Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/4107 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Dr. Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind mehr Menschen durch Kriege ums Leben gekommen als in diesem schrecklichen Weltkrieg selbst mit seinen furchtbaren Verlusten, und mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist Krieg leider auch wieder mitten in Europa möglich geworden. Während wir heute morgen hier debattieren, wird ein paar hundert Kilometer von uns entfernt im ehemaligen Jugoslawien ein entsetzlicher Krieg geführt, ein Krieg, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir alle sind Tag für Tag Zeugen, und niemand wird sagen können, er habe es nicht gewußt.Wir müssen darauf achten, daß dieser elende Krieg nicht auch noch schlechte Schule macht, denn Möglichkeiten für weitere gewalttätige Konflikte gibt es zuhauf, überall, wo der totalitäre Sozialismus das friedliche, freiheitliche, föderale Aufarbeiten von Volksgruppen-, Minderheiten- und religiösen Konflikten verhindert hat. Solche Konflikte können leicht zu neuen diktatorischen Strukturen führen, und solche Diktaturen könnten leicht versucht sein, durch Aggression nach außen von ihrer Unfähigkeit abzulenken, innere Probleme zu lösen. Das war in derGeschichte schon oft so. Die Waffenarsenale, auch die nuklearen, sind dafür in der Erbmasse des ehemaligen Sowjetreiches immer noch in überreichem Maße vorhanden.So bleibt der Friede gefährdet, und der Friede ist zumindest in Europa unteilbar. Das, meine Damen und Herren, heißt, daß auch in Zukunft jeder, der zur Durchsetzung politischer Ziele militärische Mittel anwenden möchte, überzeugt werden muß, daß das nicht lohnt, weil er, wenn er es tun würde, auf den entschiedenen und überlegenen Widerstand der zivilisierten Völkergemeinschaft stoßen würde. Das ist der Weg, den Frieden zu sichern. Wenn Sie so wollen, ist es eine Abschreckungsstrategie oder eine Strategie der „dissuasion" — der französische Begriff der Entmutigung beschreibt eigentlich besser, was wir wollen und meinen —, und diese Strategie ist bezogen auf unsere nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes so multipolar gewordenen Friedensgefährdungen.Weil der Friede unteilbar ist, geht es bei dem, worüber wir debattieren, auch um unsere eigene Sicherheit. Weil es um unsere eigene Sicherheit geht, müssen wir uns daran mit gleichen Rechten und Pflichten beteiligen. Denn Friedenssicherung heißt — heute vielleicht mehr denn je — Bündnisfähigkeit. So hat sich immer der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr definiert.Genauso müssen wir übrigens die Bemühungen der Vereinten Nationen unterstützen und fördern, Frieden zu wahren und Frieden zu schaffen, auch wenn wir von einem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen noch weit entfernt sind, von dem ja im übrigen auch die Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich nicht ausgeht.Aber selbst wenn wir davon noch weit entfernt sind, sollten wir uns doch wenigstens an dem beteiligen, was die Vereinten Nationen heute und morgen zur Friedenswahrung und zur Konfliktbewältigung leisten und leisten könnten, und wir müssen uns daran mit gleichen Rechten und Pflichten beteiligen. Es wird jedenfalls auch in Zukunft Frieden und Freiheit nicht zum Nulltarif geben.
Nachdem wir Einheit und volle Souveränität für unser Deutschland wiedererlangt haben, erwarten
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11464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Wolfgang Schäubleeben Europa und die Weltgemeinschaft von uns, daß wir unseren Beitrag zur Friedenssicherung — wie alle anderen — nicht verweigern. Wir haben über 40 Jahre lang letztlich ganz gut damit gelebt, daß für Krieg und Frieden andere zuständig waren, über die wir uns notfalls noch entrüsten und gegen die wir notfalls noch demonstrieren konnten.
Aber damit ist es jetzt vorbei. Deshalb müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaffen, daß sich auch unsere Bundeswehr an kollektiven Maßnahmen zur Sicherung des Friedens beteiligen kann.Verfassungsrechtlich ist das nach unserer Überzeugung und nach der ganz überwiegenden Meinung der Rechtswissenschaft durch Art. 24 unseres Grundgesetzes schon heute hinreichend geregelt und geklärt.
Aber wir haben immer gesagt, und alle Bundesregierungen haben es über Jahrzehnte gesagt, daß wir vor einer Entscheidung über einen Einsatz der Bundeswehr eine Klarstellung für wünschenswert halten, weil man in einer solchen Lage nicht über die rechtlichen Grundlagen streiten soll.Deswegen hat die Koalition den Sozialdemokraten Gespräche über eine klarstellende Verfassungsänderung angeboten, um die verfassungsrechtlichen Fragen außer Streit zu stellen. Wir lassen uns dabei auch von der Überzeugung leiten, daß wir besser in Bonn entscheiden, als den Streit nach Karlsruhe zu verlagern.
Ich sage noch einmal: Das hat nichts mit unserer ganz festen Überzeugung zu tun, daß die verfassungsrechtliche Lage heute klar ist, aber wir wollen es außer Streit stellen. Deswegen sind wir bereit und bieten eine Verfassungsergänzung zur Klarstellung dessen an, was — gegen unsere Überzeugung — bestritten ist.Die Sozialdemokraten haben auf unser Angebot und unsere Einladung zu Gesprächen gesagt, die Koalition möge doch eine Initiative im Bundestag einbringen. Sie haben das zur Vorbedingung für Gespräche gemacht, und wir sind dieser Bitte unverzüglich nachgekommen und legen Ihnen eine Initiative zur Ergänzung des Grundgesetzes vor.
— Ich finde überhaupt nicht, daß das zum Lachen ist. Ich halte das nicht für einen Anlaß, aus dem wir die üblichen parteitaktischen Spielereien betreiben sollten.
Wir haben Sie um Gespräche gebeten. Wir sind uns alle einig, daß wir die Entscheidung nicht Karlsruhe zuschieben, sondern selbst entscheiden. Wir haben Ihnen Gespräche vorgeschlagen, wir beharren darauf. Wir sind keine Prinzipienreiter und keine Rechthaber. Wir sagen: Bitte sehr, wir wollen uns über eineverfassungsergänzende Klarstellung einigen. Als wir Sie zu Gesprächen eingeladen haben, haben Sie gesagt, wir als Koalition mögen eine Initiative im Bundestag einbringen. Wir haben gesagt: Wenn das der Weg zu Gesprächen ist, machen wir es. Das haben wir am Mittwoch beschlossen und gesagt, weil es eilig sei, wollten wir gleich heute die erste Lesung machen. Das ist der Tatbestand.
Nun denke ich, daß Sie die Gespräche und die Beratungen auch nicht verweigern, sondern daß wir uns so rasch wie möglich um eine gemeinsame Lösung bemühen.Mit unserem Vorschlag zur Ergänzung des Art. 24 wollen wir klarstellen, daß unbeschadet des Art. 87 a des Grundgesetzes die Streitkräfte des Bundes auch bei friedenserhaltenden und bei friedensherstellenden Maßnahmen auf Grund entsprechender Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen eingesetzt werden können — und darüber hinaus auch in Ausübung des Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung, wie es in Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt ist. Kollektive Selbstverteidigung heißt in der Sprache der Charta der Vereinten Nationen, daß jedes Mitglied der Vereinten Nationen einem anderen angegriffenen Mitglied auf dessen Bitte hin zu Hilfe kommen kann, bis der Sicherheitsrat, dem solche Maßnahmen sofort anzuzeigen sind, die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.Wir schlagen vor, daß wir darüber hinaus einschränkend festlegen, daß wir eine solche Maßnahme niemals allein, sondern immer nur gemeinsam mit anderen Staaten, mit denen wir verbündet sind, treffen dürfen. Wir wollen damit auch ausdrücken, daß wir den Frieden durch unsere Einbindung in Bündnisse sicher halten wollen, wozu allerdings auch gehört, daß wir unsere Pflichten in diesen Bündnissen entsprechend mit übernehmen.Ich denke, die Sozialdemokraten sollten unseren Vorschlag nicht ablehnen. Sie sollten ihn klug bedenken, und Sie werden finden, daß Sie keinen tragfähigen Grund zur Ablehnung haben.
Die Beschränkung auf Blauhelmeinsätze, wie sie von manchen von Ihnen vertreten wird, macht ja schon lange keinen Sinn mehr. Das wissen Sie ja. Die Trennung von Blauhelm- und anderen Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen ist durch die tatsächliche Entwicklung doch längst überholt und obsolet.
Das hat auch Ihr Vorsitzender, der Kollege Klose, in diesen Tagen wieder ausdrücklich bestätigt.Derartige Abgrenzungen sind im übrigen nicht nur eher akademisch, sondern vermitteln auch noch den falschen Eindruck, als wären Blauhelmeinsätze der Vereinten Nationen eher etwas Harmloses und Ungefährliches. Das ist schließlich etwa angesichts der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11465
Dr. Wolfgang SchäubleBlauhelmaktion in Bosnien-Herzegowina reichlich unverantwortlich.
In einer Bürgerkriegssituation wie in Somalia ist es eben mit der bloßen Anwesenheit fremder Truppen auch nicht getan, sondern ein solcher Einsatz hilft den Menschen nur, wenn man die Menschen auch vor Gewalt schützt und Gewalt bekämpft.Also noch einmal: Die Trennung, die Differenzierung zwischen Blauhelm- und anderen Einsätzen der Vereinten Nationen, wie sie von manchen in der Sozialdemokratie noch vertreten wird, ist kein tragfähiger Ansatz für eine Lösung der politischen Probleme.UNO-Generalsekretär Boutros Ghali, der uns in dieser Woche in Bonn besucht hat, hat öffentlich an uns Deutsche appelliert, unsere Pflichten aus der Charta der Vereinten Nationen einschließlich militärischer Einsätze vollständig wahrzunehmen. Er hat dabei ganz ausdrücklich auch friedenserzwingende Maßnahmen angesprochen. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion hat danach erklärt, man müsse über diese Wünsche von Boutros Ghali neu reden. Er hat im übrigen auch darauf hingewiesen, daß Präsident und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt und Boutros Ghali, in dieser Frage seinerzeit einer Meinung gewesen seien.Deswegen denke ich, daß die Sozialdemokraten dies alles als Chance zum Umdenken nutzen sollten.
Noch einmal: Die Trennung zwischen Blauhelm- und anderen Einsätzen macht keinen Sinn, und Sie wissen das.Dann bleibt der Punkt mit dem Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung. Ich finde, Sie können unserem Vorschlag schon deshalb zustimmen, weil wir solche Einsätze an die Voraussetzung der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestages im Einzelfall binden wollen. Das heißt, wir wollen solche Entscheidungen immer nur im Einvernehmen mit der großen Oppositionsfraktion treffen. Deswegen haben Sie eigentlich wenig überzeugende Argumente, auch insoweit unseren Vorschlag abzulehnen.
Die Sache ist viel zu wichtig, meine Damen und Herren, als daß wir sie zu parteitaktischen Spielereien mißbrauchen dürften.
Sie haben überhaupt keinen Grund, irgend etwas zu reklamieren, weil wir genau das gemacht haben, worum Sie gebeten haben.
— Wir fangen jetzt mit den Beratungen an. Sie werden Ihre Argumente darlegen. Ich lege gerade die unseren dar.Es geht um die Handlungsfähigkeit, um die Bündnisfähigkeit, es geht um die Friedensfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland. Da darf sich keiner verweigern. Im übrigen haben unsere Soldaten Anspruch auf Klarheit, auf Solidarität und auf Konsens aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte.
Wir alle gemeinsam wollen die Vereinten Nationen stärken. Deshalb sind Entscheidungen ohne Beschlüsse des Sicherheitsrates nicht das, was wir als Regelfall anstreben, ganz im Gegenteil. Aber uns durch eine Verfassungsänderung darauf einzuschränken, das würde gegen unsere Bündnisverpflichtungen verstoßen, und es würde uns international und europäisch isolieren. Sie wissen, daß wir Verpflichtungen eingegangen sind, uns an friedensherstellenden Maßnahmen auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen zu beteiligen. Deswegen dürfen wir jetzt nicht unsere Verfassung ändern und diese Möglichkeit ausschließen.Aber indem wir sagen, wir wollen jede Entscheidung im Einzelfall nur mit der Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages treffen, kann eine Entscheidung gegen Ihre Stimmen nicht getroffen werden. Ohne den notwendigen Konsens der politischen Kräfte wollen wir solche Entscheidungen nicht treffen.Weil wir uns international und europäisch nicht isolieren dürfen, kann sich auch niemand verweigern, und niemand kann verantworten, sich einer Zustimmung zu dieser klarstellenden Initiative zu verweigern, auch nicht im Respekt vor den Beschlüssen Ihres Parteitages.Die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Sicherung von Frieden und Freiheit ist entscheidend wichtig. Weil das so ist, will ich ausdrücklich betonen, daß durch die von uns vorgeschlagenen Formulierungen die Voraussetzungen für den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung des NATO- und WEU-Gebietes gegenüber der geltenden Rechtslage nicht verändert werden sollen und dürfen.
Noch einmal: Die Sache, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist wichtig, und sie ist eilbedürftig. Wir wissen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland sehr schnell unter weitergehende Entscheidungszwänge gestellt sehen kann. Je schneller und je klarer wir die politischen und rechtlichen Fragen außer Streit stellen, um so besser dienen wir dem Frieden.Niemand, keiner von uns will Soldaten der Bundeswehr leichten Herzens in gefährliche Einsätze entsenden, und niemand verfügt leichtfertig über Leben und Gesundheit unserer Soldaten. Es gehört auch zum Ernst dieser Debatte, daß wir uns darüber einig sind und uns das nicht gegenseitig absprechen.
11466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzurig. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993Dr. Wolfgang SchäubleAber zur Wahrheit gehört auch, daß der Friede gefährdet bleibt und daß er auch unteilbar bleibt. Je mehr sich die Gemeinschaft der Europäer und die zivilisierte Weltgemeinschaft für den Frieden engagieren und je besser und klarer wir dazu unseren Beitrag leisten, um so besser sind die Chancen, den Frieden zu wahren.
Das ist der Auftrag unserer Bundeswehr, dafür leisten unsere Soldaten ihren Dienst, und dafür müssen wir verantwortlich handeln.Wir stehen heute vor großen Herausforderungen und Gefahren. Aber wenn wir entschlossen und mutig handeln, können wir sie meistern. Wir haben große Chancen, aber sie werden uns nicht geschenkt.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Karsten Voigt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach mehr als einem Jahr einer zermürbenden Kontroverse innerhalb der Regierungskoalition haben Sie heute endlich einen gemeinsamen Entwurf zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt. Damit hatten Sie prinzipiell den Standpunkt der SPD akzeptiert, daß das Grundgesetz einer Änderung bedarf, bevor sich die Bundeswehr an Einsätzen über ihren bisherigen begrenzten Auftrag hinaus beteiligen darf.
Allerdings muß ich feststellen, daß nach dem Beitrag von Herrn Schäuble meine Hoffnung zerstoben ist, daß Sie zumindest in diesem Punkt zu dem verfassungspolitischen Konsens aller bisherigen Bundesregierungen zurückgekehrt sind.
Seit nun fast einem Jahr liegt dem Bundestag ein Vorschlag der SPD zugunsten von friedenserhaltenden Blauhelmeinsätzen der Bundeswehr vor. Wäre dieser Vorschlag von Ihnen akzeptiert worden oder zumindest konstruktiv aufgegriffen worden,
dann könnten sich Einheiten der Bundeswehr heute auf einer rechtlich eindeutigen und verfassungsrechtlich nicht umstrittenen Basis an allen Einsätzen beteiligen, die der Generalsekretär Boutros Ghali von Deutschland in Somalia wünscht — ohne irgendeine Ausnahme.
Es ist und bleibt Ihre Schuld, daß die Klärung bis zum heutigen Tag verweigert wurde. Ihr Vorschlag heute bringt uns einem parlamentarischen Kompromiß nicht einen einzigen Millimeter näher. Im Gegenteil: Sein einziges Verdienst ist es, endgültig klarzustellen, daß unsere Auffassungen über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr und damit letzten Endes über Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik des vereinigten Deutschland zur Zeit unvereinbar sind.Unsere Unterschiede beschränken sich nicht auf Einzelheiten, die sich durch eine parlamentarische Beratung in einzelnen Ausschüssen des Bundestages überbrücken ließen.
Wenn Sie nicht bereit sind, Ihren Vorschlag nicht nur im Detail, sondern grundsätzlich zu revidieren, wird sich im Bundestag für diesen Vorschlag keine Zweidrittelmehrheit finden. Der Vorschlag wird Makulatur bleiben und, historisch gesehen, im Papierkorb landen.
Erstens. Wir lehnen Ihren Vorschlag nicht deshalb ab, weil wir der heutigen Bundesregierung oder unseren europäischen und atlantischen Partnern weniger als der UNO trauten, sondern deshalb, weil wir es in einer Zeit, in der politisch und völkerrechtlich die Tendenz, die UNO zur zentralen Friedensinstanz mit Interventionsmonopol zu machen, vorherrscht, für ein historisch rückschrittliches Signal halten, wenn Sie das Grundgesetz mit dem Ziel militärischer Interventionen auch außerhalb von Sicherheitsratsentscheidungen verändern, also dafür öffnen wollen.
Zweitens. Wir lehnen diesen Vorschlag ab, weil damit ein Schritt in eine vorrangig von den Interessen der Industriestaaten bestimmte vermachtete Interventionspolitik gegangen wird
und selbst bei heute besten Absichten der Bundesregierung künftiger Mißbrauch keineswegs ausgeschlossen bleibt.
Ihr Entwurf bedeutet im Extremfall eben auch, daß Deutschland im Zweier- oder Dreierbündnis mit Großbritannien oder Frankreich oder mit der gesamten Westeuropäischen Union in Afrika oder im Nahen Osten kämpfen könnte — und das ohne eine vorhergehende Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates
und immer dann, wenn uns irgendeine Regierung in Afrika oder im Nahen Osten um Beistand bittet.
Eine gegenteilige Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates können die westlichen Mitglieder des Sicherheitsrates dann immer blockieren. Insofern hilft dieser Hinweis überhaupt nichts. Eine derartige Pra-
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Karsten D. Voigt
xis würde tatsächlich zu einer Militarisierung der deutschen Außenpolitik führen.
Das wäre eine verhängnisvolle Weichenstellung, weg von unserem Ziel einer deutschen Friedensmacht in Richtung auf eine militärische Interventionsmacht.Ein falsches Konzept wird nicht dadurch annehmbarer, daß es im Einzelfall einer Zweidrittelmehrheit bedarf, um ein falsches Konzept zu verwirklichen.
Wenn Sie sich in Ziffer 3 Ihres Entwurfes darauf beschränkt hätten, den Bündnisfall ausdrücklich an eine Zweidrittelmehrheit zu binden, dann hätte diese Ziffer unsere Zustimmung finden können.
Statt dessen aber versteckt sich in dieser Ziffer hinter verklausulierten Formulierungen das ganze Ausmaß einer wieder einmal umgefallenen F.D.P.
Die unausgegorenen Formulierungen Ihres Entwurfes führen übrigens dazu, daß der Bundetag künftig eine Zweidrittelmehrheit braucht, um Frankreich beizustehen, wenn es angegriffen wird,
aber daß es nach Ziffer 2 Ihres Entwurfes nur einer einfachen Mehrheit des Bundestages bedarf, wenn deutsche Soldaten zur Verteidigung des Kuwait am Golf kämpfen sollen.
Damit haben weltweite Interventionsabsichten für die Koalitionsparteien offensichtlich Vorrang vor Bündnisverpflichtungen.
Das ist absurd und völlig inakzeptabel. Zugleich ist es bezeichnend für den bei der Mehrheit der Koalition gegenwärtig vorherrschenden Trend einer konzeptionellen Neuorientierung der deutschen Außenpolitik.Der Entwurf ist mit derart heißer Nadel gestrickt worden, daß trotz der Befassung zweier Ministerien und ausgewiesener Fraktionsexperten ein Vorschlag erarbeitet worden ist, der im Zeitpunkt der Veröffentlichung von Professor Scholz am liebsten wieder eingestampft worden wäre. Dieser Vorfall wirft allerdings nicht nur ein Licht auf die Arbeitsweise der Bundesregierung; er macht auch deutlich: Gerade im Umgang mit der Verfassung sind Sorgfalt und Ruhe wichtig.
Ein Jahr lang waren die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen handlungs- und entscheidungsunfähig. Jetzt sind ihre Vorlagen Ausdruck nicht nur von Hektik, sondern auch von Schlampigkeit.
Lassen Sie uns bei allem grundsätzlichen und heute durch keinen Kompromiß zu überbrückenden Streit über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr ohne Preisgabe unserer unterschiedlichen Rechtsauffassungen darüber nachdenken, was das Grundgesetz bereits heute zuläßt
und was wir im Grundgesetz gemeinsam verankern könnten! Lassen Sie uns jetzt jenseits des Streites über Rechtsauffassungen in dem einen Punkt, in dem wir einer Meinung sind, nämlich der Beteiligung der Bundeswehr an friedenserhaltenden Blauhelmeinsätzen, eine Einigung finden, die die sonstigen unterschiedlichen politischen Konzeptionen und Rechtsauffassungen nicht berührt! Ich sage dies noch einmal: Wir brauchen in diesem Punkt einen Konsens, der verfassungsrechtlich Klarheit schafft und sonst keine der unterschiedlichen Auffassungen in irgendeiner Form rechtlich beeinträchtigt.Wenn Sie dieses Angebot zur Güte, das ich im Interesse der Handlungsfähigkeit der deutschen Außenpolitik mache, ausschlagen, dann sehe ich keine Möglichkeit für einen parlamentarischen Kompromiß in dieser Legislaturperiode. Es blieben dann nur noch zwei gleichermaßen schlechte Alternativen: Entweder die Bundeswehr beteiligt sich auch weiterhin nicht einmal an friedenserhaltenden Maßnahmen — obwohl auch wir Sozialdemokraten dies nicht nur unterstützen, sondern geradezu darauf drängen, weil wir Boutros Ghali mit seinen Reformabsichten im Rahmen der Vereinten Nationen unterstützen wollen —, oder Sie handeln im Verfassungsstreit gegen uns. Das ist gleichermaßen schlecht und wäre nur möglich, wenn die F.D.P., die unter Bundesaußenminister Genscher stolz darauf war, Urheber unserer Verfassungsinterpretation zu sein, erneut umfiele. Dies halte ich nicht für unwahrscheinlich — eher für wahrscheinlich —, wenn auch aus unserer Sicht für nicht wünschenswert. Dies muß die F.D.P. aber letzten Endes selber entscheiden. Ein Umfallen würde uns nicht überraschen; aber dies würde bedeuten, daß Bundeswehrsoldaten auf verfassungsmäßig strittiger Grundlage in weltweite Einsätze verstrickt würden. Das müßte dazu führen, daß wir in einem solchen Fall — denn wir werden nicht umfallen —
zur Klärung der rechtlichen Grundlagen vor das Verfassungsgericht gehen müßten.Unser Kompromißvorschlag macht uns für 95 % aller denkbaren UNO-Missionen sofort handlungsfähig. Ich appelliere an Sie: Gehen Sie auf diesen Kompromißvorschlag ein, damit wir diese politische Frage hier im Bundestag entscheiden können und die rechtliche Klärung nicht dem Bundesverfassungsgericht überlassen müssen! Darüber hinaus sage ich Ihnen: Wenn wir uns auf Blauhelmeinsätze einigen, und zwar im ganzen Spektrum der Blauhelmeinsätze
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Karsten D. Voigt
— dieser Begriff hat sich ja weiterentwickelt —, dann werden wir Erfahrungen sammeln, und die internationale Völkergemeinschaft wird mit uns Erfahrungen sammeln. Dieses langsame Herangehen an eine neue internationale Verantwortung wird in Wirklichkeit auch von denen begrüßt, die uns jetzt drängen, auch bei Militäreinsätzen sofort mitzumachen.Wenn Deutschland Ihrem Ratschlag gefolgt wäre und sofort beim Golfkrieg mitgemacht hätte, wären ein Teil der Leute, die uns jetzt kritisieren, weil wir nicht mitgemacht haben, die ersten gewesen, die uns international wegen eines deutschen Militarismus kritisiert hätten. Auch das muß man bei der Umorientierung der deutschen Außenpolitik bedenken.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine gewisse Gefahr besteht in der heutigen Debatte natürlich darin, daß der Text, den wir Ihnen heute vorlegen, gar keine faire Chance der soliden Begutachtung, Überprüfung und Beratung bekommt, weil Sie zu voreilig entscheiden und sich zu schnell auf Bäume hinauftreiben lassen oder selber treiben — wir sind uns sehr wohl über die unterschiedlichen Meinungen in der SPD-Fraktion im klaren —, auf Höhen, von denen Sie nicht mehr herunterkommen.
Von daher ist meine dringliche Bitte, daß wir aus dieser Debatte herausgehen mit der Bereitschaft und der Fähigkeit zum Dialog und Gespräch über eine Vorlage, die nach meiner Auffassung einen beherzten Schritt auf die Sozialdemokraten zu darstellt.
Wir als Liberale sind hochzufrieden mit dem heute vorgelegten Entwurf der Koalition. Die Koalition hat in dieser Frage Handlungsfähigkeit bewiesen und damit eine Menge für ihre innenpolitische wie außenpolitische Glaubwürdigkeit getan. Unsere Verantwortung als wichtiges Mitglied der Staatengemeinschaft erlaubt es nicht, daß wir uns in dieser Frage noch allzu lange Zeit nehmen. Im übrigen werden es uns auch unsere Bürger nicht mehr allzulange abnehmen, daß wir in dieser Frage international ein mehr als bedenkliches Bild abgeben, ja letztlich wieder das jämmerliche Bild abgeben, eine politische Entscheidung, die wir auf uns nehmen müssen, dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen.
Bei seinem Besuch in Bonn in dieser Woche hat Generalsekretär Boutros Ghali nochmals in beeindruckender Form vor Augen geführt, was die Völkergemeinschaft heute von uns erwartet.Wir waren und wir sind in der Frage einer Änderung des Grundgesetzes zu Gesprächen mit der Opposition bereit. Aber es war in der Tat ja die SPD, die uns aufgefordert hat, einen eigenen Koalitionsbeschluß vorzulegen. Wir sind dieser Aufforderung gefolgt, vermutlich wesentlich schneller, als viele von Ihnen das für möglich gehalten haben. Möglicherweise ist die eine oder andere Panikreaktion auch darauf zurückzuführen.
Ich bedanke mich bei allen Partnern, die hier mitgewirkt haben, insbesondere bei Klaus Kinkel für seinen konstruktiven Ansatz. Er hat mit juristischem Scharfsinn und schwäbischem Pragmatismus in den Koalitionsverhandlungen vorgemacht, wie man einen Ausweg aus vermeintlich festgefahrenen Situationen finden kann. Denn zum Ansatzpunkt für den letztlich erfolgreichen Kompromiß wurde die Frage nach dem angestrebten Ziel, das die beteiligten Parteien gemeinsam erreichen wollen. So konnten wir es vermeiden, weiter einen ziemlich müßigen Streit zu führen, der darum geht, was denn nun die angemessene Beratungsgrundlage bei der gegenwärtigen Verfassungsinterpretation ist.Es war und ist für uns Liberale von elementarer und unverzichtbarer Bedeutung, daß jegliche verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Zweifel über einen UN-Einsatz von Bundeswehrsoldaten ausgeräumt werden, bevor wir von jahrzehntelanger verfassungspolitischer Praxis abrücken und uns an solchen Einsätzen beteiligen können.
Das sind wir unseren Soldaten schuldig.
Nur eine Verfassungsänderung kann den für eine so wichtige Entscheidung notwendigen gesellschaftlichen Konsens gewährleisten. Wenn wir den Eindruck erwecken, als würden wir uns nicht gemeinsam mit aller Kraft um diesen Konsens bemühen, dann, fürchte ich, bricht der sicherheitspolitische Grundkonsens in diesem Lande, der für uns alle angeblich doch so wichtig ist, weg. Dabei ginge es dann um mehr als nur um die Zustimmung zu einer Einzelentscheidung. Nur dann werden wir als Parlamentarier künftig auch in der Lage sein, in einzelnen, konkreten Fällen wirklich unter Berücksichtigung der politischen, historischen und militärisch-operativen Bedingungen zu entscheiden, ob sich unsere Streitkräfte an einem UN-Einsatz beteiligen sollen, ohne uns dabei wie bisher auch bei grundsätzlicher Zustimmung von verfassungsrechtlichen Zweifeln und Unsicherheiten beschränken lassen zu müssen. Nur so werden wir — es ist mir besonders wichtig, darauf hinweisen — auch in der Lage sein, eine deutsche Beteiligung im Einzelfall glaubwürdig nachvollziehbar abzulehnen,
ohne daß uns im Ausland vorgeworfen werden kann, daß wir uns wieder einmal aus purer Bequemlichkeit hinter unserer Verfassung verstecken.
Nur so können wir unserer Verantwortung gerecht werden.Wir haben Einvernehmen darüber erzielt, daß die Beteiligung an friedensherstellenden und friedensbewahrenden Maßnahmen zwingend an einen Beschluß des Weltsicherheitsrates geknüpft wird. Das Parla-
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Dr. Werner Hoyerment wird in jedem einzelnen Fall einer möglichen Beteiligung der Bundeswehr an Out-of-area-Einsätzen beteiligt, ja das Parlament wird nicht nur, wie in anderen Partnerländern, über ein Informationsrecht verfügen, sondern es sind wir Parlamentarier, die als gewählte Volksvertreter im Zweifel das letzte Wort haben.Wir erteilen der Bundesregierung keineswegs eine Generalermächtigung zum internationalen Einsatz der Bundeswehr,
sondern wir schaffen für uns selbst als Volksvertretung die Möglichkeit — allerdings auch zugleich die Verpflichtung —, in jedem einzelnen Fall vor dem Einsatz unserer Soldaten die Sachlage sorgfältig zu überprüfen und dann unter Berücksichtigung nur unseres eigenen Gewissens ja oder nein zu sagen.Das Parlament soll mit der Mehrheit seiner Mitglieder das Plazet zu friedensbewahrenden und friedensschaffenden Militäreinsätzen auf der Grundlage von UN-Sicherheitsratsbeschlüssen geben können oder dieses Plazet eben auch verweigern können. Wir halten damit an unserem seit langem verfolgten Weg fest, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu entwickeln und zu achten. Wir treten endlich aus unserer internationalen Isolation heraus.Die Koalition hat sich darauf geeinigt, im Zuge der Grundgesetzänderung auch eine Klausel einzuführen, die es uns ermöglicht, im Rahmen der Wahrnehmung eines Nothilferechts im Sinne von Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen anderen Staaten zu Hilfe zu kommen, wenn diese sich selbst in Notwehr gegen eine akute Aggression wehren und andere Staaten um Hilfe bitten. Allerdings nur so lange — das steht eben auch in Art. 51 —, bis die UNO ihr Gewaltmonopol wahrnimmt und der Sicherheitsrat den Fall an sich zieht.Sowohl das Recht auf Notwehr als auch das Recht auf Nothilfe sind in der UN-Charta niedergelegt. Sie reichen beide weit in die Zeit vor der Verabschiedung der UN-Charta zurück. Wir wollen die Möglichkeit, uns mit unseren Streitkräften an Nothilfeaktionen zu beteiligen, in unserer Verfassung aber an überaus enge Bedingungen knüpfen.
— Herr Kollege Verheugen, lassen Sie mich das eben noch zu Ende führen! Vielleicht kann ich damit schon einiges ausräumen.Wir werden uns an solchen Aktionen nur gemeinsam mit Bündnispartnern beteiligen, also niemals alleine handeln. Wir werden nur dann Nothilfe leisten, wenn vorher eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestags einem Einsatz der Bundeswehr in einem solchen konkreten Fall zugestimmt hat.
Das ist wichtig für den Fall, den ich durchaus sehe: daßein Mitgliedsland der Vereinten Nationen von demSelbsthilfe- oder Nothilferecht der Charta der Vereinten Nationen mißbräuchlich Gebrauch macht. Wir kennen die Fälle, in denen das geschehen ist. Genau deshalb halten wir es für wichtig, daß eine Regierung — sie muß ja nicht immer so gut und so zuverlässig sein, wie diese Regierung es ist —
im Zweifel von der größten Oppositionspartei in diesem Hause daran gehindert werden kann, sich auf Abenteuer einzulassen. Das ist eine wichtige Sicherung.
Herr Abgeordneter Hoyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Verheugen? — Bitte.
Herr Kollege, nur damit sich hier keine falschen völkerrechtlichen Darlegungen testsetzen: Können Sie uns bitte sagen, wo in Art. 51 der UN-Charta die Rede davon ist, daß zum Tätigwerden nach Art. 51 ein Hilfeersuchen erforderlich ist? Oder muß ich daraus schließen, daß Ihnen nicht bekannt ist, daß die gesamte einschlägige Interpretation des Art. 51 davon ausgeht, daß nicht ein Hilfeersuchen, sondern lediglich das Einverständnis erforderlich ist?
Diese Interpretation ist mir ehrlich gesagt neu.
Ich halte sie aber durchaus für denkbar, was an der rechtlichen Bewertung für mich aber nichts ändert;
denn wenn das Einvernehmen von dem in Not befindlichen Staat erfolgt, kann genauso eine Gefahr des Mißbrauchs wie in dem Fall gegeben sein, den ich vorher konstruiert habe. Denken Sie nur an Afghanistan! Diese Mißbrauchsmöglichkeit ist gegeben. Wir werden von daher, wenn wir uns einer grundsätzlichen Option, die für uns persönlich einmal sehr wichtig sein kann, nicht begeben wollen, diese Minilücke lassen müssen. Wir werden sie dadurch schließen müssen, daß wir eine parlamentarische Sicherung einbauen.Ich frage mich, ob Sie, wenn Sie selber gefordert wären, ja zu sagen — andernfalls käme die Aktion nicht zustande —, in sich selbst bzw. in Ihre Führung das erforderliche Vertrauen haben, wenn Sie das ausschließen.
Schließlich muß auch klar sein, daß wir Nothilfe nur in Erwartung eines Sicherheitsratsbeschlusses leisten. Sie können ja darauf achten, daß es so ist. Eine Militäraktion muß sofort zurückgezogen werden, wenn der Weltsicherheitsrat im Einzelfall zu einer anderen Einschätzung gelangen sollte.Ich halte es durchaus für denkbar, daß wir über viele Punkte, die wir Ihnen hier vorgetragen haben, reden, wenn Beratungs- bzw. Verbesserungsbedarf besteht, damit wir zu vernünftigen Ergebnissen kommen kön-
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11470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Werner Hoyernen. Nur müssen wir das Gespräch endlich beginnen. Die Spielräume, die es in diesem Angebot gibt, auf dieser Brücke, die wir zu Ihnen geschlagen haben, sind erkennbar. Sie sollten nicht von vornherein die Brückenpfeiler einreißen, sondern dort, wo Sie noch Lücken sehen, dazu beitragen, die Brücke zu komplettieren.Es besteht von daher noch Verhandlungsbedarf. Es besteht sicherlich auch Verhandlungsspielraum. Voraussetzung ist Ihre Gesprächsbereitschaft.Lassen Sie mich einen letzten Gedanken anfügen. Ich finde es bedenklich, und es hat mich sehr getroffen, daß im Vorfeld dieser Debatte der Eindruck erweckt worden ist, als würde nunmehr die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die Bundeswehr in eine Interventions- oder gar — wie eine Kollegin gesagt hat — in eine Angriffsarmee umfunktioniert werden kann.
Ich finde diese Unterstellung infam. Wir sollten das aus der Debatte herausnehmen.
Kein Mensch in diesem Hause, mit Sicherheit auch nicht bei CDU/CSU oder F.D.P., hat die Absicht, die Bundeswehr zu einer Interventions- oder Angriffsarmee zu machen, im Gegenteil.
Ich bin persönlich überaus skeptisch und manchmal durchaus betroffen, wenn ich feststelle, daß nach dem Ende des Kalten Krieges heute geradezu eine Art Renaissance des Denkens in militärischen Konfliktlösungskategorien fröhliche Urstände feiert.
Vor dreieinhalb Jahren hätte kein Mensch gewagt, in solchen Kategorien auch nur zu denken. Deshalb werden wir auch in Zukunft darauf drängen, daß jede andere Form der Konfliktlösung einer militärischen Aktion vorgezogen wird und alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, bevor wir uns zu einem eventuellen Bundeswehreinsatz bereitfinden könnten, bevor wir uns ihm überhaupt zuwenden.
Die Bundeswehr ist und bleibt Armee in der Demokratie für Frieden und Freiheit.
Die Bundesrepublik wird ihre Bemühungen aktiv fortsetzen, auf eine noch effektivere Wahrnehmung des Gewaltmonopols durch den Weltsicherheitsrat hinzuwirken, damit die UNO ihrer gestiegenen Verantwortung gerecht werden kann. Die Reformbemühungen im Hinblick auf die Institutionen der Vereinten Nationen finden sicherlich unsere volle Unterstützung. Eine Reform dieser Institutionen könnte Fortschritte bringen. Aber wir sollten realistisch bleiben. Insbesondere nach den Erläuterungen von BoutrosGhali hier in Bonn sollten wir bei der Erwartung auf eine kurzfristige Umsetzung solcher Vorstellungen realistisch bleiben.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die Koalitionsfraktionen haben mit der heute wunschgemäß eingebrachten Gesetzesinitiative eine Brücke gebaut. Prüfen Sie ihre Tragfähigkeit wirklich sorgfältig! Ich glaube, daß wir Ihnen ein gewaltiges Stück entgegengekommen sind. Sie wissen, wie schwer wir Liberalen uns mit dem Thema Zweidrittelmehrheit tun. Das können sie sich vorstellen und übernehmen.
