein Menschenrecht auf Schutz vor Folter, vor unmenschlicher Behandlung, aber kein Menschenrecht auf Schutz vor politischer Verfolgung im Wunschland. Nur durch diese Bestimmung können wir unsere Nachbarstaaten betroffener machen, insbesondere die, die in ähnlich günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben wie wir, etwa Österreich. Ist es ungerecht, für Europa das einzufordern, was wir zwischen den einzelnen Bundesländern in Deutschland selbstverständlich vorsehen, nämlich eine an der Größe und Einwohnerdichte orientierte Verteilung der Flüchtlinge auf die verschiedenen Gebiete?

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Bei Gesprächen mit Kollegen aus europäischen Nachbarländern über eine bessere Verteilung findet man bisher keinerlei Bereitschaft zu einem solchen Burden-sharing, zu einer gerechten Lastenverteilung. Nicht einmal angesichts der schreienden Not der



Jörg van Essen
bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge waren unsere Nachbarn dazu bereit. Ohne Druck ist dies im Bereich der wirtschaftlichen Flüchtlinge noch weniger zu erwarten.
Wir stehen dennoch mit ausgestreckter Hand da. Wir sind bereit, politisch Verfolgte bei einer gerechten Lastenteilung von unseren Nachbarn, insbesondere von Polen und der Tschechischen Republik, zu übernehmen. Dies war schon beim Asylkompromiß am 6. Dezember 1992 übereinstimmende Auffassung. Wir haben es durch eine geänderte Einleitung des Abs. 2 noch deutlicher gemacht. Art. 16a Abs. 2 GG schafft die notwendige Grundlage für Gespräche über eine gerechte Verteilung der politischen Flüchtlinge in ganz Europa.
Die Regelung über die sicheren Herkunftsländer, also Art. 16a Abs. 3 GG, wird ebenfalls den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention gerecht. Die Schweiz hat mit einer ähnlichen Regelung positive Erfahrungen gemacht. Es ist nicht ungerecht, denjenigen, der aus einem Land kommt, in dem gewährleistet erscheint, daß weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfinden, bei einem Asylbegehren mit höheren Anforderungen zu belasten als jemanden, der aus einem Land kommt, in dem diese Vermutung nicht besteht. Im Gegenteil: Im Verbund mit der notwendigen Einschränkung des Rechtsschutzes in Abs. 4 ist sichergestellt, daß die Verwaltungs- und Gerichtskapazitäten in Zukunft besser für die genutzt werden können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit politisch verfolgt sind, etwa weil sie aus Myanmar, aus dem Irak oder Iran kommen.
Die rechtliche Prüfung nach dem Asylkompromiß hat gezeigt, daß eine vollständige Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen von Schengen und Dublin in der Bundesrepublik Deutschland mit dem damals gefundenen Kompromiß nicht möglich ist. Diesem Ziel soll nun der neue Abs. 5 dienen. Den meisten von Ihnen wird es so gehen wie mir, daß es nämlich mehrerer Leseversuche bedarf, bis sich der Sinn der Vorschrift voll erschließt. Wir sollten, ohne den Inhalt des Absatzes zu ändern, über eine bessere sprachliche Fassung nachdenken. Inhaltlich besteht aber kein Zweifel daran, daß der Abs. 5 die notwendige verfassungsrechtliche Grundlage für Zuständigkeitsregelungen über die Prüfung von Asylbegehren und die gegenseitige Anerkennung von Asylentscheidungen schafft, wenn eine Einschätzung ergibt, daß diese Staaten die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherstellen.
Die heutige Debatte ist ein Zeichen dafür, daß eine lebendige Demokratie nach sorgfältiger Diskussion zu einer Lösung kommen kann. Ich freue mich sehr darüber, daß wir so kurz nach dem Kompromiß vom 6. Dezember 1992 die erste Lesung im Plenum haben. Die Bürger haben dies zu Recht von uns erwartet.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ein Kompromiß kann nicht alle einschließen, insbesondere dann nicht, wenn er drei Parteien umfaßt. Ich habe großen Respekt vor den Kollegen, die dem heutigen Entwurf nicht zustimmen können. Aber ich
bitte sie nachdrücklich, uns, die wir zustimmen, nicht in eine Ecke der Unmenschlichkeit zu stellen, wie ich es hier und da im Vorfeld gehört habe.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auch die, die das bisherige Asylrecht ganz oder in weiten Teilen beibehalten wollen, können im übrigen nicht ausschließen, daß auch nach dem bisherigen Verfahren der eine oder die andere tatsächlich politisch Verfolgte nicht als solcher bzw. solche anerkannt worden ist.
Der Blick muß in zweierlei Hinsicht nach vorn gehen. Erstens: Eine europäische Lastenverteilung muß mit einer stärkeren wirtschaftlichen und ideellen Hilfe für die Hauptherkunftsländer gekoppelt sein. Sie muß auch in Zukunft politisch Verfolgten sicheren Schutz geben.
Zweitens. Eine Entlastung durch eine geringere Flüchtlingszahl aus wirtschaftlichen Gründen gibt unserem Land Gelegenheit, sich einer gesteuerten Zuwanderung zu öffnen, die wir schon wegen der demographischen Entwicklung brauchen. Die Vorsitzenden der Wirtschaftsverbände haben dies in aller Deutlichkeit vor wenigen Monaten ausgesprochen.
Die F.D.P. wird an beiden Zielen konstruktiv mitarbeiten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213402600
Als nächste Rednerin spricht die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1213402700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als die Mauern und Grenzen zwischen Ost und West fielen, war die Hoffnung auf Freizügigkeit und eine Erweiterung der demokratischen Kultur groß. Heute, knapp drei Jahre später, bereitet die Regierung das Land auf eine Abschottung gegenüber Flüchtlingen vor, will sie die Mauer in ihrer modernen, der elektronischen Variante wieder aufbauen — etwas weiter östlich —, schmeichelt sie den Parolen der Rechtsextremisten und ist emsig bemüht, die Verfassung dafür hinzurichten.

(Zurufe von der CDU/CSU: Dummes Zeug! — Schlimm, was Sie da sagen!)

Die Anschläge der Regierung auf das Grundgesetz — nicht nur beim Asylrecht, sondern auch in der Frage des Bundeswehreinsatzes — sind längst zur Wiederholungstat geworden; mehr noch: Sie beginnen, sich langsam zu einem verfassungspolitischen Schlachtfest auszuweiten, bei dem niemand mehr sicher sein kann, ob demnächst nicht auch noch das Streikrecht, die Versammlungsfreiheit oder sogar die Koalitionsfreiheit unters Messer kommen.
Das vor allem anderen Betrübliche aber ist, daß dieses verfassungspolitische Schlachtfest ohne Hilfe der Sozialdemokratie gar nicht möglich wäre, daß dieses erst mit ihrer Hilfe zu der Gefahr für die Demokratie in unserem Land wird. Das dürfen wir heute nicht übersehen.



Ulla Jelpke
Worüber wir heute diskutieren, ist nichts anderes, als die faktische Aufhebung des Asylrechts.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das gibt es doch gar nicht!)

Wenn wir das, was als Asylkompromiß von CDU/ CSU, F.D.P. und SPD heute in erster Lesung vorliegt, einmal von seiner geschraubten Schwerverständlichkeit entkleiden und auf seinen Kern reduzieren, so könnte das Grundgesetz einfacher und ehrlicher auch durch folgende zwei Sätze erklärt werden: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, falls sie es schaffen, in unser Land zu kommen; das aber werden wir mit allen Mitteln verhindern.
Darum geht es heute. Das soll beschlossen werden. Und dagegen werden wir uns mit allem, was uns möglich ist, wehren.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Meine Hoffnung, diese Grundgesetzänderung noch mit Mitteln der politischen Überzeugung aufzuhalten, ist auf ein Minimum verkümmert. Dennoch will ich versuchen, Sie noch einmal auf das Gefährliche dieses Tuns aufmerksam zu machen; dies geht insbesondere an die Sozialdemokratie, aber auch an einzelne aus den Koalitionsfraktionen.
Ich möchte Sie an Hermann von Mangoldt erinnern, nach dem Krieg CDU-Mitglied und Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen und Grundrechte des Parlamentarischen Rates. Mangoldt erklärte am 4. Dezember 1948 bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat:
Wenn wir irgendeine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgend etwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müßte an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Das genau passiert nun, und für die CDU ist festzustellen, daß sie das demokratische Gewissen, das es am Anfang im nachfaschistischen Deutschland in dieser Frage auch in ihren Reihen gab, nur noch als eine Jugendsünde ihrer Partei sieht. Sie emanzipieren sich von den Lehren des deutschen Faschismus. Sie wischen sie vom Tisch. Und was ein geschichtlicher Bruch war, wird heute zum Wiederanknüpfungspunkt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Dummheit!)

Es ist doch so: Wer bereit ist, politisch Verfolgten den Schutz zu verwehren, wird unter anderen Umständen auch bereit sein, selber politische Verfolgung auszuüben.

(Zurufe von der CDU/CSU)

Das liegt in der Logik der Sache, und das meine ich mit allem Ernst.
Die Debatte um die Aushebelung des Asylrechts wird seit ein, zwei Jahren mit nie dagewesener Demagogie inszeniert und forciert, wobei die rechtskonservativen Akteure auf der Regierungstribüne und die rechtsextremistischen Akteure auf der Straße
so handeln, als gäbe es ein gemeinsames Drehbuch.
Die angestrebte Asylrechtsänderung ist eine fast wortwörtliche Erfüllung des Programms der Schönhuber-Partei aus dem Jahre 1990. Darin heißt es:
Im einzelnen fordern wir: kein Asylanspruch bei vorausgegangenem Aufenthalt in einem Staate, in dem keine Verfolgung drohte, oder bei bereits erfolgter Ablehnung in einem anderen Staat, Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften während des Asylverfahrens zur Entlastung des Wohnungsmarktes, Sach- statt Geldleistungen sowie gemeinnützige Arbeit während des Asylverfahrens. Das Asylverfahren ist zu beschleunigen. Abgelehnte Asylbewerber sind unverzüglich abzuschieben. Kein Aufenthaltsrecht durch „Altfallregelungen" der Länder.
Halten Sie die vorliegende Bundestagsdrucksache daneben, so werden Sie überlegen müssen, ob bei deren Ausarbeitung Herr Schönhuber persönlich als Berater anwesend war oder ob irgend jemand im Innenministerium oder im Kanzleramt ihn nur um eine Zusendung gebeten hat.
Ich frage noch einmal: Was ist in den Köpfen vor sich gegangen — auch Sie, Herr Klose, frage ich: Was ist in Ihrem Kopf vorgegangen? —, daß die inhaltliche Identität der beiden Dokumente nicht aufgefallen sein soll?

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Wenn die Forderungen der Republikaner schon das sind, was anschließend als Kompromiß zwischen CDU/CSU, F.D.P. und SPD ausgegeben wird, wie weit außerhalb des demokratischen Spektrums müssen dann die eigentlichen Positionen der CDU/CSU liegen, die, das wissen wir ja, niemals mit dem Erreichten ganz zufrieden sind und die Handschellen um das Grundgesetz ständig enger schließen wollen?

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit!)

Fragt denn niemand mehr in der Sozialdemokratie, ob Willy Brandt je nach Norwegen oder Schweden, Erich Ollenhauer, Hans Vogel, Max Born und Kurt Hiller je nach Großbritannien, Max Brauer und viele andere je in die USA oder anderswohin gelangt wären, wenn diese Länder die Aufnahme von Flüchtlingen aus Nazideutschland so geregelt hätten, wie es jetzt in der deutschen Verfassung geschehen soll?
Der Hamburger Politologe Professor Wolfgang Gessenharter hat im Oktober 1991 in der „Frankfurter Rundschau" die Feststellung getroffen:
Abschottung gegen alles Fremde von außen und Herstellung dieser Homogenität nach innen — dieses Kernstück eines antidemokratischen und obrigkeitsstaatlichen Denkens prägt das neue Programm der Schönhuberisten.
Ich habe dieses Zitat im übrigen in einer von Ihrem Bundesgeschäftsführer, Herrn Hintze, erstellten Dokumentation gefunden. Aber das gleiche antidemokratische und obrigkeitsstaatliche Denken soll jetzt dem Grundgesetz eingeblasen werden. Herr Hintze hat in seiner Ausarbeitung ferner festgestellt, daß die



Ulla Jelpke
Schönhuber-Partei den Eindruck erwecke, „als drohe die nationale Identität der Deutschen durch eine Ausländer- und Asylantenflut verlorenzugehen. Ausländer werden zu Sündenböcken gestempelt, die für eine Vielzahl von wirtschaftlichen und sozialen Problemen verantwortlich gemacht werden."
Das ist ja richtig. Aber merkt denn niemand, welche Heuchelei es ist,

(Zuruf von der CDU/CSU: Heuchelei war gut!)

dies anzugreifen und gleichzeitig Vorlagen einzureichen, für die die Schönhuber-Partei das Copyright hat?

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

Das abzukupfern sollte für die Verfassung einer demokratischen Gesellschaft absolut ausgeschlossen sein.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie reden, müßten wir Schmerzensgeld bekommen!)

Es müßte nüchternerweise ja auch festgestellt werden, daß die Viertel- und Halbwahrheiten, mit denen das Gespenst einer Ausländer- oder Asylantenflut an die deutschen Stammtische geschickt wurde, aus den Regierungsbüros selber und insbesondere dem Innenministerium geliefert wurden.
Jeder hier im Hause weiß, daß das Innenministerium Statistiken über Asylbewerberinnen und -bewerber und Einwanderungen in der Bundesrepublik in einer Art und Weise anfertigt und herausgibt, bei der man nie sicher sein kann, ob dies unter der Verantwortung von Herrn Minister Seiters oder Herrn Kujau geschah.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt reicht es aber langsam!)

Wie falsch die offiziellen Statistiken sind, ist doch durch eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage des Abgeordneten Peter Conradi selbst deutlich geworden.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer ist eigentlich Kujau? Der Spitzenkandidat der PDS?)

Wo tauchen denn in den Statistiken des Innenministeriums z. B. die Zahlen von Immigranten und Flüchtlingen auf, die Monat für Monat aus diesem Land das Weite suchen oder suchen müssen?
Diese Zahlen zu unterschlagen, um die Stimmung an den Stammtischen für eine Änderung des Asylrechts und weitere Abschottungen zu munitionieren, damit man sich anschließend wieder darauf berufen kann, ist demagogisch, ist Irreführung und ist Fälschung. Das sage ich ganz deutlich, und das kann und soll auch jeder hier hören. Ich werfe Herrn Seiters vor, daß er Zahlen fälscht oder fälschen läßt.

(Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist unerhört!)

Mit der geplanten Grundgesetzänderung wird Deutschland endgültig ein asylfeindliches und ausländerfeindliches Land. Die deutschnationale Stimmung — —

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213402800
Frau Jelpke, diesen Vorwurf gegen eine Person, sie fälsche Zahlen, kann ich hier nicht stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1213402900
Das mag sein, aber das ändert nichts am Wahrheitsgehalt.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Die deutschnationalen Stimmungen, die sich allein im letzten Jahr in mehr als 4 600 neofaschistischen und fremdenfeindlichen Straftaten und 17 Toten niederschlug, werden durch die faktische Abschaffung des Asylrechts nicht besänftigt, sondern befriedigt und damit zu weiteren Verbrechen ermuntert. Sie werden ermuntert durch einen Deutschnationalismus dieser Regierung, die schon bei ihrem Amtsantritt vor zehn Jahren — und Sie, Herr Marschewski, haben sich damit auch noch gebrüstet — durch ihre Vertreter in den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten dafür gesorgt hat, daß das dumpfe Deutschtum durch allabendliches Abspielen der Nationalhymne betrieben wird, also auch dann noch, wenn man ins Bett geht. Sie werden ermuntert durch einen Nadelstreifenrassismus, der sich Stück für Stück auf der Regierungsbank breitgemacht hat.

Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213403000
Ihre Redezeit ist zu Ende, Frau Jelpke.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1213403100
Wenn diesem Vorhaben aus der Opposition die Hand gereicht wird, dann wird es kalt in Deutschland, sehr kalt.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe von der CDU/CSU)


Dr. Rita Süssmuth (CDU):
Rede ID: ID1213403200
Als nächster spricht der Abgeordnete Konrad Weiß.

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213403300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es fällt mir wirklich schwer, nach dieser Rede einer Kollegin aus jener Partei zu reden, die die Mauer gebaut und die in der DDR alles andere als Asyl bewahrt und gewährt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. — Dr. Ruth Fuchs [PDS/Linke Liste]: Gratulation, Herr Weiß!)


(Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt)

Aber es ist die fatale Politik Ihrer Fraktionen, die dazu geführt hat. Denn nun wollen es die Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD also tatsächlich wahrmachen: Sie wollen das Recht auf Asyl für Verfolgte aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbannen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aber das ist doch nicht wahr!)




Konrad Weiß (Berlin)

Dieser Asylkompromiß ist nicht nur ein fauler Kompromiß, er ist ein unehrlicher Kompromiß,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

der den Bürgerinnen und Bürgern den Erhalt des Menschenrechts auf Asyl vorgaukelt, in Wahrheit aber den Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes so verstümmelt, daß er nicht mehr wiederzuerkennen ist und nichts mehr gilt. Dieser Asylkompromiß erfüllt mich mit Zorn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.])

Mit einer Unverfrorenheit sondergleichen schreiben Sie im ersten Satz Ihres Entwurfs: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" , um diese Zusage sogleich in den folgenden Sätzen zu widerrufen. Sie sagen jenen, die kommen wollen: Ihr, die ihr verfolgt und bedrängt seid, seid uns willkommen; ihr werdet in Deutschland Zuflucht und Heimat finden. — Aber zugleich schließen Sie die Tore, durch die diese Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten.
Es ist beschämend, daß im deutschen Parlament über einen solchen Entwurf auch nur debattiert wird, einen Entwurf, der in den Hinterzimmern der Parteitaktiker ausgehandelt wurde und aufs billigste der Stimmung von Biertischstrategen entspricht.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Es ist unwürdig, so mit dem Grundgesetz umzuspringen, und schadet unserem Land und unserer Demokratie.

(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist unwürdig, was Sie eben gesagt haben!)

Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als werteorientierte Partei wird bei diesem würdelosen Deal nicht mitmachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich mache kein Hehl daraus, daß es mich schmerzt, in diesem ersten Bundestag des vereinigten Deutschlands das miterleben zu müssen. Als vor drei Jahren über den Einigungsvertrag verhandelt wurde, mühten wir Ostdeutschen uns, unsere Erfahrungen und unsere Vorstellungen in das Grundgesetz einzubringen. Wir wurden zurückgewiesen, weil sich das Grundgesetz doch bewährt habe und keine Änderung notwendig sei. Und nun sind vor allem wir Ostdeutschen es, die das Grundgesetz verteidigen.
Es hat mich ermutigt, daß es in der Fraktion der SPD sehr viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die entschieden ablehnen, was ihre Parteiführung ausgeheckt hat. Tausende, ja wenn ich den Nachrichten glauben darf, 10 000 Mitglieder der SPD haben ihre Partei verlassen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Zu Ihnen sind sie nicht gekommen!)

weil sie an diesem Verrat an sozialdemokratischen Idealen nicht mitschuldig werden wollten, weil sie nicht ertragen konnten, daß praktizierte Solidarität nicht nur durch die Unfähigkeit der Regierung
unmöglich wird, sondern auch durch die Schwäche und Hilflosigkeit der Parteiführung der SPD.

(Beifall des Abg. Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn einer wie Günter Grass sich schmerzvoll von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgewandt hat, bringt das Björn Engholm und Sie, Herr Kollege Klose, denn nicht zum Nachdenken und zur Umkehr?
Ich hoffe noch immer darauf, daß auch in der F.D.P. und in den Unionsparteien sich mutige Dissidenten finden, die nein sagen, nein zu einem Verfahren, das weder liberal noch christlich ist. Verfolgten Zuflucht gewähren, den Gefangenen Befreiung verschaffen, mit denen teilen, die nichts haben — ich kann nicht glauben, daß das in Ihren Parteien nichts mehr gilt. Es können doch nicht allein Abgeordnete vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, die leidenschaftlich versuchen, christliche und liberale Werte auch unter den schwierigen Bedingungen des vereinigten Deutschlands zu bewahren, und die nach realen Alternativen suchen, die tragfähig sind.
Ich wende mich an jede Kollegin und jeden Kollegen in diesem Hohen Hause: Prüfen Sie gewissenhaft diesen Text, der Ihnen von der Fraktionsführung vorgelegt wurde! Machen Sie sich sachkundig und lassen Sie allein Ihr Gewissen entscheiden! Ich bin sicher, es gibt die reale Chance, daß wir gemeinsam diese untaugliche Verfassungsänderung verhindern.
Natürlich wissen auch wir um die Probleme, die die große Anzahl der Asylbewerber uns bringt. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt nicht einfach Ihre Vorschläge ab, weil es Vorschläge der CDU/CSU oder der SPD sind.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213403400
Herr Kollege Weiß, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lüder gestatten?

Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213403500
Wir sind keine Anti-Partei — ich würde gern den Satz zu Ende bringen —, sondern wir wissen uns wie Sie in der Verantwortung und nehmen diese Verantwortung wahr. — Herr Kollege Lüder, natürlich.

Wolfgang Lüder (FDP):
Rede ID: ID1213403600
Herr Kollege Weiß, gerade weil ich Ihren Argumenten sehr nahe bin, stelle ich die Frage, ob Sie nicht gehört haben, daß Herr Kollege van Essen heute selbst darauf hingewiesen hat, daß es in meiner Fraktion auch eine Minderheit gibt, die zu dieser Entscheidung nein sagen wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213403700
Ich denke, diejenigen in diesem Hohen Haus, die zu diesem Kompromiß nein sagen werden, sollten den Mut haben, sollten offensiv werden, ihre Position, unsere Position zu verteidigen, offenzumachen, zu diskutieren, damit noch ein letztes Mal, bevor dieser tiefgreifende Schritt unternommen wird, darüber nachgedacht wird, was damit eigentlich bewirkt wird.

(Zurufe von der SPD)




Konrad Weiß (Berlin)

Wir werden uns nicht für verlogene Scheinlösungen hergeben. Wir werden uns nicht hergeben für ein Gesetz, das die Menschenrechte beugt. Wir werden uns nicht anmaßen, andere Lander in Verfolger- und Nichtverfolgerstaaten einzuteilen. Wer sind wir denn, daß wir das dürften? Schon ein erster Blick auf ihre Listen zeigt, wie unverantwortlich und inhuman diese Konzeption ist. Obwohl dort Menschen entrechtet, diskriminiert oder verfolgt, getötet, gefoltert werden, wollen Sie Bulgarien und Pakistan, Togo und Rumänien, Zaire und Indien, Liberia und Ghana zu sogenannten Nichtverfolgerstaaten machen. Können Sie wirklich wollen, daß Menschen ohne rechtliche Prüfung, ja sogar ohne Anhörung dorthin zurückgeschickt werden, wo ihnen Verfolgung, Folter und Mord drohen?

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist doch rundum falsch, Herr Weiß!)

Wir werden nicht die Unverfrorenheit gutheißen, mit der durch diesen Entwurf in die Souveränität der Republik Polen und der Tschechischen Republik eingegriffen wird. Soll das ernsthaft der Politikstil des großgewordenen Deutschlands sein? Hat Ihnen der deutsche Botschafter denn nicht mitgeteilt, welches Echo Ihre Anmaßung in der polnischen Presse und bei den Bürgerinnen und Bürgern gefunden hat? Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert die Bundesregierung auf, sich bei unseren Nachbarn in aller Form zu entschuldigen.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das können Sie ja tun!)

Wir jedenfalls werden unsere Freunde aus der Solidarnosc und aus der Demokratischen Union ermutigen, sich den Erpressungsversuchen der deutschen Regierung nicht zu beugen. Das sind wir unseren Freunden dort und das sind wir vor allem Deutschland schuldig. Wir werden Ihnen nicht in das sophistische Rechtslabyrinth Ihrer Advokaten folgen, das Deutschland nur in die Irre und ins Abseits führen kann. Anstatt mit unseren Nachbarn ernsthaft über gemeinsame Lösungen zu verhandeln, formulieren Sie ein Verfassungsrecht, das abstrus und heuchlerisch ist.
Übersetzt man die Absätze 2 und 3 Ihres neuen Art. 16a aus dem Kauderwelsch ins Deutsche, so steht dort geschrieben: Wer auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland einreist, genießt kein Asylrecht. Asylrecht genießen politisch Verfolgte, die mit dem Flugzeug oder per Schiff einreisen und die wohlhabend genug sind, um diese Reise zu finanzieren.
Das ist die äußerste Perversion dessen, was Art. 16 Abs. 2, so wie er gilt, meint.
Die Differenzierung nach unterschiedlichen Verfolgungswegen bewirkt zweierlei Recht für Menschen, die verfolgt wurden, und dies aus Gründen, die mit der Verfolgung nichts zu tun haben. Nach Ihrem Vorschlag gehört das Asylrecht in die Kompetenz des Verkehrsministers.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und der versteht von nichts was!)

Glauben Sie wirklich im Ernst, daß eine solche absurde Regel Bestand haben wird? Das Problem der Zuwanderung wird uns auch in Zukunft beschäftigen, mit oder ohne Grundgesetzänderung, mit Art. 16 Abs. 2 oder mit Ihrem Art. 16a.
Statt aber nach einer politischen Lösung zu suchen, schieben Sie die Verantwortung nach dem SanktFlorians-Prinzip auf andere Länder. Sie machen das Grundgesetz der Deutschen zu einer bürokratischen Dienstanweisung und öffnen der Beamtenwillkür Tür und Tor.

(Zuruf von der CDU/CSU: Na! Na!)

Durch die Eingliederung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland machen Sie das Grundgesetz abhängig von Entscheidungen, die außerhalb unserer Hoheit liegen. Würde der Deutsche Bundestag dem zustimmen, beschnitte er sich selbst in seiner alleinigen Kompetenz.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die Konvention ist doch von uns unterschrieben worden! Es ist doch Quatsch, was Sie hier sagen!)

Nicht das deutsche Parlament, sondern Drittstaaten würden künftig in diesen Fragen über die deutsche Verfassung bestimmen. Jede Novellierung der genannten Konventionen würde automatisch eine Änderung unseres Grundgesetzes mit sich bringen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Auch das ist falsch!)

Eine solche Konstruktion ist, gelinde gesagt, eine Torheit und verfassungsrechtlich nicht haltbar.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist schon wieder falsch, Herr Weiß! Das geht doch nicht mehr so weiter! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Das ist juristisch falsch!)

Auch aus einem anderen Grund sind Ihre Vorstellungen aufs höchste bedenklich. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt erklärt, dem Begriff der politischen Verfolgung gemäß Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes liege die Überzeugung zugrunde, daß die Menschenwürde unverletzlich sei, wie es die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes im Art. 1 unveränderlich bestimmt haben.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213403800
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage, eine Frage des Kollegen Schmude?

(Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Kollege Schmude, bitte.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1213403900
Herr Weiß, da ich nach Ihrer vorherigen Ankündigung, auch Sie sähen das Problem und wollten sich einer konstruktiven Mitarbeit oder einer konstruktiven Alternative nicht verweigern, immer noch auf diese Alternative warte, frage ich Sie: Haben Sie auch irgend etwas an



Dr. Jürgen Schmude
Vorschlägen zu bieten, oder meinen Sie, es könnte so bleiben, wie es ist?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213404000
Herr Kollege Schmude, ich denke, Sie sollten doch wissen, daß die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Einwanderungsgesetz vorgelegt hat, ein Gesetz vorgelegt hat zur Änderung des Staatsbürgerbegriffes, ein Gesetz zu einer Novellierung des Niederlassungsrechtes eingereicht hat, einen Gesetzentwurf zu einem Flüchtlingsgesetz eingereicht hat — all das sind Änderungsvorschläge, die unterhalb einer Grundgesetzänderung liegen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

die aber eine neue Flüchtlings- und Asylpolitik möglich machen würden. Ich denke, wir haben das Unsere getan, so viel, wie das mit den Kräften von acht Abgeordneten möglich ist. Wenn Ihre großen Parteien zu nichts anderem kommen als zu einem solchen faulen Kompromiß, dann frage ich mich wirklich: Wie ernsthaft haben Sie dieses Problem angegangen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zeigen Sie Mut, meine Damen und Herren, und verfrachten Sie Ihren Entwurf dorthin, wo er hingehört: ins Kuriositätenkabinett oder ins Archiv für faule Kompromisse. Aber verschonen Sie die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes damit! Denn die erwarten von uns nicht, daß wir Deutschland zur Festung ausbauen, sondern daß wir es öffnen.
Millionen sind auf die Straße gegangen, um der Fremdenfeindlichkeit und der törichten Abschottungspolitik eine Absage zu erteilen. Sie erwarten mit Recht vom Parlament und von der Regierung, daß endlich gehandelt wird, daß die Einwanderung gestaltet und politisch verantwortet wird, daß endlich taugliche Rahmenbedingungen geschaffen werden und die gegebenen Gesetze konsequent angewandt werden. Sie erwarten eine verantwortliche und humane Flüchtlingspolitik. Dem wird Ihr Entwurf in keiner Weise gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213404100
Als nächster spricht Herr Bundesminister Rudolf Seiters.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der muß jetzt alles wieder richtigstellen! — Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das schafft er nicht in zehn Minuten!)


Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1213404200
Ich habe ja mehr als zehn Minuten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Parteienkompromiß zur Beschleunigung der Asylverfahren vom Oktober 1991 liegt jetzt 15 Monate zurück, und seit der letzten Beratung des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens im Deutschen Bundestag sind gerade erst sieben Monate vergangen.
Ich habe damals darauf hingewiesen, daß die Lösung der Asylprobleme immer wieder allein in der Zauberformel „Verfahrensbeschleunigung" gesehen
wurde, bisher jedoch immer nur ganz geringfügige Entlastungen möglich waren, die dann von der Entwicklung sofort wieder überholt wurden. Ich habe immer wieder erklärt: Wir werden das Problem ohne eine Änderung des Grundgesetzes nicht lösen oder mildern.
Ich begrüße daher den interfraktionellen Gesetzentwurf zur Schaffung eines neuen Art. 16a des Grundgesetzes, der uns auf dem Gebiet eines der dringendsten Probleme der Innenpolitik einen großen Schritt voranbringt, und ich appelliere an alle Fraktionen, diesen Gesetzentwurf und die noch einzubringenden Gesetzentwürfe zum Asyl- und Ausländerrecht zügig zu beraten. Nach den langen, quälenden Monaten der politischen Auseinandersetzung erwartet die Bevölkerung zu Recht von den demokratischen Parteien und vom Parlament Handlungsfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein, damit das Asylproblem noch in diesem Jahr eine deutliche und für jedermann erkennbare Milderung erfährt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weise in diesem Zusammenhang — und ich möchte mich eigentlich auf einen einzigen Satz beschränken — die Unterstellungen in den Reden meiner Vorredner ausdrücklich zurück, und dem, was Herr Kollege Klose an die Adresse der PDS gesagt hat, will ich mich ausdrücklich anschließen.
Ich mache vier Bemerkungen vorweg:
Erstens: Deutschland bleibt ein ausländerfreundliches Land, bereit zur Aufnahme und zur Gewährung von Schutz für Verfolgte und für Flüchtlinge. Wir werden auch weiterhin unseren humanitären Beitrag und unsere Hilfe bei Bedrohung von Leib und Leben und der Menschenwürde leisten. Politisch Verfolgte genießen auch weiterhin in Deutschland Asylrecht, unter voller Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sprechblasen!)

Zweitens: Ich habe nie die verständlichen Motive derer diffamiert, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns in die Bundesrepublik Deutschland kommen möchten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unter Asylmißbrauch!)

Aber das Asylrecht, das allein den politisch Verfolgten Schutz und Sicherheit gewähren soll, ist zum Instrument einer unkontrollierten Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen umfunktioniert worden. Das können Sie nicht bestreiten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

70 % aller nach Europa strömenden Asylbewerber kommen in die Bundesrepublik Deutschland. Einer solchen Herausforderung ist kein anderes europäisches Land ausgesetzt, und kein anderes europäisches Land würde einem solchen Zustrom tatenlos zusehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)




Bundesminister Rudolf Seiters
Frankreich, die Schweiz, die Niederlande — sie alle haben unlängst ihre Asylgesetze verändert, verschärft oder Neuregelungen angekündigt, Großbritannien schon deshalb, weil man im letzten Jahr mit rund 20 000 Asylbewerbern rechnete.
Wir haben im vergangenen Jahr, es ist gesagt worden, 440 000 Asylbewerber in unser Land bekommen mit einer außerordentlich geringen Anerkennungsquote von 4,3 % durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und entsprechende Entscheidungen der Gerichte.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Das stimmt gar nicht!)

Allein dies zeigt die Dimension und die Dringlichkeit des Asylproblems für uns alle. Wir sind an der Grenze des für unseren Staat Verkraftbaren und Erträglichen angelangt, und wie jeder andere Staat muß auch Deutschland Zuwanderung steuern und begrenzen können. Ohne eine solche Möglichkeit werden Ängste und Unsicherheiten verstärkt, die schädlich sind für den inneren Frieden in unserem Lande.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Drittens: Wir würden es auf Dauer auch nicht durchhalten, beim Asylrecht einen europäischen Sonderweg zu gehen, schon gar nicht gegen den Willen unserer Bevölkerung und auch nicht angesichts der Tatsache, daß unsere westeuropäischen Nachbarn eine demokratische und Asyltradition haben, zum Teil länger als wir in der Bundesrepublik Deutschland.
Deswegen soll der vorgeschlagene Gesetzentwurf unsere gleichberechtigte Teilhabe an europäischen Asyl- und Zuständigkeitsregelungen ermöglichen. Dies ist ein für die weitere europäische Integration bedeutsames Zeichen und unterstreicht, daß Antworten auf die Asylfrage und den Wanderungsdruck nur im gesamteuropäischen Rahmen gegeben werden können.
Wer das Bekenntnis zu Europa, zu internationaler Zusammenarbeit auch bei der Bewältigung der Asyl- und Flüchtlingsströme ernstnimmt, muß bereit sein, nationale Regelungen aufzugeben und den europäischen Weg voll mitzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Viertens: Wir müssen uns den Spielraum bewahren für die Menschen, die in wirklicher Not und Bedrängnis sind. Ich habe immer für eine großzügige europäische Lastenteilung zugunsten von Flüchtlingen vor Krieg und Bürgerkrieg geworben angesichts der schrecklichen Bilder von bedrängten, geschundenen und getöteten Menschen in Bosnien-Herzegowina. Und weil die Aufnahmekapazitäten unserer Städte und Gemeinden so strapaziert sind, verhandeln wir doch zwischen Bund und Ländern immer wieder nur darüber, ob wir 500 oder 1 000 oder 2 000 oder 5 000 Menschen, die in Not sind, aufnehmen können.
Wir könnten noch viel mehr tun für Menschen, die vom Krieg und vom Bürgerkrieg betroffen sind, wenn wir uns wieder die Handlungsfähigkeit bei der Steuerung von Zuwanderung und den dazu erforderlichen Spielraum verschaffen würden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Bei allem Verständnis für wirtschaftliche Motive sage ich: In allererster Linie gehört die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland den politisch Verfolgten und den Opfern von Krieg und Bürgerkrieg. Das ist jedenfalls meine Position.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir wollen vor diesem Hintergrund erreichen, daß die wirklich politisch Verfolgten schnell anerkannt werden, die nicht politisch Verfolgten keinen Anreiz erhalten, zur Asylantragstellung in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, und die Asylbewerber, die sich zu Unrecht auf Asyl berufen, rasch in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Das heißt, schnelle Entscheidungen und schnelle Abschiebungen; darauf kommt es entscheidend an.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Der vorgeschlagene Gesetzentwurf geht nicht den Weg der von mir, vom Kollegen Stoiber, von der Bayerischen Staatsregierung und von der CDU/CSU- Fraktion empfohlenen und international üblichen institutionellen Garantie, also der Verpflichtung des Staates für Schutzgewährung. Uns wäre es viel lieber gewesen, wir hätten diesen Weg hier im Parlament erreichen können.

(Zuruf von der SPD: Das ist doch alles viel zuwenig!)

Der Asylkompromiß der Parteien beläßt es in seinem Abs. 1 bei dem bekannten Asylgrundrecht aus Art. 16 des Grundgesetzes. Abs. 2 der neuen Vorschrift beschränkt die staatliche Schutzgewährung dann aber auf wirklich schutzbedürftige Ausländer. Das heißt, auf das Asylrecht kann sich nicht berufen, wer über einen Mitgliedstaat der EG oder einen anderen sicheren Drittstaat einreist.
Sichere Drittstaaten in diesem Sinne — ich will das noch einmal ausdrücklich sagen — sind alle EG- Staaten und andere europäische Staaten, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt und in bezug darauf das Vorliegen dieser Voraussetzungen durch Gesetz festgestellt worden ist, so u. a. Polen, Österreich, die Schweiz und die Tschechische Republik.
Diese Verfassungsänderung bedeutet, daß der Ausländer, der aus einem sicheren Drittstaat einreist, keinen grundrechtlichen Anspruch hat, daß die von ihm vorgebrachten Asylgründe in der Bundesrepublik Deutschland geprüft werden.
Von entscheidender Bedeutung ist daher, daß bei der Einreise aus sicheren Drittstaaten die Betroffenen an der Grenze zurückgewiesen oder unverzüglich in den sicheren Drittstaat zurückgebracht werden können. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen können unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden.
Dies ist ein ganz entscheidendes und unverzichtbares Element der vorgesehenen Neuregelung; denn die schnellste Verwaltungsentscheidung ist letzten Endes wirkungslos, wenn auch in diesen Fällen die Aufent-



Bundesminister Rudolf Seiters
haltsbeendigung durch die Anrufung der Gerichte vom Inland her hinausgezögert werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es bleibt den Ausländern unbenommen, von außerhalb des Bundesgebietes, also vom sicheren Drittstaat aus, ihren Rechtsbehelf vor deutschen Behörden bzw. Gerichten zu verfolgen.

(Ulla Jelpke [PDS/Linke Liste]: Zynisch ist das, reiner Zynismus! — Zuruf von der SPD)

Hier liegt ein entscheidender Schlüssel für die Lösung oder Milderung des Problems. Ich wundere mich etwas, weil ich zum Teil wörtlich aus dem gemeinsamen Gesetzentwurf zitiert habe, den die SPD-Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion und die F.D.P.-Fraktion eingebracht haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich lege schon Wert darauf, daß ich alles tun werde, damit dieser Gesetzentwurf in einer fairen und korrekten Weise zügig behandelt und zügig umgesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Wie in der Weihnachtspause!)

— Wie in der Weihnachtspause. - Es gibt kein faireres Verfahren, als der Innenminister der Bundesrepublik angewandt hat; denn unmittelbar nach dem 6. Dezember habe ich einen gemeinsamen Arbeitsstab von Bund und Ländern nicht nur vorgeschlagen, sondern auch eingerichtet und jeden einzelnen Arbeitsschritt besprochen. In diesem Arbeitsstab waren Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen für die A-Länder vertreten. Ich nehme für mich in Anspruch, daß in allen diesen Besprechungen ein sehr gutes, konstruktives und faires Klima geherrscht hat, wie die Länder auch bestätigen können. Das nehme ich für mich in Anspruch.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Auch für die Fälle, in denen der Asylbewerber aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland kommt oder in denen offensichtliche Unbegründetheit vorliegt, führt die vorgeschlagene Neuregelung zu bedeutsamen Änderungen für das Asylverfahren und das vorläufige Bleiberecht.
Kommt ein Ausländer aus einem Staat, bei dem auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, gilt er als nicht politisch verfolgt, es sei denn — das müssen wir doch wohl erwarten dürfen —, er trägt Tatsachen vor, aus denen sich ergibt, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. Auch dies halte ich für ein faires Verfahren.
Ich halte in diesen Fällen auch die Möglichkeit für wichtig, den Prüfungsumfang im Gerichtsverfahren einzuschränken, auch wenn ich bedauere, daß wir nicht haben vereinbaren können, diese Einschränkung des Prüfungsumfangs auch auf das Verwaltungsverfahren auszudehnen, was eine weitere Beschleunigung bedeutet hätte.
Um so mehr möchte ich bereits heute an alle Verantwortlichen appellieren — dem diente auch die Einrichtung des Arbeitsstabes —, sich schon jetzt intensiv auf die spätere praktische Umsetzung der neuen rechtlichen Bestimmungen vorzubereiten, insbesondere in allen Gremien, auch in den Ländern, die personellen, organisatorischen und sächlichen Voraussetzungen zur Durchführung insbesondere der beschleunigten Asylverfahren zu schaffen. Wir müssen auch sicherstellen, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen so zügig und verantwortbar wie möglich durchgeführt werden.
Ich will schließlich die Asylvereinbarungen hervorheben, die sicherstellen sollen, daß Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge einen asylunabhängigen besonderen Aufenthaltsstatus erhalten, und die Erweiterung der Fälle, in denen ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, auf Asylbewerber, die eine schwere Straftat begangen haben oder gegen wesentliche Mitwirkungspflichten im Asylverfahren in zurechenbarer Weise verstoßen.
Es ist niemandem begreiflich zu machen, warum jemand, der erklärt, er werde politisch verfolgt, nach glücklichem Erreichen der Bundesrepublik Deutschland die Stellung eines Asylantrages grundlos verzögert oder seine Mitwirkungspflichten etwa zur Feststellung seiner Identiät in gröblicher Weise verletzt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wir müssen von dem, der sagt, er werde politisch verfolgt, erwarten, daß er alles tut, um seine Anerkennung als politisch Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland möglichst schnell zu erreichen.
Der Parteienkompromiß vom 6. Dezember 1992 sieht vor, daß begleitend zu diesen Gesetzgebungsmaßnahmen mit Polen und den Nachfolgestaaten der CSFR Gespräche aufgenommen werden, in denen diesen Staaten auf dem Gebiet des Asylrechts Zusammenarbeit und Unterstützung angeboten werden soll.
Grundlage dieser Gespräche soll ein Angebot Deutschlands über administrative und finanzielle Hilfe zur Bewältigung der Flüchtlingsprobleme, Regelungen zur Lastenverteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen in besonderen Situationen und die Festlegung von Zuständigkeitsregelungen entsprechend dem Dubliner Abkommen sein.
Ich habe unmittelbar nach dem 6. Dezember erste Gespräche mit den Botschaftern geführt, die beabsichtigten Neuregelungen erläutert und jederzeitige Verhandlungen angeboten. Staatssekretär Vöcking war Anfang dieser Woche für zwei Tage in Warschau zu ersten Sondierungen, nachdem ich in Warschau bereits im August sehr konstruktive und partnerschaftliche Gespräche mit meinem polnischen Innenministerkollegen Milczanowski geführt habe und ihm dort eine besondere Sicherheitspartnerschaft angesichts vieler Probleme, die wir in der Zukunft gemeinsam regeln müssen, angeboten habe.




Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213404300
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1213404400
Bitte schön.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213404500
Bitte, Herr Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213404600
Herr Bundesminister, wie erklären Sie auf dem Hintergrund des eben von Ihnen Dargelegten die öffentliche Äußerung des Herrn Innenministers, daß man in Polen den Eindruck habe, daß die reiche Bundesrepublik Deutschland ihre Lasten auf Polen abzuschieben gedenke?

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1213404700
Von Herr Milczanowski kenne ich diese Äußerung nicht. Daß Polen sicherlich Erwartungen hegt, auch Sorgen hat, wie sich diese neue Regelung in Deutschland auswirken wird, das weiß ich, das müssen wir auch respektieren.
Ich sage noch einmal: Ich habe immer, auch bei vielen europäischen Konferenzen, wo ich für die europäische Lastenteilung geworben habe, den Standpunkt vertreten, daß wir Deutschen im westeuropäischen Bereich mit unseren Problemen nicht allein gelassen werden möchten, nach dem Motto: 70 % aller Asylbewerber kommen nach Deutschland, wenn sie in Westeuropa gelandet sind.
Aber ebenso — da brauche ich meine Position überhaupt nicht zu verändern — weiß ich ganz klar: Die Lösung des Problems kann nicht darin bestehen, daß wir dann Polen und die Tschechische Republik mit ihren Fragen und Problemen allein lassen. Auch dafür werde ich mich einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen habe ich heute morgen auch ein sehr gutes Gespräch mit dem tschechischen Innenminister geführt. Ich will sagen: Das alles ist nicht ohne Schwierigkeiten und nicht ohne Probleme. Im übrigen wird Mitte Februar ja auch die Budapester Konferenz stattfinden, die Nachfolgekonferenz der Berliner Konferenz vom Oktober 1991, wo wir alle uns geschworen und versichert haben und uns auch in die Selbstverpflichtung genommen haben, daß wir im Interesse der inneren Sicherheit alles tun werden, um gegen Schlepper- und Schleuserorganisationen vorzugehen. Es ist in vielen Bereichen nun wirklich so, daß wir sagen können: Hier haben wir eine gemeinsame Position und wollen diese Probleme gemeinsam lösen.
Ich bitte um Verständnis, Herr Kolleg Klose, daß ich Wert auf die Feststellung lege — aber ich füge gleich einen zweiten Satz hinzu —, daß es — so war es vereinbart; das hat auch seinen Sinn — zwischen den gesetzgeberischen Beratungen und den anzustrebenden Verträgen kein Junktim gibt. Aber ich erkläre ausdrücklich, daß ich in korrekter und fairer Umsetzung dieses Asylkompromisses zügige Verhandlungen und schnelle Vereinbarungen — im übrigen auch unter Beteiligung der Länder — anstrebe.

(Zuruf von der SPD: Aber keine Paketlösung!)

Wir haben den polnischen bzw. den tschechischen Gesprächspartnern umfangreiche Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Asylrechts angeboten. Ich sage noch einmal: Wir streben eine europäische Lastenregelung und auch eine Lastenteilung mit Blick auf unsere osteuropäischen Nachbarn an. Das gilt so, wie ich es vorgetragen habe.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Ich sage dies alles in dem Wissen, daß angesichts der Vielschichtigkeit der Wanderungsproblematik die Mittel, der Asylpolitik und des Asylrechts allein ganz sicher nicht ausreichen, denn das Asylrecht kann naturgemäß frühestens an unseren Grenzen Wirkung entfalten. Die Ursachen der Wanderung von Millionen von Menschen liegen aber in den Herkunftsländern.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Deswegen ist die Bekämpfung der Ursachen für Wanderung und Flucht die langfristig wichtigste und effektivste Antwort auf den Wanderungsdruck,

(Detlev von Larcher [SPD]: Dann tun Sie es!)

und zwar angesichts der Tatsache, daß die ideologischen, die militärischen Grenzen in Europa abgebaut wurden und im Grunde auch die politischen Grenzen nicht mehr ihre Wirkung haben, sich die Wohlstandsgrenze aber um so schmerzlicher bemerkbar macht. Das alles wissen wir sehr wohl. Darauf können wir aber auch nicht allein eine nationale Antwort geben, sondern dazu brauchen wir schon eine gemeinsame europäische Antwort insbesondere der reicheren westeuropäischen Staaten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unabhängig von allen asylrechtlichen Neuregelungen muß also auch kurzfristig geprüft und entschieden werden, welche Maßnahmen die Europäische Gemeinschaft ergreifen kann, um die wirtschaftlichen, sozialen und menschenrechtlichen Bedingungen in den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber zu verbessern.
Meine Damen und Herren, ich möchte an uns alle noch einmal appellieren, auf das dringende innenpolitische Problem eine gemeinsame überzeugende demokratische Antwort zu geben, die notwendigen Gesetzentwürfe zügig auf den Weg zu bringen und zu beraten, damit wir auch künftig den Schutz der politisch Verfolgten gewährleisten, uns größeren Spielraum für die im Krieg und im Bürgerkrieg in existentieller Not befindlichen Menschen verschaffen, aber gleichzeitig den Mißbrauch des Asylrechts stoppen, beenden und verhindern.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213404800
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Hirsch.

(Zuruf von der CDU/CSU: Muß das sein?)





Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1213404900
Ja, das muß sein. Ich habe das parlamentarische Recht, das Sie mir kaum bestreiten können.

(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Herr Minister Seiters, sosehr ich Ihnen darin zustimme, daß wir eine Europäisierung der Lösung des Asylrechts brauchen, die unvermeidlich und anstrebenswert ist, sosehr fehlt es doch in Ihren Darlegungen an jeder Begründung dafür, warum Sie glauben, die bisher nicht vorhandene Bereitschaft unserer westeuropäischen Nachbarn, einen Teil der Lasten zu übernehmen, dadurch herbeiführen zu können, daß Sie einen wesentlichen Teil der Lasten, die wir beklagen, auf unsere östlichen, nicht zur EG gehörenden Nachbarn verlagern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben nicht zugehört!)

Das ist doch der Ausgangspunkt. Wieso wird auf diese Weise die Bereitschaft unserer westeuropäischen Nachbarn in irgendeiner Weise vergrößert? Im Gegenteil, wir üben Druck auf unsere östlichen Nachbarn aus. Wir präsentieren ihnen Verträge, bei denen sie vor der Wahl stehen, sie entweder im wesentlichen anzunehmen oder ihrerseits ihre östlichen Grenzen zu schließen, also zu einem Dominoprozeß zu kommen, der das exakte politische Gegenteil dessen ist, was wir im KSZE-Prozeß für Europa angestrebt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn ich mich auf die Basis des vorgelegten Kompromisses stelle, fehlt mir eine Antwort auf die Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben, daß wir offenkundig das Kind mit dem Bade ausschütten. Wir sagen zwar, daß das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung bestehen bleibt, aber wir hindern fast jeden daran, davon Gebrauch zu machen.

(Beifall bei der SPD — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist ja gar nicht wahr! Das ist ja Unsinn! Sie können langsam nicht mehr lesen!)

Wir behalten uns das Recht vor, auch den erkannten politischen Flüchtling an der Grenze zurückzuweisen. Wir behandeln denjenigen, der in Helgoland ankommt, anders als denjenigen, der sich in Görlitz meldet. Wir sagen sogar, daß derjenige, der heimlich in die Bundesrepublik hineinkommt und hier seine Reisepapiere vernichtet, so daß wir den Reiseweg nicht nachweisen können, — —

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213405000
Herr Kollege Hirsch, eine Kurzintervention dauert zwei Minuten; es sind gleich zweieinhalb Minuten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Manche brauchen eben länger!)


Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1213405100
Ich darf nur den Satz beenden. — Derjenige, der auf Helgoland ankommt, wird bessergestellt als derjenige, der sich offen als politischer Flüchtling an der Grenze meldet. Ich
glaube, daß wir das Problem mit diesem Verwaltungsfirlefanz nicht lösen können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange geht das denn noch?)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213405200
Herr Kollege Hirsch, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Dr. Burkhard Hirsch (FDP):
Rede ID: ID1213405300
Es kommt vielmehr darauf an, die Lebensverhältnisse in den Fluchtländern zu verändern.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213405400
Zu einer Entgegnung hat Herr Bundesminister Seiters das Wort.

Dr. Rudolf Seiters (CDU):
Rede ID: ID1213405500
Ich möchte Ihnen insoweit eine etwas ungewöhnliche Antwort geben, Herr Kollege Hirsch, als ich schlichtweg zitiere, was die Motive für die CDU/CSU- Fraktion, für die F.D.P.-Fraktion und für die SPD- Fraktion waren:
1. Die Fraktionen stimmten überein, daß die Zuwanderung nach Deutschland begrenzt und gesteuert werden muß (sowie) der Mißbrauch des Asylrechts verhindert und der Schutz tatsächlich politisch Verfolgter gewährleistet werden müssen.
2. Damit soll zugleich ein versöhnendes Signal gesetzt werden, denn Deutschland ist ein weltoffenes, tolerantes Land, und das soll so bleiben.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU])

3. Wie jeder andere Staat muß auch Deutschland Zuwanderung steuern und begrenzen können. Ohne eine solche Möglichkeit werden Ängste und Unsicherheiten verstärkt, die für den inneren Frieden schädlich sind.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

4. Wir brauchen aber ein System von Hilfen, das Fluchtursachen bekämpft und den Menschen ein Verbleiben in ihrer Heimat ermöglicht.
5. Wir wollen eine europäische Politik, die Fluchtursachen bekämpft und Asyl und Zuwanderung regelt.
Nichts anderes habe ich inhaltlich in meiner Rede gesagt und gemeint. Ich unterstreiche jedes Wort, das ich heute morgen im Deutschen Bundestag gesagt habe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Keine Antwort!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213405600
Das Wort hat der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213405700
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. " So steht es in der Verfassung, und so bleibt es auch. Der Rechtsanspruch der politisch Verfolgten wird künftig ent-



Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfalen)

weder bei uns in der Bundesrepublik oder in anderen sicheren Staaten erfüllt; so soll es gelten. Außerdem wollen wir auch künftig unseren Teil dazu beitragen, daß dem weltweiten Flüchtlingsproblem durch Aufnahme von politisch Verfolgten, durch Prüfung ihrer Anträge und durch die Bekämpfung der Fluchtursachen begegnet wird. Aber angesichts der großen Zuwanderungszahlen darf das Asylrecht unserer Verfassung auch nicht länger der Weg für eine allgemeine Einwanderung von Menschen sein, die nicht politisch verfolgt sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Dafür ist das Asylrecht nicht geeignet. Herr Kollege Weiß, wer Einwanderung will, muß andere Instrumente als das Asylrecht wählen

(Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch unsere Konzeption!)

und muß gleichzeitig den Weg der Einwanderung über das Asylrecht beenden. Sonst kann er auch die Einwanderung nicht regeln.
Man kann gewiß den Standpunkt vertreten, wir müßten jedem — auch dem, der nicht verfolgt ist — das Recht auf Einwanderung geben, wir müßten jeden hereinlassen, der zu uns kommt, und dürften niemanden abschieben, der uns nicht freiwillig wieder verlassen will, auch wenn er den Weg über das Asylrecht zu Unrecht wählt. Ich kenne allerdings niemanden in der Politik, der sagt, daß er das wolle, auch nicht unter denjenigen, die diesen Kompromiß ablehnen. Wer dagegen meint, meine Damen und Herren, unsere Fähigkeit zur Aufnahme sei absolut oder auch hinsichtlich des Tempos der Zuwanderung begrenzt, der muß auch bereit sein, das rechtliche und tatsächliche Instrumentarium dafür zu schaffen, daß die Aufnahme selber begrenzt wird. Er darf es dann nicht zulassen, daß das Asylrecht als Weg für eine allgemeine Einwanderung Nichtverfolgter dient.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Ich kann beide Standpunkte gut nachvollziehen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist der Versuch, der Entscheidung auszuweichen, uns also vorzuhalten, es dürfe keine Wege und Mittel geben, Zuwanderer an der Grenze zurückzuweisen, sie aus dem grenznahen Raum abzuschieben oder sie aus dem Inland auszuweisen und notfalls abzuschieben. Wer es mit seinem Gewissen oder mit den Geboten des politischen Verstandes nicht meint vereinbaren zu können, daß alle Grenzen auch rechtlich sofort und vollständig entfallen und daß jeder nach Belieben — auch über das Asylrecht — einwandern kann, der hat darzulegen, was er selber tun würde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Eine einfache Fundamentalkritik, Herr Weiß, ohne das Aufweisen von Alternativen reicht nicht.

(Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Außerdem müssen Sie auch danach fragen, wie die Menschen bei uns auf eine auch aus ihrer Sicht ungeordnete Zuwanderung reagieren und wie weit es dann in unserer Macht steht, solche Reaktionen rechtzeitig zu beeinflussen.
Nun sagt man, jährlich rund 300 000 Zuwanderer seien zumutbar, und wir seien aus vielerlei Gründen sogar auf sie angewiesen. Ich vertrete diese Auffassung auch.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213405800
Herr Kollege Schnoor, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213405900
Ich möchte gern noch diesen einen Gedanken zu Ende führen, Herr Kollege Weiß; dann sofort.
Ich bin sogar zuversichtlich, meine Damen und Herren, daß unser Volk auch noch mehr Zuwanderer aufnehmen würde, wenn es gelingt, zu beweisen, daß wir das Problem politisch und administrativ beherrschen, daß wir nicht hilflose Opfer eines nicht steuerbaren Naturereignisses sind, sondern entscheiden, wer zu uns kommen und wer bei uns bleiben darf. Bis heute hat die Bevölkerung zu Recht den Eindruck, daß es an dieser politischen Handlungsfähigkeit fehlt. Der Eindruck der Handldungsunfähigkeit nährt aber Entwicklungen, die auch das Ende einer rationalen Ausländerpolitik sein könnten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Das ist der Punkt!)


Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213406000
Herr Innenminister, ist es in Ihren Augen wirklich Fundamentalkritik, wenn wir sagen: „Wir wollen statt der einen Tür des Asylrechts, so wie es gegenwärtig ist, drei Türen" ? Wir wollen eine Tür für politisch Verfolgte gemäß Art. 16 Abs. 2 öffnen. Wir wollen eine zweite Tür für Flüchtlinge öffnen, die der Genfer Flüchtlingskonvention unterliegen. Wir wollen eine dritte Tür durch ein Einwanderungsgesetz öffnen,

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, alle herein!)

damit eine geregelte und gestaltete Einwanderungspolitik mit Quoten stattfinden kann. Das ist die Konzeption von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Wir werden das auch nicht aufgeben. Das wird nicht erledigt sein, wenn Sie jetzt das Grundgesetz ändern. Es kommt vielmehr in zwei Jahren wieder auf den Tisch. Halten Sie das wirklich für eine Fundamentalkritik?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213406100
Ja, weil Sie der Frage ausweichen, Herr Kollege Weiß, wie Sie das Einwanderungsrecht regeln wollen, wenn Art. 16 unverändert bleibt. Wenn Sie Einwanderung durch ein Einwanderungsgesetz wollen — das kann man wollen, und ich selbst will es auch, und zwar dann, wenn es für die Bevölkerung politisch erträglich ist; im Augenblick, so glaube ich, ist es nicht politisch erträglich —,

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

geht das nur, wenn Sie gleichzeitig eine Änderung des
Art. 16 in der Weise vornehmen, daß man nicht mehr



Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfalen)

daneben noch über Art. 16 nach Belieben in jeder Größenordnung einwandern kann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213406200
Herr Kollege Schnoor, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Fuhrmann gestatten?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213406300
Ich habe nur eine begrenzte Redezeit.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213406400
Auch Ihnen wird das nicht angerechnet. Außerdem dürfen Sie hier unbegrenzt lange reden.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213406500
Dann bitte!

Arne Fuhrmann (SPD):
Rede ID: ID1213406600
Herr Minister, schließen Sie absolut aus, daß bei konsequenter Anwendung der vorhandenen Rechtsmöglichkeiten die von Ihnen skizzierten Ziele zu erreichen sind, ohne daß man eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes in Kauf nehmen muß?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213406700
Ich bin seit 13 Jahren Innenminister und seit 13 Jahren für Asylrechtsfragen zuständig. Ich habe mich immer bemüht, politisch Verfolgten zu helfen. Ich habe das Asylrecht wie eine Mauer verteidigt. Aber ich sage Ihnen: Mit rein administrativen Mitteln im Inland können Sie die Probleme nicht bewältigen. Wenn die Grenzen offen sind und die Menschen aus Elendsländern hier hereinkommen können — was wir nicht verhindern können und was man ihnen nicht verdenken kann —, wenn wir ein Rechtsstaat sind und ein Rechtsstaat bleiben wollen, dann kann kein Innenminister die Menschen so rasch wieder herausbringen, wie sie über offene Grenzen hereinfluten. Das ist schlichtweg ausgeschlossen. Das muß ich Ihnen ganz deutlich sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Daran ändern Sie mit der Grundgesetzänderung überhaupt nichts!)

— Herr Kollege, lassen Sie uns wirklich fair darüber streiten und mich meine Rede zu Ende führen.
Wichtig ist, meine Damen und Herren, daß die Menschen das Gefühl bekommen: Die Politik ist handlungs- und steuerungsfähig,

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!)

und es handelt sich nicht um Naturereignisse, denen wir nicht begegnen können oder die wir nicht politisch steuern können. Ich gehöre einer Generation an, die den Aufstieg des Faschismus in Deutschland aus eigenem Erleben kennt. Das sind für mich traumatische Erinnerungen. Ich habe seit Anfang der 80er Jahre immer wieder darauf hingewiesen, daß sich die Gefährlichkeit des Rechtsextremismus nicht am Organisationsgrad von rechtsextremistischen Parteien ablesen läßt, sondern an der Bedrohung, die aus der Mitte unserer Gesellschaft kommt. Hier gibt es nämlich politische Einfallstore. Ich möchte nicht zu
denjenigen gehören, denen man später einmal sagt: Habt ihr eigentlich nicht gemerkt, daß die Menschen euch überhaupt nicht mehr gefolgt sind? Habt ihr eigentlich gar nicht gemerkt, daß sie den Streit über das Asylrecht leid sind, daß sie Regelungen haben wollen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Diese Befürchtung treibt mich seit langem um, auch schon in der Zeit, als ich das Asylrecht, das auch für mich ein Eckstein unserer Rechtskultur ist, wirklich verteidigt habe. Es bleibt auch nach wie vor ein Eckstein unserer Rechtskultur!
Deshalb bin ich auch bereit, am Asylkompromiß mitzuarbeiten. ich bin bereit, den neuen Art. 16a, wie er hier steht, zu verteidigen und an seiner Verbesserung mitzuarbeiten. Ich kann nicht verhehlen, daß das für mich ein schmerzlicher Prozeß ist, meine Damen und Herren. Aber ich sage Ihnen auch: Ich hätte es mir gerade in meinem Lebensalter leichter machen können, wenn ich mich in alten Stellungen eingegraben und kompromißlos das verteidigt hätte, was bisher war: Sollen doch die anderen sehen, wie sie damit fertigwerden. Das ist aber keine Politik, meine Damen und Herren!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir haben eine veränderte Situation in unserer Republik. Wir können uns nicht mehr hinter einer Mauer wegducken. Das haben wir doch getan. Wie war das seinerzeit, als in Berlin-Schönefeld ein Loch in der Mauer war? Die politischen Parteien haben sich darin überboten, wie man es stopfen kann. Weggeduckt haben wir uns hinter der Mauer. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Jetzt weht der Wind frei in unser Land hinein. Das ist gut so. Aber wir haben eine veränderte Situation.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie, Sie könnten eine neue Mauer aufbauen?)

In dieser veränderten Situation müssen wir auch veränderte Antworten geben. Die Väter und Mütter unserer Verfassung, die das Grundgesetz geschaffen haben,

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die rotieren im Moment im Grabe!)

wollten, daß politisch Verfolgte zu uns kommen können. Insofern ist Herr von Mangoldt zu Recht zitiert worden. Aber sie wollten den Art. 16 auch nicht als Instrument zur Steuerung von Zuwanderung. So haben sie ihn nämlich nicht konzipiert.

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213406800
Herr Kollege Schnoor, gestatten Sie nochmals eine Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Ullmann?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213406900
Bitte schön.




Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213407000
Herr Minister, stimmen Sie mir darin zu, daß der Gedanke, den Art. 16 Abs. 2 außer Kraft zu setzen, ein ganz alter Gedanke der Republikaner ist und ein ebenso alter Gedanke der Bundesregierung, die schon in ihrem Votum zur Verfassung des Runden Tisches erklärt hat, sie lehne diese Verfassung auch deswegen ab, weil dort Art. 16 Abs. 2 übernommen sei?

(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213407100
Erstens wird durch Art. 16 Abs. 2 der Art. 16 Abs. 1 nicht außer Kraft gesetzt. Schauen Sie sich den Text einmal genau an!

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dort heißt es nämlich: Der Rechtsanspruch kann nicht geltend gemacht werden. Aber der Staat kann sehr wohl, entgegen dem, was in Art. 16 steht, gewähren, wenn er es gleichwohl will. Es gibt uns auch die Möglichkeit, durch einfache Gesetze das etwa gegenüber Polen zu regeln, wenn Verträge nicht rechtzeitig zustande kämen.
Im übrigen, verehrter Herr Kollege, finde ich es nicht sehr fair, hier in diesem Zusammenhang die Republikaner zu erwähnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)

Ich habe gemerkt, wie schwer es Herrn Weiß gefallen ist, nach der PDS zu sprechen, derjenigen Partei, die mit die Verantwortung für die Mauer trägt.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Sie so geschützt hat!)

Ich finde es nicht sehr fair, daß Sie in diesem Zusammenhang die Republikaner erwähnen. So sollten Demokraten nicht miteinander umgehen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden von Ihrer Lösung profitieren!)

Zu den Vereinbarungen vom 6. Dezember und vom 15. Januar gehört aus guten Gründen mehr als eine Neufassung des Art. 16 a. Dazu gehören vor allen Dingen auch die Verträge mit Polen und mit der Tschechischen Republik. Herr Bundesinnenminister, wir müssen sicher sein, daß wir im Bundesrat einem Gesamtpaket zustimmen können. Dazu müssen wir wissen, was mit Polen und der Tschechischen Republik vereinbart wird. Wir müssen rechtzeitig Vorsorge treffen, damit wir notfalls den Vermittlungsausschuß anrufen können. Ich sage das in aller Deutlichkeit, weil es hier nicht nur für einen Teil der Fraktion, die mir nahesteht, um ein Herzensbedürfnis geht, sondern auch für mich um eine Grundposition.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zu der Vereinbarung gehören auch ein neuer Status für Bürgerkriegsflüchtlinge, die Erleichterung der Einbürgerung von hier lebenden Ausländern, die Umsetzung der sogenannten neuen Flüchtlingspolitik. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre letzten Worte, daß es darum geht, Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beseitigen und den Menschen vor Ort zu
helfen. Es geht außerdem darum, die Integration der bei uns auf Dauer lebenden ausländischen Mitbürger zu verbessern. Auf diesen Feldern ist noch viel Arbeit zu leisten. Auch hieran möchte ich mitarbeiten, nicht nur an der Neufassung des Art. 16 a.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213407200
Das Wort hat nun der Innenminister des Freistaats Bayern, Herr Dr. Edmund Stoiber.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213407300
Herr Kollege Schnoor, ich stehe nicht an, Ihnen meine hohe Anerkennung für Ihre Ausführungen

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einmalig!)

zur Begründung des Art. 16 a auszusprechen. Nach den schwierigen Auseinandersetzungen, die wir beide in der Innenministerkonferenz in den letzten vier, fünf Jahren zu diesem Thema geführt haben, sage ich dies mit tiefem Ernst.
Wir beschäftigen uns in Deutschland seit 1978 mit dem unkontrollierten, ständig steigenden Asylbewerberzustrom.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit der „durchraßten Gesellschaft" ! )

Ich erinnere mich an ein Interview, das der damalige Chef von ARD-Aktuell, Dieter Gütt, mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt geführt hat. 1978 war sozusagen das Schlüsseljahr; damals hatten wir zum ersten Mal über 100 000 Asylbewerber.
Helmut Schmidt hat damals — das war wohl im Januar 1979 — gesagt: Das müssen wir jetzt ändern, das kann so nicht weitergehen. — Das ist 14 Jahre her. Die Reden darüber sind Legion. Ich will auch nicht darauf zurückkommen.
Wir haben freiwillig den größten Teil der Asylbewerber, die nach Europa gekommen sind und kommen, aufgenommen, haben sie das teuerste und komplizierteste Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchlaufen lassen, und wir haben uns damit alle weit überfordert.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Herr Kollege Weiß, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gewonnen, als hätten Sie wirklich den Bezug zu den Menschen, zu den Bürgermeistern, zu den Landräten, zu denen, die die Gesetze in diesem Punkt entscheidend zu vollziehen haben, völlig verloren.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Hat er noch nie gehabt!)

Ich meine es nicht zynisch, aber ich kann nur sagen: Wir sind hier natürlich auch eine Vertretung der Bevölkerung Deutschlands, und Sie können sich in Ihrem Rigorismus nicht ein neues Volk suchen, dem Sie Lasten auferlegen, die es nicht bereit ist in dieser



Staatsminister Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

Weise zu tragen. Die Konsequenzen wären verheerend.

(Beifall bei der CDU/CSU — Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch wir vertreten einen Teil dieser Bevölkerung!)

Für die Lösung des Asylproblems ist es in der Tat fünf nach zwölf. Die Lösungsunfähigkeit der Politik in der Asylfrage — hier kann ich nur das unterstreichen, was Kollege Schnoor gerade gesagt hat; es ist für mich das Entscheidende — hat doch in der Zwischenzeit unserem gesellschaftlichen Frieden schweren Schaden zugefügt.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie ja kräftig mit gesorgt!)