Ich fordere Sie eindringlich auf, unser Angebot zum Dialog anzunehmen und sich nicht selber durch eine undifferenzierte Ablehnung des gesamten Pakets die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Nehmen Sie keine absolut ablehnenden Positionen ein, von denen Sie — das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bei der sozialdemokratischen Partei schon zu oft gegeben — später nur mit großer Mühe abrücken können, es letztlich aber doch müssen!Herzlichen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn hier mehrfach, sozusagen als Zuckerbonbon, die Einschränkung angeboten wird, daß man künftig von Alleingängen absehen könne, dann frage ich mich, was Ihnen eigentlich noch alles durch den Kopf geht. Das ist ein Punkt, den bisher nicht einmal die CSU gefordert hat. Wenn das als Verhandlungsmasse gegenüber der SPD angeboten wird, kann man nur Angst bekommen, was noch alles auf einen zukommt.Zweitens. Wenn Herr Schäuble davon spricht, daß manche Staaten durch Aggression von ihrer Unfähigkeit ablenken, Probleme zu lösen, dann muß das auch für die Bundesregierung gelten. Wir diskutieren seit zwei Jahren nichts anderes als Militarisierung und Erweiterung des militärischen Handlungsspielraums. Wenn Herr Hoyer hier die Kritiker dieser Militarisierung kritisiert
und den Begriff „Renaissance militärischen Denkens" verwendet, ist das eine bodenlose Heuchelei. Denn seit dem Ende der Blockkonfrontation präsentieren Sie nichts anderes als Vorschläge zu militärischen Interventionen und dazu, wie sie rechtlich legitimiert werden können.
— Das glaube ich, und es drückt sich in diesem Gesetzentwurf aus. Wir haben einen solchen Gesetzentwurf erwartet. Aber er hätte schlimmer nicht kommen können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11471
Andrea LedererEr war deswegen zu erwarten, weil z. B. Herr Rüttgers bereits vor einigen Monaten in einem Papier schrieb:Deutschland und seine europäischen Partner können weder den Entscheidungen der UNO noch den Mechanismen der KSZE alleine die Regelung der Konflikte überlassen. Die Unwägbarkeiten der Verfahren und Interessen in beiden Institutionen läßt diese ausschließliche Bindung nicht zu.Seit einem Jahr geht es nicht mehr um Blauhelme. Seit einigen Monaten geht es nicht einmal mehr um UNO-Kampfeinsätze. Es geht schlicht und einfach darum, wie die Bundeswehr — zwar nicht im Alleingang, aber schon im Zweigang — militärisch intervenieren kann, und das weltweit. Das ist die Intention dieses Gesetzentwurfs. Nichts anderes darf der Bevölkerung erklärt werden.Hintergrund ist die weltweite Absicherung politischer, wirtschaftlicher, militärischer und ökologischer Interessen, die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen. Das ist ein Zitat vom Vorgänger von Herrn Rühe, Herrn Stoltenberg. Er hat gute Vorarbeit zur Begründung solcher Gesetzentwürfe geleistet.Wenn die F.D.P. behauptet, sie sei nicht umgefallen, sondern sie habe eine UNO-Anbindung durchgesetzt, kann ich wirklich nur lachen. Ich zitiere Herrn Kinkel, der vor einer Woche im Bonner „Generalanzeiger" gefragt wurde: Wie denken Sie über deutsche Militäreinsätze ohne UN-Anbindung:Das wird von meiner Partei nicht mitgetragen. Kampfeinsätze sollten nur unter dem Dach der UNO stattfinden.Es ist wirklich ein Witz, was hier ununterbrochen an Umfallerei passiert. Das führt dazu, daß sich ein Kurs der Bundesregierung durchsetzt, der dieses Land in eine Katastrophe führen wird und die Großmachtpolitik, die mit dem Anschluß der DDR begonnen wurde, fortsetzen und intensivieren wird.Was soll nach diesem Gesetzentwurf künftig möglich sein? Blauhelmeinsätze, von denen alle bereits sagen, daß sie fließend in Kampfeinsätze übergehen, und im Rahmen von Kampfeinsätzen der UNO jede Form, wobei sich dahinter -- das kann nicht oft genug betont werden — auch die Variante verbirgt, die im letzten Golfkrieg geprobt wurde und mittlerweile leider zu einem erneuten Angriff der USA auf den Irak geführt hat. Das ist die Variante, die eine bloße Duldung dieser militärischen Intervention durch den Sicherheitsrat voraussetzt, ein kurzfristig geschaffenes Kriegsbündnis, um nach eigenem Gutdünken zu exekutieren, was politisch und militärisch für zweckmäßig gehalten wird.Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich hoffe, es bleibt dabei, was Sie gesagt haben: Sie fallen nicht um. Der Begriff „Umfallen" ist mittlerweile ein kennzeichnender Begriff für die politische Willensbildung in diesem Haus. Ich hoffe wirklich, daß Sie sich nicht auf irgendeine Art von Dialog und Kompromiß einlassen, sondern wenigstens auf dem Stand bleiben — den ich kritisiere und den wir ablehnen —, den Sie auf Ihrem Parteitag beschlossen haben.Der Gipfel dieses Entwurfs ist in der Tat die Ziffer 3, nach der alles möglich ist. Es ist bereits mehrfach gesagt worden, in welcher Weise kurzfristig zwei Staaten intervenieren können, wenn sie es, angeblich zur Sicherung von Frieden und Freiheit, für nötig halten. Zu sagen, der UNO-Sicherheitsrat könne die Kontrolle schnell übernehmen, ist pure Heuchelei. Sie wissen genau, Sie haben diesen Absatz in den Entwurf eingefügt, damit Sie durch militärische Interventionen Fakten schaffen können, die Sie auf Grund Ihrer Politik für richtig halten. Sie wissen genausogut, daß bereits ein Veto im Sicherheitsrat gegen die Verurteilung einer solchen Aktion die Legalität und Legitimität einer solchen militärischen Intervention herstellen wird. Das sagen Sie aber hier einfach nicht.Nehmen wir einmal an: Ein deutsch-französisches Eurocorps, eine regionale Abmachung sozusagen, sieht sonstwo in der Welt die Sicherheit gefährdet und macht so eine Intervention,
meldet das ordnungsgemäß im Sicherheitsrat, Rußland verurteilt das, und irgendwer legt Veto dagegen ein; vielleicht das zukünftige UNO-Sicherheitsratsmitglied Bundesrepublik Deutschland. — Schon ist die Sache gelaufen, schon ist sie legitimiert, und schon können Sie weltweit weiter agieren und können diese Intervention rechtfertigen.
: Dann kann man
auch mit einer Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsänderung machen!)Das wird genau das sein, womit wir uns auseinandersetzen.Deswegen ist richtig, was gesagt wurde: Es geht momentan darum, die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umzufunktionieren,
Das Verteidigungsministerium in ein Interventionsministerium umzufunktionieren,
und es ist im übrigen genau das, was zum Teil zu Recht der Warschauer-Vertrag-Organisation vorgeworfen wurde. Sie selbst haben das Beispiel Afghanistan angeführt. Das wäre ein Fall sozusagen der Nothilfe, die Sie künftig für sich selbst in Anspruch nehmen. Exakt das!
Ich stelle mir auch den Krieg in Jugoslawien vor. Die Scharfmacher hier, die entgegen dem Rat von Militärs, entgegen dem Rat von vernünftigen Politikern ununterbrochen militärische Einsätze vorschlagen, schließen ein befristetes Zweckbündnis und schlagen eben mal los. Dann möchte ich einmal sehen, was im Sicherheitsrat los ist, ob so einer Aktion die Legitimität entzogen wird. Das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt davon, daß das nicht passieren wird. Infolgedessen kann je nach der Ausgeprägtheit des Militarismus in dem Land, das losschlägt, das in der Welt passieren, was Sie vorhaben.
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11472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Andrea LedererSie können nicht allen Ernstes behaupten, daß diese Vorschläge, die Sie hier unterbreiten, auch nur annähernd etwas mit Friedenspolitik zu tun haben, so wie Sie das hier ununterbrochen suggerieren wollen. Es sind im Grunde genommen auch nicht die Interventionswünsche dieser Bundesregierung, sondern es sind natürlich langgehegte Pläne, die schon von der Konrad-Adenauer-Stiftung entwickelt wurden
und die nun umgesetzt werden sollen. Ein Traum von einem militärisch mächtigen Deutschland, das intervenieren kann entsprechend auch der ökonomischen Potenz!Wenn Herr Hoyer hier auch noch anführt bzw. wenn darauf hingewiesen wird, daß lediglich das Einverständnis eines UNO-Mitglieds nötig sei, dann möchte ich Sie bitte noch einmal an ökonomische Abhängigkeiten erinnern, die bestehen. Da können Sie mir vielleicht zustimmen. Dann möchte ich wissen, wie in dieser Welt ein Einverständnis zustande kommt und welche Druckmittel, beispielsweise ökonomische Druckmittel, Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung haben.Da können Sie doch nicht allen Ernstes behaupten, daß ein Hilfeersuchen und ein Einverständnis ungefähr gleichgestellt seien, sondern Sie müssen zur Kenntnis nehmen, daß durch politischen und ökonomischen Druck durchaus eine Situation hergestellt werden kann, in der im Vordergrund das Interesse der angeblich zur Nothilfe eilenden Großmacht steht und nicht das Interesse, den Frieden in konfliktreichen Regionen wiederherzustellen.
— Mit Ihnen kann man darüber vermutlich kaum noch reden.
Aber ich will mich noch einmal an die SPD wenden. Alle Parteien, insbesondere die SPD, haben erklärt: Nie wieder deutsche Soldaten in anderen Ländern! Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen! — Ich frage wirklich allen Ernstes, warum das heute anders geworden sein soll.Wenn Sie das, was Sie hier vorschlagen, Wirklichkeit werden lassen, dann kann ich nur sagen: Es wird offensichtlich anders werden. Das erfordert erstens eine intensive Aufklärung der Bevölkerung über Ihre Pläne und zweitens erbitterten Widerstand von all denen, die militärische Abenteuer ablehnen, die tatsächlich eine Friedenspolitik und nicht eine weitere Militarisierung der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen wollen.
Ich gebe jetzt das Wort an die Abgeordnete Vera Wollenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist zu begrüßen, daß die CDU/CSU-Fraktion nun zu derAnsicht gekommen ist, daß der Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Vertrag-Gebiets einer Grundgesetzänderung bedarf.
Bisher war es ja Ihre Auffassung, daß der verfassungsrechtliche Status quo jeglichen Einsatz, vom nationalen Alleingang bis hin zur multinationalen Koalition, erlaubt hätte. Allerdings hätte ich mir diese verfassungsrechtliche Klarstellung vor dem Einsatz von Bundeswehrsoldaten in Kambodscha, in Somalia, in Sarajevo oder in der Adria gewünscht.Heikel ist auch, daß es der Bundesregierung mehr darum geht, der legitimationskrisengeschüttelten Bundeswehr neue Einsatzoptionen zu eröffnen, als darum, die Rolle der Vereinten Nationen zu stärken; denn um die UNO zu stärken, brauchte es nicht in erster Linie deutsche Soldaten, sondern deutsches Geld. Um seiner gewachsenen Verantwortung für die Welt gerecht zu werden, könnte sich Deutschland mindestens dazu entschließen, die Summe pro Kopf der Bevölkerung aufzuwenden, die beispielsweise Norwegen der UNO zur Verfügung stellt.Des weiteren wäre es angemessen, wenn Deutschland seine Zahlungen endlich einmal so entrichtete, wie es die Geschäftsordnung der Vereinten Nationen vorsieht, nämlich prompt, zuverlässig und pünktlich. Das ist bisher noch niemals geschehen, wäre aber der gewachsenen Verantwortung des vereinten Deutschland durchaus angemessen.Außerdem hätte Deutschland durch freiwillige und zügige Zahlung in der schwierigen, kritischen Finanzsituation ein weitaus wichtigeres politisches Zeichen setzen können als durch eine Debatte um die Abstellung von Kriegern. Wer meint, das würde die Finanzlage des vereinigungsgeschädigten Deutschlands erschüttern, den möchte ich daran erinnern, daß Deutschland für den zweiten Golfkrieg anteilmäßig mehr bezahlt hat, als es seit der Vollmitgliedschaft ab 1973 insgesamt den Vereinten Nationen einschließlich Sonderorganisationen zur Verfügung gestellt hat. Das Geld ist also da. Es fehlt der politische Wille, es in größerem Umfang für eine nichtmilitärische Unterstützung der Vereinten Nationen auszugeben.Unsere Bundestagsgruppe hat am 10. November 1992 einen Antrag zur nichtmilitärischen Unterstützung der Vereinten Nationen eingebracht, in dem deutlich wird, daß es sehr wohl möglich ist, die Vereinten Nationen wirkungsvoll zu unterstützen, ohne das auf eine militärische Frage zu reduzieren. Es ist auffallend, daß die innerpolitische Diskussion über eine mögliche Beteiligung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen der VN auf Grundlage des Kapitels VII der Charta diesen Aspekt auf eine militärische Frage verkürzt. Sicherheit und Friedensicherung sind aber mehr als militärische Sicherheit.Ich möchte deshalb das von unserer Gruppe vorgeschlagene Spektrum der Unterstützung der Vereinten Nationen noch einmal erwähnen: Unterstützung bei der Bekämpfung von Natur- und Hungerkatastrophen, Unterstützung bei der Bekämpfung von Umweltgefährdungen, Unterstützung bei der Wah-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11473
Vera Wollenbergerrung individueller Menschenrechte, Unterstützung bei friedlicher Konfliktschlichtung, unter anderem Blauhelm-Missionen, Unterstützung bei der Durchführung von Maßnahmen operativen Zwangs wie wirtschaftliche Sanktion, Währungssanktion, völkerrechtliche Sanktion, kulturelle und soziale Sanktion, elektronische Sanktion, beschränkte militärische Operation.Zu den beschränkten militärischen Operationen gehören z. B. die Schaffung eines Korridors, um die hungernde bosnische Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. Dazu gehört für uns die Einrichtung von Luftschutzzonen zum Schutz bedrohter Menschen. Dazu gehört auch die Befreiung der serbischen Folter- und Vergewaltigungslager.Doch obwohl ein Kollege der CDU gestern den unglaublichen Zynismus besessen hat, die vergewaltigten Frauen in Bosnien-Herzegowina als Begründung dafür nutzen, daß die Bundeswehr Übungsplätze braucht, habe ich von unserer christlichen Partei wenig Bemühen urn eine tatkräftige Unterbindung der Greueltaten in Bosnien-Herzegowina gespürt.
Ich bin da nicht die einzige. Hören Sie mal zu, HerrKittelmann! — Mir liegt ein Schreiben eines Bundeswehrgenerals vor, aus dem ich hier zitieren möchte:Ich wende mich an Sie in der verzweifelten Hoffnung, daß doch noch etwas bewirkt werden kann, bevor Serbien die Endlösung erreicht hat und dann friedensbereit sein wird, weil es keine Menschen mehr gibt, die ermordet, verschleppt, vertrieben, vergewaltigt und getötet werden können.
Es geht nicht darum, Serbien zu erobern, es geht darum, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und Kosovo in den völkerrechtlich verbindlichen Grenzen zu sichern, dort befriedete Schutzzonen zu schaffen, das Waffenembargo gegen den Agressor, die Serben, und nicht, wie bisher, gegen die Verteidiger, die Muslime, durchzusetzen, demokratische Einrichtungen und ethnische Minderheiten gegen totalitäre Ansprüche zu schützen und humanitäre Hilfe überall dort zu bieten, wo sie nötig ist. Die ist möglich, wenn der politische Wille vorhanden wäre.Soweit der General der Bundeswehr, der nicht der einzige ist, der den Eindruck hat, daß es der Regierungskoalition über Lippenbekenntnisse und kleinere Hilfsaktionen hinaus an politischem Willen fehlt, die Schlächterei zu beenden.Angesichts des andauernden Blutbades — das stimme ich dem General zu — rechtfertigt kein politischer, juristischer oder militärischer Grund mehr unser Nichthandeln.Im Sommer sprach der Verteidigungsminister davon, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien auszutrocknen oder austrocknen zu wollen. Aber nichts ist seitdem ausgetrocknet worden. Wir sehen jetzt dem im Sommer prognostizierten Massensterben durch Hunger, Kälte, Erschöpfung, durch Kugeln vonScharfschützen, durch Granaten, durch Folter und Exekutionen zu.Wenn es als Folie für den weltweiten Bundeswehreinsatz benutzt werden kann, wird das Massaker in Jugoslawien beschworen. Aber die Bundesregierung kann sich nicht einmal dazu durchringen, dem NATO-Partner Griechenland eindrücklich und unmißverständlich die Einhaltung des Embargos gegen Serbien abzufordern. Es unterbleiben beispielsweise auch andere Maßnahmen operativen Zwangs wie die Unterbrechung der Fernseh- und Rundfunkpropaganda der Serben, der Abbruch sämtlicher diplomatische Beziehungen oder das Einfrieren der serbischen Guthaben. Es unterbleibt die Zusage, die Gefangenen der Vergewaltigungs- und Folterlager unbegrenzt aufzunehmen. Es fehlt auch der politische Wille, intensiv Mittel in die friedliche Konfliktbewältigung zu investieren.Das Geld, das die Regierung nun in den Ausbau der weltweiten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, in luftbewegliche Waffensysteme, Amphibienfahrzeuge, Transportkapazitäten in Form von Flugzeugen und Schiffen, in Kommunikationsstrukturen, in Aufklärungssysteme usw. stecken will, könnte viel besser in die Entwicklung von nichtmilitärischer Konfliktprävention investiert werden.
Unterstützte man mit Rat und Geld den Aufbau demokratischer Strukturen in den Ländern des Südens und in anderen autoritären Staaten, gäbe das einen weit größeren Erfolg als die Verkehrung der Intentionen des Grundgesetzes in ihr Gegenteil, Würde man dann noch seiner gestiegenen Verantwortung dadurch gerecht, daß man den Rüstungsexport entschieden einschränkte und bekämpfte, sowohl den eigenen als auch den innerhalb der EG, könnte man viele weitere blutige Kriege verhindern helfen; denn unbestritten ist, daß die leichte Verfügbarkeit von Waffen modernster Bauart, egal, ob Handfeuerwaffen oder größere Waffensysteme, im letzten Jahrzehnt Zahl, Intensität und Brutalität der militärisch ausgetragenen Konflikte erheblich gesteigert haben. Die Bekämpfung des Rüstungshandels macht den Weg für gewaltfreie Konfliktbewältigung erst frei und gangbar.Eine bundesdeutsche Initiative gegen den Waffenhandel und für die Umwandlung bestehender Kapazitäten für wesentliche finanzielle Unterstützung der Konversion von Rüstungskapazitäten und eine Reform der einseitig auf Rüstung ausgerichteten Wirtschaftsstrukturen der Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs trügen viel mehr zur Konfliktlösung bei als bundesdeutsche Divisionen.All diese Dinge zu machen wären nötiger, als den weltweiten Einsatz der Bundeswehr zu beschließen. Dieser Beschluß — ich wiederhole es — ist ja mehr dem Wunsch nach Bestandserhaltung der Bundeswehr entsprungen als dem politischen Willen, das Unrecht, die Menschenrechtsverletzung en, das Foltern und das Morden auf der Welt zu beenden.
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11474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Das Wort erhält nun der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zusammenbruch 1945 beendete wohl die dunkelste Phase deutscher Geschichte. Mitverantwortung für das Geschehene trug eine durch falsche Politik fehlgeleitete Armee.Erst mit der langsamen Wiedereingliederung in die westliche Völkerfamilie 1955 haben wir auch militärisch allmählich einen Neuanfang gewagt. Die Integration der Bundeswehr in unsere Gesellschaft, dringend notwendig, war eine wichtige und große Aufgabe. Sie ist gelungen.Auch in der neuen Lage stand deutsche Außenpolitik unter dem Vorzeichen von Trennung und eingeschränkter Souveränität. Für die Bundeswehr mußte dies zu Recht die Beschränkung auf Verteidigung bedeuten. Dies war Konsens im Parlament. Dies war Konsens in der Bevölkerung. Dies war Konsens in den Parteien und den Bundesregierungen.Die Entwicklung in der Welt, das Ende des OstWest-Konflikts und die Wiedervereinigung haben eine von Grund auf veränderte Lage geschaffen. In einer neuen Gemeinsamkeit versucht die Staatengemeinschaft unter Führung der Vereinten Nationen und regionaler Abmachungen wie der KSZE, der mit dem Ende der Blöcke aufgeflammten zahllosen Konflikte Herr zu werden. Wir alle haben geglaubt und gehofft — ich habe es gestern in der entwicklungspolitischen Debatte gesagt —, daß nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung Frieden, andere Bedingungen eintreten würden. Aber 52 neue Konflikte weltweit sind in der Zwischenzeit dazugekommen.Auch das wiedervereinigte und souveräne Deutschland muß sich dieser Verantwortung in einer veränderten Welt stellen, und zwar uneingeschränkt. Hätte es hierfür noch einer irgendwie gearteten Bestätigung bedurft, meine Damen und Herren, — was Generalsekretär Boutros Ghali hier in den letzten Tagen gesagt hat, war für meine Begriffe deutlich genug. Deutlicher muß man es eigentlich nicht sagen.
Worum geht es? Wir wollen und müssen in unserem eigenen Interesse und im Interesse der Staatengemeinschaft die volle Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland als Mitglied der Vereinten Nationen herstellen. Die dafür notwendige Anpassung der Verfassung an die neue Lage erfordert zweifellos nicht nur in unserer Bevölkerung, sondern auch hier im Parlament, in den Parteien, bei uns allen einen gewaltigen Umdenkungsprozeß. Verteidigung unseres Landes und des Bündnisses allein reicht nicht mehr aus.Unsere Gesellschaft, die Parteien sind, wie ich finde, zu Recht aufgerüttelt. Gesellschaftlicher, überparteilicher Konsens ist, so weit nur irgendwie möglich, notwendig. Deshalb ist es auch so wichtig, glaube ich,daß wir einander zuhören, miteinander sprechen und nicht bloß gegeneinander reden.
Ich appelliere erneut — wie in den letzten Tagen — an die SPD, ihren Teil dazu beizutragen, daß unser Land den Erwartungen der Völkergemeinschaft entsprechen kann, daß wir allen Pflichten, die die Charta der Vereinten Nationen — Sie berufen sich ja auch immer wieder darauf — ihren Mitgliedern auferlegt hat, nachkommen können.
Ja, meine Damen und Herren, wir sollten bedenken, was an Schrecklichem in der Vergangenheit war. Aber gerade uns kommt aus dieser Vergangenheit eine besondere Verantwortung zu, an der Wiederherstellung von Frieden, Gewaltlosigkeit und Menschenrechten mitzuwirken.
Meine Damen und Herren, unser Grundgesetz hat eine grundlegende Entscheidung für die internationale Zusammenarbeit und den Frieden in der Welt getroffen. Das heißt nicht nur — wie Art. 26 unseres Grundgesetzes es fordert —, sich jeder Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu enthalten, sondern heißt auch, den Weltfrieden auch positiv zu fördern, notfalls eben auch durch Einsatz der Bundeswehr.Ich möchte an dieser Stelle dem, was ich schon einmal im Plenum gesagt habe, hinzufügen: Wie sähe eigentlich die Situation in der Welt, in unserem Land aus, wenn 1945 nicht durch Gewalt — durch Gewalt!— ein Zustand beseitigt worden wäre, der zutiefst Menschenrechte und Frieden in der Welt bedroht hat?
Die Koalition, meine Damen und Herren, will mit dem vorgelegten Gesetzentwurf die verfassungsrechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundeswehr im Ausland außer Streit stellen und dies durch eine Grundgesetzänderung erreichen. Sie haben mir— so wie es Herr Schäuble vorher gesagt hat — in den letzten Tagen mehrfach deutlich gesagt: Legen Sie den Entwurf vor; wir werden im Bundestag mit Ihnen darüber diskutieren; das ist der geeignete Ort. — Wir haben es getan.Art. 87a regelt bereits bisher in der Formulierung „außer zur Verteidigung" den Fall der Landesverteidigung und der Verteidigung im Rahmen vertraglich vereinbarter Beistandspflichten, also den Bündnisfall. Weil das etwas diskutiert wurde, sage ich: Wie — unbeschadet des Art. 87 a — die Formulierung in dem Gesetzentwurf der Koalition zeigt, geht Art. 87 a Abs. 2 auch künftig dem vorgeschlagenen neuen Absatz 2 a des Art. 24 Grundgesetz vor. Es beibt also insoweit bei der bisherigen Regelung; da hat sich nichts geändert, und das wollen wir, wenn es nach mir geht, auch in die Begründung des Gesetzentwurfs aufnehmen,
Erstens. Friedenserhaltende und friedenherstellende Maßnahmen, also Blauhelm-Einsätze und Kampfeinsätze, sind in den Ziffern 1 und 2 geregelt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11475
Bundesminister Dr. Klaus KinkelFür Blauhelm-Einsätze ist regelmäßig ein Beschluß des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erforderlich. Sie können aber auch im Rahmen von regionalen Abmachungen erfolgen, soweit ihnen die Bundesrepublik Deutschland angehört. Damit, glaube ich, sind wir mit der SPD einig.Blauhelm-Einsätze allein reichen aber nicht mehr aus. Sie fransen in der Praxis immer mehr aus. Ich weise auf Somalia hin.Der zweite Punkt: Für friedensherstellende Maßnahmen
verlangt der vorgeschlagene neue Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes immer — immer! — einen Beschluß des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, auch dann, wenn über Kapitel 7 regionale Abmachungen den Beschluß des Sicherheitsrats umsetzen sollen.Drittens. Die Nr. 3 des vorgeschlagenen neuen Abs. 2 d des Art. 24 regelt den Fall, daß ein nicht verbündeter Staat angegriffen wird und um Beistand ersucht oder mit ihm, Herr Verheugen, einverstanden ist. Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen erklärt den Fall der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung nicht nur für zulässig, sondern für ein naturgegebenes Recht der Staaten. Völkerrechtlich galt dies also bereits — Herr Schäuble hat darauf hingewiesen —, bevor die Charta überhaupt geschrieben wurde.Mit unserer Grundgesetzänderung bzw. -ergänzung streben wir keinen Freibrief für Einsätze aller Art an.
Wir sollen mit dieser Nr. 3 Nothilfe ermöglichen, wie das allen anderen Ländern auf dieser Erde möglich ist.
Wenn ich recht orientiert bin — ich bitte mir aus der SPD zu widersprechen —, gibt es auf der ganzen Welt eine einzige Verfassung, in der zu diesem Thema überhaupt etwas drinsteht. Das ist die japanische Verfassung. Ich sage nochmals: Es gibt auf der ganzen Welt, soweit ich orientiert bin — ich lasse mich gern belehren, wenn jemand das besser weiß — keine einzige Verfassung, die Nothilfe ausschließt. Ich spreche jetzt nicht von Japan.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Karsten Voigt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sofort; ich möchte nur den Gedanken zu Ende führen. — Das heißt, völkerrechtlich wären und sind wir überhaupt nicht in der Lage, das Recht auf individuelle Selbstverteidigung und das Recht auf kollektive Selbstverteidigung über unsere Verfassung und in unserer Verfassung auszuschließen. Wir sind lediglich in der Lage, in unserer Verfassung
die Frage der Nothilfe zu regeln, lediglich die Frage der Nothilfe.
Unsere Verfassung kann sich nicht mit dem kollektiven Recht auf Selbstverteidigung befassen. Ich bin ganz gespannt, wie Ihre Rechtsauffassung nachher dargelegt wird. — Bitte, Herr Voigt.
Herr Kinkel, ich lasse einmal den Punkt weg, den Sie jetzt strittig diskutieren, was Sie Nothilfe und was wir Interventionsrecht nennen. In dem gleichen Abs. 3 regeln Sie ja auch die Bedingungen dafür, wann wir Bündnishilfe leisten können, nämlich mit Zweidrittelmehrheit.
— In dem Abs. 3.
Können Sie mir erläutern, warum Sie für den Fall dieser Bündnishilfe, wenn wir also Frankreich beistehen sollen,
dort eine Zweidrittelmehrheit, beim Abs. 2 — Golfkriegmodell — aber nur eine einfache Mehrheit vorsehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe Ihre Frage, Herr Voigt, mit dem, was ich vorher gesagt habe, beantwortet und brauche deshalb darauf nicht mehr einzugehen.
Meine Damen und Herren, gemäß Art. 51 der Charta sind Maßnahmen nur so lange erlaubt, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Damit er diese Entscheidung treffen kann, sind alle vorher getroffenen Maßnahmen sofort anzuzeigen. Alleingänge sind also ausgeschlossen. Die Formulierung „gemeinsam mit anderen Staaten" stellt sicher, daß Deutschland nicht allein, sondern immer nur in Gemeinschaft mit anderen Staaten dem angegriffenen Staat zur Hilfe kommen kann.Die Begrenzung im Rahmen von Bündnissen und anderen regionalen Abmachungen, die wir bewußt aufgenommen haben, stellt klar, daß nicht irgendwelche andere Staaten gemeint sind, sondern nur solche, die uns durch ein Bündnis wie NATO oder WEU oder durch eine regionale Abmachung wie KSZE verbunden sind. Aber auch hier hat der Sicherheitsrat eine Kontrollmöglichkeit. Art. 51 sieht eine Berichtspflicht vor. Daraufhin kann der Sicherheitsrat über den Konflikt und seine Erledigung entscheiden.Jetzt wird der Vetofall — ich darf das einmal sagen — hysterisch hochgespielt.
Die Frage, ob wir in Zukunft überhaupt noch zu Vetosim Sicherheitsrat kommen werden, kann ich natürlichnicht endgültig beantworten. Nur eins scheint sich
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11476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeltendenziell abzuzeichnen — daß das immer weniger der Fall sein wird. Es gibt seit 1991 nicht einen einzigen Fall mehr, und ich wage einmal die Behauptung, daß es auch eher so bleiben wird.
Wenn dann ein Veto eingelegt wird — ich muß noch einmal ganz deutlich sagen, da verstehe ich die Aufregung nicht —, liegt die Entscheidung erneut in den Händen des Deutschen Bundestages.
Sie können hier erneut mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, d. h. wir können nur mit Ihrer Zustimmung darüber entscheiden, ob wir bei einem eingelegten Veto bei der Nothilfe weiter mitwirken oder nicht. — Ich meine, ich kann mir eine massivere Bremse wirklich nicht vorstellen.
Im übrigen haben Sie auch die Möglichkeit, bei dem ersten Zweidrittelmehrheitsbeschluß den Einsatz z. B. zu befristen oder zu konditionieren. Man könnte z. B. beschließen, daß der Deutsche Bundestag erneut zu befassen ist — dann hätten Sie das bereits in der ersten Entscheidung drin —, falls der Sicherheitsrat z. B. nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums entscheidet. Es liegt in Ihrer Hand, mit der Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages beschließen Sie in jedem einzelnen Fall. Das ist verfassungsändernde Mehrheit. Nochmals: Kann es eine massivere Bremse geben?
Nun zum UNO-Dach. Ich möchte hier gern der Legendenbildung vorbeugen.Erster Fall — UNO-Blauhelme unter UNO-Dach: nur nach Sicherheitsratsentscheidung oder UNOAbdeckung, Kapitel 7.8 unseres Gesetzentwurfs.Zweiter Fall — friedenschaffende Maßnahmen: nur und allein auf Grund eines Sicherheitsratsbeschlusses, also unter UNO-Dach.Dritter Fall, sozusagen für die ganz kurze Zeit im Rahmen der Nothilfe — quasi Geschäftsführung ohne Auftrag: sofortige Anbindung an UNO, weil dort zu melden und dann sofort dem Sicherheitsrats- und UNO-Beschluß unterliegend.
— Aber selbstverständlich. Dann darf ich den Fall nochmals erklären.Es ist absolut klar, daß dort zu melden ist, daß sich die UNO, der Sicherheitsrat mit einer Nothilfe befaßt. Dann gibt es drei mögliche Entscheidungen.Wenn die Entscheidung Ja lautet, sind wir abgedeckt. Lautet die Entscheidung Nein, dann müssen wir aus der Aktion raus. Die dritte Entscheidung — ich sage es nochmals: der denkbare Einzelfall — ist ein Veto oder gar keine Entscheidung. Dann unterliegt es Ihrer Entscheidung mit Zweidrittelmehrheit, ob wirdrinbleiben oder nicht. — Können Sie mir mal sagen, wo die UNO-Abdeckung fehlt?Im Strafrecht: A schlägt B, B darf sich wehren, darf jemand zur Hilfe rufen; er muß nicht warten, bis das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, ob er jemand zu Hilfe rufen darf.
Ich verstehe — —
Na, also, Herr Abgeordneter Gansel, Winkeladvokat — —
Sie mögen nicht hören, wie es in der Praxis ist; das ist der Punkt, weil Sie sich auf die Bäume begeben haben, von denen Herr Hoyer vorhin gesprochen hat.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf legt die Entscheidung über den Einsatz deutscher Soldaten in die Hände des Deutschen Bundestages. — Sofort, ich möchte den Gedanken zu Ende führen, Herr Gansel.Wir sind unseren Soldaten schuldig, hier Klarheit zu schaffen; das ist hier schon betont worden.Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Sätze sagen, auf die ich großen Wert lege. Was das, was in dieser Grundgesetzänderung steht, für uns in der Praxis tatsächlich bedeuten kann, weiß ich gerade als deutscher Außenminister sehr wohl. Gestern morgen um halb drei habe ich zusammen mit meinen europäischen Kollegen in Paris — es ist die Ruhe wert, sich diesen Satz anzuhören — des letzten britischen Soldaten gedacht, der vorgestern im UNO-Friedenseinsatz sein Leben verloren hat. Es war nicht das erste Mal im Kreis der Europäer. Wir haben in der letzten Zeit praktisch bei jeder Sitzung eine solche Gedenkminute einlegen müssen. Die fairen, aber fragenden Blicke meiner Kollegen kann jedenfalls ich nicht vergessen und auch nicht ohne weiteres verdrängen: Wie lange kann und will sich Deutschland noch erlauben, nur zuzusehen, daß andere Völker ihre Soldaten zur Friedenssicherung mit allen Konsequenzen einsetzen?
Ich jedenfalls als Außenminister dieses Landes wünsche mir: nicht mehr lange. — Herr Gansel.
Herr Kinkel, haben Sie Verständnis dafür, daß ich, da Sie mich eben angesprochen haben, richtigstellen möchte, daß der vermeintliche Zwischenruf „Winkeladvokat" nicht von mir kam? Und es war auch nicht „Winkeladvokat", sondern „Kinkel-Advokat".
— Entschuldigung, ich stelle mit einer Zwischenfrage nur klar, was hier passiert ist, nachdem Herr Kinkel mich dafür direkt verantwortlich gemacht hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11477
Norbert GanselZweiter Teil meiner Frage: Haben Sie vielleicht Verständnis dafür, daß wir an der verfassungsrechtlichen und außenpolitischen Seriosität Ihrer Argumentation Zweifel haben, wenn Sie bei der Frage des Einsatzes der Bundeswehr, in welcher Konstruktion auch immer, wenn es um Leben und Tod und in letzter Konsequenz um Krieg und Frieden gehen kann, mit Begriffen arbeiten wie „Geschäftsführung ohne Auftrag" oder Bilder benutzen wie „A schlägt B, und was macht C"?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Was Sie zuerst gesagt haben, akzeptiere ich selbstverständlich. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte geglaubt, der Zwischenruf sei von Ihnen gekommen,
und ich hatte ihn auch inhaltlich anders verstanden.
Zum zweiten muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht akzeptieren kann, was Sie gesagt haben. Ich finde, daß ich nicht eine unangemessene Ausdrucksweise gewählt habe.
Keinem so sehr wie dem Kollegen Rühe und mir ist der Ernst dieser Situation nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch bewußt und auch bewußt gemacht worden, gerade in den letzten Wochen.
Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat die Eilbedürftigkeit der Vorlage mit dem Jugoslawien-Konflikt begründet. Herr Dr. Schäuble, ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, was Sie damit für die internationale Öffentlichkeit gesagt haben. Sie haben damit gesagt, die Bundesrepublik Deutschland will die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß sie in Jugoslawien militärisch eingreifen kann.
— Wenn das nicht stimmt, Herr Schäuble, warum nennen Sie dann Jugoslawien als Beispiel für die Eilbedürftigkeit der Vorlage? — Bisher war es die Politik dieser Regierung und wurde vom Bundeskanzler, vom Außenminister ständig gesagt, daß der Einsatz deutscher Soldaten in Jugoslawien aus historischen und politischen Gründen jedenfalls nicht in Frage kommen kann. Sie haben das bei der Begründung, die Sie gewählt haben, vielleicht nicht bedacht,
aber das ist das, was international als Konsequenz aus dem gezogen werden muß, was Sie gesagt haben.
— Ich habe sehr gut zugehört.
Das zweite Erschreckende an der Begründung ist das, was Herr Kinkel eben gesagt hat. Herr Kinkel, wenn Sie der Meinung sind, daß es sozusagen eine zwingende Konsequenz der vollen Souveränität Deutschlands nach der Erlangung der Einheit ist, daß wir uns allen militärischen Optionen öffnen, die nach der Satzung der Vereinten Nationen erlaubt sind, dann haben Sie einen völlig falschen Begriff davon, was wir jedenfalls unter Souveränität verstehen sollten.
Souveränität heißt nicht, daß man überall in der Welt mit militärischen Mitteln tätig werden kann, sondern Souveränität heißt, daß wir das Recht haben, zu sagen, was wir nicht tun wollen, was wir nämlich aus unserer Geschichte gelernt haben.
Das wirklich Verblüffende an der bisherigen Debatte ist, daß Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, uns zu erklären, welches außen- und sicherheitspolitische Konzept eigentlich hinter der Grundgesetzänderung steckt.
Es hat doch keinen Zweck, darum herumzureden: Der von Ihnen vorgeschlagene neue Art. 24 macht aus der Bundeswehr, die zum Zwecke der Landesverteidigung und nichts anderem aufgestellt worden ist, ein Interventionsinstrument in internationalen Krisen.
Ich sage es ganz bewußt und ganz scharf: ein Instrument der Kriegführung. Das ist der objektive Tatbestand.
Ob Sie es wollen, ist etwas ganz anderes. Aber es kommt bei Grundgesetzänderungen nicht darauf an, was Sie heute damit wollen, sondern was Sie morgen damit können.
Ich will Ihnen das einmal in aller Präzision sagen, was Sie mit den von Ihnen vorgeschlagenen Grundgesetzänderungen tatsächlich alles können.
Herr Abgeordneter Verheugen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Hellwig?
Nein, ich möchte meinen Gedanken zu Ende führen.
Abs. 1 erlaubt die Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Interventionen der NATO, der KSZE, der WEU, ja, sogar eigens zu diesem Zweck der
Günter Verheugen
Intervention geschaffenen regionalen Abmachungen von zwei oder mehr Staaten. Die Verwendung des Begriffs „friedenserhaltende Maßnahmen" bezieht sich nicht auf die Charta der Vereinten Nationen, sondern auf die in den letzten Jahrzehnten von den Vereinten Nationen entwickelte Blauhelm-Praxis. Regionale Begrenzung für diese Art von Einsätzen ist nicht vorgesehen, sie können überall in der Welt stattfinden. Ein Beschluß des Sicherheitsrats ist dazu nicht erforderlich.