Dazu werde ich noch etwas sagen. — Das hat uns alle zum Kompromiß gezwungen. Schaden genommen hat nicht nur die Glaubwürdigkeit der Politiker schlechthin, sondern die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie insgesamt. Dessen waren wir uns in den 50stündigen Verhandlungen im Dezember alle bewußt. Das war die Ausgangslage. Das ist aber auch der Grund, warum heute einige der Spitzenvertreter der SPD — ob Lafontaine auf dem Parteitag der SPD in Berlin oder Engholm nicht nur auf dem Petersberg — sagen, jetzt gehe es auch um die Stabilität des inneren Friedens in der Bundesrepublik Deutschland. Das sind nicht meine Worte. Als ich dies vor einigen Jahren gesagt habe, habe ich aus bestimmten Ecken noch etwas ganz anderes gehört. Ich will das aber jetzt nicht wiederholen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf dazu drei Anmerkungen machen. Erstens. Unser Asylsystem ist offenkundig ineffizient, und wir sind administrativ nicht mehr in der Lage — da konnten Sie beschließen, was sie wollten —, diese Gesetze so zu vollziehen, wie viele hier glauben, daß sie vollzogen werden könnten.
Jeder informierte Bürger hat erkannt, daß Verwaltung und Gerichte mit der gegenwärtigen Rechtslage überfordert sind. Wir müssen jährlich rund 8 Milliarden DM aufwenden, um der relativ geringen Zahl von politisch Verfolgten Asyl gewähren zu können. Setzen Sie das einmal mit den Ausgaben für diesen Bereich in anderen europäischen Ländern in Relation!
Zweitens. Wir können im Rahmen des geplanten Solidarpakts — oder wie auch immer Sie ihn nennen wollen — von der Bevölkerung nicht Sparsamkeit und Opferbereitschaft fordern, für Asyl aber unberechtigterweise unbegrenzt mehr ausgeben. Wir geben heute für Asyl schon doppelt so viel aus wie für Wohngeld und dreimal so viel wie für BAföG.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Und doppelt so viel wie für Entwicklungshilfe!)

— Auch dies ist völlig richtig: doppelt so viel wie das, was wir für Entwicklungshilfe ausgeben.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlimm genug!)

Das provoziert doch soziale Spannungen. Das erzeugt maßlosen Ärger und gesteigerten Politikverdruß. Das Faktum kann niemand, ganz gleich, von welcher Seite er das Problem betrachtet, hinwegdiskutieren.
Drittens. Wir haben in diesem Jahr — Herr Kollege Seiters hat das sehr deutlich gemacht — erneut 71 % mehr Asylbewerber als im Jahr 1991. Art. 16 hat sich praktisch zum Einwanderungsrecht für alle Ausländer entwickelt. Weil aber die große Mehrheit unserer Bevölkerung zumindest keine unbegrenzte Einwanderung wünscht, ist der Mißbrauch des Asylrechts natürlich Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen und der Rechtsextremisten.
Die offensichtlichen Ungerechtigkeiten unseres Asylrechts machen es ihnen leicht, neue Anhänger hinter ihre einfachen und dümmlichen Parolen zu scharen, unschuldige Ausländer generell zu Sündenböcken zu machen.
Die Forderung nach einer Änderung des Asylrechts oder des Asylsystems im Grundgesetz hat — damit möchte ich auf Ihren Zwischenruf eingehen — mit Ausländerfeindlichkeit nicht das geringste zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Sie würden mir ja wohl, wenn ich mich hier gegen den Mißbrauch des Blindengeldes aussprechen würde, auch nicht vorwerfen, daß ich gegen das Blindengeld schlechthin sei. Genau dasselbe ist hier der Fall.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jahrelang sind diejenigen — diesen einen Satz erlauben Sie mir im Blick zurück —, die eine Grundgesetzänderung als Voraussetzung für gerechtere und effizientere Asylverfahren forderten, als Hetzer oder gar als Ausländerfeinde beschimpft worden.

(Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: So war es!)

Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß das endlich vorbei ist. Ansonsten müßten sich alle, die den Asylkompromiß heute mittragen, als solche bezeichnen lassen. Die Vorbehaltlosigkeit der deutschen Bevölkerung, mit Ausländern zusammenzuleben, ist mindestens so groß wie die der Franzosen, der Italiener, der Engländer, der Dänen und der Bevölkerung weiterer Nachbarstaaten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dieter-Julius Cronenberg [F.D.P.])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213407400
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213407500
Bitte sehr.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213407600
Herr Kollege Büttner.

Hans Büttner (SPD):
Rede ID: ID1213407700
Herr Minister, halten Sie es unter den Gesichtspunkten, die Sie gerade ausgeführt haben, überhaupt noch für hinnehmbar, daß durch den Abschluß von Werkverträgen bekanntermaßen rund 300 000 illegale Einwanderungen erfolgen? Um das abzustellen, müßte kein

Hans Büttner (Ingolstadt)

Grundrecht geändert werden, sondern dazu reichten administrative Maßnahmen aus.

(Zuruf von der CDU/CSU: Mit Werkverträgen doch nicht!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213407800
Herr Kollege, schauen Sie sich bitte den Asylkompromiß an. In dem Asylkompromiß haben wir uns ja darauf verständigt, daß wir auch die Werkvertragssituation auf neue Grundlagen stellen, daß wir über dieses System allenfalls 100 000 Menschen in unserem Land haben wollen. Wir wollen in diesem Bereich endlich die Rechtsgrundlagen dafür schaffen, daß die Arbeitsverwaltung bei bestimmten Betrieben auch ohne das Vorlegen eines Verdachts Nachforschungen anstellen kann, um hier restriktiver vorzugehen. Das ist für mich das Thema, um das es hier geht.
Wir müssen darüber reden, ob wir diese Größenordnung von 100 000 auf die Dauer überhaupt beibehalten, ob wir nicht das gesamte System umstellen, um den Mißbrauch insgesamt etwas zu reduzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will hier unsere Vorbehaltlosigkeit noch einmal zum Ausdruck bringen: Wo wirklich Not herrscht, da stehen die Deutschen zur Seite. Das zeigen z. B. unzählige Spenden und Hilfsaktionen in den letzten Jahrzehnten. Aber unsere Bevölkerung hat auch ein großes Gerechtigkeitsempfinden, und sie reagiert außerordentlich empfindlich, wenn sie sich ausgenützt fühlt — und sie fühlt sich ausgenützt.
Der heute eingebrachte neue Art. 16a eröffnet erstmals die Möglichkeit, unser Asylrecht grundlegend zu verbessern. Wir können uns zwar noch effektivere Regelungen vorstellen, halten diesen Kompromiß grundsätzlich aber für die erste richtige politische Weichenstellung. Wir haben den Asylkompromiß vom Dezember letzten Jahres entscheidend mitgestaltet, weil er erlaubt, offensichtlich unberechtigte Asylbewerber von mutmaßlich politisch Verfolgten schnell zu trennen und abzuschieben, weil er uns eine gerechte Teilung der Asyllasten in Europa erlaubt und weil politisch Verfolgte weiterhin Asyl erhalten werden.
Das ist das Ergebnis, das wir seit fast zehn Jahren permanent gefordert haben, nämlich daß ein Ende der Asylmisere nur durch eine Grundgesetzänderung eingeleitet werden kann. Ich erspare es mir, hier zu zitieren, was mich SPD und F.D.P. in diesen Jahren alles geheißen haben.
Frau Präsidentin, ich weiß nicht, was das Aufleuchten der Lampe hier am Rednerpult bedeutet.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213407900
Herr Minister, Sie dürfen nach unserer Verfassung hier auch länger reden. Trotzdem leuchtet die Lampe auf, weil die Technik nicht abgestellt wird. Sie sollen wissen, daß Sie in der Zwischenzeit die zehn Minuten schon erreicht haben.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213408000
Was wollten wir? Erstens. Wir wollten in einem zusammenwachsenden Europa eine gerechte Teilung der Asyllasten. Das wird jetzt möglich. Alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft sind anerkannte Rechtsstaaten, in denen keine politische Verfolgung herrscht und die auch nicht abschieben. Das gleiche gilt für die Schweiz, für Österreich und für die jungen Demokratien wie die Tschechische Republik und Polen. Nach unserer Auffassung gilt dies auch für eine Reihe weiterer Staaten in Europa. Wer auf der Flucht vor politischer Verfolgung eines dieser Länder erreicht, kann und soll dort um politisches Asyl nachsuchen.
Hier ist immer wieder über die Lastenteilung gesprochen worden. Wer die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet, hat diese Rechtslage letzten Endes zu akzeptieren, denn die Genfer Flüchtlingskonvention sagt nichts anderes aus als das, was gerade dargestellt worden ist. Da Polen und die Tschechische Republik und Österreich und Ungarn die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben, bin ich der Meinung, daß wir uns durch die jetzige Lösung in eine Lage versetzen, die gegenwärtig in Dänemark oder in Holland oder in Belgien und in weiteren Ländern besteht. Es geht um eine vernünftige Lastenteilung. Kein Asylbewerber kommt heute von Deutschland aus über die dänische Grenze, weil er sofort zurückgeschickt wird, da die Dänen sagen: In Deutschland hast du bereits politisches Asyl gefunden, bzw. du kannst es dort finden. Genau dieselbe Lösung wollen wir auch haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Um Mißverständnissen vorzubeugen, stelle ich für Bayern klar: Als östliches Grenzland haben wir ein natürliches Interesse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu Österreich und der Tschechischen Republik. Deshalb liegt uns nichts ferner, als Asyllasten auf Nachbarn abzuwälzen, die diese überfordern. Wir halten deshalb Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen gerade für die jungen Demokratien wie die Tschechische Republik und Polen für notwendig. Es wäre falsch verstandene Nachbarschaft, diesen jungen demokratischen Rechtsstaaten die Reife abzusprechen, gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention politisch Verfolgten Schutz zu gewähren.
Diese Lastenteilung auch mit unseren Nachbarn im Osten ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, daß wir sie als vollwertige demokratische Rechtsstaaten ansehen und an die Europäischen Gemeinschaften heranführen wollen.

(Zuruf von der SPD: Das zeigt sich bei der europäischen Einigung, für wie vollwertig Sie sie ansehen!)

Zweitens. Wir wollten eine schnelle Trennung zwischen möglicherweise wirklich politisch Verfolgten und solchen, die es offensichtlich nur vorgeben. Das wird jetzt möglich. Es ist eine Binsenweisheit, daß nicht überall auf der Welt politische Verfolgung herrscht. Es gibt eine Reihe von Staaten, in denen die Menschen vor politischer Verfolgung sicher sind. Wenn jemand aus einem solchen sicheren Herkunftsstaat in die Bundesrepublik Deutschland einreist und Asyl beantragt, muß darüber in einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren entschieden werden können. In diesem Fall muß der Asylbewerber über-



Staatsminister Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

zeugende Tatsachen für seine Verfolgung vortragen, um die generelle Vermutung, daß im Herkunftsstaat keine politische Verfolgung herrscht, zu widerlegen.
Das ist eine Rechtslage, nach der die Dänen verfahren, eine Rechtslage, nach der die Holländer verfahren, eine Rechtslage, nach der die Franzosen verfahren. Teilweise verstehe ich die Diskussion in Deutschland nicht, wenn wir Verfahren zu erreichen versuchen, die andere Rechtsstaaten, die mit dem Problem besser fertig geworden sind als wir, schon lange praktizieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Drittens. Vor allem das Gerichtsverfahren muß erheblich schlanker, schneller und effizienter gestaltet werden. Deswegen ist die Reduzierung des Prüfungsumfangs im Gerichtsverfahren ein entscheidender Durchbruch. Das ist eine sehr wichtige Bestimmung dieses Art. 16a. Damit haben wir endlich europäischen Standard erreicht.
Viertens. Wir wollten immer, daß jene Asyl erhalten, die politisch, rassisch oder religiös verfolgt werden und nicht bereits in einem anderen EG-Staat oder in einem Nachbarstaat Zuflucht gefunden haben. Auch dies bleibt natürlich erhalten.
Noch ist all das, was notwendig ist und was wir gesetzlich regeln wollen, nicht Gesetz. Auch die heute eingebrachte Grundgesetzänderung schafft also lediglich die Möglichkeit. Ob es tatsächlich zu einem praktikablen und bezahlbaren Asylrecht in Deutschland kommt, hängt davon ab, ob SPD und F.D.P. weiter bereit sind, den im Dezember geschlossenen Kompromiß auch in einfache Gesetze umzusetzen.
Ich möchte daran erinnern, daß wir zum Kompromiß gezwungen sind, wenn wir Schaden abwenden wollen. Ich muß allerdings, meine Damen und Herren, leider folgendes feststellen. Ich erlaube mir, das hier in aller Offenheit anzusprechen.

(Zuruf von der SPD: Aber nicht so lange!)

— Ich beschäftige mich mit dein Problem etwas länger als Sie. Ich habe als Innenminister vielleicht auch etwas größere Probleme als Sie.
Ich muß feststellen, daß der jetzt eingebrachte Wortlaut des Abs. 2 vom Asylkompromiß im Dezember abweicht. Im Gegensatz zu der im Dezember sorgfältig gewählten Formulierung „Asylrecht genießt nicht, wer ... " schließt die jetzige Formulierung die Berufung auf das Grundrecht aus.
Sie kennen hoffentlich alle die außerordentlich diffizile Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und in besonderem Maße des Bundesverfassungsgerichts zum Asyl. Gerade wegen der extensiven Interpretation des Art. 16 durch das Bundesverfassungsgericht konnten wir Asylrechtsregelungen wie in den anderen europäischen Ländern nicht schaffen. Das scheiterte nicht allein an Art. 16, sondern an der Interpretation, der das Bundesverfassungsgericht hier die Wahrheit beigelegt hat.
Wir dürfen ein solches Risiko nicht eingehen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Kollege Marschewski, daß Sie das noch einmal deutlich gemacht haben. Es
kommt entscheidend darauf an, ob das, was wir wollen, dann auch vor dem Verfassungsgericht Bestand hat. Das ist für mich eine entscheidende Frage, die noch während der Beratungen geprüft und gewürdigt werden muß.
Ich sage Ihnen ganz offen: Nur wenn in den Gesetzesberatungen zweifelsfrei klargestellt werden kann, daß die Neuformulierung keine inhaltliche Abweichung von der ursprünglichen Formulierung des 6. Dezember ist, können wir dem letztlich zustimmen, weil wir sonst etwas mit einem hohen verfassungsrechtlichen Risiko beschließen würden und uns dann möglicherweise in einem oder zwei Jahren wieder hier treffen müßten.
Dieses verfassungsrechtliche Risiko möchte ich hier ansprechen. Ich hoffe, daß es nicht besteht. Aber es wäre verheerend, wenn wir jetzt eine Grundgesetzänderung beschließen würden, die notwendigen Gesetze dazu beschließen würden und uns dann innerhalb eines Jahres das Bundesverfassungsgericht sozusagen einen entscheidenden Hebel aus der Hand nimmt. Dann würden all diejenigen, die das zu verantworten haben, die Bevölkerung einer ganz erheblichen Belastungsprobe aussetzen. Das wollte ich hier sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir müssen uns darüber im klaren sein: Wir brauchen gemeinsam guten Willen, um hier zu einer Lösung zu kommen. Wir sind — ich sage das noch einmal — dazu gezwungen. Ich appelliere an all diejenigen, die hier Verantwortung tragen, das fortzusetzen, was in den 50 Stunden im Dezember geschaffen worden ist.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dieter-Julius Cronenberg [Arnsberg] [F.D.P.])


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213408100
Nun hat unser Kollege Detlev von Larcher das Wort.

Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1213408200
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier für all diejenigen, die bei der Abstimmung in unserer Bundestagsfraktion aus unterschiedlichen Gründen die Unterschrift der SPD unter den hier vorgelegten Entwurf verweigern wollten. Wie wir in der SPD-Fraktion miteinander umgehen, hat mein Fraktionsvorsitzender heute morgen gesagt. Ich bestätige ihm das vice versa.
Die einen von uns vertreten die Auffassung, eine sozial verträgliche Regelung des Zuwanderungsproblems sei auch möglich ohne die Veränderung des Grundgesetzes. Die anderen halten eine Grundgesetzergänzung für ein mögliches Element zur Steuerung der Zuwanderung, lehnen aber den eingebrachten Entwurf ab.
Beide Auffassungen werden auch von breiten Teilen in der Bevölkerung vertreten. Die große Demonstration in Berlin, die vielen dort getragenen Transparente mit der Aufschrift „Hände weg vom Grundgesetz", die Lichterketten der vergangenen Wochen, auch in München, die Demonstrationen gegen Ausländerfeindlichkeit und Gewalt, sehr oft von Schülerinnen und Schülern initiiert, die vielfältigen ander-



Detlev von Larcher
weitigen Aktionen der Solidarität mit Ausländern zeigen, daß die Stimmung und Meinung in großen Teilen der Bevölkerung durchaus ganz anders ist, als es uns die Protagonisten einer Grundgesetzänderung glauben machen wollen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Lüder [F.D.P.])

Hunderttausende Demokratinnen und Demokraten verteidigen ihre Demokratie, ihre freiheitliche Verfassung mit den Grund- und Menschenrechten. Zu diesen Grundrechten, die die Wertorientierung unserer Republik konstituieren, gehört auch das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Lüder [F.D.P.])

Art. 16 Abs. 2 Satz 2 ist mehr als nur eine historische Reminiszenz nach den entsetzlichen Erfahrungen mit dem Hitler-Faschismus. Er ist ein Grundrecht für Minderheiten. Es ist eine allgemeine Erkenntnis, daß der Umgang mit Minderheiten, mit Menschen in Not, mit Verfolgten die demokratische Qualität einer Gesellschaft aufzeigt. Wir alle sollten uns darüber freuen, daß es einen größer werdenden Chor gibt, der sagt: Hände weg von Art. 16.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Er ist aber nicht groß genug!)

Wir sollten diejenigen, die so rufen, nicht als realitätsfremde Idealisten diffamieren. Sie warnen uns vor einer gefährlichen Rechtsentwicklung unserer Gesellschaft, vor einer Entwicklung, die das eigene Wohl so absolut setzt, daß darüber die Solidarität mit den Menschen, die aus Not und Verfolgung zu uns kommen, verlorengeht.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Ruf muß auch im Deutschen Bundestag gehört werden. Die so rufen, haben gute Argumente und gute Vorschläge. Sie fragen z. B., warum es jetzt eine neue Regelung geben soll, bevor das Asylverfahrens-Beschleunigungsgesetz in Gänze greifen kann, ja sogar noch bevor der größte Teil der verabschiedeten Regelungen in Kraft getreten ist. Sie fragen, warum nicht schon vor Jahren das Personal in Zirndorf so verstärkt wurde, daß es nicht zu dem immensen Antragsstau und damit zu der unerträglich langen Dauer der Verfahren hätte kommen können.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Realitätsfremd!)

Sie sagen: Wenn alle beteuern, daß politisch Verfolgte nach wie vor bei uns in Deutschland Asylrecht haben sollen, kann man doch nicht gerade dieses Grundrecht einschränken.
Diejenigen von uns, die zu einer Änderung des Art. 16 nein sagen, repräsentieren einen nicht unerheblichen Teil unserer Bürgerinnen und Bürger, die
ebenfalls nein sagen, und jedem von uns fallen da einige berühmte Namen ein. Ich verlange Achtung und Respekt für sie und daß ihnen sorgfältig zugehört wird, daß ihre Argumente ernst genommen werden und daß mit aller Sorgfalt darauf eingegangen wird.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viele Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion — und ich zähle mich dazu — wären, wie schon gesagt, bereit, einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, die sich auf einige wenige Punkte beschränkt. Ich komme darauf zurück. Wir stützen uns dabei auf den Beschluß unseres Außerordentlichen Bundesparteitages in Bonn.
Ich bin ganz sicher, legte man diesem Bonner Parteitag den heute in Rede stehenden Text eines Art. 16a mit der Frage vor, ob diese Regelung seinem Beschluß vom 16. November 1992 entspreche, die übergroße Mehrheit würde mit einem eindeutigen Nein antworten.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diejenigen, die diese Auffassung vertreten, können diesem heutigen Entwurf nicht zustimmen, weil zwar der Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl" formal erhalten bleibt, die vorgesehene Regelung aber dazu führen wird, daß kaum ein Verfolgter das Asylrecht bei uns in Anspruch nehmen kann, weil Deutschland per Gesetz von sicheren Drittstaaten umgeben sein soll, in die alle zurückgeschickt werden sollen, die durch diese Staaten zu uns flüchten.
Die Frage, ob der Reiseweg dem Asylbewerber und dem entsprechenden Land nachgewiesen werden kann, entscheidet also künftig darüber, ob ein politisch Verfolgter bei uns Aufnahme findet. Das bedeutet eine direkte Aufforderung an alle Flüchtenden, illegal über die grüne Grenze zu uns zu kommen und ihren Reiseweg zu verschweigen, denn nur dann kommen sie in ein deutsches Asylverfahren.
Mir sträuben sich die Haare bei der Vorstellung, ein demokratischer Staat fordert Menschen dazu auf, die Unwahrheit zu sagen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Will man das verhindern, müssen die Grenzen gegen illegale Zuwanderer gesichert werden. Der Bundesinnenminister macht ja schon Versuche mit einem elektronischen Zaun. Herr Seiters, ich sage Ihnen: Konsequent sind Sie erst, wenn Sie eine Mauer um Deutschland bauen und Soldaten dort stationieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] — Widerspruch bei der CDU/CSU)

Mir sträuben sich die Haare, daß wir dabei sind, eine Mauer — diesmal vom Westen her — aufzubauen. Wenn ich an den Seeweg denke, tauchen vor meinem



Detlev von Larcher
geistigen Auge die schrecklichen Bilder der Boat people auf.

(Dieter-Julius Cronenberg [Arnsberg] [F.D.P.]: Das ist eine Verharmlosung der Mauer!)

Wir haben nicht deshalb so hartnäckig um den Erhalt des Individualrechts auf Asyl gekämpft, um jetzt zuzusehen, wie seine Inanspruchnahme verhindert wird.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen nicht, daß das reiche Deutschland seine Probleme mit der Zuwanderung — und es sind wahrlich Probleme, vor allem in unseren Gemeinden — auf arme Staaten wie Polen und die Tschechische Republik abwälzt.
Herr Bundesminister Seiters, es wird für das Stimmverhalten in der Schlußabstimmung nicht nur für diejenigen, für die ich hier spreche, von entscheidender Bedeutung sein, ob die Verträge mit Polen, der Tschechischen Republik und Österreich vorher vorliegen und ob sie tatsächlich ein wirkliches Burden sharing bedeuten, d. h. den Ländern nur soviel Asylverfahren zumuten, wie sie auch vertragen können.

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Für uns gilt das nicht!)

Genauso lassen wir nicht zu, daß die Rechtswegegarantie nach Art. 19 Abs. 4 durch den Abs. 4 des Art. 16a eingeschränkt wird.
Wir brauchen eine Formulierung des Art. 16a, die folgenden Kriterien genügt. Sie muß die Teilnahme der Bundesrepublik an Schengen und Dublin ermöglichen. Sie muß für Einreisende aus Drittstaaten, die Schengen und Dublin nicht ratifiziert haben, aber die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleisten, die Zuständigkeit für das Asylverfahren von vertraglichen Vereinbarungen mit diesen Ländern abhängig machen.
Mehr muß sie nicht regeln. Sie darf die Rechtswegegarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes nicht einschränken.
Eine solche Formulierung gibt es, und wir täten gut daran, diese Formulierung in den vor uns liegenden Ausschußberatungen und in der Verfassungskommission gründlich zu beraten. Es könnte doch sein, daß nach gründlicher Überlegung auch diejenigen sie für besser halten, die jetzt den vorliegenden Entwurf unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich sprach von einer Grundgesetzänderung als einem Element eines Maßnahmenpakets. Lassen Sie mich deswegen zum Schluß sagen, daß es die Verhandelnden am 6. Dezember 1992 auf Grund der Weigerung der Vertreter der Regierungsparteien versäumt haben, ein umfassendes humanes und dem zunehmenden Wanderungsdruck angemessenes Maßnahmenpaket zu vereinbaren.
Es fehlt die Einigung auf ein Zuwanderungsgesetz, daß denen eine Chance bietet, die aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen wollen und so lange einen Weg durch das Asylverfahren suchen, wie kein anderer Weg ihnen eine Chance bietet, ein Zuwanderungsgesetz mit jährlichen Quoten entsprechend unserer Aufnahme- und Integrationskapazität, ein wirksames Instrument auch zur Verringerung der illegalen Einreise.
Nicht vereinbart wurden Maßnahmen zur Integration der bei uns lebenden Ausländer. Ich nenne die Erweiterung des Rechtes auf Einbürgerung, die Zulassung der Doppelstaatsangehörigkeit oder die Einführung des Kommunalwahlrechts für lange bei uns lebende Ausländer.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P., der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Höchste Zeit wird es, daß wir uns von unserem genetischen Staatsbürgerschaftsrecht verabschieden und eine Anpassung an das Staatsbürgerschaftsrecht anderer demokratischer Staaten vornehmen. Wer in Deutschland geboren wird, soll Deutscher sein.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Was, zum Kuckuck, hat Sie eigentlich daran gehindert, konkrete Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung zu vereinbaren? Die Sonntagsredner aller Parteien betonen, daß dies die vordringlichste und wirksamste Art sei, dem Wanderungsdruck auf Dauer entgegenzuwirken. Lassen Sie diesen Reden endlich Taten folgen, meine Damen und Herren Koalitionäre!

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben doch Vorschläge gemacht, nachdrücklicher als bisher auf die Einhaltung der Menschenrechte zu drängen, die wirtschaftliche und humanitäre Hilfe für die Länder des Südens und Osteuropas nachhaltig zu verstärken, unsere öffentlichen entwicklungspolitischen Leistungen bis zum Jahre 2000 schrittweise auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu erhöhen. Warum weigern Sie sich, unsere Vorschläge anzunehmen?

(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Weil sie realitätsfremd sind!)

— So sehen Sie aus!
Nein, dieser Parteienkompromiß vom 6. Dezember ist kein guter.

(Unruhe bei der CDU/CSU)

Aber die Chance für ein wirklich gutes, humanes, wirksames und breit akzeptiertes Maßnahmenpaket haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, ja schon längst verspielt durch Ihre jahrelange schändliche Hetzkampagne gegen Asylbewerber,

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

durch Ihre Instrumentalisierung dieses ernsten
Themas für parteitaktische Zwecke zum Verdecken



Detlev von Larcher
Ihrer Unfähigkeit, mit den Problemen der deutschen Einheit fertig zu werden. Es ist eine Schande, daß Mitglieder einer deutschen Bundesregierung eine solche Hetzkampagne veranstalten, damit die fremdenfeindliche Stimmung schüren und dem Rechtsradikalismus Stichworte liefern.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

Ich appelliere an die Bundesregierung, an die Koalitionsfraktionen und an die Oppositionsparteien: Lassen Sie uns die Mahnungen und die Vorschläge der vielen tausend Bürgerinnen und Bürger, die für den Erhalt des Asylrechts und die Möglichkeit seiner Inanspruchnahme eintreten, bei den weiteren Beratungen in den parlamentarischen Gremien ernsthaft überprüfen und bedenken! Der hier vorgelegte Art. 16a kann so nicht bleiben.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der PDS/ Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Er bleibt!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213408300
Als nächster spricht der Kollege Hans-Joachim Otto.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt mal wieder etwas Sachliches dazwischen!)


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1213408400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege von Larcher, wenn wir uns weiterhin einer Steuerung des Asylproblems versagen, werden wir eines Tages von den Wählern, auch von unseren eigenen, hinweggefegt, dann werden wir zu Prügelknaben gemacht werden. Ich sage euch: Wir sind am Ende mitschuldig, wenn faschistische Organisationen aktiv werden. Es ist nicht genug, vor Ausländerfeindlichkeit zu warnen; wir müssen die Ursachen angehen, weil uns sonst die Bevölkerung die Absicht, den Willen und die Kraft abspricht, das Problem in den Griff zu bekommen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, der Beifall kommt von der falschen Seite.

(Zurufe von der CDU/CSU: Nein, nein!)

Dies war ein Zitat. Es stammt von Herbert Wehner.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das spielt keine Rolle!)

Er sagte dies vor dem SPD-Parteivorstand am 15. Februar 1982. Seine Worte haben nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil, mit seiner Warnung lag Herbert Wehner erschreckend richtig.
Bewußt habe ich hier die Worte eines bedeutenden SPD-Politikers zitiert, um mich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion dieses Hauses zu wenden, die bisher dem Asylkompromiß ablehnend gegenüberstehen.
Gewiß, die Einschränkung eines Grundrechtes, das nicht nur vom Bundeskanzler als heilig bezeichnet worden ist, fällt uns allen, auch uns Liberalen, wahrhaft nicht leicht, denn die Ausformung des Asylrechtes als individuelles Grundrecht ist — darüber sind wir uns einig — auf Grund historischer Erfahrungen mit der Hitlerdiktatur geschaffen worden. Zweifellos müssen wir uns deshalb bei dieser Debatte des geschichtlichen Hintergrundes sehr wohl bewußt sein.
Aber, meine Damen und Herren, dies bedeutet keinesfalls ein Tabu für jede Anpassung an veränderte Verhältnisse. Vor allem rechtfertigt gerade dieser geschichtliche Hintergrund keinesfalls den ebenso unsachlichen wie unberechtigten Vorwurf, die Befürworter einer Grundrechtsänderung beugten sich nur populistisch dem Druck der Straße.

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herr Kolleg Weiß, Ihre Rede hat mich sehr betroffen gemacht. Sie haben gesagt, wir verletzten die Würde des Grundgesetzes und beugten Menschenrechte. Das ist schon sehr starker Tobak.
Herr Kollege von Larcher, Sie haben Achtung und Respekt für diejenigen eingefordert, die hier eine Minderheitsposition vertreten und sich gegen jede Änderung des Grundrechts aussprechen. Ich bitte Sie, auch in der Wortwahl Achtung und Respekt denjenigen zu bezeugen, die sich für eine Änderung des Grundrechts aussprechen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Auch Sprache ist hier verräterisch.


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213408500
Eine Zwischenfrage des Kollegen Larcher, die zugelassen wird.

Detlev von Larcher (SPD):
Rede ID: ID1213408600
Herr Kollege, ist Ihnen entgangen, daß ich durchaus Respekt vor einer anderen Meinung habe, daß ich aber nicht respektieren kann, wenn gegen Asylbewerber gehetzt wird, wie das in der Vergangenheit geschehen ist?

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn gehetzt?)


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1213408700
Herr Kollege, selbstverständlich werden sich alle Mitglieder dieses Hauses gegen Hetzkampagnen gegen Asylbewerber stellen. Aber Ihre Rede war nicht sehr differenziert. Wenn Sie hier pauschal von schändlichen Hetzkampagnen sprechen, ist das nicht sehr hilfreich in einer schwierigen Debatte, in der es auch atmosphärisch darauf ankommt, daß man miteinander reden kann.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, es ist leider ein Faktum: Eine Änderung der Asylregelung ist dringend erforderlich, ja sie ist überfällig; denn es ist keine Propaganda von irgendwelchen rechten Demagogen, von Schönhuber usw., sondern es ist harte Realität, daß die Zahl der Asylbewerber allein im vergangenen Jahr um rund 70 % auf die vielfach erwähnten 438 000 angestiegen ist. Ebenfalls nüchterne Tatsache ist es, daß 95 % dieser Asylbewerber nicht politisch verfolgt und daher auch nicht asylberechtigt sind.
Ebensowenig kann geleugnet werden, daß wir allerorten wachsende Probleme haben, diese Flücht-



Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

linge menschengerecht unterzubringen. Viele Städte und Gemeinden — davon wird Ihnen sicherlich gerade der Kollege Bernrath ein langes Klagelied singen können — sind mit dieser Aufgabe schlicht überfordert. Tatsache ist schließlich auch, daß weltweit die Zahl der Armutsflüchtlinge weiter zunimmt. Zur jahrzehntelangen Süd-Nord-Migration ist in den letzten Jahren eine Ost-West-Wanderung hinzugekommen.
Meine Damen und Herren, wenn jetzt Politiker aus gesinnungsethischer Befangenheit die Augen vor diesem unstreitigen Sachverhalt verschließen und trotzig an ihren alten Programmsätzen festhalten, werden sie nach meiner Auffassung ihrer Verantwortung für die Gesellschaft nicht gerecht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Herbert Wehner erkannte es bereits vor mehr als zehn Jahren: Es geht keinesfalls nur um parteitaktische Vorteile, es geht vielmehr auch um die Stabilität unserer demokratischen Ordnung und um das Vertrauen der Bürger in die Problemlösungskompetenz der Politik. Alle Meinungsumfragen belegen es: Die Lösung des Asylproblems sehen die Bürger inzwischen als die vordringlichste Aufgabe des Staates an.

(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: So ist es!)

Herr von Larcher, bitte vereinnahmen Sie nicht Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern, die auf die Straße gegangen sind und gegen Ausländerfeindlichkeit demonstriert haben, die sich an Lichterketten beteiligt haben als Gegner einer Grundgesetzänderung.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Auch wir haben uns daran beteiligt und sind trotzdem hierzu bereit.

(Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Die haben auch für die Erhaltung des Art. 16 demonstriert!)

Die Bürgerinnen und Bürger dürfen von uns Politikern verlangen, daß wir sie mit dieser erstrangigen Sorge nicht allein lassen. Es erscheint mir deshalb als — vorsichtig ausgedrückt — wenig hilfreich, wenn jetzt einige vom breiten Volk bestens abgeschirmte Schriftsteller, Musiker und Schauspieler „Hände weg vom Asylrecht! " rufen, aber zur Lösung der alltäglichen Unterbringungsprobleme nichts, aber auch gar nichts beitragen.

(Beifall bei der CDU/CSU — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr richtig! Abgeschirmt in ihren Villen!)

Kolleginnen und Kollegen, manchmal träumt sicherlich auch unsereiner davon, für stolzes Geld kritische Lieder zu singen, die politischen Deppen in Bonn zu verspotten und dafür von einem breiten Publikum noch gefeiert zu werden.

(Beifall bei der F.D.P.)

Uns Politikern bleibt statt dessen, in zäher, mühsamer Kleinarbeit ohne begeisterte Zustimmung der Bürger einen äußerst schwierigen Zielkonflikt zu
bewältigen, nämlich die hunderttausendfache mißbräuchliche Berufung auf das Asylrecht einzudämmen, dabei eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge über ganz Europa sicherzustellen und gleichzeitig den Schutz der tatsächlich Verfolgten zu gewährleisten. Diese drei Ziele werden durch den vorliegenden Gesetzentwurf, wie ich persönlich und auch meine Fraktion das finden, in bestmöglichem Umfang erreicht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dieser Gesetzentwurf steht insbesondere im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Wenn Sie, Kollege von Larcher, darauf hinweisen, es sei ein großes Problem, daß mit diesem Gesetzentwurf ein Anreiz für illegale Einreise geschaffen werde, so gebe ich Ihnen durchaus recht. Dies ist ein ernstes Problem. Dieses Problem aber ist uns durch die Genfer Flüchtlingskonvention aufgegeben. Wir können uns dem nicht entziehen. Das ist ein Problem, das wir in Deutschland isoliert nicht lösen können.
Wer aber gegen die Drittstaatenregelung polemisiert, Deutschland wolle mit Hilfe eines „Cordon sanitaire", eines „Ganzstaatenkondoms" nahezu alle Flüchtlinge abwehren, übersieht zumindest zweierlei: Erstens. Asyl bedeutet Schutz vor politischer Verfolgung, aber nicht notwendigerweise Schutz in Deutschland. Zweitens. Es möge sich niemand täuschen: Auch in Zukunft werden wir in Deutschland sicherlich nicht zu wenige, sondern immer noch zu viele Armutsflüchtlinge haben. Not macht bekanntlich erfinderisch.
Besonders hinweisen möchte ich auf die sprachliche Klarstellung im neuen Gesetzentwurf, wonach sich der Flüchtling bei Einreise aus einem sicheren Drittstaat nicht auf ein Asylrecht berufen kann, was umgekehrt aber bedeutet, daß der Staat es ihm gewähren kann. Dies öffnet den Weg zu sinnvollen humanitären Entscheidungen und entspricht im übrigen auch dem im Schengener Abkommen niedergelegten nationalen Vorbehalt.
Gerne würde ich mich mit dem Einwand von Herrn Dr. Stoiber auseinandersetzen. Dazu fehlt mir aber leider die Zeit.
Offengeblieben ist im Gesetzentwurf, ob sich bei Einreise aus einem sicheren Herkunftsland der eingeschränkte Prüfungsumfang nur auf das Gerichtsverfahren oder bereits auf das vorausgehende Verwaltungsverfahren bezieht.

(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch nicht offengeblieben, denke ich!)

Es spricht vieles dafür, aus rechtsstaatlichen Gründen nur dann eine Verkürzung des Rechtsschutzes zuzulassen, wenn zuvor die zugrunde liegenden Tatsachen im Wege eines unverkürzten Verwaltungsverfahrens ermittelt werden konnten.

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213408800
Herr Kollege Otto, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1213408900
Ja.




Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213409000
Herr Kollege, Sie haben in Ihrer Rede darauf aufmerksam gemacht, daß es sehr viele Intellektuelle in Deutschland gibt, die sich für die Erhaltung des Asylrechts einsetzen, und haben ihnen unterstellt, daß sie nichts von den Problemen, über die sie reden, wüßten. Ist Ihnen bekannt, daß z. B. Wolf Biermann jahrelang einen russischen Asylanten, der aus der DDR geflohen war und der in der Bundesrepublik aus bekannten politischen Gründen keine Aufnahme finden konnte, bei sich zu Hause als Asylanten beherbergt hat und damit ja wohl doch Erfahrungen gesammelt hat, wie die Situation eines Asylbewerbers ist? Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1213409100
Herr Kollege Weiß, das nehme ich gerne zur Kenntnis. Gleichwohl möchte ich Sie darauf hinweisen: Ich habe gesagt, es gibt viele — ich sage jetzt einmal — Künstler, die öffentlich rufen „Hände weg vom Asylrecht! ", aber keinerlei Vorschläge machen, wie wir den massenhaften, über 400 000 Personen umfassenden, ungeregelten Zuzug in den Griff bekommen. Ich finde es sehr ehrenhaft, daß Herr Biermann einen Asylbewerber aufgenommen hat. Damit ist aber das Problem der übrigen 438 000 Asylbewerber noch nicht gelöst.

(Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ CSU)

Deswegen sage ich: Wer sagt „Hände weg vom Asylrecht! " , der ist verdammt noch mal aufgerufen, uns in diesem Hause sinnvolle Vorschläge zu machen, die über das hinausgehen, was wir bisher hatten; denn die bisherigen Vorschläge — darauf haben viele Vorredner hingewiesen — waren offensichtlich nicht effektiv genug, um dieses Problem zu lösen.

(Detlev von Larcher [SPD]: Den letzten haben wir noch nicht einmal richtig ausprobiert!)

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213409200
Nun hat die Ministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1213409300
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung behandeln, wird versucht, einen Schlußstrich unter die in den letzten Jahren oft quälende, Emotionen freisetzende und Kräfte bindende Debatte um unser Individualgrundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte zu ziehen. Erleichterung kann man
darüber verspüren, daß die seit vielen Jahren häufig in wenig erfreulicher Art und Weise geführte Diskussion und Instrumentalisierung des Themas jetzt hoffentlich zu einem Ende kommt. Machen wir uns immer wieder deutlich: Hier geht es um das Schicksal von Menschen, die Not, Armut und Hunger leiden und nach einer besseren Lebensperspektive suchen.
Ich kann und will nicht verhehlen, daß es mir als Bundesministerin der Justiz und als Abgeordneter der F.D.P. nicht leichtgefallen ist, diesen Kompromiß mitzutragen. Es ist für eine Justizministerin nicht leicht, eine Verfassungsänderung mitzutragen, die ein bisher vorbehaltlos gewährtes Grundrecht in erheblichem Umfang einschränkt. Und es ist für eine liberale Partei nicht leicht, eine frühere, immer wieder bekräftigte Überzeugung über die fehlende Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung zu revidieren.
Wenn wir dies trotzdem tun, dann nicht aus Opportunismus, sondern aus der Erkenntnis heraus, daß eine Grundgesetzergänzung zwar kein Allheilmittel ist, eine Lösung der vielfältigen Probleme im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung — besonders mit Blick auf die Entwicklung in Europa — ohne sie aber nicht zu erreichen ist.

(Beifall des Abgeordneten Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])

Nur einiges will ich an dieser Stelle noch ausdrücklich betonen. Erstens. Die Änderung des Asylrechts ist kein Mittel, den gefährlichen Rechtstrend in unserer Gesellschaft und rechtsradikale fremdenfeindliche Ausschreitungen und Gewalttaten zu bekämpfen. Die notwendige Konsequenz aus solchen Straftaten ist die kompromißlose Ahndung durch die zuständigen Stellen und die Stärkung des liberalen Elements gegen rechte und linke Ideologien. Die Konsequenz darf gerade nicht die Beeinflussung der politischen Entscheidung dieses Parlaments über die Ausgestaltung des Asylrechts sein, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Zweitens. Für mich steht im Vordergrund, daß es darum geht, den grundgesetzlich verbrieften Anspruch auf Asyl abzugrenzen gegen verständliche, aber eben weitgehend nicht erfüllbare Wünsche, vor Not und Elend in ein wohlhabendes Land zu flüchten. Das heißt, für mich besteht das Ziel der Neuregelung darin, einerseits den politisch Verfolgten die Möglichkeit zu geben und ihnen zu helfen, ihren Schutzanspruch schnell und wirksam geltend zu machen. Deshalb muß andererseits der Strom von Menschen, die nicht als politisch Verfolgte, sondern aus wirtschaftlicher Not oder wegen kriegerischer Auseinandersetzungen zu uns kommen, gesteuert, begrenzt und kanalisiert werden.
Auch in Zukunft wird es ein Grundrecht des politisch Verfolgten auf Asyl geben. Kein staatlicher Gnadenakt, keine Ermessensentscheidung, sondern ein einklagbarer Anspruch auf Asyl — das ist die humanitäre Botschaft auch des neuen Asylartikels unserer Verfassung.
Gewiß, auf das Asylgrundrecht kann sich nicht berufen, wer aus sogenannten sicheren Drittstaaten zu uns kommt. Was letztendlich ausschlaggebend dafür war, einer solchen Lösung die Zustimmung nicht



Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
zu verweigern, ist für mich, daß dadurch niemand der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt wird. Ich frage mich auch selbst, ob in dem ursprünglichen Zweifel gegenüber dieser Regelung nicht manchmal auch ein unangebrachtes Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber anderen Staaten mitschwingt, die ebenfalls Schutz vor politischer Verfolgung gewähren und dabei die Genfer Flüchtlingskonvention wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention genauso beachten wie wir. Daß sie dazu Hilfe brauchen, wissen wir. Diese Hilfe wollen wir auch geben.
Im übrigen bin ich froh, daß wir uns letzten Freitag gemeinsam auf eine Formulierung verständigt haben, die deutlich macht, daß sich Deutschland nicht abschotten will. Die Regelung behält dem Staat die Möglichkeit vor — etwa im Zuge der Vereinbarungen mit Nachbarstaaten —, Asyl zu gewähren, auch wenn in diesen Fällen dem Ausländer ein subjektives Recht nicht zusteht.
Die Verfassungsänderung schafft weiter die Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilnahme Deutschlands an den Übereinkommen von Schengen und Dublin. Sie eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit weiterer Zuständigskeitsvereinbarungen mit anderen Staaten, allerdings nur mit Staaten, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist; auch diese Begrenzung der Vertragsstaaten macht deutlich, daß über die Rechte des Asylbewerbers nicht einfach hinweggegangen werden kann.
Als Justizministerin liegt mir die Gewährleistung des gerichtlichen Rechtsschutzes besonders am Herzen; denn ein Recht ohne jeden Rechtsschutz ist wertlos. Im Vorfeld der Verhandlungen gab es viele Forderungen, auch massive Einschränkungen in diesem Bereich vorzunehmen. Für mich ist es sehr wichtig, daß es jetzt auch in offensichtlich unbegründeten Fällen und bei der Regelung der sicheren Herkunftsländer bei einem gerichtlichen Rechtsschutz bleibt, wie es Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes vorschreibt. Das einstweilige Rechtsschutzverfahren ermöglicht auch bei Kürzung und Straffung eine schnelle Entscheidung über einen abgelehnten Asylantrag.
Der Gesetzentwurf zu der Grundgesetzänderung geht jetzt in die parlamentarischen Beratungen. Gewiß, er ist zügig zu behandeln, und Verzögerungen sind zu vermeiden. Aber gerade Verfassungsänderungen haben einen Anspruch auf sorgfältige und gründliche Prüfung.
Es ist heute schon mehrfach betont worden, daß die Grundgesetzänderung allein nicht ausreicht, um in der Praxis Wirkung zu entfalten, sondern es kommt entscheidend auf die einfachgesetzliche Umsetzung und auf die künftige Verwaltungspraxis an. Zum anderen — das ist von genauso großer Bedeutung — muß jedem klar sein, daß eine Neuregelung des Asylrechts die generelle Zuwanderungsproblematik nicht beseitigt oder gar löst.
Bereits im Rahmen der einfachgesetzlichen Regelungen benötigen wir klare Vorschriften zur Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen. Das haben wir vereinbart. Im Hinblick auf die weltweiten Migrationsbewegungen sind darüber hinaus auch Regelungen zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung notwendig, die den langfristigen bevölkerungs-, arbeitsmarkt- und wohnungspolitischen Erfordernissen Rechnung tragen. Schließlich erwähne ich auch in diesem Zusammenhang die Koalitionsvereinbarung, in der eine umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts festgelegt ist. Die Diskussionen dazu werden erst noch beginnen; wir haben sie noch keineswegs abgeschlossen.
Lassen Sie mich für die Umsetzung der Grundgesetzänderung noch drei Wünsche formulieren. Erstens. Mißstände und Mißbräuche auf Grund des geltenden Rechts, die niemand leugnet, sind abzustellen und zu bekämpfen. Aber wir sollten uns davor hüten, den Mißbrauchsfall als Regelfall hinzustellen.

(Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unser Thema verlangt auch in sprachlicher Hinsicht Sensibilität.
Zweitens. Deutschland wird und darf sich nicht abschotten, sondern muß seiner Verantwortung für die Not fremder Menschen sowie seiner Verantwortung als freiheitlicher Rechtsstaat und als wirtschaftlich — trotz aller Schwierigkeiten — reiches Land in Zukunft gerecht werden. Wir können uns auch künftig ein Asylrecht für politisch Verfolgte leisten.

(Beifall bei der F.D.P.)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213409400
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Ja, Herr Kollege.

Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1213409500
Frau Ministerin, teilen Sie meine Auffassung, daß trotz Änderung oder Ergänzung des Art. 16 bei uns noch immer ein weitaus höherer Standard für Asylsuchende, die politisch verfolgt sind, als in unseren europäischen Nachbarländern vorhanden ist, und teilen Sie meine Auffassung, daß wir durch die Änderung und durch die Maßnahmen, die dazugehören, den wirklich politisch Verfolgten viel besser Asyl gewähren können als vorher?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Rede ID: ID1213409600
Ich habe in meinen Ausführungen deutlich gemacht, daß wir für politisch Verfolgte — da gibt es für mich nicht wirklich oder tatsächlich politisch Verfolgte;

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie bei der SPD)

wer politisch verfolgt ist, genießt Asylrecht — den ersten Satz dieses Artikels in unserer Verfassung haben stehenlassen können. Ich bin froh, daß wir uns darauf gemeinsam haben einigen können.
Ich weiß, daß die Regelungen in den Mitgliedstaaten der EG und den anderen Nachbarstaaten sehr unterschiedlich sind, was die Ausgestaltung in der Verfassung wie auch die einfach gesetzliche Ausgestaltung betrifft. Ich habe deshalb betont, daß wir mit



Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
der vorliegenden Grundgesetzänderung in Abs. 5 Möglichkeiten schaffen, zu einer europäischen Regelung auf der Grundlage der jetzt bestehenden Abkommen zu kommen, die zu ratifizieren sind und die die Möglichkeit eröffnen, mit anderen Staaten noch Vereinbarungen zu treffen.
Ich glaube, das Ziel muß letztendlich darin liegen, zu einer vernünftigen europäischen Regelung zu kommen; denn wir sind uns alle darin einig, daß die Probleme hinsichtlich des Anstiegs der Zahl von Asylbewerbern eben nicht ein Land allein lösen kann, sondern das müssen wir gerade in Europa — und nicht nur die Mitgliedstaaten der EG — gemeinsam leisten.

(Franz Heinrich Krey [CDU/CSU]: Sie hätten die kurze Frage auch mit Ja beantworten können! — Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wir freuen uns immer, wenn die Ministerin einmal ja sagt!)

— Es ist ja gerade das Schöne, daß es Anlaß zu Diskussionen gibt, wenn Minister eben nicht nur immer gleich ja sagen. Wo bliebe denn die politische Auseinandersetzung, wenn man nicht manche Punkte auch einmal deutlich formuliert und vielleicht auch gewisse andere Pointierungen setzt?

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Das ist hier nicht üblich!)

Drittens. Ich finde es sehr wichtig, daß wir — das zeigt auch die heutige Debatte — nicht nur Respekt vor der Meinung anderer bekunden; denn wir alle sehen, wie schwer wir uns mit diesen Fragen des Asylrechts sachlich und inhaltlich tun. Deshalb ist auch der Respekt in den künftigen Gesprächen vor denen wichtig, die aus ihrer Sicht diese Regelungen nicht mittragen können oder wollen. Aber genau-sowenig darf man dann einseitig anderen, die um eine aus ihrer Sicht immer bestmögliche Lösung ringen und daran mitwirken, vorwerfen, sie würden dabei alle Überzeugungen über Bord werfen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213409700
Nun hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1213409800
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht wird man einmal sagen müssen, daß die sogenannte Asyldebatte und die Änderung ausgerechnet des Art. 16 des Grundgesetzes das wirkliche Ende der Nachkriegszeit bedeuteten, das Ende jener Zeit, in der die deutsche Gesellschaft und der deutsche Staat zumindest in wesentlichen Aspekten im Bewußtsein der deutschen Verbrechen in der Zeit von 1933 bis 1945 standen und handelten.
Nicht nur, daß mit der willkürlich losgetretenen Asyldebatte dem organisierten Neonazitum zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ein offizieller politischer Handlungsraum gegeben wurde, sondern diejenigen, die die Asyldebatte und den Zuzug von ausländischen Flüchtlingen willkürlich und entgegen den Tatsachen als Bedrohung des Lebensraums der wiedervereinigten Deutschen vom Zaun brachen,
haben nämlich auch das zweifelhafte Verdienst, dem Neonazismus und Neofaschismus zum Status eines weithin akzeptierten politischen Faktors des neuen Deutschlands verholfen zu haben.

(Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Dummes Gequatsche! — Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: So ein dummes Zeug!)

Entgegen den Fakten läuft die „Das-Boot-ist-voll"Debatte aber auch deshalb, weil unterschlagen wird, daß selbst in den Jahren 1989, 1990 und 1991 — Herr Otto, hören Sie gut hin! —(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]:
Ja!)
mehr Ausländer, weitaus mehr Ausländer die BRD verlassen haben, als an Asylbewerbern und Asylbewerberinnen nach Deutschland kamen. 1989 verließen 438 000 ausländische Menschen dieses Land; als Asylbewerber und Asylbewerberinnen kamen 121 000 in dieses Land. 1990 verließen 465 000 Ausländer dieses Land; es kamen 193 000 Asylbewerber, Auch 1991 war die Zahl derjenigen, die als Asylbewerber kamen, nur ungefähr halb so groß wie die Zahl derjenigen, die als Ausländer dieses Land verlassen haben.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Das sind die harten Fakten. Sie führen hier auf der rechten Seite eine Gespensterdebatte,

Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213409900
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1213410000
Ja, bitte schön, Herr Kollege,

Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1213410100
Herr Kollege Dr. Briefs, sind Sie, nachdem Sie ein so überzeugendes Rechenbeispiel präsentiert haben, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie hier Äpfel mit Birnen verglichen haben? Sie dürfen bei einem Vergleich nicht nur die ausgereisten Ausländer nennen, sondern Sie müssen die ausgereisten Asylbewerber in Ihre Rechnung einbeziehen. Die Statistik, die die Gesamtausländerbewegung umfaßt, ist eine ganze andere, als Sie sie uns gerade vorgetragen haben.

(Horst Peter [Kassel] [SPD]: Wie groß sind denn die Zahlen?)


Dr. Ulrich Briefs (PDS/LL):
Rede ID: ID1213410200
Das ist doch erstens falsch und zweitens kleinlich;

(Lachen bei der CDU/CSU)

denn bei Ihnen geht es doch schlicht und einfach darum, daß Sie ständig versuchen, den Eindruck zu erzeugen — Sie haben es ja gerade eben modellhaft getan, Herr Otto —, daß dieses Land irgendwann voll sein wird. Das ist nicht wahr.
Im übrigen will ich Ihnen dazu einmal eines sagen: Die Niederlande, das bei weitem am dichtesten besiedelte europäische Land, richten sich ganz nüchtern und ohne jede Panik darauf ein, in den nächsten Jahren pro Jahr 150 000 ausländische Einwanderer, insbesondere Asylbewerber und Asylbewerberinnen, zusätzlich aufzunehmen. Wenn wir das auf unsere



Dr. Ulrich Briefs
Verhältnisse übertragen würden, dann müßten wir ca, 1 Million Menschen im Jahr aufnehmen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind knapp dran!)

Ich will das nur einmal als Beispiel erwähnen.
Wenn Sie sich einmal ganz nüchtern — das kann ich Ihnen auf der rechten Seite nur empfehlen — mit den Fakten befassen, dann werden Sie feststellen, daß die Dinge wirklich eine ganz andere Sprache sprechen. Aber es gibt ja auch andere Aspekte, die das belegen.
Diese Tatsache — ich will auch ausdrücklich darauf hinweisen, daß sie vom Abgeordneten Tappe aufgedeckt worden ist — wird in der politischen Debatte und leider auch in den Medien — mit Ausnahme der „Frankfurter Rundschau", die das letztlich gebracht hat — bislang verschwiegen. Wo sind denn diese Zahlen? Die gehören doch mit ins Bild.
Nein, die Asyldebatte und die Grundrechtsrevision sind unwahrhaftig. Sie sind durchzogen vom Bewußtsein - Herr Catenhusen, das wissen Sie auch —, jetzt wieder für die rechte, traditionell konservativ-bornierte Ordnung im wiedervereinigten Deutschland sorgen zu wollen,

(Zurufe von der CDU/CSU: Na!)

— Vergleichen Sie doch einmal die Stimmen vom „Deutschland Forum" und auch einige Stimmen aus dem Hause — sie sind auch ein Versuch, die unaufhaltsame Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft aufzuhalten.
Nicht umsonst wird zudem versucht, die Ursachen — auch das gehört in dieses Bild — für die Rechtsentwicklung und für die Pogrome in Deutschland fälschlich auf die 68er-Bewegung zurückzuführen und damit den Prozeß der Öffnung und Liberalisierung der Gesellschaft in Deutschland anzuhalten und zurückzudrehen.
Der von den etablierten Parteien vorangetriebene sogenannte Asylkompromiß führt aber auch in die Irre. Er wird die Flüchtlingsbewegung nicht stoppen; er wird nur große Teile der betreffenden Gruppen in den Untergrund abdrängen und kriminalisieren. Er wird das Wenige an politischer Kultur beseitigen, das wir überhaupt praktizieren.
Man stelle sich doch nur einmal vor, wie abstumpfend und politisch verrohend Berichte über brutale Zurückweisungen und Abschiebungen von verängstigten, verzweifelten Kindern, Frauen und Männern, und von Zwischenfällen an technologisch hochgerüsteten deutschen Grenzen zum Osten hin — die Mauer unseligen Angedenkens läßt hier in der Tat schön grüßen — wirken müssen in einer Gesellschaft, in der zudem ohnehin große Teile der Bevölkerung, wie Rostock gezeigt hat, ein tendenziell rassistisches Bewußtsein haben.
Man stelle sich die Debatten in diesem Hause vor, wenn über die „verfolgungsfreien Länder" befunden werden soll. „Pro Asyl" weist völlig zu Recht darauf hin, daß die Zahl der anerkannten Asylbewerber in der BRD kein Kriterium für die Aufnahme dieser Länder in die Liste sein kann. Die Praxis derartiger
Listen ist aber ohnehin ein völlig falscher Schritt des Zurückweichens vor den militanten Rechten in diesem Lande.
Das Asylrecht als individuelles Recht muß unantastbar bleiben wie die Würde des Menschen. Es darf nicht ausgehöhlt werden. Das bewirkt aber der Asylkompromiß.
Wer Art. 16 ändert, wozu die Mehrheit in diesem Hause offensichtlich entschlossen ist, ändert im Grunde Art. 1 des Grundgesetzes. Er lautet dann künftig nicht mehr „Die Würde des Menschen ist unantastbar", sondern: Die Würde des Menschen ist unantastbar mit Ausnahme von Menschen, die zu uns flüchten, weil sie, obschon bedroht, aus einem angeblich verfolgungsfreien Land wie Bulgarien, Ghana, Indien, Zaire oder Rumänien kommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: O Gott!)

Es hat in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik noch nie eine politische Maßnahme gegeben, die so sehr zum falschen Zeitpunkt mit falschen Mitteln an den falschen Problemen bzw. sogar an den falschen Symptomen der falschen Probleme ansetze.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

wie diese geplante Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes. Was hier vor sich geht, ist — wie mir z. B. auch immer öfter Freunde in Frankreich sagen — eine Schande für das reiche, industriell und wirtschaftlich so hoch entwickelte Deutschland.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich denke, wir sind ein Armenhaus, und jetzt sind wir wieder so reich!)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213410300
Jetzt hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Horst Peter.

Horst Peter (SPD):
Rede ID: ID1213410400
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gemeldet wegen der Kontroverse um die Zahlen, die wir eben erlebt haben. Ich halte diese Kontroverse für symptomatisch für die völlig unzureichende Information über das, was an Wanderungsbewegung in die Bundesrepublik hinein und aus der Bundesrepublik hinaus tatsächlich abläuft. Ich meine, es ist das große Versäumnis des Bundesinnenministers, daß er nicht in der Lage war, die deutsche Öffentlichkeit über die Wanderungsbewegung in einer Form aufzuklären, daß mit diesen Zahlen etwas anzufangen ist und mit den Zahlen nicht nur ständig Angst erzeugt wird,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der PDS/Linke Liste)

Herr Minister Seiters, Sie haben sich da auch nicht gebessert. Sie geben Zuwanderungszahlen an für Asylbewerber, Sie geben die Zahlen an über die Länder, aus denen sie kommen. Sie geben aber keine Zahlen an über diejenigen, die auf Grund der Genfer Flüchtlingskonvention hier im Lande bleiben dürfen. Sie geben keine Zahlen an über diejenigen, die im Lande bleiben dürfen auf Grund ausländerrechtlicher Bestimmungen. Sie geben keine Zahlen darüber an, wie viele Asylbewerber die Bundesrepublik tatsächlich verlassen haben. Sie sind dafür verantwortlich,



Horst Peter (Kassel)

daß das Feststellen der Fakten in der Bundesrepublik ein Ermittlungsfall für Journalisten ist, weil sich die Bundesregierung in diesen Dingen meistens dumm stellt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde, daß ist ein ganz entscheidender Mangel der gegenwärtigen Zuwanderungsdiskussion. Das läßt Tür und Tor offen für Vermutungen, das dieses Thema weiterhin parteipolitisch mißbraucht werden soll. Das ist durchaus nicht aus der Welt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der PDS/Linke Liste)


Renate Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1213410500
Als nächster hat unser Kollege Wolfgang Zeitlmann das Wort.

Wolfgang Zeitlmann (CSU):
Rede ID: ID1213410600
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein paar Sätze zu den Vorrednern.

(Zuruf von der CDU/CSU: Erübrigen sich!)

Ich muß wirklich sagen: Ob das der Herr Kollege Dr. Briefs oder auch der Kollege Weiß war — darauf kann man mit ernsten Worten eigentlich gar nicht mehr antworten; das ist nicht mehr möglich.

(Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos]: Daß Sie das nicht können, ist mir klar!)

Ich gehöre diesem Bundestag jetzt fünf Jahre an, bin seit der Zeit im Innenausschuß, erlebe die Diskussion zum Asyl also genau fünf Jahre. Kollege Peter, wenn Sie jetzt nach Zahlen fragen, obwohl es genügend Zahlen gibt, die den Mißbrauch deutlich machen —

(Widerspruch bei der PDS/Linke Liste)

— Hören Sie doch erst einmal zu! Sie reden immer schon, ohne gehört zu haben, was ich Ihnen sagen will.

(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Haben Sie kein Manuskript?)

— Ich kann Ihnen die Dinge hier auch nach Manuskript vortragen.
Die Zahl derer, die in einem Verfahren stehen, die Bugwelle, die wir beim Bundesamt vor uns herschieben, die Zahl der Verfahren, die bei den Gerichten anhängig sind, macht deutlich — auch die Anerkennungszahlen machen das deutlich —, daß es — ob Sie sich sprachlich daran stoßen oder nicht — Mißbrauch gibt. Es ist doch nur noch ein Rückzugsgefecht, wenn Sie so tun, als würden auch Sie gern zustimmen, nur fehlten Ihnen die entsprechenden Zahlen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Debatte war im Grunde hochinteressant. Ich habe einen neuen Innenminister Schnoor gehört. Ich erinnere mich an Reden, auch hier in diesem Hause, die ganz anders waren.

(Zuruf von der CDU/CSU: Saulus — Paulus!)

Ich sage dazu: Hut ab, wenn jemand seine Meinung ändert! Voller Respekt.

(Zuruf von der SPD)

— Schon wieder ein Zwischenruf: bayerischer Minister. — Ich habe auch einen neuen Dr. Stoiber gehört. Der war heute viel moderater, als ich ihn auch hier schon gehört habe. Ja und?

(Detlev von Larcher [SPD]: Er hat Kreide gefressen!)

Meine Damen und Herren, es gehört doch auch dazu, mit dem zufrieden zu sein, was jetzt ist, nämlich damit, daß wir eine Einigung haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir es allein bestimmen könnten, hätten wir — das wissen Sie — eine etwas schärfere Form gefunden. Mein Vorgänger als innenpolitischer Sprecher der Landesgruppe, Hermann Fellner, hat 1987 die Änderung des subjektiven Grundrechts gefordert. Er ist damals, auch noch von CSU-Kreisen, attackiert worden; es ist gesagt worden, das sei eine persönliche Meinung.
Es ist doch befriedigend, jetzt nach fünf Jahren sagen zu können: Es hat sich viel verändert, leider erst unter dem Druck von Zahlen. — Das hätte man auch früher haben können.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Aber Tatsache ist, daß wir dabei sind, einen entscheidenden Schritt voranzukommen.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Meine Damen und Herren, mit dem heutigen Beginn der Beratungen zur Novellierung des Asylrechts werden die schon seit geraumer Zeit notwendigen gesetzgeberischen Schritte nunmehr endlich in die Wege geleitet. Die Warnungen meiner Partei, daß Deutschland zum Einfallstor für die Zuwanderung nach Westeuropa geworden sei, und die konkreten gesetzgeberischen Vorschläge dazu wurden in der Vergangenheit leider in den Wind geschlagen. Dies hat sich zum Teil bitter gerächt. Alle Befürchtungen von uns sind eingetreten.
Angesichts einer bislang nicht vorstellbaren Größenordnung von mehr als 430 000 Asylbewerbern im Jahre 1992 und durch entscheidenden Druck im kommunalen Bereich haben die Verantwortlichen der beiden großen Parteien außerhalb der Union heute signalisiert, daß sie einer solchen Lösung zustimmen wollen. Erst Ende vergangenen Jahres und unter dem Druck einer gewaltigen Zerreißprobe für unser Gemeinwesen konnte bei den Verhandlungen zwischen den Vertretern der großen Parteien eine tragfähige Lösung vereinbart werden.
Wir haben nie — auch die CSU hat dies nie getan — eine ersatzlose vollständige Abschaffung des derzeit in Art. 16 GG geregelten und festgeschriebenen Asylrechts verlangt. Wir sind der Überzeugung, daß politisch wirklich Verfolgten ein verfassungsrechtlich begründeter Schutz zukommen muß.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung genießt asylrechtlichen Schutz gemäß Art. 16 GG jedoch nur, wer wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkung



Wolfgang Zeitlmann
seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt ist oder solche Verfolgungsmaßnahmen begründet befürchtet.
Wenn man die Hauptherkunftsländer betrachtet, so wird deutlich, daß aus Ost- und Südosteuropa 1992 mehr als 280 000 Personen — das sind zwei Drittel aller Bewerber — gekommen sind. Wenn man dann auf die Anerkennungsquote von Verwaltung und Gericht schaut — ich sage ausdrücklich: von Verwaltung und Gericht —, die 1992 bei ca. 7 % liegen dürfte — 4,4 % von der Verwaltung; die Prozentzahl von den Gerichten für das Jahr 1992 können wir natürlich noch nicht definitiv sagen; ich schätze, daß das noch einmal 3 % sind —, so wird deutlich, daß es nicht um Asyl, sondern um Zuwanderung geht.
Wenn wir nunmehr eine Anpassung des Grundgesetzes an die tatsächlichen Verhältnisse vornehmen, bedeutet das nicht, daß wir das Asylrecht über Bord werfen. Vielmehr wird bei Verabschiedung der heute vorgelegten Novellierung des Grundgesetzes eine Anpassung an die aktuelle verfassungspolitische Situation vorgenommen.
Auch aus europapolitischen Gründen war eine Novellierung des Asylgrundrechts dringend notwendig. So nimmt die Bundesrepublik Deutschland derzeit zwei Drittel aller Bewerber auf, die sich in den Staaten der EG melden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Nach der derzeit geltenden Rechtslage muß unser Land auch Bewerber aufnehmen, deren Anträge in sicheren Drittstaaten bereits beschieden sind.
Das nunmehr wiedervereinte Deutschland muß deshalb auch im europäischen Rahmen in die Lage versetzt werden, eine europäische Innenpolitik zu betreiben. Durch die Einfügung des vorgesehenen Abs. 5 in Art. 16a des Grundgesetzes wird Deutschland die vollständige Umsetzung des Schengener Abkommens und des Dubliner Abkommens ermöglicht.
Eine Abschaffung des Mißbrauchs des Asylrechts ist ebenfalls im Hinblick auf die künftigen Beziehungen Deutschlands zu osteuropäischen Nachbarländern notwendig. So werden wir nur dann in der Lage sein, die von uns als demokratisches Grundrecht lange geforderte Freizügigkeit auch den jungen und sich entwickelnden Staaten Osteuropas zu gewähren, wenn ein Mißbrauch des Asylrechts und des damit verbundenen Aufenthalts- und Bleiberechts unterbunden wird. In diesem Zusammenhang sei nur an die Anfang dieses Jahres in Kraft getretene Reisegesetzregelung Rußlands erinnert, nach der nunmehr auch den Bürgern dieses Staates Freizügigkeit und Reisefreiheit gewährt werden.
Eine zügige Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfs ist somit nicht nur aus innenpolitischen Gründen geboten, sondern ist auch ein wesentliches Erfordernis für die zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten unserer Außen- und Europapolitik.
Die Union begrüßt, daß sich SPD und F.D.P. jetzt ebenfalls zur Einleitung und Verabschiedung der notwendigen Schritte bereit erklären. Wenn es jetzt darauf ankommt, die weiteren parlamentarischen
Beratungen zügig und mit der gebotenen Sorgfalt voranzubringen, so ist nochmals darauf hinzuweisen, daß es nicht extreme Parteien, Verbände und Gruppierungen waren, die die Notwendigkeit politischen Handelns erkannten und aufgriffen. Wie eingangs ausgeführt, war es die CSU, die schon vor Jahren, nämlich Mitte der 80er Jahre, einen entsprechenden Maßnahmenkatalog vorgelegt und entsprechende Vorschläge gemacht hat.
Meine Damen und Herren, etwas, was mir in der Diskussion auffiel, möchte ich hier noch behandeln, nämlich daß wir uns gegenseitig an den Kopf werfen, Radikale — in dem Fall war von Republikanern die Rede — würden in ihren Programmen etwas fordern, und jetzt mache die Mehrheit der demokratischen Parteien das nach, was dort gefordert werde. Ich sage Ihnen ganz offen: Bei allen Gruppierungen, ob radikal oder nicht, werden Sie einzelne Sätze finden, die sie inhaltlich nicht widerlegen können, die vielleicht richtig sind und die zu unterstützen nicht allein deswegen unterbleiben darf, weil sie politisch von der falschen Seite vertreten werden. Wenn Schönhuber das Einmaleins beherrscht, werden Sie sich nicht hinstellen und sagen wollen, daß Sie ab heute gegen das Einmaleins sind. — Also: Die Methode sollten wir uns bei einer so ernsten Thematik gefälligst gegenseitig ersparen.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die konstruktiven Töne, die ich heute gehört habe. Ich bedanke mich auch für die bisherige Mitarbeit und hoffe auf ein weiteres gutes Zusammenarbeiten in den Gremien, die die Dinge voranzubringen haben.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213410700
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Jürgen Schmude das Wort.