Abs. 2 bezieht sich auf die Kapitel VII und VIII der Charta und macht die deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen möglich, die unter Leitung und Verantwortung oder unter Billigung der Vereinten Nationen stattfinden. Das ist in Wahrheit das sogenannte Golf-Modell. Denn nur diese Annahme, meine Damen und Herren, ist realistisch, weil der Generalsekretär der Vereinten Nationen bei seinem Besuch in Bonn eindeutig klargestellt hat, daß die der UNO selber zur Verfügung stehenden Instrumente des Kapitels VII auch in vorhersehbarer Zukunft nicht angewandt werden können und nicht angewandt werden. Kampfeinsätze der Vereinten Nationen unter ihrer eigenen Leitung und Verantwortung wird es nicht geben. Es kann also nur die Beteiligung an Kriegen wie dem Golf-Krieg gemeint sein.
Abs. 3 deckt alle Möglichkeiten der militärischen Intervention ab, die von Abs. 1 und 2 noch nicht erfaßt sind. Hier wird die Einsatzmöglichkeit der Bundeswehr in einer Art und Weise ausgedehnt, die jedenfalls für mich das bisher vorstellbare Maß überhaupt der Diskussion dieser Frage sprengt. Die Berufung auf Art. 51 der Charta ist von den Koalitionsfraktionen in der Öffentlichkeit — heute war es etwas anders, aber im Fernsehen; ich werde Ihnen gleich sagen, wer es war — so dargestellt worden, als wäre auch hier eine Maßnahme der Vereinten Nationen die Grundlage des Handelns. Das ist eine Täuschung. Da ich nicht annehmen kann, daß den Koalitionsparteien der Wortlaut des Art. 51 der UNO-Satzung unbekannt ist, lag hier eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit vor. Es war Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Hoyer, Herr Solms, der erklärt hat, das alles geschieht unter Oberhoheit der Vereinten Nationen. Das hat er natürlich gesagt, weil er das Problem Ihrer Parteijetzt schon sieht. Ich bin nicht zuständig nicht mehr —,
mir Gedanken darüber zu machen, wie die Programmatik der F.D.P. mit ihrem tatsächlichen Handeln in Übereinstimmung zu bringen ist, darüber müssen Sie sich selber Gedanken machen.
Ich will Sie nur daran erinnern, was Sie bis vor kurzem von diesem Pult von Ihren Sprechern haben sagen lassen — da sitzt Herr Irmer, der wird das nachher vielleicht noch tun —, nämlich daß genau das für die F.D.P. nicht in Frage kommt. Art. 51 der Charta ist ein allgemein geltender Völkerrechtsgrundsatz. Er ist die einzig praktisch bedeutsame Ausnahme vom Gewaltverbot, das in Art. 2 der Charta niedergelegt ist. Die dort erlaubte kollektive Selbstverteidigung beschränkt sich nicht auf die gemeinsam koordinierte Ausübung des individuellen Selbstverteidigungsrechts.
Sie enthält die Befugnis für einen nicht angegriffenen Staat, einem angegriffenen Staat zu Hilfe zu kommen. Dafür ist nun wirklich — glauben Sie es mir — nur eine einzige Bedingung erforderlich: das Einverständnis des angegriffenen Staates. Ein ausdrückliches Hilfeersuchen ist nicht erforderlich.
Nun gebe ich zu, Herr Kinkel — das haben Sie gesagt —: Art. 51 hat Schranken. Es ist ganz ohne Zweifel eine Bestimmung mit subsidiärem Charakter, weil Maßnahmen nach Art. 51 von einzelnen Staaten nur ergriffen werden können, solange der Sicherheitsrat nicht handelt. Aber jetzt stellen Sie sich doch bitte einmal die praktische Situation vor: Sie wollen hier doch im Rahmen von NATO, WEU oder — eines Tages vielleicht — KSZE handeln. Da haben Sie permanente Mitglieder des Sicherheitsrates dabei. Können Sie mir einmal verraten, warum Sie so scharf darauf sind, daß diese regionalen Abmachungen nach Art. 51 handeln? Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie nicht wollen, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese Entscheidungen trifft.
Sie schaffen hier ein Instrument, mit dem der Sicherheitsrat ausgehebelt werden kann. Sie, lieber Kollege Lamers, haben es mir ja vor wenigen Tagen ins Gesicht gesagt. Sie haben gesagt: Wollen Sie denn eine Situation, in der das Tätigwerden des Sicherheitsrates in europäischen Angelegenheiten beispielsweise davon abhängt, daß China im Sicherheitsrat zustimmt? — Das ist der Punkt. Sie wollen ausschließen, daß in jedem Fall der Sicherheitsrat hinterher tätig wird.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lamers?
Ja, das muß ich jetzt wohl.
Herr Kollege Verheugen, sind Sie denn auch bereit, hier dem Bundestag mitzuteilen, daß ich bei ungezählten Gelegenheiten — wenn ich mich nicht irre, auch anläßlich der Diskussion, die wir zusammen hatten — darauf hingewiesen habe, daß sich selbstverständlich alle unsere Partner, auch und gerade natürlich diejenigen, die im Weltsicherheitsrat ständige Mitglieder sind, bei jedem der bislang laufenden Fälle und bei jedem denkbaren zukünftigen Fall immer mit allem Nachdruck um ein Mandat des Weltsicherheitsrats bemüht haben bzw. bemühen werden?
Ich nehme das gern zur Kenntnis. Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Lamers. Sie können nicht garantieren, was in zehn Jahren geschieht. Aber wir machen hier eine Verfassung. Es geht um Verfassung, Herr Kollege Lamers, und das ist kein Recht, das von Tag zu Tag geändert werden kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11479
Günter VerheugenMeine Damen und Herren, ich frage Sie noch einmal: Welche Vorstellung von künftiger deutscher Außen- und Sicherheitspolitik verbirgt sich hinter dieser Entfesselung bisher nicht gegebener politischer und militärischer Möglichkeiten? Sind Sie wirklich der Meinung, daß es schon genügt, militärische Einsatzmöglichkeiten zu schaffen, um den Weltfrieden und die Internationale Sicherheit zu gewährleisten? Ich sage Ihnen: Am Ende dieses Jahrhunderts, in dem wir als Menschheit so viel hätten lernen können, fallen Sie in die Denkweise der Kanonendiplomatie des Wilhelminismus zurück.
Wir glauben nicht, daß militärische Instrumente geeignet sind, das zu leisten, was Sie leisten wollen. Nach dem Ende des Kalten Krieges muß die Chance ergriffen werden, die Vereinten Nationen zu der Weltfriedensinstanz zu machen, die sie nach ihrer Charta sein sollen und die sie wegen der Blockade im Kalten Krieg nicht werden konnten. Eine kühne Annahme, mit militärischen Mitteln könnten Sie die regionalen, ethnischen, religiösen und sozialen Konflikte eindämmen, die sich in Europa und in anderen Weltteilen wie ein Steppenbrand ausbreiten!
Notwendig ist eine internationale Friedenspolitik, die die Ursachen der Konflikte erkennt und mit einer vorbeugenden Politik den Ausbruch von Gewalt verhindert. Und wenn ständig von deutscher Verantwortung die Rede ist, dann sehe ich diese Verantwortung darin, daß wir einen Beitrag zur Entwicklung einer Weltfriedenspolitik in dem Sinne leisten, daß die Vereinten Nationen politisch, finanziell und materiell endlich in die Lage versetzt werden, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen jetzt ständig vor der Haustür abgeliefert werden.
Wenn die Vereinten Nationen heute überfordert sind, dann doch nicht, weil sie nicht können oder nicht wollen, sondern weil ihre Mitglieder nicht bereit sind, beispielsweise Teile der Ausgaben für nationale Verteidigung und Rüstung, die sie heute überflüssigerweise noch ausgeben, für ein System der internationalen Sicherheit zur Verfügung zu stellen.
Machen Sie einmal den Vorschlag, 20 % unserer Sicherheitsausgaben für internationale Sicherheit aufzuwenden! Dann wären wir schon ein Stück weiter.
Meine Damen und Herren, ich habe aber noch eine andere Frage. Es werden hier weitreichende Interventionsinstrumente geschaffen. Was heißt das eigentlich in Zukunft? Soll jetzt immer militärischeingegriffen werden, wenn man das für opportun hält?
Was sind die Prinzipien, nach denen Sie da vorgehen wollen? Es fällt doch schon heute schwer, die Maßstäbe zu erkennen, nach denen die internationale Staatengemeinschaft bei Interventionen handelt. Boutros Ghali hat uns ja darauf hingewiesen; Jugoslawien ist doch nur ein Teilproblem. Er hat uns hingewiesen auf Tadschikistan, Berg-Karabach, Kabul, Burma. Er sagt: Die Lage ist dort schlimmer als in Sarajevo.Wissen Sie, was das Bild heute ist? Wenn ein Fernsehsender — normalerweise CNN — oft genug einen Konflikt in der Welt entdeckt und die gesendeten Bilder der allgemeinen Öffentlichkeit so unerträglich werden, daß Druck auf die Politik entsteht, dann wird gehandelt. Das ist in der letzten Zeit das Muster gewesen. Und ich möchte nicht, daß ein internationaler Nachrichtenkanal dafür verantwortlich ist, ob unsere Bundeswehr irgendwo eingesetzt wird oder nicht.
Ich möchte, daß diese Regierung sagt, nach welchen Prinzipien sie in der internationalen Staatengemeinschaft handeln will — „nach welchen Prinzipien", sage ich
— Menschenrechte, dieses Wort ist heute überhaupt noch nicht gefallen —,
wenn die Frage der Intervention ansteht.Mit dieser Grundgesetzänderung begeben Sie sich auf einen gefährlichen, einen abschüssigen Pfad. Sie ziehen einen radikalen Schlußstrich unter die bisherige gemeinsame Überzeugung, die wir aus der deutschen Geschichte gelernt haben: daß Krieg kein Mittel der Politik mehr sein darf.
Das gehört bisher zu den existentiellen Grundlagen unseres Staatsverständnisses und hat uns im Inneren zusammengehalten. Was jetzt geschieht, ist nicht nur ein Traditionsbruch, nicht nur ein Leugnen eines historischen Lernprozesses,
sondern ein Rückfall in politisches Denken, das wir für überwunden gehalten haben.
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11480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Günter VerheugenWir sind bereit, den Vereinten Nationen als Weltfriedensinstrument das zu geben, was sie brauchen.
Aber wir sind nicht bereit, aus Deutschland einen anderen Staat zu machen, als das Grundgesetz ihn einmal gewollt hat.
Das Wort zu einer Zwischenbemerkung hat Herr Abgeordneter Hirsch.
Vielen Dank für die Vorschußlorbeeren! — Herr Kollege Verheugen, wir wollen aus Deutschland auch keinen anderen Staat machen. Trotz der Kompliziertheit kann ich deswegen ihre völkerrechtlichen Ausführungen nicht unwidersprochen lassen.
Es ist richtig, daß der Hinweis auf die Charta der Vereinten Nationen Auslegungsschwierigkeiten aus der Satzung in unsere Verfassung bringen würde, die wir klären müssen. Es ist auch richtig, daß das Wort „friedensschaffend" immer die Beteiligung an Kriegen anderer bedeutet.
Aber wenn Sie auf den Golfkrieg und auf den Koreakrieg verweisen, müssen Sie hier sagen, daß die auf Empfehlungen nach Art. 39 der Charta beruhen und daß eine Empfehlung nach Art. 39, die ja nicht zwingend ist, keine eigene völkerrechtliche Grundlage zu einer rechtswidrigen Gewaltanwendung bedeutet, sondern daß eine Empfehlung nach Art. 39 in das kollektive Verteidigungsrecht nach Art. 51 mündet und damit für die Beteiligung an einem solchen Vorgang alle Kautelen gelten, die der Außenminister für Art. 51 hier eindrucksvoll dargestellt hat und die in der Ziffer 3 unseres Beschlusses enthalten sind.
Voraussetzungen sind nämlich die Abwehr eines gegenwärtigen, bewaffneten Angriffs auf ein Mitglied der Vereinten Nationen, sein Einverständnis zur Verteidigung und die Tatsache, daß der Sicherheitsrat bis dahin keine andere zwingende Empfehlung beschlossen hat, sowie — was unser Haus angeht — die Zustimmung dieses Hauses mit der Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitglieder.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wir diskutieren hier über die verfassungsrechtlichen Instrumente, und das ist gut. Denn die Diskussion um die verfassungsrechtlichen Instrumente darf nicht länger eine andere Frage verdecken, nämlich — wenn wir eine größere Verantwortung übernehmen sollen — womit, wofür und wem gegenüber wir diese Verantwortung wahrnehmen müssen. Diese Diskussion ist in Wirklichkeit in der Bundesrepublik bisher nicht geführt worden.
Es wird hohe Zeit, diese Diskussion zu führen, nicht nur um die Instrumente, sondern darum, ob wir politisch, wirtschaftlich, ökonomisch und ökologisch genug tun, um Krisen erst überhaupt nicht entstehen zu lassen,
ob unser Krisenbewältigungsinstrument nur das Militär sein darf oder welche anderen Instrumente notwendigerweise vorhergehen müssen und warm unsere eigenen vitalen Interessen so berührt werden, daß wir unsere Brüder, unsere Söhne und unsere Väter in einen Krieg schicken sollen. Diese Frage muß diskutiert werden. Sie hat nichts mit den Instrumenten zu tun, die heute auf der Tagesordnung stehen.
Herr Abgeordneter Verheugen, möchten Sie antworten?
Herr Kollege Dr. Hirsch, Sie haben mich mißverstanden. Sie haben gegen etwas polemisiert, was ich nicht gesagt habe. Ich habe eindeutig klargestellt, daß Nr. 2 Ihres Gesetzentwurfes die Möglichkeit enthält, Maßnahmen unter Leitung und Verantwortung der Vereinten Nationen oder mit Billigung der Vereinten Nationen zu ergreifen; das habe ich wörtlich so gesagt. Das ist der Hinweis auf Art. 39, völlig unbestritten. Ich habe auch auf Art. 51 genau in dem Sinne hingewiesen wie Sie. Da besteht gar kein Problem.Das Problem besteht in der politischen Umwelt, in der das stattfindet. Wenn ich noch einmal verdeutlichen darf, wo die Kritik liegt: Sie brauchen dieses Hilfsinstrument, Art. 51, doch nur deshalb, weil Sie davon ausgehen, daß Sie die notwendigen Entscheidungen des Sicherheitsrates im Nothilfefall nicht bekommen, oder weil Sie aus bestimmten Gründen die UNO lieber heraushalten möchten.
— Ja natürlich, sonst brauchen Sie das doch nicht.Die regionalen Abmachungen, von denen hier die Rede ist, sind die NATO, die WEU und die KSZE.
— Oder solche ad hoc. — In der NATO haben Sie drei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates, in der WEU eins und in der KSZE sogar vier.
Es ist völlig klar: Nur eines von denen braucht im Sicherheitsrat ein Veto einzulegen, und schon ist der Sicherheitsrat blockiert. Deshalb ist das Ganze nicht eine Stärkung der Vereinten Nationen, sondern zielt tendenziell auf eine Schwächung der Vereinten Nationen.Das Monopol, das Sie bei den Vereinten Nationen als Weltfriedensinstanz letztlich bis hin zum Gewaltmonopol haben wollen, wird hier in seinem Funda-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11481
Günter Verheugenment wirklich aufgebrochen und für die Zukunft unmöglich gemacht.
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Karl Lamers das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder, der die deutsche Sozialdemokratie ein wenig kennt, hat Verständnis dafür, daß sie bei dem Thema Frieden und Krieg Schwierigkeiten hat, die noch größer sind als die, die wir als Deutsche alle haben.
Ich habe auch sehr viel Verständnis dafür, Herr Kollege Verheugen, daß Sie angesichts der Einigung in der Koalition in besonderen Schwierigkeiten sind, weil Sie sich jetzt entscheiden müssen.
Aber ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß Sie, in einen Stil, in einen Ton wie in den 50er Jahren zurückfallend, die Schwierigkeiten, in denen Sie als führende Außen- und Sicherheitspolitiker alle stecken und die wir kennen, noch vergrößern. Wir wissen doch alle sehr gut, daß Sie die Position Ihrer eigenen Partei als unhaltbar ansehen. Viele von Ihnen haben es mit mehr oder minder klaren Worten auch öffentlich gesagt.
Das ist eine Tatsache.
Aber jetzt steigern Sie sich in etwas hinein, was ich nur als unverantwortlich ansehen kann.
Sie reden hier von Interventionismus, von Kanonenbootpolitik, von all solchen Dingen, von denen Sie genau wissen — Sie wissen es wirklich —, daß niemand in diesem Lande auch nur im allerentferntesten einen solchen Gedanken überhaupt zu fassen in der Lage ist.
— Ja. Wenn Sie es nicht wüßten, dann könnte ich das nur als mangelnde Einsicht — was ich auch schärfer ausdrücken könnte — oder als Unverschämtheit bezeichnen.
Was sind unsere einfachen und grundlegenden Überzeugungen?Erstens. Wir reden alle zu Recht von der einen Welt. Wir reden sehr wohl und vor allen Dingen von diesem einen Europa. In diesem einen Europa sind wir allevon den Folgen von Krieg und Unfrieden betroffen. Es kann nur gemeinsame Sicherheit geben, oder es gibt keine Sicherheit.
Wer Verteidigung nur auf die Landesverteidigung beschränkt und dies als historisch bedingte Bescheidung darstellt, ist in Wirklichkeit Provinzialist und auch jemand, der keine Verantwortung für andere übernehmen will.
Zweitens. Wir haben vor allen Dingen eine europäische Gemeinsamkeit. Wir haben in Maastricht eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und eine gemeinsame Verteidigung in der Perspektive verabredet.
Es ist doch völlig ausgeschlossen, daß innerhalb einer politischen Ehe wie der Politischen Union Deutschland in dieser zentralen Frage von Frieden und Krieg eine grundsätzlich andere Position einnehmen kann als alle seine Partner. Das ist doch nichts als ein logischer Gedanke.
Drittens. Es kann insbesondere für den Einsatz von Streitkräften in einer gemeinsamen Verteidigung natürlich keine unterschiedlichen Legitimationsgrundlagen geben. Das geht doch einfach nicht. Ich weise darauf hin — Kollege Schäuble hat das schon eingangs getan —, daß wir bereits zwei internationale Vereinbarungen mit europäischen Partnern, nämlich mit denen in der WEU wie mit Frankreich, abgeschlossen haben, in denen wir uns verpflichtet haben, das, was wir jetzt in Nr. 3 unseres Gesetzentwurfs niedergelegt haben, auch zu tun.Sie wissen sehr gut, daß es andere deutsche Vorschläge gegeben hat. Alle unsere Partner haben das ohne lange Überlegung abgelehnt und gesagt: Selbstverständlich ist es nicht nur wünschenswert, in vielen Fällen ist es wahrscheinlich auch unerläßlich, ein Mandat des Weltsicherheitsrats zu haben; aber wir können uns in der Tat doch nicht von Mitgliedern in diesem Weltsicherheitsrat abhängig machen, deren moralische und demokratische Legitimation — ich sage das einmal sehr zurückhaltend — nicht über jeden Zweifel erhaben ist.
Sie haben noch etwas Weiteres gesagt; das muß ich hier doch einmal sagen. Sie haben gesagt: Die Möglichkeit, ein Mandat zu bekommen, ist um so größer, je eher wir in der Lage sind, das nötigenfalls auch anders zu tun. Das ist die Situation seit 1990, seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes.
Es ist wieder deutlich geworden, Herr Kollege Voigt, obwohl Sie das vorsichtigerweise eingangs dementiert haben, daß Sie befürchten — Sie haben
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11482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Karl Lamersdas hier im Bundestag gesagt —, durch unsere Partnerschaft mit unseren engsten europäischen Partnern — es fallen dann immer die Namen Frankreich und Großbritannien — in Abenteuer verstrickt zu werden. Herr Kollege Voigt, sehen Sie denn eigentlich nicht, daß das wirklich eine Pervertierung der grundlegenden Maxime deutscher und westlicher Nachkriegspolitik überhaupt ist?
Herr Abgeordneter Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Herr Kollege Lamers, bei allem Bekenntnis zum deutsch-französischen Freunschaftsverhältnis und deutsch-britischen Freundschaftsverhältnis: Könnten Sie sich vielleicht doch dazu verstehen, einzuräumen, daß das Suez-Abenteuer nicht unbedingt zur Teilnahme der Deutschen einlädt, daß es für ehemalige Kolonialmächte und traditionelle Interventionsmächte einen anderen Hintergrund gibt als für deutsche Politik
und das deshalb eine Intervention in Ländern der Dritten Welt ohne die Beteiligung des UNO-Sicherheitsrats von großen Teilen der Dritten Welt auch als Wiederaufleben von Kolonialismus und klassischer Interventionspolitik der Industrieländer in Ländern der Dritten Welt aufgefaßt werden könnte?
Herr Kollege Voigt, erstens: Ich stelle zum zweitenmal fest, daß Sie immer sehr hilfreiche Fragen stellen.
Ihre Frage ist zunächst ein Beleg, daß Sie in der Tat geistig noch in der Zeit der 50er Jahre, in denen sich dieses Ereignis abgespielt hat, leben.
Zweitens. Es ist ja wohl mehr als unwahrscheinlich, daß sich eine solche Intervention unserer westeuropäischen Partner überhaupt noch einmal wiederholen könnte.
— Es ist doch abwegig. Es ist wirklich abwegig. Es ist mehr als abwegig.
Drittens. Jetzt mache ich aber einmal die abwegige Unterstellung, sie hätten so etwas vor. Da sage ich: Erstens hätten wir dann, wenn wir grundsätzlich bereit wären, so wie wir es hier vorsehen, die Möglichkeit, ihnen zu sagen: Also, das ohne uns; das überlegt euch doch bitte dreimal! Wir hätten zweitens die Möglichkeit, sie vielleicht doch davon abzuhalten. Ich bin überzeugt, daß wir sie davon abhalten wollen.
Viertens. Wenn wir eine solche Situation hätten, Herr Kollege Voigt, dann stünden wir doch mit Sicherheit nicht allein in der Westeuropäischen Union.
Alle anderen stünden doch auf unserer Seite. Aber es ist überhaupt abwegig, noch einen weiteren Gedanken auf solch eine Möglichkeit zu vergeuden.
Wenn Sie keine anderen Einwände haben, Herr Kollege Voigt, dann sehe ich wirklich voraus, daß Sie schon in kurzer Zeit unserem Vorschlag zustimmen werden.
Fünftens. Meine Damen und Herren, militärische Integration zwischen Streitkräften mit unterschiedlichen Einsatzbegrenzungen ist auch nicht möglich. Das zeigt übrigens nichts deutlicher als das Beispiel der AWACS-Flugzeuge mit den deutschen Soldaten an Bord. Das geht eben nicht; es geht beim besten Willen nicht!
Sechstens. Meine Damen und Herren, der Kollege Hoyer hat — wofür ich ihm sehr dankbar bin — mit allem Nachdruck darauf hingewiesen: Wer zwingt uns denn eigentlich in einer konkreten Situation, ja zu sagen? Niemand zwingt uns. Wir, und zwar nach unserem Vorschlag der Deutsche Bundestag, haben zu entscheiden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie vor allem, diese Frage einmal zu beantworten. Sie gehen nie darauf ein. Wieso glauben wir denn eigentlich, wir müßten uns die Last einer freien Entscheidung durch ein selbstkonstruiertes Verfassungshindernis abnehmen?
Wofür spricht das denn eigentlich, wenn wir uns selber in einer konkreten Situation, von der ich sehr genau weiß, daß sie immer schwierig sein wird, nichts zutrauen? Wer uns nicht zutraut, daß wir in einer solchen Situation nein oder ja, ja oder nein sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der ist nicht in der Lage, Verantwortung in der Welt und in diesem Land zu übernehmen.
Ich kenne die geschichtliche Last, unter der wir alle stehen und unter der wir besonders stehen, wenn wir eine solche Entscheidung über Frieden und Krieg zu treffen haben. Aber die einzig richtige Lehre aus der Geschichte ist, daß wir bereit sind, diese schwere Last auf uns zu nehmen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung, unserem Kollegen Volker Rühe.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11483
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Ulrich Klose, hat am 13. Januar gegenüber SAT 1 folgendes erklärt:
„Ich will in der Tat nicht in jeder beliebigen Form deutsche Soldaten an alle möglichen Fronten schikken. Dafür stehe ich."
Ich sage Ihnen: Dafür steht Klaus Kinkel, dafür steht Volker Rühe, dafür steht jeder einzelne Abgeordnete dieser Koalition.
Auf dieser Grundlage können wir miteinander sprechen. Nur, was weg muß, sind die bösen Worte von der Interventionsarmee und der Kriegführungsarmee.
Ich muß die deutsche Sozialdemokratie warnen, was ihr Verhältnis zur Bundeswehr angeht, an dem mir sehr viel liegt; denn ich habe immer deutlich gemacht, wie wichtig das ist.
— Herr Kollege Voigt, wenn Sie schon Mißtrauen gegenüber führenden Politikern dieses Landes haben, was ich mir verbitte, weise ich Ihr Mißtrauen gegenüber den Soldaten zurück. Die würden das niemals mit sich machen lassen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Ich füge noch einen Satz hinzu: Diese Armee ist inzwischen eine so gefestigte Armee, mitten in der Demokratie, daß sie sich allen Politikern widersetzen würde, die so etwas — Interventionsarmee — vorhätten. Das müssen Sie bitte wissen. Das muß im Interesse der Soldaten hier gesagt werden.
Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Gerne.
Bitte, Kollege Voigt.
Herr Rühe, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir volles Vertrauen zu den Soldaten und der Bundeswehr, aber kein Vertrauen zur politischen Führung und ihren Absichten hier haben?
Ich finde das schlimm genug, was Sie hier sagen, Herr Kollege Voigt. Aber ich sage noch einmal: Im Interesse der Soldaten dieser Armee weise ich solche Begriffe zurück. Sie gehören nicht in die deutsche politische Diskussion.
Worum geht es uns? — Warum soll ein 19jähriger polnischer Soldat jetzt, im Jahre 1993, eine größere Verantwortung für den Frieden und die Sicherheit Europas tragen als ein 19jähriger deutscher Soldat? Ich möchte, daß wir die Grundlagen schaffen, daß bald deutsche und polnische Soldaten zusammen etwas für den Frieden und die Sicherheit in Europa tun können. Ich beende damit den Blick auf die Vergangenheit und öffne das Tor in die Zukunft. Was tun Sie? —
Warum soll ein 19jähriger französischer Soldat — ich wiederhole das — ein größeres Risiko für die Sicherheit Europas tragen? Darum geht es doch in den Vorschlägen. Wir stehen vor der Aufgabe, daß Deutschland in einem neuen und gewandelten internationalen System gleiche Verantwortung wie seine Nachbarn übernimmt.
Vizepräsident Helmuth Becker Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?
Ja, bitte.
Bitte, Herr Brecht.
Herr Minister, trifft die Aussage der „Süddeutschen Zeitung" vom Sommer des letzten Jahres zu, wonach Sie gegenüber der „Süddeutschen Zeitung" bestätigt haben, daß die Auffassung von Henry Kissinger richtig sei, daß man den Deutschen aus der geschichtlichen Verantwortung heraus einen militärischen Einsatz in den nächsten zehn Jahren nicht zumuten kann, und würden Sie dem Prozeß des Umdenkens in Deutschland nicht ein wenig mehr Zeit geben wollen?
Herr Kollege, das bezog sich auf den Bodeneinsatz im Golfkrieg, und dabei bleibe ich. Ich weiß dies jetzt noch besser als vorher. Darauf sind wir materiell überhaupt noch gar nicht vorbereitet.
Aber nehmen Sie die Situation in Somalia. Das ist eine friedensschaffende Maßnahme. Meine Frage ist: Warum sollen nicht deutsche Soldaten zusammen mit Franzosen dort tätig werden? Darauf schulden Sie uns eine Antwort.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?
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11484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Ich würde jetzt gerne fortfahren.Es geht urn die Zukunftsfähigkeit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik angesichts neuer Herausforderungen. Es geht auch um die entsprechende Einordnung der Rolle der Bundeswehr, wobei die Streitkräfte nur ein Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik sind. Ich möchte ausdrücklich ein breites Sicherheitsverständnis unterstützen. Das heißt: Vorrang hat für uns immer die Bekämpfung der Ursachen von Spannungen und der Ursachen von Konflikten. Es geht z. B. um die wirtschaftliche und politische Unterstützung von instabilen Staaten, die auf dem Wege zur Demokratie sind. Das ist natürlich auch vorrangig Sicherheitspolitik. Es ist doch letztlich nur Ultima ratio, wenn es zu einem Kampfeinsatz, zu einem militärischen Einsatz kommen sollte. Auch hier darf es keine Unterstellungen geben. Hier gibt es keinerlei unterschiedliche Betrachtung.
Wir Deutschen haben von den radikalen Veränderungen in Europa und in der Welt letztlich am meisten profitiert, was unsere Sicherheit angeht. Wir haben unsere Einheit mit Europa, mit Amerika und nicht gegen sie gewonnen. Wenn wir Deutschlands Einheit vollenden und zugleich das vereinte Europa bauen wollen, dann brauchen wir die Solidarität unserer Freunde und Partner. Das ist eine Zweibahnstraße. Robert Leicht hat es in der „Zeit" auf den Punkt gebracht. Es darf nicht heißen: Alle für einen, aber der eine nur für sich. — Das ist die Lage, in der sich Deutschland befindet.
Heute, wo es darum geht, Krieg, Not und Gewalt abzuwenden und abscheuliche Verbrechen zu verhindern — da sollen wir uns verweigern? Wollen wir wirklich internationale Konfliktverhütung und multinationales Krisenmanagement lähmen, die doch erklärte Kernpunkte unserer Politik sind? In den Augen der Welt jedenfalls wäre das ein nicht nachvollziehbarer Bruch deutscher Außenpolitik; denn dafür sind wir doch immer eingestanden in den erfolgreichen Jahren der deutschen Nachkriegsgeschichte.Was die künftige Rolle der NATO angeht: Wollen Sie denn wirklich, daß sich die NATO darauf konzentriert, nur auf den einen — Gott sei Dank sehr unwahrscheinlich gewordenen — großen Konflikt zu warten? Alle anderen Mitgliedstaaten der NATO bereiten sich darauf vor, friedenserhaltende und friedensschaffende Maßnahmen in Europa auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen durchzuführen. Sehen Sie denn nicht, daß diese Mitgliedstaaten der NATO es als einen Bruch der deutschen Politik empfinden, wenn ein Schlüsselstaat wie Deutschland bei den neuen Aufgaben der NATO in Europa ausfällt? Das ist doch die Frage, der Sie sich stellen müssen, wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Bekenntnis auch zur Zukunft der NATO.
Der Krieg ist als Mittel der Politik nach Europa zurückgekehrt. Ich meine, mit welchen neuen Konstellationen wir es zu tun haben, merkt man ja schon, wenn sich hier Sprecher der GRÜNEN und vom BÜNDNIS 90 auf Militärs berufen, die sich im Unterschied zu obersten Militärs nicht immer mit besonderer Zurückhaltung argumentiert haben, was militärische Einsätze im ehemaligen Jugoslawien angeht. Hier sind doch ganz neue Fronten entstanden. Das zeigt doch, daß wir zu neuen Antworten kommen müssen und daß sich Deutschland dem nicht einfach verweigern kann.Aber kein Staat kann allein meistern, was auf uns zukommt. Internationale Zusammenarbeit und Bündnisfähigkeit sind ein unabdingbarer Teil der Staatsräson Deutschlands. Das erfordert unsere Solidarität.
— Ja, natürlich. Aber ist Ihnen ganz entgangen, daß alle unsere Vorschläge darauf basieren, daß wir nie etwas allein machen, sondern immer nur mit anderen zusammen?
Wissen Sie, wenn wir uns in der deutschen Geschichte immer so verhalten hätten, nur das zu tun, was auch unsere Nachbarn für richtig halten, hätten wir uns manches, wenn nicht alles erspart.
Warum muß sich denn Deutschland immer von anderen unterscheiden? In der Vergangenheit in bestimmten historischen Phasen durch besondere Amoralität? Und warum glauben Sie denn jetzt, daß Sie moralischer wären als andere? Warum können wir nicht so den Weg finden, daß wir uns fragen, wie unsere beiden wichtigen Nachbarn im Osten und Westen, Frankreich und Polen, die Lage in Europa sehen, was für die moralisch oder unmoralisch ist? Ist das keine gute Leitschnur deutscher Politik am Ende dieses Jahrhunderts?
Warum müssen wir immer etwas Besonderes sein? Im übrigen, was ist denn eigentlich moralisch?
Wir haben ja zum Glück eine Diskussion darüber. Hier ist auch gesagt worden: Die KZs in Deutschland sind allein durch Soldaten geschlossen worden und nicht durch Resolutionen! Vielleicht ist es auch in der Zukunft nur Soldaten möglich, so etwas, was zutiefst unmoralisch ist, zu beenden. Deswegen kann der Einsatz von Militär moralisch sehr geboten sein.
Ich bin mit dem Kollegen Gansel doch völlig einig: Die KZs in Deutschland sind nicht durch noch so berechtigte und ergreifende Demonstrationen in London und New York geschlossen worden, sondern durch die Einsatzbereitschaft und die Bereitschaft der Soldaten, die nach Deutschland gekommen sind, auch
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Bundesminister Volker Rüheihr Leben zu geben. Das dürfen Sie doch nicht vergessen!
— Das ist keine Geschichtsklitterung, sondern das ist die Geschichte!
Und, lieber Herr Kollege Verheugen, es kann j eden-falls nicht sein, daß sich alles ändert, daß die Institutionen reformiert werden, alle Nationen ihre Rolle neu bestimmen, nur die Deutschen bleiben in den Vorstellungen einer vergangenen Welt gefangen.So werden wir die Zukunft jedenfalls nicht erfolgreich gestalten. Deutschland liefe erneut Gefahr, international Außenseiter zu werden und seinen Einfluß auf die Gestaltung der für uns lebenswichtigen Strukturen und Prozesse zu verlieren. Das hat überhaupt nichts zu tun mit deutscher Großmannssucht oder mit Vordrängen, aber sehr viel mit einer verantwortlichen Werte- und Interessenpolitik, mit dem Einsatz für den Frieden in Europa und der Welt gemeinsam mit unseren Freunden und Partnern.Ich muß Ihnen jedenfalls sagen: Wenn Völkermord geschieht, wenn Freiheit und Humanität mit Füßen getreten werden, dann muß gehandelt werden. Das ist politisch und moralisch geboten. Wer nur reden, aber nicht handeln würde, machte sich schuldig. Wir müssen zumindest die Möglichkeit erhalten, in jedem Einzelfall zu entscheiden. Ein Kampfeinsatz bliebe immer die Ultima ratio der Politik.Die Unterstellung, daß die Demokratien dieser Bündnisse — NATO, WEU, Politische Union Europas — in der Zukunft schrankenlosem Interventionismus Vorschub leisten, ist wirklich absurd. Wer außer Demokratien wäre denn mehr dazu geeignet, Freiheit, Humanität und Recht zu verwirklichen? Das muß ich Sie fragen.
Lassen Sie mich — ich darf das noch sagen, weil ich die Fragen zugelassen habe — noch einmal klarstellen: Niemand will die Bundeswehr an jeden Krisenort dieser Erde schicken, schon gar nicht ich. Es gibt keinerlei Automatismus, nicht heute und nicht in der Zukunft. Deutschland wird nie allein handeln, immer mit Verbündeten und Partnern. Jeder Einzelfall wird vor dem Hintergrund unserer Werte, unserer Interessen und im Bewußtsein unserer Verantwortung vor der Geschichte abgewogen und durch dieses Parlament entschieden.
Mit dem Vorschlag der Koalition wird Deutschland international handlungsfähig. Es bleibt glaubwürdig und berechenbar. Wir wahren die Kontinuität, und wir werden zugleich zukunftsfähig. Wir tun, was im Grunde schon jetzt ein breiter gesellschaftlicher Konsens verlangt: Wir verbinden die Lehre der Geschichte mit den Herausforderungen der Zukunft. Und genau das ist unsere Aufgabe.Vielen Dank.
Der nächste Redner ist unser Kollege Walter Kolbow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Bundesverteidigungsminister wissen viele in unserem Land, daß gegenwärtig rund 700 Soldaten der Bundeswehr an verschiedenen Friedensmissionen der UNO teilnehmen und dabei ihr Leben risikieren müssen. Dafür hat ihnen auch dieses Haus heute an dieser Stelle und in dieser Debatte zu danken. Es hat deutlich zu machen, daß wir an der Seite dieser Soldaten und ihrer Familie nicht nur mit unserem Fühlen, sondern auch — und darum geht es — mit unserer Verantwortung stehen.
Wir lassen uns aber — und da ist etwas Ungutes, ich will sehr zurückhaltend sprechen, weil zwischen uns nichts verschüttet werden soll, auch nicht bei dieser wichtigen Frage — nicht auseinanderdividieren. Sie können die Soldaten, Herr Bundesminister, nicht gegen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ausspielen wollen — es klang so.
Unterlassen Sie dies auch im Interesse einer zielorientierten Debatte! Denn in unserer Verpflichtung, für die tatsächliche Sicherheit, für die Rechtsklarheit des Einsatzes von Soldaten und der künftigen Beteiligungen, um die es heute ja auch mit Ihrem Entwurf geht, zu sorgen, lassen wir uns nicht übertreffen. Unsere Wortbeiträge hier sind Ausdruck dieser Sorge und dieses Engagements.Deswegen bewerten wir Ihren Vorschlag aus unserer Sicht auch mit den Argumenten, die wir Ihnen gegenüberzustellen haben und zu denen Sie, meine ich, mehr sagen sollten als das, was Sie in dieser Begründung gesagt haben, nämlich nichts. Einen Einsatz, bei dem es künftig um Leben und Tod gehen kann, einfach so auf den Tisch zu legen, ohne Begründung, mit einer übers Knie gebrochenen Einbringung eines solchen Gesetzentwurfes, entspricht nicht der Wichtigkeit und — ich sage es bewußt — auch nicht der Würde des Umgangs mit einer so wichtigen Verfassungsänderung. Das können Sie so nicht machen,
zumal da Sie sich, Herr Bundesminister der Verteidigung, natürlich nicht nur mit den Argumenten der Sozialdemokratie auseinandersetzen müssen.Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt heute über Ihren neuen Art. 24 Abs. 2a, er gleiche „eher einem saugfähigen Schwamm". Sie fährt fort:Mit diesem verquollenen Gebilde kann keinSoldat etwas anfangen .... Ein Anwalt, der einenMietvertrag formuliert, geht mit den Interessen
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11486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Walter Kolbowseines Mandanten pfleglicher um als die Koalition mit den Pflichten der deutschen Soldaten.