Dr. Jürgen Schmude (SPD):
Rede ID: ID1213410800
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir bringen heute zu einem Teil der Verhandlungsergebnisse über Asyl und Zuwanderung vom Dezember 1992 einen Gesetzentwurf ein. Mindestens ein weiterer Entwurf wird folgen. Beide werden gemeinsam behandelt werden und können nur gemeinsam verabschiedet werden, und zwar dann, wenn alle Verhandlungsergebnisse in befriedigender Weise in konkrete Regelungen umgesetzt worden sind, sonst nicht. Mir ist wichtig, das festzuhalten.
Die Arbeit an dieser Umsetzung im parlamentarischen Beratungsverfahren unter Beiziehung von Sachverständigen und unter Aufnahme von Kritik, auch der Kritik, die wir heute hier gehört haben, und Anregungen soll schnellstmöglich beginnen. Gewiß soll sie auch bald abgeschlossen sein. Gründlichkeit und Sorgfalt aber gehen bei diesem wichtigen Thema jeder Eile vor.

(Beifall bei der SPD)

Übereilte und korrekturbedürftige Entscheidungen lösen kein Problem, sie schaffen neue.
Sehr geehrte Damen und Herren, die sozialdemokratische Handschrift in diesem Kompromiß wird an



Dr. Jürgen Schmude
der Stelle besonders deutlich, wo es heißt, daß das Grundrecht auf Asyl erhalten bleibt. Dieses Grundrecht wird seine Wirkung tun. An seinen Erfordernissen müssen sich Ausführungsregelungen und Einschränkungen orientieren. Es geht eben nicht um die völlige oder teilweise Abschaffung des Asylrechts, sondern, wie es in der Begründung zum Gesetzentwurf heißt, um das „Ziel einer Neuregelung des Asylrechts . . ., den wirklich politisch Verfolgten weiterhin Schutz und Zuflucht zu gewähren". Ich habe mit Zustimmung gehört, daß auch fast alle Redner der Koalition heute gesagt haben: An diesem Ziel halten wir fest. Aber — Sie werden es erleben — das hat praktische Auswirkungen auf die Anwendung der Regelung, die wir hier treffen.
Darüber, daß es im EG-Bereich nicht mehrgleisige und aufeinanderfolgende Asylverfahren geben sollte, herrscht seit langem Einvernehmen. Die Abkommen von Schengen und Dublin enthalten dafür die erforderlichen internationalen Regelungen. Mit den Abs. 2 und 5 des vorgelegten Entwurfs für Art. 16a des Grundgesetzes schaffen wir innerstaatlich die Voraussetzungen, um diese Abkommen auch anzuwenden. Ob es sich darüber hinaus bewähren wird, daß wir ein Stück weitergehen und auch die gesetzliche Feststellung des sogenannten sicheren Drittstaats ermöglichen, muß sich erst noch erweisen, das besonders dann, wenn es sich bei diesem Drittstaat nicht um Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, sondern um andere Nachbarstaaten Deutschlands handelt.
Niemand hat sich bisher zu der Absicht bekannt, die Last der Zuwanderung einfach auf solche Nachbarstaaten abzuwälzen. Mit ihnen, vor allem mit Polen und der Tschechischen Republik, sollen Verträge über Hilfeleistungen, Lastenverteilung und Zuständigkeitsregelungen geschlossen werden. Erst solche Vereinbarungen stellen sicher, daß Deutschland mit Zurückschiebungen nicht Chaos über Nachbarländer und unerträgliche Not über Gruppen von Menschen bringt.
Zur Lastenverteilung gehört auch, daß wir weiterhin Flüchtlinge aufnehmen, die über solche Länder kommen, statt zu sagen: Wir geben nur Geld; das Problem sollen die lösen. Das ist möglich geworden durch die Änderung des Eingangs zum geplanten Art. 16a Abs. 2 des Grundgesetzes. Vielleicht, Herr Stoiber, sind wir hier in dem, was wir wollen, unterschiedlicher Auffassung, aber ein materieller Ausschluß solcher Flüchtlinge aus dem Asylrecht überhaupt mit der Konsequenz, daß man ihnen das nicht einmal gewähren kann, war von vornherein nicht gewollt. Ich bin froh, daß wir das durch Klarstellung jetzt auch sichergestellt haben.

(Beifall bei der SPD)

Daß solche Vereinbarungen getroffen werden, ist eine politische Geschäftsgrundlage unserer am Schluß des Gesetzgebungsverfahrens zu treffenden Entscheidung. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen dürfen sich nicht darauf einstellen, die schließliche Zustimmung der SPD durch Termin- oder Problemdruck auch dann zu erreichen, wenn diese Geschäftsgrundlage vernachlässigt worden ist.
Wenn ein Drittstaat sicher ist und ein Asylverfahren gewährleistet, bedarf es eines gründlichen Verfahrens zum Asylbegehren in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Entsprechendes gilt, wenn bereits eine rechtsbeständige Asylentscheidung aus dem Drittstaat vorliegt. Das ist der Sinn der Abkommen von Schengen und Dublin. Wer trotzdem in den von ihnen geregelten Fällen noch ein Asylverfahren in Deutschland durchführen will, verspielt den Vorteil dieser Abkommen und verfehlt ihren Sinn.
Mit guten Gründen ist umstritten, ob man sichere Herkunftsländer, für die die im Asylverfahren widerlegbare Vermutung der Verfolgungsfreiheit besteht, wirklich durch Gesetz festlegen soll. Tatsächlich ist nicht auszuschließen, daß solche Gesetzgebungsverfahren außenpolitischen Schaden anrichten. Er dürfte aber beschränkt bleiben, denn es geht ja nicht darum, die ganze Welt in verfolgungsfreie und Verfolgerstaaten einzuteilen. Zu entscheiden ist über einige wenige Hauptherkunftsländer von Zuwanderern. Da ist es dann auch ein Vorteil, daß die Entscheidung in größtmöglicher Öffentlichkeit mit allen Genauigkeitserfordernissen des Gesetzgebungsverfahrens erfolgen soll. So wird wahrscheinlich bestmöglich sichergestellt werden können, daß begründete Einwände, etwa von amnesty international, gegen die Annahme der Verfolgungsfreiheit in einem Staat berücksichtigt werden.
Die Bedenken gegen die weitere Beschleunigung und gewisse Beschränkungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen werden wir während der Parlamentsberatungen noch einmal prüfen. Dabei wird auch herauszuarbeiten sein, was der Fortbestand des Asylgrundrechts mit seinen Rechtswirkungen bedeutet und welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, daß die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes weder ausdrücklich erwähnt noch förmlich eingeschränkt worden ist, in ihrer Substanz also unberührt bleiben muß.
Die Kritik an der Ausführlichkeit der vorgelegten grundgesetzlichen Vorschrift akzeptiere ich. Ein Meisterwerk der Verfassungsgesetzgebung ist uns da wahrlich nicht gelungen. Wer aber aus der Opposition heraus ein Grundrecht verteidigt, wer die Ausprägungen und Einschränkungen dieses Grundrechts in engen und sicheren Grenzen halten will, kommt mit einer bloßen Ermächtigung an den Gesetzgeber und seine Mehrheiten nicht aus. Da ist es dann wichtiger, die Sache der Verfassung zu wahren, als ihre Ästhetik zu pflegen.
Deutlicher als bisher sollten wir übereinstimmend klarmachen, daß es mit den anstehenden Neuregelungen nicht darum geht, die Bundesrepublik Deutschland vor asylsuchenden Flüchtlingen zu bewahren. Es geht nicht darum, Lasten abzuwenden oder auf andere Länder abzuwerfen, sondern um Lastenverteilung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Rahmen wird die Bundesrepublik Deutschland auch künftig einen ihrer wirtschaftlichen und politischen Leistungskraft angemessenen Anteil an der Last des internationalen Flüchtlingselends zu tragen haben. Wir sollten für die Bereitschaft der



Dr. Jürgen Schmude
Menschen, auch der von Ihnen zitierten Bürgermeister, werben, daß sie diese Last mittragen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

Wer statt dessen das Überforderungsgefühl bestärkt, wer selbst vom vollen Boot redet — und was da alles passiert ist —, der wirbt nicht, der schreckt ab.

(Beifall bei der SPD)

Die verabredeten Regelungen und Maßnahmen bieten die Aussicht, die Zuwanderung zu begrenzen und zu steuern. Auf das Ende dieser Zuwanderung braucht sich niemand einzustellen, weder in Hoffnung noch in Sorge, wie sie heute geäußert worden ist.
Ein weiteres Mal bringt die Politik einen Kompromiß zustande und leistet damit einen Beitrag zur Problemlösung. Die Probleme selbst sind damit nicht aus der Welt zu schaffen. Wer aber unter Berufung darauf unsere Bemühungen abwertet und unsere Ergebnisse verwirft, steht in der Pflicht, Alternativen klar zu benennen, wie wir sie hier auch von den Kritikern eingefordert haben. Die rücksichtslose und unterschiedslose Abweisung von Zuwanderern wäre keine Alternative, sondern brutal und unmenschlich, mit entsprechenden Wirkungen bald auch in unsere eigene Gesellschaft hinein. Wer aber auch bei offensichtlich unbegründeten Asylanträgen langwierige Prüfungsverfahren akzeptiert und dann auf energische Abschiebung setzt, der bietet Steine statt Brot; er läuft auch Gefahr, den Wettlauf zwischen Verfahren und wachsender Zuwanderung zu verlieren.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Dann wird das Boot zu voll!)

Auf diesen und anderen Einsichten beruhen die Vorschläge, deren Beratung im Bundestag und Bundesrat jetzt beginnt. Für diese Vorschläge bitte ich um Unterstützung durch Kritik und Mitarbeit an ihrer Verbesserung, aber dann schließlich auch durch Zustimmung.
Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213410900
Meine Damen und Herren, bevor wir zur Überweisung kommen, hat die Abgeordnete Frau Dr. Höll gebeten, das Wort nach § 32 unserer Geschäftsordnung zu bekommen. Frau Dr. Höll, Sie haben das Wort.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1213411000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste ist für ein solidarisches Miteinander angetreten, und wir werden dies auch nicht der CSU verweigern. Deshalb möchte ich meine persönliche Erklärung abgeben, auch um Herrn Zeitlmann von der CSU unter die Arme zu greifen.

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Der ist aber schwergewichtig! — Heiterkeit)

Mit Interesse habe ich hier gehört, daß Sie das Parteiprogramm der Republikaner in Teilen sehr wohl begrüßen. Es ist sicher Krümelkackerei, ob Sie dann kleine Teile als Teile bezeichnen oder die grundsätzliche Einstellung zur Frage von ausländischen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen, Asylbewerbern und Asylbewerberinnen zur Grundlage nehmen.
Ihre heutige Diskussion ist — wie vorangegangene — heuchlerisch und demagogisch.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Ihre auch!)

Denn ansonsten könnte es nicht dazu kommen, daß Frau Jelpke, wenn sie genau auf diesen Punkt in ihrer Rede hinweist, aus Ihrer Fraktion angegriffen wird. Ich glaube, in diesem Punkt ist es notwendig, Ihnen noch einmal in einer persönlichen Erklärung zu helfen.
Ich denke durchaus, daß Sie mit dieser angestrebten Grundgesetzänderung nicht nur in einzelnen Wortlauten den Republikanern zustimmen, sondern sehr wohl schon dabei sind, dies in Gesetzen festzuklopfen. Ich erinnere hier an die Debatte zur Sozialhilfe für Asylbewerber im vergangenen Spätherbst, und ich möchte darauf hinweisen, daß ja seit dem 18. Januar im Familienministerium ein Gesetzentwurf vorliegt, ein sogenanntes Asylbewerbungs-Leistungsgesetz. Seien Sie so ehrlich und sagen Sie, daß Sie mit diesen Gesetzentwürfen auf der ausdrücklichen Grundlage des hier vorliegenden Asylkompromisses und unter Berufung auf diesen Kompromiß, der am 6. Dezember 1992 ausgehandelt wurde, Menschenrechte beschneiden wollen und damit eindeutig auch die Art. 1 und 3 des Grundgesetzes angreifen,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

wenn Sie nach Massenunterkünften und dem sogenannten rechtsstaatlichen Asylbeschleunigungsgesetz nun vorhaben, an die direkte Existenzgrundlage dieser Menschen zu gehen.
Es ist u. a. vorgesehen, daß nur noch Sachleistungen gezahlt werden können, solange diese Menschen in Massenunterkünften untergebracht sind. —

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Na und?)

Sie erhalten dann noch großzügig eine Geldleistung für alle persönlichen Dinge — Kosmetik z. B. — von 100 DM im Monat bar auf die Hand. — Falls dies in Sonderfällen nicht möglich ist — wie von Ihnen angestrebt —, sollen diese Menschen als Haushaltsvorstand einen Betrag von 330 DM und als weiteres Familienmitglied ab dem 7. Lebensjahr 270 DM erhalten.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist nur der Grundbetrag! — Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Wieviel bekommen die in der Schweiz und in Frankreich?)

Bereits die Vorlage eines solchen Entwurfs und die Diskussion im zuständigen Ministerium ist meines Erachtens zutiefst menschenverachtend.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Denn machen Sie mir bitte vor, wie man von solch einer Summe leben soll. Woher nehmen Sie das Recht, das Existenzminimum, das bereits für Deutsche wahrlich nicht hoch bemessen ist, für Deutsche und Nichtdeutsche unterschiedlich zu bemessen? Ich halte es für eine katastrophale Lage, in der wir uns hier befinden.



Dr. Barbara Höll
Unter ausdrücklicher Berufung auf die heutige Diskussion möchte ich erklären, daß ich das für äußerst bedenklich halte.

(Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Jetzt reicht's!)

Eine weitere Frage ist für mich in der heutigen Diskussion aufgetaucht. Ich habe im Dezember in der Menschenrechtsdebatte zu Jugoslawien gesprochen. Wie wollen Sie, bitte sehr, nach der Debatte hier im Plenum über die schlimmen Vergewaltigungen, die in Jugoslawien vor sich gehen, über Vergewaltigungen in anderen Ländern, über das, was mit Frauen tagtäglich auf dieser Welt geschieht, dann an der Grenze sagen, ob das ein Asylgrund ist oder nicht, nachdem Sie Quotierungen eingeführt haben und gerade Frauen dazu zwingen, sozusagen nach Deutschland einzufliegen oder illegal die Grenze zu überschreiten?
Ich möchte deshalb persönlich erklären, daß diese gesamte Diskussion heuchlerisch, demagogisch ist und ich der Hoffnung bin, daß die Demokraten und Demokratinnen in diesem Lande weiterhin dagegen protestieren werden.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Und Sie zählen sich dazu, ja?)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213411100
Frau Abgeordnete Dr. Höll, ich würde Sie bitten, in Zukunft, weil unparlamentarisch, Ausdrücke wie „heuchlerisch" und „demagogisch" zu vermeiden. Sie tun dann nicht nur mir, sondern vor allen Dingen auch sich selber einen Gefallen.
Wir kommen nunmehr zur Überweisung. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Drucksachen 12/4152 und 12/3235 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuß und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.

(Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Der Rechtsausschuß ist doch schon beteiligt!)

— Hier ist ausdrücklich noch einmal festgehalten worden, daß der Rechtsausschuß und der Haushaltsausschuß Erwähnung finden sollen. Im Zweifel wäre das ja nur doppelt.

(Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Vielleicht sollten wir die Gemeinsame Verfassungskommission bedenken! Die muß es sowieso bekommen! Das ist ja eine Verfassungsänderung!)

Wir werden das schnell prüfen. - Herr Abgeordneter Dr. Schmude, es ist aufgeklärt: In der gedruckten Tagesordnung war übersehen worden, den Rechtsausschuß und den Haushaltsausschuß zu erwähnen. Insofern ist die Sache wohl unproblematisch.
Ich darf dann feststellen, daß das einstimmig beschlossen worden ist.
Meine Damen und Herren, ich rufe die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
ZP2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Marion Caspers-Merk, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs im Berufsverkehr (,,Job-Ticket" Gesetz)

— Drucksache 12/3573 —
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
ZP3 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung der besoldungs- und steuerrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitgeberzuschüssen zur Benutzung des ÖPNV („JobTicket")

— Drucksache 12/4123 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend)

Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Marion Caspers-Merk das Wort.

Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1213411200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einer so großen Debatte um ein wahrlich schwieriges Problem fällt es schwer, sich den kleinen Problemen des Lebens zuzuwenden. Aber es spricht eigentlich für den Deutschen Bundestag, daß er sich großen und kleinen gesetzgeberischen Problemen mit derselben Aufmerksamkeit widmet.
Die SPD-Fraktion hat eine Bundesratsinitiative aufgegriffen und einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem in Zukunft das Job-Ticket für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steuerlich genauso behandelt werden soll wie der unentgeltliche Parkplatz. Wir halten dieses Gesetz aus umweltpolitischen Gründen für überfällig. Denn was haben der Otto-Versand, die Flughafen Düsseldorf GmbH, die Bausparkasse Schwäbisch Hall, der Hessische Rundfunk und der Deutsche Bundestag gemeinsam? — Sie erzeugen täglich gewaltige Verkehrslawinen einschließlich gewaltiger Schadstoffemissionen, ohne daß sie deswegen umweltrechtlichen Regeln unterworfen sind. Was haben aber der Otto-Versand, die Flughafen Düsseldorf GmbH, die Bausparkasse Schwäbisch Hall und der Hessische Rundfunk, was der Deutsche Bundestag nicht hat? — Sie vermuten richtig: ein JobTicket für ihre Arbeitnehmer.
Ich habe keinen Zweifel, daß wir heute einvernehmlich ein Gesetz auf den Weg bringen, das überfällig ist. Die SPD-Fraktion hat jedenfalls eine Bundesratsinitiative aufgegriffen und ein Job-Ticket-Gesetz eingebracht.



Marion Caspers-Merk
Aber der Bundestag selbst als gesetzgebendes Organ wird wieder einmal hinter der Entwicklung herhinken, obwohl ihm eine Vorreiterfunktion zukommen sollte. Der Deutsche Bundestag hat bislang zu einer Entlastung des Bonner Verkehrs durch ein Job-Ticket für seine Mitarbeiter nichts beigetragen.

(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

Meine Skepsis gründet sich auch auf den Umstand, daß die SPD-Fraktion schon vor eineinhalb Jahren die Einrichtung der Stelle eines Umweltberaters für den Bundestag gefordert hat, nachdem eine Untersuchung in Abgeordnetenbüros aufgezeigt hatte, wie weit wir bei Einrichtung und Betrieb unserer Büros hinter gängigen Umweltstandards liegen. Präsidentin Süssmuth hat die Stelle dann auch gefordert. Der Haushaltsausschuß hat diese Forderung — wieder richtig geraten! - abgelehnt und diese Stelle durch eine Stelle für einen Hausmeister ersetzt. Ich habe mir mittlerweile abgewöhnt, in der Frage „Umweltverträglichkeit des Deutschen Bundestages" von Skandal zu sprechen. Aber es ist doch schon eine Blamage, daß der Bundestag bei der Umweltberatung noch nicht einmal den Standard vieler Kreisverwaltungen erreicht.

(Beifall bei der SPD)

Zurück zum Job-Ticket: Es ist höchste Zeit, gezielte materielle Anreize zu schaffen, die die Arbeitnehmer veranlassen, im Berufsverkehr verstärkt den öffentlichen Personennahverkehr zu benutzen. Realität ist heute, daß ca. zwei Drittel aller Erwerbstätigen, die an ihren Arbeitsplatz fahren, dies mit dem eigenen Auto tun. Nur ein Drittel fährt mit Bus, Bahn, dem Fahrrad oder geht zu Fuß. Leider ist die — häufig nachvollziehbare — Begründung, daß das eigene Auto nach wie vor günstiger ist, weil es steuerlich bevorzugt wird. So sind die sogenannten Rushhours am Morgen und am Nachmittag immer mehr durch verkehrliches Chaos, immense Energieverschwendung und eine unakzeptable Menge umweltschädlicher Emissionen gekennzeichnet.
Lassen Sie mich das an Hand von Daten aus dem soeben erst vorgelegten 5. Immissionsschutzbericht der Bundesregierung belegen. Demnach hat sich der Ausstoß von Stickoxiden aus dem Verkehrsbereich in den letzten 20 Jahren annähernd verdoppelt. Auch bei den CO2-Emissionen hat sich eine dramatische Verschärfung abgezeichnet. Der Verkehrsbereich verursacht ein Drittel aller Belastungen durch das Treibhausgas CO2.
Die Luftqualität ist in den Ballungsgebieten in den vergangenen Jahren teilweise auf gesundheitsschädigende Werte gesunken. Die Zahlen aus der Begründung unseres Antrags brauche ich nicht im einzelnen zu verlesen. Hinweisen möchte ich aber darauf, daß Messungen in Berlin, in Frankfurt und in Stuttgart im Bereich stark befahrener Stadtstraßen deutliche Überschreitungen des EG-Grenzwerts für Stickoxide ergaben.
Die Länderarbeitsgruppe für Emissionsschutz hat im vergangenen Jahr einen Bericht vorgelegt, dem zu entnehmen war, daß 80 % des emissionsbedingten Krebsrisikos in der Bundesrepublik vom Kraftfahrzeugverkehr ausgehen. Höchstbelastungen treten
regelmäßig in den Zeiten des Berufsverkehrs auf. Deshalb betrachten wir das steuerlich geförderte Job-Ticket als einen zentralen Baustein einer Strategie der Verlagerung von Verkehr auf den ÖPNV.
Die Anstrengungen von Ländern und Kommunen, ein attraktives öffentliches Verkehrsangebot zu machen, müssen durch direkte Anreize von seiten der Arbeitgeber ergänzt werden, tatsächlich auf Busse und Bahnen umzusteigen. Begünstigt werden sollen nach unserer Vorstellung sowohl Zuschüsse des Arbeitgebers zu den Fahrtkosten als auch Leistungen Dritter, die mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis erbracht werden. Es soll nicht länger so sein, daß Zuschüsse zur Benutzung des ÖPNV als Einkommen versteuert werden müssen, die kostenlose Zurverfügungstellung innenstädtischer Parkplätze aber nicht. Dieser Ungleichbehandlung wollen wir mit dem Gesetzentwurf begegnen.
Aber ich sage ganz klar, daß das nur ein Anfang sein kann. Eine Untersuchung bei Bayer Leverkusen hat ergeben, daß die Einführung eines Job-Tickets ohne gleichzeitige Parkraumbewirtschaftung, will heißen Verknappung von Parkräumen, unter Umweltgesichtspunkten kein befriedigendes Ergebnis erbringt. Derartige ergänzende Maßnahmen können aber nach heutiger Rechtslage nicht von den Kommunen und nur teilweise von den Ländern oder dem Bund angeordnet werden. Hier zeichnet sich für uns klar gesetzgeberischer Handlungsbedarf ab.
Das Ziel ist eine Verminderung des individuellen Berufsverkehrs. Job-Tickets sind nur einer der möglichen Wege. In Kalifornien verpflichtet der Clean Air Act die großen Arbeitgeber mit über 100 Beschäftigten, innerhalb einer bestimmten Frist die von ihrem Pendlerverkehr ausgehenden Emissionen um einen bestimmten Prozentsatz zu vermindern; wie, bleibt den Arbeitgebern überlassen.
Als Folge zeichnet sich dort eine Tendenz zum sogenannten Car-Pooling — ein schöner deutscher Begriff — ab, d. h. zur betrieblichen Organisation von Mitfahrgelegenheiten. Diese organisierten Mitfahrgelegenheiten werden von den zuständigen Arbeitgebern koordiniert und gezielt gefördert.
In der Bundesrepublik gibt es erste erfolgreiche Versuche, ein Car-Pooling-Projekt mit verschiedenen Firmen im Raum Lörrach und Basel zu organisieren. Dies wird derzeit von der Bundesregierung gefördert. Das kann man seitens der Opposition lobend erwähnen. Gleichzeitig möchten wir aber unser Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß das Verkehrsministerium die Förderung abgelehnt hat. Das wundert uns bei der Beton-Philosophie dieses Hauses nicht.

(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])

Gefördert wurde das Projekt aus Mitteln des Bundesbauministeriums.
In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen beim Projekt City-Netze für das es allerdings noch überhaupt keine Förderung gibt. Der Grundgedanke ist die bekannte Mitfahrzentrale. Es sollen aber nicht nur Fernfahrten, sondern in Zukunft auch regionale und lokale Fahrten vermittelt werden. Es wäre schön, wenn durch eine entsprechende Forschungsförde-



Marion Caspers-Merk
rung ein deutliches Signal in diese Richtung gesetzt würde.
Wir haben ja gerade einen neuen Forschungsminister präsentiert bekommen, der erstens Schwabe ist, also insofern für Einsparmöglichkeiten beim Individualverkehr ein offenes Herz haben sollte, und der zweitens vielleicht unverbraucht genug ist, um sich auch den guten Ideen der Opposition zu öffnen.
Ein Lösungsansatz, den ich hier aber nicht vertiefen will, ist eine Reduzierung von Stellflächen über das Baurecht. Warum müssen eigentlich Abstandszahlungen für Parkplätze in den Parkplatzbau investiert werden? Wäre es hier nicht sinnvoller, daß die Kommunen dieses Geld beispielsweise auch zur Finanzierung von Radwegen oder zur Bezuschussung des ÖPNV verwenden können? Auch hierüber sollten wir uns Gedanken machen.
Eine andere Frage: Warum müssen Firmen riesige Flächen für Firmenparkplätze ausweisen, ohne daß man ihnen gestattet, gleichzeitig Formen des Mitarbeitertransports über Bus und Bahn anzubieten? In der Schweiz, in meiner Nachbarschaft, ist dies möglich. Wenn man dort beispielsweise nachweist, daß die Mitarbeiter über ein eigenes Bussystem zum Arbeitsplatz kommen, wird die Zahl der Stellplatzflächen, die man ausweisen muß, reduziert. Dies halte ich ebenfalls für einen interessanten Vorschlag. Auch darüber sollten wir nachdenken.
Auf folgendes muß hingewiesen werden: Arbeitgeber müssen auf Grund ihrer Verantwortung für die Minderung der Emissionen des von ihnen verursachten Pendlerverkehrs einbezogen werden. Um es nicht bei Appellen zu belassen, müßte eine rechtliche Grundlage dafür geschaffen werden, Emissionen des durch die privaten und öffentlichen Arbeitgeber verursachten Pendlerverkehrs wie die von einer Anlage ausgehenden Emissionen zu behandeln. In der Systematik des Immissionsschutzrechts müßten dann der Berufspendlerverkehr und seine Emissionen in den Emissionskatastern von Untersuchungsgebieten erfaßt und müßten als Folge über Luftreinhaltepläne Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen getroffen werden.
Sie sehen: Auch wenn das steuerlich geförderte Job-Ticket in absehbarer Zeit kommt, bleibt viel zu tun. Wir jedenfalls packen es an. Daß die CDU mitmachen will, ist erfreulich. Der Parlamentarische Geschäftsführer Rüttgers hat dies jedenfalls in der Presse angekündigt. Auch hier haben wir heute wieder einmal eine verkehrte Welt: Die Regierung macht Presseerklärungen; die SPD macht Gesetze.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213411300
Ich erteile dem Abgeordneten Müller (Kirchheim) das Wort.

Elmar Müller (CDU):
Rede ID: ID1213411400
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Für die Zukunft ist sicher mit einem weiteren Anstieg des Motorisierungsgrads, namentlich bei Frauen, zu rechnen. 1988 waren auf 1 000 Männer 840 Pkws zugelassen, auf 1 000 Frauen lediglich 240 Pkws. Man kann davon ausgehen, daß speziell aus diesem Bereich in den nächsten Jahren ein erheblicher Zuwachs an Pkws resultieren wird.
Die steigende Zahl der Kraftfahrzeuge wird die derzeitigen Engpässe, insbesondere im Berufsverkehr, weiter verschärfen. Es ist daher sicher notwendig, nach Regelungsmechanismen zu suchen, sie einzuführen und insbesondere Engpässe im Zuwachs des Individualverkehrs zu vermeiden und dort, wo es geht, zu reduzieren.
All diese Maßnahmen müssen in Einklang mit der für eine Stadt natürlich notwendigen Mobilität gebracht werden. Die in früheren Jahrzehnten teilweise angestrebte autogerechte Stadt mit breiten Durchgangsstraßen, die ganze Stadtteile voneinander trennen, gehört freilich ganz sicher der Vergangenheit an.
Vor allem in Ballungsräumen leben wir von der Verschiedenartigkeit ihrer Funktionen, und die Bewohner solcher Bereiche sind ihren Besuchern natürlich auch schuldig, daß sie erreichbar bleiben. Das bedeutet, daß die Vitalität vor allem der Ballungsräume erhalten bleiben muß. Eine Stadt ohne Verkehr ist nicht lebensfähig. Die Stadt wird sicher auch künftig Verkehr haben müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der Kernbereich eines stadtgerechten Verkehrs ist die ausgewogene Aufteilung der Verkehrsaufgaben auf die verschiedenen Verkehrsträger. Die umweltfreundliche Komponente im Gesamtverkehrssystem ist daher zu fördern, und zwar auch steuerlich. Ich werde jetzt vor allem auf die steuerlichen Teile eingehen. Dazu weise ich darauf hin, daß ein Kollege von mir nachher über den verkehrstechnischen Teil sprechen wird.
Öffentlicher Personennahverkehr muß gegenüber dem Individualverkehr in Zukunft eine weit gewichtigere Rolle einnehmen. Darüber sind wir uns sicher einig. Der ÖPNV wird nur dann vom Bürger als gleichwertige Alternative zum Individualverkehr akzeptiert werden, wenn sein Systemvorteil durch entsprechenden Ausbau und Betrieb sichtbar gemacht wird und zugleich im Rahmen finanzwirtschaftlicher Möglichkeiten marktgerechte Angebote gemacht werden.
Sie haben, Frau Kollegin, vorhin erwähnt: Seit Mai des vergangenen Jahres liegt durch eine Initiative des Landes Rheinland-Pfalz das Begehren nach steuerlicher Subvention der privaten und öffentlichen Arbeitgeber für Sondertarife im öffentlichen Personennahverkehr auf dem Tisch des Bundesrats. Nun liegt dazu ein Gesetzentwurf vor. Auch die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht.
Bereits vom April des vergangenen Jahres datiert ein Erlaß in Abstimmung zwischen den obersten Finanzbehörden der Länder und dem Bundesminister der Finanzen, wonach der Vorteil, der aus einem gegenüber einem normalen Fahrausweis verbilligten Fahrausweis resultiert, den der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber erhält, nicht mehr zu versteuern sei. Im Grunde genommen müßte man mit der Situation leben können, so wie sie ist. Aber wie immer im Leben ist es, wenn es um Geld geht, notwendig,



Elmar Müller
Regelungen einzuführen. Insbesondere beim Job-Ticket müßten die Abgrenzung und die Steuersystematik geklärt werden. Darüber sind wir uns einig. Zum einen muß das Einkommensteuergesetz in der geänderten Fassung von 1990 — dort haben wir das ja neu geregelt — angepaßt werden; vor allem aber muß für den öffentlichen Arbeitgeber das Bundesbesoldungsgesetz geändert werden.
Schon bei der bisherigen Behandlung gab es erhebliche Unsicherheiten; denn natürlich handelt es sich bei der Fahrkostenermäßigung, die in Preisstaffeln, auf die Menge bezogen, zwischen Arbeitgebern und öffentlichen Nahverkehrsbetrieben ausgehandelt wurde, um geldwerte Bezüge, die der Lohnbesteuerung zu unterwerfen sind. Bei einem Job-Ticket, das der Arbeitnehmer kostenlos vom Arbeitgeber erhält, wird der Arbeitnehmer objektiv bereichert, da entsprechende eigene Ausgaben bei ihm nicht anfallen.
Das gleiche gilt natürlich für Unsicherheiten dort, wo der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Fahrausweis überlassen hat, der eine Nutzung innerhalb des Verkehrsverbundes zuläßt, also Karten, die über die Strecke zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hinausgehen; ebenso dort, wo, wie bei den Verbundtarifen, die Tarifzonen über den Bedarf hinausgehen.
Desgleichen bleibt umstritten, wie es sich verhält, wenn Arbeitgeber etwa wegen des Fehlens von Parkplätzen darauf angewiesen sind, daß ihre Arbeitnehmer nicht mit dem privaten Pkw zur Arbeitsstelle fahren, sondern mit dem öffentlichen Personennahverkehr anreisen. Ebenso gibt es natürlich offene Fragen bei der Gleichbehandlung vor allem der sicher zahlreichen Fälle, in denen Mitarbeiter gar nicht die Möglichkeit der Nutzung öffentlicher Personennahverkehrsmittel haben.
Die bisherige Regelung, die ich als Übergangsregelung bezeichnen darf, erlaubt also nur, den Differenzbetrag der ausgehandelten Ermäßigung im JobTicket steuerfrei weiterzuleiten. Künftig soll das für das ganze Ticket gelten.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt und unterstützt daher den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf. Die Abgrenzung vom verbilligten oder unentgeltlich überlassenen Job-Ticket muß nun in der steuerlichen Freistellung so gestaltet werden, daß sie den Gleichbehandlungsgrundsatz berücksichtigt, daß sie praxisgerecht gestaltet wird und daß sie möglichst ohne zusätzlichen Verwaltungsaufwand in den Betrieben gestaltet werden kann.
Der Hauptnutzen ist jedoch — da stimme ich mit den vorherigen und allen folgenden Rednern überein —, daß wir die Entlastung der Straßen und vor allem der Umwelt wollen. Daher gehen wir davon aus, daß wir alle an einer zügigen Behandlung dieses Gesetzes interessiert sind. Das gilt sowohl für die Finanzpolitiker als auch für die Umwelt- und die Verkehrspolitiker.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213411500
Das Wort hat der Abgeordnetee Horst Friedrich.

Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1213411600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die vorliegenden Gesetzentwürfe, die bis aufs Komma identisch sind, enthalten verkehrs- und steuerpolitische Probleme.
Liebe Frau Kollegin Caspers-Merk, wenn die SPD der Bundesregierung vorwirft, sie gebe nur Presseerklärungen ab, während die SPD Gesetze entwerfe, dann sollten wir einmal die Reihenfolge klarstellen: Der erste Gesetzentwurf und Anstoß kam von meinem Parteifreund Rainer Brüderle aus Rheinland-Pfalz, der auf der Bundesratsbank sitzt. Die SPD hat diesen Text nur übernommen. Sie hat allerdings damit erreicht, daß sie eine niedrigere Drucksachennummer bekommen hat. Das sollte man bei der Beurteilung dieser Sache deutlich machen.
Ich warne vor der Erwartung — denn auch das klang wieder an —, daß allein durch die Steuerfreiheit des Job-Tickets nun die große Umsteigewelle vom Individualverkehr zum ÖPNV kommen werde.

(Marion Caspers-Merk wahr!)

— Gut; das kam aber in der Rede so rüber. Darum sollte man noch einmal darauf hinweisen, damit da nicht Erwartungen und Hoffnungen geweckt werden, die von dieser Maßnahme überhaupt nicht zu bedienen sind.
Entscheidend für ein Umsteigen ist folgendes: Es muß vor Ort das Angebot stimmen. Deswegen müssen die Kompetenz der Entscheidung und die Finanzmittel vor Ort verlagert werden. Diese Bundesregierung hat durch die Novellierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes da einen wesentlichen Beitrag geleistet.
Der jetzige Gesetzentwurf berücksichtigt auch — das gestehe ich zu —, daß nicht allein durch ein verbessertes Angebot, sondern durch weitergehende begleitende und umfassende Maßnahmen ein erweiterter Anreiz zum Umsteigen geschaffen werden soll. Zahlreiche Versuche in Kommunen, Städten und Verkehrsverbunden haben die Wirksamkeit bewiesen. Allein die Maßnahme Job-Ticket führt mit Sicherheit nicht zu nennenswerten Umsteigeeffekten.
Das hat zu unterschiedlichen Handlungsansätzen geführt. Es ging vom Verbot des Individualverkehrs in den Innenstädten und einer drastischen Erhöhung der Parkhausgebühren bis zu der Maßnahme, daß etwa in Frankfurt nicht einmal mehr die nach Landesbauordnung notwendigerweise ausgewiesenen Parkplätze gebaut werden dürfen. Die Kommune erlaubt nur noch den Bau von 10 % dieser Parkplätze und läßt sich den Rest fiskalisch ablösen, wobei ich bezweifele, daß diese Regelung mit dem Gesetzestext in Übereinstimmung steht. Das war überwiegend von sozialdemokratischen Kommunen veranlaßt.
Ich freue mich, daß jetzt ein anderer Weg beschritten werden soll. Daher begrüße ich ausdrücklich den Vorschlag, das, was bisher nur bei großen Firmen und ihren Arbeitnehmern der Fall ist, nämlich die Steuerfreiheit des Job-Tickets, allgemein vorzusehen. Man muß dabei allerdings auch das Umfeld sehen. Es gibt



Horst Friedrich
ja unterschiedliche Situationen im ÖPNV: zum einen die Ballungszentren und zum anderen die Fläche.
Ich möchte dazu aus einem Leserbrief an den Bonner „General-Anzeiger" zitieren:
Da kann ich nur hoffen, daß nicht zu viele Personen auf den ÖPNV umsteigen. Täten dies nur 20 % der PKW-Fahrer, wäre das Chaos perfekt, weil Taktfrequenzen und Transportmittel dafür überhaupt nicht ausgerüstet sind. Ob das die Verantwortlichen wissen? Also bitte keine Werbung mehr für das Job-Ticket! Damit werde ich weiterhin einigermaßen mit der Linie 16 in die Stadt kommen.
Ich will diesen Leserbrief nicht kommentieren; aber er beschreibt einigermaßen die Gefahren.
Das Steuerrecht kann hier selbstverständlich eingreifen.
Zunächst der umsatzsteuerliche Aspekt: Leistungen, die ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern, auch den Auszubildenden, auf Grund des Dienstverhältnisses gewährt, sind unabhängig von der lohnsteuerrechtlichen Behandlung grundsätzlich umsatzsteuerpflichtig. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Umsatzsteuergesetz entfällt die Steuerbarkeit sinnvollerweise auch dann nicht, wenn die Leistungen unentgeltlich gewährt werden. Zwei Fälle von unentgeltlichen Leistungen unterliegen indessen der Besteuerung nicht. Das sind erstens Aufmerksamkeiten und zweitens Leistungen, die überwiegend durch das betriebliche Interesse des Arbeitgebers veranlaßt sind. Zur zweiten Gruppe zählt nach heute herrschender Meinung analog einem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 11. März 1988 auch das Job-Ticket.
So wäre konsequenterweise auch die einkommensteuerliche Behandlung des Job-Tickets zu sehen. Aber es ist eine der Segnungen der deutschen Steuergesetzgebung, daß das Einkommensteuerrecht abweicht. Das Job-Ticket wird nämlich als Arbeitslohn in Form von Sachbezügen angesehen, und es muß eine entsprechende Versteuerung nach § 40 Abs. 2 Satz 2 Einkommensteuergesetz vorgenommen, also der Pauschsteuersatz von 15 % angewendet werden, der schon genannt worden ist.
Diese Haltung ist meiner Meinung nach inkonsequent, vor allem wenn man das mit der steuerlichen Bewertung von firmeneigenen Parkplätzen vergleicht, die nicht als geldwerte Leistungen angesehen werden, was bei den aktuellen Parkhaus- und Stellplatzgebühren eigentlich nur Erstaunen auslösen kann. Aber, wie gesagt, das ist eine der Segnungen des deutschen Steuerrechts. Wir sind ja deswegen hier, um das zu ändern.
Für Beamte — das ist, glaube ich, auch der Anwort der Bundesregierung zu entnehmen — muß eine analoge Regelung gefunden werden, die einen jahrelangen Rechtsstreit ausschließt.
Insofern kann ich für die F.D.P.-Fraktion erklären, daß der Intention der Gesetzentwürfe des Landes Rheinland-Pfalz unter Federführung von Rainer Brüderle und auch der SPD-Fraktion zuzustimmen ist. Sie verdienen eine wohlwollende Prüfung. Ich gehe
davon aus, daß die entsprechenden Ausschußberatungen zu einem positiven Ergebnis führen.
Danke sehr.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213411700
Ich erteile der Abgeordneten Frau Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1213411800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gestehe, daß es mir nicht ganz leicht fällt, nach der vorangegangenen Debatte über das Asylrecht zur normalen Tagesordnung überzugehen.
Zwar macht eine Schwalbe bekanntlich noch keinen Sommer, sie kann aber eine Vorbotin dafür sein, daß das Eis langsam zu schmelzen beginnt. Ich würde ja so gerne hoffen, daß es ganz langsam auch möglich ist, die autofixierte Verkehrspolitik der Bundesregierung aufzuweichen.
Wahrscheinlicher ist jedoch, daß es sich bei dem Job-Ticket-Gesetz um den kleinen Schritt vorwärts handelt, den sich die Regierungsparteien hin und wieder abringen lassen, um anschließend drei große Schritte rückwärts zu machen.
Mit den großen Schritten rückwärts meine ich z. B. den Bundesverkehrswegeplan, der alles daran setzt, aus der Bundesrepublik eine Betonrepublik zu machen, der als Antwort auf mehr Verkehr mehr Straßen bietet, die wieder nur Verkehr erzeugen. Nun haben wir heute gehört, daß am zunehmenden Verkehrsaufkommen auch noch die Frauen schuld sind.
Von einer grundsätzlichen Neuorientierung in der Verkehrspolitik kann überhaupt nicht die Rede sein. Insofern wäre es wirklich das beste, den Bundesverkehrswegeplan entsprechend den vorliegenden Anträgen zurückzuziehen.
Selbstverständlich ist das zu verabschiedende JobTicket-Gesetz zu begrüßen. Es kann aber nur am Anfang einer Reihe von Maßnahmen stehen, die zweifellos folgen müssen, um dem öffentlichen Personennahverkehr die ihm zustehende Priorität in unserem Verkehrssystem einzuräumen.
Die Steuerfreiheit des Job-Tickets wird hoffentlich etliche Berufspendlerinnen und -pendler zum Umsteigen auf den ÖPNV bewegen können, vor allem dann, wenn sie es kostenlos durch die Arbeitgeber zur Verfügung gestellt bekommen. — Reagiert die F.D.P. gar nicht?
Ich möchte aber davor warnen, und hier stimme ich mit meinem Kollegen Friedrich durchaus überein, die Erwartung an diesen Punkt allzu hoch zu hängen; denn solange der motorisierte Individualverkehr durch andere Bestimmungen des Steuerrechts weiter bevorteilt und gefördert wird, solange Unternehmen riesige Parkplätze auf ihrem Gelände anlegen, ist der Beschluß, über den wir heute hier reden, nur halbherzig.
Solange das Einkommensteuergesetz bei den Werbungskosten eine Kilometerpauschale für Autofahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz in Höhe von 65 Pfennigen vorsieht, während bei Fahrten mit den



Dr. Dagmar Enkelmann
öffentlichen Verkehrsmitteln nur die tatsächlich entstandenen Kosten angesetzt werden können, kann immer noch nicht von einer Gleichbehandlung, geschweige denn von einer Bevorzugung des ÖPNV die Rede sein.
Der nächste Schritt, der sich jetzt eigentlich ganz logisch anschließen müßte, ist das Ersetzen der Kilometerpauschale durch eine Entfernungspauschale, die in gleicher Höhe an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezahlt wird, egal, ob sie mit der Straßenbahn, mit dem Fahrrad oder per pedes unterwegs sind.
Ganz oben in der Prioritätenliste muß stehen: Die Bundesregierung muß endlich ein Konzept vorlegen zur Sicherung und Finanzierung des öffentlichen Schienennah- und Regionalverkehrs, wenn sie sich im Zuge der Bahnreform aus dieser Verantwortung zurückzieht.
Es kann nicht angehen, daß die Bundesregierung die Länder und Kommunen hier in die Pflicht nimmt, ohne daß sie ein Konzept anbieten kann, das eine finanzielle Ausgleichsregelung enthält. Die Erhöhung der Mittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ist nämlich — darauf verwies der Deutsche Städtetag wiederholt — bei weitem nicht ausreichend. Sonst stehen wir gerade in den finanzschwachen ostdeutschen Kommunen eines Tages vor der Situation, daß zwar eine Vielzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit einem Job-Ticket in der Hand am Bahnhof oder an der Straßenbahnhaltestelle stehen, dort aber keine Bahn mehr abfährt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213411900
Das Wort hat der Staatsminister Brüderle, Minister für Wirtschaft und Verkehr des Landes Rheinland-Pfalz.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213412000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch bei kleineren Themen muß man oft dicke Bretter bohren, bis man zu einem Ergebnis kommt.
Nach wiederholtem Anlauf hat auch die Bundesregierung jetzt einer Gesetzesinitiative des Bundesrates, die auf einen Antrag aus Rheinland-Pfalz zurückgeht, zugestimmt.
Das Ziel der Initiative ist klar und wird von einem breiten politischen Konsens getragen. Die angespannte Verkehrssituation in unseren Straßen führt vor allem in den Verdichtungsräumen und Städten Tag für Tag zu immer länger werdenden Verkehrsstaus, Umweltbelastungen, städtebaulichen und volkswirtschaftlichen Nachteilen, aber auch zu erheblichen physischen und psychischen Belastungen der Berufspendler.
Unser gemeinsames Ziel muß es sein, neue Impulse in der Verkehrspolitik zu setzen. Insbesondere müssen die öffentlichen Verkehrsmittel zunehmend Aufgaben übernehmen, die bisher zu einseitig dem Individualverkehr überlassen worden sind.
So benutzen etwa 80 % aller Berufspendler den Pkw, und in fast jedem Auto sitzt nur eine Person. Bund, Länder und Gemeinden und nicht zuletzt die Verkehrsträger selber unternehmen bereits erhebliche, vor allem finanzielle, Anstrengungen, um den ÖPNV auszubauen und seine Attraktivität zu steigern. Ich verweise auf die jährlichen Milliardenbeträge, die hier nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz eingesetzt werden.
Verbesserungen im ÖPNV machen aber nur dann Sinn, wenn der Verkehrsteilnehmer bereit ist, sie zu nutzen, also mehr auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Hierzu bietet das Job-Ticket einen wichtigen Anreiz, indem es den Berufspendler bei Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsangebote finanziell erheblich entlastet.
Leider führen die bestehenden steuer- und besoldungsrechtlichen Regelungen hier in eine entgegengesetzte Richtung. Die von Arbeitgeberseite zum Erwerb des Job-Tickets geleisteten Zuschüsse unterliegen nach dem geltenden Recht der Einkommensteuerpflicht, so daß der gewährte finanzielle Vorteil dem Arbeitnehmer nur teilweise zugute kommt.
Andererseits ergeben sich bei der Bereitstellung kostenloser Firmenparkplätze keine steuerrechtlichen Folgen für die Arbeitnehmer.
Diese unterschiedliche Behandlung begünstigt einseitig den Individualverkehr und steht dem verkehrspolitischen Ziel einer stärkeren Inanspruchnahme des ÖPNV entgegen.

(Beifall bei der SPD)

Auf Arbeitgeberseite hat sich die mit dem Erwerb eines Job-Tickets verbundene Steuerpflicht nachteilig auf die Bereitschaft zur Gewährung entsprechender Zuschüsse ausgewirkt.
Die rheinland-pfälzische Initiative zum Job-Ticket zielt darauf ab, diese Nachteile zu beseitigen, indem Zuschüsse der Arbeitgeber für die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs steuerfrei bleiben.
Rheinland-Pfalz hat die Initiative zu dem Gesetz ergriffen, weil es den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs als eine verkehrspolitische Schwerpunktaufgabe verfolgt. Aus der Sicht des Landes ist es nicht hinnehmbar, daß Zuschüsse an Arbeitnehmer zur Benutzung des ÖPNV in die Steuerkasse umgeleitet werden und damit ihre positive Wirkung für den ÖPNV verfehlen.
Eine besondere Situation ergibt sich für die Fahrtkostenzuschüsse an Bedienstete der öffentlichen Hand. Der öffentliche Dienst sollte auch beim Umstieg auf den ÖPNV mit gutem Beispiel vorangehen. Hierzu sieht die Gesetzesinitiative von Rheinland-Pfalz zum Job-Ticket eine Änderung der besoldungsrechtlichen Vorschriften vor, die auch öffentlich Bediensteten die Vorteile von Fahrtkostenzuschüssen zukommen läßt.
Für die rheinland-pfälzische Landesregierung ist die Gesetzesinitiative zum Job-Ticket ein Element ihrer Initiativen zur Stärkung des ÖPNV. Weitere Initiativen liegen vor. Ich erinnere an die Entschließung des Bundesrates von 1991 zur Regionalisierung



Staatsminister Rainer Brüderle (Rheinland-Pfalz)

des ÖPNV, zur Veräußerung der Bahnbusgesellschaften und zu einer flexibleren Gestaltung des Konzessionsrechts nach dem Personenbeförderungsgesetz.
Ich darf Sie bitten, neben dem vorliegenden Gesetzentwurf auch die anderen Initiativen von Rheinland-Pfalz wohlwollend zu unterstützen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213412100
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Elke Ferner.

Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1213412200
Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich muß sagen, ich war schon etwas erstaunt, als der Kollege Müller vorhin darauf hingewiesen hat, daß der Frauenanteil am Individualverkehr im Steigen begriffen ist. Das ist wohl wahr. Aber wahr ist auch, daß 64 % der Männer im Pendlerverkehr den Individualverkehr nutzen und nur 32 % den öffentlichen Verkehr, während das Verhältnis bei den Frauen umgekehrt ist: 34 % der Frauen nutzen den Individualverkehr, aber 51 % den öffentlichen Verkehr. Also insofern, denke ich, haben die Männer einen erheblichen Nachholbedarf, sich ebenso umweltgerecht zu verhalten.

(Beifall bei der SPD)

Bei den vorliegenden Gesetzentwürfen — das ist vorhin schon von allen gesagt worden — handelt es sich um einen ersten, aber wirklich längst überfälligen Schritt zur Förderung des ÖPNV im Berufsverkehr. Tagein tagaus sind in der Rushhour die Staumeldungen länger als die Nachrichten, tagein tagaus herrscht in den Morgenstunden ein dichter Parkplatzsuchverkehr. Vor allem vor großen Firmenparkplätzen bilden sich Schlangen. Wertvolle Flächen in bester Lage werden — nicht besonders intelligent — als Achtstunden-Autoabstellplätze genutzt, und die tägliche Blechlawine, die in den Städten zu besichtigen ist, trägt mit Sicherheit nicht unbedingt zur Verschönerung des Stadtbildes bei.
Die Schadstoffemissionen und der Lärm nehmen zu, während die Lebensqualität in den Städten und in den vielbefahrenen Ortsdurchfahrten sinkt. Eine Umkehr in der Verkehrspolitik und damit verbunden natürlich auch in der Steuerpolitik ist längst angesagt. Getan hat die Bundesregierung allerdings so gut wie nichts.
Mit den vorgesehenen Änderungen soll bewirkt werden, daß Zuschüsse zu Job-Tickets — heute muß das Job-Ticket versteuert werden — als geldwerter Vorteil steuerfrei sind. Vielleicht wird sich einigen der Finanzpolitiker in der Koalition ob möglicher Steuermindereinnahmen der Magen umdrehen. Aber ich glaube, wer die Streichorgien, die wir im Moment beim sogenannten Solidarpakt erleben, aushalten kann, wird auch solche kleinen Steuermindereinnahmen gut ertragen, zumal der ökologische Nutzen und die Verbesserung der Angebote im ÖPNV die Mindereinnahmen bei weitem ausgleichen.

(Beifall bei der SPD)

Es ist eben von allen angesprochen worden — das freut mich ganz besonders —, daß der Staat schon seit
Jahren auf mögliche Steuermehreinnahmen freiwillig verzichtet, wenn es darum geht, daß Firmenparkplätze, die kostenlos, zum Teil in bester Innenstadtlage, zur Verfügung gestellt werden, nicht als geldwerter Vorteil zu versteuern sind. Man muß sich einmal überlegen, daß für einen Parkplatz in der Innenstadt monatlich zwischen 100 und 200 DM — das kommt auf die Stadt an, darauf, wie knapp der Parkraum und wie teuer die Grundstücke in den Innenstädten sind — zu berappen wären. Das ist ein Vielfaches von dem, was an Arbeitgeberzuschüssen für Job-Tickets, selbst wenn der gesamte Fahrpreis bezahlt würde, als geldwerter Vorteil heute zu versteuern ist.
Wenn das hier von allen so gesehen würde, stünde, glaube ich, einer gemeinsamen Initiative zu einem zweiten Baustein in dieser Frage nichts entgegen. Wir werden Sie hier beim Wort nehmen. Ich denke, wir könnten dann gemeinsam einmal eine solche Initiative einbringen.

(Beifall bei der SPD)

Wir sollten uns vielleicht auch darauf verständigen, daß die Gelder, die durch die Versteuerung dieser geldwerten Vorteile in die Staatskasse fließen, ausschließlich dazu benutzt werden, den ÖPNV weiter zu fördern, und nicht im allgemeinen Haushaltstopf versinken.

(Beifall bei der SPD)

Nachdem jahrzehntelang der MIV neben anderen Steuervergünstigungen, z. B. der Kilometerpauschale oder der Absetzbarkeit der Kfz-Versicherung, bevorteilt wurde, ist es, denke ich, nur recht und billig, wenn die Benachteiligung des ÖPNV wenigstens in dem einen Punkt steuerfreier Arbeitgeberzuschüsse für Job-Tickets aufgehoben wird.
Eine solche Regelung könnte für meine Begriffe mehrere wichtige Funktionen erfüllen: Die Akzeptanz bei den Tarifpartnern für tarifliche Absicherungen des Job-Tickets würde zweifellos steigen. Durch ein Umsteigen auf den ÖPNV — ich würde das nicht zu gering schätzen — würde die dringend erforderliche Verkehrsverlagerung auf umweltverträgliche Verkehrsträger vorankommen.
Es ist klar, daß nicht nur das Job-Ticket ein Umsteigen ermöglicht. Aber ich kann mich sehr wohl an Diskussionen gerade in den kommunalen Parlamenten erinnern: Wenn Städte die Parkraumbewirtschaftung eingeführt haben, Anwohnerparken ermöglicht haben, Busspuren eingerichtet haben, also wirkliche Rahmenbedingungen in den Städten gesetzt und gleichzeitig Umwelt-Tickets eingeführt haben, dann hat die Opposition geschrien, was das alles für ein Mist sei, aber die Beförderungszahlen beim ÖPNV sind in die Höhe gegangen. Es muß also eine Kombination von Angebotsverbesserungen und von Rahmenbedingungen sein.

(Beifall bei der SPD)

Ein weiterer Effekt wäre natürlich auch eine Senkung der Schadstoffemissionen, insbesondere der Stickoxide und der CO2-Emissionen. Bessere Angebote in der Rushhour, z. B. neue Linien, könnten auch andere zum Umsteigen bewegen. Da die Job-Tickets



Elke Ferner
am Wochenende meist von der ganzen Familie genutzt werden können, könnten auch vielleicht anfangs bescheidene Verlagerungen des Freizeitverkehrs stattfinden.
Vielleicht hätten auch neue Mobilitätsmodelle, wie car-sharing, einen größeren Zulauf, wenn durch die Nutzung des ÖPNV-Tickets schon wesentliche Teile der Mobilitätsbedürfnisse befriedigt sind. Außerdem könnten auch die Verbindungen in der Fläche bei steigender Nachfrage verbessert werden. Zum letzten, denke ich, könnten wertvolle Grundstücke besonders in guten Innenstadtlagen einer sinnvolleren Nutzung zugeführt werden, z. B. für Wohnbebauung, Freiflächen oder Kinderspielplätze.

(Beifall bei der SPD)

Eine solche Nutzung wie heute, nämlich als Autoabstellplätze, ist gerade in diesen Bereichen eine Vergeudung von knappen Ressourcen.
Die Mobilitätsstudie des VDV aus dem Jahre 1991 belegt, daß ein Viertel aller Wege und Fahrten nach 1 km enden, die Hälfte spätestens nach 3 km und nur jeder fünfte Weg weiter als 10 km ist. Diese Entfernungen würden sich bestens zur Nutzung des Umweltverbundes — also zu Fuß gehen, mit dem Rad fahren oder den OPNV benutzen — eignen. Trotzdem werden zwei Drittel dieser Wege mit dem Pkw durchgeführt, wobei die Fahrzeiten und Entfernungen von Tür zu Tür annähernd gleich sind und der ÖPNV sogar leichte Zeitvorteile hat.
Das Potential für eine massive Verkehrsverlagerung auf den Umweltverbund ist da, aber es muß auch genutzt werden. Dabei sind Angebotsverbesserungen - ich sagte es —, wie das Job-Ticket, genauso wichtig wie ein ökologisch orientierter Ordnungsrahmen. Ich denke, hier muß wirklich an vielen Stellschrauben gedreht werden, damit das Ganze ein vernünftiges Konzept wird.
Ich erinnere hier an unseren Vorschlag zur Einführung einer Entfernungspauschale an Stelle der Kilometerpauschale. Belastungen steuerlicher Art müssen fahrleistungsabhängig erfolgen und auf Dauer die echten Kosten widerspiegeln, nicht nur im Nahverkehr, sondern auch im Fernverkehr; denn sonst werden wir wirklich irgendwann im Verkehrschaos ersticken.
Gleiche steuerliche und infrastrukturelle Bedingungen für den MIV und den Umweltverbund gehören ebenso zu den Rahmenbedingungen für eine ökologische Verkehrspolitik wie eine Verstetigung der GVFG-Mittel mindestens auf heutigem Niveau über das Jahr 1995 hinaus. Das gleiche gilt für eine gerechte Verteilung der Betriebskosten des ÖPNV. Darüber werden wir mit Sicherheit reden müssen, wenn es um die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs geht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte hier noch einmal feststellen, daß es mit uns keine Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs g eben wird, nach dem Motto: Der Bund gibt die Verantwortung und gleichzeitig die Kosten ab, und die Länder und Gemeinden können nachher gucken, wie
sie ihren Schienenpersonennahverkehr und ihren Nahverkehr überhaupt noch organisieren können.

(Beifall bei der SPD)

Das, was ich bezüglich der Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs und der GVFG-Mittel gelesen habe — ich weiß nicht, ob es die letzte Version des Solidarpakts war —, erschüttert mich, wenn das von Ihnen wirklich so beschlossen worden ist. Da steht nämlich ganz klar und deutlich: eine Entlastung beim Bund und eine Belastung bei den Ländern. Ich möchte nur davor warnen, hier wiederum eine Kostenverschiebung zu Lasten der Gemeinden und der Länder zu betreiben und damit einer Ausweitung des ÖPNV entgegenzuwirken.
Insgesamt gesehen brauchen wir wirksame Strategien zur Verkehrvermeidung, Verlagerung und zur optimalen Vernetzung der einzelnen Verkehrsträger, damit endlich mit einer umweltverträglichen Verkehrspolitik begonnen werden kann. Das Job-Ticket ist dazu ein wichtiger Baustein.
Ich denke — das ist eben schon gesagt worden —, daß wir die Ausschußberatungen zügig durchführen und in der zweiten und dritten Lesung ein Einvernehmen herstellen können, damit wir in dieser Frage endlich etwas weiterkommen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, in den Ausschußberatungen mitzumachen und dem Antrag der SPD-Bundestagsfraktion und des Bundesrates zuzustimmen. Nutzen Sie diese Gelegenheit hin zu einem ökologischen Verkehrskonzept!
Danke schön.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213412300
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Theo Magin das Wort.

Theo Magin (CDU):
Rede ID: ID1213412400
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beobachten eine ungebrochene Zunahme des Individualverkehrs. In den Hauptverkehrszeiten wird das Fahrzeug gerade in den Ballungsräumen häufig zum „Stehzeug", mit allen negativen Auswirkungen für Mensch und Umwelt. Diese Situation macht es nötig, über alle vernünftigen Möglichkeiten nachzudenken und alles auszuschöpfen, die eine grundsätzlich stärkere Zuwendung zum öffentlichen Personennahverkehr erlauben.
Repressive dirigistische Eingriffe wollen wir nicht. Es wäre ohnehin zweifelhaft, ob ihnen Erfolg beschieden sein könnte.
Die Einführung des Job-Tickets ist sicherlich eine Möglichkeit, eine stärkere Zuwendung zum ÖPNV zu finden. Aber nach allen Erfahrungen, die wir in vielen Bereichen, gerade im Bereich des Verkehrs, haben, wird der Erfolg nicht mit isolierten Einzelmaßnahmen, sondern mit einem Bündel von Maßnahmen am ehesten erreicht.
Das Auto ist nun einmal — ob es uns paßt oder nicht — die individuelle Antwort auf viele Bedürfnisse unserer Zeit. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es konnte viele Nachteile, die die Landbevölkerung gegenüber der Stadtbevölkerung hatte, weitgehend



Theo Magin
ausgleichen und den ländlichen Räumen mehr Gewicht zurückgeben. Schon deshalb und aus vielen anderen Gründen, die ich wegen der Kürze der Zeit nicht nennen kann, wäre es kurzsichtig und auch unredlich — es ist heute nicht geschehen —, das Auto zu verteufeln. Wir erleben es leider allzuoft.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Eine vernünftige Alternative zum Auto, vornehmlich in Ballungsräumen, ist allerdings der ÖPNV. Angesichts der Situation, von der mehrfach gesprochen wurde, sollte alles geprüft werden, was vernünftig und realistisch dazu beitragen kann, die Nutzung des ÖPNV zu verbessern. Konkret heißt das: Was kann geschehen, um die Menschen zu bewegen, vom Individualverkehr auf den öffentlichen Personennahverkehr umzusteigen? Wir wollen alles tun — das ist jedenfalls die Auffassung meiner Fraktion —, was hier weiterhilft. Aber wir meinen, es ist Vorsicht bei verliebten Zauberworten geboten. Wir haben in schwierigen Situationen oft erlebt, daß man meint, man brauche nur ein Wort in den Saal rufen und dann sei das Problem schon gelöst. Wir stellen fest, daß es leider nicht so ist. Deswegen sollten wir ganz nüchtern an die Sache herangehen. Wir sollten durch eine solche Diskussion auch nicht den Anschein erwecken, man könnte leicht eine Lösung finden, die dann aber sich in der Realität nicht verwirklichen läßt.
Daher sollten wir beim Gesetzgebungsverfahren sorgfältig prüfen, welche Wirkungen wir von der Einführung des Job-Tickets erwarten dürfen. Erlauben Sie mir — bei aller Zustimmung zu der Zielsetzung — jetzt schon einige kritische Anmerkungen.
Das Job-Ticket wird vornehmlich von Unternehmen einer bestimmten Größenordnung angeboten. Die Mitarbeiter von kleinen und mittleren Betrieben dürfen und müssen — jedenfalls zum Teil heute noch — weiterhin Normalpreise für ihren ÖPNV zahlen, ebenso die Hausfrauen und Rentner, die ohnehin schon treue Kunden des ÖPNV sind. Dafür bekommen die Normalzahler möglicherweise mehr Gesellschaft in den Bussen und Bahnen, als ihnen lieb ist, denn die Fahrt wird wegen der zusätzlichen Billigfahrer — vor allem zu den Hauptverkehrszeiten — nicht unbedingt attraktiver, es sei denn, mehr Fahrzeuge und verdichtete Taktzeiten, die wiederum mehr Kosten verursachen, würden das Problem lösen helfen. Der Verkehrsverbund Rhein/Ruhr hat bei der Einführung des „Tickets 2000" einschlägige Erfahrungen gesammelt. Aber wir stellen fest: Wird der ÖPNV unattraktiver, so ist wieder eine Abwendung vom ÖPNV zu befürchten. Das ist im Hinblick auf das, was wir eigentlich erreichen wollten, nur frustrierend.
Fraglich ist auch, ob es als ein sozialer Erfolg des Job-Tickets bezeichnet werden kann, wenn wir — bei gleicher Leistung — von dem einen einen doppelt so hohen Tarif als dem anderen abfordern und man nur dann zu einem 50-%-Zahler werden kann, wenn man sich in die Belegschaft eines Unternehmens begibt. Hier muß jedenfalls die Frage gestellt werden, ob eine solche Lösung gerechtfertigt werden kann.
Ich nenne einen weiteren Punkt. Eine gleichmäßige Auslastung der Verkehrsmittel des ÖPNV außerhalb der Hauptverkehrszeiten ist also nötig. Wenn das
nicht geschieht, wird erkennbar benachteiligt, was durch das Job-Ticket eigentlich gefordert werden soll, denn gerade in Spitzenzeiten wird der ÖPNV dann besonders belegt. Was können wir tun, um das zu ändern?
Ein Vergleich: Fernverkehrsunternehmen denken eher, was betriebswirtschaftlich eigentlich vernünftig ist, über einen Anreiz nach, die Verkehrsmittel zu Schwachlastzeiten besser auszunutzen und dadurch günstigere Tarife anzubieten. Mehr und mehr Nahverkehrsunternehmen scheinen sich dagegen von den Zwängen betriebswirtschaftlichen Denkens befreien zu wollen und reden oft allzu rasch und einseitig nur von der nötigen Förderung des ÖPNV, freilich nicht darüber, wie man zahlende neue Nutzer gewinnt, sondern vornehmlich über Verbilligungen, und zwar auf Kosten Dritter und bisheriger Kunden.
Das führt zu Ungleichgewichten. Wir sollten bei der Beratung dieses Gesetzes gerade darauf unser besonderes Augenmerk richten und überlegen, wie wir manches verändern können, wie wir den ÖPNV zu Schwachlastzeiten besser auslasten können und wie wir bezüglich der Verbilligungen und der Kosten gerecht verfahren können.
Dazu kommt — auch das sollte hinzugefügt werden; das haben einschlägige Untersuchungen ergeben —, daß selbst mit einem ÖPNV zum Nulltarif nur eine begrenzte Anzahl von Autofahrern zum Umsteigen zu bewegen ist, daß also die absolute Höhe der Kosten meist gar nicht der entscheidende Faktor für die Wahl des Verkehrsmittels ist. Diese Erkenntnis scheint den Befürwortern einer radikalen Verbilligung der Nutzung des ÖPNV durch Teilgruppen der Gesellschaft nicht bekannt zu sein. Deshalb ist die Frage zu stellen, ob das Job-Ticket sozial und fortschrittlich oder exklusiv und unsozial ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang eine weitere — für viele vielleicht provokative — Frage stellen: Wenn schon durch Verbilligung der Fahrt mit dem ÖPNV dessen Nutzung gefördert werden soll, wie steht es denn dann mit dem Parkraum? Wäre es dann nicht gerechtfertigt, den bisher meist zum Nulltarif vorgehaltenen Pkw-Parkraum für die Berufspendler kostenpflichtig zu machen, etwa in Höhe eines ÖPNV- Monatsabonnements, und sollten die damit verbundenen Mehreinkünfte nicht für den ÖPNV zur Verfügung gestellt werden? Der eine oder andere Pkw-Pendler würde sich sicher überlegen, ob er angesichts solcher Mehrbelastungen nicht besser auf den ÖPNV umsteigen sollte, allerdings zum Normaltarif, versteht sich. Denn wo steht denn geschrieben, daß die Benutzung des Autos und die Bereitstellung von Parkplätzen am Ort der Beschäftigung billiger sein muß als die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel? Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht und aus Sicht der Umwelt kann es dem vernünftigen ÖPNV nur über Markteinnahmen gelingen, das Negativimage des Subventionsgrabes loszuwerden.
Ich sage abschließend: Wir wollen den Gesetzentwurf mit dem Ziel beraten, ein vernünftiges, realisierbares, aber auch sozial ausgewogenes Konzept zu finden, das den ÖPNV wirklich fördert und das das



Theo Magin
Umsteigen vom Individualverkehr auf den öffentlichen Personennahverkehr erleichtert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213412500
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Grünewald das Wort.

Dr. Joachim Grünewald (CDU):
Rede ID: ID1213412600
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die vom Bundesrat und der SPD-Fraktion vorgelegten Gesetzentwürfe verfolgen dasselbe Ziel, nämlich die Arbeitnehmer — mehr als das bisher der Fall ist — zu veranlassen, für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte verstärkt den öffentlichen Personennahverkehr zu benutzen und damit Umweltbelastungen zu vermeiden und auch den Energieverbrauch einzuschränken. Um diese Ziele zu verwirklichen, sollen nun die Zuschüsse der Arbeitgeber steuerfrei gestellt werden. Ferner — Herr Minister Brüderle hat darauf hingewiesen — sollen nach den Gesetzentwürfen auch besoldungsrechtliche Voraussetzungen dafür geschaffen werden, auch im öffentlichen Dienst entsprechende Möglichkeiten zu eröffnen.
Um es deutlich zu sagen: Die Bundesregierung teilt die umwelt- und die verkehrspolitische Zielsetzung der Gesetzentwürfe. Das sind nicht nur leere Worte, sondern das läßt sich auch schon durch Taten belegen, denn wir haben diesem Ziel im Einkommensteuerrecht schon seit langem Rechnung getragen, indem die Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln steuerlich in voller Höhe als Werbungskosten geltend gemacht werden konnten, während Benutzung der eigenen Kraftfahrzeuge für solche Fahrten nur die nicht kostendeckenden — ich betone: die nicht kostendeckenden — gesetzlichen Kilometer-Pauschbeträge anerkannt werden.
Herr Minister Brüderle und Herr Kollege Friedrich, ich will mich nun nicht an dem Streit um das Erstgeburtsrecht beteiligen, aber ich darf für die Bundesregierung in aller Bescheidenheit erklären, daß wir uns schon um das Job-Ticket bemüht haben und auch schon tätig geworden sind. Herr Kollege Müller hat ja soeben darauf hingewiesen: Wir haben im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder schon im April vergangenen Jahres eine Verwaltungsregelung getroffen. Danach bleibt in den Fällen, in denen Arbeitnehmer von ihrem Arbeitgeber Fahrausweise erhalten, die das Nahverkehrsunternehmen zu einem niedrigeren Tarif abgegeben hat, der gegenüber dem normalen Fahrausweis eingeräumte Rabatt steuerfrei. Sie sehen, es ist ein Anliegen der Bundesregierung, diese Verwaltungsregelung nun auf gesetzliche Füße zu stellen und gesetzlich abzusichern. Dem dienen ja auch die beiden Gesetzentwürfe.
Frau Kollegin Caspers-Merk, es ist nun nicht so, als ob die SPD die Gesetze mache. In unserer Republik ist es noch so, daß der Bundestag — deswegen sind wir ja hier heute beieinander — die Gesetze macht.
Dem steuerrechtlichen Teil der Gesetzentwürfe stimmt die Bundesregierung deshalb grundsätzlich zu. Sie schlägt jedoch eine Änderung der Gesetzesformulierung vor, damit nicht auch Zuschüsse für die Benutzung eines Taxis — auch Taxen sind öffentliche Verkehrsmittel — zu Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von der Regelung erfaßt werden. Denn eine steuerfreie Taxibenutzung würde der Zielsetzung der Gesetzentwürfe, Autopendler zu motivieren, auf Bus und Bahn umzusteigen, zuwiderlaufen. Es wäre nahezu kontraproduktiv.
Zur Zeit läßt sich die Höhe der mit der vorgeschlagenen Regelung verbundenen Steuerausfälle nicht mit Sicherheit abschätzen. In dieser Frage stimmen wir mit Bundesrat und SPD-Fraktion überein. Klar ist, daß die 15 %ige pauschale Lohnsteuer bzw. die individuelle Lohnsteuer auf bereits heute gezahlte Zuschüsse — deren Höhe wir nicht kennen — wegfallen. Werden künftig wegen der Steuerfreiheit verstärkt Zuschüsse gezahlt und kommt es in größerem Umfang zur angestrebten Verlagerung der Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte vom Kraftfahrzeug auf Busse und Bahnen, so könnte das selbstverständlich zu Steuerausfällen führen. Anders, als Frau Ferner das sieht, hat verantwortliche Finanzpolitik gerade in dieser Zeit darauf Bedacht zu nehmen. Deswegen müssen wir im Laufe der parlamentarischen Beratung sehr sorgfältig miteinander darüber reden, auch in der sicherlich notwendig werdenden Anhörung, welche Steuerausfälle wir zu gegenwärtigen haben, die entsprechend dem in der Koalition vereinbarten Moratorium eine Gegenfinanzierung erforderlich machen könnten.
Dem besoldungsrechtlichen Teil, Herr Minister Brüderle, kann die Bundesregierung im Ergebnis nicht zustimmen. Zuschüsse sowie unentgeltliche oder verbilligte Fahrkarten für den öffentlichen Dienst würden die öffentlichen Haushalte ganz erheblich belasten. Nach meiner Information würde das für Bund, Länder, Gemeinden, Bahn und Post Belastungen von überschlägig 400 Millionen DM verursachen, es sei denn, man geht den Weg der Refinanzierung, den Herr Kollege Magin eben angedeutet hat, und gewinnt einen Teil der Kosten über die Vermietung des bisher unentgeltlich bereitgestellten Parkraums. Aber eine solche Belastung stünde ganz ohne Frage im Widerspruch zu der mittelfristigen Konsolidierungsaufgabe im öffentlichen Bereich, die, wie Sie wissen und aus der Diskussion dieser Tage verfolgen können, für uns in der Bundesregierung absolute Priorität hat und auch haben muß.
Schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213412700
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/3573 und 12/4123 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist das beschlossen.



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Wir kommen nunmehr zur
Fragestunde
— Drucksache 12/4132 —
Ich rufe zunächst den Bereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Es steht uns Herr Staatssekretär Dr. von Würzen zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich sehe im Moment die Abgeordnete Frau Jäger nicht, jedoch den Abgeordneten Lowack. Somit rufe ich zunächst seine Frage 21 auf:
Welche Befürchtungen hegt die Bundesregierung angesichts des weltweit größten Auftragseinbruchs bei der deutschen Schiffsbauindustrie, Aufträge in Milliardenhöhe an die Republik China auf Taiwan zu vergeben?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Dr. Dieter Würzen, Staatsekretär im Bundesministerium für Wirtschaft: Der Bundesregierung liegt eine Voranfrage vom 25. November 1992 zu der Ausfuhr von U-Booten nach Taiwan vor. Diese Voranfrage wird derzeit von der Bundesregierung geprüft. Die Entscheidung wird in Kürze unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände und der exportpolitischen Grundsätze der Bundesregierung im Bundessicherheitsrat getroffen werden. Ich bitte um Verständnis, daß ich der Entscheidung des Bundessicherheitsrats nicht durch öffentliche Erklärungen vorgreifen kann.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213412800
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Lowack.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1213412900
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung bzw. der Bundessicherheitsrat bei seiner Entscheidung auch berücksichtigen, daß es sich bei diesen Schiffen um den Ersatz von Altmaterial teilweise aus der Zeit vor 1945 handelt, d. h. daß die Zahl der Schiffe nicht vermehrt werden soll, und daß die waffentechnische Ausrüstung in erster Linie aus den USA kommen soll, weil die Vereinigten Staaten von Amerika erkannt haben, daß ihr Rückzug aus dieser Region es notwendig macht, Taiwan als Stabilisierungsfaktor anzuerkennen?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich habe auf die rüstungsexportpolitischen Grundsätze der Bundesregierung Bezug genommen. Dort ist im einzelnen geregelt, welche Gesichtspunkte bei der Entscheidung eine Rolle zu spielen haben. Ich bleibe dabei, daß ich zu einzelnen Elementen nicht Stellung nehmen kann.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413000
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Ortwin Lowack (CSU):
Rede ID: ID1213413100
Herr Staatssekretär, wird bei der Entscheidung der Bundesregierung bzw. des Bundessicherheitsrats auch eine Rolle spielen, daß durch die beabsichtigte Streichung von 300 Millionen DM Werfthilfe dieser Auftrag noch dringender wird, um der deutschen Werftindustrie, die von dem Einbruch im Werftbereich am meisten geschädigt wurde, für die Zukunft eine Chance zu geben?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, das ist eine sehr gute und differenzierte Frage. Haben Sie aber bitte Verständnis, daß Sie mich auch durch eine noch so gute
Fragestellung nicht dazu bringen, daß ich hier Erwägungen mitteile, die der Bundessicherheitsrat anzustellen hat.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413200
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Beucher auf:
Ist es richtig, daß die Bundesregierung von den privaten Waffengeschäften, wie sie in der Sendung „Monitor" vom 28. Dezember 1992 dargestellt wurden, informiert war?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Erlauben Sie, Herr Präsident, daß ich die Fragen 22 und 23 zusammen beantworte?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413300
Ich habe keine Einwendungen. Herr Abgeordneter Beucher, haben Sie Einwendungen, daß Ihre beiden Fragen zusammen beantwortet werden? Die Gesamtzahl Ihrer Zusatzfragen, also vier, wird dadurch nicht berührt. — Sie sind einverstanden.
Ich rufe dann auch die Frage 23 des Abgeordneten Beucher auf:
Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus der Sendung „Monitor" vom 28. Dezember 1992 gezogen, bzw. welche Reaktionen sind ihr bekannt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Unmittelbar nachdem der von Ihnen angesprochene Vorgang über angebliche Waffenexporte oder Anbahnung von Kriegswaffengeschäften über die Sendung „Monitor" der Bundesregierung bekanntgeworden ist, sind die Ermittlungen von den zuständigen Stellen aufgenommen worden. Sie werden zur Zeit durch das Landeskriminalamt in Dresden geführt und beziehen sich auf den Verdacht eines Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Zugleich ist auch Interpol in Warschau in die Untersuchungen eingeschaltet.
Ich werde Sie gerne über das Ergebnis dieser Ermittlungen zu gegebener Zeit informieren, wenn Sie das wünschen.
Vor der Sendung „Monitor" ist die Bundesregierung nach Auskunft der für die Überwachung des Außenwirtschaftsverkehrs zuständigen Instanzen über den Vorgang nicht informiert gewesen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413400
Zusatzfrage, bitte schön.

Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1213413500
Haben Sie entgegen der Behauptung in der Sendung „Monitor" etwas unternommen, um richtigzustellen, daß Sie nicht informiert waren?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Das Wirtschaftsministerium hat keine Richtigstellung vorgenommen. Die zuständigen Instanzen sind das Finanzministerium und das Zollkriminalamt. Ich weiß nicht, ob von dort etwas richtiggestellt worden ist. Aber, Herr Abgeordneter, nicht alles, was falsch behauptet wird, stellen wir richtig. In solchen Sendungen wird immer eine ganze Menge behauptet.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413600
Eine weitere Zusatzfrage.

Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1213413700
Ist der Bundesregierung bekannt, in welchem Umfang Waffen aus der Ukraine oder aus anderen GUS-Staaten Gegenstand von solchen Geschäften sind, die in dieser Sendung angesprochen worden sind?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Nein, aber das, Herr Abgeordneter, ist Gegenstand der Ermittlungen. Die Ermittlungsbehörden haben die Befugnis, sich durch Durchsuchung oder andere Ermittlungsmethoden Gewißheit zu verschaffen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213413800
Eine weitere Zusatzfrage.

Friedhelm Julius Beucher (SPD):
Rede ID: ID1213413900
Sind Sie in der Lage, uns heute den Erkenntnisstand des BKA darüber, was in Polen ermittelt worden ist, mitzuteilen, auch in Sachen Plutonium und atomaren Sprengköpfen?
Dr. Dieter von Würzen, Staatssekretär: Nein, leider nicht, Herr Abgeordneter. Die Ermittlungen laufen noch. Wenn wir Ergebnisse haben, werde ich sie Ihnen gerne auch unaufgefordert mitteilen, wie ich schon gesagt habe.

(Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Danke!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213414000
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Frage 25 der Abgeordneten Siegrun Klemmer soll schriftlich beantwortet werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie so verfahren würden, Herr Staatssekretär. — Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Abgeordneten Frau Renate Jäger und Siegfried Scheffler sind nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit auf. Alle Fragen dieses Geschäftsbereichs, also die Fragen 26 und 27 des Abgeordneten Hinsken, die Fragen 28 und 29 des Abgeordneten Kolbow und die Frage 30 der Abgeordneten Kolbe, werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Staatssekretär Wolfgang Gröbl zur Verfügung.
Die Fragen 35 und 36 des Abgeordneten Joachim Tappe werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Kubatschka auf:
Sind der Bundesregierung Planungen der Deutschen Bundesbahn bekannt, daß durch die Zuordnung der Bahnpolizei zum Bundesgrenzschutz vor einem Jahr ein sogenannter eventuell
priva ter Werkschutz bzw. Bahnbewachungsdienst benötigt und beauftragt wird, da der Bundesgrenzschutz nicht alle Aufgaben der Bahnpolizei übernommen hat, und wie beurteilt die Bundesregierung derartige Planungen im Hinblick auf eine wirtschaftliche Haushaltsführung der Deutschen Bundesbahn?

Wolfgang Gröbl (CSU):
Rede ID: ID1213414100
Herr Kollege Kubatschka, die Bundesregierung hat Kenntnis von dem Beschluß der Vorstände der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn, die nach der Überleitung der Bahnpolizei zum Bundesgrenzschutz beim Unternehmen verbliebenen Aufgaben auf dem Gebiet der unternehmerischen Sicherheit und Ordnung einem privatrechtlich organisierten Werkschutzunternehmen zu übertragen. Dieser Beschluß steht auch nach Auffassung der Bundesregierung mit der Verpflichtung zur wirtschaftlichen Haushaltsführung und mit den unternehmerischen Zukunftsplanungen in vollem Einklang.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213414200
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213414300
Herr Staatssekretär, welche Personalstärke wird diese Art von Werkschutz aufweisen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Dies ist von den Vorständen der Bundesbahn und der Reichsbahn der Bundesregierung noch nicht bekanntgemacht worden,

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213414400
Weitere Zusatzfrage.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213414500
Ist es nicht paradox, auf der einen Seite die Bahnpolizei aufzulösen und so vorzutäuschen, als träten Personaleinsparungen ein, und auf der anderen Seite einen Wachdienst privater Art zu organisieren? Im Grunde genommen haben wir doch dasselbe Ergebnis. Jetzt wird es lediglich privatwirtschaftlich und unter Umständen mit ganz anderen Sicherheitsstandards organisiert.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Nein. Die Polizei übernimmt die hoheitlichen Aufgaben, und — wenn ich mich recht erinnere, hat auch die SPD diesem Gesetz zugestimmt — der privatrechtlich organisierte Schutzdienst ist mehr unternehmensbezogen. Hier gibt es eine Reihe von Vorbildern aus der Privatwirtschaft.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213414600
Bitte sehr, Frau Abgeordnete Wester.

Hildegard Wester (SPD):
Rede ID: ID1213414700
Bedeutet die Umstellung auf ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen zusätzliche finanzielle Belastungen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Sie müssen davon ausgehen, daß die Mitarbeiter des Werkschutzdienstes — oder wie immer er auch heißen mag — natürlich Gehalt erfordern. Dies bedeutet eine finanzielle Belastung der Unternehmen Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn. Das ist leicht zu erklären.




Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213414800
Herr Abgeordneter Koppelin.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213414900
Das Land NordrheinWestfalen hat gegen die Übernahme der Bahnpolizei in den BGS eine Klage eingereicht. Können Sie uns sagen, wann diese Klage entschieden wird?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415000
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Ich rufe die Frage 38 des Abgeordneten Kubatschka auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der noch unveröffentlichten Studie der Bundesforschungsanstalt für Landesplanung und Raumordnung, nach der von allen 17 „Verkehrsprojekten Deutsche Einheit" der Ausbau der Eisenbahn die größten Vorteile bringt, da sich dadurch die durchschnittliche Reisezeit zwischen zwölf großen Ballungsräumen Deutschlands um über eine Stunde reduziert, der geplante Ausbau des ostdeutschen Autobahnnetzes dagegen nur Zeitgewinne von weniger als 16 Minuten bringt?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung gibt sowohl bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit" als auch im gesamten Bundesverkehrswegeplan 1992/93 dem Ausbau der Schieneninfrastruktur Vorrang.
Bei den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit" entfallen deutlich mehr als die Hälfte der Investitionsmittel auf Schienenprojekte. Mit dem Bundesverkehrswegeplan 1992/93 übersteigen die Investitionen für die Schiene erstmals diejenigen für die Bundesfernstraßen.
Die Studie „Verkehrsprojekte ,Deutsche Einheit' — Erreichbarkeitseffekte Straße/Schiene im Vergleich" der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung bestätigt nur noch, daß mit den von der Bundesregierung geplanten Neu- und Ausbaumaßnahmen im Schienennetz beachtliche Reisezeitgewinne erzielt werden.
Die Studie ermittelt aber einseitig Reisezeiten ohne gleichzeitige Berücksichtigung von Verkehrsbelastungen. Sie ist daher nicht geeignet, den Ausbaubedarf von Verkehrswegeprojekten zu beurteilen oder umfassende Vergleiche zwischen Schiene und Straße anzustellen.
Gerade in den neuen Ländern ist der Verkehr durch ständige Staus und Überfüllungen gekennzeichnet, so daß die vorgesehenen Aus- und Neubaumaßnahmen im Straßennetz zu Zeiteinsparungen führen, die ganz erheblich über denen liegen die die Studie ermittelt.
Beim Ausbau der Bundesverkehrswege kommt es nicht alleine darauf an, Reisezeiten zu verkürzen, sondern auch darauf, die erforderlichen Kapazitäten für die großen und in Zukunft noch wachsenden Verkehrsströme in und durch Deutschland bereitzustellen, wie es der Bundesverkehrswegeplan 1992/93 vorsieht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415100
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213415200
Herr Staatssekretär, es scheint, als schmecke Ihnen das Ergebnis der Studie nicht so sehr, und deswegen wird es uminterpretiert. Werden Sie diese Studie zugänglich machen, wird sie veröffentlicht werden, oder wird sie nach wie vor nicht zugänglich sein?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das Schmekken oder Nichtschmecken geht eigentlich schon mehr in mein künftiges Ressort hinein. Damit kann in der Verkehrspolitik nicht gewogen werden.
Wir erachten diese Studie als unzureichend. Wir befinden uns dabei in Übereinstimmung mit dem Bundesbauministerium, das diese Studie in Auftrag gegeben hat. Ob die Studie veröffentlicht und wem sie zugänglich gemacht wird, entscheidet die Bundesanstalt oder das Bundesbauministerium. Es gibt ein Mitteilungsblatt vom Juni 1992, das diese Studie auf vier, fünf Seiten zusammenfaßt. Schon daraus ist eine Bewertung dieser Studie durchaus möglich.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415300
Zusatzfrage, bitte schön.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213415400
Ergeben sich aus der Studie auch Kostenvorteile von Schienenbaumaßnahmen gegenüber der Straße?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Wenn die Studie schon im Ansatz nicht richtig ist, ist es für uns auch nicht zulässig, die daraus zu ziehenden Konsequenzen im Kostenbereich zu übernehmen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415500
Danke schön. Hierzu gibt es keine weiteren Fragen.
Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Koppelin auf:
Auf welcher Rechtsgrundlage konnte die Deutsche Bundesbahn bereits im Oktober 1992 mit den Baumaßnahmen auf der Strecke Neumünster-Kiel beginnen, obwohl eine raumordnerische Stellungnahme als Ersatz für ein Raumordnungsverfahren zur Streckenelektrifizierung durch das Land Schleswig-Holstein noch nicht vorlag und die Auslegung der Planfeststellungsunterlagen erst mit dem 2. November 1992 erfolgte, mithin bis zum 16. Dezember 1992 Einwendungen gegen den Plan möglich waren?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es trifft zu, daß die Deutsche Bundesbahn mit den Bauarbeiten begonnen hat, bevor ein bestandskräftiger Planfeststellungsbeschluß vorliegt.

(Zuruf von der SPD: Das ist unerhört!)

Am 3. November 1992 hat sie auf Initiative des Landes Schleswig-Holstein mit einem ersten Spatenstich den Bau der Fahrleitungsanlagen begonnen. Hierbei handelt es sich zunächst ausschließlich um Arbeiten auf bahneigenem Gelände.
Das Planfeststellungsverfahren ist eingeleitet, und die Planunterlagen liegen bei den betroffenen Ämtern zur öffentlichen Einsicht aus. Die Deutsche Bundesbahn und das Land Schleswig-Holstein sind der Auffassung, daß dem notwendigen Abwägungsprozeß nicht vorgegriffen wird, da die gegebenenfalls aus Gründen der Ökologie und des Schallschutzes erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen nach Maßgabe des Planfeststellungsverfahrens durchgeführt werden. Der Bundesminister für Verkehr teilt die Ansicht, daß



Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröbl
die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in vollem Umfang gewahrt werden.
Der Bau einer Bahnstromleitung — das muß man unterscheiden —, für den eine raumordnerische Stellungnahme des Landes erforderlich ist, wurde noch nicht begonnen. Das Verfahren zur Erlangung des Baurechts wird im Benehmen mit dem Land Schleswig-Holstein von der Deutschen Bundesbahn vorangetrieben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415600
Zusatzfrage, bitte sehr.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213415700
Habe ich Sie recht verstanden, daß das Land Schleswig-Holstein ebenfalls damit einverstanden war, daß das Planfeststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen wird, aber die Bauarbeiten schon begonnen werden können?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Sie haben mich recht verstanden. Das Land Schleswig-Holstein war nicht nur einverstanden, sondern hat darauf gedrängt, daß diese Maßnahme begonnen wird. Entsprechendes hat der Verkehrsminister des Landes Schleswig-Holstein bei dem ersten Spatenstich über Pressemitteilung zum Ausdruck gebracht.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213415800
Da ich kein Jurist bin, darf ich Sie fragen: Halten Sie das, was da geschehen ist, für rechtlich zulässig? Ist das mit unseren Gesetzen vereinbar?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, auch ich bin kein Jurist.

(Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] meldet sich zu einer weiteren Zusatzfrage)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213415900
Tut mir leid, Sie haben ihre beiden Zusatzfragen verwirkt; da kann ich Ihnen nicht helfen. Weitere Zusatzfragen zu Frage 39 gibt es nicht.
Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Koppelin auf:
Welche Fristen werden in dem Vertrag zwischen der Deutschen Bundesbahn und dem Land Schleswig-Holstein für die Durchführung der Maßnahme gesetzt, und stehen diese Fristen möglicherweise im Widerspruch zu einem verfahrensrechtlich korrekt durchgeführten Verfahren?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Für die Elektrifizierung der Eisenbahnstrecken Hamburg-Kiel und Neumünster-Flensburg ist im Vertrag zwischen dem Land Schleswig-Holstein und der Deutschen Bundesbahn für die Fertigstellung eine Frist von drei Jahren vorgesehen. Diese Frist begann mit Wirksamwerden des Vertrages am 7. November 1991. Nach Einschätzung der Deutschen Bundesbahn ist darin kein Widerspruch zu einem verwaltungsrechtlich korrekt durchgeführten Verfahren erkennbar.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213416000
Zusatzfrage, bitte sehr.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213416100
Wurde in Niedersachsen ein Raumordnungsverfahren für die Verlängerung des bahneigenen Stromnetzes über die Elbe nach Schleswig-Holstein beantragt oder eingeleitet?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Sie haben gefragt: von Niedersachsen?

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213416200
Richtig. Es geht über die Elbe nach Schleswig-Holstein. Insofern muß ich natürlich auch nach Niedersachsen fragen.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten, ob im Land Niedersachsen dieses Raumordnungsverfahren beantragt wurde. Ich nehme es an, denn ohne Raumordnungsverfahren ist die Bahnstromleitung wohl nicht zu bauen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213416300
Zusatzfrage.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213416400
Ich gehe davon aus, daß ich das aus Ihrem Hause schriftlich bekomme. Nach dem, was Sie vorhin im Zusammenhang mit dem Planfeststellungsverfahren in Schleswig-Holstein geantwortet haben, habe ich natürlich Zweifel an Ihrer Beantwortung, was Niedersachsen angeht.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213416500
Sie können Fragen stellen, aber keine Bewertungen vornehmen.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1213416600
Es war mit einem Fragezeichen versehen: Vielleicht bestätigen Sie meinen Verdacht.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß auch dieser Verdacht unbegründet ist.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213416700
Zu dieser Frage liegen keine weiteren Zusatzfragen vor,
Ich rufe die Frage 41 der Abgeordneten Frau Steen auf.
Was hat die Bundesregierung dazu bewogen, die Ausgliederung des Fährbetriebes Puttgarden zum 1. Januar 1993 zu beschließen und eine privatrechtliche GmbH mit Hauptsitz in Rostock zu gründen, und welche personellen Veränderungen sind für die dort Beschäftigten zu erwarten?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Vorstände der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn haben die handelsrechtliche Verselbständigung ihrer Fähr- und Hafenbetriebe — gemeint sind Puttgarden, Warnemünde und Saßnitz — im Rahmen einer Deutschen Fährgesellschaft Ostsee mbH beschlossen. Die Beschlüsse basieren auf eingehenden Situationsanalysen, wonach die bisher bei den beiden Bahnverwaltungen praktizierten Organisationsformen angesichts weiter steigender Marktanforderungen und einschneidender Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen keine ausreichende Gewähr bieten u. a. für eine kaufmännische Unternehmensführung, für die Produktion optimaler Leistungen am Markt, für ein erfolgreiches Bestehen der Fähr- und Hafenbetriebe im Wettbewerb und für den erfolgreichen Zugang zum Kapitalmarkt sowie zum Arbeitsmarkt.
Das Personal der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee mbH, die zum 1. April 1993 ihre Tätigkeit aufnehmen soll, wird sich aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Deutschen Bundesbahn und der Deut-



Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröbl
schen Reichsbahn zusammensetzen, die bisher in diesem Aufgabenbereich tätig sind. Den Mitarbeitern der Deutschen Reichsbahn wird die GmbH auf der Grundlage des voraussichtlich im Februar 1993 abzuschließenden Tarifvertrages ein Übernahmeangebot machen. Die Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn, die von diesem Angebot keinen Gebrauch machen wollen, werden im Rahmen eines örtlichen Sozialplans anderweitig bei der Deutschen Bundesbahn bzw. der Deutschen Reichsbahn beschäftigt werden.
Die Mitarbeiter der Deutschen Bundesbahn werden der GmbH zum 1. April 1993 im Wege der Dienstleistungsüberlassung zur Verfügung gestellt, d. h. für die Beamten und Arbeitnehmer der Deutschen Bundesbahn werden die derzeitigen Beschäftigungs- und Tarifbestimmungen über den 1. April 1993 hinaus fortgelten.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213416800
Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete Steen.

Antje-Marie Steen (SPD):
Rede ID: ID1213416900
Herr Staatssekretär, ich möchte auf das eingehen, was Sie am Anfang gesagt haben. Sie sprachen von einer Situationsanalyse. Das betrifft ja auch die Situation, in der wir uns in Ostholstein befinden. Ist der Bundesregierung nicht bekannt, daß gerade der Betrieb auf der Fährlinie von hohen Zuwachsraten gekennzeichnet ist und dort immer sehr positive Betriebsergebnisse — ich denke, man kann sagen, ohne vermessen zu sein, daß dies im Bereich der Deutschen Bundesbahn wahrscheinlich die einzigen positiven Betriebsergebnisse sind — erzielt wurden? Was hat Sie veranlaßt, in einer Region, die wirklich an den Rand der Existenzfähigkeit gedrängt wird — das geht von den Truppenreduzierungen bis hin zur Wegnahme von Zolldienststellen und BGS-Stellen; das ist eine leidvolle Erfahrung, die wir dort machen —, jetzt erneut Arbeitsplätze zu gefährden?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Erstens ist es erfreulich, daß die Fährbetriebe in den letzten Monaten und in den letzten Jahren erfolgreich gearbeitet haben.
Zweitens. Dies entbindet die Vorstände der beiden Unternehmen nicht von der Pflicht, sich Gedanken zu machen, wie die Zukunft dieser Betriebe aussieht.
Drittens bringt diese Maßnahme keine Gefährdung von Arbeitsplätzen mit sich. Ich habe Ihnen, glaube ich, deutlich schildern können, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt in diesen Betrieben tätig sind, entweder übernommen oder von der Deutschen Bundesbahn bzw. der Deutschen Reichsbahn weiterbeschäftigt werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417000
Weitere Zusatzfrage.

Antje-Marie Steen (SPD):
Rede ID: ID1213417100
Gilt das für alle Beschäftigten, vor allen Dingen für diejenigen, deren Arbeitsplätze jetzt entfallen, weil die Aufgabenstellung eine andere wird? Aus dem Bereich der Unterhaltung nenne ich beispielsweise die Funker. Gilt das auch für diejenigen, die bis jetzt durch besondere Formen ihres
Arbeitsvertrages, also durch das Arbeitsrecht, geschützt waren?
Auf den Schiffen dort fahren bis jetzt beamtete Kapitäne. Es gibt dort ausgebildetes Personal. Sehen die Überlassungsverträge vor, daß die Beschäftigten in demselben Status bleiben? Ist ausgeschlossen, daß ungelernte Kräfte gelernte Kräfte ersetzen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich sollte zunächst die Zahl insgesamt nennen: Es sind in diesem gesamten Bereich 974 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist vorgesehen, zunächst das gesamte Personal des operativen Dienstes zu übernehmen. Sozialpläne werden nur für das Personal der Geschäftsleitung und gegebenenfalls für nicht überleitungswillige Mitarbeiter erstellt. Das Personal der Geschäftsleitung kann dann in zentralen Betrieben — Deutsche Reichsbahn bzw. Deutsche Bundesbahn — untergebracht werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417200
Dann rufe ich die Frage 42 der Abgeordneten Frau Steen auf:
Wie sieht die Bundesregierung ihre Fürsorgepflicht gegenüber den dort Beschäftigten gewahrt, wenn bis zum heutigen Tag keine Regelungen über Dienstzeiten, Versorgungsbezüge, Gehälter, Urlaub, Krankenversicherung, Beihilfen usw. getroffen sind?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung sieht ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitern des Fährbetriebes Puttgarden aus den in der Antwort zu Frage 41 schon genannten Gründen als gewahrt an.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417300
Zusatzfrage.

Antje-Marie Steen (SPD):
Rede ID: ID1213417400
Das konnte ich beinahe erwarten.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: So berechenbar ist die Bundesregierung!

Antje-Marie Steen (SPD):
Rede ID: ID1213417500
Das mag ja aus Ihrer Einschätzung heraus so sein. Wir fühlen uns ziemlich verunsichert, weil dieser Vertrag innerhalb von vier Wochen geschlossen worden ist, ohne Beteiligung des Personals, ohne Beteiligung der Betroffenen. Ich meine, das ist schon überdenkenswert.
Meine Frage richtet sich noch auf einen anderen Gegenstand: Ist durch die Gründung der privaten Betreibergesellschaft z. B. auch die Puttgardener Fährschiff-Restaurant GmbH berührt? Wird es dort Veränderungen geben?
Ich verweise dazu besonders auf die Stellungnahmen der betroffenen Gemeinden, die bis jetzt von den Steuereinnahmen — in meinem Wahlkreis handelt es sich um sehr kleine Gemeinden — partizipiert haben. Wenn dieser Betrieb wegginge, würde das für uns einen zusätzlichen Verlust von Arbeitsplätzen bedeuten.
Wie sehen Sie durch die private Betreibergesellschaft — für mich ist es eine solche — gewährleistet, daß die Bedienung der Fährlinie und die Einhaltung der Fahrpläne im Zusammenwirken mit der Bundesbahn nicht aus Kosten- und Rentabilitätsgründen



Antje-Marie Steen
einseitig aufgekündigt bzw. eingestellt werden oder eine Verminderung des Sicherheitsstandards, der jetzt gilt — ich erinnere an das Fährunglück, das sich gerade im Ostseebereich ereignet hat —, erfolgt?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417600
Frau Abgeordnete Steen, ich möchte mir erlauben, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es sich erstens um eine Vielzahl von Fragen gehandelt hat. Zweitens ist ein Zusammenhang mit der Frage 41 zwar nachvollziehbar, aber nicht mit der Frage 42. Ich gehe trotzdem davon aus, daß der Staatssekretär die Fragen beantwortet. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ein bißchen mit darauf achten würden, daß solche Unannehmlichkeiten vermieden werden.
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Aber gerne. — Wir gehen erstens davon aus, daß der privatrechtlich organisierte Fährbetrieb in Zukunft noch erfolgreicher sein wird als der derzeit organisierte Betrieb. Dies wiederum führt mit Sicherheit nicht zu weniger Steuereinnahmen für die Gemeinden, sondern im Gegenteil, es wird — zweitens — zu mehr Steuereinnahmen für die betroffenen Gemeinden führen.
Dritter Punkt. Die Sicherheit ist bereits jetzt und wird in Zukunft oberstes Gebot eines Betriebes sein, dessen Eigentümer die Bundesrepublik Deutschland oder in dessen Auftrag die Deutsche Bundesbahn oder die Deutsche Reichsbahn ist. Davon können Sie ausgehen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417700
Keine Frage im Zusammenhang mit der Frage 42, oder doch?

Antje-Marie Steen (SPD):
Rede ID: ID1213417800
Weil Sie eben so gütig waren, das alles zuzulassen, Herr Präsident, will ich das nicht ausweiten. Aber ich würde doch noch gerne beantwortet haben, ob dieser Vertrag mit der Puttgardener Fährschiffsversorgungs-GmbH, die die Versorgung auf den Schiffen sicherstellt, auch durch diesen Vertrag berührt ist und verändert wird.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, inwieweit dieser Vertrag von der neuen Gesellschaft geändert oder ergänzt wird. Ich schließe nicht aus, daß es hier Änderungsbedarf geben wird.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213417900
Danke schön.
Die Fragen 43 und 44 des Abgeordneten Reinhold Hiller, die Fragen 45 und 46 des Abgeordneten Horst Jungmann und die Fragen 47 und 48 der Frau Abgeordneten Lieselott Blunck werden auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme damit zur Frage 49 des Abgeordneten Klaus Harries:
Hat die Bundesregierung bereits Erfahrungen mit der Anwendung des Verkehrswegeplanungs-Beschleunigungsgesetzes in den neuen Ländern?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort,
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, das Verkehrswegeplanungs-Beschleunigungsgesetz — in Kraft seit September 1991— hat sich in zahlreichen Verfahren für den Ausbau von Eisenbahnstrecken und Bundesfernstraßen in den neuen Ländern bewährt. Beschleunigungswirkungen zeigten sich in allen Planungsstufen: im Raumordnungsverfahren, bei der Linienbestimmung, im Planfeststellungsverfahren und auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
Dies hat die Bundesregierung ermutigt, die Arbeiten am Entwurf des Planungsvereinfachungsgesetzes, das Beschleunigungsmaßnahmen für die Verkehrswegeplanung im gesamten Bundesgebiet vorsieht, voranzutreiben. Dieser Gesetzentwurf wird nach dem ersten Durchgang im Bundesrat voraussichtlich im Februar 1993 dem Deutschen Bundestag zugeleitet werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213418000
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Harries.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1213418100
Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung auf Grund ihrer Erfahrungen, von denen Sie gerade berichtet haben, heute schon in der Lage, zu beurteilen, ob das Beschleunigungsverfahren zu einer Belastung und zu einem Zurückdrängen der Öffentlichkeitsbeteiligung geführt hat?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es hat nach den bisher vorliegenden Erfahrungen in keiner Weise zu Belastungen für die Öffentlichkeitsbeteiligung geführt.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213418200
Weitere Zusatzfragen? — Bitte schön.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1213418300
Nun gibt es beim Bau von Verkehrswegen — zumindest ist das die Erfahrung bei uns im Westen — naturgemäß Konflikte zwischen Beteiligten. Ich nenne z. B. Naturschutzverbände und die Träger des Bauvorhabens. Gibt es entsprechende Erfahrungen in den neuen Ländern? Und gibt das Verfahren die Möglichkeit, hier sachgerecht zu einer Konfliktauflösung zu kommen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Negative Berichte, die besondere Beschwerden der Naturschutzverbände zum Inhalt hätten, sind uns von den Länderstraßenbauverwaltungsbehörden nicht übermittelt worden. Wir haben auch keine entsprechenden Briefe und und Beschwerden von seiten der Verbände bekommen.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1213418400
Vielen Dank.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213418500
Herr Abgeordneter Harries, Sie haben zwei Fragen gestellt, wenn die Vorlage richtig ist. Ich rufe dann die Frage 50 auf:
Konnten Planungen konkret für Straßenbaumaßnahmen in den neuen Ländern nach Maßgabe des Gesetzes wesentlich verkürzt werden?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, ich trage Ihnen gerne einige konkrete Beispiele für besonders schnelle Straßenplanungen und



Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröbl
für Eisenbahnplanungen vor. Ich habe jeweils drei Beispiele herausgesucht.
Einmal: Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens für den Ausbau einer Bundesstraße — das ist die B 93 Zwickau-Meerane — in nur sechs Monaten.
Zweitens: Erteilung von Plangenehmigungen für Brückenbauwerke in nur rund drei Monaten; und hier konkret die Grenzbrücke über die Neiße bei Görlitz im Zuge der A 4 und der Neubau der Elbe-Brücke Dömitz im Zuge der B 191; ein Beispiel, das Sie besonders gut kennen.
Drittens: Durchführung eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Bundesverwaltungsgericht in rund zwei Wochen. Hier ging es um die Sachsendammbrücke im Zuge der Berliner Stadtautobahn.
Ähnliche Erfahrungen liegen auch für den Bereich der Eisenbahn vor, so z. B.:
Planfeststellungsverfahren für die Ausbaustrecke Bebra-Erfurt von Kilometer 196 bis 201 im Bereich der Kreise Hersfeld und Eisenach; Dauer des Verfahrens rund zehn Monate.
Planfeststellungsverfahren für die Ausbaustrecke Hannover-Berlin im Bereich Elbebrücke Hämerten; Dauer des Verfahrens neun Monate.
Planfeststellungsverfahren für die Schnellbahnstrecke Hannover-Berlin im Planungsabschnitt Oebisfelde-Staaken; Dauer des Verfahrens rund zehn Monate.
Herr Kollege Harries, zur weiteren Vertiefung dieser Fragen darf ich Sie auf den Bericht meines Hauses über die Erfahrungen aus der Anwendung des Verkehrswegeplanungs-Beschleunigungsgesetz es hinweisen, ein Bericht, den wir am 14. Dezember vorgelegt haben. Ich habe ihn mitgebracht und darf ihn Ihnen dann überreichen.

Klaus Harries (CDU):
Rede ID: ID1213418600
Ich bedanke mich. Weiterhin guten Erfolg!

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213418700
Herr Staatssekretär, nachdem Sie, wenn ich das richtig sehe, wohl zum letztenmal in dieser Funktion sich und dem Haus das Vergnügen gemacht haben, die Fragen zu beantworten, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen dafür ganz besonders herzlich zu danken.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Auch ich bedanke mich.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213418800
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 51 der Abgeordneten Frau Klemmer auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus Vorfällen im Atomkraftwerk Philippsburg, in dem sich in den Weihnachtstagen ein Störfall ereignet hat, der durch regelwidriges plötzliches Auffahren verschiedener Armaturen verursacht wurde, der offensichtlich auch nicht von der Bedienungsmannschaft verhindert wurde, obwohl erst im Mai letzten Jahres im
AKW Brunsbüttel Erfahrungen mit einem ähnlichen Störfall gemacht werden mußten, der möglicherweise in beiden AKWs eine gravierende Beeinträchtigung der Sicherheit des betroffenen Siedewasserreaktors darstellt, dennoch von den Betreibern des AKW Philippsburg als unbedeutend („N" = normal) eingestuft und über den erst am 13. Januar d. J. Einzelheiten bekannt gemacht wurden, und trifft es zu, daß mit einer baldigen Genehmigung zum Wiederanfahren zu rechnen ist, obwohl diese Behandlung des Störfalls der Einschätzung durch die Kieler Atombehörde widerspricht?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Bertram Wieczorek (CDU):
Rede ID: ID1213418900
Herr Präsident! Frau Kollegin Klemmer, die Anlage Philippsburg I wurde am 14. Januar 1993 nach Untersuchung des Ereignisses unter Aufsicht des baden-württembergischen Umweltministeriums nach Reparaturen der Ventile und Durchführung von organisatorischen Maßnahmen, die vor allen Dingen Änderung der Betriebsvorschriften beinhalten, zur Vermeidung einer Wiederholung des Ereignisses wieder in Betrieb genommen. Dabei wurden auch die Erkenntnisse aus dem Ereignis im Kraftwerk Brunsbüttel berücksichtigt.
Der Bundesumweltminister hat eine vertiefte Untersuchung der Ereignisse Brunsbüttel und Philippsburg I wegen der anlageübergreifenden Bedeutung im Rahmen der RSK-Beratung veranlaßt und die Erstellung einer Weiterleitungsnachricht für andere Anlagen bei der Gesellschaft für Reaktorsicherheit in Auftrag gegeben. Das Ereignis wurde vom Betreiber in die Meldekatagorie „N" — Normal-Meldung — eingestuft. Dies wird zur Zeit von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit überprüft.
Es ist nicht auszuschließen, daß nach vertiefter Prüfung eine Höherstufung erfolgt. Höherstufungen sind auch in der Vergangenheit schon vorgenommen worden. Vereinbarungsgemäß würde hierüber der Umweltausschuß des Deutschen Bundestages informiert werden.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213419000
Eine Zusatzfrage, bitte sehr Frau Abgeordnete.

Siegrun Klemmer (SPD):
Rede ID: ID1213419100
Schönen Dank. Herr Staatssekretär, einige Nachfragen müssen dann bis zu dem Zeitpunkt abgewartet werden, an dem der von Ihnen angekündigte Bericht vorliegen wird.
Trotzdem möchte ich Sie schon jetzt fragen, ob Sie bestätigen können, daß bei den aus den 70er Jahren stammenden Siedewasserreaktoren Probleme mit den Isolationsventilen sozusagen baureihentypisch sind. Denn das sind bei diesen Reaktoren ja Unfälle, die an gleicher Stelle häufig auftreten.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, es wäre jetzt etwas sehr weit ausschweifend, den eigentlichen Ablauf dieses Zwischenfalls zu schildern. Ich will zunächst einmal nur sagen, daß, unabhängig von dem in Philippsburg I vorliegenden elektronischen Fehler, der jetzt korrigiert wurde, die Ventile von vornherein konstruktiv so ausgelegt wurden, daß bei einer Schnellöffnung durch unterschiedliche Druckverhältnisse an den inneren Einbauten zwar Dehnungen auftreten können, aber die Ventile halten trotzdem vollständig stand, ohne



Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek
daß Aktivität austreten könnte. Das kann man vielleicht mit dem Prinzip eines Stoßdämpfers vergleichen. Das gleiche Ereignis hatten wir in Brunsbüttel. Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß Brunsbüttel nicht etwa wegen der Sicherheitsventile nicht wieder am Netz ist, sondern wegen der Feststellung von Rissen in Rohren bei einer Revision.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213419200
Eine weitere Zusatzfrage wird nicht gestellt? — Bitte, Abgeordneter Kubatschka.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213419300
Herr Staatssekretär, Sie sprechen immer von Ereignissen. Wir haben also zwei Ereignisse gehabt. Ist aber die Ursache des jeweiligen Ereignisses genau analysiert? Oder haben Sie es so verpackt, daß ich es nicht verstanden habe?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kubatschka, ich bin natürlich gem — mit Zustimmung des Herrn Präsidenten — bereit, das Ereignis und die Ursache, soweit wir nach den Informationen und Untersuchungen des baden-württembergischen Umweltministeriums in Kenntnis gesetzt wurden, zu schildern. Ich will es ganz kurz sagen.
Es ist ein Fehler in einer Elektronikkarte aufgetreten. Beim routinemäßigen Wechsel dieser Karte kam es zu einer Schließung von Nebenventilen. Nach sieben Stunden kam es dadurch zu einem Schließen der Frischdampfventile, dieser von Frau Klemmer bezeichneten Sicherheitsventile. Das führte zu einer Schnellabschaltung des Reaktors, d. h. zum Einfahren der Abfallstäbe etc. Die Elektronikkarte wurde gewechselt. Allerdings wurde nicht bemerkt, daß neben dem Fehler der Elektronikkarte im elektronischen System selber ein Verdrahtungsfehler vorlag. Die Unkenntnis dieses Umstandes führte dazu — da die Meldung einer begründeten Abschaltung ja nicht anlag, sondern durch den Fehler der Elektronikkarte entstand —, daß es anschließend wieder zu einer Schnellöffnung dieser Frischdampfventile infolge des sehr großen Druckunterschiedes und zu der von mir beschriebenen Dehnung von Ventileinbauten kam. Dieser Elektronikfehler ist jetzt ausgemerzt worden, und es wurde veranlaßt, daß im Fall einer Abschaltung und des Wiederanfahrens der Anlage die Öffnung dieser Frischdampfventile durch das Personal selber vorgenommen wird bzw. kontrolliert wird. Man will diesen Vorgang nicht mehr allein der Elektronik überlassen.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213419400
Danke schön.
Die Fragen 52 und 53 werden auf Wunsch der Frau Abgeordneten Susanne Kastner schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 54 des Abgeordneten Steffen Kampeter auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß die Zigarettenindustrie sich an der Rücknahme von Verkaufsverpackungen im Rahmen des Dualen Systems Deutschland (DSD) nicht beteiligt und auch kein eigenes Rücknahmesystem aufgebaut, hat vor dem Hintergrund von ordnungsrechtlichen Eingriffsmöglichkeiten (z. B. Bußgeldern), die zur Einhaltung der in der Verpackungsverordnung niedergelegten rechtlichen Vorschriften führen sollen?
Ich räume mit Vergnügen meinen Stuhl zugunsten meines Nachfolgers.

(Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker)

Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Kampeter, ich antworte zunächst auf die Frage 54.
Gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 der Verpackungsverordnung vom 12. Juni 1991 haben Vertreiber von Verkaufsverpackungen seit dem 1. Januar 1993 gebrauchte Verkaufsverpackungen vom Endverbraucher kostenlos zurückzunehmen. Gemäß § 6 Abs. 2 der Verpackungsverordnung haben ebenfalls die Hersteller entsprechende Rücknahmepflichten hinsichtlich der von den Vertreibern zurückgenommenen und von ihnen gelieferten Verkaufsverpackungen. Diese Verpflichtungen können die Hersteller und Vertreiber gem. § 6 Abs. 3 der Verpackungsverordnung durch Beteiligung an einem freiwilligen flächendeckenden Entsorgungssystem ersetzen.
Es ist daher in die Entscheidungsfreiheit eines Herstellers und Vertreibers gestellt, ob er Verkaufsverpackungen unmittelbar zurücknehmen und einer stofflichen Verwertung zuführen will oder ob er diese Pflichten durch Beteiligung an einem dualen System ersetzen will.
Sofern sich Hersteller und Vertreiber nicht an dem Entsorgungssystem der DSD GmbH beteiligen, bestehen die originären Rücknahme- und Verwertungspflichten. Beim Vertrieb von Zigaretten sind rücknahmepflichtige Verkaufsstellen im Sinne des § 6 Abs. 1 der Verpackungsverordnung auch die Automatenvertriebsstellen. Wenn diese Verpflichtungen nicht erfüllt werden, liegt der objektive Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit vor, die durch die zuständigen Behörden der Länder zu verfolgen ist.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1213419500
Herr Staatssekretär, Ihrer Antwort entnehme ich ein offensichtlich regelwidriges Verhalten der Zigarettenbranche. Sind Sie mit mir der Auffassung, daß das natürlich auch dazu führen könnte, daß andere Industriebranchen sich überlegen, sich weder im Dualen System noch an anderen, selbstorganisierten Rücknahmesystemen — beispielsweise exklusiv für Zigarettenschachteln — zu beteiligen, so daß es dadurch ein ganz wesentliches klassisches Trittbrettfahrerproblem gibt?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kampeter, diese Versuchung mag sehr groß sein. Der saarländische Umweltminister Jo Leinen hat auf diesen Umstand ebenfalls hingewiesen. Es liegt jetzt an den Landesbehörden, die Ordnungswidrigkeiten so schnell wie möglich zu ahnden, damit nicht der Trugschluß entsteht, es handele sich hier nur um Kleinigkeiten. Es sind immerhin pro Jahr 7,7 Milliarden Schachteln Zigaretten.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1213419600
Herr Staatssekretär, angesichts dieser offensichtlichen Rechtsunsicherheit bin ich nun von meiner Frau gefragt worden, wie sie zukünftig ihre Zigarettenpackungen ordnungsgemäß entsorgen soll.

(Zuruf von der SPD: Nicht rauchen!)




Steffen Kampeter
Ich als Nichtraucher sähe trotzdem noch einen Sinn darin, diese über das Duale System zu entsorgen. Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, den Verbraucherinnen und Verbrauchern einen Hinweis zu geben?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kampeter, ich bedaure natürlich außerordentlich, daß Ihre Frau raucht, und lade sie als Arzt zu einem Entwöhnungsgespräch ein. Da Sie eine konkrete Antwort erwarten dürfen, sage ich Ihnen: Der Konsument hat natürlich die Möglichkeit, auch wenn der grüne Punkt nicht auf der Verpackung ist, diese über das Duale System einzuwerfen und einer Verwertung zuzuführen bzw. die Schachteln mit der Umhüllung in einer Verkaufsstelle oder an einem Automaten, wenn ein Behältnis dort steht, einzuwerfen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213419700
Wir kommen jetzt zu Frage 55 des Kollegen Kampeter:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Landesregierungen auf diesen Mißstand hinzuweisen und auf den Vollzug der Verpakkungsverordnung zu dringen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kampeter, die Einhaltung der Vorschriften der Verpackungsverordnung obliegt den Vollzugsbehörden der Länder in eigener Zuständigkeit.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1213419800
Herr Staatssekretär, angesichts des von Ihnen hier dargelegten Ländervollzugsdefizits frage ich Sie: Wie beurteilen Sie Äußerungen aus der Zigarettenindustrie, die in Pressemeldungen dieser Woche dargelegt hat, ihre Schachteln seien gar nicht sortierbar, geschweige denn wiederverwertbar? Das hat sie mit der Erklärung verbunden, sie arbeite mit Hochdruck daran, daß die Zigarettenverpackungen recycling- und sortierfreundlicher gestaltet werden.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Ich kann nur schlußfolgern, daß der Verband der Zigarettenindustrie noch nie eine DSD-Sortieranlage besichtigt hat. Dort ist der manuelle Einsatz und der personalintensive Einsatz sehr hoch, so daß solche Verpakkungen, wie ich glaube, dem Blick eines geübten Mitarbeiters nicht entgehen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213419900
Noch eine Zusatzfrage, bitte.

Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1213420000
Herr Staatssekretär, der saarländische Umweltminister hat diese Anfrage an die Bundesregierung offensichtlich zum Anlaß genommen, sein eigenes Vollzugsverhalten kritisch zu hinterfragen, was ich sehr begrüße. Sind der Bundesregierung noch andere Länderumweltminister bekannt, die diesem Vollzugsdefizit nachgehen wollen?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist sehr erfreut, daß zu dem in der Verordnung vereinbarten Termin, zum 1. Januar dieses Jahres, alle Bundesländer den Freistellungsantrag der DSD positiv beschieden haben. Wir hoffen sehr, daß der Vollzug entsprechend konsequent
durchgesetzt wird. Wir haben keine Informationen, daß ein Bundesland dies nicht beabsichtige.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420100
Meine Damen und Herren! Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wir bedanken uns, Herr Staatssekretär.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Jürgen Echternach zur Verfügung.
Die Frage 56 des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zu Frage 57 der Frau Abgeordneten Iris Gleicke:
Wie war das Verfahren bei der Vergabe des Auftrages für die Durchführung einer Informationskampagne „Besser Wohnen" des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau?
Bitte, Herr Staatssekretär.

Jürgen Echternach (CDU):
Rede ID: ID1213420200
Frau Kollegin Gleicke, die Informationskampagne „Besser Wohnen" wurde vom Bundesbauministerium in der Zeit vom 6. August bis zum 30. Oktober 1991 anläßlich der ersten Mietenreform in den neuen Ländern durchgeführt. Die Auswahl der Agentur erfolgte im Rahmen einer beschränkten Ausschreibung. Beteiligt waren 14 Agenturen.
Der Projekthintergrund, die vorgesehenen Maßnahmen, die anzubietenden Leistungen, der Zeitraum der Kampagne waren durch den Ausschreibungstext vorgegeben. Die Angebote der Agenturen wurden danach ausgewertet, ob sie der Ausschreibung entsprachen, die Erreichung des Informationsziels gewährleistet schien und welche zusätzlichen Leistungen für die Schlüssigkeit des Angebots sprachen. Die drei besten Anbieter wurden zu einer Präsentation ins Ministerium eingeladen. Aus dieser Präsentation wurde nach Auswertung der Auftragnehmer ermittelt.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420300
Zusatzfrage der Frau Kollegin Gleicke, bitte.

Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1213420400
Schönen Dank, Herr Kollege Echternach. Mich würde interessieren, ob das Bundesbauministerium Bedenken hatte angesichts der Tatsache, daß es zu Interessenkonflikten kommen mußte, weil von dieser Beratungsfirma Berater eingesetzt wurden, die bereits Anstellungsverträge von Unternehmen der Finanzierungsbranche in der Tasche hatten.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Gleicke, ich nehme an, Sie wollten damit die Frage des Kollegen Reschke, der nicht da ist, einführen. Der Einfachheit halber lese ich Ihnen, weil sich das mit der Frage deckt, die der Kollege Reschke hier stellen wollte, die Antwort vor, die die Bundesregierung dafür vorbereitet hat.



Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach
Ein Interessenkonflikt läßt sich nicht aus der Tatsache herleiten, daß einige Berater bereits vor Beendigung ihrer Ausbildung Anstellungsverträge mit Unternehmen der Finanzdienstleistungsbranche hatten. Der Umstand, daß die Berater im Rahmen ihrer Ausbildung auf Gebieten unterrichtet worden waren, die für die Beratungstätigkeit notwendig waren, nämlich Vertragsrecht, Steuerrecht, Baufinanzierung und Wohnungsbauförderung, und daß die Qualität ihrer Ausbildung offenbar so gut war, daß sie bereits vor Abschluß ihrer Schulung Anstellungszusagen hatten, machte sie für diese Aufgabe besonders geeignet.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420500
Herr Staatssekretär, wir sind uns einig: Frau Kollegin Gleicke konnte natürlich so verfahren, wie sie verfahren ist.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Ja.

(Zuruf von der SPD: Er durfte aber auch so verfahren, wie er verfahren ist! — Heiterkeit)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420600
Auch das. — Frau Kollegin Gleicke, eine weitere Frage.

Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1213420700
Schönen Dank. Mich würde aber interessieren, ob denn diese Berater auch in irgendeiner Form vom Bundesministerium überprüft oder beaufsichtigt wurden.

(Zuruf von der SPD: Oder nur alimentiert!)

Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Die Frage zur Aufsicht ist die nächste, die der Kollege Reschke stellen wollte. Auch insoweit bin ich gerne bereit, die Antwort zu geben, die wir vorbereitet haben.
Die Berater wurden vor Ort jeweils von einem Teamleiter der Firma Mibeg geführt. Dessen Aufgabe umfaßte Personalführung und Aufsicht über die inhaltliche und organisatorische Beratungstätigkeit. Darüber hinaus führte auch die Firma Severin & Partner die Aufsicht vor Ort.
Was den weiteren Aspekt angeht, den Sie noch mit angesprochen haben, so hat auch das Bundesbauministerium, bevor die Berater vor Ort tätig wurden, mit ihnen ein besonderes Seminar durchgeführt zu den Schwerpunkten, um die es bei der Beratungstätigkeit ging. Es hat auch vorher den Wissensstand der Berater geprüft.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420800
Wir kommen nun zur Frage 58 der Frau Kollegin Gleicke:
Welche Anforderungen wurden von seiten des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau an die von privaten Firmen vermittelten Berater gestellt?
Herr Staatssekretär, bitte.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Gleicke, in der Ausschreibung wurde darauf hingewiesen, daß es Aufgabe sei, die Angemessenheit und Notwendigkeit der zum 1. Oktober 1991 vorgesehenen Mietenreform zu vermitteln, die Regelungen des Sonderwohngeldgesetzes darzustellen und über die rechtlichen und finanziellen Regelungen der Wohnungsbauförderung zu informieren. Verlangt wurde geschultes Personal, das in der Lage sein
mußte, die Bürger dementsprechend persönlich zu informieren und zu beraten.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213420900
Frau Kollegin Gleicke, bitte.

Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1213421000
Schönen Dank. Herr Kollege Echternach, war denn das Sammeln von Adressen, das ja unbestritten stattgefunden hat, Bestandteil dieses Beratervertrages?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Gleicke, jetzt leiten Sie über zu der Frage Nr. 63, die Frau Kollegin Iwersen stellen wollte. Auch dazu darf ich sagen: Soweit Adressen notiert werden, um den Bürgern zusätzliche schriftliche Ausführungen seitens des Bundesbauministeriums zukommen zu lassen, war dies bekannt und Gegenstand des Auftrages. Über den Auftragsumfang hinaus allerdings wurde den Ratsuchenden die kostenlose Teilnahme an einem Baufinanzierungsseminar angeboten. Davon hat das Bundesbauministerium erstmals am 12. Januar dieses Jahres erfahren.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213421100
Noch eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Gleicke, bitte.

Iris Gleicke (SPD):
Rede ID: ID1213421200
Hat das Bundesbauministerium von der Tatsache, daß von der Firma Mibeg in den Informationsbussen der Bundesregierung im Rahmen dieser Aktion eingesetzte Berater Adressen von Ratsuchenden gesammelt haben, erst durch die Veröffentlichung im Magazin „Stern" erfahren, oder waren das Vorgänge, die dem Ministerium von vornherein bekannt waren?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich sagte eben schon, in einem bestimmten Umfang gehörte das Sammeln von Adressen dann zum Auftrag, wenn besondere, zusätzliche Fragen an das Bundesbauministerium gerichtet wurden und vom Bundesbauministerium darauf noch eine vertiefte zusätzliche Antwort gegeben werden sollte. Daß Adressen auch gesammelt wurden für Seminare, die die Mibeg mit ihren Unternehmen durchgeführt hat, ist uns in der Tat erst in diesem Monat bekanntgeworden.

(Iris Gleicke [SPD]: Ich bedanke mich recht herzlich!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213421300
Meine Damen und Herren, die Fragen 59 und 60 des Abgeordneten Reschke sollen schriftlich beantwortet werden. Sie sind hier ja schon mündlich beantwortet worden. Aber es wird wahrscheinlich einen Weg geben, Ihnen das auch noch schriftlich zuzustellen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dasselbe gilt für die Fragen 61 und 62. Auch dazu ist schriftliche Beantwortung erbeten worden. Es handelt sich um die Fragen der Frau Abgeordneten Dr. Christine Lucyga. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen nunmehr zur Frage 63 der Frau Abgeordneten Gabriele Iwersen:



Vizepräsident Helmuth Becker
Wurden aus der Adressensammlung Einladungen zu Seminaren über Fragen der Wohneigentumsbildung verschickt, und wann wurde das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau über diese Seminare informiert?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Iwersen, was die Frage 63 angeht, so ist mir eben schon eine vergleichbare Zusatzfrage gestellt worden. Ich darf das aber noch einmal im Zusammenhang beantworten.
Soweit Adressen notiert wurden, um den Bürgern zusätzliche schriftliche Ausführungen seitens des Bundesbauministeriums zukommen zu lassen, war dies bekannt und Gegenstand des Auftrages. Über den Auftragsumfang hinaus wurde den Ratsuchenden die kostenlose Teilnahme an einem Baufinanzierungsseminar angeboten. Davon hat das Bauministerium erstmals am 12. Januar dieses Jahres erfahren. Soweit von den Ratsuchenden Name und Anschrift notiert wurden, geschah dies nach Auskunft der Firma Mibeg auf deren ausdrücklichen Wunsch nach zusätzlicher Information und Beratung mit dem Ziel, eine Einladung zu einem Seminar über die Schaffung und den Erwerb von Eigentum zu erhalten, so jedenfalls die Firma Mibeg.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213421400
Zusatzfrage Frau Kollegin Iwersen, bitte.

Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1213421500
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir überein, daß die Info-Mobile Außenstellen des Bundesbauministeriums sind, und entspricht es der normalen Praxis in diesem Ministerium, daß vor Ort Besuchern, Ratsuchenden eine private Firma vermittelt wird, die sich weiter um ihre Belange kümmert?
Jürgen Echternach, Pari. Staatssekretär: Frau Kollegin Iwersen, es wäre sicherlich korrekt gewesen, wenn die Firma Mibeg uns davon Mitteilung gemacht hätte, daß sie einzelne Ratsuchende zu einem Seminar einlädt. Es handelt sich dabei allerdings, wie die Firma Mibeg sagt, um ein für die Teilnehmer kostenloses Seminar, dessen Kosten zu 100 % von der Bundesanstalt für Arbeit getragen wurden und das durchgeführt wurde durch die Tochterfirma der Mibeg, die Gemeinnützige „ Contakt" -Gesellschaft.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213421600
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Iwersen, bitte.

Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1213421700
Sind denn diese Seminare auch der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, oder war das ein Exklusivangebot an diejenigen, die ihre Adressen im Info-Mobil hinterlassen haben?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Soweit ich informiert wurde, sind diese Seminare zum allergrößten Teil in den Rathäusern der Städte durchgeführt worden, in denen zuvor auch die Informationsveranstaltungen des Bundesbauministeriums stattgefunden haben. Es sollen dazu dann auch örtlich von den Kommunen Informationshinweise gegeben worden sein, so daß die Teilnehmerzahl gelegentlich sogar größer war als die Zahl der Eingeladenen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213421800
Eine weitere Zusatzfrage. Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Ulrich Janzen (SPD):
Rede ID: ID1213421900
Herr Staatssekretär, hat in Ihrem Ministerium eine Auswertung dieses Vorganges stattgefunden, so daß sich bei wiederholten Einsätzen von Bussen des Bauministeriums solche Vorgänge nicht wiederholen können?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Janzen, wir sind dabei. Ich habe eben schon einiges an Feststellungen mitteilen können. Bei anderen Fragen habe ich mich auf die Auskunft der Firma berufen. Aber wir sind dabei, den Sachverhalt weiter aufzuklären, und haben uns auch an das hier schon zitierte Magazin gewandt mit der Bitte, uns die dort offenbar vorhandenen Unterlagen zur Verfügung zu stellen, um zu prüfen, inwieweit hier Vertragsverstöße oder möglicherweise auch Gesetzesverstöße vorliegen.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422000
Nach dieser Frage des Kollegen Janzen kommen wir zur letzten Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Das ist die Frage 64 der Frau Abgeordneten Gabriele Iwersen:
Kann die Bundesregierung definitiv ausschließen, daß in dieser Sache gegen den Datenschutz verstoßen wurde?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Iwersen, dem Bundesbauministerium ist keine Beschwerde bekanntgeworden, wonach bei der Beratungstätigkeit gegen Bestimmungen des Datenschutzgesetzes verstoßen worden sein soll.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422100
Frau Kollegin Iwersen, bitte.

Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1213422200
Entspricht es der Praxis, daß der Datenschutz außer Kraft gesetzt wird, indem ein Ratsuchender mit dem Kopf nickt und sagt: Meine Adresse wird auf dem Markt frei verfügbar, wenn ich das so akzeptiere?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Iwersen, die entscheidende Frage ist ja: Waren die jeweils betroffenen Ratsuchenden einverstanden, zu einem solchen Seminar eingeladen zu werden? Die Firma Mibeg behauptet, daß das nur in ausdrücklichem Einverständnis mit den Betroffenen geschehen ist, insofern also nur deren Adressen gespeichert wurden. Wenn es so ist, wie die Firma Mibeg behauptet, wäre dies kein Verstoß gegen das Datenschutzgesetz. Allerdings kennen auch Sie den schon zitierten Artikel des „Stern", in dem ein anderer Sachverhalt behauptet wird. Wir sind dabei, zu ermitteln, welche der beiden Darstellungen zutrifft.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422300
Eine letzte Zusatzfrage der Frau Kollegin Iwersen, bitte.

Gabriele Iwersen (SPD):
Rede ID: ID1213422400
Schönen Dank. Durch den letzten Satz ist das Ganze fast geklärt. Ich denke, Sie werden der Sache nachgehen, ob anschließend auf Grundlage dieser Adressensammlung gegen Honorar weitergearbeitet und beraten worden ist. Schönen Dank.



Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Iwersen, wir haben versucht, dies zu klären. Aber auch dazu darf ich darauf verweisen, daß uns die Firma Mibeg ausdrücklich erklärt hat:
Nach allen Recherchen, die ich durchgeführt habe,
— so sagt der Firmeninhaber —
kann ich Ihnen bestätigen, daß keine Geschäfte mit Personen gemacht wurden, die anfänglich bei den Info-Bussen Rat suchten.
Aber ich darf auch darauf verweisen, daß es eine andere Behauptung des „Stern" gibt, die im Raum steht. Auch hier versuchen wir, den Sachverhalt weiter aufzuklären.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422500
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Hitschler.

Dr. Walter Hitschler (FDP):
Rede ID: ID1213422600
Herr Staatssekretär, ist es denkbar, daß die Firma Mibeg in den Besitz der Adressen gekommen ist, ohne daß die Befragten sie bekanntgegeben hätten?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Die Firma Mibeg bestreitet dies. Die Firma Mibeg behauptet vielmehr, sie habe nur die Adressen derjenigen Ratsuchenden gesammelt, die ausdrücklich gebeten hatten, zu einem solchen vertiefenden Seminar, in dem über die Fragen eines möglichen Bauens im Detail informiert wurde, eingeladen zu werden.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422700
Herr Kollege Dr. Hitschler, ich kann keine zweite Zusatzfrage zulassen.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, soweit es die hier zu beantwortenden Fragen anlangte. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Alle vier gestellten Fragen, nämlich die Fragen 65 und 66 des Kollegen Dieter Schanz und die Fragen 67 und 68 des Kollegen Lothar Fischer, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe dann noch den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Auch hier darf ich sagen: Alle gestellten Fragen sollen schriftlich beantwortet werden. Es handelt sich um Frage 69 des Abgeordneten Ortwin Lowack, um die Fragen 70 und 71 des Kollegen Hans Wallow, 72 und 73 des Kollegen Gernot Erler und um die Frage 74 des Kollegen Jürgen Augustinowitz. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Arbeitsmarktsituation und zum Abbau von Arbeitsplätzen
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst unserem Kollegen Wolfgang Roth.

Wolfgang Roth (SPD):
Rede ID: ID1213422800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich persönlich glaube, daß wir, was den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung anbetrifft, vor der größten Herausforderung seit der Währungsreform 1948 stehen.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sie haben zehn Jahre falsche Prognosen gegeben!)

Wir haben zwei ungelöste Probleme: erstens die Anpassungskrise im Osten,

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Und zweitens die SPD!)

die nicht einmal im Ansatz bewältigt ist.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Richtig!)

Ich werfe Ihnen das nicht vor,

(Julius Louven [CDU/CSU]: Das hätte auch noch gefehlt!)

weil ich der Auffassung bin, daß diese Situation jede Regierung — auch unsere Regierung — vor äußerste Herausforderungen gestellt hätte.
Zweitens. In der Phase der Anpassung Ostdeutschlands an die neue Wirtschaftsordnung bekommen wir gleichzeitig eine Rezession, die ich persönlich stärker einschätze als die Rezessionen 1966, 1967, 1974/75 und 1981/82.
Wer die Auftragseingänge des letzten halben Jahres beobachtet und wer den Rückgang der Produktion im Westen in den letzten Monaten beobachtet, der kann feststellen, daß wir einen Abbruch der Konjunktur haben, wie wir ihn niemals zuvor in so kurzer Zeit hatten.
Meine Damen und Herren, wir haben also eine explosive Mischung von zwei Problemen:
Erstens. Es fehlt

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ein Wirtschaftsminister!)

wegen der Konjunkturkrise im Westen, die begonnen hat, Geld für den Aufbau im Osten.
Zweitens. Wegen der dramatischen Probleme im Osten fehlen Ressourcen und Finanzspielräume, Budgetspielräume für eine Bekämpfung der Konjunktur im Westen. Diese Konstellation ist hochgefährlich.