Wenn Sie schon uns nicht zuhören: Nehmen Sie die Stimmen der Öffentlichkeit wahr! Ich komme darauf zurück.Ich will Sie bei dieser Debatte nicht damit belasten, daß sie offensichtlich diese Einbringung auch schon deshalb so rasch vorgenommen haben, damit Ihnen dieser Kompromiß nicht zerbröselt.
Herr Kollege Voigt hat schon auf die Bedenken des Kollegen Scholz hingewiesen.Nach Äußerungen von Ihrer Seite ist der Kompromiß, den Sie gefunden haben, auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Deshalb sind unsere Ausführungen dazu nicht nur erlaubt, sondern auch notwendig.Die vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes geht in die falsche Richtung, und zwar auch deswegen, weil sie zum Nachteil unserer Streitkräfte sein kann.Sie haben hier — ich will aktuell darauf eingehen — deutlich gemacht, daß Sie unsere Soldaten zusammen mit anderen nicht an alle möglichen Fronten schicken wollen. Das nehmen wir uns gegenseitig ab. Aber die Gefahr, daß eine solche objektive Situation durch die Verfassung geschaffen werden kann, treibt uns um. Weil Sie das wollen, kämpfen wir mit Leidenschaft — das sage ich Ihnen von mir persönlich — für einen Kompromiß, aber unterhalb dessen, was Sie hier objektiv an Möglichkeiten und Optionen schaffen wollen.
Herr Bundesminister der Verteidigung, Sie haben darauf hingewiesen, daß nicht Resolutionen, sondern Soldaten die KZs geschlossen haben. Das ist eine Tatsache. Ihr müssen wir uns, wenn wir diskutieren, immer mit Leidenschaft, nicht nur intellektuell, stellen.
Das war sicher für die Alliierten ein wesentlicher Grund, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzutreten. Aber es war nicht der einzige Grund. Auch wenn bei einem so schwierigen Thema weitere Punkte angeführt werden müssen, handelt es sich doch nicht um das Wegnehmen von Verantwortung für Entwicklungen in der Weltgemeinschaft und in anderen Ländern, sondern geht es um die Sorge beim Einsatz von Soldaten unseres Landes im Zusammenhang mit falschen Entwicklungen. Darüber kann auch eine Zweidrittelmehrheit nicht hinwegtäuschen.
— Ich sage Ihnen konkret — der Herr Bundesaußen-minister kann nicht mehr anwesend sein —, daß dieBrücke des Art. 51 der UNO-Charta keine Brücke,sondern nach unserer Auffassung die Feigenblattklausel der UNO-Charta ist. Mit dieser Klausel in der Charta haben Regierungen stets ihre außenpolitischen Interessen in den Mittelpunkt gestellt und nachgeholfen. So war es bei Grenada, bei Tripolis und auch bei der amerikanischen Militärintervention in Panama. Auch die 10jährige Invasion in Afghanistan sowie der Falkland-Konflikt sind im Zusammenhang mit Art. 51 begründet worden.
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwarz-Schilling?
Selbstverständlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates am 19. November 1948 gerade die Sozialdemokratische Partei — hier Carlo Schmid und der Kollege Eberhard — auf genau dem gegensätzlichen Standpunkt stand und man so die Formulierung für den heutigen Art. 24 gefunden hat? Damit Sie wissen, ob Ihnen das bekannt ist oder nicht, darf ich Ihnen den damaligen Standpunkt zitieren. Auf Grund eines Einwurfs von Herrn Seebohm, daß die Übertragung auf ein kollektives Sicherheitssystem doch besser mit einer Zweidrittelmehrheit erfolgen sollte — er wollte die Souveränitätsrechte nicht so ohne weiteres internationalisieren —, erklärte der Vorsitzende Carlo Schmid:Ich möchte bitten, diesen Antrag abzulehnen. Wir haben gerade darüber in den verschiedenen Ausschüssen, die sich mit dem Artikel befaßt haben, viel gesprochen. Wir waren der Meinung, daß durch dieses Grundgesetz — das ja von der überwältigenden Mehrheit des Volkes wird angenommen werden müssen ... — zum Ausdruck gebracht werden soll, daß dieses Land grundsätzlich bereit ist, internationalen Organen, zwischenstaatlichen Einrichtungen beizutreten, also die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit möglichst aktiv zu fördern. Wir wollten die Bereitschaft insbesondere dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir für diesen Fall gerade kein verfassungsänderndes Gesetz verlangen, sondern ein einfaches Gesetz als genügend ansehen wollen. Die grundsätzliche Entscheidung, ich möchte sagen, die Entscheidung vom Rang einer Verfassungsbestimmung soll nicht bei den einzelnen Akten, sondern schon in dem Augenblick, in dem wir das Grundgesetz beschließen, als eine Entscheidung allgemeiner und fundamentaler Art getroffen werden.Ihr Kollege Eberhard fügte hinzu:Ich bitte, den Antrag Dr. Seebohm abzulehnen. Man kann dem nicht beitreten, was in der Begründung dieses Antrags gesagt ist ... Wir geben uns hier eine verfassungsmäßige Ordnung, genannt Grundgesetz. Wir haben in erster Lesung ausführlich darüber gesprochen, ob wir ein einfaches Gesetz vorsehen wollen, und wir haben uns dazu entschlossen, im Grundgesetz zu
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Dr. Christian Schwarz-Schillingsagen, daß durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte übertragen werden können, um unsere Bereitschaft eindeutig festzulegen, in der europäischen Ordnung und in der friedlichen Ordnung der Welt unsere Rolle dadurch zu spielen, daß wir es leicht machen, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Ich bin dafür, daß wir dabei bleiben.
War Ihnen das als die Auffassung der Sozialdemokraten der damaligen Zeit bekannt?
Herr Kollege Schwarz-Schilling, der genaue Text war mir nicht bekannt, wohl aber natürlich, daß diese unterschiedlichen Ziele, die Sie vorgetragen haben, eine Rolle gespielt haben.
Im übrigen erlauben Sie mir den Einschub, daß Sie es sicherlich genießen, wieder einmal längere Ausführungen im Parlament machen zu können, da Sie im Kabinett dafür offensichtlich nie so viel Zeit bekommen haben.
Art. 24 Abs. 1 betraf die Zielorientierung Europäische Gemeinschaft. Was Art. 24 Abs. 2 angeht, Herr Kollege Schwarz-Schilling, wissen Sie genau, daß es zu der Zeit der Debatte, aus der Sie zitiert haben, noch gar keine Bundeswehr gab. Art. 24 Abs. 2 war in Richtung Vereinte Nationen orientiert. Aber man dachte doch nicht an einen Einsatz in dem Sinn, daß man alle Optionen für Kampfeinsätze durch eine künftige deutsche Wehrmacht eröffnen wollte.
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine weitere Frage, und zwar des Kollegen Manfred Richter?
Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Richter, bitte.
Herr Kollege, Sie haben eben in Ihrer Rede eine Reihe von militärischen Interventionen in der Vergangenheit aufgezählt. Darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß die Opposition diesen Interventionen gegebenenfalls zugestimmt hätte, denn das wäre ja die Voraussetzung für das Tätigwerden der Bundeswehr?
Das dürfen Sie natürlich nicht, Herr Kollege. Manchmal ist die Neigung, das einfach glauben zu wollen, größer als die intellektuelle Fähigkeit, dies so zu kontrollieren. Das können Sie uns — ich habe Sie ein bißchen angeschaut, während Sie das gesagt haben — doch nicht unterstellen. Ich glaube, es war eindeutig, daß ich in Art. 51 die Gefahr sehe, eine Begründung für solche Optionen auch im Zusammenhang mit regionalen Abmachungen zu finden. Wir lassen es uns auch im Interesse derer, die das gegebenenfalls auszubaden haben, nicht nehmen, von dieser Gefahr zu reden.
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine weitere Frage, und zwar des Kollegen Norbert Gansel? — Bitte sehr, Herr Kollege Gansel.
Kollege Kolbow, da Sie ja nicht nur unser sicherheitspolitischer Sprecher, sondern auch ein juristischer Experte sind,
gestatten Sie mir die Frage, ob Sie mir in der Ansicht zustimmen, daß sich der Kollege Schwarz-Schilling deshalb im Irrtum befindet, weil die Vorlage der Koalitionsfraktionen zur Verfassungsänderung in keinem einzigen Punkt die Übertragung eines Souveränitätsrechts an eine internationale Organisation enthält, sondern im Gegenteil aus den Erklärungen von Herrn Rühe und von Herrn Kinkel deutlich geworden ist, daß man sich unter Berufung auf eine neugewonnene deutsche Souveränität durch eine Verfassungsänderung neuen Spielraum für außenpolitische und militärische Optionen eröffnen will.
Herr Kollege Gansel, mit den Experten ist das immer so eine Sache; aber mit dieser Antwort haben Sie sich als Experte erwiesen.
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie noch eine Frage der Kollegin Wieczorek-Zeul?
Bitte.
Herr Kollege Kolbow, stimmen Sie mir zu, daß bereits ersichtlich geworden ist, daß sich alle Zitate auf die Frage der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Gemeinschaft bezogen haben? Zur damaligen Zeit war es mit einfacher Mehrheit möglich.Geben Sie mir recht, daß wir mit der Stimme des Abgeordneten Schwarz-Schilling bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertragswerkes gerade durch den neuen Art. 23 erreicht haben, daß künftige Hoheitsrechtsübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft nur noch mit Zweidrittelmehrheit möglich sind, und zwar deshalb — Herr Kollege Scholz freut sich; er hat es mit zu verantworten —, weil deutlich geworden ist, daß heute nicht nur wirtschaftspolitische Zuständigkeiten auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden, sondern es an Kerne unserer Entscheidungsbefugnisse geht, und daß es bei dem hier Zitierten um ganz andere Fragen gegangen ist als um das, worüber wir heute morgen diskutieren?
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Wie könnte ich Ihnen hier widersprechen, Frau Kollegin. Genau darum ging es hier.
— Fürwahr, Herr Kollege von Stetten.
Die Zeit ist mir davongelaufen. Darum will ich nicht bei meinem Text bleiben, sondern kurze Zeit noch darauf verwenden, mich mit der Akzeptanz zu befassen, mit der natürlich auch Sie, Herr Bundesminister, sich auseinandersetzen müssen.
Weder in der Bevölkerung noch in den Streitkräften findet Ihre Auffassung ausreichend Akzeptanz. — Herr Kollege Rühe, es wäre schön, wenn Sie zuhörten. Ich weiß, daß es in diesem Fall nicht an Ihnen liegt. — Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie noch auf die Notwendigkeit des Konsenses hingewiesen. Sie sagten, in der Demokratie lasse sich nur durchsetzen, was eine Mehrheit finden könnte, bevor Sie aus reichlich durchsichtigen Gründen mit dem Entsendegesetz auf Konfrontationslinie gegangen sind. Sie wissen doch wohl wie ich, daß zwischen 60 und 85 % der Bevölkerung nach den Umfragen gegen Kampfeinsätze der Bundeswehr außerhalb von Landes- und Bündnisverteidigung sind, während gleich große Teile Blauhelmeinsätze befürworten.
Nach Erhebungen des bewährten Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr sind 60 % der Offiziere für Kampfeinsätze, 60 % der übrigen Soldaten dagegen. „Kampfeinsätze der Bundeswehr finden grundsätzlich keine Unterstützung bei jungen Menschen", schreiben die Jugendoffiziere in ihrem vom Bundesministerium der Verteidigung im Juni 1992 verteilten Bericht, „während Blauhelmeinsätze akzeptiert werden." Warum dann diese fatale Fixierung auf Kampfeinsätze als Conditio sine qua non?
Es darf nicht in erster Linie darum gehen — das macht uns Sorge —, über neue Aufgaben far die Bundeswehr die Legitimation der Streitkräfte sicherzustellen und deren Personalumfang gegen weitere Reduzierungen abzusichern. Das alleinige Kriterium dafür muß das Erfordernis der Landes- und der Bündnisverteidigung sein. Wenn die militärischen Risiken weiter sinken, muß das auch Konsequenzen für die Streitkräfte nach sich ziehen.
Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen, Herr Präsident. Der Bundestag wird im neuen Jahr nicht einfach diese oder jene Bestimmung der Wehrverfassung ändern. Er wird eine Weiche stellen und dadurch den Kurs der deutschen Außenpolitik, Sicherheitspolitik und auch Verteidigungspolitik für unsere Streitkräfte auf Jahre oder Jahrzehnte vorzeichnen und Aufschluß geben, für welche Art Weltordnung — darum geht es uns — die Bundesrepublik Verantwortung übernehmen will.
Unser Weg, der seit Juni 1992 dem Bundestag bekannt ist und der, wie Sie wissen, ergänzt werden kann, freilich nicht mit Einsätzen à la Golf, eröffnet die Chance einer qualitativ neuen Friedensvorsorge unter der Regie der Vereinten Nationen, der internationalen Rechtsgemeinschaft.
Ihr Weg, über den es heute zu reden gilt, weist zurück in die Tradition nationaler Macht- und Interessenpolitik
mit dem ständigen Risiko weiterer Staaten- und Koalitionskriege. Unsere Soldaten sollen da nicht hineingezogen werden.
Meine Damen und Herren! Ich will darauf aufmerksam machen, daß nach der Geschäftsordnung hier gestellte Fragen kurz sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen müssen. Es gab zur Klärung der Sache eine Ausnahme. Ich habe das für zulässig gehalten, weil Herr Kollege Schwarz-Schilling erst einmal sagen mußte, was er meinte, und dies durch die Zitate etwas länger gedauert hat.
Des weiteren möchte ich sagen, daß es bei den Redezeiten jetzt zweimal eine kurze Überziehung gab, die ich ebenfalls für zulässig hielt.
Wir haben noch drei Wortmeldungen vorliegen. Im Interesse der Sache und des Fortgangs bitte ich die Redner, ihre Redezeiten möglichst einzuhalten.
Bitte sehr, Herr Kollege Paul Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Teil dieser Debatte war von der Frage geprägt, ob der Vorschlag, das Grundgesetz zu ergänzen, den die Koalition heute einbringt, in der Kontinuität der bisherigen Politik der Bundesrepublik Deutschland liegt oder eine Veränderung vornimmt.Der Kollege Verheugen hat sich dazu hinreißen lassen, zu sagen, wir zögen einen radikalen Schlußstrich unter die bisherige Politik.
Ich glaube aber, daß Sie die Kontinuität, die in diesem Vorschlag liegt, nicht ausreichend bedenken.Als sich die Bundesrepublik Deutschland vor 39 Jahren in den Pariser Verträgen verpflichtet hat, zur Verteidigung der freien Welt beizutragen, vor 38 Jahren der NATO beigetreten ist und danach die Bundeswehr aufgestellt hat, war von vornherein klar, daß die Bundesrepublik Deutschland nie beabsichtigte, nationale Verteidigung allein zu betreiben, sondern von vornherein den erklärten politischen Willen hatte, nationale Verteidigung in die freie Welt, in die Völkergemeinschaft zu integrieren.
Insofern bewegt sich deutsche Politik mit diesem Vorschlag in der Kontinuität dessen, was in der Vergangenheit in diesem Staat betrieben wurde.Es stimmt allerdings, daß in der Zeit der Teilung Deutschlands die Beschränkung der innen- und außenpolitischen Souveränität verhindert hat, daß die
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Paul BreuerBundesrepublik Deutschland ihrer außenpolitischen Verantwortung in vollem Umfang gerecht wurde. Die historische und geopolitische Situation Deutschlands, aber auch der politische Pragmatismus haben dazu geführt, daß der Sinn deutscher Streitkräfte fast immer nur unter dem Gesichtspunkt des konkreten Bedrohungsszenarios des Kalten Krieges, der unmittelbaren Konfrontation mit den Staaten des Warschauer Paktes und der existentiellen Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland gesehen wurde.Mit der neuen geopolitischen Lage, der neuen historischen Lage, in die wir eingetreten sind, muß es darum gehen, deutlich zu machen, daß wir mit der Begründung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland allerdings von vornherein nie nur auf den eigenen Bauchnabel geschaut haben, nicht nur den eigenen Frieden und die eigene Freiheit gesehen haben, sondern immer auch die Freiheit und den Frieden der freien Welt und der Völker dieser Welt.
Es ist wichtig, dies in der heutigen Debatte zu betonen.Die verfassungsrechtliche Regelung zum Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb der Bündnisgebiete von NATO und WEU ist ein Zeichen, daß sich Deutschland seiner gewachsenen internationalen sicherheitspolitischen Verantwortung gegenüber den Vereinten Nationen stellt und völkerrechtliche Verpflichtungen einhalten will.Meine Damen und Herren Kollegen von der Opposition, von der Sozialdemokratie, dies haben der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und der ehemalige Bundesminister des Auswärtigen Walter Scheel anläßlich des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland zu den Vereinten Nationen feierlich erklärt — ich zitiere —,daß die Bundesrepublik Deutschland die in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen annimmt und sich feierlich verpflichtet, sie zu erfüllen
nachdem wir als Deutsche jahrzehntelang den Beistand und die Solidarität der freien Welt zur Wahrung der Freiheit und des Friedens erfahren haben.Erinnern Sie sich an den großen Ausspruch von Ernst Reuter bei der Bedrohung Berlins durch die Blockade: Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!Nachdem wir diesen Beistand der freien Welt erfahren haben, halte ich es für unsere moralische Verpflichtung, der freien Welt und den bedrohten Völkern dieser Welt unseren Beistand zu geben. Daran müssen auch Sie, meine Damen und Herren der Sozialdemokratie, mitwirken.Verstecken Sie sich bitte nicht hinter Parteitagsbeschlüssen. Der Parteitagsbeschluß nimmt Ihnen als frei gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Notwendigkeit der Entscheidung nicht ab. Ihr Gewissen ist gefordert.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidungen der Parteien, die die Bundesregierung stellen, eint zwar fürs erste, wie man der heutigen Zeitung entnimmt, — fürs erste! — die heillos zerstrittene Bundesregierung, aber sie spaltet unser Volk und unser Land, das durch die Art von Wirtschafts- und Finanzpolitik bereits von Ihnen gespalten worden ist.
Einen gesellschaftlichen Konsens über die künftige Rolle der Bundeswehr und ihre zukünftigen Aufgaben können Sie damit nicht erreichen. Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist mit uns, der SPD, der Meinung, daß die Aufgaben der Bundeswehr bei der Verteidigung unseres Landes und unserer Verbündeten belassen bleiben müssen und daß sie maximal auf friedenserhaltende Blauhelm-Missionen ausgeweitet werden sollen. Sie ist aber nicht gewillt, deutsche Soldaten weltweit in militärische Kampfeinsätze zu schicken.
Selbstverständlich ist eine Trennung zwischen dem Blauhelm-Konzept und einem Kampfeinsatzkonzept möglich; das haben Sie in der Vorlage Ihres Verfassungsänderungsvorschlages auch selber deutlich gemacht. Insofern ist es eine Verschleierung der Absicht, daß man Kampfeinsätze will, wenn man sagt: Es gibt in diesen Bereichen keine klare Abgrenzung.
Die Bevölkerung hat recht. Sie drückt das aus, was sich in Jahrzehnten nach dem Krieg in der guten Tradition militärischer Zurückhaltung in Deutschland gesammelt hat.
In der Tat, Herr Rühe, Instinkte lassen sich nicht wegkommandieren. Aber diese Instinkte der Zurückhaltung will die Bundesregierung jetzt anscheinend mit Ihrer Verfassungsänderung zurücknehmen und wegkommandieren. Das werden Sie nicht erreichen. Sie werden dafür keine Mehrheit im Deutschen Bundestag erhalten.
Eines ist sicher: Mit Ihren Plänen vom ungehemmten weltweiten militärischen Kampfeinsatz
können Sie sich gerade einmal auf eine absolut kleine Minderheit von 15 % im Land stützen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte jetzt zu Ende reden.
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11490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Heidemarie Wieczorek-ZeulIch bin nicht dafür, daß wir unsere Argumente, Herr Breuer, hinter anderen verstecken, nicht hinter einem Beschluß eines Parteitags, auch nicht hinter dem UNO-Generalsekretär. Ich bin dagegen, daß wir an Hand jeder einzelnen Situation grundsätzliche Fragen wie die künftigen Aufgaben der Bundeswehr entscheiden.Mit der Methode der Spaltung ist gesellschaftlicher Konsens nicht zu erreichen, wohl aber, indem wir eine wirkliche öffentliche Debatte über die künftigen Aufgaben der Bundeswehr nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation führen, und dies, bitte schön, nicht hinter verschlossenen Türen bei angeblichen Spitzengesprächen, sondern da, wo sie hingehören,
in die parlamentarischen Institutionen, z. B. in die Verfassungskommission. Dort wird die Diskussion geführt.In diesen Situationen müssen Fragen gestellt und beantwortet werden, deren Perspektiven bis heute völlig im unklaren geblieben sind und auf die Sie auch keine Antworten geben: Welche Bundeswehr will die Gesellschaft der Bundesrepublik eigentlich selbst, mit welchen Konsequenzen, zu welchen Kosten?
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe gesagt, ich wollte gerne zu Ende sprechen. — Wer muß die Kosten tragen? Die Parteien der Regierungskoalition betreiben dabei semantische Verschleierung.Herr Kollege Kinkel, ich bin sehr dafür, daß wir die Debatte öffentlich führen, aber dann, bitte schön, nicht nach dem Muster von Orwell, daß alles verniedlicht wird. Da wird von friedensherstellenden Maßnahmen auf Grund der Kapitel VII und VIII der Charta der Vereinten Nationen gesprochen, oder: A schlägt B. Das müssen die Bürgerinnen und Bürger im Land halt wissen. Praktisch heißt das: Es geht um Krieg, und es geht um die Beteiligung an Kriegen.
Nach Ihrem Vorschlag hätten deutsche Soldaten im Golfkrieg mitkämpfen und sterben müssen, und das würde auch für jeden anderen Krieg nach dem Muster des Golfkriegs gelten.
Das Magazin „Stern" hat formuliert
— ich zitiere —:Man wird sich erstmals seit Mai 1945 wohl bald wieder an Bilder von toten deutschen Soldaten gewöhnen müssen.Die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland will aber nicht, daß deutsche Soldaten für eine verfehlte Politik künftig auf internationalen Schlachtfeldern ihr Leben lassen.
— Die Frage ist nicht, was Sie wollen, sondern wofür Sie die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen schaffen. Dann sagen Sie es bitte deutlich, damit die Leute das wissen und damit Sie in diesen Fragen noch mehr von der Bevölkerung gesagt bekommen, was die Menschen wirklich wollen.Im Punkt 3 Ihrer Vorlage der Verfassungsänderungen — das ist heute mehrfach diskutiert worden — ist klargemacht worden, daß es eine Uminterpretation — auch das ist praktisch — der Verteidigungsbündnisse NATO und WEU gibt. Das widerspricht aber dem Verteidigungsauftrag beider Organisationen. Insbesondere für die Deutschen hätte diese Uminterpretation die Konsequenz, daß unter der Hand jeder weltweite Einsatz der Bundeswehr als angeblich notwendiger NATO-Einsatz begründet und dargestellt würde.In der Sache ist die Gefahr groß, daß NATO und WEU dann auch gegenüber Ländern der Dritten Welt militärisch eingesetzt werden, und zwar immer dann, wenn es die selbst definierte „Sicherheit des Westens" angeht.Ich erinnere daran, daß im Papier von Verteidigungsminister Stoltenberg, das am 20. Januar 1992 dem Deutschen Bundestag vorlag, als deutsches Sicherheitsinteresse formuliert worden ist — ich zitiere —:die Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen.Der Herr Kollege Lamers hat vorhin gefragt, wer sich denn so etwas vorstellen könnte. Wenn es schon der ehemalige deutsche Verteidigungsminister konnte, dann muß es doch in einem Bereich der CDU/CSU schon weit verbreitet sein, wie ersichtlich wird. Wenn erst NATO und WEU umdefiniert sind, wo ist dann die Grenze, wer hindert sie?Vor dem Auswärtigen Ausschuß — die Kollegen waren doch dabei — hat Boutros Ghali doch plastisch dargestellt, wie schon heute das Verhältnis zwischen UNO und der Militärorganisation NATO ist. Wir haben ihn gefragt: Ist denn das, was die NATO zu möglichen Eingriffen im ehemaligen Jugoslawien vorbereitet, auf Initiative oder Antrag der UNO erfolgt? Er hat daraufhin gesagt, er habe darüber in der Zeitung gelesen, und er habe dann beim NATO- Generalsekretär anrufen lassen, damit er, bitte schön, einmal eine Kopie der Pläne zugesandt bekomme. So ist die Realität.Ich sage Ihnen: Wenn das so ist, dann bedeutet das folgendes: Wenn solche Militärorganisationen erst einmal im wahrsten Sinne des Wortes in Marsch gesetzt sind, dann suchen Sie sich notfalls Ihre Mehr-
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Heidemarie Wieczorek-Zeulheiten im UNO-Sicherheitsrat, oder Sie handeln notfalls auch ohne ihn. Das wäre verhängnisvoll.
Was bedeuten weltweite Kampfeinsätze der Bundeswehr für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland? Diese Diskussion darf nicht der politischen Klasse und der schreibenden Klasse überlassen bleiben, die im Zweifelsfall nicht mit ihrem eigenen Leben in militärischen Kampfeinsätzen einstehen müssen, sondern da muß die Bevölkerung mitdiskutieren.
Da muß die Diskussion von Menschen mit geführt werden, die meinen, daß der wirkliche Ernstfall der Politik die Probleme der kleinen Leute in unserem Land sind, und die meinen, daß sich diese Bundesregierung mit der gleichen Verbissenheit und Hartnäckigkeit um ihre Probleme, die Probleme der kleinen Leute kümmern sollte, wie sie sich um Bundeswehreinsätze in aller Welt kümmert.
Sie muß von den jungen Männern geführt werden, die von derartigen Einsatzentscheidungen betroffen sind, sie muß von den Männern geführt werden, die im letzten Weltkrieg gekämpft und gelitten haben, und sie muß von den Frauen und Müttern geführt werden, die von militärischen Aktionen im allgemeinen sehr wenig halten.Zu Recht fragen sich die Leute, Herr Kinkel: Warum wird denn immer erst von der Verantwortung gesprochen, wenn es per Militär durchsetzbar ist?
Das Auswärtige Amt hat im März 1991 meinem Kollegen Gernot Erler, der gesagt hat, wir wollen, daß es mehr Flüge zur Versorgung der hungernden Bevölkerung in Somalia gibt, mitgeteilt, dafür stünde kein Geld zur Verfügung. Ja warum greifen Sie denn immer erst ein, wenn es mit Militär geht, während Sie vorher nicht helfen, wo die Hilfe geleistet werden kann?
Das zeigt doch, wie verlogen die Debatte in diesen Fragen ist. Die Wahrheit ist — und deshalb werden Sie auch nicht mehr lange die Regierung bilden und stellen können —, die Außenpolitik der Zukunft beruht eben nicht in militärischen Einsätzen.
Die Außenpolitik der Zukunft gehört nicht militärischen Einsätzen, sondern ökonomischen, sozialen, humanitären, ökologischen „Einsätzen" —
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
— ja, ich bin gleich fertig —, d. h. Hilfen in aller Welt. Deshalb: Wir leisten einen Beitrag zur Friedenssicherung, indem wir die Finanzierung der sozialen Einheit Deutschlands und die Stabilisierung der Lander in Ost- und Mitteleuropa leisten. Das tun wir. Deshalb brauchen wir nicht mit Großmächten zu konkurrieren. Das ist unsere internationale Verantwortung. Das bedeutet unsere Form von Friedenssicherung. Deshalb: Lassen Sie uns den einzig möglichen Kompromiß schließen, der alle in diesem Hause umfaßt. Lassen Sie uns ein Votum zugunsten der Verfassungsänderung von Blauhelmeinsätzen abgeben.
Dann können wir all das machen, was zur Hilfe notwendig ist. Dann lassen Sie uns weiter streiten über die Frage der Kampfeinsätze. Dazu haben wir dann noch lange genug Zeit.
Ich bedanke mich sehr.
Meine Damen und Herren, es gab eben einen Zwischenruf des Kollegen Lamers: Sie lügen. Das ist unparlamentarisch, Herr Kollege Lamers.
Nun erteile ich das Wort zu einer Zwischenbemerkung gemäß § 27 der Geschäftsordnung unserem Kollegen Rüttgers.
Frau Wieczorek-Zeul, Sie haben gerade, nach meiner Einschätzung, eine sehr demagogische Rede gehalten, die durch eine maßlose
Sprache gekennzeichnet war.
Ich mache diese Zwischenintervention, weil ich gestern eine Agenturmeldung gelesen habe, wonach Sie die Durchführung dieser ersten Lesung als „Verfassungsputsch" bezeichnet haben. Ich möchte Ihnen Gelegenheit geben, das hier zurückzunehmen, weil ich mir sonst überlegen müßte, gegenüber diesen Agenturen diesen Vorgang als Verbalterrorismus zu bezeichnen.
Das Wort hat Frau Kollegin Wieczorek-Zeul.
Ich möchte in der Tat sagen, daß ich das gesagt habe, und dazu stehe ich: Jeder Verein geht mit seiner Satzung besser um als diese Bundesregierung mit unserer Verfassung.
Dazu stehe ich.Ich füge hinzu. Ich höre doch von Leuten aus den Regierungsparteien: Wir haben die Verfassungsände-
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Heidemarie Wieczorek-Zeulrung in Punkt 3 so gemacht, damit wir mit euch möglicherweise da etwas machen können. — Dieses Geramsche um Verfassungsformulierungen ist unwürdig. Ich sage Ihnen, man hat manchmal den Eindruck, als müsse man die Verfassung vor dieser Regierung schützen.
Zu einer weiteren Zwischenintervention hat das Wort unser Kollege Paul Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul! Wenn Sie sich auf den Punkt 3 beziehen, dann sollten wir doch in aller Sachlichkeit — und das war eben alles andere als sachlich —
deutlich machen, daß in diesem Punkt 3 für uns Verfassungsrecht dergestalt klargestellt wird, daß wir uns von unseren Partnern und Nachbarn in den politischen Möglichkeiten nicht mehr unterscheiden. Das ist der erste Punkt. Das ich wichtig.
Was macht uns eigentlich gefährlich, frage ich Sie, wenn wir im Hinblick auf unsere Handlungsmöglichkeiten das gleiche tun können wie unsere Nachbarn und Partner? Es macht uns berechenbarer.
Der zweite Punkt, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul. Wenn wir dies im Punkt 3, wo die Voraussetzung ist, daß der UN-Sicherheitsrat noch nicht beschlossen hat, unter den Vorbehalt einer Zweidrittelmehrheit in diesem deutschen Parlament, gleichzeitig verfassungsändernde Mehrheit, stellen, dann müßte ja, wenn ich in Ihrer Logik bleibe, alles in diesem Parlament gefährlich sein, weil die Gefahr bestünde, eine Zweidrittelmehrheit herbeizuführen. Diese Logik leuchtet mir nicht ein. Ich kann sie nur als Demagogie abqualifizieren.
Meine Damen und Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist jetzt unser Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Breuer, ich kann Ihnen schon erklären, woran es liegt, was die Kollegin Wieczorek-Zeul hier vorgetragen hat. Sie hat vermutlich die Befürchtung, daß sie vielleicht eine der wenigen von der Opposition ist, die heute gesprochen und selbst an das geglaubt haben, was sie gesagt haben, und hat möglicherweise Angst vor ihrer eigenen Fraktion, vielleicht vor ihrem Fraktionsvorsitzenden und einigen anderen,
wie ich mit einer Reihe von Zitaten nachweisen könnte, daß es durchaus noch einige auch bei der SPD gibt, die internationale Verantwortung so buchstabieren, wie es 1948 Carlo Schmid im ParlamentarischenRat getan hat. Aber es hat natürlich zwischendrin auch andere Zeiten gegeben.Für mich ist das heute eine Lehrstunde gewesen. So ungefähr muß es gewesen sein als die SPD gegen die Wiederbewaffnung, gegen die NATO, gegen Europa, gegen die WEU usw. debattiert hat.
So muß es gewesen sein als man den Begriff des Internationalismus von Carlo Schmid nicht mehr richtig zu buchstabieren wußte. Es hat darin gegipfelt, daß der Kollege Kolbow, dem man den inneren Eiertanz angemerkt hat — er wollte etwas ganz anderes sagen, als er sagen mußte —, vom Feigenblatt des Art. 51 gesprochen hat. Nun, Herr Kolbow, als Verteidigungspolitiker brauche ich Sie nicht darauf hinzuweisen, daß die ganze Räson der NATO, Art. 5 des NATO-Vertrages, expressis verbis gerade auf diesem Art. 51 der UN-Charta basiert
und daß die NATO nichts anderes ist als das in Form gegossene Prinzip des Rechts zur kollektiven Selbstverteidigung.
— Das ist nichts neues. Wir gehen über die Interpretation — —
— Aber, Herr Verheugen, der Herr Kolbow hat von einem Feigenblatt gesprochen, das der Makel in der UN-Charta wäre. Da müssen Sie sich schon gefallen lassen anzuhören, daß sie wohl auch die NATO abschaffen wollen.
Zum anderen: Wenn sich die Welt verändert hat — sie soll es in den letzten Jahren getan haben, wenn auch die SPD manchmnal die Weltsicht nach Christian Morgenstern vorzieht: „,Weil', so schließt er messerscharf, ,nicht sein kann, was nicht sein darf.'" — und sich durch die Änderung der Weltlage und den Wegfall der Blöcke eine Bereitschaft zum Beistand oder zur Nothilfe vielleicht auch für die eine oder andere Nation auf europäischem Boden in einem Krisenfall ergibt, können wir durchaus ein Interesse daran haben, von Fall zu Fall aus unserer eigenen Sicherheitslage heraus im Verbund mit anderen etwas zu tun.Die Kollegin Wollenberger hat mit beredten Worten davon gesprochen, was in Bosnien-Herzegowina gegenwärtig vor sich geht. Ja freilich, es gibt welche, die sagen: 1943 waren Luftbilder von KZs da, 1993 sind Luftbilder von Lagern da. Was wird getan?Die Antwort „Ohne mich! " — etwas anderes haben wir heute nicht gehört, es war eine „Ohne mich"-Debatte
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Christian Schmidt
im schlimmsten Stil der 50er Jahre.
Diese Antwort „Ohne mich! " reicht nicht aus.
Hans Peter Schwarz hat davon gesprochen, daß die Deutschen von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit gekommen sind. Vielleicht sind Sie auch, zum mindesten in Teilen, zur Verantwortungsvergessenheit gekommen. Anders kann ich mir das heute nicht erklären.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?
Bitte sehr.
Herr Kollege Schmidt, darf ich die Frage eines Kollegen von vorhin wiederholen, als er nämlich gefragt hat, warum Sie denn so eine Eile haben. Besteht tatsächlich ein Begründungszusammenhang zwischen der Situation in Bosnien-Herzegowina und der jetzigen Verfassungsänderung?
Die Weltsicht und die Sicht der Dinge wird sich nicht nach dem Zeitplan der SPD-Bundestagsfraktion richten.
Es kann in der Tat sein, daß die Festlegungen und die Klarstellungen, die wir schaffen, in absehbarer und näherer Zeit besprochen werden müssen. Der Einwand des Staatsministers, „Denken Sie an Somalia", ist völlig berechtigt. Hier handelt es sich nach Ihren eigenen Angaben um eine Initiative, um ein Engagement, das wir mit betreiben sollten. Auch hierfür wollen Sie eine Klärung haben. Sie wollten einen Entwurf. Sie haben einen Entwurf.
Wie war dieses Wort von Frau Wieczorek-Zeul „Verfassungsputsch", das soll es sein. Ja, was wollen Sie denn nun? Wir reden ja darüber. Sollen wir jetzt wieder verschieben, sollen wir zurücknehmen, verzögern, oder wo ist der Sinn?
Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage von Herrn Brecht?
Eine lasse ich noch zu.
Darf ich Sie dann fragen, ob Sie den bisherigen Konsens, daß deutsche Soldaten in Jugoslawien nie wieder etwas zu suchen haben,
jetzt auch noch verlassen haben?
Mit diesem Konsens hat es so seine Bewandtnis. Ich will folgendes dazu sagen: Wenn es dazu kommt — was hoffentlich nicht eintreten wird —, daß die Friedensverhandlungen von Genf scheitern und daß das Ultimatum, daß diesem Mörder Karadzic gestellt worden ist, ohne Reaktion verläuft, sehe ich keine andere Sprache mehr als die Sprache der Gewalt, um den Gewalttätern entgegenzutreten. Dann ist die Frage tatsächlich, in welcher Form sich diese Bundesrepublik darauf zurückziehen kann — —
— Sie wissen ganz genau, Herr Kollege, daß wir nicht über Bodeneinsätze sprechen, sondern über sehr begrenzte Einsätze.
Noch ein weiteres dazu. Wenn die Verfassung nicht mehr reicht, sich dann das Argument aus der Geschichte zurechtzulegen, wir dürften uns nie mehr irgendwo im friedlich-humanitären Sinne der Vereinten Nationen beteiligen, weil vorher in deutschem Namen Aggression und Schindluder mit diesen Instrumenten betrieben worden sind, ist falsch.
Aus unserer historischen Verantwortung erwächst ganz im Gegenteil die Verpflichtung, dort, wo eminente Menschenrechtsverletzungen entstehen, mitzuhelfen, daß diese Menschenrechtsverletzungen beendet werden.
Nur einen Satz dazu. Gestern wurde nahezu unter Ausschluß der Öffentlichkeit eine vierstündige Debatte über Entwicklungspolitik und die damit zusammenhängenden Fragen, beispielsweise auch der Flüchtlingsbewegungen, geführt. — Selbstverständlich kann die Anwendung von Gewalt, wie es doch die Vereinten Nationen in den letzten Jahren praktiziert haben, nur immer Ultima ratio sein. Die präventiven und die friedlichen Maßnahmen müssen vorher eingesetzt werden, bevor andere Schritte ergriffen werden können.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie noch eine Frage der Kollegin Zapf?
Bitte sehr!
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Kollege Schmidt, ich halte die Angelegenheit für so wichtig, daß ich doch noch einmal nachfragen möchte. Erstens: Habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie diese Grundgesetzänderung, insbesondere auch die in der Ziffer 3, für notwendig und zeitkritisch halten, weil sich die Bundesrepublik notfalls die Option zu militärischem Eingreifen in Jugoslawien schaffen will?Zweitens, der zweite Begründungszusammenhang, der hier angeführt wurde, nämlich die Teilnahme in Somalia. Können Sie da mein Argument nachvollziehen, daß auf der Grundlage dessen, was die SPD zu
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11494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Uta Zapftun bereit ist, nämlich der friedenserhaltenden Maßnahmen, all das gemacht werden könnte, was in Somalia notwendig ist und angefordert wird?
Das Argument kann ich nicht recht nachvollziehen, weil ich den Zusammenhang nicht ganz erkannt habe. Sie haben von Somalia gesprochen. Das ist eine aktuelle Situation, eine aktuelle Frage, da dürfen wir jetzt wohl, wie Sie sagen, „zeitkritisch" tätig werden. Und im anderen Fall sollten wir das nicht? Da scheint mir die Logik ein bißchen verlorengegangen zu sein.
Gestatten Sie noch eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Paul Breuer?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Schmidt, können Sie im Hinblick auf den Konflikt in BosnienHerzegowina bestätigen, unterstellt, der UNO-Sicherheitsrat käme zu der Entscheidung, das Flugverbot mit militärischen Mitteln durchzusetzen, daß die Gefahr bestünde, daß das Angebot der NATO an die UN, das Flugverbot mit militärischen Mitteln durchzusetzen, in Mitleidenschaft gezogen werden könnte, weil ein deutscher Beitrag auf Grund der Verhinderungsstrategie der Sozialdemokraten nicht geleistet werden könnte?
Herr Kollege, ich kann das bestätigen. Ich kann zu Ihrer Frage noch eines sagen. Wir alle in diesem Hause sind uns wohl darüber im klaren, daß es militärische Probleme mit dem Einsatz der AWACS-Flotte gibt, weil sie wesentlich auch von deutschen Besatzungsanteilen mit geprägt ist. Aber politisch ist die Gefahr noch viel verheerender. Sollen wir denn, bitte schön, unseren NATO-Partnern, die immerhin 40 Jahre lang im westlichen Teil unseres Landes standen, um dem Kommunismus entgegenzustehen, in dem ersten Fall, in dem es darum geht, im Sinne der Menschlichkeit zu agieren, sagen: „Ohne mich, ohne uns"?
Ich glaube, daß das sehr schwerfallen wird und daß die SPD gerade bei der neuen Administration in Washington wohl Schwierigkeiten haben wird, ihre Position darzulegen. Was wäre dann die Folge? Die Folge wäre, daß in Amerika Überlegungen Platz greifen würden, wo denn die Räson für den Verbleib amerikanischer Truppen in Deutschland überhaupt sein sollte.
Dann besteht eine substantielle Gefahr, dann geht es uns ans Mark, an die eigene Sicherheit. Wer das bedenkt, der wird über die Frage des BosnienEinsatzes und über andere Fragen, über die Notwendigkeit der NATO-Kooperation anders denken.
Noch eines dazu. Es wird nicht so sein können — Kollege Voigt hat da etwas falsch verstanden —, daß es darum ginge, den NATO-Bündnisfall in irgendeiner Weise in diese Grundgesetzänderung mit
hineinzubringen. Wir wollen die NATO-Verpflichtungen, so wie sie sich aus dem NATO-Vertrag ergeben, wie es der NATO-Rat beispielsweise im Bündnisfall beschließen würde, etwa beim Angriff auf eines der Mitglieder des Nordatlantischen Vertrages, so beibehalten, ohne etwas daran zu ändern.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Sie haben vom gesellschaftlichen Konsens gesprochen. Ich war da schon etwas überrascht. Wir — damit meine ich die Politik allgemein — werden in der Öffentlichkeit wegen einer gewissen Entscheidungsträgheit ab und zu gescholten. Nun ist eine Initiative auf den Weg gebracht. Nun geht es darum, politisch zu argumentieren und natürlich auch Mehrheiten zu gewinnen, Überzeugungen darzulegen.
Zu Beginn dieser Debatte sagten Sie, was weiß ich, Forsa oder die „Bild"-Zeitung oder sonstige äußerst seriöse Unternehmen hätten Ihnen gesagt, das ginge nicht, weil nur 15 % dafür oder 60 % dagegen wären. Das ist nicht Politik, das ist Abdankung der Politik.
Politik muß in die Zukunft weisen. Ich darf an Sie, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, appellieren. Wir haben in einer heftigen Diskussion mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages gemeinsam einen wesentlichen Punkt für die Einbindung Deutschlands in die europäische Integration beschlossen. Das hier ist ein weiterer Punkt, der in der heutigen Zeit, nach dem Fall der Berliner Mauer, ein notwendiges Element für die Einbindung Deutschlands in die internationale Verantwortung für Frieden und Freiheit darstellt. Deswegen bitte ich Sie herzlich darum, sich dieser Diskussion nicht zu versagen und unseren Argumenten, die zweifelsohne die besseren sind, zu folgen.
Meine Damen und Herren; ich schließe die Aussprache. Aus der vereinbarten Zweistundendebatte ist eine Dreistundendebatte geworden. Dies müssen wir für die nachfolgenden Tagesordnungspunkte zur Kenntnis nehmen.Interfraktionell wird, anders als in der Tagesordnung vorgesehen, gewünscht, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/4107 zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Verteidigungsausschuß, den EG-Ausschuß sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen.Gibt es noch anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 13 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes— Drucksache 12/3978 —
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Vizepräsident Helmuth Beckera) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
— Drucksache 12/4125 —Berichterstattung:Abgeordnete Joachim Hörster Manfred RichterJohannes Singerb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/4126 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus RoseDr. Wolfgang Weng Rudolf Purps
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Dieter Wiefelspütz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag wird heute eine maßvolle Anhebung der Abgeordnetengehälter und der Kostenpauschale beschließen. Diese Entscheidung ist — wie könnte es anders sein? — umstritten. Sie ist innerhalb dieses Hauses, aber auch außerhalb des Bundestages umstritten. Das war auch in den vergangenen Jahren so. Die kritischen Argumente wiederholen sich immer wieder. Jahr für Jahr ist für manche die Anhebung der Gehälter der Mitglieder des Bundestages untragbar. In der SPD-Fraktion, aber auch in anderen Fraktionen dieses Hauses existieren bei einer Reihe von Kolleginnen und Kollegen Bedenken, ob in diesem Jahr eine Diätenerhöhung angesichts erheblicher sozialer Probleme in unserem Lande vertretbar ist.Nach einer langwierigen und eindringlichen Diskussion haben wir uns darauf verständigt, einer maßvollen, einer unterdurchschnittlichen Anhebung der Abgeordnetengehälter zuzustimmen. Es ist zu respektieren, daß eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen sich dieser Auffassung nicht anschließen wird, sich enthalten oder auch mit Nein stimmen wird.
Nach den Regeln, die sich der Bundestag für Diätenanhebungen gegeben hat, wäre eine Anhebung der Entschädigung ab 1. Juli 1992 um 4,7 % angemessen. Das ergibt sich aus einer sorgfältigen Erhebung über die Entwicklung der Löhne und Gehälter sowie vergleichbarer Einkünfte im maßgeblichen Zeitraum der Jahre 1991/92. Die Löhne und Gehälter stiegen im vergangenen Jahr um gut 5 %, übrigens auch die Löhne und Gehälter solcher Personen, die höhere Einkünfte als Bundestagsabgeordnete beziehen.Angesichts dieser Einkommensentwicklung wäre eine Anhebung um rund 5 % daher durchaus folgerichtig. Wir wollen der korrekten Empfehlung der Präsidentin, die Entschädigung für Abgeordnete um 4,7 % anzuheben, jedoch wegen der besonderen Lage in unserem Lande nicht folgen und die Anhebung auf die Hälfte des vorgeschlagenen Betrages beschränken, also auf lediglich 2,35 %.Wir wollen uns dieser Zurückhaltung nicht ausdrücklich rühmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich denke, diese Zurückhaltung versteht sich von selbst. Die Mitglieder des Bundestages haben ein überdurchschnittliches Gehalt und können gestiegene Lasten leichter tragen als andere.Der allein verbindliche Maßstab für das Gehalt der Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist immer wieder unser Grundgesetz. In Art. 48 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes heißt es:Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.Es gibt inzwischen kaum noch Stimmen, die das aktuelle Gehalt der Abgeordneten kritisieren. Im Gegenteil, in Relation zur Bedeutung und Verantwortung des Amtes wird das Gehalt der Abgeordneten immer häufiger als vergleichsweise niedrig eingeschätzt. Ich will das aber hier gar nicht vertiefen.Entscheidend ist die heutige Fragestellung. Die Anhebung der Entschädigung um 2,35 % und die Anhebung der Kostenpauschale um preissteigerungsbedingte 3,69 % sind nach meiner Überzeugung in Ordnung.Die öffentliche Diskussion über die Gehälter von Politikern hat sich in den letzten Jahren in ihren Akzenten verschoben. Kritisiert wird heute vor allem, daß die Bundestagsabgeordneten in eigener Sache entscheiden. Kritisiert wird auch eine angeblich zu üppige Versorgungsregelung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, daß die Präsidentin des Bundestages vor einigen Monaten eine unabhängige Kommission eingesetzt hat, die den Auftrag hat, die gesetzlichen Bestimmungen über finanzielle Zuwendungen an Abgeordnete zu überprüfen. Der Bericht der Kommission wird voraussichtlich im Frühjahr dieses Jahres vorliegen. Diesem Bericht wird sich eine Generaldebatte über das Gehalt der Abgeordneten, die Kostenpauschale, die Amtsausstattung, die Versorgung der Abgeordneten anschließen. Das Abgeordnetengesetz, das all dies regelt, stammt aus dem Jahre 1977. 15 Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ist es an der Zeit, das damals geschaffene System einer grundsätzlichen Überprüfung und öffentlichen Diskussion zu unterziehen.Lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen, daß nach meiner Einschätzung noch in der ersten Hälfte dieses Jahres mit einer Änderung des Grundgesetzes zu rechnen ist. Danach wird in Zukunft die verbindliche Entscheidung über die jährliche Diätenanhebung in die Hände einer vom Bundestag unabhängigen Kommission gelegt. Die Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission in dieser Angelegenheit sind inzwischen gut vorangekommen. Es ist deshalb
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Dieter Wiefelspützzu vermuten, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß eine Beratung wie diejenige, die wir jetzt durchführen, in Zukunft nicht mehr nötig sein wird — zur Freude der Öffentlichkeit, aber auch zur Freude des weitaus größten Teils der Mitglieder des Bundestages.Herzlichen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Manfred Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erhöhungen der Diäten sind unpopulär, werden es immer bleiben. Jede denkbare Höhe der Bezahlung für die Abgeordneten ist einigen Mitbürgern zu hoch. Abgeordnete sollen für Gotteslohn schaffen, am besten noch Geld mitbringen, aber bloß kein Parlament der Reichen!
Im Gesetz steht dagegen, daß die Abgeordneten angemessen zu bezahlen sind. Aber es gibt nun einmal keine amtliche Definition dessen, was angemessen wäre. Also müssen wir uns der Kontroverse stellen.
Es gibt auch keinen geeigneten Zeitpunkt. Der Zeitpunkt ist immer der falsche. Es spielt keine Rolle, ob wir über die Diätenerhöhung für 1992 Anfang 1992 oder Anfang 1993 entscheiden, die Vorurteile stehen sowieso fest. Es ist ja klar: Abgeordnete sind faul, unqualifiziert, verdienen zuviel und treffen auch noch falsche Entscheidungen. Beim Kampf um die Luftherrschaft über deutschen Stammtischen gibt es keine Flak.
Deswegen stelle ich nochmals fest: Die Diätenerhöhung ist maßvoll. Sie bleibt hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung im Jahre 1991 zurück. Im Unterschied zu den Empfehlungen aus dem Bericht der Präsidentin des Deutschen Bundestages, die Grundentschädigung um 4,7 % bei einer durchschnittlichen tariflichen Einkommensverbesserung der Arbeitnehmer von 5,6 % anzuheben, verabschieden wir heute eine Anhebung nur um die Hälfte, also um 2,35 %. Die Anpassung der Diäten bleibt hinter den Erhöhungen in der freien Wirtschaft und auch im öffentlichen Dienst zurück, der bei der Neuregelung der Abgeordnetengrundentschädigung im Jahr 1977 als Orientierungshilfe diente.
Das Verfahren zur Festsetzung der Abgeordnetenbezüge ist sicher nicht unproblematisch; darauf habe ich schon in der ersten Lesung hingewiesen. Aber der Gesetzgeber, also die Abgeordneten, müssen nun einmal nach der geltenden Rechtslage das Gesetz selbst machen. Wir sollten gerade diesen Gesichtspunkt in einem größeren Zusammenhang diskutieren, vielleicht dann, wenn die Kommission zur Neuordnung der Bezüge und der Versorgung der Abgeordneten Lösungsvorschläge unterbreitet.
Der Deutsche Bundestag mit seinen Mitgliedern ist ein ganz normales Spiegelbild der deutschen Gesellschaft. Es gibt gute Abgeordnete und schlechte, fleißige und faule; es gibt schlaue und weniger schlaue.
Es gibt aber keine objektiven Kriterien für die Bewertung der Leistung eines Abgeordneten. Was der eine Wahlbürger für super hält, hält der andere für Schwachsinn. Das ist auch der Grund, weswegen bei der Bezahlung der Abgeordneten nicht differenziert werden kann oder wie auch immer geartete Leistungsgesichtspunkte gelten können. Es mag auch den einen oder anderen geben, der das Geld, das er an jedem Ersten überwiesen bekommt, nicht verdient. Aber ich kenne viele Kollegen, die ein Arbeitspensum absolvieren, das weit über dem liegt, was ein Angestellter in einer vergleichbar bezahlten Position zu leisten hätte. Ich empfinde es auch als ungerecht, daß unsere Kollegen deswegen angefeindet werden, weil sie auch unpopuläre Dinge draußen vertreten müssen. Man schlägt den Sack, und man meint den Esel.
Ich wünsche mir wirklich ein Meinungsklima in unserem Land, in dem sich nicht diejenigen, die nach reiflicher Abwägung eine sachlich fundierte Meinung nach außen tragen, dann, wenn diese unpopulär ist, mit ganz unglaublichen Anwürfen auseinandersetzen müssen. Das gilt auch — das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen — für unsere Ehe- und Lebenspartner. Oft geht das, was hier geleistet wird, an die Grenzen der Belastbarkeit. Privatleben und Familie stehen allzuoft zurück. Das alles kann nicht finanziell abgegolten werden — das soll es auch nicht —, aber die Abgeordneten haben einen Anspruch darauf, sich nicht bei jeder zurückhaltenden Diätenerhöhung von 2,35 % auf die Anklagebank gesetzt zu sehen.
Ich erteile jetzt der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aufrufe an die Bürgerinnen und Bürger des Landes, den Gürtel enger zu schnallen, werden immer lauter. Schon hat man die ersten Opfer eines sogenannten Solidarpakts benannt: Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger werden als Wildwuchs diskriminiert; ihre Hilfe soll für drei Jahre eingefroren werden; Empfängerinnen und Empfänger von BAföG, die die angekündigte Steigerung in den Wind schreiben müssen, und Soldaten, die auf ihre Solderhöhung verzichten sollen. Vor diesem Hintergrund wird im Deutschen Bundestag nun die Erhöhung von Diäten und Kostenpauschale, die noch dazu rückwirkend erfolgt, debattiert. Ich schäme mich für diese Heucheleien.In meiner Rede aus Anlaß der ersten Lesung der Änderung des Abgeordnetengesetzes habe ich gesagt, daß die Fraktionsspitzen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD hinter dem Rücken ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen sowie der Gruppen gekungelt haben. Heraus kam der noch vor Weihnachten — für die meisten hier überraschend — präsentierte Vorschlag. Kollege Struck warf mir daraufhin vor, Tatsachen zu verdrehen. Die Möglichkeit zur Richtigstellung durch eine Kurzintervention wurde mir verweigert. Was hier verdeckt wird und hinter den Kulissen läuft, darf eben nicht an die Öffentlichkeit.
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Dr. Dagmar EnkelmannFakt ist, daß im November eine Beratung der für Vorschläge zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zuständigen Rechtsstellungskommission des Altestenrates stattfand, bei der mehrere Varianten für das Verfahren in diesem Jahr diskutiert wurden. Als eine Möglichkeit wurde durchaus ernsthaft erwogen, eine Nullrunde zu fahren. Eine abschließende Festlegung ist nicht getroffen worden.Sie werden schon gestatten, daß ich als Mitglied dieser Kommission mehr als verwundert bin, wenn plötzlich ein fertiges Papier auf dem Tisch landet, das möglichst schnell und ohne großen Widerstand das Parlament passieren soll. Dazu wurden in der ersten Lesung noch diverse Spielereien mit Redezeiten veranstaltet, die verhinderten, daß kritische Stimmen aus den großen Fraktionen zu Wort kommen konnten, oder aber eine merkwürdige — d. h. des Merkens würdige — Veränderung der Rednerliste, die der PDS/Linke Liste einen unerwarteten zweiten Platz und damit den parlamentarischen Schwitzkasten sicherte. Wir haben also sehr wohl mitgekriegt, was Sie da veranstaltet haben.Die PDS/Linke Liste wird die Diätenerhöhung ablehnen. Den Gründen, die in der ersten Lesung bereits genannte wurden, ist nichts hinzuzufügen:Erstens. Das System der prozentualen Anhebung der Diäten führt letztlich dazu, daß die Schere zwischen Gutverdienenden und Schlechtergestellten immer weiter auseinandergeht.Zweitens. Angesichts der Entwicklung der Realeinkommen im Osten — vor allem von Rentnerinnen und Rentnern, Alleinerziehenden, Familien mit mehreren Kindern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern — wäre eine Nullrunde ein kleines Zeichen wirklicher Solidarität.Drittens. In Anbetracht der enormen Kürzungen im Haushalt bei ABM-Stellen, im Umweltschutz, bei Kultur- und Sportförderung etc. ist eine Diätenerhöhung unverantwortlich. In dem seit Ende Dezember offensichtlich gepackten Sozialabbaupaket sollte der Verzicht auf die Erhöhung von Diäten für Abgeordnete des Bundestages ganz obenauf liegen. Das wäre politgesundheitsfördernd.Ich appelliere besonders an meine Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern, der Diätenerhöhung nicht zuzustimmen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstem erteile ich dem Kollegen Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erneute Erhöhung unserer Diäten — auch wenn sie in diesem Jahr nur geringfügig ausfällt und unterhalb des Inflationsausgleichs liegt — ist ein falsches politisches Signal. In einer Situation, in der es noch immer ein erhebliches Einkommensgefälle zwischen Ost-und Westdeutschland gibt, hätte es den Abgeordneten des Deutschen Bundestages gut angestanden,
einmal auf die Erhöhung ihrer Einkünfte zu verzichten. Das hätte unser zeichenhafter Beitrag zum so dringend notwendigen Solidarpakt sein können. Wie können wir nun glaubhaft sein, wenn wir von den Gewerkschaften eine maßvolle Tarifpolitik fordern und von den Arbeiterinnen und Arbeitern Einkommensverzicht erwarten oder gar über Kürzungen der Ausgaben für sozial Schwache nachdenken?
Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben bereits die letzte Diätenerhöhung abgelehnt und beschlossen, den Erhöhungsbetrag nicht für sich in Anspruch zu nehmen. Wir haben einen Diätenfonds gegründet, in den bisher von uns acht Abgeordneten über 100 000 DM eingezahlt worden sind. Mit Mitteln aus diesem Fonds haben wir Projekte in den ostdeutschen Bundesländern unterstützt, z. B. das Frauenhaus in Rostock, das alternative Energieprojekt „Sonnenhaus" in Rambow, das Forschungszentrum zu Stalinistischen Verbrechen in Berlin, die Umwelt-Bibliothek in Berlin, den Verein „Frauenförderung"; das Projekt ,,Mädchen von der Straße" des Unabhängigen Frauenverbandes, das Frauencafé und den Kinderladen in Riesa, das Förderzentrum „Johann Amos Comenius" in Wurzen, das Begegnungszentrum „Café Cabana" in Potsdam, das Kinderzentrum „Märchenvilla" in Eberswalde im Land Brandenburg, das Ökocafé Nordhausen, das Dritte-Welt-Haus in Jena oder die Arbeitsloseninitiative in Zwönitz in Sachsen.
Angesichts der anhaltenden sozialen Krise in Ostdeutschland, der zunehmenden Anzahl von Arbeitslosen im Westen wie im Osten und des Entstehens von wirklicher Not in Deutschland wird die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch die diesjährige Erhöhung der Diäten ablehnen.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Joachim Hörster.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach meinen beiden Vorrednern möchte ich doch wieder zu den sachlichen Punkten zurückkommen, mit denen wir uns hier zu befassen haben,
denn wir haben nun einmal die Pflicht, uns nach den Regeln des Abgeordnetengesetzes und nach den Vorgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht gemacht hat, in regelmäßigen Abständen über die Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung zu befinden. Ich weiß — darüber sind wir uns alle in diesem Hause einig —, daß es alles andere als eine komfortable Situation ist, selbst über die Höhe seiner Einkünfte entscheiden zu müssen. Ich frage mich, wie das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, wie das Ansehen des Bundesgerichtshofes, wie das Ansehen
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Joachim Hörsterder Bundesregierung, der Landesregierungen oder anderer Verfassungsorgane wäre, wenn sie selbst über diese Dinge zu entscheiden hätten, wozu wir auf Grund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gehalten sind.
Herr Hörster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Ja.
Herr Kollege, da Sie hier den fälschlichen Eindruck einer Automatik erwecken, frage ich Sie: Sind Sie bereit, mir darin zuzustimmen, daß die Verpflichtung, zu entscheiden, auch durchaus bedeuten kann, daß wir uns gegen eine Erhöhung entscheiden
oder daß wir die Erhöhung nur auf unsere Aufwendungen beziehen oder daß wir auf eine rückwirkende Erhöhung verzichten? Sind wir nicht in allen diesen Fragen völlig frei, so daß von einer Automatik überhaupt keine Rede sein kann?
Selbstverständlich, Herr Kollege Hirsch, sind wir in unseren Entscheidungen frei. Wir sind sogar frei, darüber zu entscheiden — darüber werden wir uns in absehbarer Zeit untereinander verständigen müssen —, ob das bisherige Verfahren zur Regelung der Abgeordnetenentschädigung beibehalten werden muß. Denn in der Tat hat es in Anbetracht der permanenten Neiddiskussion in unserer Gesellschaft nicht zum Ansehen des Hohen Hauses beigetragen, daß wir die einzige Institution in diesem Verfassungsstaat sind, die über ihre Verhältnisse selbst zu entscheiden hat. Das ist unser Problem. Ich finde es hoch an der Zeit, daß wir die damalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die uns das auferlegt hat, dahin gehend überprüfen, ob wir, notfalls mit Hilfe einer entsprechenden Änderung oder Klarstellung in der Verfassung, dieses Verfahren verändern sollten, da es dem Ansehen dieses Verfassungsorgans nicht dient. Das ist die Erfahrung, die wir seit mehr als zehn Jahren auf diesem Gebiet machen.
Es dient auch nicht dem Ansehen dieses Verfassungsorgans, wenn je nach Lage der Politik die einen sagen, die Erhöhung ist angemessen, und die anderen, die Erhöhung ist nicht angemessen. Es gibt überhaupt nur ein Maßstab, der im Sinne des verfassungsgerichtlichen Urteils die Angemessenheit der Abgeordnetenentschädigung definiert. Der Maßstab ist nicht, ob man mit der Politik, die gerade gemacht wird, zufrieden ist oder nicht. Es ist auch nicht die Frage, wie groß die Zahl der Abgeordneten ist. Auch das wird manchmal diskutiert. Es ist vielmehr ausschließlich die Frage, ob die Entwicklung der Abgeordnetendiäten mit der Einkommensentwicklung in
anderen Kreisen der Bevölkerung Schritt hält oder nicht und angepaßt werden muß.
Herr Hörster, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Er hat besondere Erfahrung mit demokratischen Verfassungsorganen. Ich lasse ihn gerne fragen.
Herr Kollege, da Ihnen das Ansehen dieses Parlaments so sehr am Herzen liegt: Wäre es unserem Ansehen nicht unheimlich dienlich, eine Nullrunde einzulegen, also keine Diätenerhöhung zu beschließen?
Nein, das ist dem Ansehen dieses Hauses nicht dienlich, und zwar aus folgendem Grunde, den ich Ihnen sehr deutlich darstellen will.
Manche Züge der gegenwärtigen Diskussion über die Situation der Abgeordneten erinnern mich an Diskussionen der Weimarer Zeit. Ich sage das hier in aller Deutlichkeit. Denn in der Öffentlichkeit wird häufig die Position des Abgeordneten auf die Frage verengt: Wie hoch ist seine Entschädigung, und wie hoch ist seine steuerfreie Aufwandspauschale? Kein Mensch diskutiert mehr über den Verfassungsrang des Organs, dem wir als Abgeordnete angehören. Ich bin der Auffassung — ich denke, die Mehrheit dieses Hauses ebenfalls —, daß wir uns nicht durch eine populistische oder oberflächliche Diskussion dazu zwingen lassen dürfen, das Verfassungsorgan Bundestag anders zu behandeln als andere Verfassungsorgane in der Bundesrepublik Deutschland. Denn niemand hat darüber diskutiert, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts oder anderer Obergerichte auf ihre Einkommenserhöhung zu verzichten hätten, die sie mit der Änderung der letzten Besoldungsordnung automatisch bekommen haben. Warum konzentriert sich eine solche Diskussion immer nur auf Abgeordnete? Das wird von Leuten betrieben — ich sage das mit allem Nachdruck —, denen das parlamentarische System im Grunde genommen nicht gefällt
und die nicht bereit sind, die Erschwernis zu ertragen,
daß in einer Demokratie Entscheidungsprozesse länger dauern als in einer Diktatur. Denn hier muß man Mehrheiten finden; man braucht Beratungszeit, man muß sich überzeugen lassen und zu Enscheidungen finden, die auch bei diffizilen Fragen immer dem Anspruch gerecht werden, den uns die Verfassung vorgibt.
Herr Hörster, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Aber ja.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11499
Verehrter Herr Kollege, ich bedanke mich. Wie berücksichtigen Sie gerade unter den von Ihnen zuletzt gemachten Ausführungen, daß wir vorgestern im Innenausschuß dieses Hauses einem Gesetzentwurf zugestimmt haben, wonach die Amtsgehälter der Bundesminister und der Parlamentarischen Staatssekretäre für die nächsten zwei Jahre unverändert auf dem jetzigen Stand stehenbleiben?
Ich halte das für eine sehr interessante Entscheidung, die im Innenausschuß getroffen worden ist. Nur bitte ich Sie zu berücksichtigen: Es handelt sich hierbei um eine Entscheidung für die Zukunft, während unsere heutige Entscheidung an sich im September des vergangenen Jahres hätte getroffen werden müssen.
Wir haben sie deswegen damals nicht getroffen, weil wir als Bundestag darauf gewartet haben, was uns die von uns eingesetzte Kommission an Vorschlägen liefert.
Sie liegen noch nicht vor. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge müssen wir damit rechnen, daß ein Ergebnis dieser Kommission auch bis zur Osterpause nicht vorliegt. Das heißt also, wir müssen uns in der Sache entscheiden.
Wenn es Kolleginnen und Kollegen gibt, die der Auffassung sind, daß man in dieser Frage dem Vorschlag nicht folgen sollte, so ist das deren Entscheidung. Sie wird von mir auch respektiert. Ich bitte jeden von diesen Kolleginnen und Kollegen, zu berücksichtigen, wie er das begründet. Das Parlament und seine Ausstattung können nicht zum Gegenstand des jeweiligen Mißmuts, Unmuts oder Glücksgefühls der politischen Situation werden.
Das Parlament und seine Ausstattung müssen sich an der Aufgabe und an dem Verfassungsrang orientieren, die diese Einrichtung hat. Von daher gesehen werden wir dein Gesetz zustimmen.
Ich will aber gleich darauf aufmerksam machen, daß ich sehr darauf hoffe, daß das das letzte Mal ist, daß wir eine Diskussion in dieser Weise führen. Wir müssen uns sehr darum bemühen, das Verfahren zu verändern sowie den Status und die Amtsausstattung neu zu definieren. Ich hoffe sehr, daß uns die Kommissionen, die dazu Berichte geliefert haben oder noch liefern werden, dazu eine gute Handreichung geben werden.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wahrlich nicht abergläubisch. Aber dieser Tagesordnungspunkt 13 macht mich unglücklich, insbesondere deshalb, weil sich keine der großen Fraktionen bereit findet, eine namentliche Abstimmung zu diesem Tagesordnungspunkt zu beantragen. Ich sehe mich gezwungen, dieser Diätenerhöhung nicht zuzustimmen, weil die soziale Situation in unserem Lande, und zwar in Ost und West, so schlecht ist, daß ein Zeichen dieses Hauses, einmal auf eine Diätenerhöhung zu verzichten, sehr angemessen wäre.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich stelle fest, daß weitere Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben worden sind: von Angelika Barbe, Günter Graf, Susanne Kastner, Walter Kolbow und Siegfried Scheffler.*)
Es liegen mir jetzt noch zwei Meldungen zu einer Erklärung nach § 31 vor. Herr Lowack, bitte.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages! Ich möchte nur daran erinnern, daß dieses Parlament über sieben Jahre lang, zwischen 1976 und 1983, seine Diäten um keinen Pfennig angehoben hat, während gleichzeitig die Inflationsrate rund 35 % ausmachte. Das war in der Parlamentsgeschichte einmalig. Ich stimme deswegen der Anhebung heute zu.
Bei der zweiten Meldung handelt es sich um eine schriftliche Erklärung, die zu Protokoll gegeben wird.*)Damit kommen wir zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten- und des Europaabgeordnetengesetzes. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 12/4125, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei einer Reihe von Gegenstimmen und Enthaltungen angenommen.Wir kommem zurdritten Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist wie in der zweiten Lesung bei einer Reihe von Gegenstimmen und einigen Enthaltungen angenommen.*) Anlage 2
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11500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthIch rufe Tagesordnungspunkt 14 a bis 14 f auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über gebäude- und wohnungsstatistische Erhebungen
— Drucksache 12/3043 —aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
— Drucksache 12/4108 —Berichterstattung:Abgeordnete Iris Gleicke Herbert Frankenhauserbb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 12/4109 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig ThieleThea Bock
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Formanski, Achim Großmann, Dieter Maaß , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDErhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau— Drucksache 12/3913 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeNachbesserung des Wohngeldsondergesetzes— Drucksachen 12/3473, 12/3976 —Berichterstattung:Abgeordnete Hans Raidel Achim Großmannd) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke ListeVerlängerung der Regelungen über den erweiterten Kündigungsschutz für Mieter in den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin— Drucksachen 12/1974, 12/4116 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Eckhart Picke) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeVerschiebung der 2. Mietsteigerung zum 1. Januar 1993 um ein Jahr— Drucksachen 12/3284, 12/4116 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Eckhart Pickf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke ListeUmwandlung der sogenannten Altschulden der Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen Bundesländern und in Ostberlin in Fördermittel des Bundes— Drucksachen 12/3474, 12/3982 —Berichterstattung:Abgeordnete Dieter Pützhofen Carl-Ludwig ThieleThea BockNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Norbert Formanski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im „Handelsblatt", aber auch im Heft 41/1992 der „Wohnungswirtschaftlichen Informationen" konnten wir folgenden Sachverhalt, der uns aus den Wahlkreisen in den Ballungsgebieten bestens bekannt ist, nachlesen — ich zitiere —:Ein 33jähriger verheirateter Polizeihauptwachtmeister , der zusammen mit seiner halbtags beschäftigten Ehefrau (bezahlt nach BAT VII) jährlich 57 000 DM Bruttoeinkommen erreicht, liegt um mehr als 10 000 DM über der zulässigen Sozialwohnungsgrenze. Auch ein Ehepaar ohne Kinder, bei dem nur er berufstätig ist (Amtmann, Besoldungsgruppe A 11), liegt um beinahe 20 000 DM über der Einkommensgrenze. Selbst die alleinerziehende Mutter mit einem Kind, in Frankfurt tätig als Sachbearbeiterin in der Wohnungswirtschaft, übertrifft mit ihrem Jahresbruttoeinkommen von 45 000 DM um mindestens 6 000 DM die Einkommensgrenze und fällt ebenfalls aus dem Bewerberkreis heraus.Diese Beispiele belegen: Die Anhebung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau ist schon lange überfällig. Es muß in Zukunft regelmäßig überprüft werden, ob eine Anpassung an die allgemeine Tarifentwicklung erforderlich ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11501
Norbert FormanskiSeit 1980 sind die Sätze nicht mehr grundlegend an die Einkommensentwicklung angepaßt worden. Die Löhne und Gehälter sind seitdem nominal zwar gestiegen, gleichzeitig hat sich aber der Preisindex nach oben entwickelt. Außerdem sind Steuern und Sozialversicherungsabgaben gerade für kleine und mittlere Einkommen stark gestiegen. Das Realeinkommen der Beschäftigten, das, was die Bürger netto in der Tasche haben, ist also kaum gestiegen und in vielen Fällen sogar gesunken.Durch diese Entwicklung ist eine große Gruppe unserer Bevölkerung aus dem Kreis der Berechtigten zum Bezug öffentlich geförderter Wohnungen herausgefallen bzw. wird zur Fehlbelegungsabgabe herangezogen, ohne daß sich deren wirtschaftliche Situation gegenüber dem Vergleichsjahr 1980 effektiv verbessert hat. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, daß heute nicht einmal mehr 30 % aller Haushalte unterhalb der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau liegen. Insbesondere Arbeitnehmerhaushalte können kaum noch eine öffentlich geförderte Wohnung beziehen. Ihr Anteil dürfte bereits deutlich unter 30 % liegen.Damit werden in erster Linie diejenigen Haushalte vom Bezug einer Sozialwohnung ausgeschlossen, die einerseits durch Steuern zu der direkten und indirekten staatlichen Wohnungsbausubvention zu einem erheblichen Teil beitragen, die aber andererseits selbst nicht in der Lage sind, die hohen Marktmieten im freifinanzierten Wohnungsbau aufzubringen.
Der Verdrängungswettbewerb auf dem Markt der freifinanzierten Wohnungen betrifft längst nicht mehr nur Randgruppen unserer Gesellschaft. Bei Quadratmeterpreisen jenseits von 20 DM oder gar 25 DM kann sich auch jeder Doppelverdienerhaushalt ausrechnen, wann die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind.
Fakt ist: Der soziale Wohnungsbau erreicht heute nicht mehr die breiten Schichten der Bevölkerung — dem werden Sie ja zustimmen können, Herr Kansy —, wie es ursprünglich durch den Bundesgesetzgeber vorgesehen war. Ich zitiere den bayerischen Minister Edmund Stoiber ,
„Frankfurter Rundschau" vom 11. Dezember 1992:In München ist es inzwischen schwierig geworden, ausreichend Mitarbeiter für das mittlere, teils aber auch das gehobene Management und den öffentlichen Dienst zu finden. Busfahrer, Polizisten, Krankenschwestern, Feuerwehrmänner oder Boten werden immer schwerer eine Wohnung finden, wenn hier nicht der Staat außerordentlich hilft. Eine Stadt kann nicht nur von den „eggheads" leben, sondern sie braucht natürlich den gesamten Querschnitt der Bevölkerung.Nicht nur in München, sondern in fast allen Ballungsgebieten finden Familien mit zwei oder drei Kindern kaum noch preiswerte Wohnungen.Ohne jetzt in die Verfassungsdiskussion eintreten zu wollen, möchte ich doch mit Nachdruck betonen, daß eine Wohnung kein beliebig. austauschbares Wirtschaftsgut ist.
Das Recht auf angemessenen und bezahlbaren Wohnraum ist ein soziales Grundrecht, das sehr wohl aus dem Sozialstaatsgedanken des Art. 20 Abs. 1 unseres Grundgesetzes abgeleitet werden kann und sich auch in der Verfassung für das vereinte Deutschland wiederfinden muß.Der Antrag der SPD-Fraktion sieht nicht nur eine generelle Anhebung der Einkommensgrenzen um durchschnittlich 10 % vor, sondern auch einen pauschalen Abzug vom Jahreseinkommen von jeweils 10 %, wenn der Antragsteller Steuern vom Einkommen, Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung und Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung entrichtet. Dieser pauschale Abzug entlastet gezielt normal verdienende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und schafft so die Voraussetzung dafür, daß die weitere Gettobildung im Sozialwohnungsbestand verhindert wird. Denn das Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungskreise ist unverzichtbar für die notwendige Integration und Unterstützung von Problemgruppen unserer Gesellschaft.Die Versorgung von Haushalten, die deutlich unter den neubestimmten Einkommensgrenzen liegen — Minderverdienende —, muß weiterhin durch die bevorzugte Vergabe der vor 1966 geförderten Wohnungen an diesen Personenkreis möglich bleiben. Es muß jedoch überprüft werden, wie groß dieser Wohnungsbestand derzeit noch ist und wie er sich in den nächsten Jahren entwickeln wird. Gegebenenfalls müssen jüngere Baujahrgänge in die bevorzugte Vergabe an Minderverdienende einbezogen werden. Im übrigen bleibt es in Gebieten mit erhöhtem Wohnungsbedarf beim Benennungsrecht durch die Gemeinden und bei den bisher vorhandenen Belegungsrechten.Die bisherigen niedrigen Einkommensgrenzen führen auch dazu, daß die direkte Einkommensförderung im sozialen Wohnungsbau immer schwieriger wird. Die vielen Normalverdiener, die Opfer der Einkommensgrenzen werden, können den Traum von den eigenen vier Wänden schnell vergessen. Wer über den Einkommensgrenzen liegt, ist auf die Förderung nach § 10e des Einkommensteuergesetzes angewiesen. Dieser von uns so oft kritisierte Förderweg führt dazu, daß das untere Fünftel der Einkommensskala ganze 5 % der Förderung bekommt und daß das obere Fünftel der Einkommensskala dagegen 45 % des staatlichen Fördervolumens erhält.