(Dr. Uwe Jens [SPD]: Weil Sie keine Vorsorge getroffen haben! — Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Wie wollen Sie denn die Konjunktur bekämpfen?)

— Diese Art von Zwischenrufen ist genau die, die Sie allmählich ins Chaos führt.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sie haben doch gesagt, Sie wollen die Konjunktur bekämpfen!)

— Die Konjunkturabschwächung natürlich.



Wolfgang Roth
Sie schauen sich die wirkliche Entwicklung nicht an, beobachten das alles nicht ganz genau und kommen mit allen Entscheidungen zu spät.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ahnungslos!)

Was haben wir in diesem Parlament im Jahr 1990 gehört, als ich gesagt habe: Das wird mit der Währungsunion außerordentlich schwierig; wir werden eine tiefe Anpassungskrise bekommen? Da haben Sie dazwischen gerufen: „Kassandra" und „In kurzer Zeit wird es blühende Landschaften geben". Sie haben sich völlig geirrt, und jetzt nehmen Sie die kritische Situation durch ihre dümmlichen Abwehrmechanismen und durch Ihre Hoffnungsreaktionen statt Realismus überhaupt nicht wahr.

(Beifall bei der SPD)

Was Sie die letzten zwei Tage unter der seltsamen Überschrift „Föderales Konsolidierungsprogramm" diskutieren, hat eine ganz gefährliche Eigenschaft: Mitten in der Rezession West diskutieren Sie große Steuererhöhungen,

(Julius Louven [CDU/CSU]: Sie wollen die doch sofort!)

und gleichzeitig Reduzierungen im arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium bei Investitionen und Sparmaßnahmen, die ihrerseits zu Arbeitslosigkeit führen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Sie schreien doch nur nach Steuererhöhungen, Herr Kollege!)

Herr Eekhoff, mit denen unterhalte ich mich allmählich gar nicht mehr, weil sie nicht in der Lage sind, ökonomische Probleme zu analysieren. Herr Eekhoff, unabhängig davon, in welchem ökonomischen Lager man in der Wissenschaft steht, ist es jedenfalls eine gemeinsame Auffassung, daß in der Rezession Steuererhöhungen Gift sind, sie die Rezession verschärfen, die Probleme noch vertiefen und die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechtern.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Sagen Sie das Herrn Stolpe und Herrn Thierse!)

Warum können Sie in dieser Situation nicht wenigstens diesen Grundtatbestand der Ökonomie — unabhängig davon, von welchem Lager er geäußert wird — akzeptieren? Warum treffen Sie diese Entscheidung? Ich bin fassungslos über diese Hilflosigkeit auch des Bundeswirtschaftsministeriums, in einer derartigen Situation zeitliche und strukturelle Komponenten auseinanderzuhalten.
Kein Irrtum soll aufkommen: Wir brauchen Konsolidierung, wir brauchen mittelfristig Einsparungen des Staates. Ich bin der festen Überzeugung, wir brauchen mittelfristig auch Steuererhöhungen. Nur, eine Rezession hat ihre eigenen Gesetze. Wer in einer Rezession mit Steuererhöhungen und falschen Einsparungen im arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium hineingeht, der verschärft die Krise, der verschärft die Probleme und der macht die Probleme unlösbar.

(Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ CSU]: Was ist denn „mittelfristig"?)

Das heißt, wir kommen auch in den Jahren 1994 und 1995 nicht aus den Problemen heraus.
Meine Damen und Herren, diskutieren Sie dieses Problem in der Regierungskoalition. Sie werden, wenn Sie dies jetzt wegdrängen, vor ähnliche Probleme wie in den letzten zwei Jahren beim Aufbau Ost gestellt: Sie irren sich jetzt, Sie treffen die falschen Entscheidungen, und Sie werden nächstes und übernächstes Jahr bitter dafür bestraft werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213422900
Nächster Redner ist unser Kollege Jochen Feilcke.

Jochen Feilcke (CDU):
Rede ID: ID1213423000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war sehr eindrucksvoll, Herr Roth, wie Sie geredet haben. Aber ich habe nicht gehört, was Sie eigentlich sagen wollten.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wir sind jetzt bei Ihnen gespannt!)

Es ist eigentlich kein Rezept gekommen. Sie haben geklagt, Sie haben an die Wand gemalt, und Sie haben sich als Kassandra betätigt; das hören Sie ja sehr gerne.
Heute morgen haben Ministerpräsident Stolpe und unser Kollege Thierse als Alternative zum vorgelegten Föderalen Konsolidierungsprogramm gesagt: Wir fordern statt dessen Steuererhöhungen.

(Wolfgang Roth [SPD]: Nicht für 1994!)

Sie sind eben der Meinung: Arbeitsplätze kann man nur mit öffentlichen Mitteln schaffen.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Das ist ein Sozialismus, der eigentlich aus unseren Köpfen verschwinden muß.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sofort!)

Die Instrumente der Bundesanstalt für Arbeit können den Umstrukturierungsprozeß in der ostdeutschen Wirtschaft doch nur flankieren, und der zweite Arbeitsmarkt darf doch nicht den ersten Arbeitsmarkt ersetzen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt wirklich keine Schwarzmaler, und wir brauchen keine Rotseher, wenn auch der schönste Erfolg der Schwarzmaler, Herr Roth, immer der Mißerfolg zu sein scheint. Insofern ist jetzt doch Ihre große Zeit, und Sie leben im Grunde genommen davon, daß Sie in den Wunden anderer bohren.

(Zurufe von der SPD)

Machen Sie doch bitte einmal konkrete Vorschläge!
Ich finde es z. B. großartig, daß das Engagement der Wirtschaft — nur so können doch Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden — sehr viel größer ist, als es gemeinhin dargestellt wird, daß in den östlichen Bundesländern im Jahre 1991 25 Milliarden DM investiert worden sind und daß nach den bisherigen Annahmen die entsprechende Zahl im Jahre 1992 bei 45 Milliarden DM liegt. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Es dauert nur immer eine gewisse Zeit, bis sich

Jochen Feilcke
daraus auch die Folgen für die Arbeitsplätze, für den Arbeitsmarkt einstellen. Da sind wir uns auch alle einig. Man kann ja über Sachverhalte schwer streiten.
Meine Damen und Herren, die Integration der östlichen Bundesländer in die gesamtdeutsche Wirtschaft vollzieht sich in einem rasanten Tempo. Ich will nur ein Beispiel dafür nennen, weil ich glaube, daß hier ein richtiger Weg beschritten wird. Der WestOst-Handel, der zu DDR-Zeiten 8 Milliarden DM pro Jahr betrug, machte im vergangenen Halbjahr bereits 27 Milliarden DM aus. Es lassen sich in diesem Zusammenhang weitere Bereiche nennen.
Wir müssen natürlich vorhandene Bremsen lösen, und wir müssen Hindernisse, wo sie noch da sind, ganz schnell aus dem Weg räumen. Insofern ist es richtig, daß die Bundesregierung im Dezember vergangenen Jahres, also vor einem Monat, ein Investitionserleichterungs- und Wohnungsbaulandgesetz vorgelegt hat, damit Investitionen erleichtert werden können. Es darf eben einfach nicht so sein wie bei der deutschen Renault, die in Frankfurt an der Oder investieren möchte und die seit zwei Jahren auf die entsprechenden Genehmigungen wartet.

(Dr. Uwe Jens [SPD]: Das hat etwas mit Ihrem Eigentumsgesetz zu tun!)

-- Es mag sein, daß das mit falschen Gesetzen zu tun hat. Dann lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, welche Gesetze den investitionen nach wie vor im Wege stehen — ich glaube, das ist der richtige Weg —,

(Zurufe von der SPD)

und rufen Sie nicht nach neuen staatlichen Regelungen!

(Zuruf von der CDU/CSU: Das Bereinigungsgesetz haben Sie abgelehnt!)

So schaffen wir die Arbeitsplätze nämlich auf jeden Fall nicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt eine Sache als Investitionshemmnis, als eine Problematik bezeichnen dürfen; mir als einem Abgeordneten steht das, glaube ich, zu. Wir haben 1991 im Metallbereich einen Tarifvertrag konstatiert, der für den 1. April 1993 eine Erhöhung der Tarife um 26 % vorsieht. Wenn Sie sich einmal vorstellen, daß in den Treuhandbetrieben allein 196 000 Metallarbeitnehmer sind, und davon ausgehen, daß im Jahresdurchschnitt 1993 etwa 160 000 Metallarbeitnehmer in diesen Treuhandbetrieben beschäftigt sind, die etwa 40 % der dort Beschäftigten ausmachen, dann werden Sie feststellen, daß diese Erhöhung, gemessen an einer maßvollen Erhöhung, die den Kaufkraftverlust ausgleicht, einen Betrag von einer halben Milliarde DM ausmacht. Ich meine, man sollte die Tarifvertragspartner auffordern bzw. bitten, diesen Tarifvertrag noch einmal zu überdenken, weil ich fürchte, daß auf diese Weise Arbeitsplätze in Gefahr geraten könnten.
Meine Damen und Herren, wir brauchen ein großes Maß an Ideen, wir brauchen viele aufeinander abgestimmte Maßnahmen. Es gibt sehr viele gute Beispiele; aber auf eines, glaube ich, dürfen wir nicht verzichten: Es gibt keine Patentrezepte, aber der
Aufschwung des Mittelstandes, die Förderung von größeren und mittleren Investitionen und die Erhaltung und Sicherung der industriellen Kerne müssen unser Programm sein. Dann geht es auch mit den Arbeitsplätzen wieder bergauf.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213423100
Nächster Redner ist unser Kollege Jürgen Türk.

Jürgen Türk (FDP):
Rede ID: ID1213423200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so: Die westdeutsche Wirtschaft befindet sich in einer Phase der konjunkturellen Abschwächung, und in den neuen Bundesländern konnten die Erwartungen des Aufschwungs nicht in vollem Umfang erfüllt werden.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

— Nicht in vollem Umfang erfüllt werden! — Das trifft auch auf die Schaffung von effizienten Arbeitsplätzen zu.
Obwohl die Wirtschaft der westlichen Industrieländer insgesamt zur Zeit in einer äußerst schwierigen Lage ist, darf das nicht zu Panik oder zu abwartender Haltung verleiten. Es wäre falsch, bei den Anstrengungen für den Aufbau der neuen Bundesländer nachzulassen. Gerade jetzt muß geklotzt und darf nicht gekleckert werden;

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer will denn nachlassen?)

denn jeder nicht geschaffene Arbeitsplatz verursacht Ausgaben und bringt keine Einnahmen. Natürlich müssen wir alle hierzu beitragen.
Der vieldiskutierte Solidarpakt ist lange überfällig. Wie bereits am vergangenen Mittwoch im Rahmen der Wirtschaftsausschußsitzung in Erfurt schlage ich vor, einen interfraktionellen Antrag „Gemeinschaftsinitiative Neue Länder" zu erarbeiten. Damit wird der Wirtschaftsausschuß einen konkreten Beitrag zum erforderlichen Pakt der Vernunft leisten.
Lassen Sie mich nun zum Kern kommen, zum industriellen Kern: Schwerpunkt dieser Gemeinschaftsinitiative sollten diese industriellen Kerne in Ostdeutschland sein. Hier müssen wir zunächst gemeinsam definieren, was darunter zu verstehen ist. Vielleicht sind hierbei folgende Kriterien hilfreich: daß überregionaler Absatz gesichert sein muß, keine Dauersubventionen notwendig werden, keine natürlichen Standortnachteile vorhanden sind usw. Diese Kriterien erfüllen ganz sicher auch noch vorhandene Kerne; denn nicht alles waren und sind „taube Nüsse". — Übrigens vermisse ich Aussagen darüber im Konsolidierungsprogramm.
Das heißt, hier muß differenziert herangegangen werden, und zwar in der Region. Die effizienteste Lösung kann nur vor Ort, nur in Zusammenarbeit zwischen regionalen Vertretern, Unternehmen und der in der Region niedergelassenen Treuhand gefunden werden.

(Beifall des Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU])




Jürgen Türk
Wenn das so angegangen wird, dann kann festgestellt werden, daß die notwendigen industriellen Kerne als Kristallisationspunkte für mittelständische Wirtschaft und Handwerk bestehen können: erstens aus zu sanierenden vorhandenen Industrieanlagen, zweitens aus umzunutzenden Liegenschaften und Immobilien sowie drittens aus neu zu errichtenden Kernen, und zwar z. B. auf nicht betriebsnotwendigen Flächen und damit auf bundeseigenen Liegenschaften.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das können Sie doch mit der Regierung gar nicht machen!)

Ein nachahmenswertes Beispiel stellt übrigens die VEAG, die Vereinigte Energiewerke AG dar. Hier erfolgt die Umstrukturierung marktwirtschaftlich und sozial. So werden z. B. im Bereich der Braunkohlekraftwerke Lübbenau, Vetschau und Jänschwalde Ausgründungen in Größenordnungen vorgenommen. Gewerbe- und Industrieansiedlungen auf den riesigen nicht betriebsnotwendigen Flächen sind zu günstigen Konditionen möglich. Das wird also praktiziert.
Wir haben vorige Woche im Rahmen eines Gesprächs vereinbart, daß künftig die Region und potentielle Investoren noch systematischer in diese Umstrukturierung einbezogen werden. Ich sage es immer wieder: Hier müssen die regionalen Entwicklungs- bzw. Wirtschaftsförderungsgesellschaften von Land, Bund und Kommunen aktiv unterstützt werden.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sehr richtig!)

Unterstützt werden muß auch die integrierte Standortentwicklung durch die Aufstockung der Mittel der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" — es ist nur zu hoffen, daß der Barmittelansatz den bereits angemeldeten Bedarf abdecken kann — und durch eine beidseitige EG- Zonenrandförderung, da die zweifellos notwendige EG-Erweiterung nach Osteuropa hin strukturstarke Grenzregionen braucht.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Nachgedacht werden muß sicherlich auch darüber, ob die Bundesfördermittel nur bei Komplementärmittelbereitstellung der Kommunen ausgereicht werden sollten. So haben wir z. B. in Erfurt erfahren, daß angefangene Objekte gestoppt werden müssen, weil eben die Komplementärmittel fehlen.
Eine Alternative ist die kommunale Investitionspauschale.

(Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

Ich bin dankbar, daß sie wieder vorgesehen ist, bezweifle aber, daß die vorgesehenen 1,5 Milliarden DM ausreichend sind.
Geprüft werden sollte auch die Anwendbarkeit des Berlin-Förderungsgesetzes, insbesondere der Wegfall bzw. der anteilige Wegfall der Mehrwertsteuer in Ostdeutschland.
Das heißt, um die konjunkturelle Lage zu verbessern und neue Arbeitsplätze zu schaffen, muß etwas getan werden. Die Gelegenheit dazu bietet eben
dieses Föderale Konsolidierungsprogramm. Die jetzige Vorlage kann noch nicht das letzte Wort sein. Einsparungen und Investitionshilfen sind zu gering.
Wir sollten diese Chance, die wir jetzt gemeinsam haben, nicht verspielen.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Hervorragend! Ein guter Mann! — Weitere Zurufe von der SPD: Gut! — Sehr gut!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213423300
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Petra Bläss das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213423400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, die Tatsache, daß ich draußen mit dem Vornamen „Peter" angekündigt worden bin, ist kein Signal für die Gesamtdebatte,

(Dr. Peter Struck [SPD]: „Peter" ist aber ein guter Vorname! — Weitere Zurufe von der SPD)

d. h. ich hoffe, daß die Frauen nicht außen vor gelassen werden.
Die Arbeitsmarktzahlen dieses Monats haben das bestätigt, was von vielen seit langem befürchtet wird: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt spitzt sich weiter zu, das Heer der Arbeitslosen wächst, und das vielbeschworene Licht am Ende des Tunnels ist noch längst nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die sich abzeichnende Wirtschaftskrise wird weitere Massenentlassungen oder Kurzarbeit zur Folge haben. Die Automobilindustrie hat sie bereits in Größenordnungen angekündigt. Was wir letzte Woche in diesem Saal zur Krise der Stahlindustrie erfahren haben, läßt Schlimmes erwarten.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Zehntausende hochqualifzierte Arbeitsplätze stehen hier zur Disposition.

(Jochen Feilcke können nicht qualifiziert sein!)

Das Plattmachen ganzer Produktionsstandorte scheint nun auch im Westen wieder akut zu sein.
In den neuen Ländern sind inzwischen 3,7 Millionen Menschen ohne ein normal geregeltes Arbeitsverhältnis. Rechnet man Altersübergangsgeld-Bezieherinnen und -bezieher, Vorruheständlerinnen und Vorruheständler hinzu, sind das, zwei Jahre nach der Einheit, gut die Hälfte aller einstmals vorhandenen Arbeitsplätze, die vernichtet sind,

(Jochen Feilcke wem?)

vor allem auf Kosten von Frauen; denn sie stellen mittlerweile fast 70 % aller Arbeitslosen.

(Zuruf von der SPD: Wohl wahr!)

Lange als Randproblem abgetan, ist die Dauer- und Massenarbeitslosigkeit in den alten Bundesländern nun wieder in die Schlagzeilen geraten. Selbst nach offiziellen Angaben sind hier erstmals wieder mehr als zwei Millionen Menschen ohne Arbeit. Für die abhän-



Petra Bläss
gig Beschäftigten bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes weit mehr als materielle Einbußen, die allerdings angesichts der Beschlüsse der Regierungsparteien zum sozialen Kahlschlag schlimm genug sind. Keine Arbeit mehr zu haben befördert soziale Isolierung und das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, ja, überflüssig zu sein.
Doch was macht die Bundesregierung in dieser Situation?

(Zuruf von der SPD: Nichts!)

Sie richtet ihre Bemühungen nicht etwa darauf, endlich Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, wie dies in diesem Hause seit langem gefordert wird;

(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

nein, sie läßt es zu, daß einer der dicksten Brocken des Bundeshaushalts dafür ausgegeben wird, daß immer mehr Menschen die Möglichkeit genommen wird, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Scheiß-Regierung!)

Damit es künftig billiger wird, sind Kürzungen bei Arbeitslosengeld und -hilfe sowie beim Unterhalts- und Kurzarbeitergeld in Aussicht gestellt — ein Vorgehen, das insbesondere bei Betroffeneninitiativen den schärfsten Protest hervorgerufen hat. Unter dem Motto „Wenn Kohl kürzt, gehen bei uns die Lichter aus" haben sie für heute zu einem bundesweiten Aktionstag aufgerufen.
Massenarbeitslosigkeit ist keine konjunkturelle oder andersgeartete Notwendigkeit. Sie widerspricht menschlicher Vernunft. Es gibt viel zu tun — im Lande und auch außerhalb des Landes. Dringende soziale und globale Aufgaben warten auf eine Lösung. Ich denke da in erster Linie an die bestehende Wohnungsnot, ungenügende Absicherung der Pflege und Fragen des Umweltschutzes.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Genauso ist es!)

Wir fordern die Bundesregierung auf, einen entscheidenden Kurswechsel in der Arbeitsmarktpolitik zu vollziehen. Es muß alles dazu getan werden, jedem Menschen, der arbeiten und seine Fähigkeiten produktiv und nützlich einsetzen will, behilflich zu sein, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu finden.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Auch wenn er behindert oder eine Frau ist!)

Die mit der 10. AFG-Novelle beschlossenen massiven Einschränkungen des Umfangs bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ost und West aber sind genau der falsche Weg. Vielmehr muß die Bundesregierung dazu beitragen, diese Tätigkeiten wirtschaftlich effektiv zu gestalten und damit in einem überschaubaren Zeitraum wettbewerbsfähige Dauerarbeitsplätze zu schaffen.
Weil immer gefragt wird, wie denn das möglich ist, sage ich: Neben öffentlichen Aufträgen an ostdeutsche Betriebe ist ein öffentliches Investitionsförderungsprogramm mit regionalen Schwerpunkten für den Wohnungsbau, den Umweltschutz, die Verbesserung der Infrastruktur und sozialer Dienstleistungen erforderlich.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Genau darum geht es!)

Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Tosender Beifall vom ganzen Haus!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213423500
Meine Damen und Herren, ich erteile dem Kollegen Helmut Wieczorek für den gemachten Zwischenruf einen Ordnungsruf.
Nunmehr hat unser Kollege Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213423600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch schlechte Nachrichten bergen den Effekt der Gewöhnung in sich. Dies trifft nicht nur für die konjunkturelle Talfahrt und für den Anstieg der Arbeitslosenzahlen zu. Nicht anders ist es mit der unendlichen Geschichte der Vorwürfe und Enthüllungen um den Parteienfilz.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ach du meine Güte!)

Auch wenn es immer wieder bestritten wird: Beide Themen hängen zwangsläufig zusammen — und das in einer schicksalsschweren Zeit unseres Volkes.
Diese Bundesregierung sieht sich immer erst dann zum Handeln gezwungen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn das Bestehende aus Kostengründen nicht mehr aufrechterhalten werden kann, beginnen Sie nicht etwa umzudenken, sondern beginnen, über Einsparmöglichkeiten zu diskutieren, und das heißt bei Ihnen in aller Regel: Leistungskürzungen bei den Schwächsten der Gesellschaft.

(Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Pfui!)

Gründe für die sich verschlechternde wirtschaftliche Entwicklung zeigen Sie nicht auf. Vor allem suchen Sie die Fehler nicht bei sich selbst, nicht in Ihrer eigenen falschen Wirtschaftspolitik.
Ungünstige Konjunkturperspektiven, wie sie bereits die fünf Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten und auch der Sachverständigenrat prognostiziert haben, bleiben im Handeln der Bundesregierung ohne Konsequenz. Möglicherweise hat Herr Möllemann bei seiner Unterschriftsakrobatik keine Zeit gefunden, die Stellungnahmen zu lesen.
Ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 1,9 % für 1992 — mit abnehmender Tendenz — und eine für 1993 prognostizierte Stagnation sprechen eine deutliche Sprache. Dagegen erscheint der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den neuen Bundesländern um 6,1 % auf den ersten Blick erfreulich. Diese Einschätzung relativiert sich jedoch schnell, wenn man bedenkt, daß die neuen Bundesländer mit nur 7,7 % zum Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik beitragen, obwohl die Bevölkerung einen Anteil von 20 % ausmacht. Zudem bedeutet eine solche Wachstumsrate im Osten angesichts der dünnen wirtschaftlichen Basis keineswegs einen kräftigen realen Zuwachs.



Werner Schulz (Berlin)

Die derzeitige Bundesregierung und ihre Politik tragen zur Ankurbelung der Wirtschaft nichts Wesentliches bei. Die Bundesregierung macht es sich zu einfach, wenn sie Privatisierung, Deregulierung und Senkung der Unternehmerbelastungen als Allheilmittel aneinanderreiht. Leider geht sie mit diesem angebotsorientierten Credo auch an die Strukturkrise in den neuen Bundesländern heran. Die Konsequenz ist der weitgehende Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie. Der Rest wird zum Dauersanierungsproblem.
Ein Herumreißen des wirtschaftlichen Ruders und eine wirksame Bekämpfung der Rezession durch diese Bundesregierung sind nicht in Sicht. Sie ist ein Talfahrtsunternehmen mit Einzelrücktritt.

(Jochen Feilcke bißchen kleiner?)

Die F.D.P. hat andere Probleme. Für sie ergibt sich zusätzlich zum Fehlen eines wirtschaftlichen Konzepts noch die Frage des Parteinachwuchses. Ohne große Attraktivitäten, ohne groß aufgefallen zu sein, es sei denn durch akkurate Kleidung, kann man derzeit in der personell ausgezehrten F.D.P. Minister werden. Eröffnen sich schon wirtschaftlich keine Perspektiven, dann wenigstens bei einem Parteieintritt steile Aufstiegsmöglichkeiten.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wo ist eigentlich das Thema, Herr Schulz?)

Nachdem unser Kollege Möllemann als Wirtschaftsminister abgestürzt ist, kommt als Ersatz Günter Rexrodt, der sich mit seiner Privatisierungspolitik in der Treuhandanstalt einen Namen gemacht hat. Hierauf weist sein ostdeutscher Parteifreund, Kollege Schmieder, zutreffend hin. Die massiven Überreaktionen aus der Treuhandanstalt auf seine Äußerungen zeigen, daß Schmieder eine empfindliche Stelle getroffen hat.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Thema verfehlt! )

— Das glaube ich überhaupt nicht.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das gehört nicht zum Thema, Herr Schulz!)

— Ich denke, daß das sehr viel damit zu tun hat.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das wußten Ihre Kollegen alles schon; deshalb sind sie gar nicht erst gekommen!)

Wenn Sie wirklich eine gestaltende Wirtschaftspolitik machen würden, hätten Sie dort wirklich Fachleute sitzen, dann hätten Sie kompetente Leute auf dieser Regierungsbank sitzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Die sind alle hervorragend!)

Im Grunde genommen vollzieht sich das, was Sie eigentlich schon bei der deutschen Einheit getan haben, nämlich eine völlig konzeptlose Wirtschaftspolitik, und das wird fortgesetzt.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Wirkung ist im Grunde genommen die gleiche,
wie wenn Sie 1948 die Bundesrepublik meinetwegen
mit den USA zu einer Währungsunion zusammengeschlossen hätten mit einem Verhältnis von Dollar zu D-Mark von 1:1. Dann hätte sich der Morgenthauplan verwirklicht, der die völlige Verödung Deutschlands vorgesehen hat.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Ihre Regierung hat, glaube ich, im Grunde genommen das letzte Aufgebot gemacht mit diesem Solidarpakt, der eigentlich ein Kohl-Idiom für „Solidarsarg" ist. Diese Regierung handelt, wie mir scheint, nur noch unter dem Motto: Nach uns die Sintflut!

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213423700
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, unserem Kollegen Dr. Norbert Blüm, das Wort.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der letzte der Mohikaner! — Wolfgang Roth [SPD]: Der Überlebenskünstler!)


Dr. Norbert Blüm (CDU):
Rede ID: ID1213423800
Ich grüße alle meine Kollegen von der Opposition und entschuldige mich. Ich bin etwas verlegen.

(Zurufe von der SPD)

— Es kommt selten vor, aber ich bin deshalb ratlos, weil ich nicht weiß, was die SPD will.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Also, der Kollege Roth hat hier eine flammende Rede gegen Steuererhöhungen gehalten, jeder hat es doch mitgehört, gestern Stolpe, auch SPD, eine flammende Rede für Steuererhöhungen.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber das war eine andere SPD!)

Man kann ja für das eine wie für das andere sein, nur beides gleichzeitig und noch von einer Partei, hoch und runter, das sind nicht Sozialdemokraten, das sind Sozialakrobaten. Sie müssen sich schon entscheiden. Sie können ja über beides reden.

(Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bergund Talbahn! — Wolfgang Roth [SPD]: Es geht doch um den Zeitpunkt! — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ja, das eine war morgens, das andere abends!)

Ich will auf die Logik hinweisen. Sie können nicht einerseits Steuererhöhungen fordern und andererseits Steuererhöhungen für Gift erklären. Sie müssen sich schon für eine Strategie entscheiden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wolfgang Roth [SPD]: Das kann man doch intellektuell schaffen, daß man über den Zeitpunkt diskutiert!)

— Über den Zeitpunkt? Stolpe hat nicht für Einnahmeverbesserungen in ferner Zeit, sondern für Einnahmeverbesserungen jetzt plädiert

(Zuruf von der CDU/CSU: Thierse auch!)




Bundesminister Dr. Norbert Blüm
— Thierse auch —, und Roth, auch SPD, hat gegen Steuererhöhungen gesprochen. Soll ich in dieser Wunde noch ein bißchen herumbohren? Beides kam von der SPD.
Aber lassen Sie mich sagen, daß wir darin übereinstimmen, daß hier niemand zufrieden sein kann, niemand stolz sein kann, jeder unzufrieden sein muß, daß wir alle Sorgen wegen der wirtschaftlichen Entwicklung haben und daß wir alle alles für die Arbeitslosen mobilisieren müssen. Können wir darin übereinstimmen? Dann streiten wir uns nur über den Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Es wäre gegenüber den Arbeitslosen ausgesprochen zynisch, wenn uns ein Arbeitsloser zuhören würde und er den Eindruck hätte, er sei ganz uninteressant und es würde nur der Parteienstreit gelten.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Dann war Ihr Anfang aber auch nicht gut!)

— Der diente nur der intellektuellen Bereinigung, damit wir auf einem klaren Feld debattieren.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das war aber nicht sauber! — Wolfgang Roth [SPD]: Jetzt reden wir einmal über die Finanzen!)

— In der Tat.
Ich wehre mich auch gegen solche groben Holzhämmer. Holzhämmer habe ich nie gern, aber zu dem groben, den ich gerade gehört habe, nämlich daß wir die Arbeitsmarktpolitik kurz und klein geschlagen hätten, muß ich doch sagen — ich habe es schon so oft gesagt, aber die Wahrheit muß man hier offenbar wiederholen —: 1992 wurden 30 Milliarden DM für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern ausgegeben, 1993 beträgt der Ansatz im Bundeshaushalt 34 Milliarden DM. Erst einmal sind 30 Milliarden DM kein Pappenstiel, und 34 Milliarden DM für nichts zu erklären, das halte ich nun einfach für ignorant. Bundeshaushalt und Bundesanstalt für Arbeit sehen für den Arbeitsmarkt 56 Milliarden DM vor. Nur, meine Damen und Herren, wir stimmen hoffentlich auch darin überein, daß die Arbeitsmarktpolitik nur flankierende Lösungen bieten kann,

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: So ist es!)

die Hauptfrage dagegen in der wirtschaftlichen Entwicklung liegt.

(Zustimmung bei der SPD)

Ich will auch einmal sagen, was wir in der Arbeitsmarktpolitik tun. Wir haben 350 000 ABM-Plätze in den neuen Bundesländern, im letzten Jahr hatten wir 390 000. Aber, meine Damen und Herren, machen Sie die Sache jetzt doch nicht so herunter, daß jede Initiative verschwindet. Wir bieten doch ein neues instrument an. Soll ich es noch einmal nennen? Arbeitsförderung Umwelt Ost; 50 000 können damit beschäftigt werden. Wir haben schon die Vereinbarung für 15 000 im Braunkohlenbereich,

(Dr. Ulrich Janzen [SPD]: Sind Sie mit Herrn Feilcke einer Meinung?)

10 000 im Chemiebereich, 10 000 für Altlasten im
Umweltbereich, 15 000 lassen sich in der freien
Jugendhilfe beschäftigen. Wenn ich rechne, so haben
wir den Rückgang von ABM-Stellen durch ein neues und, wie ich glaube, weiterführendes Instrument ausgeglichen. Denn darin stimme ich mit Ihnen überein: Wenn wir schon Geld zahlen, dann besser Geld für Arbeit als für Arbeitslosigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD — Wolfgang Roth [SPD]: Jetzt nur noch durchsetzen!)

Es ist auch nicht so, daß wir kein Altersübergangsgeld zahlten. 590 000 Mitbürger, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, beziehen Altersübergangsgeld. Wir selber hatten einmal 220 000 geschätzt. 250 000 sind im Vorruhestand. Es ist richtig: Hätten wir die Arbeitsmarktpolitik nicht, hätten wir 2 Millionen Arbeitslose mehr. In der Tat, das wäre ein völliger Dammbruch.
Ich teile auch Ihre Einschätzung, daß die Arbeitslosenzahlen selbst das Ausmaß der Umwälzung nicht klarmachen, denn viele sind als Pendler unterwegs, andere haben ihre Heimat verlassen, sind umgesiedelt, wieder andere sind in Arbeitsmarktmaßnahmen. Der Umbruch ist härter, als die Arbeitslosenzahlen zum Ausdruck bringen.

(Jochen Feilcke Fortbildung und Umschulung: Ich will doch darauf aufmerksam machen, daß in den neuen Bundesländern insgesamt bereits 2 Millionen Arbeitnehmer Fortbildungsund Umschulungsmaßnahmen in Anspruch genommen haben. Wenn wir 5 Millionen Arbeitnehmer haben und so weitermachen würden, dann wäre fast niemand mehr da, der nicht eine Fortbildung oder Umschulung in Anspruch genommen hätte. Dann läßt sich schon der Zweifel anmelden, ob immer sinnvoll umgeschult und fortgebildet wird. Es ist ja nicht damit geholfen, wenn jeder einen Computer bedienen kann, aber keine Bauarbeiter zur Verfügung stehen. Insofern darf nicht nur die Quantitätsfrage gestellt werden, sondern muß auch die Qualitätsfrage gestellt werden. Lassen Sie mich in der verbleibende Zeit noch ein paar Stichworte ansprechen. Ich sehe das Problem des Sozialstaats, möglicherweise im Unterschied zu anderen, nicht in zu hohen Sozialleistungen, sondern darin, daß Sozialleistungen von so vielen in Anspruch genommen werden, eben nicht nur von Hilfsbedürftigen, nicht nur von Anspruchsberechtigten, sondern auch von Mitnehmern und Trittbrettfahrern. Das ist ein Solidaritätsverstoß, das müssen wir im Interesse des Sozialstaats bekämpfen, denn sonst muß der Hilfsbedürftige Not leiden wegen derjenigen, die die Sozialkassen ausbeuten. Es gilt auch, sozusagen die richtigen Arbeitslosen von den falschen zu trennen. Der zunehmende Mißbrauch ist kein Kavaliersdelikt, das ist Kollegendiebstahl. Lassen Sie mich einmal ein paar Zahlen nennen. Ein Karteiabgleich zwischen dem Landesarbeitsamt Thüringen und dem Landesarbeitsamt Nordbayern erfaßte 1 500 Beschäftigte; 500 von denen waren als Beschäftigte beim Landesarbeitsamt Nordbayern geBundesminister Dr. Norbert Blüm meldet, und die gleichen 500 waren als Arbeitslose beim Landesarbeitsamt Thüringen gemeldet. (Julius Louven nicht!)


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)




Die waren sozusagen Doppelbezieher. Davor müssen wir uns schützen. Wir müssen die Arbeitslosen davor schützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deshalb darf ein solcher Mißbrauch nicht als Kavliersdelikt angesehen werden; er ist in der Tat ein Kollegendiebstahl. Deshalb bin ich dafür, daß wir alle zusammen die Arbeitslosen vor denjenigen schützen, die den Sozialstaat ausbeuten.

(Zuruf von der SPD: Wenn es so ist, haben Sie recht!)

Wir wollen jetzt auch nicht die Arbeitsverwaltung zum Sündenbock erklären. Richtig ist, die Anonymisierung der Sozialbeziehungen ist auch eine Quelle von Mißbrauch. Das vollzieht sich zwischen zwei Konten, dem Konto beim Arbeitsamt und dem Konto bei der Sparkasse. Mancher Ihrer Nachbarn ist möglicherweise arbeitslos gemeldet, ohne daß Sie es merken. Würden wiederum Meldepflichten eingeführt, würde die Hemmschwelle bei Mißbrauch mit Sicherheit erhöht werden, und das finde ich richtig.
Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie uns über vieles streiten, aber im Kampf gegen Arbeitslosigkeit sollten wir uns nicht wechselseitig mangelnden guten Willen unterstellen. Wir brauchen über alle Unterschiede hinweg die Anstrengung für einen Solidarpakt. Ich halte ihn immer noch für notwendig, denn gegeneinander werden wir es schwerer haben als miteinander.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213423900
Nunmehr erhält das Wort unser Kollege Adolf Ostertag.

Adolf Ostertag (SPD):
Rede ID: ID1213424000
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So oft auch der Bundesarbeitsminister seine scheinbar positiven Zahlen vorträgt, er kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Regierung vor einem Scherbenhaufen in der Politik steht.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Aus Ihrem versprochenen Aufschwung Ost ist eine Krise West geworden. Allein die Regierung glaubt noch an ihr Programm der Konsolidierung, obwohl es erst ein paar Stunden alt ist. Die Wirtschaft sieht sich in einer tiefen Vertrauenskrise, denn durch die, wie es beim BDI wörtlich heißt, Wirtschaftspolitik werden unternehmerische Initiativen gelähmt. Die Gewerkschaften werfen dieser Regierung einen Abgrund an Ungerechtigkeit bei der Gestaltung der Einheit vor, und überhaupt keine Basis mehr haben Sie mit Ihrer Politik in breiten Bevölkerungskreisen.

(Julius Louven [CDU/CSU]: Wie sehen denn die Zahlen für Sie aus?)

Gehen Sie in die Betriebe, sprechen Sie mit den
Beschäftigten in der Stahlindustrie, im Automobilbau
oder im Maschinenbau. Seit gestern rechnen dort wahrscheinlich über 400 000 Menschen aus, was ihnen durch die Kurzarbeiterregelung, die Sie vorhaben, aus dem Portemonnaie geklaut wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ich lasse mich von Ihnen nicht als Dieb bezeichnen!)

Viele haben Angst um ihren Arbeitsplatz — durch Ihre Politik. Sie sehen das wie ihre eigenen Arbeitgeber, weil sie das Vertrauen in diese Politik verloren haben.
Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist ja nun weit über die Drei-Millionen-Grenze geschnellt, durch eben diese Talfahrt, die wir zu verzeichnen haben. Es wird so weitergehen. Sie kennen ja die Zahlen des Ifo-Instituts und dergleichen mehr. Das Institut der Deutschen Wirtschaft rechnet Ihnen vor, daß 1993 in Deutschland 5 350 000 Arbeitsplätze fehlen werden. Das sind die Arbeitslosen einschließlich der in Arbeitsmarktprogrammen Beschäftigten. Denen wollen Sie ebenfalls ans Portemonnaie.
Die Bundesregierung müßte sich dieser katastrophalen Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes eigentlich mit aller Macht entgegenstemmen, etwa mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Aber dies bauen Sie ja ab, auch wenn die Zahlen scheinbar so positiv dastehen. Durch die Demontage-Novelle, die wir vor wenigen Wochen hier diskutiert haben, ist wohl deutlich geworden, daß wiederum die Schwächsten getroffen werden. Hunderttausende von Menschen werden es Ihnen zu verdanken haben, daß sie in den nächsten Wochen auf die Straße fliegen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wieso das denn?)

Ich kann nur sagen: Die Politikverdrossenheit nimmt zu, letzten Endes durch eine verfehlte Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik.
Damit nicht genug — dazu hat der Bundesarbeitsminister eben nichts gesagt —: Die Befugnisse der Bundesanstalt für Arbeit werden begrenzt. Übereinstimmend kritisieren Arbeitgeber, Gewerkschaften und der Präsident der Bundesanstalt die kontraproduktiven Auflagen Ihres Minsiteriums. Ich zitiere hier aus der Veröffentlichung der Bundesanstalt für Arbeit vom 17. Dezember 1992. Dort heißt es:
Die notwendige Konsequenz einer Annahme der
Bonner Vorgaben wäre, daß die Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sofort
spürbar abgebremst werden müßten. Ein solches Vorgehen würde nicht im Einklang mit der arbeitsmarktpolitischen Zielsetzung der §§ 1 und 2 des AFG stehen. Es würde ferner im Widerspruch zu den aktuellen politischen Bemühungen stehen, jetzt in Ost- wie in Westdeutschland die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung auch durch eine wachstumsorientierte arbeitsmarktpolitische Flankierung zu verbessern.
Das sind gemeinsame Aussagen des Verwaltungsrats der Bundesanstalt. Die Bundesregierung ist durch ihre Plan-, Rat- und Hilflosigkeit offensichtlich dazu nicht in der Lage. Die Folge sind eben mehr Arbeitslose, ist ein Milliardenloch in der Kasse der Bundesanstalt.



Adolf Ostertag
Dazu ist bisher nichts gesagt worden, außer: Weiter sparen, sparen, sparen.
Der Sündenbock ist klar ausgemacht. Es sind die zu hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Stimmt das etwa nicht?)

— Nein, die sind es eben nicht. Wenn Sie in die Statistik sehen, Herr Fuchtel — Sie kennen die Untersuchungen —, dann stellen Sie fest, daß z. B. die effektive Verdienstquote in Sachsen gerade 52,1 % der Verdienstquote im Nachbarland Bayern, in Ihrem Land, beträgt.

(Zuruf von der CDU/CSU: Er kommt doch aus Baden-Württemberg!)

Da wird deutlich, welcher Katastrophenkurs hier angesteuert wird. Die Anhebung zumindest der niedrigen Löhne an Stelle der Kürzung der Sozialhilfe wäre eigentlich nötig.
Zu Ihrer Politik, die offensichtlich in die Richtung „Leistung muß sich wieder lohnen" geht, kann ich nur sagen: Für wen denn soll sich Leistung wieder lohnen?

(Zuruf von der CDU/CSU: Für die, die arbeiten!)

Denn diejenigen, die etwas leisten, werden millionenfach bestraft, auch durch die Kürzung der Lohnersatzleistungen, für die sie sich jahrelang abgerackert haben. Das kann ja wohl kein Konsolidierungskonzept sein, sondern das ist doch ein Crashkurs, das sind Greueltaten, die diese Regierung begonnen hat. Mit uns kann das nicht gehen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213424100
Nächster Redner ist unser Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1213424200
Herr Präsident, lieber Helmuth Becker! Meine Damen und Herren!

(Heiterkeit)

— Ja gut, wir sind eben aus dem gleichen Wahlkreis, und wir gehen auch anständig miteinander um.

(Heiterkeit)

Herr Ostertag sagte eben, daß die Menschen in den Betrieben unsere Politik ganz anders sähen. Ich bin anderer Meinung. Ich glaube, daß es eine ganze Menge einfacher Arbeitnehmer gibt, die mit uns, der CDU/CSU- und F.D.P.-Regierung, der Meinung sind, daß es in Zeiten knapper werdender Kassen richtig ist, daß wir es denjenigen, die unser soziales Sicherungssystem in Anspruch nehmen, aber es nicht unbedingt bräuchten, möglichst schwermachen, an diese Leistungen zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD)

Große Teile des Programms, das wir in den letzten zwei Tagen in den Koalitionsfraktionen beraten haben, beschäftigen sich ja damit, Mißbrauch zu bekämpfen. Ich bin auch der Meinung — ich sage das
hier schon —, daß es auch sinnvoll sein kann, z. B. bei der Sozialhilfe den § 19 mehr anzuwenden und diese Leute zu gemeinnütziger Arbeit heranzuziehen.

(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

Das halte ich durchaus für eine Sache, die in der jetzigen Zeit gemacht werden könnte.

(Adolf Ostertag [SPD]: Wollen wir wieder einen Arbeitsdienst? — Gegenrufe von der CDU/CSU)

Es ist völlig unstrittig, daß wir nach zehn Jahren Wachstum und Beschäftigungszunahme eine schwierige wirtschaftliche Situation haben. Wir sind uns wohl auch einig darüber — und das ist doch richtig —, daß wir gerade in solchen Zeiten mit dem Geld, das wir haben, auskommen müssen, daß wir dafür sorgen müssen, daß wir in den sozialen Sicherungssystemen Beitragsstabilität behalten. Es ist einfach nicht die Zeit, wo wir eine Politik machen können, die alle möglichen Forderungen erfüllt, weil wir auch auf die Entwicklung der Lohnnebenkosten achten müssen. Menschliche Arbeit, meine Damen und Herren, muß auch bezahlbar bleiben.
Deswegen bin ich der Meinung, daß es verantwortbar war, was wir kurz vor Weihnachten mit der Verabschiedung der AFG-Novelle gemacht haben, daß wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf ihre Zielgenauigkeit hin überprüft haben, daß wir auch Möglichkeiten geschaffen haben, neue arbeitsmarktpolitische Instrumente einzusetzen.
Wir müssen auch wissen, daß die Bundesanstalt für Arbeit nur noch 60 % der Einnahmen für die uralte Aufgabe der Arbeitslosenversicherung ausgibt, nämlich für Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld, und 40 % für alle anderen Maßnahmen, natürlich auch für Arbeitsmarktpolitik. Ich würde mir wünschen, daß das in der Diskussion in unserer Gesellschaft etwas mehr anerkannt würde. Statt dessen wird dann von der Opposition — wir haben es gerade von Herrn Ostertag, der ja in Sprockhövel kein ganz unwichtiger Mann ist, auch nicht beim DBG,

(Zuruf von der CDU/CSU: Und dort auf der Gehaltsliste steht!)

gehört — von „Kahlschlag" geredet. Was soll eigentlich der Unsinn, den Menschen mit solchen Parolen Angst zu machen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. )

Richtig ist doch, daß wir in diesem Jahr 34 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik ausgeben. Das sind 3 Milliarden DM mehr als im Jahre 1992. Ich sage Ihnen, daß mit diesen Rundumschlägen die Menschen verunsichert werden, daß das für das Klima in der Gesellschaft nicht gut ist

(Zurufe von der SPD)

und daß das auch Probleme im Miteinander von Ost und West bringt.

(Weitere Zurufe von der SPD)




Karl-Josef Laumann
Sie sagen ja sogar, daß wir in den neuen Ländern durch die AFG-Novelle 150 000 Arbeitslose mehr bekommen. Auch das ist nicht wahr.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Natürlich ist das wahr!)

Wir sollten doch froh sein — und ich finde, das ist eine gute Leistung —, daß wir trotz der AFG-Novelle in den neuen Ländern 350 000 AB-Maßnahmen und 70 000 im Westen durchführen können. Wissen Sie, wie viele Sie 1982 bei einer gleich hohen Arbeitslosigkeit in Westdeutschland gehabt haben? Ganze 29 000 Stellen!

(Zurufe von der SPD)

Wir sind hier also nach wie vor auf einem hohen Niveau, und ich möchte Sie bitten, daß Sie sich mit uns dafür einsetzen, daß wir für die ABM Umwelt Ost auch die Komplementärmittel aus den Ländern und den Gemeinden bekommen. Denn dieses neue arbeitsmarktpolitische Instrument war eine der intelligentesten Erfindungen, die uns in der letzten Zeit in der Arbeitsmarktpolitik eingefallen sind.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Patentieren lassen! — Weitere Zurufe von der SPD)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213424300
Nächster Redner ist unser Kollege Paul Friedhoff.

Paul K. Friedhoff (FDP):
Rede ID: ID1213424400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde gern hier einige Gedanken vortragen, die sich mit neuen Arbeitsplätzen und mit Arbeitsplätzen beschäftigen, die nicht durch den Staat, sondern möglicherweise durch Private in diesem Land geschaffen werden können.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Beste!)

Denn es ist sicherlich traurig und leider auch wahr, daß in Ost- und Westdeutschland die Arbeitslosenzahlen steigen, aber gleichzeitig auch eine Menge von Arbeit exportiert wird, exportiert wird durch Investitionen, die von Deutschland aus im Ausland stattfinden. Denn unser Standort ist durch ganz erhebliche Kosten gekennzeichnet, Kosten im Bereich der Löhne und der Lohnzusätze, durch Umweltkosten und natürlich auch durch hohe Unternehmenssteuern.

(Zuruf von der SPD: Abschaffen!)

In diesem Land sind fast keine Rohstoffe vorhanden. Es fehlen also in diesem Land viele Voraussetzungen, die in anderen Ländern gegeben sind, denen es wirtschaftlich aber noch nicht einmal besser geht als uns hier.
Dies hat zwangsweise zur Folge, daß bei diesen Bedingungen, bei diesen Kosten sehr viele Produkte nicht mehr wettbewerbsfähig in diesem Land erzeugt werden können.
Die Produkte, bei denen wir auf dem Weltmarkt noch wettbewerbsfähig sind, sind eben zuwenig vorhanden. Deshalb haben wir auch nicht für genügend Menschen Arbeit. Ich glaube, dieses wird häufig auch hier in diesem Hause vergessen.
Wenn wir wirklich mehr Arbeit wollen, wenn es uns damit Ernst ist, so müssen wir entweder mehr solcher wettbewerbsfähigen Produkte herstellen, oder wir müssen die Herstellungskosten senken. Dies bedeutet aber in jedem Fall, daß wir einen permanenten Strukturwandel in diesem Land, in unserer Wirtschaft benötigen.
Wettbewerbsfähige Produkte können nur hergestellt werden, wenn wir unsere großen Stärken, die wir in diesem Land sicher haben, nämlich den hohen Ausbildungsstandard der Arbeitnehmer und die hervorragende Infrastruktur unseres Landes, auch nutzen und, wenn möglich, weiter ausbauen.
Es ist wichtig, mehr Menschen zu motivieren, Neues zu entwickeln, zu produzieren und auf den internationalen Märkten auch tatsächlich abzusetzen.
Ich sehe hier ein großes Defizit. Wir haben in unserem Land nach meinem Dafürhalten viel zuviel Unterlasser und viel zuwenig Unternehmer.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Aber wenn es das Idealbild der jungen Menschen ist, sich in der Freizeit zu verwirklichen und sich nicht im Beruf voll zu engagieren, dann werde ich — davon bin ich fest überzeugt — die Beschäftigungslücke nie schließen können.
Doch was tun wir denn, um mehr Eigeninitiative zu wecken? Was tun wir denn, um Menschen dazu zu ermutigen, sich auch unternehmerisch zu betätigen? Ich meine: viel zuwenig.
Wenn wir uns einmal die Förderprogramme und die Subventionen ansehen, dann stellen wir fest, daß diese fast ausschließlich an die Adresse von Großunternehmen gehen. Die Mittel werden aber sehr häufig bei kleinen und mittleren Betrieben erwirtschaftet. Für diese Großunternehmen bedeutet Strukturwandel in der Regel den Kauf von innovativen Unternehmen mit zukunftsträchtigen Produkten.
Meine Damen und Herren, dies ist, glaube ich, nicht der Strukturwandel, den wir für mehr Beschäftigung brauchen. Strukturwandel führt nur über kleine und mittlere Betriebe. Deren Entstehen und deren Gedeihen entscheiden über die künftige Beschäftigungshöhe in unserem Hochlohnland ohne eigene Rohstoffe.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich will das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Es ist kein Zufall, daß die Glühbirne nicht in der Petroleumindustrie entwickelt wurde, obwohl sie den gesamten Markt der damaligen Beleuchtungsindustrie komplett veränderte.
In diesem Fall war ein pfiffiger Erfinder zum Unternehmer geworden, und er leitete mit einem technisch besseren Produkt einen gewaltigen Strukturwandel ein, der erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigung hatte.
Doch was tun wir denn in diesem Land für solche Unternehmen, für solche Menschen, die für den Strukturwandel und damit für die Beschäftigung von entscheidender Bedeutung sind?
Deutscher Bundestag — 1'2. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993 11659
Paul K. Friedhoff
Sie haben vorhin von diesem Pult aus gesagt — ich habe das gehört —, daß sich Leistung wieder lohnen solle. Ich denke, es ist ganz wichtig, daß sich Leistung lohnt. Dies ist eine Voraussetzung dafür, damit sich an dieser Stelle etwas tut. Stellen Sie sich einmal vor, das Gegenteil wäre der Fall. Dann würde in diesem Haus, glaube ich, etwas anderes diskutiert werden müssen als das, was wir hier jetzt diskutieren können.

(Konrad Gilges [SPD]: Wenn es danach ginge, wäre auch ein anderer Wirtschaftsminister geworden!)

Ich kann aus eigener Anschauung sagen, daß die Rahmenbedingungen für diese Unternehmen nach meiner festen Überzeugung nicht ausreichend sind. Die Rahmenbedingungen sind nämlich nicht auf die Nöte dieser Betriebe ausgerichtet.
Die heutige Unternehmensbesteuerung vereitelt z. B. gerade in diesen Unternehmungen Wachstum. Sie erweist sich hier als ein Beschäftigungshindernis erster Ordnung.
Viele tun so, als wäre die Erhaltung unrentabler Arbeitsplätze das Gebot der Stunde; sie kämpfen um Subventionen und verhindern damit den Strukturwandel. Arbeitsmarktprogramme mögen zwar populär sein, zeigen aber nicht in die richtige Richtung.
Meine Damen und Herren, ein Mehr an Beschäftigung werden wir nur erzielen, wenn wir nicht weiter die Wachstumskräfte durch Beharren auf alten Steuer- und Abgabestrukturen und auf überflüssigen Regulierungen in der Wirtschaft und durch falsche Signale an die Motivation unternehmerischer Menschen lähmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213424500
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Uwe Jens.

(Zuruf von der SPD: Jetzt wollen wir etwas hören! — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Jetzt kommt ein sachlicher Beitrag!)


Prof. Dr. Uwe Jens (SPD):
Rede ID: ID1213424600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, ich sage nichts Böses,

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein!)

wenn ich behaupte: Soeben hat der zukünftige Wirtschaftsminister gesprochen. Er kann das gar nicht verhindern. Spätestens in einem Jahr wird er Wirtschaftsminister dieser Bundesrepublik Deutschland sein.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wegen des Rotationsprinzips?)

Ich möchte gern noch sagen: Herr Blüm, Sie sind ja sonst ein netter Mensch,

(Zurufe von der CDU/CSU: Nicht nur sonst! Immer!)

aber Sie haben hier mit Steinen herumgeschmissen, obwohl Sie im Glashaus sitzen.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aber der ist schon seit zehn Jahren da, und er bleibt!)

Gerade Ihre Regierung, der Sie ja nun angehören, hat immer verkündet: Steuererhöhungen kann es nicht geben. Das paßt nicht in die Landschaft. Das darf nicht sein. — Wenn ich es noch richtig in Erinnerung habe, dann haben wir am 1. Januar dieses Jahres die Mehrwertsteuer erhöht. Haben Sie das schon vergessen?

(Julius Louven [CDU/CSU]: Wann haben wir den Beschluß gefaßt?)

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, dann haben wir in diesem föderalen Schweinkram — ich weiß nicht genau, wie das ausgedrückt wird — auch eine Erhöhung der Steuern, nämlich der Versicherungssteuer. Seien Sie deshalb vorsichtig mit dem Hinweis auf die Steuererhöhungen. Das haut nicht hin.
Meine Damen und Herren, die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist ganz zweifellos dramatisch. Jeden Tag berichten Großunternehmen über die Streichung von zusätzlichen Tausenden von Arbeitsplätzen. In den neuen Bundesländern gab es 1990 bei der Vereinigung drei Millionen Arbeitsplätze in der Industrie. Heute sind es noch 700 000.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Es gab 1,8 Millionen!)

Ich sage Ihnen: Ohne industrielle Arbeitsplätze werden die neuen Bundesländer niemals das Lohnniveau der westlichen Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland erreichen.
Über fünf Millionen Menschen suchen in Gesamtdeutschland Beschäftigung und sind mittlerweile ohne reguläre Arbeit. Jetzt besteht die Gefahr, daß wir am Ende dieses Jahres die Sechs-Millionen-Grenze überschreiten, wenn die wirtschaftspolitischen Weichen nicht neu gestellt werden.
Ich weise darauf hin: Sechs Millionen, das ist für mich eine magische Zahl. Sechs Millionen, das ist die Zahl, die wir 1932 in diesem Lande hatten, ein Jahr, bevor dieses Land im Chaos versank.

(Dr. Alexander Warrikoff [CDU/CSU]: Die Parallele paßt nicht, Herr Kollege!)

Dieser Solidarpakt oder dieser föderale Kram, den Sie da entwickelt haben, ist aus meiner Sicht ein gewaltiger Etikettenschwindel.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)

Die Bonner Streichliste ist ohne jede ökonomische Vernunft.
Da werden die Umweltstandards für Abwasseranlagen verschlechtert. Die Folge: weniger Beschäftigung.
Da wird beim Wohngeld, der Arbeitslosenhilfe, der Sozialhilfe gespart — zu Lasten der Ärmsten der Armen. Das nenne ich auch ökonomisch unvernünf-



Dr. Uwe Jens
fig. Das ist Deflationspolitik Brüningscher Art. So etwas machen wir niemals mit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie sind nicht auf dem neuesten Stand!)

Meine Damen und Herren, die Karre ist im ökonomischen Dreck, und Sie haben sie dort hineingefahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schönreden hilft überhaupt nicht mehr, sondern notwendig wäre ganz zweifellos zielgerichtetes energisches Handeln.

(Beifall bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Verbaler Kraftmeier! — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Bei der Regierung?)

— Ich will ein paar Sätze dazu sagen.
Erstens. Ich gebe zu, einige Treuhandunternehmen haben noch Schwierigkeiten mit der Lohnanpassung. Das ist gar keine Frage.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Richtig! Jawohl!)

Ein Kollege hatte das bereits angesprochen. Aber das generelle Geschimpfe von dem Minister, der zur Zeit gerade abtritt, über die Lohnpolitik kann ich überhaupt nicht mehr nachvollziehen. Lesen Sie dazu doch einmal den Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nach: Der Lohnabschluß in der Stahlindustrie ist maßvoll, und die bekanntgewordenen Lohnforderungen lassen ebenfalls Abschlüsse erwarten, die volkswirtschaftlich akzeptabel sind. Die Gewerkschaften werden auch diesmal gesamtwirtschaftliche Verantwortung walten lassen.
Zweitens. Die Finanzpolitik hat bisher versagt. Erforderlich ist meines Erachtens zuerst ein umfassendes Konzept mit einer Laufzeit von mindestens zehn Jahren für die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer. Ich finde, zuerst müssen die Ziele und Maßnahmen definiert werden, die wir für den Aufbau Ost dringend brauchen. Erst dann wäre die Finanzierung zu regeln. Aber die Regierung wurstelt sich leider weiter durch.
Notwendig wäre eine Nachfragebelebung in Ostdeutschland durch öffentliche Aufträge und die Gründung von Osthandelsgesellschaften, wie wir Sozialdemokraten sie gefordert haben.

(Beifall bei der SPD)

Dringend erforderlich ist die langfristige Sanierung der industriellen Kerne sowie ein Infrastrukturprogramm mit Wohnungsbauförderung und Investitionspauschalen.
Was wir jetzt auf den Tisch bekommen haben, ist ein Flickenteppich mit riesigen Löchern.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)

Die Gerechtigkeitslücke, die vom RWI, vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung,
festgestellt wurde, ist nicht kleiner, sondern größer geworden.

(Beifall bei der SPD)

Drittens. Meine Damen und Herren, das größte Gift für die wirtschaftliche Entwicklung ist der exorbitant hohe Diskont- und Lombardsatz. Ich wundere mich doch sehr: Da fährt Herr Waigel heute mit dem komischen Paket nach Frankfurt. Und was kommt dabei heraus? Nichts! Die Zinsen bleiben nach wie vor hoch. Das ist das Schlimmste, was wir zu verzeichnen haben. Wenn Sie es nicht hinbekommen, daß die Zinsen deutlich sinken, werden Sie die wirtschaftliche Entwicklung niemals wieder nach vorne bringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie etwas von der Unabhängigkeit der Bundesbank gehört?)

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213424700
Herr Kollege Dr. Jens, ich weise den Ausdruck „Schweinkram" als unparlamentarisch zurück.
Meine Damen und Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Hans-Joachim Fuchtel.

Hans-Joachim Fuchtel (CDU):
Rede ID: ID1213424800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu dem Kollegen Ostertag. Herr Kollege Ostertag, bevor Sie hier mit Scherbenhaufen der Politik usw. argumentieren, empfehle ich Ihnen, gehen Sie erst einmal in Ihre Fraktion, klären Sie, ob Sie Steuererhöhungen möchten oder nicht, und kommen Sie dann wieder hierher. Dann sind Sie nämlich so weit, wie wir mit unserem Programm längst sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe gerade dem Kollegen Jens zugehört. Herr Kollege, Sie haben überhaupt nichts zur Finanzierungsseite gesagt. Es war überhaupt nichts weiter als ein schöner Wunschkatalog.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dagegen hat der Kollege Roth deutlich ein Wort zur Steuerfrage gesagt. Aber, lieber Kollege, die Steuerfrage allein ist nicht das Problem. Es wird schon etwas weiter gegriffen werden müssen. Es geht nicht zuletzt darum, daß die sinkende Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft ganz entscheidenden Anteil an der Problematik hat. Daher ist es auch nicht allein mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen getan, wie einige glauben. Bisher waren Sie immer die Freunde der Schweden. Das war das gelobte Land. Jetzt auf einmal, wo die Schweden auch mit Sparpaketen aufwarten, wollen Sie nichts mehr davon wissen. Deswegen muß man Ihnen das einmal sagen: In einem so kleinen Land werden 16 Milliarden DM eingespart. Das sind dort 4,8 % des Bruttoinlandproduktes. Würden wir dies bei uns machen, dann würde dies 124 Milliarden DM ausmachen, meine Damen und



Hans-Joachim Fuchtel
Herren. Welche Unterschiede! Und Sie verbreiten Weltuntergangsstimmung!

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Es kommt auf die Höhe an!)

Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu all diesen anderen Ländern haben wir dann auch noch die Erblast des Sozialismus zu tragen. Dies müssen wir zusätzlich sehen.

(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Erblast dieser Regierung!)

— Jetzt ist es schon die Erblast der Regierung. Sie vertragen es nicht einmal, daß es die Erblast von 40 Jahren SED-Regierung war. Das muß man immer wieder deutlich sagen, um keine Geschichtsklitterung aufkommen zu lassen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Damit fangt ihr doch gerade an! — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie sind ein Teil der Erblast!)

— Ich bin ein Schwabe. Ich bin kein Teil der Erblast.
Bitte nehmen Sie doch nicht jede einzelne Änderung im Instrumentarium des Arbeitsförderungsgesetzes zum Anlaß, um hier eine neue Neiddiskussion loszutreten. Das ist nicht der richtige Weg. Da kommen wir nicht weiter.
Nächster Punkt. Alle wissen, daß die Lohnzusatzkosten nicht weiter steigen dürfen. Was macht die SPD in dieser Zeit? Sie bringt ein Gesetz zur Pflegeversicherung ein: 25 Milliarden DM Kosten ohne jede Gegenfinanzierung. Also voll drauf auf die Lohnzusatzkosten! Das ist Gift für die Wettbewerbsfähigkeit, meine Damen und Herren. Das vernichtet die Arbeitsplätze im Handwerk und fördert die Schattenwirtschaft. Das ist ein Beitrag zur Schaffung von Arbeitslosigkeit, den Sie leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir können uns nicht auf eine Arbeitsverteilung einlassen, die da heißt: Sie versprechen in der heutigen Zeit soziale Wohltaten, und finanzieren soll das der Norbert Blüm. Eine Politik nach dem Motto: Sie für das Herz, wir für den Verstand! lassen wir nicht zu. Wir machen die Politik für Herz und Verstand.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Deswegen, meine Damen und Herren, dürfen wir eine solche Strategie nicht zulassen. Es gebietet die Verantwortung, dieses Gesetz erst zu machen, wenn die Gegenfinanzierung gesichert ist. Wir wollen die Pflegeversicherung, aber in einem Rahmen, der in die Landschaft paßt. Deswegen haben wir diese Schwierigkeiten, an denen Sie sich vorbeimogeln mit Ihrer billigen Art der Polemik, die Sie an den Tag legen.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Präsident, das war unparlamentarisch!)

Meine Damen und Herren, ein dritter Punkt: Einsparungen im sozialen Bereich. Wir wollen künftig stärker unterscheiden zwischen wirklichen Bedürftigen und denjenigen, die Leistungen mißbrauchen. Die Linie heißt: Mißbrauch erst einmal ausschalten. Dann ist auch die Bereitschaft jedes einzelnen größer,
persönliche Einbußen hinzunehmen. So sind unsere Vorschläge zum Arbeitsförderungsgesetz auch angelegt. Unser Solidarpakt muß auch ein Solidarpakt gegen Leistungsmißbrauch werden, damit die Kultur des Sozialstaats nicht verkommt.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213424900
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Konrad Gilges.

Konrad Gilges (SPD):
Rede ID: ID1213425000
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Blüm! Sie haben heute in einer Pressemitteilung gesagt: Rentner und Arbeitslose bleiben verschont. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, das Ergebnis des Konsolidierungsprogrammes und das, was Sie als Erfolg feiern, ist schlicht und einfach zynisch.

(Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Wieso denn das?)

Es ist zynisch, weil die Lasten, die entstanden sind, überwiegend von den Arbeitslosen, von den sozial Schwachen getragen werden müssen. Das heißt, die große Last, die entsteht, wird in unserer Republik auf die Kleinsten der Kleinen abgeladen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wie denn?)

Ich muß Ihnen sagen, das ist schlicht und einfach eine zynische Sozialpolitik.

(Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Werden die Renten gekürzt, oder werden sie nicht gekürzt?)

Wenn Sie meinen, daß die Rentner nicht noch einmal zur Ader gelassen werden, dann nur, weil sie schon zweimal zur Ader gelassen worden sind; deshalb muß ich Ihnen sagen: Es wäre auch sehr schlimm, Herr Blüm, wenn der Vampir bei den Rentnern noch einmal zubeißen würde.

(Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Also werden sie nicht gekürzt! — Julius Louven [CDU/ CSU]: Das glaubt man Ihnen nicht einmal in Köln!)

Man hat die Rentner schon einmal bei der Rentenreform, beim Gesundheits-Strukturgesetz zur Ader gelassen. Wenn wir das ein drittes Mal machen würden, wäre es schlicht und einfach zuviel.

(Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Wir machen es doch nicht! Ich kann doch nicht mit „wenn" beschimpft werden!)

Deswegen ist es doch kein Erfolg, daß Sie das nicht machen, weil Sie schon ausreichend genug abgeschöpft haben.
Bei den Arbeitslosen sprechen Sie in Ihrer Erklärung von Mißbrauch und Mitnahmeeffekten. Das haben Sie ja hier auch gemacht. Ihnen fällt überhaupt nicht ein, daß Sie auch einmal darüber nachdenken können, welchen Mißbrauch es z. B. bei der Steuerhinterziehung und bei der Steuerverkürzung gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)




Konrad Gilges
50 Milliarden DM Steuern, Herr Blüm, werden jedes Jahr in unserer Republik hinterzogen. Kein Satz steht darüber in Ihrem Konsolidierungsprogramm. Es steht auch kein Satz darüber darin, daß 50 Milliarden DM nach Luxemburg verbracht worden sind. Das, was hier im Haushalt als Löcher erscheint, wäre leicht zu decken, wenn Sie, diese Bundesregierung, in der Lage wären, diese Steuerhinterziehung zu verhindern oder zumindest zu einem großen Teil zu bekämpfen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Ländersache!)

Die Beamten, die Sie in Zukunft gegen den Mißbrauch von Arbeitslosigkeit einsetzen, sollten Sie gegen die Steuerhinterziehung einsetzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie das doch Herrn Rau!)

Das wäre ein vernünftiger und sozialer Beitrag für unsere Republik.

(Beifall bei der SPD)

Sie sprachen vom Mißbrauch und erwähnten in diesem Zusammenhang junge kluge und clevere Leute. Ich gebe zu, daß es Mißbrauch gibt. Ohne Zweifel! Aber das, was Sie machen, ist doch, daß Sie in Ihrem Programm schreiben: Wir bekämpfen den Mißbrauch, und wenn das nicht erfolgreich ist, werden wir im Frühjahr doch mit dem Rasenmäher über die Arbeitslosenversicherung darübergehen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir werden damit erfolgreich sein!)

Das heißt: Sie verlagern die Verantwortung für einen möglichen Mißbrauch auf die Arbeitsämter vor Ort, auf die kleinen Beamten usw. Die sind dann schuld, wenn Sie nicht in der Lage sind, eine vernünftige Politik und vernünftige Gesetze zu machen. Das ist der entscheidende Punkt. Sie machen die kleinen Beamten vor Ort verantwortlich für Ihre gescheiterte Politik. Es wäre als Maßnahme gegen den Mißbrauch sinnvoll gewesen, wenn es Ihnen gelungen wäre, so wie es die Bundesanstalt für Arbeit gefordert hat, die Bundesanstalt mit ausreichend Beamten und Angestellten auszustatten, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgaben wahrzunehmen, so wie es das Gesetz vorschreibt.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Ausstattung haben Sie ihnen noch in den letzten Wochen verweigert.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Ich sage Ihnen noch einmal: Ich finde das, was Sie beabsichtigen, schlicht und einfach unverschämt. Es ist eine große Sauerei. Sie werden sich auch nicht mit schönen Reden aus dieser Sauerei herausreden können.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — HeinzAdolf Hörsken [CDU/CSU]: Aber Herr Gilges!)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213425100
Meine Damen und Herren, auch „Sauerei" ist natürlich ein unparlamentarischer Ausdruck. Ich weise ihn zurück.
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Peter Keller.

Peter Keller (CSU):
Rede ID: ID1213425200
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man merkt halt bei solchen Beiträgen schon, daß an sich nur die Union seit über 40 Jahren die Partei ist, für die die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik immer gegeben war. Die SPD hat das erst 1959 ins Godesberger Programm mit aufgenommen. Die zehn Jahre sind spürbar.