Diese Förderpraxis ist nicht nur sozial ungerecht,sondern sie verfehlt auch das erklärte Ziel, die Eigen-
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Norbert Formanskitumsbildung in weiten Kreisen der Bevölkerung zu fördern.
Die Stagnation im Werkswohnungsbau ist ebenfalls auf die Nichtanpassung der Einkommensgrenzen zurückzuführen. Wer will es einem Unternehmen verübeln, daß es eben nicht in den Werkswohnungsbau investiert, weil kaum noch ein normal verdienender Arbeiter den Wohnberechtigungsschein erhält? Das heißt: Der größte Teil der eigenen Belegschaft würde die für sie gebauten Wohnungen nicht belegen können. Als Betriebsratsvorsitzender kann ich Ihnen aus eigener Anschauung versichern, daß gerade dieses Problem in vielen Betrieben für zusätzlichen sozialen Sprengstoff sorgt.In Nordrhein-Westfalen ist speziell dieses Problem aktuell erkannt worden, und diesem Problem ist gegengesteuert worden. In einer Schwerpunktaktion wurde 1992 eine besondere Initiative gestartet und wurden zusätzlich 5 000 neue Werkswohnungen gebaut. Die Unternehmen zogen sofort mit, weil nämlich die 5 000 Wohnungen für Mieter gefördert wurden, deren Einkommen bis zu 40 % über den für den sozialen Wohnungsbau gültigen Grenzen liegt. Um weitere Aktionen im ganzen zu ermöglichen, sind wir gefordert, endlich die überholten Richtzahlen anzupassen.
Herr Kollege Formanski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Ja, bitte.
Herr Kollege Formanski, ist es richtig, daß die Sozialdemokraten in Erklärungen ansonsten, wenn es um die Frage der Einkommensbesteuerung geht, die Auffassung vertreten, daß man etwa ab einem Monatseinkommen von 5 000 DM zu dem Kreis der Besserverdienenden zählt und meinen Sie, daß die Einkommensgrenze im sozialen Wohnungsbau, die bei einem Vierpersonenhaushalt bei 4 590 DM und bei einem Fünfpersonenhaushalt bei 5 333 DM liegt, so gestaltet werden sollte, daß die von Ihnen als Besserverdienende Bezeichneten in Zukunft Anspruch auf eine Sozialwohnung haben?
Nach meinem Kenntnisstand haben wir im Hinblick auf die Besserverdienenden, als es z. B. um die Fortführung der Ergänzungsabgabe ging, andere Zahlen genannt, und zwar für den Ledigen 5 000 DM pro Monat, sprich 60 000 DM im Jahr, und für ein Ehepaar 10 000 DM im Monat bzw. 120 000 DM im Jahr. Dieser Personenkreis ist in diesem Fall nicht in die Berechnung mit einbezogen.
Aus einer Untersuchung der Gesellschaft für erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung geht hervor, daß mittlerweile fast jedem zweiten Bundesbürger die Höhe der Wohnungsmiete und auch die Möglichkeit,die Wohnung zu verlieren, große Sorgen bereiten. Die Bundesbauministerin hat Recht mit ihren Aussagen, daß die Wohnungspolitik entscheidenden Einfluß auf den Ausgang der nächsten Bundestagswahl haben wird und daß durch die Anpassung der Einkommensgrenzen keine einzige Sozialwohnung mehr zur Verfügung steht. Das ist zweifelsfrei richtig. Doch nicht die längst überfällige Anpassung der Einkommensgrenzen ist das Hauptproblem, sondern das Hauptproblem ist, daß immer noch viel zu wenige Sozialwohnungen gebaut werden.
Deshalb muß sich die Koalition die Frage stellen lassen, warum sie die Anträge der SPD-Bundestagsfraktion zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus immer wieder abgelehnt hat. Die Bauministerin und die Koalition müssen sich auch fragen lassen, welchen Stellenwert sie dem sozialen Wohnungsbau noch zurechnen.Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zur Zukunft des sozialen Wohnungsbaus jedenfalls kommt einer wohnungspolitischen Bankrotterklärung gleich.
Zu zentralen Fragen zum derzeitigen und zukünftigen Bedarf an Sozialwohnungen, zum Verlust der Sozialbindung von Wohnungen bis zum Jahr 2000 und zur Entwicklung des Werkswohnungsbaus heißt die lapidare Antwort jeweils: Wir haben keine Zahlen.
Auch die Frage, wie viele Haushalte einen Wohnberechtigungsschein besitzen, konnte oder sollte nicht beantwortet werden. Andere Antworten zum Bestand an Sozialwohnungen, zu Fertigstellungen in den Jahren 1991 und 1992, wurden geschönt.Jedes mittlere Unternehmen plant seine zukünftige Arbeit auf der Grundlage ordentlichen Datenmaterials. Sind exakte Schätzungen schwierig, werden auf Basis der schlechtesten und der besten Prognose Analysen vorgenommen, werden Strategien und Handlungsalternativen erarbeitet und Zwischenbilanzen erstellt. Die Bundesbauministerin und ihr Ministerium dagegen wursteln vor sich hin, bevorzugen ungenaue Allgemeinplätze und versuchen, Verantwortung für eigene Fehler auf die Länder und Gemeinden abzuschieben.
Wie anders ist es sonst zu erklären, Herr Kansy, daß der einstimmige Beschluß des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1990, mit dem die Bauministerin aufgefordert wurde, einen Bericht über die Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau vorzulegen, immer noch nicht umgesetzt wurde?Die Entwicklung in diesem Bereich jedenfalls ist katastrophal. 1991 wurden nur etwa 65 000 Sozialwohnungen fertiggestellt. Andererseits fallen jedes Jahr an die 150 000 Sozialwohnungen aus der Bindung. Zur Zeit verfügen wir — bei einem Gesamtwohnungsbestand in den alten Bundesländern von rund
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Norbert Formanski27 Millionen — nur noch über 2,8 Millionen Sozialwohnungen. Nur noch 10 % aller Wohnungen sind Sozialwohnungen.Auf Grund dieser Entwicklung sollte man meinen, daß die Bundesbauministerin alles daransetzen würde, dafür zu sorgen, daß noch mehr Sozialwohnungen gebaut werden können. Aber leider ist genau das Gegenteil der Fall. Trotz der dramatischen Lage auf dem Wohnungsmarkt in West- und Ostdeutschland ist weder die Bauministerin noch die Bundesregierung bereit, den längst überfälligen Kurswechsel in der Wohnungspolitik einzuleiten.
Das zeigt sich deutlich an dem Einzelplan 25 des Bundeshaushaltes 1993 und an der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes 1992 bis 1996. Obwohl immer mehr Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen und immer weniger Sozialwohnungen fertiggestellt werden, reduziert der Bund seine Finanzhilfen für den sozialen Wohnungsbau in den alten Bundesländern im Jahre 1994 um 200 Millionen DM auf nur noch 2,5 Milliarden DM und ab dem Jahre 1995 sogar um weitere 700 Millionen DM auf nur noch 1,8 Milliarden DM.
Trotz des steigenden Bedarfs senkt die Bundesregierung also ihre Bundeshilfen um 30 %. Nimmt man die auf hohem Niveau weiter steigenden Baupreise hinzu, ist die Kürzung real noch einschneidender.Ist es nicht ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung, daß im Jahre 1992 das Land Nordrhein-Westfalen allein mehr Eigenmittel für den sozialen Wohnungsbau aufgebracht hat als die Bundesregierung für alle alten Bundesländer zusammen?
Rund 3,9 Milliarden DM investierte Nordrhein-Westfalen 1992 in den Wohnungsbau.Solche positiven Beispiele sollte sich Frau Schwaetzer zu eigen machen. Aber ihre Politik ist nicht nur jenseits der realen Erfordernisse des Wohnungsmarktes, sondern ist auch ein falsches Signal für potentielle Investoren im sozialen Wohnungsbau. Weder der Finanzplan noch der Bundeshaushalt 1993 geben den Investoren die von der Bundesregierung selbst immer wieder eingeforderte Klarheit und Stetigkeit der Investitionsbedingungen im Wohnungsbau.Der Deutsche Mieterbund schätzt den Fehlbestand an Wohnungen auf mindestens 2,5 Millionen und den Bedarf an Neubauten auf jährlich 600 000 Wohnungen, davon 300 000 Sozialwohnungen. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, sind gewaltige Anstrengungen notwendig.
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion gewährleistet, daß der soziale Verdrängungswettbewerb auf dem Wohnungsmarkt nicht weiter ausufert, und eröffnet die Möglichkeit, z. B. im Werkswohnungsbau, zugemeinsamen Anstrengungen zur Behebung der Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. Der Wohnungsbau muß wieder Vorrang haben.Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Jürgen Sikora.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklung des Wohnungsmarktes der letzten zehn Jahre hat gezeigt, daß sich eine zielgerichtete und treffsichere Wohnungsbaupolitik ohne gesicherte und aktuelle Datenunterlagen immer schwerer gestalten läßt.Die in dem Zeitraum von Mitte bis Ende der 80er Jahre aufgetretene außergewöhnliche gegensätzliche Entwicklung von Wohnungsleerständen hin zu Wohnungsfehlbeständen infolge eines unerwarteten und nicht vorhersehbaren Anstieges von Wohnungssuchenden haben die gesamte Wohnungswirtschaft vor eine völlig veränderte Situation gestellt. Aber auch das Wohnverhalten in der Bevölkerung hat zu — wohlstandsbedingten — Nachfragesteigerungen, was Ausstattung und Wohnfläche angeht, geführt.Hinzu kommen neue Entwicklungsprozesse aus der stark zunehmenden Zahl von Einpersonenhaushalten. Von den derzeitig 35 Millionen privaten Haushalten sind bereits 11,9 Millionen sogenannte Single-haushalte, die am Wohnungsmarkt den Anspruch auf eigene Wohnungen geltend machen.Von gravierender Bedeutung für die Erstellung des Wohnungsstatistikgesetzes ist die weitere Tatsache, daß nach der Volks- und Wohnungsstättenzählung von 1987 etwa 4 Millionen Menschen zusätzlich in die alten Bundesländer gekommen sind.Ein Weiteres kommt hinzu: Durch die Wiedervereinigung unseres Landes ist nicht nur eine völlig neue Lage in der Wohnungsversorgung eingetreten, sondern das hat auch noch völlig unterschiedliche Strukturen zwischen Ost und West aufgeworfen, die die bislang geltenden Erfahrungswerte und Maßstäbe des Wohnungsmarktes grundlegend verändert haben.Vor diesem Hintergrund ist es für die Bewältigung und aktuelle Fortentwicklung der Wohnungsbaupolitik, aber auch für die gesamten wohnungswirtschaftlichen Aufgaben einschließlich künftiger Entwicklungsprozesse in den Städten und Gemeinden von großer Wichtigkeit, auf gesicherten Datengrundlagen aufbauen zu können. Deswegen werden wir dem vorliegenden Wohnungsstatistikgesetz heute auch unsere Zustimmung geben.Meine Damen und Herren, dieses Wohnungsstatistikgesetz wird darüber hinaus aber auch für die Fortentwicklung des sozialen Wohnungsbaus von nicht untergeordneter Bedeutung sein. Das trifft insbesondere auf die immer wieder neu aufgeworfene
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Jürgen SikoraFrage zu, wie und wie weit der soziale Wohnungsbau zur Bedarfsdeckung wirken soll und, um sozial gerecht zu sein, welcher Berechtigtenkreis am Wohnungsmarkt eigentlich erreicht werden soll.
Herr Sikora, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Wir können die Debatte gerne im Ausschuß führen. Ich habe nur eine begrenzte Zeit. Herr Kollege, ich bitte um Verständnis, wenn ich meine Rede fortführen möchte.Dabei muß es nach unserer Auffassung vorrangig darum gehen, denen zu helfen, die auch wirklich die Hilfe des Staates benötigen. Im Lichte der in den letzten beiden Jahren massiv entstandenen Diskussion um die Fehlbelegung von Sozialwohnungen ist diese Problematik deutlich geworden. Nur gilt auch hier, daß eine wirkliche und gerechte Lösung langfristig nur dadurch gefunden werden kann, daß wir den Weg fortsetzen, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, den Bau von neuen Wohnungen in allen Teilmärkten — vom sozialen Wohnungsbau, der Förderung von Wohneigentum bis zum freifinanzierten Wohnungsbau — zügig voranzubringen.Meine Damen und Herren, mit dem Wohnungsbauprogramm der letzten Jahre und der seit 1982 aufgestockten Mittel für den sozialen Wohnungsbau leistet der Bund einen zusätzlichen und direkten Beitrag zur Angebotserweiterung zugunsten einkommensschwächerer Wohnungssuchender. Aber auch über die 1990 in Kraft getretene Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes wurde bei Unterbelegung größerer Sozialmietwohnungen der Wohnungstausch mit einer kleineren Sozialwohnung ohne Einhaltung der Einkommensgrenzen ermöglicht.Gleichzeitig wurden die Bindungsfristen bei vorzeitiger freiwilliger Rückzahlung der öffentlichen Mittel auf zehn Jahre verlängert, um den Bestand verfügbarer Sozialwohnungen bis zum planmäßigen Ende der Sozialbindungszeit zu erhalten.
Um den Kreis der Berechtigten im zweiten Förderweg zu erweitern, wurden die hierfür geltenden Einkommensgrenzen bereits von 140 % auf 160 % der Grenzen des ersten Förderweges angehoben. Das haben Sie vorhin völlig vernachlässigt, Herr Kollege Formanski. Das bedeutet bei Eigentumsmaßnahmen für einen Vierpersonenhaushalt eine Anhebung der Einkommensgrenze auf rund 87 000 DM steuerpflichtiges Jahreseinkommen.Mit dem Modell der vereinbarten Förderung nach dem sogenannten dritten Förderweg ist erstmalig ein flexibles und marktgerechtes Förderinstrument geschaffen worden, das es in der Folge auch erlaubt, Mietentwicklungen, Art der Bindung, Bindungsdauer und Förderintensität vertraglich zu gestalten.Für die Länder ist dieser dritte Förderweg von besonderer Bedeutung, da er für unterschiedliche Zielgruppen genutzt und als Ergänzung des ersten Förderweges eingesetzt werden kann, also eine Verbesserung, die Sie, meine Damen und Herren von der SPD, bei der Gesamtbetrachtung auch vernachlässigt haben. Damit haben die Länder ein Instrument in die Hand bekommen — Sie haben es vorhin bezüglich der Länder anders dargestellt —, das sie wohnungspolitisch zur Unterbringung von Haushalten einsetzen können, deren Einkommen über der Grenze des § 25 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes liegt. Das ist die Rechtslage.Die Regelungen der Länder zeigen, daß beispielsweise höchstzulässige Überschreitungen der Einkommensgrenzen — zwischen 25 und 40 %, aber auch bis zu 100 % im Falle Berlins — ausgeschöpft werden. Da haben Sie die Abdeckung der Einkommensgrenzen und die Erweiterungsmöglichkeiten. Das insbesondere auch zu dem Hinweis, den Sie hinsichtlich der Arbeitnehmerhaushalte gemacht haben; auch der Beamte kann hier durchgefördert werden.
— So ist die Situation. Das sollten Sie einmal nachlesen, wenn Sie es noch nicht getan haben.Insoweit, meine Damen und Herren, ist bei der Schaffung neuen Wohnraums die Problematik der bestehenden Einkommensgrenzen entschärft und durch praktikablere Modalitäten des dritten Förderweges ergänzt worden.Ein Blick auf die derzeitig geltenden Einkommensgrenzen des ersten Förderweges zeigt aber auch, daß die Einkommensgrenzen für Drei- und Mehrpersonenhaushalte und insbesondere für junge Ehepaare durch die 1985 eingeführten Zuschlagsbeträge durchaus ausreichend sind. Für Erwerbstätige und Ein- und Zweipersonenhaushalte ist allerdings der Bezug von Sozialwohnungen — das räumen wir ein — in der Regel nicht möglich bzw. — und darauf will ich hinweisen — sind derartige Haushalte nur dann berechtigt, wenn es sich um nicht erwerbstätige Personen handelt. Im Fall der erwerbstätigen Einpersonenhaushalte, erscheint allerdings unter Berücksichtigung der besonderen Problemlage eine Anhebung der Einkommensgrenzen erwägenswert, weil dadurch Erwerbspersonen niedriger Einkommen gerade in Ballungsgebieten eine Chance zum Bezug einer Sozialwohnung erhalten würden.Unsere Bedenken richten sich allerdings gegen eine allgemeine Erhöhung, was in der Folge unweigerlich dazu führen würde, daß die Haushalte mit niedrigen Einkommen durch die sozial Berechtigten mit höheren Einkommen verdrängt würden und damit das eigentliche soziale Anliegen wieder verlorenginge. Entscheidungen hierüber müssen daher wohlüberlegt sein und bedürfen einer sehr genauen Prüfung, der wir uns nicht entziehen wollen. Dabei wird insbesondere auch zu prüfen sein, inwieweit die vom Bundesrat und der AG Bau angeführten Belange, die Sie, meine Damen und Herren von seiten der SPD, ja zum Anlaß Ihres Antrages heute gemacht haben, den gesamtwohnungswirtschaftlichen Belangen Rechnung tragen.
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Jürgen SikoraIch danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Walter Hitschler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag auf Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau klingt zunächst sehr plausibel und verdiente gar Unterstützung, wenn das Fördersystem so aufrechterhalten und weiter praktiziert werden könnte, wie es sich in den Nachkriegsjahren durchaus bewährt hat.Die Nachkriegszeit aber ist vorbei; der soziale Wohnungsbau in seiner herkömmlichen Form ist tot.
Die Wohnungsversorgungsprobleme haben sich nämlich völlig verändert, so daß sich auch die Anforderungen an eine sinnvolle und wirksame Wohnungsbauförderung gewandelt haben. Die Ansprüche an Größe, Ausstattung und Gestaltung einer Wohnung, an Sicherheitsvorkehrungen, Wünsche an das Wohnumfeld, aber auch die Baulandpreise, die Zinsen- und Baukostenentwicklung haben sich in einer Weise verändert, daß der klassische erste Förderweg im sozialen Wohnungsbau heute nicht mehr funktioniert,
weil die Sozialwohnungen so teuer geworden sind, daß sie nicht mehr in ausreichender Zahl gebaut werden können.Der Berechtigtenkreis hat sich ebenfalls wesentlich gewandelt. Die Landesbewilligungsmieten im sozialen Wohnungsbau und die Kostenmieten klaffen zu weit auseinander, so daß die zu überbrückende Finanzierungslücke durch Subventionen von Bund, Ländern und Gemeinden nicht mehr bezahlt werden kann.Wenn wir in dieser Situation Ihrem Antrag folgen würden, würden wir zwar die Zahl derer, die einen Anspruch auf eine Sozialwohnung erheben könnten, erhöhen, aber keine einzige zusätzliche Wohnung mehr erhalten.
Dies hätte zur Folge, daß gerade die Schwächeren in der Kette der Wohnungssuchenden im Auswahlverfahren bei der Wohnungsvergabe überhaupt keine Chance mehr hätten, zum Zuge zu kommen.
Zugegeben; die einseitige Struktur in der Zusammensetzung der Sozialwohnungsberechtigten bereitet bei der Wohnungsbelegung in der Tat ernste Probleme. Aber ich habe auch beim Besuch eines besserverdienenden Bekannten in Berlin feststellen dürfen, daß dessen beide Söhne inzwischen aus der elterlichen Wohnung ausgezogen sind. Sie studieren beide in Berlin, und da sie beide unter die Einkommensgrenzen des sozialen Wohnungsbaus fallen, haben beide in Berlin inzwischen jeder für sich eine eigene Sozialwohnung bezogen
und natürlich auf diesem Wege auch Wohnungen in Anspruch genommen, die eigentlich für einen anderen Berechtigtenkreis gedacht waren.
Die Lösung dieses ganzen Problemzusammenhangs ist aber nicht von einer Erhöhung der Einkommensgrenzen zu erwarten, da hiermit nur punktuell ein Aspekt aufgegriffen wird, in der Hauptsache aber keine Erleichterung für die Wohnungsmärkte geschaffen würde. Nein, was wir brauchen, ist eine völlige Neuorientierung der Wohnungsbauförderung. Nach unserer Auffassung müssen wir eine Entwicklung der Abkehr von der Objektförderung zu einer stärkeren Subjektförderung einleiten. Einkommensgrenzen im bisher üblichen Sinne werden dann überflüssig und durch die Zahlung eines erheblich verbesserten Wohngelds ersetzt. Schritte auf dem Weg dahin sind der dritte Förderweg mit kürzeren Belegungsbindungen, die strukturelle Anpassung des Wohngelds, die Schaffung von Belegrechten und die Einführung einer einkommensorientierten Miete als Übergangslösung. Leider versuchen einige Bundesländer, auf deren Mitwirkung wir bei vertraglichen und gesetzlichen Regelungen angewiesen sind, diesen Fortschritt zu behindern und zu blockieren; sie nehmen dabei eine schlechtere Wohnraumversorgung unserer Bevölkerung in Kauf.Dennoch ist es der Wohnungspolitik der Bundesregierung gelungen, den Wohnungsneubau gewaltig voranzubringen
und das Vertrauen derer zu stützen, die bereit sind, ihr Kapital in Investitionen für den Wohnungsbau einzubringen. Trotz aller Versuche der Opposition, die Investoren zu diskreditieren, sie als Profitgeier und Spekulanten an den Pranger zu stellen, und trotz ständiger Versuche, ihre Rechtspositionen aus ihrem Eigentum einzuschränken, befindet sich der Wohnungsneubau gottlob auf gesunden Pfaden.
Es ist ein großes Glück und ein Verdienst der Koalitionsregierung, daß die Einkommen der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren so außerordentlich gestiegen sind, und zwar auch real, daß heute wesentlich weniger Mitbürger auf eine Sozialwohnung angewiesen sind. Viele Sozialwohnungen sind darüber hinaus fehlbelegt, ein Konstruktionsfehler, der aber eigentlich nicht durch die Einführung einer Fehlbelegungsabgabe korrigiert werden sollte, sondern durch eine Systemänderung. Mit den bestehenden Einkommensgrenzen, die immerhin bei einem Dreipersonenhaushalt bei einem Monatseinkommen von 3 850 DM, bei einem Vierpersonenhaushalt bei einem Monatseinkommen von 4 590 DM und bei einem Fünfpersonenhaushalt bei einem Monatseinkommen von 5 330 DM liegen — alle die, die darunter liegen, haben
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11506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Walter Hitschlereinen Anspruch auf eine Sozialwohnung —, müssen wir, so meinen wir, noch eine Zeitlang auskommen.In der Wohneigentumsförderung, dem sogenannten zweiten Förderweg, durften diese Einkommensgrenzen bis zum 25. Februar 1992 um 40 % überschritten werden; Kollege Sikora hat es bereits erwähnt. Im letzten Jahr haben wir diese Grenze auf 60 % angehoben, so daß nunmehr wesentlich mehr Bauherren in den Genuß von öffentlichen Aufwendungszuschüssen oder Aufwendungsdarlehen kommen können. Dies trägt zur Wohneigentumsbildung breiter Schichten unserer Bevölkerung bei, und davon wird wiederum auch rege Gebrauch gemacht.In den neuen Bundesländern sollten wir daher das überholte System beim Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Wohnungswirtschaft erst gar nicht einführen. Wir hoffen darauf, daß uns die von uns eingesetzte Expertenkommission zur Überprüfung des gesamten wohnungswirtschaftlichen Instrumentariums bald entsprechende Empfehlungen vorlegen wird.Die von der PDS eingebrachten Anträge zu unterstützen hieße, den Aufschwung Ost bewußt abzuwürgen. Helfen Sie deshalb durch Ihr Abstimmungsverhalten mit, sie in die Toilette des Vergessens zu spülen.
Ich erteile dem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute darf ich siebeneinhalb Minuten lang zu vier Anträgen der PDS/Linke Liste reden. Ich hätte nicht für möglich gehalten, Herr Dr. Hitschler, daß Sie eine so unqualifizierte Berner-kung dazu machen können. Ich kenne Sie als wesentlich klügeren Menschen.
Im Verlauf des Jahres 1992 haben wir insgesamt fünf Anträge zu dringenden Fragen der Mietentwicklung und des Mietrechts eingebracht. Dabei handelt es sich keineswegs um gravierende Umwälzungen des bestehenden Rechts, sondern lediglich um Vorschläge zur Schadensbegrenzung, d. h. zur Vermeidung unbilliger sozialer Härten. Dies wäre eigentlich die Aufgabe der Bundesregierung gewesen. Da sie jedoch, wie allen bekannt, mit anderen Aufgaben beschäftigt ist, hat sie meines Erachtens ihre Schulaufgaben wieder einmal nicht gemacht. Aber was will man auch von einer Bauministerin erwarten, die ihre Sympathie für Immobilienhaie so unverblümt zum Ausdrück bringt und eine vorgeschobene Eigenbedarfskündigung auf Bundestagskopfbogen verschickt? Das nicht nur nebenbei.
Bezeichnend ist es, wenn man nach der Lektüre der Beschlußempfehlung der Ausschüsse des Bundestages feststellen muß, daß von der übergroßen Mehrheit dieses Hauses — leider einschließlich der SPD — unsere Anträge abgewiesen werden, ohne daß sich auch nur ein einziges stichhaltiges Argument finden läßt. Nehmen wir z. B. unseren Antrag zur Nachbesserung des Wohngeldsondergesetzes. Dieser Antrag folgt ausdrücklich der Intention der Regierung, die behauptet hat, daß die erneut verordnete Mieterhöhung unter Berücksichtigung des Wohngelds den Einkommenszuwachs nicht übersteigen wird.
Herr Kollege Dr. Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Selbstverständlich, ich kenne ja seine Klugheit.
Herr Kollege Seifert, es ist normalerweise nicht meine Art, so etwas zu fragen, und ich hätte es nicht getan, wenn Sie diese unverschämten Bemerkungen eben nicht gemacht hätten. Aber ich muß Sie jetzt doch fragen, in wie vielen Fällen Sie in Ihrer Stasi-Tätigkeit dafür gesorgt haben, daß Mieter aus ihren Wohnungen in Gefängniszellen gewechselt haben.
Null!Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß unser Antrag abgelehnt werden soll, weil die Regierung die Nagelprobe auf die Stichhaltigkeit ihrer Behauptungen fürchtet. Das Tragische ist nur, daß vor allem ältere Menschen, die von Rentenerhöhungen ausgeschlossen worden sind, ebenso wie Dauerarbeitslose und Alleinerziehende in Verzweiflung gestürzt werden. Den Antrag abzulehnen und gleichzeitig für sich, also für uns, eine Diätenerhöhung zu beschließen, ist schon ziemlich pervers. Ich kenne in meinem Wahlkreis aus dem eben genannten Personenkreis jedenfalls niemanden mit einer Einkommenssteigerung, wie wir sie, d. h. Sie, als Bundestagsabgeordnete für uns als angemessen und notwendig erachten. So fördert man sozialen Frust, so produziert man Mietschuldnerinnen und Mietschuldner, Obdachlose und übrigens auch Politikverdrossenheit, bei der wir alle über einen Kamm geschoren werden, und das finde ich überhaupt nicht mehr in Ordnung.Ähnlich verhält es sich mit unserem Antrag zur Verschiebung der zweiten Mietsteigerung zum 1. Januar dieses Jahres. Abgesehen davon, daß die Bundesregierung bis heute nicht in der Lage ist, eine exakte und vor allem nach Bevölkerungsgruppen differenzierte Analyse der Einkommensentwicklung vorzulegen — Herr Kollege Formanski wies bereits darauf hin —, stellt diese famose Verordnung der Bundesregierung das bisher in der BRD geltende Mietrecht in wichtigen Teilen auf den Kopf. Statt von einem ordnungsgemäßen Zustand der Mietwohnungen auszugehen, was wohl selbstverständlich wäre, und bei Mängeln — ausschließlich bei Mängeln! — Mietabschläge vorzunehmen, so wie es im BGB geregelt ist, werden für völlig normale Eigenschaften eines Miethauses, z. B. daß ein Dach darauf ist, Beschaffenheitszuschläge eingeführt. Mit der angeblich freiwilligen Möglichkeit, Instandhaltungskosten auf die Miete umzulegen, soll offensichtlich auf dem Versuchsfeld Ostdeutschland das gegenwärtig geltende Recht auch im Westen zu Lasten der Mieterinnen und Mieter ausgehebelt werden. Blanker Hohn ist es,
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Dr. Ilja Seifertwenn vom Rechtsausschuß die Ablehnung dieses am 23. September gestellten Antrags und des am 22. Januar 1992 eingebrachten Antrags zur Verlängerung der Kündigungsschutzregelung am 13. Januar dieses Jahres u. a. damit begründet wird, daß sich diese Anträge durch Zeitablauf erledigt hätten.Besonderen Stellenwert hat für uns der Antrag zur Problematik der sogenannten Altschulden der Wohnungswirtschaft, der angesichts der hier tickenden Zeitbombe von grundsätzlicher Bedeutung für die Gewährleistung des Menschenrechts auf eine angemessene und bezahlbare Wohnung ist. Die gegenwärtig geltende Rechtskonstruktion ist ein gravierender Geburtsfehler des Einigungsvertrages, mit dem wir DDR-Bürger, die durch Lohn- und Rentenverzicht unsere Wohnung schon einmal finanziert haben, auf heimtückische Weise erneut über den Tisch gezogen werden sollen. Über das Rechtsgutachten von Professor Rupert Scholz, der sicherlich nicht zu unseren besten Freunden zählt,
zu dieser Thematik wurde das Gesetz des Schweigens verhängt. Und bemerkenswert ist es schon, wenn Frau Dr. Schwaetzer, die zaghaft zu erkennen gab, daß vielleicht doch Regelungsbedarf besteht, dafür von Herrn Staatssekretär Carstens in sehr unfeiner Art gerügt wurde.Völlig unverständlich ist mit allerdings auch die Haltung der SPD, die zwar — siehe Drucksache 12/3982, Seite 5 — verbal unserem Antrag in wichtigen Teilen zustimmte, aber dennoch seine Annahme ablehnt, ohne selbst konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Verrät sie damit nicht Ideale, für die sie lange Zeit gekämpft hat und die z. B. im 2. Wohnungsbaugesetz ihren Niederschlag gefunden haben?Ich kann in diesem Zusammenhang nicht umhin, auf den heute ebenfalls zur Debatte stehenden SPDAntrag einzugehen. Beim ersten Hinsehen scheint dieser Vorschlag durchaus plausibel zu sein. Aber gibt es nicht bereits jetzt bedeutend mehr Haushalte mit Wohnberechtigungsschein als freie Sozialwohnungen, und verringert sich die Anzahl der Sozialwohnungen nicht ohnehin weiter? Es ist eine Binsenweisheit, daß ohne eine energische Förderung des sozialen Wohnungsbaus — und das wäre etwas anderes als die gestrige Erfolgsverkündigung von Frau Schwaetzer — das Problem ungelöst bleibt. Ansätze dafür hat die SPD gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen bei der Behandlung des Haushaltsplans 1993 leider verhindert.Schizophren ist es, wenn einerseits die SPD ihren Antrag damit begründet, daß zunehmend mehr in Lohn und Brot stehende Arbeitnehmer eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt nicht mehr bezahlen können, andererseits erklärtes Ziel der Koalitionsfraktionen und der SPD die Überführung des gesamten Wohnungsbestandes in Ostdeutschland in den freien Markt ab 1995 ist. Diese Last den Menschen im Osten aufzuhalsen, ist für uns wirklich unannehmbar; denn im Osten wurden Extraprofite aus der Einigung weiß Gott nicht erzielt.Das, was die Bundesregierung alternativ zu unseren Vorschlägen zur Regelung der Problematik der sogenannten Altschulden bisher angedacht hat, ist meiner Meinung nach ganz gewollt unzureichend und diffus. Die sogenannten Altschulden sind der Knebel, um die Wohnungsbaugesellschaften zu zwingen, den möglichst besten Teil ihres Bestandes mit hohem Erlös zu verkaufen. Tun sie das nicht, dann steht angesichts der Haushaltslage in den Kommunen der Konkurs bevor, und dann wird erst recht privatisiert. Angesichts des Zwangs, einen guten Preis zu erzielen, ist klar, daß es nicht darum geht, daß die jetzigen Mieterinnen und Mieter ihre Wohnungen kaufen, sondern angesprochen sind insbesondere westdeutsche Immobilienfirmen. Hier schließt sich der Kreis zu dem von Frau Schwaetzer betriebenen Werberummel.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits ein gutes Stück überschritten. Bitte noch einen Schlußsatz!
Herr Präsident, der letzte Satz: Als Fazit bleibt mir leider nur zu konstatieren, daß — abgesehen von der Diätenerhöhung — die Mehrheit dieses Hohen Hauses und offenbar auch die hochbezahlte Beamtenschaft leider tatsächlich unbestechlich ist. Sie nehmen nämlich nicht einmal Vernunft an.
— Ihre Frage auch, Herr Hitschler.
Das Wort hat die Abgeordnete Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird den heute zur Diskussion stehenden Antrag der SPD-Fraktion auf eine Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau nicht unterstützen. Die Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. tun dies zwar auch nicht, allerdings aus einer völlig anderen Motivation als wir. Sie lehnen den Antrag ab, weil sie den sozialen Mietwohnungsbau an sich als wohnungspolitisches Instrument ablehnen, da er in ihren Augen ohnehin nur ein vorübergehendes oder — wie Herr Hitschler hier ausführte — schon vorübergegangenes Übel ist, zu dessen Desavouierung und Demontage sie allerhand zu unternehmen bereit sind.Wir hingegen lehnen den Antrag der SPD zwar nicht grundsätzlich, aber in der jetzigen Situation ab, und zwar deswegen, weil eine Erhöhung der Einkommensgrenzen zwangsläufig dazu führen wird, daß die Zahl der Bewerbungen um eine Sozialwohnung steigt, ohne daß gleichzeitig die Zahl der Wohnungen erhöht worden wäre.
Die Zahl der sozialen Mietwohnungen nimmt kontinuierlich und rapide ab. Seit 1980 sind 1,2 Millionen Wohnungen aus der Bindung gefallen. Es gibt heute nur noch 2,8 Millionen soziale Mietwohnungen, und Fachleute prognostizieren, daß es bis zum Jahre 1995
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Christina Schenknur noch 1 Million sein werden. Insofern halte ich die Forderung, die Zahl der potentiellen Bewerberinnen und Bewerber um eine soziale Mietwohnung zu erhöhen, während gleichzeitig die Zahl der sozialen Mietwohnungen weiter abnimmt, für absolut verantwortungslos.
Meine Damen und Herren, 1980 gab es in der Bundesrepublik ca. 12 Millionen Haushalte, die Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein hatten, und ca. 4 Millionen soziale Mietwohnungen. Heute gibt es noch ca. 2,8 Millionen soziale Mietwohnungen und ca. 9 Millionen sozialwohnberechtigte Haushalte. An der bedauerlichen Tatsache, daß drei Sozialwohnberechtigte auf eine Sozialwohnung kommen, hat sich also nichts geändert. Es gibt daher keinen Grund, der es rechtfertigen würde, die Einkommensgrenzen und damit auch die Zahl der potentiellen Bewerberinnen und Bewerber heraufzusetzen. Dies wäre erst dann richtig, wenn es deutlich mehr soziale Mietwohnungen gäbe, als dies heute der Fall ist.Der Konkurrenzkampf auf dem sozialen Mietwohnungsmarkt unterscheidet sich nicht wesentlich von dem auf dem sogenannten freien Wohnungsmarkt. Auch im sozialen Mietwohnungsbau suchen sich die Vermieter die wirtschaftlich stärkeren und gesellschaftlich besser situierten Mieterinnen und Mieter aus. Die besseren Chancen haben diejenigen, deren Einkommen ganz oben, dicht an der Einkommensgrenze, liegt, die verheiratet und aus dem Blickwinkel der Vermieter „pflegeleicht" sind. Alleinerziehende, Kinderreiche und sogenannte Problemfälle bleiben auf der Strecke. Wenn das nicht so wäre, dann hätte das Parlament ja im Zusammenhang mit dem sogenannten Schwangerenhilfegesetz nicht eine Sonderregelung verabschieden müssen, die die bevorzugte Vergabe von Sozialwohnungen an schwangere Frauen regelt.Die Vermieter von Sozialwohnungen verhalten sich mitunter genauso unsozial wie andere Vermieter. Da hat z. B. der Frankfurter Oberbürgermeister Andreas von Schoeler, SPD, erst kürzlich die Beschränkung der Ausländeranteile im sozialen Mietwohnungsbau ausdrücklich verteidigt. Das halte ich für inhuman und auch rassistisch.
Ich meine, wer Derartiges propagiert, sollte auf die Teilnahme an der nächsten Lichterkette ehrlicherweise lieber verzichten. Aber das nur nebenbei.Der Antrag der SPD auf Erhöhung der Einkommensgrenzen würde im Falle seiner Realisierung zur Folge haben, daß noch mehr gutsituierte Haushalte auf dem Sozialmietwohnungsmarkt gegen schlechtergestellte konkurrieren könnten, was deren Chance, eine Wohnung zu bekommen, noch weiter verringern würde. Das Argument der SPD, daß es notwendig ist, die Einkommensgrenzen zu erhöhen, um die Herausbildung sogenannter Ghettos zu verhindern, ist aus meiner Sicht nicht stichhaltig. Wo wollen Sie denn praktisch die von Ihnen angeführten Problemfamilien unterbringen, wenn nicht im sozialen Mietwohnungsbau?
Wo will der Frankfurter Oberbürgermeister die ausländischen wohnberechtigten Haushalte, die auf Grund seiner Quote jetzt nicht mehr in die sozialen Mietwohnungssiedlungen dürfen, denn wohnen lassen?
Als Alternative zum sozialen Mietwohnungsbau gibt es für die, die sich auf dem freien Markt aus eigener Kraft nicht selbst versorgen können, doch nur das viel schlimmere Ghetto der Obdachlosensiedlungen, der Baracken- oder Containersiedlungen oder die Pensionen am Stadtrand. Eine solche Art von Ghetto bedeutet, keine abgeschlossene eigene Wohnung mehr zu haben, das bedeutet den Verlust der Privatsphäre mit all den schlimmen Folgen, die das insbesondere für Kinder und Jugendliche hat. An die von der SPD angeführte Integration ist in der Obdachlosenunterkunft erst recht nicht zu denken.Noch etwas: Sie sollten mit diskriminierenden Äußerungen über Ghettos vorsichtig sein. Erstens gibt es durchaus Personengruppen, die sehr gern unter ihresgleichen leben, z. B. Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen, und zweitens — hier möchte ich einmal die Stadtökonomin Ruth Becker sinngemäß zitieren —: Wer redet denn eigentlich vom Ghetto der Villenbesitzer? Wer fordert denn da die soziale Durchmischung?Meine Damen und Herren, bei dem hier vorliegenden Antrag der SPD soll eine ganz bestimmte Klientel bedient, besser gesagt, befriedet werden: der Arbeitnehmer und seine Familie, derjenige, der noch Arbeit hat und dessen Lohn in den letzten Jahren so weit gestiegen ist, daß er nicht mehr in den sozialen Wohnungsbau hineinkommt. Ich habe nichts dagegen, daß auch diese Gruppen soziale Mietwohnungen bekommen. Dazu braucht man aber erst einmal mehr Wohnungen; das ist hier schon öfter gesagt worden.In einem Punkt möchte ich der SPD allerdings recht geben: Durch den unklaren Einkommensbegriff im sozialen Mietwohnungsbau — er liegt irgendwo zwischen brutto und netto — entstehen Ungerechtigkeiten zwischen Haushalten, die Steuern, Rentenversicherung und Krankenversicherung zahlen, und solchen, die diese Leistungen nur teilweise erbringen. Deswegen ist der Versuch, einen Einkommensnettobegriff zu konstruieren, wie ihn die SPD in Punkt 2 ihres Antrags vornimmt, im Prinzip richtig.
Allerdings bezweifle ich, ob ein Abzug von 30 % vom Bruttogehalt gerechtfertigt ist. Ich frage mich erstens, ob ein Abzug von 10 % für die Steuern nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge die Besteuerung im unteren Einkommensbereich ohnehin wesentlich verringert werden muß, richtig ist. Ich
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Christina Schenkkann Sie nur bitten, das bei den Beratungen im Ausschuß zu prüfen. Zweitens verstehe ich nicht, warum Sie für die Krankenversicherung 10 % abziehen wollen. So viel kostet diese ja zum Glück noch nicht. Derzeit beträgt der Arbeitnehmeranteil 6 % des Einkommens. Bei dem Abzug von 10 % für die Rentenversicherung liegen Sie, meine ich, in etwa richtig, so daß insgesamt vielleicht ein Einkommensabzug von 15 % angemessen wäre. Gegen eine solche Korrektur der Einkommensgrenzen würden wir uns natürlich nicht sperren.Grundsätzlich sind wir aber weiterhin der Meinung, daß bei der Vergabe von Sozialwohnungen diejenigen den absoluten Vorrang bekommen müssen, die es am schwersten haben, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu bekommen. Die GRÜNEN haben in der letzten Legislaturperiode beantragt, daß bei der Vergabe von sozialen Mietwohnungen diejenigen Priorität haben sollten, deren Einkommen um mindestens 20 % unterhalb der Einkommgensgrenze liegt. Zu dieser Position stehen wir nach wie vor. Deshalb lehnen wir zumindest Punkt 1 des Antrages der SPD ab.
Ich erteile der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dr. Irmgard Schwaetzer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Zahlen am Wohnungsmarkt ist zur Zeit — da gebe ich jedem, der etwas ähnliches sagt, recht — so etwas wie das Stochern im Nebel: Niemand weiß ganz genau, wie groß die Nachfrage ist. Niemand weiß ganz genau, wieviel tatsächlich fehlt. Wer hier konkrete Zahlen behauptet, wird immer den Beweis dafür schuldig bleiben. Ich sage: leider. Denn in der Tat ist es sehr wichtig, daß wir genaue Zahlen haben. Deswegen, Herr Formanski, verabschieden wir heute das Wohnungsstatistikgesetz, das die Wohnungsstichprobe für 1993 mit der notwendigen rechtlichen Grundlage versieht. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie als Konsequenz aus dem, was Sie gesagt hatten, noch darauf hingewiesen hätten. Aber ich habe nicht gehört, daß Sie dies noch erwähnt hätten.
Wir brauchen diese Zahlen, und deswegen werden wir dieses Wohnungsstatistikgesetz heute mit einem positiven Votum versehen.
Es ist auch richtig, daß vor allem preiswerte Wohnungen am Wohnungsmarkt fehlen. Es ist deshalb wichtig, daß der positive Trend im Wohnungsbau in den nächsten Jahren weiter anhält. Ich möchte die Zahlen, die ich hier schon mehrfach vorgetragen habe, noch einmal deutlich unterstreichen. Wir haben in den vergangenen Jahren Zuwachsraten von etwa 20 % von Jahr zu Jahr zu verzeichnen gehabt. Das bedeutet, daß im Dreijahreszeitraum etwa eine Million Wohnungen fertiggestellt worden sind — mit weiterhin positiver Tendenz.
Wir erwarten 1993 Fertigstellungszahlen, die deutlich über 400 000 liegen, weil wir auf eine Genehmigungszahl von etwa 450 000 aus dem Jahr 1992 zurückblicken können.
Davon werden etwa 130 000 Sozialwohnungen sein, mit öffentlichen Mitteln des Bundes, der Lander und der Gemeinden gefördert.
Auch da sind deutliche Anstrengungen zusätzlicher Art der Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren, also in meiner Amtszeit, zu verzeichnen.
Im vergangenen Jahr haben wir die Mittel für den sozialen Wohnungsbau auf insgesamt 3,7 Milliarden DM heraufgefahren. Das läßt sich gut sehen im Vergleich mit dem, was zu Beginn der siebziger Jahre Realität gewesen ist, d. h. zu einer Zeit, die heute von allen mit vielleicht etwas verklärendem Rückblick besonders hochgelobt wird.
Ich stimme allen zu, die einen besonderen Wert auf den Werkswohnungsbau legen. Ich bin ja froh, daß die Opposition den Werkswohnungsbau wiederentdeckt hat. Ich begrüße das zutiefst. Ich bin übrigens fest davon überzeugt, daß das laufen wird, wenn die Länder in der Programmförderung jetzt etwas anders handeln, als sie es in den vergangenen Jahren getan haben. Die steuerlichen Fördermöglichkeiten für den Werkswohnungsbau sind nämlich fabelhaft: Es können im Zehnjahreszeitraum 85 % der Kosten steuermindernd geltend gemacht werden.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Formanski?
Bitte.
Frau Bundesministerin, ist Ihnen die Zielvorgabe des Bundeskanzlers aus dem Oktober 1990 bekannt, der vorgegeben hatte, von 1991 bis 1994 zwei Millionen neue Wohnungen zu bauen, d. h. pro Jahr 500 000? Sie sagten uns gerade, daß in den letzten drei Jahren knapp eine Million neue Wohnungen gebaut worden sind. Haben Sie diese Zielvorgabe heruntergesetzt?
Die Bundesregierung hat im. Jahre 1989 eine zusätzliche Förderanstrengung beschlossen, vor allen Dingen im freifinanzierten Mietwohnungsbau. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „eine Million Wohnungen" gefallen und ist auch von der Opposition immer wieder, wie ich finde, zu Recht aufgegriffen worden. Nun stehe ich hier und sage Ihnen: Jawohl, trotz aller anfänglichen Kritik und trotz aller Bedenken — wir schaffen das, wir machen das. Wir lassen in unseren
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Bundesministerin Dr. Irmgard SchwaetzerAnstrengungen nicht nach, sondern im Gegenteil: Wir gehen in den nächsten Jahren mit den gleichen Anstrengungen heran, trotz finanzieller Engpässe.
Deswegen bin ich mir zwar darüber im klaren, daß wir die nach wie vor existierenden Probleme, die ja nicht bestritten werden, sicherlich nicht auf einen Schlag lösen können. Aber ich bin ganz zuversichtlich, daß wir uns auf dem richtigen Weg befinden und daß wir die Wohnungsprobleme überwinden werden, weil wir mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen.Lassen Sie mich zum Werkswohnungsbau zurückkommen. Ich will das noch einmal unterstreichen: Die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten mit 85 % in zehn Jahren sind wirklich ein sehr, sehr guter Anreiz. Woran es hapert, ist die Direktförderung, und hier ist ganz klar: Wer Werkswohnungen bauen will, muß das von den Ländern genehmigen lassen. Dabei verfahren die Länder meist nach altbekannter bürokratischer Manier und außerdem im ersten Förderweg. Damit sind Sie bei den starren Einkommensgrenzen. Das heißt, damit sind Sie da, wo die Firmen sagen, daß das für sie nicht attraktiv ist.
Das heißt, hier liegt es an den Ländern. Sie müssen jetzt endlich ihre Verantwortung erfüllen.
Die Länder müssen etwas tun! Sie haben Nordrhein-Westfalen gerade so hochgelobt. Ich hoffe, daß die Frau Kollegin Brusis diesen Weg tatsächlich mit großer Entschiedenheit einschlägt. Dann werden Werkswohnungen gebaut. Wo sie heute gebaut werden, werden sie deshalb gebaut, weil der Bund diese fabelhaften steuerlichen Regelungen getroffen hat.
Lassen Sie mich zu den Einkommensgrenzen kommen. Die Einkommensgrenzen, wie sie im ersten Förderweg festgelegt sind, sind genauso wie die starren Bewilligungsmieten ein Kennzeichen des alten Fördersystems des sozialen Wohnungsbaus in den vergangenen 40 Jahren. Die Frage ist, ob das noch in die heutige Zeit paßt. Ich will übrigens der guten Ordnung halber darauf hinweisen, daß der erste Wohnungsbauminister dieser Republik, Herr Wildermuth, ein Liberaler, das Gesetz über den sozialen Wohnungsbau eingeführt hat. Ich finde, das war eine phantastische Tat.
Wir brauchen sozialen Wohnungsbau, auch in der Zukunft. Aber wir brauchen einen sozialen Wohnungsbau, der die Mittel effizient einsetzt und der außerdem zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt.
Dem ersten Förderweg liegt die Vorstellung zugrunde, daß alle etwa gleich gefördert werden müßten, und zwar gleichgültig, ob sie 1 500 oder 2 500 DM im Monat verdienen. Aber das kann doch nicht vernünftig sein, wenn man nach den Maßstäben dersozialen Gerechtigkeit vorgeht. Wer ein höheres Einkommen hat, müßte, wenn er öffentliche Fördermittel bezieht, eigentlich in der Lage sein, einen angemessenen Anteil seines Einkommens für seine Wohnung einzusetzen.
Deswegen brauchen wir mehr Flexibilität im Fördersystem des sozialen Wohnungsbaus.
Das Konzept habe ich mit dem Vorschlag einer Weiterentwicklung des Fördersystems im vergangenen Jahr vorgelegt. Die Lander sind an diesem Weg grundsätzlich interessiert.
Ich will ihn noch einmal ganz kurz beschreiben: Die Förderung soll danach aus einer Grundförderung, die eine Miete am unteren Rand der ortsüblichen Vergleichsmiete erlaubt, bestehen. Wer das zahlen kann und in einer Sozialwohnung wohnt, der sollte diese Miete zahlen. Wer nach seinem Einkommen diese Miete nicht bezahlen kann, bekommt eine Zusatzförderung, die sich an seinem Familieneinkommen orientiert, also eine subjektorientierte Förderung. Dies ist genau die soziale Gerechtigkeit, die wir brauchen. Darüber hinaus wird das Ärgernis der Fehlbelegung von vornherein vermieden, und das, denke ich, ist notwendig in dieser Zeit knapper Mittel.
Wir werden in diesem Frühjahr mit den Ländern Proberechnungen für diesen Förderweg durchführen. Ich bin ganz zuversichtlich, daß es noch in diesem Jahr gelingen wird, deutliche Fortschritte in Richtung auf die Einführung eines solchen Systems zu machen. Übrigens: Das System wird ja auch von jemandem unterstützt, der mir parteipolitisch überhaupt nicht nahesteht, nämlich dem Präsidenten des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft, der ja von sich aus auch immer sagt, daß das starre Fördersystem mit den starren Einkommensgrenzen zwischen den Sozialwohnungen mit 7,50 DM pro Quadratmeter und dem frei finanzierten Mietwohnungsbau mit Mieten zwischen 12 und 20 DM pro Quadratmeter die EigerNordwand erst aufrichtet, die für viele dann nicht mehr übersteigbar ist. Da sind wir uns in der Analyse völlig einig. Gehen Sie mit uns den Weg auf ein flexibleres Fördersystem mit mehr sozialer Gerechtigkeit!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu den Anträgen der PDS sagen: Die Mietenreform, die in einem zweiten Schritt jetzt in den östlichen Bundesländern durchgeführt worden ist, ist für diejenigen, die davon betroffen waren — und das ist eben fast die gesamte Bevölkerung in den östlichen Bun-
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Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzerdesländern — sicherlich ein schwieriger Schritt. Dessen waren wir uns von vornherein bewußt.Deswegen haben wir ja auch in sehr langen Diskussionen nicht nur das System dieses Schrittes mit den Zuschlägen, die sich an der Qualität der Wohnung orientieren, entwickelt, sondern wir haben auch in einem Diskussionsprozeß mit den östlichen Ländern jeden einzelnen Bestandteil dieses Mieterhöhungsschrittes abgeklopft. Was jetzt Anwendung findet, ist von Bund und Ländern gleichermaßen verabschiedet worden. Das heißt, es handelt sich hier um eine einvernehmliche Entscheidung zwischen der Bundesregierung und dem Bundesrat. Es haben also zugestimmt: CDU, CSU, SPD und F.D.P.
Ich habe auf einer Diskussionsveranstaltung gestern abend in Chemnitz außerdem auch erfahren, daß unsere Erwartungen in die soziale Abfederung durch das Sonderwohngeldgesetz, das ja noch einmal für diesen Mietenschritt verbessert worden ist. in vollem Umfang zutreffend gewesen sind. Das Sonderwohngeld erfüllt seine soziale Aufgabe.Trotzdem gibt es in Einzelfällen schwierige Situationen, für die dann im Einzelfall auch andere Regelungen getroffen werden müssen. Deswegen wünsche ich mir, daß die Gemeinden in den ostdeutschen Bundesländern denjenigen, die aus einer großen Wohnung in eine kleine Wohnung ziehen wollen, weil ihre Miete in der Tat einen unerträglich hohen Anteil ihres Einkommens aufzehren würde, hilft, eine kleinere Wohnung zu finden. Ich wünsche mir, daß sie beim Wohnungstausch behilflich sind. Dies kann man auf der Ebene der Gemeinde auch dadurch noch verbessern, daß man Umzugshilfen zahlt. Ich meine, daß dies ein vernünftiger Punkt ist.
Letzte Bemerkung: Ich habe bei meinen Diskussionen auch den Eindruck gewonnen, daß die Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes, der für die ostdeutschen Bundesländer jetzt bis 1995 angelegt ist, auch dort seine Funktion erfüllt. Ich hoffe sehr, meine Damen und Herren, daß wir es durch Information und Aufklärung gemeinsam erreichen können, unberechtigte Ängste von Mietern abzubauen. Ich wünsche mir, daß alle Beteiligten, Politiker genauso wie der Mieterbund, mithelfen, dieses Ziel auch weiter durchzusetzen und zu erreichen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Peter Götz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns heute erneut über verschiedene Themen des Wohnungsbaus unterhalten, wie über das dringend zu verabschiedende Wohnungsstatistikgesetz, über die verschiedensten Anträge zum sozialen Wohnungsbau, zum erweiterten Kündigungsschutz und zum Wohngeld Ost bis zu der zu lösenden Frage der Altschulden, so macht dies die unterschiedlichen Ansätze im Bereich des Wohnungsbaus in den alten und neuen Ländern deutlich.Trotzdem gibt es einen gemeinsamen wohnungspolitischen Nenner zwischen Ost und West:Erstens. Die ausreichende Wohnungsversorgung für unsere Bürger ist eine Grundvoraussetzung für den sozialen Frieden in unserem Land. Es steht außer Frage, daß jeder Mensch menschenwürdig wohnen muß und soll und daß deshalb auch die Wohnungspolitik sozialpolitische Ziele zu verfolgen hat.
Nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus und dem Scheitern der Kommandowirtschaft ist zwischenzeitlich unstrittig: Die Soziale Marktwirtschaft ist das bessere System, um Wohnungen zu produzieren.Zweitens. Unser Ziel muß sein, für ein möglichst vielfältiges Wohnungsangebot flächendeckend in ganz Deutschland zu sorgen.Drittens. Bei den gewaltigen Belastungen, die auf die öffentlichen Haushalte zukommen werden, ist allein mit dem Geld des Steuerzahlers der Wohnungsbedarf nicht zu decken. Wir brauchen privates Kapital.Die veränderten Rahmenbedingungen der letzten Jahre, die zu den Engpässen am Wohnungsmarkt führten, kennen wir: Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen nach Deutschland; der Zerfall der Familien führt zu Scheidungsziffern, die uns erschrekken müssen — in den Ballungszentren im Schnitt bis zu 50 %; die Zahl der Alleinerziehenden nimmt dramatisch zu; zugleich öffnet sich am anderen Ende mit dem Drang zur Individualisierung eine weitere Nachfragelücke.Inzwischen liegt die Zahl der Single-Haushalte in Nordrhein-Westfalen über der Zahl der Familien mit Kindern. Um das Paradox vollständig zu machen: Wir haben statistisch gesehen im Westen eine Inanspruchnahme von Wohnraum von 37 qm/Person. So drücken wir unseren Wohlstand aus und definieren gleichzeitig unsere Schwächen in der Gesellschaft.Für eine zeit- und situationsgemäße Wohnungspolitik hat die Bundesregierung in den letzten Jahren erfolgreiche Beiträge geleistet. So wird der soziale Wohnungsbau, Herr Formanski, 1993 wie im Vorjahr in den alten Ländern mit 2,7 Milliarden DM Bundesmitteln gefördert. Das ist fast doppelt soviel wie am Ende der sozialliberalen Koalition. Hinzu kommt eine Milliarde DM für die neuen Länder.
Wir können auch in Zukunft auf die Direktförderung neuer Mietwohnungen nicht verzichten, damit keine Kluft zwischen denen entsteht, die gut mit Wohnungen versorgt sind und den vielen wohnungssuchenden Familien mit kleinen und mittleren Einkommen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Mittel für den Wohnungsbau möglichst zielgenau und effektiv einsetzen zu können, brauchen wir — die Frau Ministerin hat das angesprochen — einen neuen sozialen Wohnungsbau, einen sozialen Wohnungsbau in neuer Form. Wir brauchen eine Förderung, die
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Peter Götzsich nicht nur auf ganz enge Zielgruppen beschränkt, eine Förderung, die mit marktnäheren Mieten gleichzeitig finanzierbar bleibt und die sozial gerechter ist, indem sie sich flexibel und treffsicher auf die jeweiligen Bedürfnisse der Wohnungssuchenden einstellt.
Wenn wir das Ärgernis der Fehlbelegungen von Sozialwohnungen weitgehend vermeiden wollen, muß im Ergebnis die Förderung stärker einkommensabhängig differenziert werden. Das heißt: Künftig sollte die Förderung des sozialen Wohnungsbaus aus den beiden Elementen, der Objekt- und der Subjektförderung, bestehen. Der Vorschlag von Ihnen, Frau Ministerin, im Frühjahr Modellversuche mit dieser Förderung durchzuführen, ist nur zu begrüßen; denn damit wäre gewährleistet, daß ein Vermieter verläßlich kalkulieren kann, daß der Mieter seinen Einkommensverhältnissen entsprechend weniger belastet wird und, was auch noch wichtig ist, daß mit den gleichen öffentlichen Mitteln mehr Wohnungen sozial treffsicher entstehen können.Daneben muß selbstverständlich das Wohngeld für die soziale Flankierung einkommensschwacher Haushalte in allen Teilbereichen des Wohnungsmarktes bleiben. Damit viele, vor allem Familien, den Wunsch nach Wohneigentum realisieren können, brauchen wir auch in Zukunft eine wirksame staatliche Förderung in diesem Bereich.
Der Anteil im Eigentumsbereich liegt bei uns bei 33 %. Das zeigt den dringenden Handlungsbedarf auch im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn.Wenn in den vergangenen drei Jahren eine Million Wohnungen neu gebaut wurden, so ist dies, Herr Formanski, ein hervorragendes Ergebnis und auch, Frau Ministerin, eine Bestätigung für die Richtigkeit der von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen in den letzten Jahren eingeleiteten Wohnungspolitik.
Trotzdem, Herr Formanski, ist die Schere zwischen Angebot und Nachfrage damit noch lange nicht geschlossen. 1992 sind fast 700 000 Menschen in Deutschland eingewandert. Sie alle wollen mit Wohnraum versorgt werden. Die Zahl der Obdachlosen wird auf über eine Million geschätzt. Diese wenigen Zahlen machen deutlich, daß alle Verantwortlichen in unserer Gesellschaft zum Handeln aufgefordert sind.
Mit der Wohnungsbauland-Initiative der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen verbessern wir die Grundvoraussetzung; denn Wohnungsbau braucht ausreichend erschlossenes Bauland, sonst nützen die besten Förderprogramme nichts.Schon aus ökologischen Gründen müssen selbstverständlich alle Ansätze zum kosten- und flächensparenden Bauen, zur Wohnraumschaffung im Bestand — Dachgeschoßausbau und ähnliche Maßnahmen — genutzt werden. Eine sozialverträgliche Lösung der Ansprüche an das Wohnen ist ohne neue Baufläche jedoch nicht möglich. Dies wird nicht ohne Konflikte gehen; das wissen wir.Bei der Baulandausweisung müssen sich die Städte und die dort lebenden Menschen an der Frage messen lassen, wie sie es mit der Solidarität mit ihren wohnungssuchenden Mitmenschen halten. Hier sind rasche unkonventionelle Verfahren, Fristenverkürzung und Genehmigungserleichterungen für Ost und West dringend gefordert.
Die Koalitionsfraktionen haben den Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen, Ausweisung und Bereistellung von Wohnbauland eingebracht. Mit der intensiven Beratung werden wir nach einer auf kommenden Montag angesetzten Anhörung in der nächsten Woche im Bauausschuß des Deutschen Bundestages beginnen. Der Bundesrat hat in seiner gestrigen Sondersitzung zu diesem Gesetzentwurf seine grundsätzliche Zustimmung signalisiert.Wir möchten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, im Interesse vieler Wohnungssuchender in unserem Land sehr herzlich bitten, unsere Wohnbauland-Offensive nicht zu torpedieren, sondern konstruktiv mitzuwirken. Wir geben damit den Städten und Gemeinden die dringend erforderlichen, verbesserten Rahmenbedingungen an die Hand, so daß mehr bezahlbares Wohnbauland zur Verfügung gestellt werden kann.Dieses Artikelgesetz enthält vielfältige Möglichkeiten, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken, gleichzeitig mit dem Abbau bürokratischer Hemmnisse Bauland zu mobilisieren und die davongaloppierenden Preise am Immobilienmarkt einzufangen. Nur durch die Schaffung von zusätzlichem finanzierbaren Wohnraum erhalten wir bezahlbare Mieten. Packen wir es doch gemeinsam an!Vielen Dank.
Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Joachim Grünewald, hat das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Aus dem Komplex der bisher behandelten Themen will ich mich nur einer brennenden und hochaktuellen Frage zuwenden, nämlich der Altschuldenproblematik in den jungen Ländern.Hier wurde eben gesagt, die Bundesregierung sähe bezüglich der Altschuldenproblematik keinen Regelungsbedarf. Sowohl die Bauministerin als auch der Finanzminister haben diesen Regelungsbedarf nie bestritten und haben sich bisher alle erdenkliche Mühe zur Lösung dieses Problems gegeben. Wir wissen allzu genau, daß diese Altschuldenproblema-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldtik neben den administrativen Engpässen und den Eigentumsverhältnissen das Investitionshemmnis in der Wohnungswirtschaft ist.Nur damit man weiß, über welche Dimension wir hier reden: Zum Zeitpunkt der Wähungsunion beliefen sich die Altschulden auf 36 Milliarden DM. Der Bund hat außerhalb seiner finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeit ein Moratorium angeregt, welches nun per ultimo 1993 ablaufen wird. Dann werden sich die Altschulden auf 51 Milliarden DM belaufen, die im Grunde genommen ab 1. Januar 1994 bedient werden müßten.Das hat zur Folge, daß die Wohnungsunternehmen schon heute nicht mehr kreditfähig sind. Auch die Kommunen haben zunehmend kommunalaufsichtsrechtliche Schwierigkeiten bei der Aufnahme von Krediten mit der weiteren Folge, daß es im Wohnungsbau in den neuen Ländern zu dringend notwendigen Modernisierungs- und Investitionsmaßnahmen nicht kommt. Deswegen ist zwischen allen Beteiligten unstreitig, daß wir eine rasche Lösung erreichen müssen.Nun hat eben Herr Dr. Seifert gemeint — das ist auch Gegenstand des Antrages —, man könne die Schulden einfach streichen, sie vergessen oder in öffentliche Förderzuschüsse umwandeln. Genau das kann man natürlich nicht tun.
— Wenn Sie meinen, daß man das doch tun könne, muß ich Ihnen in Anlehnung an das, was eben die Frau Bauministerin gesagt hat, sagen, daß auch die Bürger im Westen — Solidarität ist keine Einbahnstraße — in genossenschaftlichen und kommunalen Wohnungen leben, die teilweise fremdfinanziert sind. Auch sie müssen ein Drittel ihres verfügbaren Einkommens für das Wohnen ausgeben. Das kann im Osten nicht anders sein als im Westen.
Im übrigen wäre das bei den Dimensionen — ich habe die Zahlen genannt — fiskalisch überhaupt nicht möglich und auch nicht gerecht; denn diesen Belastungen stehen Nettovermögenswerte gegenüber. Das ist etwas anderes als z. B. die Finanzschulden von Kreditabwicklungsfonds oder Treuhandanstalt, da hier die verbleibenden Vermögenswerte die Altschulden sogar überwiegen.Ich deutete schon an: Das ist verfassungsrechtlich eine Frage der Länder. Gleichwohl ist der Bund bereit, an einer, wenn Sie so wollen, politischen Lösung mitzuwirken, um der Wohnungswirtschaft und natürlich auch den Mietern zu helfen.Wir hatten zunächst eine befristete Überbrückungshilfe angeboten. Das ist von den neuen Ländern nicht angenommen worden. Im Dezember haben sich dann Bauministerin und Finanzminister in zwei intensiv geführten Verhandlungen mit den Bau- und Finanzministern der neuen Länder unterhalten und ein neues Lösungskonzept vorgelegt, das Herr Seifert eben als unzureichend oder gar diffus umschrieben hat. Darauf kann ich nur erwidern, daß er das Konzept nicht gesehen hat.Wie sieht es aus? Es hat drei Elemente. Wir wollen zum einen die Altschulden unternehmensbezogen kappen. Im Gespräch ist die Kappung bei 350 DM pro Quadratmeter; der darüberliegende Betrag soll dem Sonderrechtsvermögen der Länder zugeführt werden. Die Zinsen sollen von Bund und jungen Ländern gemeinsam getragen werden.Die spätere Tilgung soll dann schrittweise aus den Privatisierungserlösen erfolgen. Für die bei den Kommunen und Genossenschaften verbleibenden Altschulden — es verbleiben immer noch welche — wollen wir zeitbefristete Zinshilfen gewähren. Wegen der durch Mietanpassung und die schon erwähnte Privatisierung zunehmenden Verbesserung der Einkommensverhältnisse sollen diese Zinshilfen abnehmen. Die Finanzierung dieser Zinshilfen ist zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gedreiteilt vorgesehen.Das dritte, auch aus unserer Sicht wichtige Element ist die Privatisierung. Daß sich Herr Seifert dieses Element nun gar nicht zu eigen machen kann, verwundert in diesem Hause selbstverständlich niemanden. Wir sind aber in diesem Punkt nun wirklich mit allen Beteiligten, mit den Ländern und den Gemeinden, völlig einig, daß es auch wegen der breiten Eigentumsstreuung, wie wir sie im Westen haben, zu einer nachhaltigen Privatisierung kommen soll.
Im übrigen ist das im Einigungsvertrag so festgeschrieben. Wir wissen doch allzu genau — mit Sicht auf den Zwischenruf: Ich weiß aus vielen Zuschriften, die wir im Finanzministerium täglich erhalten, daß sich Mieter dafür interessieren, die Wohnungen, in denen sie jetzt leben, erwerben zu können —, daß diese breite Eigentumsstreuung auch im Sinne einer Vermögensanlage gewünscht ist und, wie wir im Westen alle wissen, natürlich die Mieter vor Mieterhöhungen in der Zukunft schützt. Insbesondere mobilisiert sie — das wurde schon in anderen Zusammenhängen gesagt — notwendiges Kapital zur weiteren Wohnungsbaufinanzierung.Voraussetzung ist, daß nun endlich einmal die jungen Länder und die Kommunen diese Altschulden anerkennen. Dies ist aber leider umstritten; es wurde gerade auf das Gutachten von Herrn Professor Rupert Scholz hingewiesen. Deswegen wollten wir an sich die Frage offenlassen, damit wir uns möglichst bald einer Lösung nähern können.Wir müssen die Unternehmen der Wohnungswirtschaft unbedingt in die Situation stellen, daß sie schon sehr schnell bilanzwirksame Maßnahmen ergreifen können. Wir müssen auch erreichen — ich habe mir in mehreren Kommunalkonferenzen große Mühe gegeben —, daß die Kommunen endlich bereit sind, den Genossenschaften die notwendigen Grundstücke auch zu angemessenen Preisen zu übertragen.Ich sagte schon: Über die Eilbedürftigkeit dieser Problematik sind wir uns völlig im klaren. Deswegen haben wir miteinander vereinbart, daß wir eine Lösung anstreben wollen, wie immer sie denn aussehen wird. Wir müssen mit den Ländern und Gemeinden etwas verabreden, damit spätestens nach Ablauf
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldder Bau-Winterperiode 1992/93 nun auch die Investitionen beginnen können.Ich bin ganz sicher, daß, Frau Bauministerin, unser gemeinsamer Vorschlag eine außerordentlich ausgewogene Lösung enthält. Er ist ein Kompromiß. Er bedeutet für die Unternehmen der Wohnungswirtschaft eine Investitionsverträglichkeit, er bedeutet für die Mieter eine Sozialverträglichkeit, und er bedeutet für uns alle als Steuerzahler auch eine fiskalische Verträglichkeit. Auf diese Komponenten müssen wir alle miteinander Rücksicht nehmen.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christine Lucyga.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich war eigentlich ganz optimistisch, als ich las, daß Sie kurzfristig auf die Rednerliste gekommen sind, weil ich mir einen richtigen Knüller zu den Altschulden erhofft hatte. Ich stelle fest: Im Westen nichts Neues.Es wäre mir auch lieber, ich könnte für die hier zur Debatte stehenden Drucksachen der PDS zu der Feststellung kommen, die für die Drucksache 12/1974 zur Verlängerung des besonderen Kündigungsschutzes gilt, nämlich daß inzwischen ein Beschluß des Deutschen Bundestages vorliegt, durch den sich der Antrag bis auf weiteres erübrigt.Ich könnte es mir leicht machen, indem ich für die Anträge zur Verschiebung der zweiten Mietsteigerung und zur Nachbesserung des Wohngeldsondergesetzes konstatiere, daß die inzwischen in Kraft getretene Zweite Grundmietenverordnung plus Wohngeldsondergesetz diese Anträge inzwischen zumindeste überholt haben. Ich möchte aber, mindestens was den Antrag auf Nachbesserung des Wohngeldsondergesetzes angeht, nachdrücklich feststellen, daß wir angesichts der beginnenden Tarifverhandlungen die Einkommensentwicklung sehr kritisch verfolgen und uns sofort für ein verbessertes Wohngeldsondergesetz stark machen werden, wenn Einkommensentwicklung, Mietsteigerungen und Wohngeldregelungen nicht mehr miteinander in Einklang stehen.
Spätestens der Antrag zu den Altschulden der Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen Ländern legt allerdings auch nahe, hier eine wohnungspolitische Grundsatzdebatte zu führen; denn im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre sehen wir immer wieder, daß wir zu Beginn der zweiten Legislaturperiode mit zunehmend schwierigen und mit vielen ungelösten Problemen der Wohnungspolitik konfrontiert sind.Wir müssen uns vor diesem Hintergrund ganz einfach fragen, wo denn das wohnungspolitische Gesamtkonzept der Bundesregierung ist, wo die wohnungspolitischen Schwerpunkte gesetzt werden angesichts eskalierender Mieten und um sich greifender Wohnungsnot in bisher unbekannten Größenordnungen und auch des bisher immer noch ungelöstenProblems der Altschulden in der Wohnungswirtschaft der ostdeutschen Länder. Wir können nicht erkennen, daß sich auf diesen Feldern im vergangenen Jahr Entscheidendes bewegt hat. Im Gegenteil, es scheint, als würden der soziale Sprengstoff, der hier liegt, und der soziale Stellenwert, den Mieten und Wohnen als eine der zentralen sozialen Fragen inzwischen in ganz Deutschland haben, doch nicht so recht zur Kenntnis genommen. Zumindest wird in diesem Sinne nicht energisch gehandelt. Statt Probleme wie das der Altschulden in vertretbarer Form zu lösen, ist die Situation bisher durch Liegenlassen verschärft worden.
Statt dessen hat sich die Bundesregierung in letzter Zeit zunehmend mit hausgemachten Problemen und am meisten mit sich selbst befaßt. Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Debatte über Personen inklusive des wechselseitigen Ausstellens von Persilscheinen, nicht aber die Sacharbeit das Thema ist, das die Regierung am meisten beschäftigt.
Oder sollten diese Inszenierungen sogar noch willkommen sein als, wie ein von mir wegen seiner kultivierten Federführung sehr geschätzter Journalist schreibt, Versuch einer scheinbaren Aufklärung, in der Absicht zu vertuschen, und zwar zu vertuschen, daß die Politik der Bundesregierung schon längst neben den Realitäten liegt?
Sie liegen in vielen Dingen total daneben.
Eine Regierung und eine Bauministerin, die sich selbst eine erfolgreiche Poltik bescheinigen, weil es außer ihnen niemand tut, kranken an einem beängstigenden Realitätsverlust, zu dem zeitweilig auch ein Gesichtsverlust hinzukommt.
Es wird aber Zeit, die Realitäten in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Nur so können praktikable Lösungen gefunden werden.Ich komme zurück auf das seit nunmehr fast zwei Jahren betriebene Tauziehen um die Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft und stelle fest: Das ist eine der traurigsten wohnungspolitischen Fehlleistungen, die wir bisher überhaupt erlebt haben, mit Auswirkungen in den sozialen und in den arbeitsmarktpolitischen Bereich hinein. Die Handlungs- und Entscheidungsschwäche der Bundesregierung kann die ostdeutschen Mieter und die Wohnungsunternehmen noch teuer zu stehen kommen; denn angesichts der alarmierenden Finanznot der ostdeutschen Wohnungswirtschaft und der Kommunen und angesichts der Tatsache, daß die Mieter seit Inkrafttreten der Zweiten Grundmietenverordnung zum Teil schon
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11515
Dr. Christine Lucygajetzt finanziell überfordert sind und Einkommenszuwächse in Ostdeutschland offenbar nicht so erfolgen wie angenommen, ist es unverantwortlich, wenn die Bundesregierung, die jetzt in der Pflicht steht, eine zumutbare und politisch vertretbare Lösung des Altschuldenproblems vorzulegen, nicht handelt. Dabei geht es nicht nur um ein fiskalisches Problem, sondern auch um ein Problem des politischen Willens. Es muß politisch gewollt sein.Hier kommen wir immer wieder mit neuen widersprüchlichen, unlogischen und auch unsozialen Vorschlägen in Berührung, sei es die einfache Verlängerung des Zinsmoratoriums, die auf ein weiteres Anwachsen des Schuldenbergs hinausliefe, sei es die unausgegorene Fondslösung, sei es die mehr als anfechtbare — weil schlicht und einfach unseriöse — Privatisierungsvariante.Daß die Frauenministerin auch noch ihren Senf dazugeben und den Verkauf der schuldenbelasteten Plattenwohnungen als goldene Idee bejubeln muß ist eine Platitüde, die sie sich besser verkniffen hätte, es sei denn, die Kabinettsmitglieder machten jetzt schon gegenseitig Werbung füreinander.
Seit Anfang des vergangenen Jahres werden wir über die Presse mit Ankündigungen aus dem Hause der Bauministerin verwöhnt, in denen mit schöner Regelmäßigkeit die Rede davon ist, daß die Ministerin eine Lösung der Altschuldenproblematik fordert, obwohl es doch eigentlich ihr Job als Ministerin sein müßte, eine Lösung durchzusetzen.
Höhepunkt war am 7. November die Ankündigung, daß das Bundeskabinett die Bauministerin beauftragt habe, bis Anfang 1992 ein Konzept zur Lösung der Altschulden vorzulegen. Auf das Konzept warten wir noch.Nach allem, was uns dazu bisher auf den Tisch gekommen ist, fordert die Bundesregierung die Lösung des Problems offenbar von den anderen. Die anderen, das sind bei der unsozialen Politik, die wir erleben, oft die Schwächsten. Oder wie sollen wir denn die Ankündigung verstehen, daß nach Einschätzung der Bundesregierung ab 1995 auch Mieter einen Beitrag zum Schuldendienst leisten können?Wer solche Überlegungen anstellt, in einer Zeit, in der die ostdeutschen Mieter — und nicht nur sie — durch schmerzhafte Mieterhöhungen bei gleichzeitigen Einkommenseinbußen, u. a. durch den Verlust des Arbeitsplatzes und durch Verluste an sozialem Besitzstand, schwer verunsichert sind — und das, obwohl die Herkunft der nach wie vor umstrittenen Altschulden juristisch noch nicht geklärt ist —, handelt politisch instinktlos und auch fahrlässig.Was eigentlich soll den Menschen im Osten noch zugemutet werden, die jetzt schon zum zweiten Mal die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen durch die Kriegsfolgen und durch die deutsche Teilung eingebrockt wurde? Gerade in dieser Zeit allgemeiner großer Verunsicherung und existentieller Nöte sollten Sie den Menschen das Gefühl geben, daß der sozialeBesitzstand, zu dem nun einmal die Wohnung gehört, nicht angetastet werden darf.Wohnen ist ein Grundrecht, das Dach über dem Kopf eine Grundvoraussetzung für Menschenwürde, die durch das Grundgesetz geschützt wird. Sie sollten sich mit uns dafür einsetzen, daß das Grundrecht auf Wohnen in der Verfassung verankert wird.Angesichts der bekanntgewordenen Pläne zu einem sogenannten Solidarpakt, der in seinen Eckwerten zutiefst unsolidarisch zu werden scheint, werden wir Sozialdemokraten sehr genau darauf achten, daß die soziale Flankierung des Wohnens erhalten bleibt, da das Recht auf Wohnen ein Teil der sozialen Gerechtigkeit ist, ohne die der gesellschaftliche Konsens zerbricht.