(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

— Das ist leider so. Fragen Sie Ihre Kollegen.
In dieser Sozialen Marktwirtschaft haben wir ja 1957 die große soziale Errungenschaft der dynamischen Rente durchgesetzt, und wir werden sie weiter erhalten. Darauf sind wir stolz. Deshalb darf ich dem Bundesarbeitsminister herzlich danken, daß er das auch bei diesen Maßnahmen durchgesetzt hat.
Was Arbeitslosigkeit und Mißbrauch anbelangt, lieber Kollege Gilges: Ich nehme an, wir haben beide in einem Betrieb gearbeitet. Nur, es gibt diesen Mißbrauch, und wir müssen ihn immer wieder anprangern und ihn gemeinsam bekämpfen. Darin sollte die Gemeinsamkeit bestehen, und die Selbstverwaltung muß dazu ihren Beitrag leisten.
Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird die enge Verflechtung von Sozial- und Wirtschaftspolitik deutlich. Ich will versuchen, das in ein Bild zu kleiden, damit die Verzahnung deutlicher wird: Wenn der Wirtschaftsmotor die kritische Drehzahl erreicht, ist das natürlich auch für das Sozialgetriebe ein Warnsignal, in einen etwas niedrigeren Gang zu schalten, damit nicht das gesamte Wirtschaftsgeschehen ins Stottern gerät.
Ich habe die Richtigkeit dieses Satzes erfahren als Betriebsrat in einem großen Unternehmen, als ich dort die erste Rezession 1967/68 mitgemacht habe, und später, 1982/83, als Abgeordneter. Ich habe aus diesen Erfahrungen gelernt, daß eben auch Sparsamkeit ein wichtiger Weg ist, zu mehr Investitionen zu kommen, Mittelstand und Industrie Anreize zu geben, neue Arbeitsplätze zu schaffen und damit mehr Spielraum für sozialpolitische Aufgaben zu erreichen.
Wenn erst der Wirtschaftsmotor einmal abgewürgt ist — bei der SPD heißt es gelegentlich dann Minuswachstum oder Nullwachstum —, gibt es natürlich keinen sozialpolitischen Fortschritt mehr. Dann ist Stillstand. Genau das wollen wir nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das habt ihr doch gemacht!)

In Zeiten der konjunkturellen Schwäche ist natürlich auch die Arbeitsmarktpolitik gefragt. Ich hoffe, daß wir uns darin einig sind. Nur, wir dürfen die Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik nicht überschätzen. Was sie nämlich nicht kann, ist, mit ihren Instrumenten Dauerarbeitsplätze zu schaffen. Was wir auch nicht wollen, ist ein flächendeckendes Angebot, wo die ganze Gesellschaft eine ABM-Gesellschaft würde. Das ist nicht unser Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft.

(Konrad Gilges [SPD]: Das will keiner!)




Peter Keller
Was sie aber kann, lieber Kollege Gilges, ist die zeitlich begrenzte Beschäftigungsförderung und berufliche Anpassung auf dem zweiten Arbeitsmarkt. Auch die aktive Arbeitsmarktpolitik, die jetzt noch auf hohem Niveau weitergeführt wird — bei ABM sowie bei Fortbildung und bei Umschulung —, hat eben nur eine Brückenfunktion.
Es gibt zur Zeit einen großen Streit zwischen der Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesregierung über die Haushaltssituation. Wir haben aber gerade im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen trotz der AFG-Novelle 10 Milliarden DM zur Verfügung. Deshalb können wir auf hohem Niveau mit 350 000 ABM-Beschäftigten im Osten diese Maßnahmen fortführen.
Wir haben ein neues Instrument der produktiven Arbeitsförderung: für Umweltsanierung und für die sozialen Dienste. Damit können 50 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich könnte mir vorstellen, daß man das entsprechend ausbauen kann. Auf ähnlich hohem Niveau werden weiterhin die Maßnahmen im Bereich Fortbildung und Umschulung betrieben.
Eine letzte Bemerkung: Was wir jetzt dringend brauchten — wir sollten es nicht zerreden —, ist ein Solidarpakt, der diesen Namen auch wirklich verdient.

(Zuruf von der SPD: Das ist richtig!)

Jeder muß seinen Beitrag dazu leisten — auch die Arbeitsmarktpolitik —, damit sich die finanziellen Anstrengungen für alle lohnen, nämlich im Hinblick auf mehr Investitionen, Zinssenkung, mehr Preisstabilität. Das Ergebnis werden dann wieder mehr Arbeitsplätze sein. Das ist unsere Überzeugung. Die CDU/ CSU-Fraktion wird einen konstruktiven Beitrag zu diesem Solidarpakt leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213425300
Meine Damen und Herren, letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist unser Kollege Heinz-Adolf Hörsken.

Heinz-Adolf Hörsken (CDU):
Rede ID: ID1213425400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Jens, eine Bemerkung: Sie sind nicht mehr auf dem letzten Stand dessen, was wir gestern beschlossen haben.

(Dr. Uwe Jens [SPD]: Ist die Mehrwertsteuererhöhung weggefallen? — Weiterer Zuruf von der SPD: Da geht es ja auch drunter und drüber!)

— Vieles von dem, was zunächst einmal in den Zeitungen stand, stimmt nicht; denn wir haben vieles korrigiert. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen.
Außerdem sind zusätzlich ganz konkrete Maßnahmen vorgesehen: 1,5 Milliarden DM für kommunale Investitionen, darüber hinaus rund 4 Milliarden DM für Maßnahmen zur Mittelstandsförderung und ähnliches. Wie kommen Sie eigentlich zu der Feststellung, daß in diesem Programm nur gespart und daß nicht nach vorne geblickt werde? Es stimmt nicht. Sie müssen sich schon die richtigen Unterlagen holen.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht in seinem jüngsten Gutachten davon aus, daß wir in der zweiten Hälfte 1993 wieder Wachstumskräfte haben werden. Ich glaube, das ist eine realistische Vorstellung.
Nicht nur die weltweiten und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erschweren die Situation, sondern wir haben in der Bundesrepublik Deutschland mit objektiven Schwierigkeiten zu tun, die niemand leugnen kann. Folgende Ursachen nenne ich Ihnen. Erstens. Der Markt für Ostprodukte ist noch nicht entwickelt. Mit der überwiegend veralteten Produktion können die Ostprodukte dem Konkurrenzdruck häufig nicht standhalten. Deshalb ist die Erschließung der Märkte, die Errichtung von neuen Produktionsstätten die große Herausforderung, der wir uns jetzt stellen müssen. Hier müssen die Wirtschaft und die Sozialpolitik gemeinsam handeln, um zu sehen, wie der gesamte Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie kompensiert werden kann.
Zweitens. In den neuen Bundesländern sind die Strukturen anders gewachsen als in den alten. Darüber müssen wir in aller Sachlichkeit miteinander reden. Die Beschäftigungsquote in der ehemaligen DDR lag bei über 90 %. Zum Vergleich: In der alten Bundesrepublik Deutschland liegt die Erwerbsquote bei den Männern bei 80-83 % und bei den Frauen bei 55-58 %, jeweils im Alter von 15 bis 65. Legt man also die westdeutsche Beschäftigungsquote zugrunde, wird auf Dauer in den neuen Bundesländern ein Stand von 6 Millionen Arbeitsplätzen erreicht werden können und nicht mehr. Das müssen wir doch in aller Sachlichkeit miteinander besprechen.
Ich will aber auch darauf hinweisen, daß Sparmaßnahmen unumgänglich sind. Wir sind nicht auf einer Insel der Glückseligen. In vielen Bereichen muß gespart werden. Das zeigen auch vergleichbare Maßnahmen in anderen Ländern. Unser Nachbar Belgien: Einsparungen im Sozialbereich von rund 3,5 Milliarden DM. Das entspräche, hochgerechnet auf das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland, 30 Milliarden DM. Gleichzeitig Steuererhöhungen 1993.
Italien verabschiedet ein Maßnahmenpaket von 40 Milliarden DM; Einsparungen im Haushalt in einer Höhe von sage und schreibe 100 Milliarden DM.

(Konrad Gilges [SPD]: Wir sparen schon seit zehn Jahren!)

Niederlande: Einsparungsprogramm im Haushalt 1992 1,8 Milliarden DM, Kürzung der staatlichen Zuschüsse für Wohnung und Personenverkehr, Beschäftigungsabbau im öffentlichen Dienst. Das sind nur einige Hinweise aus unseren Nachbarländern.

(Konrad Gilges [SPD]: Wir sparen doch schon seit zehn Jahren bei der Sozialhilfe, bei den Renten, bei der Arbeitslosenhilfe!)

— Nein. Wir sind nicht in einer Situation, die losgelöst zu betrachten wäre von unserer Umwelt, in der wir leben. Das hilft uns doch nicht weiter.
Die Kriterien für ein Konzept, wie es der Solidarpakt vorsieht, sind eine Chance für uns alle. Ich rufe Sie auf, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD,
11664 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag den 21. Januar 1993
Heinz-Adolf Hörsken
an diesem Solidarpakt mitzuarbeiten. Wir brauchen jetzt keine hitzigen Debatten, sondern gemeinsame Anstrengungen aller Beteiligten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Daß die SPD versucht, aus der schwierigen Situation Kapital zu schlagen, ist verständlich. Bedenken Sie aber bitte dabei, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD: Ihre Parolen und Kapriolen helfen am wenigsten den Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hören Sie auf mit Polemik. Beim Solidarpakt können Sie beweisen, was Sie erbringen können. Da sind Sie gefordert. Zeigen Sie da die entsprechende Unterstützung für die Maßnahmen, die notwendig sind.
Recht schönen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213425500
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Punkt 7 a und b der Tagesordnung auf:
a) — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verjährung von SED-Unrechtstaten (VerjährungsG)

— Drucksache 12/3080 — (Erste Beratung 107. Sitzung)

— Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen von DDR-Unrechtstaten
— Drucksache 12/2332 — (Erste Beratung 91. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses (6. Ausschuß)

— Drucksache 12/4140 —Berichterstattung: Abgeordnete Horst Eylmann
Jörg van Essen
Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Michael Luther Dr. Hans de With
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hans de With, Hermann Bachmaier, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zur Verfolgungsverjährung von Unrechtstaten in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
— Drucksachen 12/2132, 12/4140 —
Berichterstattung: Abgeordnete Horst Eylmann
Jörg van Essen
Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Michael Luther Dr. Hans de With
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache 30 Minuten vorgesehen. Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213425600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die angenehme Pflicht, um Zustimmung zu einem wichtigen Gesetz zu werben. Das Gesetz ist kurz, aber es ist wichtig. Es ist wichtig als Klarstellung, wie sich das Strafrecht der DDR zum Strafrecht der Bundesrepublik nach der Vereinigung aller deutschen Länder verhält.
Es geht trotz der Grundregelungen in Anlage I des Einigungsvertrages um einen speziellen Aspekt der Verjährung. Es war eine Klärung unumgänglich, weil der Einigungsvertrag in Anlage I Kap. III offenließ, wie mit der Frage umzugehen sei, ob in der DDR nach deren Strafrecht eingetretene Verjährungen fortgelten sollen, besonders dort, wo nach DDR-Recht bestehende Strafansprüche aus politischen Gründen nicht realisiert wurden.
Die Klärung geschieht im Gesetz nach streng rechtsstaatlichen Prinzipien, indem der nach DDR- Recht bestehende Strafanspruch nach Wegfall der Verfolgungsbehinderung wieder in Kraft gesetzt wird. Damit ist auch die Frage nach dem Rückwirkungsverbot beantwortet: Der Einigungsvertrag wird dahin gehend präzisiert, daß das in der DDR bestehende Recht fortgilt.
Entgegengesetzte Rechtsauffassungen sind im Rechtsausschuß von der PDS/Linke Liste mit besonderem Engagement durch den Kollegen Heuer vertreten worden. Der Bericht des Rechtsausschusses zeigt jedem, der ihn liest, daß über diese Position ausführlich diskutiert wurde, auch wenn sich der Rechtsausschuß ihr nicht anzuschließen vermochte. Aber gerade das zeigt, wie diese fundamentale Frage im demokratischen Diskurs behandelt und entschieden werden konnte. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß es in dieser wichtigen Diskussion auf einem sehr sensiblen Gebiet keine Mauern in den Köpfen gegeben hat.
Ich werbe um Ihre Zustimmung als Mitglied dieses Gremiums, das so diskutiert und entschieden hat, und als einer, der sich an einer rechtsstaatlichen Auf arbeitung des politischen Unrechts in der ehemaligen DDR zu engagieren gedenkt. Bitte stimmen Sie dem vorliegenden Ergebnis zu.
Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213425700
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Hans de With das Wort.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1213425800
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung vom 18. September 1952 erklärt — ich zitiere —, daß
für Verbrechen und Vergehen, die im „Dritten
Reich" aus politischen, rassischen oder religionsfeindlichen Gründen nicht bestraft wurden, die



Dr. Hans de With
Verjährung in der Zeit von Januar 1933 bis Juni 1945 ... geruht
hat. Nach diesen Prinzipien sahen die drei Anträge bzw. Gesetzesentwürfe der SPD, der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Bundesrates vor, deklaratorisch festzustellen, daß bei Straftaten, die während der Herrschaft des SED-Unrechtsregimes begangen, aber nach dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen der Staats- und Parteiführung aus rechtsstaatswidrigen Gründen ungeahndet geblieben waren, die Strafverfolgung in jener Zeit geruht hat.
Diese Feststellung hat zur Folge, daß in der Praxis die Verjährungsfrist erst mit dem Ende des SED- Regimes zu laufen beginnt und danach eine Strafverfolgung in allen diesen Fällen möglich ist, soweit die Verjährung seit dem neuen Fristbeginn nicht eingetreten ist. Dieser Bewertung hat sich die übergroße Mehrzahl der Gerichte, Staatsanwaltschaften und Kommentatoren angeschlossen.
Uneinigkeit herrscht über den Zeitpunkt, von dem ab die Strafverfolgungsbehörden wieder frei tätig werden konnten: vom Tag der Volkskammerwahl am 17. März 1990 an oder vom Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 an. Unterschiedliche Auffassungen gab es zum Teil auch darüber, welche Verjährungsregeln dann anzuwenden sind, wenn ein Strafverfahren nach beider Recht möglich war, nach dem der alten Bundesrepublik und nach dem der vormaligen DDR.
In einem solchen Fall — ein DDR-Grenzsoldat hat z. B. auf einen sich schon auf dem Boden der Bundesrepublik Befindlichen geschossen — könnte nämlich Verjährung nach dem Recht der alten Bundesrepublik eingetreten sein, wohingegen die Strafverfolgung nach dem Recht der DDR — das Ruhen der Verjährung einmal unterstellt -- noch möglich sein könnte.
Gegen die Gruppe PDS/Linke Liste hat der Rechtsausschuß einmütig die Notwendigkeit einer Klarstellung bejaht und sich für eine gesetzliche Regelung ausgesprochen. Er hat das Ruhen der Verjährung bis zum 2. Oktober 1990 angenommen und ist damit davon ausgegangen, daß erst seit dem Tag der Wiedervereinigung generell eine geordnete und freiheitlich-demokratische Rechtspflege gegeben war ungeachtet der Tatsache, daß schon mit dem Aufbau einer freiheitlichen Justiz nach dem Tag der Volkskammerwahl begonnen wurde.
Der Rechtsausschuß ist auch der Meinung, daß bei der Möglichkeit der Anwendung der Verjährungsbestimmungen aus beiden Teilen Deutschlands der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die Verjährungsvorschriften aus dem Beitrittsgebiet nicht zum Erlöschen gebracht hat. Damit kann z. B. ein Totschlag, begangen durch Schießen auf einen Grenzgänger von der alten DDR aus auf bundesrepublikanischen Boden, auch dann verfolgt werden, wenn die Tat nach dem Recht der alten Bundesrepublik verjährt war, nach dem der DDR aber nicht.
Der Rechtsausschuß hat sich diese Entscheidung nicht leichtgemacht. Erst als sich auf Grund eines Anhörungsverfahrens ergeben hatte, daß dieser Annahme weder ein Rückwirkungsverbot noch sonstige verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen, wurde dem Begehren des Bundesrates entsprochen.
Mit diesen Entscheidungen versucht der Deutsche Bundestag nicht nur, Rechtssicherheit zu schaffen. Die im Bundestag vertretenen Parteien — wiederum außer der Gruppe PDS/Linke Liste — waren vielmehr der Meinung, daß dieses Gesetz auch aus zwei weiteren Gründen erforderlich ist: zur Aufarbeitung der Unrechtstaten des SED-Regimes und zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs im Einzelfall, die zur Zeit der SED-Herrschaft in derartigen Fällen unmöglich war.
Dies hat nichts, aber auch gar nichts mit politischer Justiz oder gar mit Rachegefühlen zu tun; denn es ist nicht einzusehen, warum auch nach DDR-Recht nicht gedeckte Tötungen, Körperverletzungen und Freiheitsberaubungen oder auch Bereicherungen auf Kosten anderer ungesühnt bleiben sollen.
Ich merke in diesem Zusammenhang ergänzend an, daß sich die SPD-Bundestagsfraktion noch überlegt, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen bei der möglichen Verjährung wegen politischer Verdächtigungen getroffen werden können.
Nun wird aus gutem Grund zu diesem Zeitpunkt gefragt werden: Was soll dieser Versuch des Bundestages als klarstellende Regelung zur Verfolgung von SED-Unrechtstaten, wenn Berliner Gerichte zur selben Zeit die Strafverfahren gegen den obersten Repräsentanten der vormaligen DDR einstellen und damit den Haftbefehl mit der Folge aufheben, daß Erich Honecker als freier Mann nach Chile reisen kann?

(Beifall des Abg. Dr. Michael Luther [CDU/ CSU])

Unsere Gerichte sind unabhängig. Ihnen darf und kann niemand hineinreden, ob es uns gefällt oder nicht. Der eine mag mit Stolz an den traditionellen Spruch denken „Es gibt noch Richter in Berlin", und der andere mag nur mit Ingrimm diese Rechtsentscheidungen zur Kenntnis nehmen. Zu akzeptieren hat sie jedermann.
Mir liegt nur die Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs vor. Bei allem Respekt wird man gleichwohl fragen dürfen: Erstens. Wieso setzen sich die Berliner Verfassungsrichter nicht mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 1979 auseinander, nach der sich damals die Einstellung des Verfahrens deswegen rechtfertigte, weil die Gefahr bestand, daß durch den Prozeß der Tod des Angeklagten, nämlich wegen dessen überhohen Blutdrucks, hätte herbeigeführt werden können? Im Berliner Verfahren bestand allein die Gefahr, daß i m V erlauf des Prozesses, also nicht durch ihn, der Tod eintreten könnte.
Zweitens. Rechtfertigen es Prognosen bei dem Vorwurf des elffachen Totschlages, den Prozeß endgültig mit der Folge einzustellen, daß der Haftbefehl aufgehoben werden muß und der Angeklagte außer Landes reisen kann, was für viele einem verdeckten Freispruch gleichkommt? Hätte nicht bei der Unsicherheit der Prognose zur Dauer des Strafverfahrens und bei der Unsicherheit über den Verlauf der Krankheit im



Dr. Hans de With
Verhältnis zur Schwere des Vorwurfs vielmehr lediglich einstweilige Verhandlungsunfähigkeit angenommen werden müssen

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Sehr richtig!)

mit der Folge, daß das Verfahren nur vorläufig einzustellen gewesen wäre und damit der Haftbefehl hätte lediglich außer Vollzug gesetzt und nicht aufgehoben werden müssen?

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Eine sehr berechtigte Frage!)

Das aber hätte bedeutet, daß der Angeklagte zwar auch auf freien Fuß hätte gesetzt werden müssen, aber mit der möglichen Folge, daß er die Bundesrepublik nicht verlassen darf.
Drittens. Es muß generell auch mit Nachdruck gefragt werden, ob es in Fällen wie dem vorliegenden nicht rechtsstaatlicher ist, auf ein kürzeres und rascheres Verfahren hinzuwirken, in dem nur über die Sachverhalte verhandelt wird, bei denen in angemessener Zeit entschieden werden kann. Unsere Prozesse dauern einfach zu lange.
Es steht außer Streit, daß bei jeder Entscheidung, wie schwer der Vorwurf auch sein mag, die Würde des Menschen nicht verletzt werden darf. Es steht ferner außer Streit — um es noch einmal zu sagen —, daß in Gerichtsverfahren nicht hineinregiert werden darf. Es sollte aber auch außer Streit stehen, daß in einem Fall wie diesem — und Recht wird im Namen des Volkes gesprochen — nachhaltig überdacht werden sollte, wie für den Normalbürger nachvollziehbarer und verständlicher geurteilt werden kann. Das geht uns alle an.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213425900
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1213426000
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was der normale Bürger denkt, wird heute gesetzlich klargestellt: Straftaten, die aus politischen Gründen durch das SED-Regime in der DDR nicht verfolgt wurden, können nicht deswegen verjährt sein, weil die DDR- Justiz sie nicht verfolgt hat oder weil sie eventuell durch die bundesdeutsche Justiz hätten verfolgt werden können. Ursachen und Notwendigkeit eines solchen Gesetzgebungsverfahrens ergaben sich aus divergierenden, zum Teil völlig konträren Entscheidungen der Gerichte zur verjährungsrechtlichen Behandlung solcher Straftaten.
Vor diesem Hintergrund hat der Rechtsausschuß nahezu einvernehmlich gesetzgeberischen Handlungsbedarf bejaht. Grundlage des Beratungsverfahrens war eine über den Bundesrat eingebrachte Gesetzesinitiative der neuen Länder. In Art. 1 dieses Gesetzes wird deklaratorisch festgestellt, daß bei Straftaten, „die während der Herrschaft des SED- Unrechtsregimes begangen wurden, aber entsprechend dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen
der Staats- und Parteiführung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden sind", die Verjährung bis zum 2. Oktober 1990 geruht hat.
Der Bundesrat war bemüht, in einem weiteren Paragraphen zu diesem Artikel eine Klarstellung zu erreichen. Ähnlich der Verfahrensweise im Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz versuchte man, eine Liste von besonders in Betracht kommenden Verbrechen und Vergehen zusammenzustellen. Die Aufzählung enthält ausnahmslos Fälle, bei denen die Taten selber politisch motiviert waren. Entscheidend für das Ruhen der Verjährung ist jedoch, daß die Tat aus politischen Gründen nicht verfolgt wurde. Das könnte für jede strafbare Handlung laut Strafgesetzbuch zutreffen. Deshalb schaffte diese Aufzählung des Gesetzentwurfes des Bundesrats keine Klarheit und wurde mehrheitlich vom Rechtsausschuß aus der Gesetzesvorlage entfernt.
Am kontroversesten wurde der Art. 2 des Gesetzentwurfes diskutiert. Hier wird festgestellt, daß das Ruhen der Verjährung auch für Taten gilt, für die „vor dem Wirksamwerden des Beitritts auch das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat". Für die Verfolgung solcher Straftaten galt nicht nur bundesdeutsches Strafrecht, sondern es galt auch DDR- Strafrecht, welches eben aus politischen Gründen nicht zur Anwendung kam. Unter dem Blickwinkel des DDR-Strafrechts hat die Strafbarkeit einer solchen Tat nicht geruht.
Ein Rückwirkungsverbot für diesen Artikel würde demzufolge bedeuten, daß der Straftäter darauf hätte vertrauen können, daß die deutsche Einheit kommt und daß nach der Einheit Deutschlands für ihn auch das bundesdeutsche Strafrecht gegolten hätte und die Straftat somit verjährt wäre. Ich glaube, das ist eine sehr makabre Überlegung. Deswegen kann nicht davon gesprochen werden, daß ein Vertrauenstatbestand in bezug auf die bundesdeutsche Gesetzgebung für den Straftäter in der DDR gegeben ist. Daher sehe ich auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
So wichtig dieses Gesetz für die neuen Länder ist, so bedrückt muß ich jedoch gleichzeitig feststellen, daß der Oberganove der DDR, offensichtlich in bedeutendem Maße für eine Menge politischen Unrechts verantwortlich, scheinbar geschützt durch den Rechtsstaat in die Freiheit entlassen wurde. Das ist kein Erfolg. Nein, das ist aus meiner Sicht eine Blamage für den Rechtsstaat.
Die Bürger in meinem Wahlkreis fragen mich immer wieder, wieso Mauerschützenprozesse geführt werden und die Verantwortlichen dieses Systems unbescholten bleiben. Ich vertraute darauf, daß diese Prozesse, auch wenn sie langwierig sind, geführt werden. Leider bekommt damit jedes Vorgehen gegen Unrecht aus der Vergangenheit, jeder Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen, einen sehr faden Beigeschmack,
Danke.

(Beifall bei der F.D.P.).





Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213426100
Nächster Redner ist unser Kollege Jörg van Essen.

Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1213426200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich meine Rede beginne, möchte ich dem Kollegen de With für seine wirklich bemerkenswerten Ausführungen danken. Die Fragen, die Sie aufgeworfen haben, sind mehr als berechtigt. Deshalb habe ich mich über Ihre Rede außerordentlich gefreut. Noch einmal herzlichen Dank.
Bereits bei der ersten Lesung habe ich deutlich gemacht, daß die F.D.P.-Fraktion voll hinter der Zielsetzung des heute zu verabschiedenden Gesetzes steht. Daran hat sich in den Beratungen nichts geändert.
Zu einer Änderung der Beurteilung könnte aber — das ist schon von meinen beiden Vorrednern angesprochen worden — die Entlassung Erich Honeckers aus der Untersuchungshaft führen. Sie hat die alte Debatte neu belebt, ob bei der notwendigen strafrechtlichen Aufarbeitung einer Diktatur nur die Kleinen gehängt werden, während man die Großen laufen läßt. Tragen wir durch dieses Gesetz nicht dazu bei, die Verfolgung der Kleinen juristisch noch perfekter zu gestalten, während einer der Hauptakteure den schönen chilenischen Sommer genießt?

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Aber er genießt ihn doch nicht! Der Mann ist todkrank, und Sie machen Ihre Scherze!)

— Herr Kollege, ich mache keine Scherze. Ich weise diesen Vorwurf mit Nachdruck zurück. Ich halte es für eine Beleidigung, was Sie gerade gesagt haben.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: „Den Sommer genießt"! Der Mann wird in diesem Sommer tot sein! — Zuruf von der CDU/CSU: Abwarten!)

— Ich halte den Vorwurf. das sage ich mit Nachdruck — für nicht berechtigt.

(Zustimmung bei der CDU/CSU)

Durch die Strafgerichte wird das Fehlverhalten eines einzelnen Menschen beurteilt und gegebenenfalls geahndet. Es ist zu Recht nicht Strafbarkeitsvoraussetzung, daß alle Beteiligten an einer Tat verurteilt werden. Schuld ist individuell. Trotz des von Honekker und anderen zu verantwortenden Schießbefehls hat es z. B. sehr unterschiedliches Verhalten der Grenzsoldaten gegeben: vom Vorbeischießen bis zur nachträglichen Ermordung eines bereits gestellten Flüchtlings. Durch die von uns vorgenommene Klarstellung besteht Rechtssicherheit für die Justiz bei der notwendigen strafrechtlichen Beurteilung des einzelnen und seiner Schuld.
Die heutige Debatte ist aber auch ein Beispiel für die vielen rechtlichen Unsicherheiten, zu denen die notwendige spätere strafrechtliche Aufarbeitung einer Diktatur führt. Wir werden ähnliche Probleme bei den ungeheuerlichen Verbrechen erleben, die tagtäglich in Bosnien-Herzegowina geschehen und ebenfalls nicht verfolgt werden. Wir brauchen - das hat sich gezeigt — ein internationales Strafrecht mit Verjährungsregelungen, die die nachträgliche Aufarbeitung
dort gestatten, wo eine rechtsstaatliche Strafrechtspflege nicht geschieht.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD])

Fachliche Anmerkungen kann ich mir sparen, nachdem dies vom Kollegen de With in der gewohnten Sorgfalt geschehen ist.

(Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg)

Unsere Debatte — ich wiederhole dies — ist das notwendige Signal. Der Rechtsfriede in unserem Land darf keine zusätzliche Belastung dadurch erfahren, daß SED-Unrecht nicht wirkungsvoll verfolgt werden kann.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213426300
Das Wort erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Professor Heuer.

Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS):
Rede ID: ID1213426400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rechtsausschuß hat am 9. Dezember 1992 eine Anhörung zu dem Gesetzentwurf durchgeführt. In dieser Anhöhrung lehnte von den beiden Verfassungsrechtlern Bodo Pieroth die Vorlage strikt ab. Insbesondere könne die Rechtsprechung zum NS-Staat nicht übertragen werden. Die Bestrafung bereits verjährter Straftaten sei verfassungswidrig. Michael Bothe warf die Frage auf, wieweit nach DDR-Recht schützenswertes Vertrauen entstanden sein könnte.
Ich möchte schließlich noch auf die Tatsache hinweisen, daß die Regelung des Art. 315a Satz 1 EGStGB, Einigungsvertrag, eindeutig davon ausging, daß eine bereits eingetretene Verjährung fortbestehe. Es wird hier die Praxis fortgesetzt, Regelungen des Einigungsvertrages, die man damals nicht durchsetzen konnte, jetzt zu korrigieren. Für gänzlich absurd halte ich schließlich Art. 2. Ich staune über die Kühnheit, mit der hier mit Verfassungsprinzipien umgesprungen wird. Ich muß offen sagen: Sie erinnert mich an Verhaltensweisen, die ich in der DDR kennengelernt habe.
Offenbar soll der Kurs der Abrechnung mit der DDR fortgesetzt werden. Herr Schaefgen hatte in der Anhörung der Enquete-Kommission am 29. September von einer fünf- oder sechsstelligen Zahl von Ermittlungsverfahren gesprochen. Diese Zahl der Ermittlungsverfahren wird jetzt ohne jede Not verdoppelt. Nach diesem Gesetz soll es möglich, ja nach dem Legalitätsprinzip sogar notwendig sein, den Richter, der 1950 einen bundesdeutschen Spion verurteilt hat — es geht auch um Spione, meine Herren —, vor Gericht zu stellen, ebenso den Polizisten, der ihn festgenommen, und den informellen Mitarbeiter des MfS, der über ihn berichtet hat.
Worin sehe ich die Gefahr dieser rechtspolitischen Linie? Eine gefährliche Auswirkung liegt in der Stärkung des Rechtsradikalismus. Sie alle wissen, wie schwierig es für viele im Osten ist, mit den neuen



Dr. Uwe-Jens Heuer
Verhältnissen fertigzuwerden. Indem sie ihrer Vergangenheit beraubt werden, indem Tag für Tag der Sozialismusversuch im Osten diskreditiert wird, bietet sich vielen scheinbar nur noch der Ausweg nach rechts. Gab es in der DDR verordneten Antifaschismus, war dieser Antifaschismus nichts wert, dann bleibt als Ausweg für viele Niedergedrückte und Verzweifelte der Rechtsradikalismus. Die DDR hatte Globke und Filbinger immer bekämpft. Sie hatte die Verurteilung Ossietzkys und die Wiedereinsetzung der Nazirichter kritisiert. Die DDR war schlecht, also waren ihre Gegner gut. In dieselbe Richtung wirkt die nationalistische Kampagne gegen Art. 16 des Grundgesetzes.
Ich darf Ihnen ein Dokument vortragen, das zeigt, wie weit heute rechtes Denken schon geht:
Besonders kränkend wird die Mißachtung für die ungeheure Arbeits- und Aufbauleistung in Mitteldeutschland durch den westdeutschen linksintellektuellen Snobismus empfunden, der die hart errungenen Ergebnisse unserer ehrlichen deutschen Arbeit als minderwertig und aus der Sicht früherer deutscher Eigentümer und deren Erben sogar noch als Unrecht diffamiert.
Es sei uns . . .
als durch 40 Jahre kommunistische Knechtschaft ungebrochene aufrechte Deutsche wirklich unverständlich und verräterisch, ... wenn kriminellen Asylbetrügern mehr Aufmerksamkeit, Verständnis und Herzenswärme entgegengebracht wird als den eigenen deutschen Volksgenossen. ... Einfach unverständlich sind für uns diese rheinisch-alemannischen Mitteleuropäer, die gemeinsam mit den früheren Feindnationen auf die deutsche Ehre, die deutsche Größe, das deutsche Volksempfinden herabblicken und dem gesunden Nationalstolz unserer europäischen Nachbarn nichts auch nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen haben.
Ich glaube, daß solchen Positionen — es handelt sich hier um eine Ausarbeitung unseres Kollegen Rudolf Krause aus Sachsen-Anhalt, CDU, vom 23. November 1992 — eine gemeinsame Position von Demokraten entgegengesetzt werden muß, zu denen Sie auch die aus der DDR kommenden demokratischen Sozialisten zählen sollten.
Danke schön.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213426500
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Horst Eylmann das Wort.

Horst Eylmann (CDU):
Rede ID: ID1213426600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Professor Heuer, nach dem Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofs, mögen die Richter nun geirrt haben oder nicht, ist es völlig absurd, die bundesdeutsche Justiz mit der Justizwirklichkeit in der DDR auch nur im entferntesten gleichzusetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD])

Zum zweiten Male innerhalb eines Zeitraums von 40 Jahren stehen wir in Deutschland vor der Aufgabe, die Folgen eines Unrechtsregimes so aufzuarbeiten, daß elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Erneut tun wir uns schwer damit.
Straftaten verjähren, nicht weil mit der Zeit die Schuld schwindet, wohl aber Sinn und Zweck des Strafens. Anders verhält es sich, wenn Straftaten kraft Gesetzes zeitweise nicht verfolgt werden; die Verjährung ruht dann.
Nach dem Ende des NS-Regimes haben die Gerichte alsbald das Ruhen der Verjährung für solche Straftaten angenommen, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht verfolgt wurden, weil dem der als Gesetz geltende Führerwille entgegenstand. Im real existierenden Sozialismus wurde gleichermaßen aus politischen Gründen gegen bestimmte Straftaten nicht vorgegangen. Es bestand deshalb kein Grund, hier in der Verjährungsfrage unterschiedlich zu verfahren. Darüber hat es von Beginn an einen breiten Konsens gegeben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.] Wer nun allerdings glaubte, damit sei juristisch alles im Lot, hatte die Rechnung ohne die Feinheiten des bundesdeutschen interlokalen Strafrechts gemacht. Zwar war die DDR auch nach dem Abschluß des Grundlagenvertrages 1972 für die Bundesrepublik kein Ausland, wurde aber so behandelt, wenn es um die räumlichen Grenzen des bundesdeutschen Strafrechts ging. Nach der Begründung des Bundesgerichtshofs reichte sein Geltungsbereich nicht weiter als die bundesdeutsche Staatsgewalt. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Wenn Strafvorschriften wie bei den Tatbeständen der Verschleppung und politischen Verdächtigung gerade den Zweck hätten, Bürger der DDR zu schützen, seien sie, so schlossen die Karlsruher Richter messerscharf, auch dort anzuwenden. Gegen die alte Weisheit, daß die Nürnberger keinen hängen, sie hätten ihn denn, kam allerdings auch diese Spruchpraxis nicht an. Nur in wenigen Fällen konnte man derartige Straftäter aus der DDR fassen. Man könnte es als eine Ironie der Geschichte auffassen, daß die eigentliche Wirksamkeit dieser gut gemeinten, wenngleich weitgehend wirkungslosen Rechtsprechung erst nach der Wiedervereinigung einzutreten drohte. Sie diente nämlich zur Begründung dafür, daß gerade die politische Verdächtigung, die mit ihren vielfach schlimmen Folgen in der DDR gang und gäbe war, durchaus verjähren konnte; denn — so meinten einige Gerichte in der Bundesrepublik habe der politische Wille zur Strafverfolgung nicht gefehlt, und deshalb habe die Verjährung auch nicht geruht. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie aus einer eher kärglichen Wohltat eine schier unerträgliche Plage werden kann. Wir korrigieren mit dem heutigen Gesetz dieses jedem Gerechtigkeitssinn widersprechende Ergebnis. Wir sind nach sorgfältiger Prüfung der Auffassung, daß wir damit nicht gegen die Verfassung verstoßen. Meine Vorredner haben dazu das Notwendige gesagt. Statt dessen will ich noch einige Worte Horst Eylmann über den doch recht mühsamen Weg zu diesem Gesetz verlieren. Das Bundesjustizministerium hat sich von Anfang an auf die Seite derer geschlagen, die meinten, in den von mir geschilderten Fällen sei Verjährung eingetreten. Daß man im Regelfalle die Täter in der DDR von der Bundesrepublik nicht habe fassen können, sei juristisch unbeachtlich. Es komme schließlich auch vor, daß sich bundesdeutsche Täter ins Ausland absetzten und dort untertauchten. Trotzdem trete Verjährung ein. Ich kritisiere nicht, meine Damen und Herren, daß man durch eine streng logische juristische Deduktion zu diesem Ergebnis kommen kann. Allerdings habe ich in meiner juristischen Ausbildung gelernt, daß man das so gefundene Ergebnis immer noch einmal daraufhin überprüfen muß, ob es auch elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit entspricht. Das war hier nicht der Fall. Es hat mich schon gestört, daß man darüber vielfach achselzuckend hinweggegangen ist und nicht die nötige juristische Phantasie aufgewandt hat, um zu einem wirklich gerechten Ergebnis zu kommen. Das normative Geflecht unseres Rechtsstaats, weitgehend unübersichtlich geworden, wird häufig überhaupt nicht mehr hinterfragt, welchen Werten und schützenswerten Rechten und Interessen es denn zu dienen bestimmt ist. Gerade für unsere Landsleute in den neuen Ländern ist es aber wichtig, den Sinn dieser Regeln deutlich zu machen. Im vorliegenden Fall war die Frage zu stellen: Durfte ein vom SED-Unrechtsregime geschützter Denunziant darauf vertrauen, daß seine Straftat verjährte, weil sein Handeln auch nach bundesdeutschen Gesetzen strafbar war, und ist dieses Vertrauen, wenn es denn überhaupt vorhanden war, schutzwürdig? Diese Fragen sind zu selten gestellt worden. Auch das BMJ hat sich in dieser Frage eher verhalten wie jener berühmte Jagdhund, der zur Jagd getragen werden mußte. Der Palamentarische Staatssekretär hat gleich Gelegenheit, dazu einen Kontrapunkt zu setzen. Aber daß dieses Gesetz heute verabschiedet wird, ist ein Verdienst des Bundesrates und des Bundestages. Die strafrechtliche Aufarbeitung des SED-Regimes ist schwierig. Sie muß notwendigerweise unbefriedigend bleiben, weil politisches Unrecht nicht notwendigerweise auch kriminelles Unrecht ist. Allerdings verliert andererseits kriminelles Unrecht diese Eigenschaft nicht, weil es auch politisches Unrecht ist. Das heutige Gesetz ermöglicht es unseren Gerichten, vor der schwierigen Aufgabe, zwischen krimineller und politischer Schuld zu unterscheiden, nicht schon deshalb kapitulieren zu müssen, weil Verjährung eingetreten ist. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD])





(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213426700
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Rainer Funke das Wort.

Rainer Funke (FDP):
Rede ID: ID1213426800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs des Bundesrates zur Verjährung von SED-Unrechtstaten wird eines der schwierigsten Probleme im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung des Unrechtsstaats DDR aufgegriffen. Das SED-Regime hat über 40 Jahre lang die Menschen in der ehemaligen DDR bevormundet, bespitzelt, drangsaliert. Nach außen hin hat sich diese Regierung den Anschein eines demokratischen Rechtsstaats gegeben, aber in Wirklichkeit handelte es sich um ein Unterdrückungsregime, in dem die elementarsten Menschenrechte mißachtet wurden.
Das Ausmaß dieser Gewaltherrschaft ist geradezu unglaublich. Beinahe täglich werden neue Unrechtstaten bekannt, auch im Zusammenhang mit der Aufdeckung und Durcharbeitung der Stasi-Akten. So hat es an der innerdeutschen Grenze, aber auch anderswo sehr viel mehr Todesfälle gegeben, als wir ursprünglich geglaubt haben.
Die Menschen in den fünf neuen Bundesländern, die Jahrzehnte unter der SED-Diktatur gelitten haben, erwarten von dem Rechtsstaat, daß die Verantwortlichen für diese Unrechtstaten nunmehr, da das SED-Regime im Wege einer friedlichen Revolution beseitigt wurde, auch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

(Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Sie erwarten vor allem Arbeit!)

Viele der Taten, die während der SED-Diktatur begangen wurden, liegen zum Teil sehr lange zurück. Wir können jedoch davon ausgehen, daß bei Straftaten, die aus politischen Gründen von den zuständigen Stellen in der ehemaligen DDR nicht verfolgt wurden, eine Verjährung nicht eingetreten ist. Die Verjährung hat vielmehr entsprechend den von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs zum nationalsozialistischen Unrecht entwickelten Grundsätzen während der Zeit der kommunistischen Diktatur geruht. Diese Auffassung wurde von der Bundesregierung, Herr Kollege Eylmann, zu Recht in der Vergangenheit bereits mehrfach geäußert. Auch die Justizminister und -senatoren der Länder haben auf ihrer Herbstkonferenz im Jahr 1991 einen entsprechenden Beschluß gefaßt.
Was den heute zur zweiten und dritten Lesung anstehenden Gesetzentwurf des Bundesrates angeht, so hat die Bundesregierung stets betont, daß sie sein Grundanliegen, nämlich das Ruhen der Verjährung von SED-Unrechtstaten deklaratorisch festzuschreiben, unterstützt. Zwar entspricht das Ruhen der Verjährung bereits der geltenden Rechtslage; um eine einheitliche Rechtsanwendung durch die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte sicherzustellen, erscheint eine gesetzliche Klarstellung aber sinnvoll. Wir haben an Hand der Rechtsprechung feststellen müssen, daß hier eine Klarstellung durchaus sinnvoll sein kann.



Parl. Staatssekretär Rainer Funke
Gemäß dem Beschluß des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 9. Dezember 1992 soll der vorliegende Gesetzentwurf die Bezeichnung „Entwurf eines Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SED-Unrechtstaten" erhalten. Weiter soll Art. 1 § 2 des Entwurfs, der beispielsweise einen Katalog von aus politischen Gründen in der ehemaligen DDR nicht verfolgten Unrechtstaten enthält, gestrichen werden.
Der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages ist insoweit Anregungen der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf gefolgt. Es ist der ganz natürliche Gang der Beratungen, Herr Kollege Eylmann, daß auch wir als Bundesregierung gelegentlich klüger werden und den Anregungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages folgen können.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wieso nur „gelegentlich"?)

Wir sind meiner Meinung nach zu einem recht guten Gesetz gekommen, weil in der Beratung von beiden Seiten das Richtige gefunden worden ist.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Hans de With [SPD])


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213426900
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich kann also die Aussprache schließen.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Verjährung von SED-Unrechtstaten auf den Drucksachen 12/3080 und 12/4140. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in der zweiten Lesung gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste angenommen.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist der Gesetzentwurf in der dritten Lesung mit dem gleichen Stimmverhältnis angenommen,
Unter den Nrn. 2 und 3 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4140 empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2332 und den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2132 für erledigt zu erklären. Wer der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist bei Enthaltung der PDS/Linke Liste dieser Beschlußempfehlung zugestimmt worden.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 a bis o und den Zusatzpunkt 5 auf:
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Notenwechseln vom 25. September 1990 und vom 23. September 1991 über die Rechtsstellung der in Deutschland stationierten verbündeten Streitkräfte und zu dem Übereinkommen vom 25. September 1990 zur Regelung bestimmter Fragen in bezug auf Berlin
— Drucksache 12/4021 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 24. März 1992 über den Offenen Himmel
— Drucksache 12/4074 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
— Drucksache 12/4022 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend)

Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
— Drucksache 12/4072 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Dezember 1991 über eine Zusammenarbeit und eine Zollunion zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik San Marino
— Drucksache 12/4073 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. April 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Argentinischen Republik über die

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Förderung und den gegenseitigen Schutzvon Kapitalanlagen
— Drucksache 12/4075 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Ukraine über die Binnenschiffahrt
— Drucksache 12/4081 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr

(Investitionserleichterungs und Wohnbaulandgesetz)

— Drucksache 12/4047 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend)

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (1.mb)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1979 über die Anerkennung von Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Staaten der europäischen Region
— Drucksache 12/4077 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft EG-Ausschuß
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen
— Drucksache 12/4071 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 27. November 1990 über den Beitritt der Italienischen Republik, vom 25. Juni 1991 über den Beitritt des Königreichs Spanien und vom 25. Juni 1991 über den Beitritt der Portugiesischen Republik zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 (Gesetz zu Beitritten zum Schengener Übereinkommen)

— Drucksache 12/3804 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß
EG-Ausschuß
1) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Reichsheimstättengesetzes
— Drucksache 12/3977 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Bachmaier, Dr. Hans de With, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Besserer Schutz vor Kfz-Diebstählen
- Drucksache 12/4023 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß
Ausschuß für Verkehr
n) Beratung des Antrags des Bundesministers für Wirtschaft
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes" — Wirtschaftsjahr 1991 -
- Drucksache 12/4063 —
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
o) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
Deutsche Nuklearexporte in den Irak
— Drucksache 12/1984 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zur langfristigen Verpachtung im Rahmen der Verwertung bisheriger volkseigener Flächen
- Drucksache 12/4103 —
Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten (federführend) Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Regierungsentwurf unter Punkt 3h wird, wie für den textgleichen Gesetzent-



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Wurf Drucksache 12/3944 schon beschlossen, auch dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis j sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
4. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung ,der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 61631— Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit —— Drucksachen 12/3653, 12/3983 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 05 — Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital und am Sonderfonds der Interamerikanischen Entwicklungsbank sowie an der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft —— Drucksachen 12/3490, 12/3984 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Esters Jochen Borchert
Werner Zywitz
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 Titel 836 04 (Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am Kapital der Afrikanischen Entwicklungsbank und am Afrikanischen Entwicklungsfonds)

— Drucksachen 12/3420, 12/3985 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Esters Jochen Borchert
Werner Zywitz
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 60 04 Titel 642 31 — Erstattungen an die Länder nach § 172 des Bundesentschädigungsgesetzes —— Drucksachen 12/3887, 12/4118 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 (Von den EG nicht übernommene Marktordnungsausgaben)

— Drucksachen 12/3886, 12/4119 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid Hoth
Ernst Kastning
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 11 13 Titel 646 11
— Erstattung des Sozialzuschlags für Rentenempfänger in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet —— Drucksachen 12/3888, 12/4120 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Ina Albowitz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 05 Titel 526 04 — Kosten für Sachverständige, Architekten und Spezialingenieure —— Drucksachen 12/3757, 12/4121 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig Thiele
Thea Bock
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Filmarchivierung in der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung des Kinematheksverbundes
— Drucksachen 11/5233, 12/3569 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Joseph-Theodor Blank Freimut Duve
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 84 zu Petitionen
— Drucksache 12/4100 —
j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuß)

Sammelübersicht 85 zu Petitionen — Drucksache 12/4101 —
ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Aufhebbare Sechsundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
— Drucksachen 12/3479, 12/4162 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmid
ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Einhundertneunzehnte Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz —— Drucksachen 12/3278, 12/4163 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Elke Leonhard-Schmid
Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Die Tagesordnungspunkte 4 a bis g: sieben Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1992.
Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die sieben Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 h: Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum Bericht der Bundesregierung zum Stand der Filmarchivierung und zur Entwicklung des Kinematheksverbundes, Drucksache 12/3569. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 i und j: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksachen 12/4100 und 12/4101. Das sind die Sammelübersichten 84 und 85. Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste sind die Beschlußempfehlungen angenommen.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 6 und 7: Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung und der Einfuhrliste, Drucksachen 12/4162 und 12/4163. Wer stimmt diesen Beschlußempfehlungen zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste sind die Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Wahl der Mitglieder für den Verwaltungsrat der Filmförderungsanstalt
— Drucksache 12/4161 —
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/4161 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —
Enthaltungen? — Bei Enthaltung der PDS/Linke Liste ist diesem Vorschlag zugestimmt worden.
Damit sind die Kollegen Albert Probst, Ulrike Mascher und Uta Würfel als Mitglieder des Verwaltungsrats und die Kollegen Klaus Daweke, Dr. Konrad Elmer und Ina Albowitz als Stellvertreter gewählt.
Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Lieselott Blunck (Uetersen), Hans Gottfried Bernrath, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einsatz der Gentechnik und anderer neuartiger biotechnologischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion
— Drucksache 12/3463 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit (federführend)

Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
EG -Ausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Ich kann also die Debatte eröffnen und zunächst der Abgeordneten Frau Lilo Blunck das Wort erteilen. Frau Abgeordnete, bitte.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1213427000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa — Paradies für die Verbraucher. Der gemeinsame Tisch wird gedeckt mit Käse aus Frankreich, mit Brot und Bier aus Deutschland, mit Tomaten aus Spanien, mit Nudeln aus Italien, mit Speck aus Dänemark, mit Lachs aus Schottland. Schlemmen ist angesagt, alles frisch auf den Tisch, ohne Belastung für Natur und Organismus, alles nach dem Reinheitsgebot.
Das ist der Traum. Um diesen Traum Realität werden zu lassen, sollten wir alle gemeinsam arbeiten. Sind wir nämlich nicht erfolgreich, dann könnte es auf dem europäischen Tisch bald so aussehen: Käse und Milch, die nie eine Kuh gesehen haben, Brot und Brötchen, bei denen der Bäcker um die Ecke nicht genau sagen kann, aus welchen und wie vielen Chemiebestandteilen sie zusammengesetzt sind, mit gefärbten grellroten Würstchen — bislang in Deutschland verboten —, mit bestrahlten Früchten, die wunderschön anzusehen sind und superlang frisch wirken, mit gentechnisch hergestellter Nahrung mit Farbstoffen und unendlich vielen Zusatz- und Konservierungsstoffen.
Was irgendwo in Europa irgend jemandem auf den Markt zu bringen gelungen ist, bekommt allen Europäern. So einfach ist die Logik und für die Industrie auch akzeptabel, frei nach dem Motto: aus dem Labor fast — so möchte man sagen — frisch auf den Tisch.
Das ist höchst bedenklich und gefährlich für den Verbraucher, weil die Risiken weder für die Gesundheit noch für die Umwelt geklärt sind und auch die



Lieselott Blunck (Uetersen)

vorhandenen gesetzlichen Regelungen eben keinen ausreichenden Schutz bieten.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun werden biotechnologische Verfahren schon seit Jahrhunderten zur Herstellung von Lebensmitteln eingesetzt. Joghurt, Sauerkraut, Salami, Bier — überall sind natürliche Helfer im Spiel. Aber mit den neuartigen biotechnologischen Verfahren, vor allem mit der Gentechnik, wird eine neue Qualität erreicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Eine bessere!)

Es kann eben gezielt in das Erbgut eingegriffen werden, selbst über Artgrenzen hinweg.
Gegenwärtig können wir die Auswirkungen für Mensch und Natur kaum abschätzen. Deshalb sind sehr hohe Sicherheitsstandards einfach unerläßlich.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Reparatur ist nämlich teuer, und außerdem ist fraglich, ob sie überhaupt möglich ist. Deswegen bedarf es der Vorsorge — man muß sorgen, bevor etwas passiert — und der Verhütung von Schaden.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber Nichtstun ist keine Vorsorge!)

Um ein Gerücht aus der Welt zu schaffen und ein Vorurteil, das immer wieder genährt wird, auszumerzen: Die SPD ist weder technikfeindlich, noch ist sie fortschrittsfeindlich.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Sie ist beides!)

Wir lehnen neuartige biotechnologische Verfahren nicht schlankweg ab. Wir sehen durchaus die erheblichen gesundheitlichen Risiken und Umweltgefährdungen durch die traditionellen Produktionsmethoden. Es könnte ja durchaus sein, daß neue Biotechnologien Wege für eine gesundheits- und umweltverträgliche Lebensmittelerzeugung eröffnen.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das muß die Hoffnung sein!)

Aber das kann eben kein Freibrief sein, sondern das ist immer eine Verpflichtung für Politiker und auch für Anbieter, Vor- und Nachteile für den Verbraucher — und nicht nur für die Industrie — sorgfältig abzuwägen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Ziel wird weder durch die deutschen Regelungen noch durch den vorgelegten Entwurf der EG-Verordnung für neuartige Lebensmittel erreicht. Dazu muß mindestens folgendes nachgebessert werden.
Erstens. Der Hersteller muß für sein Produkt verantwortlich und haftbar gemacht werden.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Der Geltungsbereich der geplanten EG- Regelung muß alle Lebensmittel und ihre Bestandteile
umfassen, die mit Hife gentechnischer und sonstiger neuartiger biotechnologischer Verfahren hergestellt werden.
Drittens. Wir brauchen ein offenes und öffentliches Zulassungsverfahren. Ich denke, das ist auch im Sinne der Industrie. Es wird nämlich nur das akzeptiert, was man auch nachvollziehen kann, bei dem man nicht den Eindruck hat, daß im dunklen Kämmerlein gemauschelt wird.
Ich muß sagen: Es ist wirklich schlimm, wenn es von der CDU/CSU eine Pressemitteilung gibt

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist keine Pressemitteilung!)

— das ist eine Pressemitteilung der CDU/CSU —,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist eine dpa-Mitteilung!)

in der steht, man dürfe den Einsatz der Gentechnik nicht kennzeichnen. Wo sind wir denn eigentlich? Das ist ein Gefälligkeitsattest. Das richtet aber langfristig für die Industrie mehr Schaden an, als es nutzt.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist eine dpaMeldung!)

Viertens. Es muß verbindlich eine Sicherheitsüberprüfung vorgeschrieben werden. Diese muß ausreichend und umfassend sein. Bei den geringsten Bedenken muß es eher einen Verzicht auf neuartige Produkte geben als eine übereilte Zulassung,

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

nach dem abgewandelten alten Rechtsgrundsatz: im Zweifel für den Verbraucher. Der Schutz von Mensch und Umwelt muß Vorrang erhalten vor wirtschaftlichen Interessen und dem freien Warenverkehr.
Fünftens. Wir brauchen eine eindeutige, konsequente Kennzeichnung, und zwar nicht allein unter gesundheitlichen Aspekten, sondern wir müssen auch denjenigen eine Auswahlmöglichkeit garantieren, die aus ethischen Gründen die neuartigen Lebensmittel ablehnen. Ich denke, das ist in unserer liberalen und freiheitlichen Gesellschaftsordnung an der Tagesordnung, und wir sind geradezu verpflichtet, es so zu machen.
Wem diese Anforderungen als zu hoch oder gar überzogen erscheinen, der darf nicht vergessen, daß wir Nahrungsmittel tagtäglich, unser Leben lang, zu uns nehmen. Gerade bei der Nahrung sind daher besonders hohe Maßstäbe an die Sicherheit zu legen. Wir dürfen nicht zurückfallen hinter die Standards für vergleichbare Produkte wie Arzneimittel und Zusatzstoffe. Lebensmittel sind im wahrsten Sinne des Wortes Mittel zum Leben.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Also dürfen sie uns nicht schmekken!)

Europa hält uns einen üppig gedeckten Tisch bereit. Wenn wir uns auch in Zukunft noch mit Genuß an diesen Tisch setzen wollen, müssen wir jetzt handeln; sonst verschlägt es uns eines guten Tages den Appetit.



Lieselott Blunck (Uetersen)

Das wäre nicht nur schlecht für unseren Magen, unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, sondern würde uns auch die Freude an und auf Europa verderben — und das wollen wir doch alle miteinander nicht.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213427100
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das Wort.

Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1213427200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, zunächst muß man zur aktuellen Lage sagen, daß es bisher, Frau Kollegin Blunck, auf dem bundesdeutschen Markt noch keine Lebensmittel gibt, die gentechnisch veränderte Organismen beinhalten.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Sind Sie da so sicher?)

Bisher ist auch beim zuständigen Bundesgesundheitsamt noch kein Antrag auf Genehmigung des Inverkehrbringens solcher Lebensmittel gestellt worden.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!)

Natürlich muß man die rasche Entwicklung auf diesem Sektor zur Kenntnis nehmen. Deshalb wird es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es auch in der Bundesrepublik Deutschland „High-Tech-Käse", die „stoßfeste Tomate" oder Mayonnaise aus dem Genlabor auf dem Markt geben wird.

(Horst Kubatschka [SPD]: Und das wollen Sie essen?)

Die Möglichkeit, solche Lebensmittelprodukte herzustellen, ist Realität. Die „stoßfeste Tomate", die ja monatelang haltbar sein soll, war in Amerika sogar bereits zugelassen, ist allerdings vom Hersteller inzwischen wieder zurückgenommen worden. Der Grund: die mangelnde Akzeptanz des Verbrauchers.
Nun haben wir gerade ein Beispiel dafür erlebt, daß dieses Thema sehr emotional diskutiert wird und daß auch die Verbraucher kritisch über solche biotechnisch veränderten Lebensmittel urteilen.
In der Tat möchte ich, bevor ich auf die EG- Regelung zu sprechen komme, doch auch die Frage stellen, gerade in einer Überflußgesellschaft: Wie sinnvoll ist eigentlich der Einsatz der Gentechnik neben der Medizin auch im Lebensmittelbereich? Brauchen wir monatelang haltbare Tomaten? Brauchen wir die „Superkartoffel"? Und welche Auswirkungen haben solche Produkte auf die Gesundheit oder die Umwelt?
Klar ist: Die Forschung verspricht sich auch im Lebensmittelbereich von der Gentechnik vieles. Eine der ganz großen Hoffnungen ist es z. B., das Welternährungsproblem in den Griff zu bekommen. Eine weitere Hoffnung liegt darin, schädlingsresistente Pflanzen züchten zu können, um etwa auf den Einsatz bestimmter Chemikalien verzichten zu können. Gerade als Gesundheitsminister verbinde ich mit der Biotechnologie auch Hoffnungen, daß mit der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung eine Erhöhung
der Lebensmittelqualität und der Lebensmittelhygiene verbunden werden kann.
Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß die Anwendung der Gentechnologie bei der Herstellung von Lebensmitteln Risiken aufweisen kann, z. B. toxische Wirkungen der von gentechnisch veränderten Organismen gebildeten Stoffe.
Dies alles zeigt — und da möchte ich immer wieder appellieren —, daß wir bei der Lebensmitteltechnologie weder verherrlichen dürfen noch verteufeln dürfen. Wir sollten vielmehr bei diesem zukunftsträchtigen Thema zwischen Schaden und Risiken sachlich abwägen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Für die Bundesregierung steht fest, daß, wie bisher, beim Einsatz moderner Technologien in der Lebensmittelherstellung und -verarbeitung der oberste Grundsatz gilt — und da haben wir offensichtlich Übereinstimmung —: Eine Gefährdung der Gesundheit und eine Täuschung des Verbrauchers müssen ausgeschlossen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung ist auch der Auffassung, daß es für biotechnisch veränderte Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten geeignete Zulassungsverfahren geben muß, in deren Rahmen auch die Unbedenklichkeit der Produkte geprüft wird. Es muß auch eine gezielte Verbraucherinformation und -aufklärung sowie eine ausreichende Kennzeichnung solcher Produkte geben.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213427300
Herr Minister, gehe ich recht in der Annahme, daß Sie bereit sind, eine Frage der Abgeordneten Blunck zu beantworten?

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber nur eine gute!)


Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1213427400
Natürlich. Bitte.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1213427500
Herr Minister, würden Sie es als Täuschung des Verbrauchers ansehen, wenn, wie in der letzten Fassung der ÖkoVerordnung vom 26. November, das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten offensichtlich einer Formulierung zustimmt, bei der Nahrungsmittel aus gentechnisch modifizierten Organismen plötzlich das Öko-Label bekommen?

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Was?)

— Das Öko-Label, das europäische Öko-Label. Das bedeutet: Es sind Bio-Produkte.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Das ist doch richtig!)


Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1213427600
Ich finde, wenn der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten etwas Richtiges in eine Richt-



Bundesminister Horst Seehofer
linie hineinschreibt, dann ist das keine Täuschung des Verbrauchers.

(Horst Kubatschka [SPD]: Das weiß man doch gar nicht, ob das richtig ist!)

— Doch. Ich komme auf die Kennzeichnung, lieber Herr Kollege, und die Verordnung der EG noch ausreichend zurück.
Ich wollte zunächst den Grundsatz aufstellen, daß wir bei diesem Themenkomplex eine Gefährdung der Gesundheit und eine Täuschung des Verbrauchers ausschließen wollen, daß wir im Grundsatz für ein Zulassungsverfahren sind und daß wir auch für eine geeignete Verbraucherinformation eintreten. Wie sie gestaltet werden könnte, darauf komme ich noch zurück.
Mir liegt nun sehr daran, daß wir deutlich machen, daß wir bereits heute durch das Gentechnikgesetz einen hohen Schutz gewährleisten. Denn der Schutzzweck des Gentechnikgesetzes wird in der Praxis wesentlich stärker verwirklicht als der Förderzweck, der ebenfalls im Gesetz steht, aber in der Praxis weit nachrangig rangiert.
Ich meine — ich sage das hier in aller Deutlichkeit —, daß das Gentechnikgesetz von 1990 strenge Regeln enthält, ja sogar so strenge Regeln, daß wir vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens eine Novelle zu diesem Gentechnikgesetz überlegen müssen, die zu einer administrativen Entschlackung dieses Gesetzes führt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich sehe wenig Sinn darin, wenn wir beispielsweise im Forschungs- oder Produktionsbereich in der Sicherheitsstufe I, wo es per gesetzlicher Definition um Arbeiten und Anlagen geht, bei denen ohne Zweifel keine Gefährdung für Mensch und Umwelt verbunden ist, auch künftig mit unserem heutigen Wissen flächendeckend eine präventive administrative Kontrolle durchführen.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Es geht um Lebensmittel, Herr Fachminister!)

Die Folge wäre, daß in diesem Bereich in der Bundesrepublik Deutschland nichts mehr geschieht, während in anderen Bereichen auf der Welt geforscht, entwikkelt und produziert wird, und wir in der Bundesrepublik Deutschland dann das einführen, was in anderen Ländern produziert wird.

(Beifall bei der CDU/CSU — Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Es geht um Lebensmittel und nicht um Gentechnik!)

Trotzdem bejahe ich den Handlungsbedarf auf EG-Ebene bezüglich dieser Lebensmitteltechnologien.
Wenn man über die EG spricht, dürfen wir nicht ganz vergessen, welchen Sicherheitsstandard wir national beim Gentechnikgesetz schon haben,

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Haben wir nicht! Da ist eine Lücke!)

— Ich bejahe, was das In-Verkehr-Bringen von gentechnisch veränderten Lebensmitteln anbetrifft, den
Handlungsbedarf auf EG-Ebene. Der ist unbestritten.
Deshalb begrüßen wir es, daß sich die EG-Kommission dieses Themas annimmt.
Nun muß man, wenn man beurteilen will, wie das auf EG-Ebene laufen soll, wissen, was die heutigen Überlegungen sind. Auch die EG möchte ein Zulassungsverfahren. Wenn dieses Zulassungsverfahren verwirklicht würde, sähe es vor, daß die EG-Kommission in allen Fällen Herr des Verfahrens ist und daß die Mitgliedstaaten nur sehr begrenzte Mitwirkungsmöglichkeiten hätten. Das wäre einer der wenigen Fälle, vielleicht sogar der erste Fall auf diesem Gebiet, daß in den Mitgliedstaaten bezüglich der Genehmigung solcher Lebensmittel überhaupt keine Zuständigkeit mehr besteht, daß die EG-Kommission Herr des Verfahrens ist und daß die Verfahren zudem sehr extensiv ausgestaltet sind. Es gäbe ein Notifizierungsverfahren und möglicherweise auch ein Genehmigungsverfahren.
Das bedeutet, daß die Kommission in jedem einzelnen Fall unter Beteiligung ihres wissenschaftlichen Ausschusses prüft, ob diese Erzeugnisse unter dem Aspekt des gesundheitlichen Verbraucherschutzes und des Schutzes vor Täuschung genehmigt werden können. Gentechnisch veränderte Produkte werden zusätzlich auf Umweltverträglichkeit und Einhaltung bestimmter Umweltsicherheitsanforderungen geprüft.
Am Ende der Prüfung gibt es nach dieser Verordnung drei Möglichkeiten: Das Produkt wird entweder uneingeschränkt zugelassen, oder es wird mit einer bestimmten Auflage auch hinsichtlich einer Kennzeichnungspflicht zugelassen, oder es gibt ein Vermarktungsverbot. Soweit die jetzigen Überlegungen bezüglich dieser EG-Verordnung.
So sehr ich den Handlungsbedarf auf EG-Ebene bejahe, so große Bedenken habe ich bezüglich einzelner Vorhaben, die derzeit in der Diskussion sind. Diese Verordnung weist meines Erachtens erhebliche Schwachstellen auf.

(Beifall der Abg. Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD] —Horst Kubatschka [SPD]: Welche? — Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Welche bessern Sie nach?)

Ich denke, wir als Abgeordnete sind immer aufgerufen, gerade auf EG-Ebene zuerst die Frage zu stellen: Brauchen wir in diesem Fall überhaupt das Institut der Verordnung?

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Denn das bedeutet, daß die Verordnung in allen Mitgliedsländern anzuwendendes Recht ist,

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Da haben Sie recht!)

und den Mitgliedsländern nicht mehr, wie bei einer Richtlinie, ein Spielraum überlassen bleibt.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Richtig!)

Deshalb wird die Bundesregierung — ich denke, auch mit Unterstützung der Koalition —

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Immer!)




Bundesminister Horst Seehofer
in der EG verschärft die Frage stellen: Warum brauchen wir eine Verordnung? Ist nicht eine Richtlinie mit der Folge, daß den Mitgliedstaaten mehr Spielräume bleiben, ausreichend? Ich würde diesen Automatismus, bloß weil man jetzt über eine Verordnung auf EG-Ebene diskutiert, nicht einfach so mitgehen wollen. Das ist die erste Frage.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Aber der Ministerrat muß überhaupt einen Beschluß fassen!)

— Wenn wir schon über Subsidiarität reden, denke ich, sollten wir bei so einem Beispiel auch prüfen, ob wir hier nicht das Institut der Subsidiarität im Einzelfall verwirklichen können. Sonst bleibt das alles ja auf dem Papier.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das zweite, was wir bemängeln, ist, daß dieser Verordnungsvorschlag im Anwendungsbereich so umfassend ausgelegt ist, daß es zwei unterschiedliche Verfahren gibt, nämlich, wie schon genannt, das Notifizierungsverfahren und das Genehmigungsverfahren, beide als Voraussetzung für die Verkehrsfähigkeit der Erzeugnisse.
Wenn man das mit dem Gentechnikrecht der Bundesrepublik Deutschland in Verbindung bringt, kann dies im Einzelfall durchaus bedeuten, daß man national nach dem Gentechnikrecht eine Anmeldung bzw. Genehmigung bezüglich der Freisetzung braucht und dann bezüglich des In-Verkehr-Bringens des gleichen Lebensmittels auf EG-Ebene eine weitere Genehmigung mit gewaltigem Unterlagen- und bürokratischem Aufwand.
Deshalb überlegen wir im Bundesgesundheitsministerium — und wir werden die Diskussion auch auf die EG-Ebene tragen —, ob wir nicht in diesem Fall genauso verfahren können wie in anderen Bereichen des Gentechnikrechts, daß nämlich mit einer nach dem Gentechnikrecht erteilten Genehmigung auch nach anderen Rechtsvorschriften erforderliche Genehmigungen miterteilt werden. Damit kommen wir zu einer Konzentrationswirkung der Genehmigungen und zu einer Verwaltungsvereinfachung. Wir müssen also überlegen, ob die nationale Genehmigung nach dem Gentechnikrecht für ein gentechnisch verändertes Lebensmittel nicht auch die Genehmigung zum In-Verkehr-Bringen dieses Produkts einschließt, also nicht eine neue Genehmigung bei der EG auslöst.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich halte dies für sehr, sehr wichtig. Ich stelle mir immer vor, wie wir einem Menschen das folgende erklären sollen: Du gehst zum Bundesgesundheitsamt, um die Freisetzung zu beantragen und vielleicht vorher noch die Anlage genehmigen zu lassen; wenn diese beiden Dinge untersucht, durchleuchtet und genehmigt sind, dann gehst du bitte noch einmal zur EG-Kommission und stellst einen neuen Antrag; dann hast du die Chance zum Notifizierungs- oder Genehmigungsverfahren und dann die drei Möglichkeiten am Ende dieses Genehmigungsverfahrens. Ich fürchte, das können wir niemandem mehr plausibel machen.
Deshalb ist neben dem Gesichtspunkt der Verstärkung des Gedankens der Subsidiarität auch ein wesentlicher Schritt zur Verwaltungsvereinfachung getan, wenn wir auch in diesem Bereich darauf drängen, daß die verschiedenen Genehmigungen in einer Genehmigung zusammengefaßt werden. Das wäre eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung.
Wir sollten uns bei Aufrechterhaltung des Grundsatzes des Verbraucherschutzes auch überlegen, ob wir jede Bagatelle diesem Genehmigungsverfahren unterwerfen.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Aber wer hat Sie denn gehindert, das schon längst zu machen!)

Ebenso halte ich eine Kennzeichnungsrichtlinie für unverzichtbar.

(Beifall bei der SPD — Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Eine verbindliche! — Horst Kubatschka [SPD]: Eine lesbare!)

Allerdings möchte ich folgendes als Frage aufwerfen, damit wir nicht überbürokratisieren und überreglementieren.

(Zuruf der Abg. Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD])

— Liebe Frau Blunck, wir prüfen, ob eine Kennzeichnung auch bei solchen Produkten notwendig ist, die zwar unter Verwendung eines gentechnischen Verfahrens oder Produkts hergestellt werden, selbst aber gentechnisch nicht verändert werden und daher mit herkömmlich hergestellten Lebensmitteln identisch sind.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wir prüfen, ob das sinnvoll ist; denn im Ausland wird bereits — das dürfen wir bei diesem Sachverhalt nicht ganz außer acht lassen — ganz normaler Zucker aus gentechnisch veränderten Zuckerrüben hergestellt. Hier sollten wir die notwendige Information des Verbrauchers zwar durchführen, aber auch nicht überziehen.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Wollen wir das nicht den mündigen Bürgerinnen und Bürgern überlassen?)

— Ich komme in meiner Schlußbetrachtung auf den mündigen Bürger.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Der wird immer dann als unmündig hingestellt, wenn die Mündigkeit nicht in den Kram paßt!)

Ich bin dafür, daß wir erstens diese sehr schwierigen Sachverhalte sachlich und fachlich austragen und den Menschen nicht unnötige Ängste einjagen.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Das ist immer dann der Fall, wenn — —)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213427700
Frau Blunck, Sie haben im Moment nicht das Wort.

Horst Seehofer (CSU):
Rede ID: ID1213427800
Ich bin zweitens dafür, daß wir als Gesetzgeber die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen, die zum Schutz des Verbrauchers und zu seiner Information notwendig sind.
11678 Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 134, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993
Bundesminister Horst Seehofer
Drittens .— damit bin ich bei Ihrem Punkt -: ob der Verbraucher das Produkt dann kauft oder nicht, sollten wir den Menschen überlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir sprechen in Sonntagsreden immer davon, daß die Menschen mündig sind, und hier ist das beste Beispiel, wo man den Markt, den mündigen Menschen entscheiden lassen kann.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: An den glaubt Frau Blunck nicht! — Lieselott Blunck [SPD]: Aber woher soll er es wissen?)

Wir sollten als Gesetzgeber den mündigen Menschen nicht entmündigen und bevormunden.
Sie sind ohnehin sehr emotional angelegt, Frau Blunck, generell.

(Lieselott Blunck [SPD]: Wie Sie, Herr Minister!)

— Ich bin nicht emotional angelegt. Ich werde Ihnen nach dieser Debatte ein zuzahlungs- und nebenwirkungsfreies Medikament zukommen lassen, damit Sie solchen Debatten künftig in aller Ruhe folgen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lieselott Blunck [SPD]: Das habe ich nicht nötig, und das wäre doch auch langweilig, Herr Minister! Ich bin Mitglied der gesetzlichen Krankenkasse! Das geht ja wirklich nicht, Herr Minister!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213427900
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Ursula Fischer.

Dr. Ursula Fischer (PDS/LL):
Rede ID: ID1213428000
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall, daß bei den Beratungen zur Gentechnologie in der Europäischen Gemeinschaft das sogenannte vierte Kriterium keine Gnade vor den Augen der EG-Kommission gefunden hat. Neben den drei Kriterien Sicherheit, Qualität und Leistung wurde von vielen Verbänden ein viertes Kriterium, nämlich das der Nützlichkeit eines Produkts, gefordert. Konkret sollte das bedeuten, daß jedes der genmanipulierten Produkte vor seiner Markteinführung auf seinen tatsächlichen gesellschaftlichen Gewinn hin untersucht wird.
Völlig zu Recht ging die EG-Kommission davon aus, daß unter Berücksichtigung dieses Kriteriums kaum ein Genprodukt überhaupt bis zu seiner Markteinführung käme.
Tatsächlich entbehren genmanipulierte Lebensmittel jedes objektiven Sinnes und Nutzens. Um Ihnen dies zu verdeutlichen, möchte ich zwei bereits entwikkelte Lebensmittel kurz vorstellen.
Das eine ist ein künstlicher Schmelzkäse, der sich aus auf Methanol gezüchteten Bakterien zusammensetzt. Diesen Bakterien werden Butter, Phosphat und Magermilch beigemischt — fertig ist der Schmelzkäse aus dem Hause der Hoechst AG,
Das andere Produkt ist ein Extrakt aus Blut, Knorpeln und Mutterkuchen, der als Zusatz zu Bier, Wein
und Schnaps den morgendlichen Kater vermindern soll.
Sollten Sie meinen Ausführungen keinen Glauben schenken, empfehle ich Ihnen einen Blick ins Patentblatt. Auf beide Produkte ist bereits ein Patent angemeldet.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß bei sachgerechter Aufklärung der Bevölkerung genmanipulierte Lebensmittel auf dem Markt keine Chance hätten. Wie sonst wäre es zu erklären, daß sowohl die Holsten-Brauerei als auch ein bekannter Champagner-Hersteller, die beide über ein Genpatent verfügen, diese bei der Herstellung ihrer Produkte nicht einsetzen? Es gibt nur einen Grund dafür, daß die bisherige EG-Regelung keine Kennzeichnung von genmanipulierten Lebensmitteln vorsieht: Es ist die Angst der Chemieindustrie, für ihre fragwürdigen Kreationen keine Käuferinnen und Käufer zu finden.
Die Nutzlosigkeit solcher Produkte ist dabei ebenso offenkundig, wie die durch sie verursachte gesundheitliche Gefährdung im Dunkeln liegt. An anderer Stelle hatte ich schon einmal auf die genmanipulierte Aminosäure L-Tryptophan und die von ihr verursachten Todesfälle hingewiesen. Dies sollte Anlaß genug sein, die herstellungsbedingten Gefahren nicht zu verharmlosen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der SPD)

Daß auch gentechnische Forschungsarbeiten nicht risikolos sind, verdeutlicht die Häufung von Krebserkrankungen am Pasteur-Institut in Frankreich.
Die Bevölkerung wurde bis heute weitgehend darüber im unklaren gelassen, daß genmanipulierte Lebensmittel als Importprodukte aus anderen europäischen Staaten bereits in den Geschäftsregalen liegen. Dies betrifft z. B. Käse. Herr Minister, ich kann eigentlich nur bewundern, mit welcher Sicherheit Sie hier behaupten, daß es bei uns noch keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel gibt.
Zugelassene genmanipulierte Hefe löste in Großbritannien eine Vielzahl von Allergiebeschwerden aus. Mittlerweile ist diese Hefe auf Grund der Klagen von Bäckerinnen und Bäckern vom Markt genommen worden.
Die Gefährdung des Menschen durch genmanipulierte Mikroorganismen in Nahrungsmitteln wie Joghurt, Wurst, Sauerkraut u. ä. ist völlig ungeklärt, denn eine großangelegte Risikoforschung findet bisher überhaupt nicht statt.
Lassen Sie mich zu einem weiteren Punkt kommen: der Durchkapitalisierung der Landwirtschaft. Seit Jahren betreibt das Kartell der Chemieunternehmen einen systematischen Aufkauf von Saatgutfirmen. Bäuerinnen und Bauern geraten zunehmend unter den Druck großer Konzerne. Sie werden eines Tages abhängige Beschäftigte sein, die für die Chemieunternehmen nachwachsende Rohstoffe anbauen, die wiederum von den Chemieunternehmen zu bestimmten Produkten kombiniert werden.
Ich zitiere als Beleg aus den Nachrichten des Verbandes der Deutschen Wirtschaft:



Dr. Ursula Fischer
Recht wahrscheinlich ist, daß die Biotechnologie dafür sorgen wird, daß die Landwirtschaft keine eigene Wirtschaftsbranche, sondern ein Betriebsteil der biotechnischen Industrie und der Bioenergiewirtschaft sein wird. Vielleicht ist der Landwirt dann nur noch ein Bio- oder Agrartechniker auf Außenstellen dieser Technologiebranche, der irgendwo draußen in der freien Landwirtschaft mit dem Boden und den Tieren umgeht, wie es das technische Management und die Computer der großen Reaktor- und Fernmentoranlagen vorschreiben.
Im übrigen sollten Sie sich die makabren Namen von Totalherbiziden, z. B. „Basta" und ,,Round up", einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Ein weiterer Punkt, den ich kurz ansprechen möchte, sind die Folgen der Gen- und Biotechnologie für die sogenannte Dritte Welt.

(Lieselott Blunck [SPD]: Leider wahr!)

Der erklärte Wille der Chemieunternehmen ist es, bisher aus Entwicklungsländern importierte Grundstoffe durch biotechnologische Verfahren im Norden selber zu produzieren. Dies betrifft bereits Stoffe wie Kakao, Vanille und Zucker. Den Ländern des Südens wird auf diese Weise auch noch die letzte Absatzmöglichkeit für ihre Waren genommen.
Zum Schluß will ich noch darauf hinweisen, daß auch im Zuge des Ausbaus der Atomtechnologie früher nur von beherrschbaren Risiken gesprochen wurde, bis jeder und jede eines Besseren belehrt war. Diese Lehre sollten wir uns bei der Gentechnologie der Lebensmittel ersparen.
Meine Damen und Herren, die Gefahren überwiegen den minimalen Nutzen genmanipulierter Lebensmittel bei weitem. Deshalb sage ich: Essen aus dem Genlabor? Nein, danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213428100
Ich erteile nunmehr dem Professor Hans Laermann das Wort.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Das kann nur klug werden! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Der stellt das jetzt richtig!)


Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1213428200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einigen Wochen haben wir nach intensiver Diskussion und der Auswertung bisheriger Erfahrungen mit dem geltenden Gentechnikgesetz dessen längst überfällige Deregulierung beschlossen, um Forschung und Entwicklung und den Einsatz gentechnischer Verfahren in der Produktion von überflüssigen Beschränkungen zu befreien,

(Lieselott Blunck [SPD]: Wer sagt, das sei überflüssig?)

ohne — ich betone dies ausdrücklich — den Schutz von Mensch und Umwelt zu beeinträchtigen.
Heute nun beraten wir über einen Antrag der SPD-Fraktion, in dem neue, wie ich meine, überflüssige gesetzliche Regelungen gefordert werden, die
die Gentechnik und ihre Anwendung durch die Hintertür behindern sollen. Sie, verehrte Frau Kollegin Blunck, wollen doch nur eine Handhabe haben, um die — ich zitiere aus dem Antrag — ethisch-motivierte Ablehnung der Gentechnologie zu ermöglichen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dies können wir nicht akzeptieren. Ich denke, wir sollten hier eine sachliche Debatte führen.

(Lieselott Blunck [SPD]: Aber Sie sind ein Liberaler!)

— Deswegen bin ich bereit, über alles zu diskutieren, aber auf sachlicher Basis und ohne Emotionen.
Ich frage mich, was eine Kennzeichnungspflicht der oft mehrstufigen Herstellungs- oder Verarbeitungsverfahren zum Verbraucherschutz beitragen soll.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Das verstehe ich auch nicht!)

Wie soll das bei Agrarprodukten, wie soll das beispielsweise im Binnenmarkt, oder wie soll das bei importierten Agrarprodukten geschehen, z. B. aus Übersee? Was geschieht eigentlich, wenn wir hier eine Kennzeichnungspflicht einführen, der Massentourismus die Menschen aber nach Thailand, Madagaskar oder Brasilien führt?

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Aber doch nicht, um dort gentechnisch manipulierte Nahrungsmittel zu kaufen!)

Es ist doch für den Verbraucher, verehrte Kolleginnen und Kollegen, völlig unerheblich, ob Tomaten auf gentechnischer Basis resistent gegen Mosaikviren sind oder ob sie mit Fungiziden behandelt worden sind. Ich mache aus meiner Einstellung gar kein Hehl.

(Lieselott Blunck [SPD]: Sie sollten meine Rede nachlesen!)

Mir ist es lieber, sie werden durch solche gentechnischen Operationen resistent gegen solche Viren, als daß sie mit Fungiziden oder sonstigen Chemikalien gespritzt werden.

(Beifall bei der F.D.P.)

Sie prangern hier die chemische Industrie an und sagen, sie verfolge nur ihre Interessen.

(Lieselott Blunck [SPD]: Die Emotionen mir gegenüber sind völlig daneben! Lesen Sie meine Rede nach!)

Ich meine, daß ähnliches für die Kartoffel gilt. Herr Minister, da geht es nicht um die Superkartoffel, sondern da geht es darum, wie wir ohne Spritzen die Viren und die Krankheiten von der Kartoffel fernhalten. Das ist das Problem.

(Lieselott Blunck [SPD]: Da bin ich einverstanden!)

Das gilt auch für Zuckerrüben.
Ich sage noch einmal: Offen gestanden, mir ist die gentechnisch verankerte Resistenz wirklich lieber als die Behandlung mit Chemikalien.

(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

11680 Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode — 134. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Januar 1993
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
Wir können ja einmal darüber reden, ob wir überhaupt jegliches Behandlungsverfahren schon von der Produktion her im gesamten Agrarbereich auf die Verpackung, ja auf die Kartoffel draufschreiben sollten. Dann aber muß ich Sie fragen: Wird das der Klarheit und der Sicherheit des Verbrauchers dienen, oder wird er mehr verunsichert werden?

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213428300
Herr Professor Laermann, zwei Abgeordnete möchten eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1213428400
Aber gerne.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213428500
Ich rechne das nicht auf Ihre Redezeit an. Zunächst der Abgeordnete Kubatschka. Bitte sehr.

Horst Kubatschka (SPD):
Rede ID: ID1213428600
Herr Kollege Laermann, wenn es darum geht, etwas gegen Schädlinge resistent zu machen, so läßt sich darüber reden. Aber wenn Sie die geplanten Freisetzungen sehen, dann werden Sie feststellen, daß man versucht, gegen Pflanzenschutzmittel oder gegen Antibiotika resistent zu machen. Haben Sie denn nicht Angst, daß da Sachen übertragen werden, vor allem, daß die rekombinanten Plasmide, die auf das Genom übertragen werden, sehr weit übertragen werden, also nicht nur auf die Pflanzen, sondern auch auf den Menschen?

Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1213428700
Darf ich jetzt erst darauf antworten? — Herr Kollege Kubatschka, es geht hier darum — deswegen nehme ich hier eine abweichende Position ein —, daß wir hier das Für und das Wider diskutieren. Sie reden mehr dagegen. Ich will andere Argumente vortragen, die mich eher dazu bringen, für gewisse Dinge zu sein. Dies ist ein Abwägungsprozeß, im Rahmen dessen wir uns wirklich sachlich unterhalten müssen.
Ich stimme Ihnen zu, daß es nicht darum gehen kann, herbizidresistente Pflanzen zu züchten. Genau das Gegenteil will ich erreichen. Ich will ja erreichen, daß wir die Chemie aus der landwirtschaftlichen Produktion rauskriegen. Das kann man mit biotechnologischen Maßnahmen machen. Ich will ja genau erreichen, daß diese weltweit angewandt und eingesetzt werden.
Herr Kubatschka, nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir sehr rücksichtsvoll und vorsichtig sind. Aber vom Department of Agriculture in Amerika werden diese Dinge durchaus jetzt schon freigegeben, weil man über ausreichende Erfahrungen verfügt und sagt: Wir können diese Freisetzung akzeptieren. Oder lesen Sie doch einmal die Berichte aus China, wo auf riesigen Flächen, auf Flächen von zig Hektar, Tomaten, Kartoffeln und Tabak angebaut werden.

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Deswegen brauchen Sie das doch nicht zu machen!)

Bei all diesen Erfahrungen, die wir weltweit schon haben — das sehe ich jetzt unter dem Aspekt der Landwirtschaft —, hat es noch nicht eine einzige Meldung gegeben, daß es zu einer dieser Beeinträchtigungen oder dieser Fehlentwicklungen gekommen ist, die hier weitgehend befürchtet werden.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nichts tun aus Angst ist immer falsch! — Gegenruf der Abg. Lieselott Blunck [SPD]: Es geht darum, das Richtige zu tun!)

Deswegen müssen wir sehr wohl auch das berücksichtigten, was Frau Fischer vorhin in Hinsicht auf die Dritte Welt gesagt hat. Angesichts der Explosion der Weltbevölkerung müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen, wie wir eigentlich auf Dauer die Ernährung der Weltbevölkerung sichern können.

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Verteilungsproblem!)

Ist es denn da nicht eher eine humane Tat, daß wir jetzt auch Nutzpflanzen züchten, die auf ariden oder halbariden Böden wachsen können, daß wir die Ertragslage verbessern, ohne mit zig Tonnen von Kunstdünger über die Flächen gehen zu müssen, daß wir Pflanzen züchten, die, wie die Lupinen, Stickstoff natürlich binden, oder daß wir Mikroben und Bakterien entwickeln, die ähnlich wie die knöllchenbildenden Bakterien bei den Hülsenfrüchten sozusagen den Stickstoff selber erzeugen? Dadurch ersparen wir uns das Verwenden von zu viel Kunstdünger, was zu erheblichen Umweltbeeinträchtigungen geführt hat.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir wollen doch eine umweltverträgliche Landwirtschaft. Deshalb dürfen wir das nicht auf diese Art und Weise durch die Hintertür behindern.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213428800
Danke schön, Herr Professor Laermann. Ich möchte Sie bitten, auf die nächste Frage nicht so lange zu antworten, daß sich Ihre Redezeit dann verdoppelt.

(Horst Kubatschka [SPD]: Vor allem so wortreich neben der Frage zu stehen, das ist die Kunst!)

Frau Kollegin Blunck, bitte stellen Sie Ihre Frage.

Lieselott Blunck (SPD):
Rede ID: ID1213428900
Lieber Herr Kollege, sind Sie — erstens — bereit, zur Kenntnis zu nehmen oder wissen Sie überhaupt, daß wir vielfältige haushaltsrelevante Anträge gestellt haben, um eben gerade eine umfassende Kennzeichnung auf Lebensmitteln hinzubekommen, und zwar nicht so, daß der Verbraucher durch unendliche Kennzeichnungen mit E-Nummern verdummt wird, sondern daß tatsächlich eine umfassende, eine klare und für den Verbraucher gut handhabbare Kennzeichnung geschaffen wird? Wissen Sie, daß Sie von der Regierungskoalition das immer abgelehnt haben?
Zweitens möchte ich gerne, daß Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich gerade den Abwägungsprozeß hier immer wieder reklamiert habe. Lassen Sie da doch nicht Ihre Vorurteile mit sich durchgehen! Wir sind da gar nicht so weit auseinander, aber sagen dies auch.

Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213429000
Ich nehme an, Sie erwarten eine Antwort, Frau Blunck. Bitte schön, Herr Professor Laermann.




Prof. Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann (FDP):
Rede ID: ID1213429100
Frau Kollegin Blunck, ich wende mich gegen Vorurteile; denn Einstein hat schon einmal gesagt: Es ist leichter, ein Atom zu zertrümmern als ein Vorurteil. Aber ich wende mich gegen die Formulierung in Ihrem Antrag — da spreche ich auch für meine Fraktion —, den wir so nicht akzeptieren wollen. Wir sehen Handlungsnotwendigkeiten in verschiedenen Richtungen. Darüber muß man einmal reden. Vielleicht sollte Ihr Antrag ein Anstoß dafür sein. Aber ich denke, da hätte auch die Bundesratsvorlage schon genügt; denn sie stimmt inhaltlich weitgehend damit überein.
Ich möchte auf die Frage der Kennzeichnung auf den Verpackungen noch einmal eingehen. Es stellt sich die Frage, wie wir das machen sollen und was es dem Verbraucher bringen soll, daß er weiß, ob die Kartoffeln — wir haben ja die Diskussion um die holländischen Bintjes — nun gespritzt sind oder ob sie auf einem mehr oder weniger natürlichen Wege gegen einen solchen Bakterienbefall resistent gemacht worden sind. Ich weiß nicht, ob das zur Verbraucherinformation unbedingt notwendig ist.
Wenn Sie die ganze Verfahrenskette berücksichtigen — hier ist der Käse erwähnt worden; da sind es ja mehrere Zwischenstufen —, dann würde es sicherlich für die meisten Verbraucher sehr schwierig werden, das alles zu verfolgen und zu verstehen. Als etwas flapsige Reaktion auf die Frage möchte ich sagen: Wie groß müssen dann die Verpackungen gewählt werden, damit man das da alles draufkriegt? Das aber war eine nicht ganz ernstgemeinte Antwort auf Ihre Frage.
Ich meine, bisher jedenfalls war es für den Verbraucher völlig ausreichend, daß die Inhaltsstoffe auf der Verpackung angegeben wurden. Jetzt eine zusätzliche Verpflichtung durch Angabe der Herstellungsverfahren einzuführen, das würde, glaube ich, den Verbraucher, wenn man die gesamte Kette sieht, sehr verwirren, da er fälschlicherweise annehmen müßte, daß das Herstellungsverfahren neben den Inhaltsstoffen einen bedeutenden Einfluß auf das Produkt hat.
Anders sehe ich allerdings die Sache — hier gehe ich noch einmal auf den Kollegen Kubatschka ein —, wenn ein Arznei- oder Lebensmittel einen gentechnischen Organismus enthält oder aus einem solchen besteht. Da beziehe ich mich wieder auf die EG- Vorlage. Das sehe ich völlig anders; ich glaube, da können wir sehr schnell zu einer Einigung kommen. Dann halte ich es allerdings für selbstverständlich und auch für notwendig, daß dies deutlich angezeigt wird. Es handelt sich nach meiner Auffassung aber klar um Inhaltsstoffe. Einer solchen Regelung, einer Angabe der Inhaltsstoffe, widersprechen wir ja gar nicht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf andere einschlägige Vorschriften der EG-Kommission verweisen und komme nun zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über neuwertige Lebensmittel. Auf dieser Basis sehe ich durchaus Beratungsbedarf. Ich denke, wir sollten an Hand dieser Vorlage unsere Vorstellungen und unsere Probleme für und wider ausführlich diskutieren und darlegen und daraus unsere Schlußfolgerungen für unsere gesetzgeberischen Aktivitäten und Initiativen, soweit sie uns dann noch notwendig erscheinen, ziehen.
Herr Minister, ich stimme Ihnen zu, daß wir das im europäischen Kontext machen müssen. Wir müssen aber auch den nationalen Spielraum erhalten, sonst konterkarieren wir gleich unseren Anspruch auf Subsidiarität. Ich möchte nur noch einmal im Hinblick darauf, daß wir nicht die Festung Europa, sondern einen offenen Markt haben wollen und daß wir die Lage in den Entwicklungsländern verbessern wollen, darauf hinweisen. Das heißt, wir müssen Austausch haben. Wir werden also in erster Linie landwirtschaftliche Produkte und das, was daraus hergestellt worden ist, nämlich in der Weiterverarbeitung — das sollten diese Länder auch machen —, austauschen. Das heißt: Wie setzen wir es denn durch, daß beispielsweise bei diesen Produkten diesen Ländern die gleiche Pflicht auferlegt wird?
Ich bitte, auch daran zu denken — ich sage das noch einmal —: In Madagaskar werden Sie das alles nicht finden. Da wird nicht die Notwendigkeit bestehen, den Käse zu kennzeichnen, wenn bei dem Herstellungsverfahren zwischendurch gentechnische Verfahren erforderlich waren, ohne das Produkt selbst zu verändern oder zu beeinflussen.
Ich denke, im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die EG-Vorlage zu beraten, sollten wir diesen Komplex noch einmal abhandeln und, bitte schön, Für und Wider emotionsfrei und vorurteilsfrei diskutieren.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213429200
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1213429300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die sogenannte „novel food"-Verordnung der EG-Kommission Wirklichkeit werden wird, beginnt ein Feldversuch mit gigantischen Ausmaßen. Experimentierfeld dieses Feldversuches sind alle Menschen, Tiere und Pflanzen, kurz: die natürliche Umwelt. Die Gentechnologie macht vor der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion nicht halt. Mit der bevorstehenden industriellen Anwendung dieser Technologie wird erneut ein Einschnitt in unsere Wertgefüge sowie unsere ethischen und moralischen Vorstellungen vollzogen, der mit dem Einstieg in das Atomzeitalter mit seinen Folgen von Hiroshima und Tschernobyl vergleichbar ist.
Die Fragen, die aufgeworfen sind, reichen weit über das einzelne Lebensmittelprodukt hinaus. Die ethische Kernfrage lautet — das sage ich besonders meinen christlichen Kollegen —: Wollen wir wirklich, daß das von Natur aus Unmögliche möglich gemacht wird, nämlich die gezielte Veränderung von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen über alle Artgrenzen hinweg? Wollen wir wirklich, daß unser Körper dafür das Experimentierfeld abgibt?
Die Produktion von gentechnisch manipulierten Lebensmitteln wird aber genau das bewirken. Dabei geht es nicht um Qualität, sondern um Quantität. Die rote Tomate, die monatelang frisch bleibt, und die neuen Aromastoffe für Schinken sollen das Hausge-

Vera Wollenberger
machte ersetzen. Mit dieser Sicht auf die Welt als Laboratorium experimentiert man in Brasilien und Malaysia mit der Entwicklung einer Kakaosorte, die gegen Insektenschädlinge resistent sein soll. Dazu werden Embryonen von den Kakaobäumen erst gentechnisch verändert und dann wieder zu einer Pflanze zusammengebastelt, die jetzt das Gift absondern soll, das die Insekten tötet. Sollten diese Experimente erfolgreich sein, wird sich die wirtschaftliche Lage der Länder des Südens nochmals drastisch gegenüber dem reichen Norden verschlechtern.

(Lieselott Blunck [SPD]: Das ist richtig! Das ist leider richtig!)

Die Länder des Südens müssen um den Wert ihrer Produkte fürchten, die sie oft als den einzigen Reichtum in den reichen Ländern anbieten können. Es geht nicht um Einzelfälle. Alle Nahrungsmittel sind betroffen, und alle Länder der Welt sollen dem Feldversuch untertan sein. Die Verbraucherinitiativen haben bereits oft darauf hingewiesen. Etabliert sich die Gentechnik im Lebensmittelbereich als Standardverfahren — im Saatgutbereich und bei der Enzymproduktion zeichnet sich dies bereits ab —, sind Risiken und Schäden in ganz neuen Dimensionen zu erwarten. Der Mensch und die Natur selbst werden neu modelliert, mit ungewissem Ausgang und nicht rückholbar.
Die Gentechnologie, einmal freigesetzt, kennt kein Trial and error mehr. Sie ist nicht fehlerfreundlich. Die Wechselwirkung zwischen gentechnisch manipulierten Pflanzen und den normalen Pflanzen können nicht vorausgesagt werden.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Doch!)

— Nein. Wer denn?

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Natürlich!)

Gentechnisch veränderte Bakterien, Hefen und Schimmelpilze sind für den Einsatz in Bier, Joghurt, Käse oder Rohwurst gedacht. Das Gelände dieses Einsatzes ist der menschliche Körper. In ihm würden mit jeder Mahlzeit gentechnisch veränderte Mikroorganismen freigesetzt. Gleichzeitig mit der Verwendung dieser neuartig konstruierten Mikroorganismen entstehen neuartige Emissionsquellen. Ohne ausreichende Schutzvorkehrungen entweichen gentechnisch manipulierte Mikroorganismen über die Abluft und das Abwasser aus der Produktion. Ihr Verhalten im Ökosystem läßt sich nicht sicher vorausberechnen.

(Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Doch!)

Ich weiß, daß diese fundamentalen Bedenken und Fragen angesichts der Realität schon fast überholt sind. Um so wichtiger ist es, den Umgang mit der gentechnischen Lebensmittelproduktion demokratisch abzusichern und den Schutz vor Risiken und Gefahren an die allererste Stelle zu setzen.

(Beifall der Abg. Lieselott Blunck [SPD])

Der heute zur Debatte stehende Antrag ist deshalb
zu unterstützen. In ihm werden die Anforderungen
skizziert, die als Mindeststandards eingehalten werden müssen, um den Umgang mit gentechnisch manipulierten Lebensmitteln überhaupt verantwortbar zu regeln.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213429400
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Editha Limbach das Wort.

Editha Limbach (CDU):
Rede ID: ID1213429500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So verständlich es ist, daß sich viele Menschen Gedanken darüber machen, ob der Einsatz der Gentechnik in der Lebensmittelerzeugung tatsächlich die große Zukunftschance bietet, wie manche glauben, so muß man doch davor warnen, hier, nur weil man diese Technik noch für fremd hält, sie noch nicht kennt und sie einem auch ein bißchen unverständlich ist, Szenarien zu malen, wie das beispielsweise Frau Dr. Fischer oder Frau Wollenberger getan haben.
Es ist so: Es gibt auch heute — das wissen wir doch—schon eine Menge Lebensmittel oder Grundprodukte für Lebensmittel, die verändert sind, nicht gentechnisch, aber durch Zucht, durch Auslese und durch andere Verfahren. Man muß sich nur einmal überlegen, z. B. welche Äpfel ich als Kind an den Bäumen sah und welche ich heute sehe. Aber ich kann nicht feststellen — manche schmecken mir besser, manche schmecken mir schlechter als früher; aber das liegt dann an der Qualität oder an meinem Geschmack —, daß wir davon alle krank werden.
Ich meine, man muß auch bedenken, wie gut es wäre, wenn in der Tat — das ist hier vorhin vom Kollegen Laermann ausgeführt worden — die Ernährungsprobleme in den ärmeren Ländern auf der Erde besser gelöst werden könnten, weil es uns gelingt, Pflanzen zu züchten, die mehr Ertrag bringen, weniger anfällig für Schädlinge und Krankheiten sind und — auch das ist hier ja deutlich geworden — möglicherweise der Einsatz von Düngemitteln und Pflanzenschutz reduziert oder gar überflüssig werden kann.
Wir könnten — ich habe schon darauf hingewiesen — manches natürlich auch ohne Gentechnik erreichen, aber vieles eben nur mit Hilfe dieser Technik. Selbstverständlich muß hier mit besonderer Vorsicht agiert werden, weil die Gentechnik in der Tat etwas qualitativ Neues ist.
Verbraucherinnen und Verbraucher sind Gott sei Dank erfreulicherweise besser aufgeklärt als früher. Sie streben immer stärker nach natürlichen, gesunden Lebensmitteln und gesunder Lebensweise, was übrigens der Ernährungsbericht 1992 mit Hinweisen untermauert. Sie fragen dann: Wo bleibt der Begriff „Natürlich", wenn so stark eingegriffen wird, wie die Gentechnik das kann? Aber dazu muß ich sagen: Die Gentechnik führt eben nicht dazu, daß plötzlich rein künstliche, wertlose oder gesundheitsgefährdende Erzeugnisse auf den Markt kommen, weil die Zulassungsverfahren, auch unser eigenes Gentechnikgesetz von 1990, so streng sind, daß wir sogar darüber nachdenken müssen, ob wir nicht manche Fesseln auf



Editha Limbach
Grund der inzwischen gewonnenen Erfahrungen lokkern müssen, um notwendige Entwicklungen und Forschung nicht zu behindern. Deshalb brauchen wir Kontrollen und sorgfältig überprüfte Zulassungen, aber auch Offenheit gegenüber dieser neuen Technik, die man nicht ganz verteufeln darf.

(Zuruf von der F.D.P.: Überhaupt nicht!)

— Richtig, man darf sie überhaupt nicht verteufeln.
Ich habe den Eindruck, daß die Ängste vor einer neuen Technik teilweise unterstützt und verstärkt werden, die überhaupt nicht zu verantworten sind. Ich glaube, daß neue technologische Möglichkeiten nur allzuschnell in Kategorien von gut und böse abgelegt werden, obwohl Technik selbst weder gut noch böse ist, allenfalls ihre Handhabung zum Nutzen oder zum Schaden führen kann. Also kommt es doch letztlich, so denke ich — bei allem Verständnis dafür, daß Menschen gegenüber fremden und unverständlichen Dingen Ängste entwickeln —, einzig und allein auf den verantwortlichen Umgang mit dieser Technik an.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Wir haben in der Bundesrepublik seit 1990 das Gentechnikgesetz und diskutieren derzeit, was daran verändert werden muß. Aber es werden ja nicht die Grundlagen, die Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz berücksichtigen, beseitigt, sondern es werden die Dinge verändert, die Entwicklung, Forschung und dergleichen mehr behindern, als das aus den genannten Gründen überhaupt vertretbar ist.
Übrigens sind einige Punkte aus dem SPD-Antrag überholt, weil schon in der Stellungnahme des Gesundheitsausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates über neuartige Lebensmittel deutliche Forderungen zum Schutz der Gesundheit und zur Information der Verbraucher erhoben wurden. Herr Bundesminister Seehofer, Ihre Gedanken, die Sie zur Subsidiarität und zu der Frage vorgetragen haben, ob nicht eine Richtlinie günstiger, nützlicher und auch sachgerechter sei als eine Verordnung, findet jedenfalls bei den Abgeordneten meiner Fraktion große Zustimmung. Ich denke, wir werden mit Ihnen gemeinsam versuchen, vernünftige Lösungen zu finden.
Das schließt nicht aus, daß auch europaweit sehr strenge Maßstäbe an die Zulassung und Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel und entsprechender Lebensmittelzutaten angelegt werden. Wir fordern die Änderung nicht — auch das möchte ich einmal sagen; denn zuweilen kommt gerade von in der Forschung sehr engagierten dieser Vorwurf —, um gentechnische Verfahren zu behindern, sondern um ganz sicher zu sein, daß nur gesundheitlich unbedenkliche Lebensmittel Zugang zum Markt finden können. Allerdings müssen wir auch erkennen — ich meine, das müßten auch Sie bedenken —: Kein menschliches Handeln und keine wie immer geartete Technik ist absolut risikofrei. Die absolute Sicherheit kann Ihnen niemand, für nichts in der Welt, garantieren. Das menschliche Leben an sich stellt schon ein Risiko dar. Deshalb halten wir auch die Forderungen zur absoluten Produkthaftung, die in Ihrem Antrag stehen und die, wie ich weiß, auch von Verbraucherverbänden erhoben werden, nicht nur für noch nicht
ausdiskutiert, sondern auch für so überzogen, daß sie bei Verwirklichung ganz sicher als Forschungshemmnis auftreten würden. Wenn wir nämlich verlangten, jedes nur denkbare, rein theoretische, irgendwann einmal mögliche Risiko abzudecken — womöglich sogar die Risiken, die wir uns noch nicht vorstellen können —, dann wäre überhaupt kein menschliches Handeln mehr möglich. Alles, was wir tun, ist mit Risiken behaftet.

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Meine Güte, das ist doch keine Antwort auf das Problem! — Gegenruf des Abg. Dr. HansPeter Voigt [Northeim] [CDU/CSU]: Aber natürlich!)

— Aber selbstverständlich ist das eine Antwort auf das Problem. Die Probleme werden nicht dadurch gelöst, daß man sie möglichst schlimm darstellt und sich dann entscheidet, am besten gar nichts zu tun. Auch das Nichtstun ist ein Risiko, und auch das muß verantwortet werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Richtig! — Heinrich Seesing [CDU/ CSU]: Das muß einmal gesagt werden!)

Nun zu einem Punkt, bei dem wir mit unseren Kollegen aus der Forschung durchaus unterschiedliche Meinungen haben. Wir haben — auch im Gesundheitsausschuß --- vertreten, daß die Verbraucherinnen und Verbraucher ganz deutlich erkennen müssen, was ihnen angeboten wird, damit sie ihre Kaufentscheidung entsprechend treffen können. Wir wollen die Produkte auch kennzeichnen, wenn gentechnisch veränderte Zutaten oder Zutaten aus gentechnisch veränderten Ursprungsprodukten verwendet wurden. Wie gesagt: Mir ist bewußt, daß es da unterschiedliche Meinungen gibt. Aber die Meinung gerade auch des Verbrauchergesprächskreises unserer Fraktion ist: Wenn z. B. der aus einer gentechnisch veränderten Rübe hergestellte Zucker absolut naturidentisch und völlig ohne gesundheitliches Risiko ist — ich teile diese Auffassung —, dann ist es ja absolut unschädlich, daß dies dem Verbraucher zur Kenntnis gegeben wird. Denn wenn Qualität, Geschmack und Preis dieser Produkte stimmen, dann — davon bin ich fest überzeugt — kann und wird sich ein solches Produkt auch am Markt durchsetzen.

(Heinrich Seesing [CDU/CSU]: Richtig!)

Es ist nicht die Aufgabe von uns Politikern, zu entscheiden, ob die Menschen lieber wirklich Biotomaten oder gentechnisch veränderte Tomaten essen möchten.

(Lieselott Blunck [SPD]: Das ist richtig!)

Das müssen die Bürgerinnen und Bürger aber entscheiden können. Deshalb müssen sie wissen, ob die Tomate aus dem Bioanbau ist —

(Beifall bei der SPD)

auch das ist, wie wir das heute manchmal lesen, gar nicht immer nachgewiesen — oder ob sie gentechnisch verändert ist.

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Das ist Pflicht!)




Editha Limbach
Ich bin ganz sicher: Am Ende wird sich immer das, was gut schmeckt und billig ist, auch am Markt durchsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Unsere Aufgabe als Politiker ist es, dafür zu sorgen, daß Gesundheitsschutz und Verbraucherschutz gewährleistet sind.

(Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Richtig! Dann tun Sie mal was!)

Das ist unsere Aufgabe. Darüber hinaus brauchen wir der Forschung und der Wissenschaft keine Vorschriften zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213429600
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Dobberthien das Wort.

Dr. Marliese Dobberthien (SPD):
Rede ID: ID1213429700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß Kunsthonig nicht Honig und Ersatzkaffee keinen Kaffee enthält, lehrten mich in entbehrungsreichen Nachkriegsjahren meine Eltern. Und wenig konsumverwöhnte DDR-Bürger wußten, daß ihre Schokolade nicht immer Kakao, sondern auch Erbsenpüree enthielt. Der Geschmack war nicht überzeugend, aber Geldbeutel oder Versorgungslage erlaubten keine Alternative.
Was damals Resultat einer Mangelwirtschaft war, feiert heute ein modernes Comeback. Unter dem Schlagwort „Food Design" oder „Novel Food" kreiert die Nahrungsmittelindustrie immer neue Rezepturen für schnell zubereitbare cholesterin- oder kalorienarme Produkte. Kochkünste normaler Haushalte können schon längst nicht mehr konkurrieren mit dem Erfindungsreichtum der Chemieküchen der Nahrungsmittelindustrie.

(Editha Limbach [CDU/CSU]: Und was ist daran so schlimm?)

— Ich nenne Ihnen Beispiele, warten Sie ab! — Unbeeindruckt von dem steigenden Verlangen der Verbraucherinnen und Verbraucher nach naturbelassenen, unbelasteten und frischen Nahrungsmitteln werden immer neue Kunstprodukte auf den Lebensmittelmarkt geworfen.
Das ZDF lieferte gestern abend provozierende Bilder; vielleicht haben Sie es gesehen.

(Editha Limbach [CDU/CSU]: Nein, ich habe gestern gearbeitet!)

Da wird z. B. die Herstellung von Würze geschildert: Eiweiß wird in Salzsäure zerkocht, anschließend chemisch neutralisiert. Ist der Geschmack befriedigend, beginnt die Produktion. Zulassungen oder Kontrollen sind nicht erforderlich. Mir vergeht hier jedenfalls der Appetit. Längst gibt es Fleisch aus Pflanzen, Milch aus Soja, Wurst aus Knochen, Sehnen und Abfall.

(Gerlinde Hämmerle [SPD]: Pfui Teufel!)

Und die Gentechnik hat Hochkonjunktur. Die manipulierte Tomate mit Antimatsch-Gen suggeriert Frische auch noch nach Wochen. Nutzpflanzen — darunter fallen Kartoffeln und Zuckerrüben — werden gentechnisch so verändert, daß sie selber Gifte gegen
Schädlingsfraß produzieren — wir essen diese Produkte schließlich — und Giftduschen durch Herbizide oder Pestizide lebend überstehen.

(Zuruf von der F.D.P.: Wir sind aber keine Schädlinge!)

— Aber wir sollen das essen, was den Schädlingen schadet. Wer garantiert, daß wir gesund bleiben? — Beim Europäischen Patentamt läuft ein Antrag für ein in Amerika zugelassenes Patent, das gentechnische Übertragung des Skorpiongiftes auf Pflanzen ermöglicht, die wir dann später essen sollen.
Gentechnik auch bei Enzymen, Zusatz-, Austausch-und Aromastoffen: Dies hat zwar Gewinne bei der Industrie zur Folge, wo aber bleiben Qualitätsverbesserungen und Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen? Es ist dringender Regelungsbedarf gegeben, und zwar europaweit. Dieser Regelungsbedarf ist gegeben, weil das Gentechnikgesetz gerade nicht die Lebensmittel erfaßt. Darum diskutieren wir hier nicht über das Gentechnikgesetz, sondern über Regelungen zur Kontrolle gentechnisch veränderter Lebensmittel.

(Beifall bei der SPD)

Nach zweieinhalb Jahren kontroverser Diskussion und elf verschiedenen Entwürfen hat die EG-Kommission endlich den Entwurf einer „Novel-food"-Verordnung vorgelegt. Federführend ist - merkwürdigerweise — die Generaldirektion III der EG-Kommission, also die Hüterin des freien Warenverkehrs, und nicht etwa die Umwelt-, Gesundheits- oder Verbraucherschützer. Wesentliche Zielsetzung des Entwurfs dieser Verordnung ist somit die Gewährleistung des freien Warenverkehrs, nicht aber der Schutz von Umwelt und Gesundheit. Beides spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Nun hat die Bundesregierung Gelegenheit — ich hoffe, sie nutzt sie —, sich für unverzichtbare Verbesserungen einzusetzen. Die Kennzeichnungspflicht für alle novel-food-Produkte z. B.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ist für uns unverzichtbar, damit die Verbraucher und Verbraucherinnen endlich wissen, was sie essen und woher die Inhaltsstoffe stammen.
Vermutlich haben wir alle bereits Käse gegessen, der mit Hilfe von gentechnisch erzeugtem Chymosin hergestellt wurde; denn im Endprodukt ist nicht mehr feststellbar, ob das zur Milchgerinnung eingesetzte Enzym auf natürlichem Wege oder mit Hilfe gentechnisch manipulierter Organismen gewonnen wurde. Wir wissen aber, daß dieses Chymosin im Ausland produziert und verarbeitet wird. Da der bundesdeutschen Lebensmittelkontrolle bisher ein handhabbares Nachweisverfahren fehlt, läßt sich nicht sagen, ob solcher Käse bei uns nicht schon längst verbreitet ist.

(Zuruf von der F.D.P.: Das ist alles Käse! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie haben recht: Käse ist weit verbreitet!)

Zugelassen allerdings ist das gentechnisch hergestellte Chymosin in der Bundesrepublik noch nicht.



Dr. Marliese Dobberthien
Das nordrhein-westfälische Umweltministerium hat gerade einen Zulassungsantrag abgelehnt. Es wurde bei Tierversuchen festgestellt, daß innere Organe verfärbt waren. Ich meine, das sollte uns stutzig machen. Weitere Untersuchungen sind daher unverzichtbar, damit nicht eines Tages unsere Organe verfärbt sind.
Unverzichtbar ist aus unserer Sicht auch die Ausweitung des Geltungsbereichs der Verordnung. Er muß auf alle neuartigen Lebensmittel ausgedehnt werden, darf sich nicht nur, wie geplant, auf solche mit bedeutenden Veränderungen der Zusammensetzung erstrecken. Auch ein einfaches Anmeldeverfahren, bei dem das Urteil nur eines einzigen Sachverständigen ausreicht, ist keineswegs hinnehmbar.
Unzureichend ist auch die vorgeschlagene Umweltverträglichkeitsprüfung; denn sie soll nur für solche Lebensmittel durchgeführt werden, die gentechnisch veränderte Organismen noch enthalten oder daraus bestehen. Durch dieses grobmaschige Netz fallen alle neuartigen Lebensmittel, die mit Hilfe gentechnisch veränderter Organismen hergestellt wurden wie z. B. jener mit gentechnisch erzeugtem Chymosin hergestellte „Gen-Tech"-Käse.
Auch unkontrollierte Freisetzungseffekte durch Herstellung und Verzehr von genmanipulierten Lebensmitteln sowie Risiken des Gentransfers von Nutzpflanzen auf Wildpflanzen müssen abgeschätzt, eingegrenzt und vermieden werden.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das sind doch alles olle Kamellen!)

Ohne solche Verbesserungen der EG-Verordnung können wir nicht zustimmen. Andernfalls wünsche ich Ihnen guten Appetit.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213429800
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans-Peter Voigt das Wort.

Dr. Hans-Peter Voigt (CDU):
Rede ID: ID1213429900
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir versuchen, die EG-Richtlinie — ich stimme Ihnen zu: Wir sollten möglichst bald aus der Verordnung eine Richtlinie machen — emotionsfrei zu diskutieren, müssen wir noch ein Stück näher zusammenrücken. Viele Dinge, die ich heute zum wiederholten Male hier gehört haben, muß ich — es tut mir leid — wieder mal richtigstellen.
Wir teilen, Frau Blunck, Ihre Freude an Europa. Wenn wir es schaffen, im Laufe dieser Diskussion —

(Lieselott Blunck [SPD]: Das ist reine Emotion! Toll, nicht?)

— Bei mir ist die Freude an Europa durchaus auch intellektuell begründbar.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bin glücklich: Ich sehe, daß Herr Catenhusen da
ist. Dann haben wir wenigstens einen, mit dem wir
über dieses Thema emotionsfrei diskutieren können.

(Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Mir fehlt die Emotion nicht!)

Es macht, liebe Frau Blunck, immer einen Unterschied, wen man bei diesen Diskussionen als Partner hat, wenn es um die Anwendung von Gentechnik geht, ob wir Sie allein oder doch den recht stabilisierenden Faktor Ihrer Fraktion, Herrn Catenhusen, dabei haben.
Ich glaube, die Auseinandersetzung sollten wir so führen, daß wir zu vernünftigen Regeln kommen. Ich bin durchaus der Meinung, daß man ganz bestimmte Produkte, die gentechnisch hergestellt sind, wo man zweifelsohne in dem Produkt selbst Veränderungen erkennen kann, deren Ursache die Anwendung gentechnischer Methoden ist, kennzeichnen sollte.
Wir werden uns auch darüber unterhalten müssen, wie wir in den anderen Bereichen vorgehen. Ich glaube, daß wir dann zu einer Lösung kommen können, wenn Sie sich bereit erklären, das Ganze nicht unter dem Gesichtspunkt der Feindlichkeit gegenüber der Gentechnik zu diskutieren. Bei Ihnen, liebe Frau Dobberthien, hatte ich wieder mal den Eindruck, daß dies im Hintergrund steht, daß Sie im Grunde genommen alles diskriminieren wollen, was damit zu tun hat.

(Lieselott Blunck [SPD]: Was war falsch an den Fakten?)

— Ich komme gleich zu einigen Fakten von Ihnen. Ich werde sie Ihnen gerne erklären, damit man sieht, daß hier wirklich falsche Argumente gebraucht worden sind.
Kommen wir zu einem dieser Argumente! Ich fange bei Frau Fischer an — sie ist jetzt leider nicht mehr da —, die wieder mal das Tryptophan bemüht hat. Wir haben hier schon mehrfach klargestellt, daß die Zwischenfälle, die durch die Anwendung von Tryptophan, das nach einer gentechnischen Methode hergestellt ist, aufgetreten sind, eindeutig mit dem Reinigungsverfahren zu begründen sind. Ich habe schon während meiner Ausbildung gelernt, daß es etwas damit zu tun hat, daß Tryptophan dann, wenn es hochrein ist, als Medikament und nicht mehr als eine Aminosäure herkömmlicher Art zu behandeln ist.
Daran können Sie erkennen, daß wir mit der Gentechnik die Möglichkeit haben, hochreine Produkte herzustellen,

(Lieselott Blunck [SPD]: Aber mit wahrhaft tödlichen Auswirkungen!)

daß die Gentechnik im Grunde ein Qualitätsmerkmal ist. Über die Gentechnik können wir hochreine Produkte herstellen, die wir mit anderen Methoden nicht bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Jetzt bin ich bei dem Thema, daß wir z. B. Käse mit Chymosin herstellen, das Sie angeschnitten haben. Ich kann es verstehen; wir können es gerne kennzeichnen, auch wenn ich das bei einer Käsescheibe etwas schwierig finde. Dann aber bitte ich darum, daß



Dr. Hans-Peter Voigt (Northeim)

wir das nicht nur bei novel food machen. Vielmehr sollten wir dann auch bei den anderen Käsesorten draufschreiben, daß es aus dem Kälbermagen produziert ist.

(Beifall der Abg. Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD])

Ich bin gespannt, wie sich dann der Verbraucher entscheiden wird: ob er lieber den Käse mit dem hundertprozent reinen Chymosin oder mit dem Enzym aus dem Kälbermagen nimmt. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, was ich bevorzuge: Ich werde mich für den anderen Käse entscheiden.

(Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Das ist Marktwirtschaft!)

Nun lassen Sie mich noch eines sagen, weil meine Zeit schon wieder davonläuft: Wir haben mehrfach die Zuckerrüben angesprochen. Ich bin nicht nur, weil ich mit Herrn Catenhusen und mit Herrn Seesing zusammen in der Gentechnik-Enquete-Kommission gesessen habe, dafür bestraft, daß in meinem Wahlkreis das zweite Freilandexperiment mit gentechnisch veränderten Zuckerrüben durchgeführt wird. In der Protestwelle kommt nun alles wieder nach oben, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.
Was ist denn da verändert? Wir bauen ein Gen ein, das ein Hüllprotein eines Virus hat. Dieses Hüllprotein ist das einzige, das neben Markergenen durch eine gentechnische Veränderung produziert wird. In Oberitalien sind bereits 50 % der Ernte durch einen Virus vernichtet, weil diese Hüllproteine mit einem Faktor 1000 vorhanden sind. Der Zucker aus Oberitalien wird aufgearbeitet, kommt auf unseren Markt und enthält genauso wie diese Rübe, wenn sie dann mal eine Sorte ist, das Hüllprotein; diese hat aber nur ein Tausendstel davon.
Nun frage ich Sie: Wo ist das Problem gegenüber der Gentechnik, das Sie hier so verteufelt haben? Ich glaube, daß wir — es gibt durchaus Vorteile der Gentechnik, wie wir gesehen haben — das Thema ganz emotionsfrei behandeln sollten. Wir sollten nicht dahin kommen, daß auf jedem Schokoladenkringel am Weihnachtsbaum steht: „Gentechnisch hergestellt" . „0 du Fröhliche" würde dann ausfallen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: So hört sich das an, wenn man Ahnung hat!)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213430000
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Schaich-Walch das Wort.

(Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Mal sehen, ob sie es verstanden hat!)


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1213430100
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es toll, daß Sie so an meinem Verständnis interessiert sind. Ich kann Ihnen zu Beginn aber gleich sagen, daß wir, die SPD-Fraktion und ich, den Menschen in unserem Land bezüglich dessen, was sie begreifen können, viel mehr zutrauen, als Sie das tun. Deshalb sind wir der festen Überzeugung, daß wir auf die Kennzeichnungspflicht für diese Lebensmittel bestehen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es gab nämlich mal Zeiten, da wußte man, woraus die Lebensmittel hergestellt wurden. Das waren die Zeiten des biologischen Anbaus, als in den Häusern noch einiges selbst hergestellt wurde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben noch heute hervorragende Bauern! Kommen Sie mal ins Münsterland! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das war ja unstrittig!)

Es war auch die Zeit, in denen das Wissen um Inhaltsstoffe, auch um biotechnologische Verfahren wie bei Sauerkraut und Bier selbstverständlich war. Diese Selbstverständlichkeit des Wissens möchten wir gern wiederherstellen.

(Beifall der Abg. Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD])

Jede Verbraucherin und jeder Verbraucher muß das Recht haben, zu wissen, was er sich tagtäglich einverleibt. Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker, an ihrer Spitze Herr Seehofer, fordern zu Recht, daß das Gesundheitsbewußtsein aller gestärkt werden muß, daß gesundes Leben — dort an erster Stelle: gesunde Ernährung — wichtig ist, daß auch die Gesundheit für den einzelnen wichtig ist: Sie erspart Leid, und letztlich freut sich auch die Krankenversicherung.
Wenn also von der Gesundheitspolitik und auch in anderen Politikbereichen Eigenverantwortung immer angemahnt wird, so müssen wir konsequent auch die Voraussetzung zu eigenverantwortlichem Verhalten in den Bereichen schaffen, die den Einkauf von Lebensmitteln betreffen. Auch bei aller Sorge um die Verpackungsgröße, denke ich, muß es so sein, daß die Information leicht zugänglich, verständlich, umfassend und vor allen Dingen ehrlich ist.

(Beifall bei der SPD)

Wie Minister Seehofer es heute in einer Presseerklärung ausdrückte, muß der Kunde König bleiben, d. h. für mich auch, es muß ihm die Grundlage für eigenverantwortliche Kaufentscheidung gegeben werden. Im Antrag der F.D.P. und der CDU/CSU machen Sie allerdings deutlich, daß Sie glauben, daß die Kennzeichnungspflicht ausschließlich zur Durchsetzung obskurer politischer Ziele dienen soll.
Sie unterstellen, Verbraucher würden unter Ausnutzung von Unkenntnissen und Ängsten zum Verhindern der Gentechnik instrumentalisiert werden. Dieser Vorwurf, meine Damen und Herren, ist meiner Meinung nach aus der Luft gegriffen. Ich erinnere daran, daß die Käufer und Käuferinnen schon heute umfassend über das informiert werden, was in den Lebensmitteln drin ist. Sie werden auch darüber informiert, ob es sich um biologischen Anbau handelt. Warum kann ich sie dann nicht auch über andere Anbauformen informieren?
Wir wollen den mündigen Bürger, und das heißt, daß Information wichtig ist und daß aufgeklärt wird. Es ist das Recht der Bürger, so informiert zu werden, daß sie in der Lage sind, mögliche Risiken abzuschätzen, sie zu übernehmen, wenn sie das möchten. Es ist aber



Gudrun Schaich-Walch
auch ihr Recht, bestimmte Lebensmittel abzulehnen, wenn schlicht die ethische Vereinbarkeit mit ihren Vorstellungen nicht gegeben ist. Deshalb, glaube ich, muß auch die Chance gegeben sein, sich aus dieser Sicht heraus für ein Produkt der anderen Wahl zu entscheiden.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist: Wenn Wirtschaft und Politik einen solchen Umgang mit Verbrauchern zur Selbstverständlichkeit machen, wird nach meiner Auffassung die Akzeptanz — sei es auch die kritische Akzeptanz — für gentechnisch hergestellte oder veränderte Lebensmittel auf Dauer eher gefördert als geschädigt;

(Beifall bei der SPD — Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Das ist im Sinne der Anbieter!)

denn nur offene und ehrliche Information schafft die notwendige Vertrauensbasis für den Umgang mit neuen Technologien. Sie zitieren häufig Fernsehen oder Presse.
Da gab es eine hervorragende Berichterstattung zu Genehmigungsverfahren von Anlagen, die gentechnisch produzieren. Da hat die Betriebsleitung selber mitgeteilt, daß sie hervorragende Ergebnisse mit einer umfassenden Informierung der Bevölkerung gemacht hat. Denn immer wenn man den Eindruck erweckt, daß man etwas verschweigt, erntet man damit Mißtrauen und keine Akzeptanz.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb glaube ich, daß die Kennzeichnungspflicht eine vertrauensbildende Maßnahme und auch eine Maßnahme der gesundheitlichen Prävention ist.

(Beifall bei der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213430200
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Debatte.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/3463 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Rolf Schwanitz, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über einen erleichterten Altersübergang für Arbeitnehmer und Arbeitslose in den ostdeutschen Bundesländern (Altersübergangsgeldgesetz — AÜGG)

— Drucksache 12/3974 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie und Senioren
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Alterübergangsgeld bis 1995 — Drucksache 12/3737 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Widerspruch erhebt sich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Abgeordneten Frau Jäger das Wort.

Renate Jäger (SPD):
Rede ID: ID1213430300
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat den Gesetzentwurf zum Altersübergangsgeld erst eingebracht, nachdem wir mehrere Versuche unternommen hatten, die aktive Arbeitsmarktpolitik auszubauen oder wenigstens zu stabilisieren. Diese Versuche sind leider allesamt an der Regierungskoalition gescheitert. So hatten wir beispielsweise in unserem Antrag „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik — Arbeit statt Arbeitslosigkeit" neue Wege zur Überwindung der Beschäftigungskrise in den östlichen Bundesländern gezeigt. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, durch eine Verzahnung von Arbeitsmarkt-, Industrie- und Regionalpolitik der sich abzeichnenden Katastrophe am Arbeitsmarkt im Osten entgegenzuwirken, doch ihr war anscheinend die Kürzung der Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz wichtiger als der Abbau der Arbeitslosigkeit.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Quatsch!)

So konnte die 10. Novelle des AFG gegen die Stimmen der Opposition wie geplant am 1. Januar dieses Jahres in Kraft treten. Dabei ließ die Regierung die negativen Auswirkungen im Hinblick auf die besondere Arbeitsmarktsituation in den östlichen Bundesländern außer Betracht. Auch die Einschätzung der Fachleute, nach der die neuen Regelungen des AFG die Zahl der Arbeitslosen um mindestens 150 000 erhöhen werden, fand dabei kein Gehör. Ebenso fand die gesamtwirtschaftliche Situation in Ost- und Westdeutschland dabei keine Beachtung.
Die Rezession im Westen wird weiterhin durch den Entindustrialisierungsprozeß im Osten begleitet und verstärkt diesen noch. Das schränkt zwangsläufig die Unterstützungsmöglichkeiten der westlichen für die östliche Wirtschaft ein. Die Folge ist ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosigkeit, wenn die Bundesregierung nicht arbeitsmarkt- und strukturpolitisch wirksame Maßnahmen ergreift.

(Zustimmung bei der SPD)

Über den Inhalt industrieller Kerne im Osten wird von der Regierung zwar geredet, aber bisher ist nicht die Spur von einem konkreten Konzept vorhanden. Im Konsolidierungsprogramm heißt es:
Die dann noch zur Treuhandanstalt gehörenden Unternehmen werden als industrielles Bundesvermögen saniert und privatisiert.



Renate Jäger
Woraus soll denn eigentlich ersichtlich sein, daß der Prozeß dann anders abläuft als bisher in der Treuhandanstalt?
Der Bundesrat hatte im Rahmen der Beratungen zur 10. AFG-Novelle vorgeschlagen, die Zugangsregelungen zum Altersübergangsgeld bis 1994 zu ermöglichen. Die Antwort der Bundesregierung darauf: „Aus finanziellen Gründen nicht gerechtfertigt." Zur weiteren Begründung beruft sie sich auf den Einigungsvertrag. Danach sei das Altersübergangsgeld „als eine außergewöhnliche vorübergehende Maßnahme für die erste Zeit der Einheit Deutschlands anzusehen".
Damit bringt sie klar zum Ausdruck, daß das Altersübergangsgeld nur in einer Übergangsphase dazu dienen sollte, nach der Herstellung der Einheit den angespannten Arbeitsmarkt in Ostdeutschland zu entlasten. Ich frage nun: Betrachten Sie diese Übergangsphase im Hinblick auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme etwa als abgeschlossen?
Das von der Koalition vorgelegte Konsolidierungsprogramm zeugt vom Gegenteil. Ich spreche absichtlich nicht von einer „Solidarpakt"-Vorlage, weil sie eine solche nicht mehr ist. Solidarität heißt nämlich Zusammengehörigkeit, Kameradschaft und Übereinstimmung. — Der erste Satz im Konsolidierungsprogramm der Koalition lautet:
Die wichtigste wirtschafts- und finanzpolitische Aufgabe in Deutschland besteht heute in der Anpassung von Staat und Wirtschaft an die veränderten Bedingungen und Aufgaben nach Herstellung der Einheit.
Damit wird der unmittelbare Zusammenhang mit den Vorgaben des Einigungsvertrags hergestellt. Diese möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen. In der Denkschrift zum Einigungsvertrag heißt es:
In seiner Gesamtheit ermöglicht der Vertrag einen geordneten Abschluß des ... Einigungsprozesses und schafft die Grundlage für eine Entwicklung, in der die ... Unterschiede überwunden werden.
Lesen Sie sich, meine Damen und Herren von der Koalition, Art. 28 des Einigungsvertrages zur Wirtschaftsförderung einmal genau durch! Welche Aufgaben die Bundesregierung in der Übergangszeit zu erfüllen hatte, wird daraus noch einmal ersichtlich.
Wenn der Finanzminister heute auf diese ungelösten Aufgaben hinweist, um damit Kürzungen und Einsparungen bei Sozialleistungen zu rechtfertigen, dann ist dies nichts anderes als ein stillschweigendes Eingeständnis des eigenen Versagens der Bundesregierung. Vielmehr ist es ein Gebot des Einigungsvertrags, eine weitere Verlängerung der Altersübergangsregelung in den Solidarpakt aufzunehmen.
Die von uns vorgeschlagene Lösung, die eine Verlängerung des Altersübergangsgelds bis zum 31. Dezember 1994 vorsieht, enthält gegenüber der bisherigen Regelung Verbesserungen. Sie sieht vor, daß neben Arbeitnehmern auch Arbeitslose Anspruch auf Altersübergangsgeld erwerben können.
Eine weitere Neuerung ist, daß das Altersübergangsgeld erst nach Vollendung des 58. Lebensjahres
zu gewähren ist. Dies ist mit der Möglichkeit gekoppelt, daß Arbeitslose schon nach Vollendung des 55. Lebensjahres und vier Monaten aus dem Erwerbsleben ausscheiden und nach Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld Altersübergangsgeld beziehen können.
Unser Entwurf sieht schließlich vor, daß Altersübergangsgeld nicht für fünf, sondern für zwei Jahre zu gewähren ist, was aus finanzieller Sicht eine günstige Lösung darstellt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch ein Beispiel bringen. Eine Bürgerin mußte mit 543/4 Jahren in die Arbeitslosigkeit gehen. Sie hatte also keine Gelegenheit, bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres zu arbeiten, und demzufolge auch keine Gelegenheit, Altersübergangsgeld zu beziehen. Nach Wegfall des Arbeitslosengeldes im November dieses Jahres ist sie 571/2 Jahre, und sie hat keine Chance, wieder einen Arbeitsplatz zu erhalten. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe bleiben ihr als einzige Möglichkeiten.
Zu berücksichtigen ist auch, daß der Status eines Altersübergangsgeldempfängers dem Status eines registrierten Arbeitslosen von den Bürgern in weitaus größerem Maße vorgezogen wird. Deshalb, meine Damen und Herren, hat das Altersübergangsgeld nicht nur eine arbeitsmarktpolitische, sondern auch eine menschliche Dimension, die zu beachten wäre.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213430400
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jochen Feilcke das Wort.

Jochen Feilcke (CDU):
Rede ID: ID1213430500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich habe mich im vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, das Altersübergangsgeld für die aus der damaligen Sicht schätzungsweise 50 000 betroffenen Bürger in den östlichen Bundesländern bis zum Ende des Jahres zu verlängern. Es ist gelungen, den im Einigungsvertrag vorgesehenen maximalen zeitlichen Rahmen, der am 31. Dezember endete,

(Petra Bläss [PDS/Linke Liste]: Leider!)

so voll auszuschöpfen. — Ich freue mich aber auf der anderen Seite, daß Sie das Altersübergangsgeld, insgesamt gesehen, als ein wirksames Instrument betrachten, wie auch wir. Aber Übergangsregelungen haben als Wesensmerkmal, daß sie nur für einen Übergang da sind. Das Altersübergangsgeld war eben als eine ausdrückliche Übergangslösung konzipiert und erfolgreich. Härten konnten gemildert werden. Aber allen Beteiligten war von Anfang an klar: Diese Regelung läuft Ende 1992 aus, und sie wird nicht verlängert.
Da kommt überhaupt keine Freude auf, bei niemandem hier im Raum, vermute ich einfach einmal. Es ist — Frau Jäger, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen — überflüssig, bei einer solchen Gelegenheit davon zu reden, als ob das für die Regierung oder für die Koalitionsfraktionen irgendeinen Lustgewinn darstellt. Wir haben Zeiten nicht nur großer Probleme,



Jochen Feilcke
sondern eben auch knapper Kassen; das hängt miteinander zusammen. Aber es ist ja nicht zu Ende, sondern es werden allein im Jahr 1993 etwa 750 000 Menschen in den östlichen Ländern durch Altersübergangsgeld und durch Vorruhestand gefördert.
SPD und PDS, die ja beide heute Anträge zu diesem Thema vorgelegt haben, wissen von vornherein, daß sie für ihre Anträge keine Mehrheit haben. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat einmal gesagt: Es gibt Zeiten, in denen die Bewahrung des Erreichten das Maximum des Erreichbaren ist. Dies ist eine solche Situation. Und es gibt Zeiten — so füge ich hinzu —, wo das Diskutieren von ganz gewiß nicht mehrheitsfähigen Anträgen uns allen die Zeit stiehlt, möglicherweise uns davon ablenkt, das Notwendige und Mögliche zu tun. Deshalb sollten wir im Zusammenhang mit diesen Anträgen danach suchen, welche bezahlbaren Maßnahmen alternativ zur Verfügung stehen könnten.
Die Abgeordneten unserer Fraktion aus den sechs östlichen Bundesländern haben hier den Vorschlag einer Teilvorruhestandsregelung in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ins Gespräch gebracht. Ein solcher Vorschlag muß seriös geprüft werden. Auch wenn niemand behaupten wird, daß dies ein völliger Ersatz wäre, wird es sicherlich in bestimmten Bereichen, in bestimmten Regionen, in bestimmten Branchen und in bestimmten Betrieben ein wirksames Mittel sein können.
Dieser Vorschlag sieht im einzelnen vor, daß der Teilvorruhestand von Arbeitnehmern in Anspruch genommen werden kann, die das 55. Lebensjahr vollendet haben und mindestens 18 Wochenstunden arbeiten. Die Bundesanstalt für Arbeit würde danach aufgefordert werden, die Differenz der Rentenversicherungsbeiträge zwischen Teilzeit und Vollzeit zu zahlen. Die Bundesanstalt für Arbeit würde außerdem noch einen Teil des Bruttolohns hinzufügen. Anders als nach dem ausgelaufenen Altersteilzeitgesetz soll die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einstellung eines Arbeitslosen entfallen. Der Teilvorruhestand würde weniger kosten als das Altersübergangsgeld, und deshalb meinen die Kollegen aus den sechs östlichen Bundesländern, daß der finanzielle Aufwand vertretbar ist, insbesondere auch das haben Sie ja angesprochen — angesichts der sehr schwierigen sozialen Lage und im Hinblick auf die schwierige psychische Lage der von Arbeitslosigkeit betroffenen älteren Menschen.
Der Teilvorruhestand hätte also nicht nur eine arbeitsmarktpolitische Bedeutung, sondern auch ein erhebliches soziales Gewicht für die Beschäftigten, deren berufliche Erfahrung zum Teil noch in die Zeit vor der Gründung oder kurz nach der Gründung der DDR zurückreicht. Für diese Menschen ist die Entlassung in die Arbeitslosigkeit nicht nur Einkommenseinbuße, sondern auch eine schwer erträgliche psychische Belastung. Sie geht übrigens auch häufig mit dem Verlust von beruflicher Erfahrung einher, von Wissen einer Generation, das dringend gebraucht wird.
Für dieses Modell spricht einerseits die Erhaltung des Erfahrungswissens für die Betriebe, andererseits der gleitende Übergang der betroffenen Arbeitnehmer in die Rente. Das geht mit einer finanziellen und eben auch psychischen Hilfe für ältere Arbeitnehmer einher.
Allerdings will ich auch gleich einige Argumente dagegen nennen. Immerhin sind noch 20 % der Beschäftigten in den Treuhandbetrieben auf Kurzarbeit null gestellt. Wenn diese Betriebe die Alternative haben, einen Älteren in den Teilvorruhestand zu schicken oder einen Jüngeren einzustellen, werden sie sich sicherlich für das letztere entscheiden.
Ich sage noch einmal: Eine solche Regelung wäre kein Patentrezept. Sie wäre von Branche zu Branche, von Beruf zu Beruf, möglicherweise auch von Region zu Region zu prüfen. Sicherlich wird auch gelten, daß Erfahrungswissen nicht überall verwertbar ist, daß aber auf der anderen Seite diejenigen, die noch gelernt haben, beispielsweise im Bau Stein auf Stein zu mauern, eher in der Lage sind, eine Abkehr von der Plattenbauweise zu fördern als andere, die diese Erfahrung nicht haben. In vielen anderen Fällen wird es darum gehen, daß man lernt zu vergessen.
Ich sage deswegen noch einmal: Dieser Vorschlag sollte ernsthaft geprüft werden. Ich meine, das sollte im Zuge der Beratung Ihrer Anträge erfolgen. Lassen Sie uns nicht mit verengtem Blick auf ein bewährtes, aber nicht mehr zu finanzierendes Instrument starren! Vielmehr sind wir alle gemeinsam aufgefordert, nach vielen neuen maßgeschneiderten Lösungen zu suchen.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213430600
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (FDP):
Rede ID: ID1213430700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD und die PDS beantragen eine Verlängerung des Altersübergangsgeldes bis 1994. Die Begründung ist schlicht, in sich durchaus stimmig; denn die Gründe für die Übergangsregelung, die wir damals eingeführt haben, bestünden auch heute noch fort. Nach wie vor sei ja die wirtschaftliche Lage im Osten kritisch, nach wie vor gingen Arbeitsplätze verloren, und nach wie vor seien vor allem ältere Arbeitnehmer betroffen. Mit dem Altersübergangsgeld ließe sich also sozial flankieren, was wirtschaftlich unvermeidbar sei.
Wir haben im Dezember im Bundestag die Änderungen des AFG beschlossen. Sie wissen, daß das ein steiniger Weg war, der dahin geführt hat. Der Bundesrat stimmte zunächst gegen die auf Einsparung gerichteten Vorschläge, und das Verfahren kam erst nach zähen Verhandlungen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß erfolgreich zum Ende.
Es gab schon damals den von den Bundesländern im Osten vorgebrachten Vorschlag, das Altersübergangsgeld zu verlängern. Wir haben also hier schon diskutiert. Die Koalition hat sich dem nicht angeschlossen, weil die Finanzierung letztlich zu Lasten des Bundeshaushalts geht und dieser nicht belastet, sondern entlastet werden muß.



Dr. Gisela Babel
Meine Damen und Herren, ich gebe zu: Die Debatte über Altersübergangsgeld ist schwierig und für Sozialpolitiker quälend. Das Instrument sollte ja — begrenzt auf den Osten und unter Rücksicht auf die dramatische Situation des Arbeitsmarkts — eine zusätzliche soziale Hilfe sein. Sie war befristet beschlossen. Aber wir haben uns damit auch in eine schwierige Lage gebracht. Wie bei allen Fristen, die den Bezug von sozialen Begünstigungen einengen, entsteht Härte gegenüber denjenigen, die dann ausgeschlossen werden. Sie empfinden es als ungerecht, daß ihrem Schicksal, das dem der Entlassenen der Vorjahre völlig vergleichbar ist, eine andere und ungünstigere Behandlung zukommt.
So wächst der Druck, die Fristen auszudehnen, die Vorteile zu verlängern und sie einem größeren Personenkreis einzuräumen. Das Altersübergangsgeld hat ja nun auch noch den Vorteil, daß die Arbeitslosenstatistik ein bißchen besser aussieht. Heute beziehen immerhin schon über 500 000 Personen Altersübergangsgeld, die sonst aller Voraussicht nach als arbeitslos registriert wären.
Über die Finanzierung dieser Maßnahmen wird in solchen Vorschlägen nie sehr deutlich gesprochen. Lassen Sie mich deswegen hierzu vielleicht einiges sagen:
Zunächst übersteigt das Altersübergangsgeld nicht in jedem Fall das Arbeitslosengeld. Aber der Bezug ist deutlich länger, nämlich 60 Monate anstatt höchstens 32 Monate. Wenn ich den SPD-Antrag richtig interpretiere, dann wird zwar die Bezugsdauer von 32 Monaten auf 24 Monate reduziert, aber gleichzeitig ist eine Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von 32 Monaten vorgesehen.
Bei einer Bezugsdauer von 60 Monaten — wie bisher — kommen zusätzliche Belastungen auf den Bund zu, weil er die Kosten nach Ablauf des Bezuges von Arbeitslosengeld zu tragen hat. Die Rentenversicherung tritt dann mit dem 60. Lebensjahr des Arbeitnehmers in die Zahlungsverpflichtung ein. Dieses Zusammenspiel der sozialen Sicherungssysteme mit dem Bund führt also einen älteren Arbeitnehmer in die Frührente.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Horrorvisionen!)

Meine Damen und Herren, ist uns eigentlich klar, was wir hier begonnen haben? Ich fürchte: nein. Mit dem Altersübergangsgeld sollten der Staat und die Rentenversicherung Betriebe von älteren Arbeitnehmern entlasten — nach unserer Vorstellung sicher nur für einen begrenzten Zeitraum. Heute wissen wir alle, daß der Strukturwandel im Osten sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, daß das also länger dauern wird.
Schlimmer noch: Die wirtschaftliche Lage im Westen gibt Anlaß zur Sorge. Auch hier gehen jetzt Arbeitsplätze verloren, wie gerade die Zahlen der Kurzarbeit als Indikator zeigen. Hier trifft es zunehmend ältere Arbeitnehmer, und auch hier gibt es jetzt den Druck, mit vorzeitiger Entlassung die Frührente schon mit 60 Jahren einsetzen zu lassen.
Die Opposition, die ja in einer solchen Situation vielleicht immer ein bißchen in einer beneidenswerten Lage ist,

(Zuruf von der SPD: Wir können gern tauschen!)

kann es sich natürlich leisten, solche Anträge zu stellen. Sie spricht aber in einer solchen Situation durchaus vielstimmig. Hier in der Diskussion über das Altersübergangsgeld beschränkt sie sich darauf, die Not der Betroffenen zu schildern. Wer könnte widersprechen, soziale Wohltaten einzufordern? In einer wirtschafts- und finanzpolitischen Diskussion — das haben wir auch heute in der Aktuellen Stunde erfahren — wird sie dagegen wieder solide Haushaltsführung, Rückgang der Verschuldung und den Abbau von Subventionen wollen.
Mit Ihren heutigen Forderungen läßt sich der Haushalt keineswegs konsolidieren. Mit dieser Politik können wir auch niemals die Eckdaten einhalten, die z. B. eine Zinssenkung ermöglichen könnten, wie sie Oskar Lafontaine verlangt. Deswegen halte ich es ja für so bedenklich und gefährlich, daß Sie mit einem Antrag wie dem hier vorliegenden vorgaukeln, das ließe sich alles mit gutem Gewissen beschließen und verantworten.
Meine Damen und Herren von der SPD, die Bürgerinnen und Bürger erwarten in der jetzigen Zeit, in der die Wirtschaft sichtbar lahmt, eine andere Politik. Sie erwarten nun, daß das knapper werdende Geld klug verwendet wird, damit die wirtschaftlichen Grundlagen nicht gefährdet werden.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)

Wenn Beschlüsse in diesem Parlament dazu führen, daß die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung in eine Überlast geraten, dann werden Beitragserhöhungen notwendig, und die Teufelsspirale der Rezession dreht sich schneller. Wenn Sie glauben, alle sozialen Lasten — auch die jetzt von Ihnen verlangten — könnten vom Bund getragen werden — es handelt sich immerhin um ein Volumen von 4 bis 5 Milliarden DM —, dann müssen Sie erklären, wie Sie bei wachsenden Schulden und verminderten Einnahmen einem solchen Anspruch gerecht werden wollen.
Für die F.D.P. sage ich deutlich, daß angesichts der gegenwärtigen gesamtwirtschaftlichen Lage und des Bundeshaushalts eine Verlängerung des Altersübergangsgeldes nicht zu verantworten ist.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213430800
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Petra Bläss das Wort.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1213430900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis in die letzten Tage des vergangenen Jahres spielten die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen mit dem Befinden älterer Menschen in den neuen Bundesländern. Besuchergruppen brachten aus dem Bundesministerium für



Petra Bläss
Arbeit und Sozialordnung das Gerücht mit, Herr Blüm nehme seine Verordnungsermächtigung wahr, die Verlängerung der Regelung des Altersübergangsgeldes komme. Viele glaubten daran, hatte es doch schon zweimal — faktisch in letzter Minute — eine halbjährige Verlängerung gegeben.
Deshalb konnten wir auch halbwegs nachvollziehen, weshalb unser Antrag von Anfang November zur Verlängerung der Regelung des Altersübergangsgeldes bis 1995 nicht auf die Tagesordnung des Bundestages gekommen ist; denn es wäre in der Tat für die Regierungskoalition peinlich gewesen, womöglich einen Tag nach Ablehnung unseres Antrags hier im Parlament, eine Verlängerung der Regelung des Altersübergangsgeldes zu verkünden.
Als aber Mitte Dezember Tickermeldungen verrieten, daß in einem Spitzengespräch über den berühmt-berüchtigten Solidarpakt Bundeskanzler Kohl und Gewerkschaftsobere die Idee eines tarifvertraglich abgesicherten Teilvorruhestandsgesetzes austüftelten, wurden wir schon stutzig. Abgesehen davon, daß kein nahtloser Übergang für den 1. Januar 1993 gewährleistet gewesen wäre, würde sich wieder einmal der Staat aus seiner Verantwortung für soziale Sicherung herausziehen und auch diese Regelung noch den schon zur besonderen Zurückhaltung aufgeforderten Tarifparteien aufbürden.
Es kam, was vielerorts befürchtet wurde: Der soziale Rettungsanker für ältere, von Arbeitslosigkeit bedrohten Bürgerinnen und Bürger wurde zum 1. Januar 1993 vorerst ersatzlos gestrichen.
Die Arbeits- und Sozialministerinnen und -minister der neuen Bundesländer sprachen sich bereits im Sommer in ihrer Schweriner Erklärung für eine Verlängerung dieser bewährten Regelung aus.
Auch wir meinen: Solange gezielte Programme zur Wiedereingliederung älterer Arbeitsloser völlig unzureichend sind und sich die Bedingungen in vielen Branchen deutlich verschlechtern, muß auf den Rettungsanker des Altersübergangsgelds zurückgegriffen werden.
Zwar wird dadurch das Bild über den tatsächlichen Zustand des Arbeitsmarkts verzerrt, und es droht, ein Gewöhnungsprozeß einzusetzen, die über 55jährigen endgültig zum alten Eisen zu zählen — ich denke, hier im Saal herrscht Übereinstimmung, daß das durchaus die Kehrseite der Medaille sein kann —, so muß aber Vorrang die relative soziale Sicherstellung dieser betroffenen Gruppe haben. Notwendig ist, daß diese Regelung kalkulierbarer und deshalb langfristig angelegt wird.
Wir freuen uns, daß unser Anliegen durch den Gesetzentwurf der SPD für ein Altersübergangsgeldgesetz, wenn auch indirekt, unterstützt wird.
Die vorgeschlagenen Modifikationen der bisherigen Regelung, auch bereits längere Zeit in Arbeitslosigkeit befindlichen Personen mit 58 Jahren noch den Zugang zum Altersübergangsgeld zu verschaffen, macht die Sache flexibler. Dem stimmen wir zu.
Wir könnten uns auch vorstellen — wenn es denn den Fraktionen der Regierungskoalition ihr Abstimmungsverhalten erleichtert —, unseren Antrag zurückzuziehen. Uns geht es hier um die Sache. Der SPD-Gesetzentwurf ist inhaltlich weitergehend.
Nur bitten wir, die Zeitdauer noch einmal zu überprüfen. Sie plädieren für eine Verlängerung bis 1994. Wir plädieren für eine Verlängerung bis 1995. Es ist kaum anzunehmen, daß sich sofort nach der Bundestagswahl im Herbst 1994 alle Abgeordneten auf eine Verlängerung des Altersübergangsgeldes stürzen. Sollte die Regelung durch eine dann plötzlich einsetzende aktive Arbeitsmarktpolitik nicht mehr nötig sein und nicht mehr angenommen werden, ist ihr Bestehen doch auch kein Hinderungsgrund.
Wir werden das Schicksal unseres Antrags vom Verlauf der Diskussionen in den Ausschüssen abhängig machen.
Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Das Auslaufen der Regelung des Altersübergangsgeldes per 31. Dezember 1992 paßt so richtig in den derzeit vorgelegten Streichungskatalog für den Sozialbereich. Dennoch appelliere ich an meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen: Lassen Sie nicht zu, daß sich der Staat weiter aus der sozialen Sicherung zurückzieht.
Ich danke.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213431000
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (CDU):
Rede ID: ID1213431100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt die Vorschläge auf Verlängerung des Arbeitsübergangsgeldes ausdrücklich, weil das Altersübergangsgeld eine unbestreitbar wichtige Überbrückungsfunktion hat. Viele ältere Arbeitslose haben ihre Leistungsansprüche auf Arbeitslosengeld verbraucht. Arbeitslosengeld kann nur maximal zwei Jahre und acht Monate lang bezogen werden, im Regelfall sogar nur ein Jahr lang. Die anschließende Arbeitslosenhilfe ist zusätzlich erheblich knapper bemessen und zeichnet sich durch ein entwürdigendes, ja abschreckendes Unterhaltsrecht aus. Aus diesen Gründen ist die Existenzsicherung vieler älterer Arbeitsloser nur unzureichend gewährleistet. Das Altersübergangsgeld mildert diese schwierige Situation für maximal fünf Jahre vor dem Eintritt in die Rente.
Gerade in den neuen Bundesländern haben ältere Arbeitnehmer die Erfahrung gemacht, daß sie häufig als erste gehen mußten. Noch mehr als jüngere Arbeitnehmer haben die älteren große Schwierigkeiten, wieder einen Arbeitsplatz zu finden. Für viele ist der Arbeitsplatzverlust endgültig. Sie gelten nach den Kriterien der Arbeitsförderung als schwer vermittelbar. Die Arbeitsverwaltung hat zwar den Auftrag, diesen Personenkreis besonders zu unterstützen, es handelt sich bei den entsprechenden Leistungen jedoch überwiegend um Ermessensentscheidungen. Dank des rigorosen Sozialabbaukonzepts der Bundesregierung werden die vorhandenen Spielräume zusehends restriktiver ausgelegt. Die Förderung und die

Vera Wollenberger
Integration älterer Arbeitsloser in das Erwerbsleben bleiben so auf der Strecke.
Vor diesem Hintergrund — das ist uns bewußt — ist das Instrument des Altersübergangsgeldes auch kritisch zu bewerten, da es eben auch eine abschiebende, ausgrenzende Funktion hat. Was wir deshalb vor allem brauchen, sind gezielte und dauerhafte Förderungsprogramme des Bundestages, die auch den 55jährigen und älteren Menschen die Chance geben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Die Bundesregierung hat jedoch bereits im vergangenen Jahr durch ihre Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine klare Absage erteilt.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr!)

Nun wird im Rahmen des sogenannten Solidarpakts die Bundesanstalt für Arbeit genötigt, bis Mitte dieses Jahres 1 Milliarde DM einzusparen, wenn nicht eine wahre Streichorgie bei den Lohnersatz- und Sozialleistungen entfesselt werden soll. Dieser enorme Betrag soll durch Unterbindung von angeblich massenhaftem Leistungsmißbrauch erreicht werden können. Auf diese Weise wird die Arbeitsverwaltung gezwungen, ihre schon heute teilweise polizeilich anmutende Durchleuchtung der Leistungsberechtigten zu verschärfen.
Die angekündigten erneuten Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen, wie z. B. dem Arbeitslosengeld und dem Altersübergangsgeld, treffen in besonders fataler Weise mit dem beispiellosen arbeitsmarktpolitischen Versagen der Bundesregierung zusammen. Für dieses Versagen können aber eben nicht, wie von der Koalition geplant, die Arbeitslosen verantwortlich gemacht werden.
Hinzu kommt, daß bereits heute Langzeitarbeitslose die Hauptklientel der Sozialhilfebedürftigen im erwerbsfähigen Alter darstellen. Die jetzt angekündigten drastischen Kürzungen werden die Sozialhilfebedürftigkeit unter den Arbeitslosen zwangsläufig verstärken. Insofern lassen die gleichzeitig vorgesehenen Kürzungen in der Sozialhilfe ein durchaus weitsichtiges Konzept umfassender sozialer Ausgrenzung erkennen.
Immer größere Gruppen der Bevölkerung erleben auf diese schleichende Art und Weise den Prozeß ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Arbeitslosigkeit und Armut sind daher keineswegs nur individuelles Schicksal oder gar eine Frage persönlichen Verschuldens, auch wenn durch die Bundesregierung dazu beigetragen wird, diesen fälschlichen Eindruck zu erwecken. So waren die jüngsten Äußerungen des Bundeskanzlers zum angeblichen Wildwuchs bei den Sozialleistungen eine gefährliche Provokation. Hier wird ein Spiel mit dem Feuer betrieben, und niemand soll sich einbilden, es kontrollieren zu können. Durch stereotype Behauptungen über den Mißbrauch von Sozialleistungen wird die Bevölkerung in Zeiten sich abzeichnender Rezession und weit verbreiteter Existenzangst erheblich verunsichert und gegen die sogenannten Randgruppen und vermeintlichen Minderheiten eingenommen. Sündenböcke für die Versäumnisse in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, aber auch in der Haushaltspolitik werden gesucht und gefunden. Mal müssen Asylsuchende dafür herhalten, die angeblich unser Land überschwemmen und gegen die folglich die Festung Deutschland verteidigt werden muß, mal sind es Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger, die angeblich ein unerträglich bequemes Leben haben sollen, was rigoros abgestellt werden müsse. Betrachten wir nur die jüngsten Behauptungen, die suggerieren, Sozialhilfeempfänger würden ein rundum sorgenfreies Dasein führen.
Die 1990 erfolgte Umstellung in der Berechnung der Sozialhilfe auf das sogenannte Statistikmodell zeichnete sich unter Spargesichtspunkten vor allem durch große Weitsicht aus. Durch diesen Schritt wurde das Niveau der Sozialhilfe und damit die inoffizielle Armutsgrenze in der Bundesrepublik der Beliebigkeit preisgegeben. Der gesetzliche Auftrag, wonach die Sozialhilfe die Würde des Menschen zu schützen hat, wird so zur leeren Phrase. Die negative Entwicklung bei der untersten Lohngruppe führt nicht zuletzt durch das Lohnabstandsgebot dazu, daß sich auch die Situation der Sozialhilfebedürftigen zwangsläufig verschlechtert. Die jetzt angekündigten zusätzlichen Kürzungen bei den Regelsätzen und Mehrbedarfszuschlägen werden die Situation der Sozialhilfeempfänger weiter drastisch verschlechtern.
Vielfältige Untersuchungen belegen, daß nach den geltenden Bestimmungen viele Sozialhilfeempfänger nicht einmal in der Lage sind, sich und ihre Familien adäquat zu ernähren. Von den Möglichkeiten zur vielzitierten soziokulturellen Teilhabe sind schon von daher viele Sozialhilfeempfänger praktisch ausgeschlossen. Das gilt nachweislich in besonderem Maße für viele alte Frauen unter den Sozialhilfeempfängern.
Mit ihren unerträglichen Vorschlägen zum angeblichen Solidarpakt hat die Regierungskoalition endgültig bewiesen, daß sie selbst zur Solidarität nicht fähig ist. Diesem Sozialpakt fehlt neben der ausgewogenen Verteilung der Belastungen auch jede Weitsicht. Anstatt in langfristigen Kategorien zu denken und in volkswirtschaftlich sinnvolle arbeitsmarktpolitische Initiativen zu investieren, steuert die Koalition auf Grund kurzfristiger und wahltaktischer Überlegungen in das endgültige Chaos. Es ist ungeheuerlich, in der gegenwärtigen Situation auf die solidarische Beteiligung aller Bevölkerungsschichten zu verzichten und dafür die ohnehin schon vielfach Benachteiligten ungerührt erneut zur Ader zu lassen.

(Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Abgeordneten der SPD)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213431200
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten KarlJosef Laumann das Wort.

Karl-Josef Laumann (CDU):
Rede ID: ID1213431300
Die Frau Kollegin Wollenberger hat gesagt, daß sich die Bundesregierung aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik verabschieden würde. Ich bin der Meinung, wir haben allen Grund, wenn wir die Stimmung in der Gesellschaft



Karl-Josef Laumann
sehen, mit der Verkündung von Chaosmeldungen vorsichtig zu sein.

(Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr! — Horst Seehofer [CDU/CSU]: Jawohl!)

Ich lege Wert darauf, festzustellen, daß wir trotz der AFG-Novelle, mit der wir die Zielgenauigkeit unserer Arbeitsmarktinstrumente verschärft haben, nach wie vor die Möglichkeit haben, 350 000 AB-Maßnahmen in den neuen Ländern und 70 000 in den alten Ländern durchzuführen. Wir hatten den intelligenten Einfall — und ich halte ihn für den intelligentesten Einfall seit langer Zeit im Bereich der Arbeitsmarktpolitik —, das Programm „Arbeit und Umwelt" zu machen, wo die Bundesanstalt die Mittel, die für Arbeitslosigkeit ausgegeben werden, bereitstellt, um Menschen in Beschäftigung zu halten, und die darüber hinaus erforderlichen Komplementärmittel über Treuhand und Gemeinden zur Verfügung gestellt werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Angesichts dieser hohen Zahl an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen hier von Kahlschlag zu reden, wie das oft der Fall ist, halte ich für unangemessen. Das möchte ich hier heute festgestellt haben.
Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213431400
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus das Wort.

Rudolf Kraus (CSU):
Rede ID: ID1213431500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Jäger, Sie haben vorhin davon gesprochen, daß die 10. Novelle zum AFG die Situation im Osten praktisch unberücksichtigt gelassen, ja sie sogar verschlechtert habe. In Wirklichkeit ist genau das Gegenteil der Fall. Wie Kollege Laumann hier bereits ausgeführt hat, wird dieses neue ABM-Instrument, bezogen auf die Beseitigung von Umweltschäden und ähnlichem, dazu führen, daß die AB-Maßnahmen in den neuen Ländern geradezu konzentriert werden.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!)

Deshalb ist es auch richtig, wenn wir hier sagen: In diesem Jahr wird es genauso viele Fälle von ABM-Förderungen geben wie im vergangenen. Falsch ist auch die Feststellung, daß die Arbeitsmarktpolitik dadurch eingeschränkt worden sei, daß wir die Beträge dafür abgesenkt haben. Richtig ist, daß wir im Jahre 1993 im Osten ungefähr 4 Milliarden DM mehr für aktive Arbeitsmarktpolitik veranschlagen, als das im vorigen Jahr der Fall war.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich bedanke mich übrigens bei dem wohlwollenden Minister, meinem Vorgänger. Man hört selten, daß jemand so gut über seinen Nachfolger spricht. Das kommt wahrscheinlich auch nicht mehr vor.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch was hier von Frau Bläss über die Gerüchte gesagt wurde, daß also die Meinung aufkommen konnte, angeblich
gestützt durch die Bürokratie im Arbeitsministerium, es könne eine neue Verordnung kommen, das kann schon deshalb nicht stimmen, weil der Minister zu diesem Zeitpunkt keine Ermächtigung mehr hatte, diese Dinge zu verlängern. Sie war durch die vorhergehenden Verordnungen aufgebraucht. Es hätte auf jeden Fall einer Gesetzesänderung bedurft. Ich glaube, es ist wichtig, das zu sagen.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Jawohl, man soll mal die Gesetze lesen!)

Ja, und was Frau Wollenberger hier sagt, das hat man eigentlich doch selten gehört. Wissen Sie, daß ausgerechnet unsere Arbeitsverwaltung eine Verwaltung sein soll, die sich geradezu dadurch auszeichnet, daß sie mit polizeiähnlichen Maßnahmen ihre Kontrollen durchführt — das ist eine Behauptung, die den allgemeinen Erfahrungen draußen im Land absolut entgegensteht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Unsere Arbeitsverwaltung ist geradezu bekannt dafür, mit einer Mentalität der Sozialhelfer an die Dinge heranzugehen. Hier von übertriebener Kontrolle zu sprechen, ist einfach Unfug.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir brauchen mehr Kontrollen!)

Und wenn man heute sagt, eine Streichorgie auszulösen — ja, der Minister Blüm hat heute schon an dieser Stelle — —

(Zuruf von der SPD)

— Ja, fragen Sie doch mal die Leute! Sie werden doch nicht glauben, daß die Meinung, daß bei uns Mißbrauch gerade in diesem Zusammenhang nicht sehr weit verbreitet sei, nur eine allgemeine Auffassung sei. Minister Blüm hat heute bereits einige Zahlen genannt. Ich möchte sie hier nur kurz wiederholen, weil Sie offenbar nicht da waren.
Da gab es z. B. eine Stichprobenkontrolle von Pendlern aus Thüringen im Bereich des Arbeitsamtes Nordbayern. Von 1 500 Leuten haben da 500 zweimal Geld bezogen, einmal beim Franke, also bei der Bundesanstalt für Arbeit, und einmal bei ihrem Arbeitgeber. Die Mißbräuche sind hier ganz offensichtlich massiv. Und weil wir eben der Meinung sind, daß unser soziales Netz insgesamt überhaupt nicht zu engmaschig oder zu weitmaschig ist, sondern eigentlich richtig ist,

(Zurufe von der SPD)

daß aber der Fehler darin liegt, daß zu viele Leute sich da hineinbegeben, die nicht hineingehören und damit erschwert wird, denen kräftig zu helfen, die dieser Hilfe wirklich bedürfen, denken wir, daß wir auf diesem Sektor etwas tun müssen.
Natürlich wissen wir alle, daß die Arbeitsmarktsituation in den neuen Ländern außerordentlich prekär ist, um es vorsichtig auszudrücken. Man braucht sich nur die Zahlen der Entwicklung anzuschauen. Aber die ganze Entwicklung ist auch verbaut durch das Ausmaß der Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit der SED-Führung. Unzureichende Infrastruktur, zerstörte Umwelt und verrottete Betriebe — das ist das Erbe der 40jährigen Planwirtschaft. Diese Hinter-



Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
lassenschaft erfordert in Ostdeutschland einen strukturellen Umbruch, der eine Herausforderung darstellt, die in ihrer Größe nur mit dem Wideraufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist.
Unsere Arbeitsmarktpolitik leistet zur Bewältigung dieser Umbruchsituation einen ganz erheblichen Beitrag. Wenn dem Verlust der zahlreichen Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern heute etwa eine Million neu geschaffene Arbeitsplätze gegenübersteht, so ist das auch ein Verdienst der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung. Im Durchschnitt der Jahre 1991 und 1992 hat der massive Einsatz der Instrumente rund 1,8 Millionen Arbeitnehmer vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. In einzelnen Monaten waren es bis zu zwei Millionen Menschen.
Über 30 Milliarden standen 1992 im Haushalt der Bundesanstalt für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern bereit. Dabei waren die Ausgaben für Kurzarbeitergeld noch nicht einmal berücksichtigt. Tatsächlich lagen die Ausgaben wegen der zweimaligen Alüg-Verlängerung wesentlich höher, nämlich bei etwa 38 Milliarden DM. Während wir in den vergangenen zwei Jahren jeweils über 8 Milliarden DM für Vorruhestandsgeld und Altersübergangsgeld ausgegeben haben, werden es in diesem Jahr 14,3 Milliarden DM sein.
Derzeit — Stand Januar — beziehen über 600 000 Arbeitnehmer Altersübergangsgeld und etwa 250 000 Vorruhestandsgeld. Derartige Erfolge schaffen natürlich auch neue Ansprüche. Dies scheint zumindest für die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern zu gelten.
Natürlich hat das Altersübergangsgeld einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung des Umbruchs geleistet. In der ersten Phase des Einigungsprozesses hat es in vielen Betrieben dadurch die Möglichkeit gegeben, den dort beschäftigten Arbeitnehmern den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft hin zur freien Marktwirtschaft ganz erheblich zu erleichtern. Aber es war von vornherein nur als eine Hilfskonstruktion gedacht. Wir haben zweimal verlängert, jetzt ist es zum Ende des letzten Jahres ausgelaufen. Hilfsbrücken sind nicht für die Ewigkeit gebaut.
Schließlich kann es nicht unser Ziel sein, Arbeitnehmer im besten Erwerbsalter, die fast noch ein Jahrzehnt bis zur Erreichung der Regelaltersgrenze der Rentenversicherung vor sich haben, einfach aufs Altenteil zu schicken. Viele von ihnen fühlen sich noch nicht so alt, daß sie ihren Beitrag zum Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern nicht mehr leisten könnten. Die wollen arbeiten und nicht zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen.
Herr Feilcke hat in seiner Rede die Möglichkeit eines Teilvorruhestands angesprochen. Eine ähnliche Möglichkeit gibt es bisher schon. Interessanterweise, für mich eigentlich unverständlicherweise, wird von diesem Instrument viel zu wenig Gebrauch gemacht. Vielleicht liegt das auch daran, daß das in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt war.
Kollege Laumann hat bereits in seiner Kurzintervention auf die produktiven Arbeitsförderungsmaßnahmen Ost hier hingewiesen. Ich möchte mir deshalb
ersparen, noch einmal besonders darauf einzugehen.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das kann man gar nicht oft genug wiederholen!)

— Da haben Sie recht, Herr Laumann, aber trotzdem wollen wir es nicht tun.
Trotzdem möchte ich einmal darauf hinweisen, daß zu diesen neuen Instrumenten, die von besonderer politischer Intelligenz erzeugt wurden, immer nur noch maßlosere und noch kostenträchtigere Forderungen gestellt werden und andererseits bei der Frage der Finanzierung dieses neuen Instruments auf die Verantwortung der Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit verwiesen wird. Durch eine solche Politik wird nicht nur eine unerfüllbare Erwartungshaltung bei den Bürgern in den neuen Bundesländern geweckt, sondern zu allem Überfluß auch noch die Bereitschaft zur Finanzierung der Einheit in Westdeutschland untergraben.
Man darf nicht glauben, daß diese Diskussion nur eine Seite hat, nämlich die Sicht des Ostens; es gibt auch eine zunehmende Diskussion in Westdeutschland. Wir wären alle sehr froh, wenn uns die Arbeit hier nicht noch erschwert würde. Wir müssen deshalb alle an einem Strang ziehen, und zwar am selben Ende, wenn wir möglichst schnell für die Menschen in den neuen Bundesländern einen Lebensstandard erreichen wollen, jedenfalls in den nächsten Jahren, wie wir ihn hier in Westdeutschland haben.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, die Vorfinanzierung der produktiven Arbeitsförderung Ost und damit den Aufschwung in Ostdeutschland sicherzustellen, Die Verantwortlichen vor Ort — die Länder, die Kommunen und die Treuhand — sind hier gefordert.
Unsere produktive Arbeitsförderung Ost ist nicht die bloße Fortschreibung alter Ideen von gestern. Das ist unser arbeitsmarktpolitischer Ansatz für die Zukunft der neuen Bundesländer. Deswegen müssen wir Ihre Vorschläge leider ablehnen. Wir fordern Sie aber auf, konstruktiv an der Bewältigung der Herausforderung „Deutsche Einheit" mitzuarbeiten.
Ich bedanke mich.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213431600
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Renate Rennebach.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es spannend!)


Renate Rennebach (SPD):
Rede ID: ID1213431700
Ich weiß nicht, ob es spannend wird.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Feilcke, solange Sie über Modelle reden, sind wir auch — anders als Sie und Ihre Fraktion — bereit, Ihnen gerne zuzuhören. Wenn Sie diese Modelle auf den Tisch legen und sie sind konstruktiv, sind die Sozialdemokraten die letzten,



Renate Rennebach
die im Interesse der Menschen solche Modelle ablehnen würden.

(Zuruf von der SPD: So ist das! — Beifall bei der SPD)

Aber ich sage Ihnen auch ganz ehrlich, bisher haben wir noch nichts auf dem Tisch, und deswegen können wir hier im Plenum — —

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber man darf doch nachdenken!)

— Selbstverständlich, man muß sogar nachdenken, und viel öfter wäre das vielleicht auch ganz positiv. Aber weil noch nichts auf dem Tisch liegt, habe ich mich eben entschlossen, als ich Ihnen und Ihren Kollegen zuhörte — auf den Herrn Staatssekretär möchte ich nicht eingehen —

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Mangels Masse bei Ihnen!)

— Nein, ich sag' nichts dazu, keine Wertung. Aber ich denke, wir reden über die Dinge, wenn sie auf dem Tisch liegen, und heute habe ich mich entschlossen, meine Rede so zu halten, wie ich sie vorbereitet habe. Da wird Sie das eine oder andere stören, denn Sie hatten ja eine Idee, aber sie lag halt nicht diskussionsreif auf dem Tisch.
In einem unglaublichen Kraftakt, der auch jede Menge makabre Züge hatte, hat das Parlament noch vor der Sommerpause des vorigen Jahres — —

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt doch eine Märchenstunde!)

dem Antrag der SPD-Fraktion zugestimmt, das Altersübergangsgeld für die neuen Länder zu verlängern, leider jedoch nur unzureichend, nämlich bis zum Jahresende 1992.
Jedem normalen Menschen war klar, daß dies nicht ausreicht. Die Probleme sind jetzt, Anfang 1993, eher größer statt kleiner geworden und die Arbeitsmarktsituation eher dramatischer als entspannter. Damit verschlechtern sich automatisch auch die Vermittlungschancen von älteren Menschen am Arbeitsmarkt immer noch mehr. Schließlich tut die unsägliche AFG-Novelle ihren Teil noch dazu.

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Unsittlich!) — Unsäglich und unsittlich.


(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie haben nicht begriffen, daß die AFG-Novelle gut ist!)

— Ach so, das liegt wahrscheinlich an meinem beschränkten Kleinhirn. Aber es gibt ein paar Millionen Menschen, die so denken wie ich.

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Weil sie von Ihnen verhetzt werden! — Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Paar Millionen sind nicht die Mehrheit!)

Und was macht die Bundesregierung? Ihr fällt nichts besseres ein, als den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit in gefährlichem Maße zu kürzen. Sie erfindet gar noch ein Sparkonzept, das sie „föderales Konsolidierungsprogramm" nennt — ein Wort, das relativ
schwer auszusprechen ist; ich hatte schon Angst, daß ich mich verhaspeln werde —

(Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Üben, üben!)

— ja, üben, üben; aber dadurch wird das Programm nicht besser — und das unter anderen Ferkeleien

(Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Was war das für ein Wort? — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ist das hier eine landwirtschaftliche Debatte, Herr Präsident?)

im wesentlichen die Ärmsten der Armen durch Leistungskürzungen trifft, also diejenigen, die keine Arbeit mehr haben, und hier vor allem diejenigen, die auf Grund ihres Alters keine Chance mehr haben, wieder eine neue Arbeit zu bekommen.
Wir können uns gern über Zoologie im nächsten Abschnitt unterhalten.

(Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Sie fangen damit ja schon an!)

— Dann machen wir das ausführlicher.
Herr Blüm stellte sich heute morgen hin, um die vielen falschen Arbeitslosen zu suchen. Dazu fällt mir nun wirklich nichts mehr ein. Er sucht und sucht, damit er im Mai nicht kürzen muß.
Darüber hinaus will die Bundesregierung bei den bisherigen Beziehern von Altersübergangsgeld doppelt kürzen; denn zum ersten fährt sie das Altersübergangsgeld auf die Höhe von Arbeitslosengeld zurück, das sie zum zweiten dann noch um 1 % oder um 3 % kürzen will. Hier ist doch vom Grundsatz her etwas falsch und faul, meine Damen und Herren. Gegenwärtig beziehen in Ostdeutschland fast 600 000 Menschen Altersübergangsgeld — eine enorme Zahl. Diese Menschen werden jetzt abgestraft, und zwar abgestraft für eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung.
Nun zu unserem Antrag: Jenseits der finanziellen Ausstattung des einzelnen ist der Antrag der SPD- Fraktion, das Altersübergangsgeld bis 1994 zu verlängern und auf ganz Berlin auszuweiten, das Gebot der Stunde.

(Beifall bei der SPD — Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ach so!)

Wie ich eingangs schon sagte, nimmt die eh schlechte Vermittlungschance älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb am Arbeitsmarkt zwischen jung und alt ab. Es ist für die Betroffenen schon schwierig genug, keine Arbeit mehr zu haben. Auch das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, ist schrecklich. Das zumindest, Herr Feilcke, hatten Sie auch erkannt. Diesen Menschen sollte man die Mühle der Bundesanstalt für Arbeit ersparen. Hier ist das Altersübergangsgeld das richtige und menschlichere Instrument.
Und warum nun ganz Berlin? Kolleginnen und Kollegen, West-Berlin hat nach dem Fall der Mauer allein im ersten Jahr der Einheit über 50 000 Menschen aus dem Ostteil der Stadt und dem Umland



Renate Rennebach
Arbeit geboten, ohne daß die Arbeitslosenquote in der Stadt gestiegen ist

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Über 100 000 inzwischen!)

— ohne daß die Quote gestiegen ist. Der Drang auf den West-Berliner Arbeitsmarkt hat logischerweise nicht nachgelassen; denn drumherum kracht vieles zusammen. Der Wegfall der Berlin-Subvention führt jedoch nun dazu, daß Firmen Personalabbau in erschreckendem Ausmaße betreiben. Jeden Tag hört man hier neue Zahlen.
Die Folge ist, daß ein Run auf die noch vorhandenen Arbeitsplätze stattfindet, der — wie unsere Gesellschaft nun einmal ist — von jüngeren Arbeitnehmern gewonnen wird. Immer mehr ältere Menschen verlieren ihre Arbeit und bewerben sich erfolglos auch in West-Berlin. Die Arbeitslosenquote hat inzwischen mit 11,9 % die Spitze der alten Bundesrepublik erreicht und nähert sich der Quote von Ost-Berlin, die bei 13 % liegt. Es ist traurig, aber wahr: Nur in diesem Punkt wird die Einheit vollzogen. Gewollt war dies von den Menschen, die die Einheit wollten, sicherlich so nicht. Aus dieser Angleichung ergibt sich die Notwendigkeit, daß, wenn der Antrag diskutiert wird bzw. durchkommt, die Regelung zum Altersübergangsgeld in beiden Teilen der Stadt gelten muß.
Damit die Grundlage für das, worüber wir hier reden, klar ist, nun einige Zahlen: In Ost-Berlin gab es im Dezember 1992 32 390 Bezieherinnen und Bezieher von Altersübergangsgeld und 88 600 Arbeitslose. Man muß diese Zahlen addieren, um an die Wirklichkeit heranzukommen. Man muß auch andere noch hinzunehmen, aber ich sage einmal: Diese beiden Zahlen sprechen schon für sich.
Eine Hochrechnung besagt, daß je Kalendermonat in den neuen Bundesländern einschließlich Ost-Berlin etwa 7 000 Menschen 55 Jahre alt werden. Das heißt, im Jahre 1993 können bis Mitte Dezember zwischen 80 000 und 90 000 neue Altersübergangsgeldempfänger dazukommen.
Wenn wir West-Berlin noch hinzuziehen, das in der Altersstruktur nicht wesentlich anders aussieht als Ost-Berlin, so werden es noch mehr. Zum Vergleich: Von den 116 600 Arbeitslosen in West-Berlin sind 11 690 über 55 Jahre alt. Sie würden nach unserer Regelung in den Genuß von Altersübergangsgeld kommen.
Die Regierung und allen voran der Finanzminister wird aufstöhnen: Soviel Geld läßt die Finanzlage nicht zu.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist das!)

— Sicher, das ist ein Problem. Aber wir finden andere Möglichkeiten der Sparsamkeit in diesem Land sicherlich. Herr Feilcke, Ihr Modell läßt sich zwar diskutieren, aber es wäre keine Alternative für die Menschen und eine ganz schlimme Situation.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Immer wenn wir Sparvorschläge machen, sind Sie doch dagegen!)

Die Menschen gehen stempeln. Dafür werden sie aus dem Topf der Bundesanstalt bezahlt. Vermittelt werden sie nicht, weil die Jungen die wenigen existierenden Arbeitsplätze besetzen. Qualifizierung ja, aber wohin dann?
Ich frage Sie noch einmal: Welche Alternative sehen Sie in den Koalitionsfraktionen und in der Regierung?

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das haben Sie sich aufgeschrieben, bevor Sie meine Rede gehört haben!)

— Natürlich habe ich mir das vorher aufgeschrieben; das ist logisch, weil ich hier im Parlament nicht schreibe.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie sollten einmal frei reden!)

— Also, Laumann, nun wird es dumm!
Aber, Herr Feilcke, noch einmal zu Ihrem Modell: Wenn Sie so gute Ideen haben — das Gebot der Stunde sagt, daß das andere am 31. 12. ausgelaufen ist —, warum sind Sie mit Ihrem Modell nicht vorher gekommen?

(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Lieber eine gute Idee spät als gar nicht!)

Wir haben jetzt Mitte Januar.
Die Antworten, die wir von Ihnen zur Zeit bekommen, können wohl nicht die richtigen sein. Ich meine die verzweifelte Suche von Herrn Blüm nach den echten und falschen Arbeitslosen. Dies ist eine Diskriminierung sondergleichen.
Aber statt dieses lächerliche und makabere Spielchen zu betreiben, sollten Sie lieber einmal sachlich und vernünftig nachdenken und unserem Antrag, das Altersübergangsgeld bis 1994 zu verlängern, zustimmen. Dies ist eine wirkliche Alternative, um die Arbeitsmarktsituation zu entspannen, bis sich hoffentlich durch verbesserte Instrumente an der ganzen Situation etwas gebessert hat.
Im übrigen, wenn wir uns über 55jährige und 50jährige unterhalten, die heute blaß am Arbeitsmarkt dastehen, sollte uns auffallen, daß wir im Moment über eine Altersgruppe sprechen, der wir, wenn ich mir den Altersdurchschnitt dieses Parlaments ansehe, exakt entsprechen.
Stellen Sie sich doch einmal vor, Sie sind in einer solchen Situation, nach vielen Jahren der Arbeit auf der Straße zu stehen, nicht mit dem Gefühl unendlicher Freiheit, sondern mit der bitteren Tatsache konfrontiert: Ich werde nicht mehr gebraucht.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieter-Julius Cronenberg (FDP):
Rede ID: ID1213431800
Frau Abgeordnete Rennebach, mein Kollege Helmuth Becker hat heute morgen den Begriff Sauerei gerügt. Mir ist natürlich bewußt, daß ein Ferkel nur eine kleine Sau ist, demgemäß also eine Ferkelei nur eine kleine Sauerei ist. Aber ich möchte Sie allen Ernstes doch bitten, diesen unparlamentarischen Ausdruck in Zukunft nicht mehr zu benutzen.



Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Meine Damen und Herren, meine Kollegin Frau Barbara Weiler hat Wahlkreisverpflichtungen und bittet daher, als Schriftführerin sozusagen entlassen zu werden. Die Kollegin Frau Gerlinde Hämmerle hat sich bereit erklärt, ersatzweise diese Funktion wahrzunehmen. Ich gehe einmal davon aus, daß das Haus nichts dagegen einzuwenden hat und mit diesem Tausch einverstanden ist. — Danke schön. Dann vollziehen wir den so.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten HeinzJürgen Kronberg das Wort.

Heinz-Jürgen Kronberg (CDU):
Rede ID: ID1213431900
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als unser Parlament 1991 beschloß, ein Altersübergangsgeld für Arbeitnehmer im Osten Deutschlands einzuführen, die nach der Herstellung der deutschen Einheit arbeitslos wurden, hofften wir alle, daß das eine zeitlich kurze Maßnahme sein soll.
Die CDU/CSU-Fraktion und der Bundesarbeitsminister haben sich später mit Nachdruck für die zwischenzeitliche Herabsetzung der Altersgrenze und die letztmalige Verlängerung bis zum Dezember 1992 eingesetzt. Dies geschah vor dem Hintergrund der Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Folgen der SED-Erblast. Alle beteiligten Gruppen — alle! — würdigten für die vergangenen Jahre das Altersübergangsgeld als erfolgreiche Maßnahme, die zur Erhaltung des sozialen Friedens beigetragen hat. Daß dieses Lob auch vom Bundesrat und von der SPD kommt, freut uns in diesen Zeiten besonders.
In den neuen Bundesländern — ich kann dies für Thüringen definitiv sagen — konnten durch das Altersübergangsgeld die schlimmsten Auswirkungen des SED-Erbes abgefedert werden. Insgesamt profitieren im Januar 1993 in der Bundesrepublik fast 600 000 Menschen von dieser Regelung. Ich finde, dies ist eine wichtige, weil positive Nachricht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Die gerade beschriebenen Erfolge ändern nichts an der grundsätzlichen Absicht der Bundesregierung und unserer Fraktionen, die Regelung des Altersübergangsgeldes als zeitlich befristet zu sehen. Notwendig ist nach unserer Ansicht auch und gerade in der heutigen Situation die Schaffung von Arbeitsplätzen statt der Fortführung der Quasi-Verrentung arbeitsfähiger Personengruppen. Dies sieht die SPD wahrscheinlich genauso. Ihr Gesetzentwurf, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der eine Verlängerung des Altersübergangsgeldes vorsieht, hilft uns dabei aber leider trotzdem nicht.
Die Begründung, durch das Gesetz ,,Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten" zu beseitigen, ist — genauer betrachtet — ein sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Bumerangwurf. In der angespannten Finanzlage ist die Übernahme der Regelung des Altesübergangsgeldes für weitere Personengruppen einfach nicht finanzierbar. Bereits auf der Basis des bisherigen § 249e AFG würde die Einbeziehung von eindreiviertel Jahrgängen den Bund zusätzlich 4,4 Milliarden DM kosten. Ihre weiteren Vorschläge zur Kostenentlastung werden durch die Einbeziehung von Arbeitnehmern aus West-Berlin kompensiert. All das Geld, was wir für Ihre Lösungsvorschläge verwenden würden, fehlte uns dann für aktive Arbeitsmarktpolitik an anderen Stellen. Die Diskussion um die Konsolidierung der Staatsfinanzen, in der wir uns zur Zeit befinden, führt uns die Notwendigkeit gezielter und auf spezielle Personengruppen gerichteter arbeitsmarktpolitischer Instrumente doch nur allzu deutlich vor Augen.

(Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

Der noch ausstehende Solidarpakt soll — genauer gesehen — in vielen Bereichen nichts weiter als die Abkehr vom Gießkannenprinzip sein. Für die Forderung der von den Kollegen der SPD hier angesprochenen Bevölkerungsgruppe habe ich auf Grund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit bei uns in den neuen Bundesländern vollstes Verständnis. Für diese Personengruppen gibt es jedoch bei Arbeitslosigkeit auch die üblichen Möglichkeiten von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, was, wenn wir unsere europäischen Nachbarn ansehen, keine Selbstverständlichkeit ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Es kann letztlich auch nicht sinnvoll sein, nach und nach den Kreis der Anspruchsberechtigten immer mehr auszuweiten und damit neue Begehrlichkeiten der von der Regelung nicht erfaßten Gruppen zu bewirken, ganz zu schweigen von der Klientel in den alten Bundesländern; auch daran müssen wir inzwischen denken.
Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten werden durch den Gesetzentwurf nicht ausgeschlossen. Er birgt — ganz im Gegenteil — doch erhebliche rechtliche Schwächen in sich. Die Rechtsfolgen, die sich aus der von Ihnen geforderten Streichung des Teiles des § 249h AFG ergeben würden, hat die Bundesregierung schon in der Unterrichtung zur Stellungnahme des Bundesrates zum AFG vom Oktober letzten Jahres dargelegt. Beispielsweise entstünden durch die fehlenden Übergangsregelungen Eingriffe in laufende Ansprüche. Ich erspare es mir jetzt ganz einfach, auf Einzelheiten einzugehen, denn wir werden das im Ausschuß noch ausführlich genug besprechen.
Das richtige Ziel der Sozialpolitik der Bundesregierung ist nicht, Arbeitnehmer, die noch viele Jahre von der Altersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung entfernt sind, durch rein passive Leistungen abzusichern. Wir müssen statt dessen Arbeit finanzieren. Ich habe schon davon gesprochen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die vorhin schon genannte Einführung der Öko-AB-Maßnahme in § 249 h AFG eine zukunftsweisende und richtige Maßnahme.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Auch der Bundesarbeitsminister fordert ja verstärkt die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt.
Was wir brauchen, sind deshalb mehr Anregungen für den aktiven Arbeitsmarkt wie etwa die Gewährung von Lohnkostenzuschüssen. Dies belebt die Arbeitsmarktpolitik und hilft den Betroffenen. Wer Arbeit sucht und sich mit dem Warten nicht zufriedengeben will, dem hilft zwischenzeitlich eine Teilzeitbeschäftigung. Für andere mag dies bereits ausreichend



Heinz-Jürgen Kronberg
sein. Für den Arbeitgeber ist die Gewährung von Lohnkostenzuschüssen ebenfalls attraktiv. Wir finanzieren so natürlich auch die Wettbewerbsfähigkeit und die Existenz unserer eigenen ostdeutschen Betriebe — das will ich hier gar nicht verschweigen —,

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gut!)

aber wir tun dies mit direktem Bezug auf die Beschäftigten.
Die Arbeitsmarktlage in Gesamtdeutschland hat sich ja nicht gerade verbessert. Wir müssen uns überlegen, welche in den jungen Bundesländern mit Erfolg erprobten Maßnahmen auch in den alten Bundesländern sinnvoll angewendet werden können oder welche Maßnahmen gleich in Gesamtdeutschland eingeführt werden sollten. Die von uns erarbeitete Teilvorruhestandsregelung könnte z. B. dafür Modell stehen. In den Gesprächen über den Teilvorruhestand, die wir im Rahmen der Ausschußarbeit führen werden, werden wir noch genug Gelegenheit haben, uns über genaue Regelungen und Einzelfallprobleme den Kopf zu zerbrechen.
Ich halte die Verwirklichung der vorgeschlagenen Regelung für nicht möglich. Ich hoffe auch, daß die Opposition flexibel genug ist, ihren Antrag in den Beratungen im Fachausschuß in ein zukunftsweisendes Konzept zu verwandeln. Die angestrebte zeitliche Verlängerung des Bezugs des Altersübergangsgeldes und die Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten sind aus unserer Sicht jedenfalls nicht akzeptabel.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213432000
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3974 und 12/3737 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10, den letzten Punkt der heutigen Tagesordnung, auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung (. Strafrechtsänderungsgesetz)
— Drucksachen 12/1739, 12/4151 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hedda Meseke Dr. Hans de With
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat unser Kollege Wolfgang Ullman das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1213432100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie sich die Drucksache anschauen, die Gegenstand unserer kurzen Debatte sein wird, dann werden Sie mir hoffentlich darin zustimmen, daß der Stand der Angelegenheit alles andere als befriedigend ist. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat noch kein Sterbenswörtchen zu dieser Sache gesagt. Der Rechtsausschuß hat eine Anhörung beschlossen, die aber aus mir nicht ganz deutlichen Gründen — technischer Art, nehme ich an — verschoben worden ist.

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Nein, die Professoren hatten keine Zeit!)

Das ist der gegenwärtige Stand.
Es geschieht natürlich auch sonst, daß wichtige Vorlagen liegenbleiben. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß es sich um eine Drucksache vom 5. Dezember 1991 handelt. Angesichts der Debatten über Politikverdrossenheit ist es wahrscheinlich aber doch wohl das verkehrte Signal, wenn wir diese Initiative auf die lange Bank schieben, ganz gleich, wie der eine oder andere darüber denkt. Es wird ja bei solchen Verschiebungen gerne auf die Kompliziertheit der Materie hingewiesen. Wenn man den Entwurf der SPD und den unsrigen vergleicht, dann sieht man schon, wo einige juristische Haken sind; das ist richtig.
Aber ich glaube, auch dann in Ihrer aller Namen sprechen zu können,

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vorsichtig!)

wenn ich sage: Wir haben doch schon wesentlich kompliziertere Materien in kürzerer Zeit bewältigt und abgeschlossen. Das soll auf einen Appell hinauslaufen, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Ich darf vielleicht als ein subsidiäres Argument — um mich eines häufig gebrauchten Terminus zu bedienen — anführen, daß zur Zeit ja auch in der Gemeinsamen Verfassungskommission über Parlaments- und Abgeordnetenrechte debattiert wird. Die Gelegenheit ist also günstig, mit einem vernünftigen Ergebnis an die Öffentlichkeit treten zu können.
Nun kann man natürlich sagen, von seiner Materie her sei es ein eher marginales Gesetz; das sehe ich auch so.

(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was ist ein marginales Gesetz?)

Aber ich glaube, es gibt eine öffentliche Aufmerksamkeit für diese Sache. Hieran wird gemessen werden, wie ernst wir die Maßstäbe in Sachen Parlament und Moral nehmen, die wir auf uns selbst anwenden. Das ist ein im Augenblick sehr viel diskutiertes Thema. Ich denke, es wäre ein guter Beitrag des Deutschen Bundestages, wenn er diese Arbeit vorantriebe.
Ich habe also das dringende Ersuchen, Herr Kollege Wiefelspütz, der Ausschuß möge sein Schweigen brechen. Ich hoffe, daß wir dann auch im Rechtsausschuß nach gehabter Anhörung schnell ans Werk gehen können.



Dr. Wolfgang Ullmann
Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Jetzt habe ich aber nicht verstanden, worum es eigentlich geht!)

— Um Abgeordnetenbestechung. Die Drucksache liegt aber vor, Herr Feilcke.

Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213432200
Der nächste Redner ist unser Kollege Andreas Schmidt (Mülheim).

Andreas Schmidt (CDU):
Rede ID: ID1213432300
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch wir, Herr Kollege Ullmann, die CDU/CSU- Bundestagsfraktion, halten es für ein berechtigtes Anliegen, die Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung auf die Tagesordnung der politischen Beratungen zu setzen.

(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die Rechtsgüter, die von der Frage der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung tangiert sind, sind in einer Demokratie und in einem Rechtsstaat von elementarer Bedeutung. Es geht hierbei um folgende zu schützende Rechtsgüter: Es geht um den Grundsatz gleicher Möglichkeiten zur Beeinflussung der Legislative, um das demokratische Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger, um den Schutz der Funktionsfähigkeit des repräsentativen Systems sowie, meine Damen und Herren — das ist das Allerwichtigste —, um die Wahrung des öffentlichen Vertrauens in die Integrität der Parlamente und der Mandatsträger.
In einer Zeit zunehmender Politikverdrossenheit und Skepsis gegenüber parlamentarischen Entscheidungen ist es unsere Pflicht, in allen Bereichen der Politik Zeichen zu setzen, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Unabhängigkeit und Sachbezogenheit politischer Entscheidungen zu stärken.
Wir lehnen daher die Gesetzesvorlage der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht generell ab, sondern wir wollen uns ihrem Anliegen in einem fairen Dialog öffnen.
Wir geben allerdings zu bedenken, daß die Problematik der Abgeordnetenbestechung bisher weder unter Staats- noch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten genügend beleuchtet worden ist. So findet sich in der wissenschaftlichen Diskussion — mit Ausnahme großer Rechtskommentare — kaum ein Dutzend verwertbarer Aufsätze und Monographien zu diesem Thema. Daher schlagen wir vor, zunächst die Anhörung des Rechtsausschusses, die nunmehr auf den 3. März dieses Jahres festgesetzt worden ist, abzuwarten, um anschließend fundierter in die Diskussion einsteigen zu können.
Gerade das Strafrecht als Ultima ratio darf in keinem Fall mit einer heißen Nadel gestrickt werden. Rechtsstaatliche Strickfehler könnten nämlich dazu führen, daß das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger noch um vieles mehr erschüttert wird, als ich es eingangs bereits angedeutet habe.
Wenn wir auch im politischen Bereich die Sanktionswürdigkeit der Abgeordnetenbestechung durchaus anerkennen, müssen wir uns zunächst mit den rechtlichen Fragen beschäftigen, die mit der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung verbunden sind. Ich möchte hier nur einige heikle Bereiche skizzieren, ohne abschließend zu den Rechtsfragen Stellung zu nehmen; Klarheit erhoffen wir uns schließlich von der bevorstehenden Anhörung.
Erstens. Es ist fraglich, ob ein eigener Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung bzw. -bestechlichkeit mit der Immunitätsregelung des Art. 46 des Grundgesetzes vereinbar ist. In dieser Norm ist ausdrücklich angeordnet, daß ein Abgeordneter auf Grund seines Abstimmungsverhaltens gerichtlich nicht verfolgt werden darf.
Zweitens. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen: Welche Anforderungen sind unter dem Gesichtspunkt des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes gemäß Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes an eine Strafnorm der Abgeordnetenbestechung zu stellen? Es ist die Frage zu klären: Was ist genau unter dem Begriff des Kaufens bzw. Verkaufens einer Stimme zu verstehen?
Wir müssen uns auch mit der Frage auseinandersetzen, ob es bei den vielfältigen Formen moderner Mandatsausübung mit dem Ziel der Einflußnahme auf Entscheidungen der Fraktionen, Parlamente und Regierungen überhaupt ausreicht, die Strafbarkeit ausschließlich an die Stimmabgabe in den zuständigen parlamentarischen Gremien zu binden.
Ich glaube, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden dem wichtigen Thema der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung gerechter, wenn wir die vorbezeichneten Fragestellungen zunächst ausführlich erörtern.
Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Wer die Augen offen hält, um Kritik formulieren zu können, darf nicht verkennen, daß viele Länder, darunter Portugal, Spanien, Dänemark, Frankreich, Italien, die Niederlande, Großbritannien und die USA, die Sanktionierung der Abgeordnetenbestechung bereits kennen. Die Bestrafung erfolgt teils aus Gewohnheitsrecht, teils aus einer weiten Fassung der allgemeinen Bestechungsdelikte, aber auch aus eigens eingeführten Tatbeständen.
Für all die Abwägungen zwischen den berechtigten Anliegen des Gesetzentwurfs und den genannten Fragestellungen sollten wir uns Zeit lassen und nach der Durchführung der Expertenanhörung noch einmal in den Ausschüssen und hier im Plenum diskutieren.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213432400
Der nächste Redner ist unser Kollege Hans de With.

Dr. Hans de With (SPD):
Rede ID: ID1213432500
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sage aber auch: Sehr geehrter, lieber Herr Ullmann! Und ich füge



Dr. Hans de With
hinzu: Maß für Maß. Denn es liegt eine Vorlage der SPD vor, die noch ein bißchen älter ist als die Ihre.

(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Auch Ihre Partei ist älter!)

Wir hätten natürlich denselben Antrag wie Sie stellen können. Das stellte indirekt eine Rüge gegenüber dem Rechtsausschuß dar, weil dieser die Sache bisher noch nicht abschließend behandelt hat. Nur haben Sie versäumt, folgendes darzustellen.
Der Rechtsausschuß hat bis zur Hälfte dieser Legislaturperiode 425 Vorlagen erhalten, in der ganzen letzten Legislaturperiode 522. Berechnen wir einmal die Zeit, von der ab die Beratungen hätten aufgenommen werden müssen; denn die erste Lesung hat rechtzeitig stattgefunden. Wir haben in den 15 Sitzungswochen 23 Sitzungen gehabt, d. h. wenigstens 8 Sondersitzungen, dazu noch 6 Anhörungen und außerdem 3 auswärtige Sitzungen, nämlich in Potsdam, Hannover und Weimar.

(Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich ja mitgemacht!)

Im wesentlichen ist die Verzögerung darauf zurückzuführen, daß wir Gesetze verabschiedet haben, die die neuen Länder betroffen haben. Ich nenne nur zwei: das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und das Vermögensrechtsänderungsgesetz. Sie dürfen versichert sein, daß wir Sozialdemokraten, die wir den ersten Gesetzesantrag eingebracht haben, nicht nur hinter dieser Sache stehen, sondern diese auch sehr nachdrücklich betreiben werden.
Mit allen Stimmen im Rechtsausschuß, auch mit Ihrer Stimme, hatten wir bereits am 16. September ein Anhörungsverfahren für den 4. November beschlossen. Es konnte nur deswegen nicht durchgeführt werden, weil ein Großteil der Sachverständigen — sie waren universitär verpflichtet — absagen mußten. Wir haben ein zweites Anhörungsverfahren beschlossen, wiederum mit Ihrer Stimme. Es findet am 3. März statt. Die Sache läuft also. Ich kann mich nicht erinnern, Herr Kollege Ullmann, daß Sie in einer der Obleutebesprechungen gesagt hätten: Ihr faulen Leute im Rechtsausschuß, tut einmal etwas! Sie haben dazu geschwiegen.

(Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe auch jetzt nicht über Faulheit gesprochen!)

Eine gute Sache hat diese Debatte aber doch. Denn ich höre von seiten der CDU/CSU zum erstenmal wirklich positive Töne. Das läßt mich hoffen, daß wir das leidige Thema der Abgeordnetenbestechung endlich beenden können, indem wir wieder eine Vorschrift in das Strafgesetzbuch hineinbringen. Es ist in der Tat keinem normalen Menschen beizubringen, warum jeder Beamte unter Strafdrohung bei Korruption steht, nicht aber der Abgeordnete. Daß ein Abgeordneter, wenn er am Gelde hängt, genauso mißlich für den Staat wirkt wie ein Beamter — ja, deutlich mißlicher —, bedarf wohl keiner Frage.
Deswegen ist es wirklich des Schweißes der Edlen wert, eine Vorschrift zu finden, die zum einen das Strafwürdige wirklich abdeckt, zum anderen aber so fein ziseliert ist, daß damit das freie Mandat in seiner
Freiheit und Unbeschränktheit nicht unziemlich eingeschränkt wird. Denn wir dürfen das eine nicht mit dem anderen erschlagen.
Ich bin deshalb nach der heutigen Debatte — sie ist noch nicht abgeschlossen — guter Hoffnung, daß wir alsbald zu einem guten Ende kommen werden. Ich kann jedenfalls für die Sozialdemokraten versichern, daß wir alles tun werden, damit noch in dieser Legislaturperiode eine entsprechende Vorschrift ins Strafgesetzbuch kommt.
Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213432600
Ich erteile nunmehr unserem Kollegen Burkhard Zurheide das Wort.

Burkhard Zurheide (FDP):
Rede ID: ID1213432700
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schaffung eines Tatbestandes, mit dem die Abgeordnetenbestechung unter Strafe gestellt wird, ist ein höchst komplexes und schwieriges Vorhaben. Gerade deswegen ist es so wichtig, sorgfältig vorzugehen und wirklich nichts über das Knie zu brechen.
Der Rechtsausschuß hat vorgesehen, im März eine Sachverständigenanhörung durchzuführen, um auf dieser Grundlage die Beratungen fortzusetzen. Der ursprünglich ins Auge gefaßte Termin für eine Anhörung im November konnte nicht zustande kommen, weil die einzuladenden Sachverständigen Terminprobleme hatten. Dies sind jedenfalls die objektiven Tatsachen.
Meine Damen und Herren, Art. 38 GG, der den Abgeordneten als unabhängig und nur seinem Gewissen unterworfen beschreibt, hat sowohl die innere als auch die äußere Unabhängigkeit im Auge. Andererseits, aber durchaus nicht im Widerspruch dazu, gewinnt die repräsentative Demokratie ihre Legitimation gerade daraus, daß Wähler, Bürger und Interessenvertreter Einfluß nehmen können und daß umgekehrt die Abgeordneten bereit zu sein haben, sich damit auseinanderzusetzen. Die parlamentarische Demokratie findet nämlich nicht in Quarantäne, sondern mitten in der Wirklichkeit statt. Es ist völlig legitim, Interessen zu verfolgen, und es ist genauso legitim, diese Interessen aufzugreifen. Entscheidend ist aber, daß sich der Abgeordnete vor einer Entscheidung, in deren Vorfeld die unterschiedlichsten Einflüsse und Einwirkungen auf ihn ausgeübt wurden, eine innere Position verschafft hat, in der er seine innere Unabhängigkeit bewahren kann, und zwar in Kenntnis, Würdigung und Abwägung aller Argumente und unter Beachtung seines Gewissens, um dann im wahrsten Sinne des Wortes eine freie Entscheidung treffen zu können.
Wenn er diese Entscheidung allerdings trifft, weil ihm dafür irgendwelche Vorteile versprochen worden sind, ist er eben nicht mehr innerlich unabhängig. Hier gilt es, die Grenzlinien zu bestimmen.
Aber ist schon derjenige nicht mehr unabhängig, der auf der Gehaltsliste einer Gewerkschaft, eines Verbandes oder von sonstwem steht? Wird allein



Burkhard Zurheide
deswegen auf ihn ein unzulässiger Einfluß ausgeübt? Kann und soll dies schließlich sogar strafwürdiges Unrecht sein? Wo können die Abgrenzungslinien für Abgeordnete gezogen werden, die neben ihrer Tätigkeit in diesem Hause ihrem ursprünglichen Beruf nachgehen und dafür natürlich auch entlohnt werden? Am Ende darf ja wohl nicht herauskommen, daß nur noch derjenige Abgeordnete Abgeordneter sein kann, der keinem anderen Beruf nachgeht.
Die Entscheidung, neben der Tätigkeit hier noch einen Beruf auszuüben, ist jedem selbst zu überlassen, soweit er nicht schon auf Grund gesetzlicher Vorschriften gezwungen ist, seinen ursprünglichen Beruf aufzugeben. Dies ist eine persönliche Entscheidung, die weder begründet noch gerechtfertigt werden muß. Ob allerdings — gestatten Sie mir an dieser Stelle diesen kleinen Schlenker — die Ausgestaltung der Abgeordnetentätigkeit zu einem Full-time-Job der Optimierung unserer politischen Entscheidungsprozeduren gedient hat, scheint mir zunächst bedenkenswert zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist also sehr schwierig, einen rechtstechnisch brauchbaren und sauberen Tatbestand der Abgeordnetenbestechung zu formulieren. Es ist notwendig, sich zuvor darauf zu verständigen, welche Fallgruppen unzulässige Einflußnahme sind und welche Fallgruppen davon wiederum auch noch strafwürdiges Unrecht darstellen.
Daneben sollten andere, flankierende Maßnahmen dem Anliegen, die Unabhängigkeit des Abgeordneten zu stärken, Rechnung tragen. Mehr Transparenz könnte dienlich sein. Es könnte überlegt werden, Befangenheitstatbestände einzuführen, wie sie in der Kommunalpolitik völlig selbstverständlich sind. Eine wirksamere Sanktionierung von Fehlverhalten erscheint auch möglich.
Schließlich stellt sich die sehr schwierige und wichtige Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die staatliche Justiz berechtigt sein soll, parlamentarische Vorgänge zu überprüfen und sie zu sanktionieren. Vielleicht kann es sich aus verfassungspolitischen
Gründen empfehlen, eine solche Strafgewalt bei anderen Institutionen als der staatlichen Justiz anzusiedeln, möglicherweise beim Parlament selber.
Wir sollten bei dieser Frage, die unser Ansehen in der Öffentlichkeit ebenso wie unser Selbstverständnis berührt, sorgfältig und unvoreingenommen vorgehen. Dieses Thema eignet sich nicht zu populistischen Aktionen, auch wenn die Versuchung noch so groß sein sollte.
Der F.D.P. geht es in dieser Frage darum, daß nicht durch einen gesetzgeberischen Schnellschuß das Gegenteil dessen erreicht wird, was eigentlich angestrebt wird. Die Unabhängigkeit des Abgeordneten ist das wesentliche Element einer repräsentativen Demokratie. Unabhängigkeit hat viele Facetten. Sie kann nicht verordnet werden, und sie kann nicht dadurch erreicht werden, daß man so tut, als könne man jegliche Einflußnahme verhindern, sie unter bestimmten Umständen sogar unter Strafe stellen. Dies hätte den wirklich abgehobenen Abgeordneten zur Folge, den wir jedenfalls nicht wollen.
Ich bin davon überzeugt, daß am Ende dieser Diskussion Maßnahmen und Regelungen geschaffen werden können, die zur Erhöhung der Unabhängigkeit des Abgeordneten beitragen und andererseits auch die notwendigen und klar formulierten Strafvorschriften schaffen können.
Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P und der CDU/CSU)


Helmuth Becker (SPD):
Rede ID: ID1213432800
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 22. Januar 1993, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.