Soziale Gerechtigkeit bedeutet gegenwärtig auch in ganz besonderem Maße soziale Gerechtigkeit zwischen West und Ost. Es ist doch an Zynismus schwerlich zu überbieten, wenn jetzt diejenigen zur Kasse gebeten werden sollen, die auch vorher immer am meisten geschröpft worden sind. Nachdem in DDRZeiten die Bürger billige Wohnungsmieten durch Niedriglöhne und -gehälter erkaufen mußten, sind die Vorstellungen der Bundesregierung, sie zur Tilgung der Altschulden mit heranzuziehen, fast so etwas wie eine zusätzliche Geldbuße für den damaligen Lohnverzicht. Das kann im Ernst niemand beabsichtigen.Das Altschuldenproblem auf die Mieter abzuwälzen darf kein Thema sein; nein, bei den Altschulden darf es nur eine faire Lösung geben.Schließlich dürfen wir auch nicht vergessen, daß es die Bundesregierung ist, die durch ihre Sturheit bis jetzt eine Lösung blockiert hat. Sollen vielleicht am Ende die Mieter oder die finanzschwachen Wohnungsunternehmen dafür aufkommen, daß der Schuldenberg immer munter weiterwächst? Dadurch, daß viel zu lange auf einem juristisch anfechtbaren und vor allem politisch nicht durchsetzbaren Standpunkt beharrt wurde, ist das Problem erst verschärft worden. Schon aus diesem Grunde kann die hier vorgetragene Haltung der Bundesregierung zur Altschuldenfrage politisch nur falsch sein.Im übrigen läßt die Bundesbauministerin an der ungeklärten Rechtslage keinen Zweifel, wenn sie gesprächsweise einräumt, daß mit einer Klärung der Altschuldenproblematik frühestens in sechs bis acht Jahren zu rechnen sei.
— Ich kann es Ihnen zitieren: „Neue Zeit", Oktober 1992. Ich habe alles sehr genau nachgelesen.
— Ich schicke es Ihnen zu.Das legitimiert noch weniger Prinzipienreiterei, statt Abhilfe zu schaffen.
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11516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Christine LucygaVorschläge gibt es von verschiedenen Seiten. Der Vorschlag der SPD, die Altschulden analog zum sozialen Wohnungsbau der Altbundesrepublik zu behandeln, d. h. als öffentliche Fördermittel mit niedriger Verzinsung und Tilgung bei langer Laufzeit umzustellen, wurde wiederholt vorgetragen, u. a. am 5. November in der Plenardebatte. Diesem Vorschlag kommt zwar der vorliegende Antrag der PDS sehr nahe; aber wir können ihn nicht beschließen, da er auch föderale Kompetenzen berühren würde und formal nicht zutreffend ist.Wir kennen im übrigen vom Ministerpräsidenten Thüringens und vom Deutschen Mieterbund ähnliche Vorschläge. Es ist natürlich und nachvollziehbar, daß sich Länder, Kommunen und Wohnungsunternehmen gegen Vorstellungen der Bundesregierung zur Wehr setzen, die ihre finanzielle Handlungsfähigkeit blokkieren. Es spricht ja nicht gegen ihren politischen Lösungswillen, wenn sie unabhängig von ihrem Willen, gemeinsam zu einer Lösung des Problems zu kommen, auch die rechtlichen Grundlagen ganz kritisch hinterfragen.Sowohl die Überlegungen des Landes Brandenburg, die Altschulden auf den tatsächlichen Substanzwert herunterzurechnen — es sind ja die schlechteren Wohnungen, die am höchsten verschuldet sind —, als auch die Vorstellungen aus Sachsen-Anhalt, Altschulden ungeachtet ihrer späteren rechtlichen Wertung zunächst als nachrangig in die Grundbücher einzutragen, um wenigstens die Wohnungsunternehmen finanziell handlungsfähig zu machen, sollten mit einbezogen werden. Dagegen setzen alle Überlegungen, vor allem die aus dem Bundeskabinett, bei denen immer zuerst die Bedienung der Altschulden und erst dann der finanzielle Spielraum der ostdeutschen Wohnungswirtschaft gesehen wird, die falschen Prioritäten; denn die politische Schwerpunktaufgabe, daß Investitionen den Vorrang haben müssen, darf nicht im Zusammenhang mit der Wohnungswirtschaft der neuen Länder durch eine falsche Prioritätensetzung ausgehebelt werden.
Vor etwa einem Jahr hat die Bauministerin öffentlich erklärt, daß die Altschuldenfrage endlich geklärt werden müsse. Seit einem Jahr hat sich kaum etwas bewegt.
Nun wird es Zeit, auf die Länder zuzugehen und eine aktive Wohnungspolitik zu ermöglichen, wobei auch der Vorschlag des Deutschen Mieterbundes, Mieterinvestitionen verstärkt zu fördern und rechtlich abzusichern, Berücksichtigung finden sollte.Auf dem Wohnungsmarkt der neuen Länder liegt ein riesiges Konjunkturprogramm brach, weil es der Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Das sieht am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns etwa so aus: Die rund 150 Wohnungsunternehmen mit 400 000 Wohnungen im Bestand — veranschlagen Sie 10 000 DM für Modernisierungsmaßnahmen, zu denen jährlich durch Mietmehreinnahmen jetzt ca. 1 000 DM für Instandsetzung kommen — könnten in den nächstenJahren allein 40 Milliarden DM investieren. Das wäre wirklich ein willkommener Beitrag zum Aufschwung Ost.
Daß diese Summen aber nicht von den Mietern aufgebracht werden können, liegt nahe, und ebenso ist indiskutabel, die Mehreinnahmen aus der Zweiten Grundmietenverordnung in etwas anderes als die Instandsetzung fließen zu lassen. Allein durch die Kosten des aufgelaufenen Instandsetzungsbedarfs wären die Mieter schon finanziell überfordert. Mietmehreinnahmen für die Bedienung von Altschulden zu verwenden wäre also eine unbillige Härte, zu der es nicht kommen darf; denn andernfalls sind Mietsprünge vorprogrammiert, die das Sozialgut Wohnung — als solches vor allem müssen wir die Wohnung betrachten — hochgradig gefährden.Abschließend möchte ich einige Sätze zum Wohnungsstatistikgesetz sagen. Wir halten es für richtig und wichtig, wohnungsstatistische Daten zu erheben, insbesondere auch mit Blick auf die mißbräuchliche Umwandlung von Wohnraum in den neuen Bundesländern.Zum vorliegenden Gesetzentwurf gibt es jedoch noch Beratungsbedarf, vor allem zu dem am letzten Beratungstag von der CDU/CSU eingebrachten Änderungsvorschlag, den wir wegen des zu engen Zeitrahmens nicht mehr mit der notwendigen Sorgfalt prüfen konnten. Deshalb werden wir uns enthalten.
Frau Kollegin Dr. Lucyga, Frau Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer würde Ihnen gern eine Frage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Da ich mit meiner Rede am Ende bin, gern.
Frau Kollegin Lucyga, würden Sie mir zustimmen, daß Sie zur Kenntnis zu nehmen haben, daß die Bundesregierung seit dem Frühsommer des vergangenen Jahres mit den ostdeutschen Bundesländern konkret über die Regelung der Altschuldenfrage verhandelt, und zwar auf der Grundlage eines Angebots der Bundesregierung zu einer Überbrückungsfinanzierung?Würden Sie mir zustimmen, daß seit dieser Zeit die ostdeutschen Bundesländer, vor allen Dingen deren Finanzminister, zu keiner Zeit auch nur einen Millimeter an Bewegungsspielraum haben erkennen lassen?Würden Sie mir zustimmen, daß dies ein Spiel ist, das auf dem Rücken der Mieter ausgetragen wird? Können Sie sich damit einverstanden erklären, daß die Bundesregierung zum Ende letzten Jahres ein noch einmal verbessertes Angebot zur Regelung der Altschuldenfrage an die ostdeutschen Bundesländer vorgelegt hat und daß daraufhin weitere Verhandlungsrunden stattgefunden haben, in denen ebenfalls wieder die ostdeutschen Bundesländer nicht einen einzigen Millimeter Bewegungsspielraum haben erkennen lassen, und daß dies bedauerlicherweise dazu führt, daß wir in der Frage bisher noch nicht
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Dr. Irmgard Schwaetzerweitergekommen sind, aber nicht etwa, weil die Bundesregierung, sondern weil die ostdeutschen Bundesländer derzeit keine Bewegung gezeigt haben?
Verehrte Frau Kollegin Schwaetzer, dies ist nun wirklich fast keine Frage mehr. Das war ein Korreferat und läuft normalerweise unter Kurzintervention; aber selbst die ist auf zwei Minuten begrenzt.
Bitte, Frau Kollegin Dr. Lucyga.
Ich habe eben noch einmal eine Kurzfassung des Aktionismus der Bundesregierung vernommen. Genau das habe ich in meinem Beitrag angesprochen. Es wurde viel gesagt, aber es hat sich nichts getan.
Ich danke Ihnen.
Ich habe unglücklicherweise das Stichwort Kurzintervention genannt. Herr Großmann, bitte.
Ich versuche, die zwei Minuten nicht auszunutzen, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir auf das, was wir eben gehört haben, einfach sagen müssen, daß auch die Bundesregierung sogar in sich ständig über den richtigen Ansatz zur Lösung des Altschuldenproblems streitet. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat der finanzpolitische Sprecher, Herr Faltlhauser, noch vor einigen Tagen Vorschläge gemacht, die die Bauministerin als unsinnige Querschläge bezeichnet hat.
Danke.
Kurzinterventionen haben sich im Regelfall auf Äußerungen des Redners zu beziehen und nicht etwa auf Äußerungen eines Fragestellers.
— Das schon gar nicht, Frau Kollegin.
Da kein Bedrüfnis besteht, noch einmal darauf einzugehen, erteile ich jetzt dem Kollegen Hans Raidel das Wort.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Dr. Lucyga, ich habe Verständnis dafür, daß Sie mit ganz persönlichem Engagement an dieses Thema herangehen, aber in der Sache haben Sie sicherlich nicht viel beigetragen.Zwischen Finanzministerium und Bauministerium gibt es in all diesen Fragen keinerlei Differenzen.
Allerdings sind die Punkte natürlich schrittweise zu klären, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Regierung betreibt eine durch und durch erfolgreiche Wohnungsbaupolitik.
Wer die Schwierigkeiten kennt und die Ergebnisse zum Vergleich heranzieht, kann überhaupt nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich behaupte auch, daß die Arbeit unserer Arbeitsgemeinschaft mit der F.D.P. erfolgreich ist, weil wir kein Thema auslassen, weil wir wirklich alle Fragen aufgreifen und sie Schritt für Schritt klären und in den Prozeß, beispielsweise ins Parlament, einbringen.Natürlich bleiben immer viele Fragen offen, natürlich müssen wir in den Verhältnissen leben, wie sie nun einmal sind. Der Finanzrahmen ist, gesamtwirtschaftlich gesehen, nun einmal eng, und wir müssen uns alle gemeinsam nach der Decke strecken. Wenn wir all dies berücksichtigen, sind auch die Haushaltsansätze angemessen und bedarfsgerecht kalkuliert, was nicht ausschließt, daß hier und da noch mehr verlangt werden könnte und müßte.Bereits unter Ihrer verehrten Vorgängerin, Frau Gerda Hasselfeldt, wurde eine wohnungspolitische Offensive eingeleitet; unter Ihnen wurde sie fortgesetzt. Ich glaube, daß sich das Ergebnis durchaus sehen lassen kann. Die statistischen Zahlen beweisen dies.Ich nehme aber einen ganz anderen Kronzeugen, nämlich die ARGE Bau. Das sind in der Mehrheit die Länder, die hier nicht unbedingt ein Loblied anstimmen müßten. In der letzten ARGE-Bau-Sitzung wurde ausdrücklich festgestellt, daß es eine Entspannung am Wohnungsmarkt gegeben hat. Das ist doch wohl eine sehr positive Feststellung.Trotz dieser Entwicklung — das gebe ich gerne zu — haben sich die sozialen Spannungen am Wohnungsmarkt durchaus vermehrt, verursacht durch hohe Mieten, drastisch gestiegene Baulandpreise und, damit verbunden, steigende Immobilienpreise. Das bestreitet niemand.Wir sollten nun alle gemeinsam versuchen, hier die Lösungen zu beschleunigen — auch darin sind wir uns einig —, weil wir wissen, daß derzeit kurzfristige Lösungen so schnell nicht zu haben sind, weil es einige Engpaßfaktoren am Markt gibt.Einer davon ist natürlich, daß zu wenig Bauland ausgewiesen ist. Wir wissen ja, welche Zurückhaltung von Städten und Gemeinden da vorhanden ist.Ein zweites Hindernis sind die sehr strengen Naturschutzbestimmungen, technische Anforderungen, Planungs- und Genehmigungsvorhaben.Drittens. Wir haben weitgehend ausgelastete Baukapazitäten.Viertens. Viel Geld wird nicht investiert, auch deshalb nicht, weil im Moment einfach unzureichende Renditen im Mietwohnungsbau vorhanden sind und
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11518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Hans Raidelgleichzeitig ein hohes Zinsniveau etliches zumindest nicht in Fahrt bringen läßt.Fünftens. Mangelndes Eigenkapital bei privaten Bauherren verhindert ebenfalls mehr Geschwindigkeit bei diesem Zuge.Ich habe schon darauf hingewiesen, daß die hohen Anforderungen an die öffentlichen Haushalte insgesamt nur geringe weitere Spielräume eröffnen, um mehr Mittel in die Wohnungsbauförderung zu geben, so wünschenswert dies alles wäre.Auf Grund dieser Tatsachen, denen wir Schritt für Schritt nachgehen und wo wir vernünftige Lösungen anbieten werden, ist für mich eigentlich selbstverständlich — was schon ausgeführt worden ist —, daß mehr Geld über den privaten Wohnungsbau zur Verfügung gestellt werden muß. Wir haben dafür zu sorgen, daß vernünftige Rahmenbedingungen dazu geschaffen werden, ohne dabei die Mieterinteressen zu vernachlässigen.Aber ich sage auch ganz deutlich: Es muß ein Interessenausgleich zwischen Mietern und Investoren erarbeitet werden. Ich sage weiterhin, daß mietrechtliche Maßnahmen dringend erforderlichen Wohnungsneubau nicht behindern dürfen.Die Sozialschiene für den Mieter — ich unterstreiche das noch einmal — darf dabei selbstverständlich nicht vernachlässigt werden. Für mich gilt der Kernsatz, daß der Bau von Wohnungen immer noch der beste Mieterschutz ist.
Natürlich ist es eine fabelhafte Idee, zusätzliche Mittel zu Lasten anderer Etats in den Wohnungsbau überzuleiten. An einer solchen Idee ist überhaupt nichts auszusetzen. Diese Mittel wären allerdings auch effektiver einzusetzen, und viel könnte zur Entschärfung beigetragen werden. Ich darf aber noch einmal auf die allgemeinen Zwänge, in denen der Herr Finanzminister steht, verweisen, die solches zumindest im Moment verhindern.Persönlich bin ich ein Fan von selbstgenutztem Wohneigentum. Ich meine, auch hier sollten wir ansetzen, da bei relativ geringer staatlicher Unterstützung hier doch eine ganze Menge erreicht werden kann und durch neuerstelltes Wohneigentum in zwei Drittel aller Fälle auch Mietwohnungen, häufig sogar Sozialwohnungen frei gemacht werden können.Auf die Fragen des sozialen Wohnungsbaus wurde ausreichend eingegangen, auch auf den § 25 Abs. 2. Hierzu gibt es unterschiedliche Auffassungen. Ich bin dafür, daß man einfach einmal seriös überprüft, wie man diesen § 25 Abs. 2 sozialverträglich neu gestalten soll, damit nicht die Geringstbezieher von Einkommen unter Umständen dabei Nachteile erleiden. Ich glaube, hier kommen wir durchaus weiter.Meine Damen und Herren, hier ist das Thema Ost sehr kritisch angesprochen worden. Natürlich wissen wir alle, daß es sich um ein sehr sensibles Thema handelt. Auch wir müssen das mit der gebotenen Sensibilität behandeln; da sind wir uns durchaus einig.Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß im Programm Aufbau Ost seit der Wende insgesamt rund 400 Milliarden DM an privaten und öffentlichen Mitteln in die neuen Länder geflossen sind. In der nächsten Zeit werden es jährlich ca. 140 Milliarden DM sein.
Herr Kollege Raidel, Sie haben Ihre Redezeit ein gutes Stück überschritten. Bitte kommen Sie zum letzten Satz.
Danke schön. — Natürlich kann man darüber streiten, ob das alles genügend ist. Ich möchte aber doch feststellen: Es hat niemals eine Aktion dieser Art gegeben. Auch das sollten wir eigentlich positiv vermerken.
Die Wohnungsbaupolitik hat auch für die gesellschaftliche Entwicklung hohen Rang. Wir stehen vor Aufgaben, wie sie in den 50er und 60er Jahren zu bewältigen waren. Wenn wir alle gemeinsam hier die Prioritätenskala richtig setzen — —
Herr Raidel, bitte, wirklich — —
— und das Thema zu unserer Hauptaufgabe machen, dann wird es uns auch gelingen, in absehbarer Zeit die Mangelsituationen zu bereinigen. Ich fordere Sie dazu herzlich auf.
Es ist mir, wie ich zugeben muß, nicht unangenehm, einen Kollegen der eigenen Partei einmal ordentlich darauf hinzuweisen, wenn er die Redezeit überschreitet. Damit kann ich signalisieren, daß ich nicht einseitig bin.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Wohnungsstatistikgesetzes, Drucksachen 12/3043 und 12/4108.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist gegen eine Stimme und bei einer großen Zahl von Enthaltungen angenommen.Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD zur Erhöhung der Einkommensgrenzen im sozialen Wohnungsbau auf Drucksache 12/3913 an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11519
Vizepräsident Hans KleinGruppe PDS/Linke Liste zur Nachbesserung des Wohngeldsondergesetzes, Drucksache 12/3976. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/3473 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich widerstehe nicht der Versuchung, darauf hinzuweisen: gegen die einzige im Saal vertretene Stimme der Antragstellergruppe.Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Verlängerung des erweiterten Kündigungsschutzes, Drucksache 12/4116. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1974 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Verschiebung der Mietsteigerung, Drucksache 12/4116. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3284 abzulehnen. Wer ist dafür? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Umwandlung der Altschulden der Wohnungswirtschaft, Drucksache 12/3982. Der Haushaltsausschuß empfiehlt, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3474 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend zu der Unterrichtung durch die BundesregierungMaskuline und feminine Personenbezeichnungen in der RechtsspracheBericht der Arbeitsgruppe Rechtssprache vom 17. Januar 1990— Drucksachen 12/1041, 12/2775 —Berichterstattung:Abgeordnete Susanne Rahardt-Vahldieck Hanna WolfDazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Hanna Wolf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn in den Medien gar nichts mehr läuft, eine Glosse über die Bemühungen von Frauen, in der Sprache benannt zu werden, läuft immer noch. Wäre heute nicht eine ernsthafte Debatte zu diesemThema vorgesehen, sondern eine Reihe von Glossen, dann sähe auch das allgemeine Interesse im Parlament besser aus.Der langwierige Werdegang der heutigen Vorlage ist in der Tat glossenverdächtig. Vielleicht nehmen sich die Medien dieses Themas wenigstens in dieser Form an.Meine Kolleginnen und Kollegen, im politischen Alltagsgeschäft wissen wir doch ganz genau, welchen politischen Stellenwert Sprache für uns hat. Warum sprechen Mitglieder der Regierung vom Aufschwung Ost, von den jungen Bundesländern, den blühenden Landschaften, dem Wildwuchs bei Sozialleistungen, dem Eurofighter 2000, dem ungeborenen Menschen, dem SPD-Asylanten und — jüngstes Beispiel — der unzureichenden Tatsachenfeststellung? Sie erinnern sich: Minister Möllemann kam mit diesem glorreichen Einfall.
Die dahinterliegende Absicht reicht von Schönfärberei bis Verleumdung. Um den leidigen Begriff „Abwicklung" loszuwerden, bemühte die Treuhand eine Jury von fünf Journalisten und zwei Treuhandvertretern und lobte einen Preis von 1 000 DM aus. Das Ergebnis: Das Direktorat heißt jetzt „Rekonstruktion".Wie hängen Sprache und Bewußtsein miteinander zusammen? Bei einer Diskussion darüber wird mit folgender Frage abgelenkt: Prägt die Sprache das Bewußtsein, oder prägt das Bewußtsein die Sprache? Es ist sozusagen die Frage nach der Henne und dem Ei. Die angeführten Beispiele zeigen, wie die Sprechenden denken, d. h. wie ihr Bewußtsein Sprache prägt; sie zeigen aber auch, wie die Sprechenden versuchen, den Hörenden ihre eigene Optik der Dinge aufzudrängen. Das heißt, sie versuchen durch ihre Sprache das Bewußtsein anderer zu prägen. Geglückt ist es, wenn die anderen so reden wie sie. Nicht die Sprache verfolgt also einen Zweck, sondern die Sprechenden.Im übrigen ist die Sprache nicht statisch. Es kommen täglich neue Wörter hinzu; sonst hätte die Duden-Redaktion ja nicht laufend mit Nacharbeit zu tun. Sprache ist von den Menschen gemacht, die sich ihrer bedienen. Also haben wir auch die Möglichkeit, bestimmte gesellschaftliche Normen zu setzen, denen z. B. die Rechtssprache entsprechen soll.Auch die Rechtssprache oder das Amtsdeutsch, wie es landläufig heißt, hat Wirkungen, die über die Vermittlung des eigentlichen Inhalts hinausgehen. Sie kann einschüchternd, verschleiernd, diskriminierend sein. Es ist darüber hinaus eine Binsenweisheit, daß das Amtsdeutsch weder durch die Schönheit dichterischer Sprache charakterisiert werden kann noch die Klarheit und Verständlichkeit aufweist, die sich Bürgerinnen und Bürger wünschen.Ein willkürliches Beispiel aus einem Steuerbescheid kann das veranschaulichen:Der Bescheid ist im Hinblick auf den Beschlußdes Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juni1990 zum Kinderlastenausgleich und auf die
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11520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Hanna WolfAnhängigkeit weiterer Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags vorläufig, soweit diese Regelung in Ihrem Fall von Bedeutung ist.Dieser Rechtssprache wird also nicht Gewalt angetan, wenn sie einer gründlichen Revision durch sprachwissenschaftlich geschulte Expertinnen und Experten unterzogen würde, sozusagen „von Amts wegen", damit ein „Einspruch insoweit nicht erforderlich" ist.Die Revisionsgremien fänden dann endlich zu der allseits beschworenen Präzision, Klarheit, Bestimmtheit und Kürze. Sie charakterisieren angeblich die Vorschriftensprache. Ganz selbstverständlich würden die Revisionsgremien die Gleichberechtigung der Geschlechter mit einarbeiten, ohne gegen die eben genannten Kriterien zu verstoßen.Die SPD begrüßt den zur Debatte stehenden Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe Rechtssprache.Den Beschluß des Bundeskabinetts lehnen wir jedoch ab, da wir in der Umsetzung keine Einschränkung akzeptieren. Dort heißt es lediglich:... soweit dies sachlich gerechtfertigt ist und die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Gesetzestextes nicht beeinträchtigt wird. Die Empfehlungen können als Richtschnur dienen. Die Ressorts werden gebeten, sich an den Empfehlungen zu orientieren und weitere Anregungen aufzugreifen.Das ist uns zuwenig. Es ist an der Zeit, statt unverbindlicher Empfehlungen für das Schaufenster endlich verbindliche Handlungsanweisungen zu geben. Der Hessische Landtag hat z. B. schon 1986 in einer Entschließung festgelegt:Im Gesetzestext sollen grundsätzlich die weiblichen und männlichen Formen einer Personenbezeichnung aufgeführt werden.In der sprachlichen Entwicklung überholen inzwischen auch die neuen Länder den Bund. Dies konnte der interministerielle Bericht noch gar nicht berücksichtigen.In diesem Sinne fordert die SPD, daß sich die Bundesregierung die Empfehlung zur Amtssprache im Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe Rechtssprache zu eigen macht und voll umsetzt. Damit würde z. B. auch folgender Unsinn aus dem gleichen Steuerbescheid verschwinden, der sich übrigens an eine unverheiratete, kinderlose Frau richtete: „Der Pauschbetrag beim Steuerpflichtigen bzw. Ehemann ... " In meinem Paß hieße es nicht mehr „Unterschrift des Paßinhabers", sondern „Unterschrift der Paßinhaberin".Die Verwendung des generischen Maskulins, mit dem wir Frauen angeblich immer mitgemeint sind und sein sollen, möchten wir jedoch nicht nur in der Amtssprache, sondern auch in der Vorschriftensprache grundsätzlich ausgeschlossen wissen, denn Formulierungen wie „der Wähler", „der Steuerzahler" oder „der Schüler" sprechen über die Hälfte der Bevölkerung nicht an.Hierin folgen wir den Empfehlungen der interministeriellen Arbeitsgruppe Rechtssprache nicht mehr; vielmehr folgen wir in dieser Forderung den sachkundigen Ausführungen des Ausschusses Frauen und Jugend des Bundesrates, der dort leider nicht federführend war und somit in der Minderheit blieb. Auf diese Ausführungen möchte ich ausdrücklich verweisen und mich nicht mit nochmaligen Begründungen aufhalten.Ich möchte nur eine grundsätzliche Aussage des Berichtes dieses Ausschusses zitieren:Bedenklich ist, daß Personenbezeichnungen im generischen Maskulinum Männer unmittelbar ansprechen und Frauen nur mitmeinen. Darin liegt eine psychologische Benachteiligung der Frau ... Auch die Rechtssprache muß die Betroffenen als Personen ansprechen und überzeugen.Meine Damen und Herren, zur Geschichte der Vorlage: Der Deutsche Frauenrat, eine Organisation, die ca. 11 Millionen Frauen repräsentiert, hat 1982, also vor 11 Jahren, in seiner Resolution „Diskriminierung von Frauen in der Gesetzessprache" den Gesetzgeber aufgefordert — und ich zitiere wieder —:... in allen Gesetzen und sonstigen Rechtsnormen die bisher üblichen, einseitig männlich ausgerichteten Definitionen zu beseitigen, sie durch die entsprechenden weiblichen Definitionen od er durch Formulierungen zu ersetzen, die geschlechtsneutral sind.Im März 1987 stellte die SPD im Bundestag zu diesem Thema einen Antrag. Die GRÜNEN und die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. folgten mit abgewandelten Anträgen im Laufe des gleichen Jahres. Ebenfalls im Herbst desselben Jahres wurde die interministerielle Arbeitsgruppe Rechtssprache eingesetzt. Ein qualifizierter Bericht dieser Arbeitsgruppe liegt seit Januar 1990 vor. Über die schon genannte Stellungnahme des Ausschusses Frauen und Jugend des Bundesrates hinaus bedarf es keiner weiteren Begründung oder gar Rechtfertigung.Nachdem der Ausschuß Frauen und Jugend des Bundestages die Federführung zu diesem Thema errungen hatte, zeichnete sich im Ausschuß Einstimmigkeit für einen Antrag in unserem soeben vorgetragenen Sinne ab. Sie wurde jedoch leider durch die F.D.P. zunichte gemacht. Vielleicht kann uns jetzt Frau Würfel die Hintergründe ihres Sinneswandels nennen.Wir stimmen also im Ausschuß nicht überein, wie mit der Vorschriftensprache verfahren werden soll. Davon betroffen sind alle Gesetze, aber auch die Verfassung. Gerade aber zur Sprache der Verfassung liegen der Verfassungskommission mittlerweile Tausende von Eingaben vor. Deswegen haben wir hierzu einen Änderungsantrag eingebracht, weil wir hier generell eine Regelung für beide Sprachformen wünschen.Heute, 1993, sollten Sie endlich die überfälligen Entscheidungen treffen. Andernfalls hieße es, daß Sie mit dem Mittel der Rechtssprache entweder diskriminieren wollen oder zumindest eine Diskriminierung billigend in Kauf nehmen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11521
Hanna WolfDer Bund wird sich ohne verbindliche Handlungsanweisungen zur Verwirklichung der Gleichberechtigung in der Rechtssprache über kurz oder lang nicht mehr im Einklang mit der Rechtssprache vieler Bundesländer bzw. mit dem deutschsprachigen Ausland befinden. Die Rechtssprache muß grundsätzlich dem Prinzip der Gleichbehandlung der Geschlechter entsprechen. Ein bißchen Gleichberechtigung gibt es nicht. Wo denn, wenn nicht in der Rechtssprache — und das schließt die Sprache der Verfassung mit ein —, soll die Gleichbehandlung vollzogen werden?Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Rahardt-Vahldieck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu diesem Thema ist mir ein Weihnachtsgeschenk in die Hände geraten, das mir ein frauenpolitisch motivierter Mitarbeiter geschenkt hat, ein schönes Buch mit der Fragestellung: „Ob die Weiber Menschen sind".
Nun muß man sagen: Diese Frage ist über Jahrhunderte diskutiert worden, und zwischenzeitlich ist man doch wohl zu dem Ergebnis gekommen — ich glaube, wir können hier einen Konsens feststellen —: Frauen sind Menschen.
Aber im Hinblick auf die Rechtssprache fragt man sich: Sind auch Frauen Menschen, oder sind nur Männer Menschen? Denn die Rechtssprache geht doch so etwas in die Richtung — es ist vorhin angesprochen worden —: „der Wähler", „der Steuerzahler" , der was auch immer. Und es könnte doch sein, daß eine Frau sich mit der Bezeichnung „der Wähler" oder „der Paßinhaber" oder „der Antragsteller" nicht angesprochen fühlt.
Frau Wolf hat das Finanzamt erwähnt. Ich habe mit meinem Finanzamt so meine eigenen Erfahrungen. Ich will sie mal kurz wiedergeben, um Ihnen vor Augen zu führen, wie sich das praktisch auswirkt.
Ich bin selbständige Anwältin und demzufolge einkommensteuerpflichtig, mit meinem Mann, der Gehaltsempfänger ist, wie es sich für eine treudeutsche Ehefrau gehört, gemeinsam veranlagt. Sämtliche Aufforderungen, ich möge bitte die Steuererklärung abgeben, gehen an meine Kanzleianschrift unter dem Namen meines Mannes, der dort postalisch überhaupt nicht erreichbar ist, weil er sich dort nie aufhält. Denn er arbeitet woanders, und wohnen tun wir eh woanders. Diverse Versuche, das Finanzamt dazu zu bewegen, die Schreiben unter meinem Namen meiner Kanzlei zuzuschicken, waren völlig ohne jeden Erfolg.
— Zahlen darf ich, logisch. Aber die Aufforderung kriegt e r.
Nun sagt man sich: Das paßt doch alles irgendwie nicht zusammen. Und ich überlege bereits, ob ich
diese ganzen Schreiben nicht zurückschicke mit der Begründung: Hier postalisch nicht erreichbar. —Dann können die ihre Mahnungen und ihre Festsetzungen woandershin jagen. Vielleicht überlegen sie es sich dann.
Aber das ist die soziale Wirklichkeit einer auf Männer ausgerichteten Rechtssprache. Daran müssen wir etwas ändern, denn Sprache prägt Bewußtsein. Es besteht hier eine gewisse Interdependenz, um dieses schöne Wort zu verwenden. Natürlich, Bewußtsein prägt Sprache, aber Sprache prägt auch Bewußtsein. Insofern müssen wir hier — nicht nur, um der gesellschaftlichen Wirklichkeit nachzukommen, sondern auch, um sie weiter und zusätzlich in unserem Sinne zu prägen — auf die Sprache einwirken. Da sind wir völlig einer Meinung, und wir sind im Ausschuß für Frauen und Jugend auch weitgehend einer Meinung gewesen.
Gehakelt haben wir uns an einem einzigen Punkt. Der Punkt war, oh immer und in jedem Fall, auch wenn die Lesbarkeit wirklich erheblich beeinträchtigt wird — —
— Moment, ich will hier mal ein kleines Beispiel verlesen, das Sie nun nicht für tragisch halten mögen.
Frau Kollegin, gestatten Sie vorher eine Frage der Kollegin Wolf?
Ja, freilich.
Frau Kollegin, Sie erinnern sich, daß wir auch darüber gesprochen haben, was Worte bedeuten. Sie sind Juristin und können es einem besser verdeutlichen. Wir haben gesagt: „grundsätzlich nicht". Und daraufhin hat man uns gesagt: „Grundsätzlich" heißt nicht, daß man nicht Ausnahmen zuläßt. Würden Sie das bestätigen?
Also, wir waren da verschiedener Ansicht. Das „grundsätzlich" war genau der Drehpunkt. Da haben wir versucht, uns an Beispielen zu orientieren, was wir denn jeweils meinen. Ich finde es ganz gut, nicht nur etwas zu formulieren, sondern auch zu wissen, was man damit eigentlich meint.Der Knackpunkt war z. B. folgender: Ich hatte die Formulierung aus dem Verfassungsentwurf des Kuratoriums vorgetragen — Sie kennen sie, Frau Schenk —, Art. 69 Abs. 3 GG, die da lautet — ich trage das hier mal vor —:Auf Ersuchen der Bundespräsidentin oder des Bundespräsidenten ist die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler, auf Ersuchen der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers oder der Bundespräsidentin oder des Bundespräsidenten eine Bundesministerin oder ein Bundesminister verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung ihrer
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Susanne Rahardt-VahldieckNachfolgerin oder seines Nachfolgers weiterzuführen.
Sind Sie zur Beantwortung einer weiteren Frage bereit?
Ja.
Frau Rahardt-Vahldieck, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß es unterschiedliche Wahrnehmungsmöglichkeiten gibt, wenn man einen Text hört und einen Text liest? Wenn Sie das hier vortragen, mag es unverständlich erscheinen. Ich behaupte aber, daß dieser Text, wenn man ihn liest, sehr wohl verständlich ist. Stimmen Sie mit mir darin überein?
Also, Frau Schenk, das kommt ein bißchen darauf an. Ich finde den Text, auch wenn ich ihn lese, schwer nachvollziehbar. Ich muß auch sagen, daß es in einigen Landesverfassungen oder Landessatzungen, die sich dem löblichen Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter in der Rechtssprache verpflichtet gefühlt haben — ich nenne nur Schleswig-Holstein —, Paragraphen oder Artikel gibt, die ich kaum verstehe, wenn ich sie lese. Aber wenn jetzt noch mit Querverweisen und dem „-in" oder „und" oder wie auch immer gearbeitet wird, dann verstehe ich sie überhaupt nicht mehr. Und ich bin Juristin, habe also Jura studiert, so daß es mir leichter fällt, so etwas zu begreifen, als Leuten, die diese Ausbildung nicht hinter sich gebracht haben.
Da war bei uns der Dreh- und Angelpunkt, daß wir gesagt haben: Soweit es irgendwie geht, muß, bevor es zu derartigen Satzungetümen kommt, die wirklich nicht mehr nachvollziehbar sind, eine Bremse eingezogen werden. Das war der allereinzige Unterschied, Frau Wolf. Darin werden Sie hoffentlich mit mir einer Meinung sein.
Es stört mich, daß es auf Formularen immer heißt: „der Antragsteller" und, wenn man Glück hat, noch „die Ehefrau". Daß eine verheiratete Frau vielleicht auch mal einen Antrag stellt, das scheint auf diesen rechtlichen Formularen, die in der Gerichtspraxis von Bedeutung sind, keine große Rolle zu spielen.
Mich stört auch, wenn ich immer lesen muß: „ D e r Bundesminister für Frauen und Jugend", obwohl wir sehr wohl wissen, daß es sich in diesem Fall um eine Ministerin handelt. Und wenn die Behördenbezeichnung, wohlgemerkt, ganz einfach in „das Bundesministerium" umgewandelt werden könnte, ohne daß das Geschlecht des Amtsinhabers eine Rolle spielt, dann sind das Dinge, bei denen wir energisch der Meinung sind, da müßte man etwas tun.
Wir sind auch der Meinung, daß der Bericht der Bundesregierung — vorsichtig formuliert — da eine Spur zu mager ist. Das haben wir auch ganz eindeutig so gesagt. Wir wollen keine unverbindlichen Empfehlungen. Wir wollen glasklare Anweisungen. Wir wollen Kontrolle. Wir wollen Berichte. Wir wollen nicht, daß dieses Papier im Sande versackt und noch weitere
Jahre ins Land gehen, in denen es „der Bundesminister für Frauen und Jugend" heißt.
Wir wollen Engagement der Bundesregierung mit der entsprechenden Berichtspflicht gegenüber diesem Haus. Jedes Engagement, auch dieses so wichtige frauenpolitische Engagement, muß aber ein gewisses Augenmaß zeigen. Wenn wir dieses Augenmaß verletzen und mit Forderungen kommen, die auf der einen Seite mehr einreißen als auf der anderen Seite aufbauen, dann halte ich das auch im Interesse der Frauen für politisch unklug.
Sie haben die Verfassung angesprochen. Mir wäre auch sehr lieb, wenn es möglich wäre, die Verfassung umzuformulieren. Aber für mich persönlich ist es wichtiger, daß wir die von uns allen gewollte Ergänzung zu Art. 3 Abs. 2 GG bekommen, die uns frauenpolitische Handlungsmöglichkeiten für alle unsere Wählerinnen und Bürgerinnen eröffnet, als auf Nebenkriegsschauplätzen zu versuchen, Art. 69 Abs. 3 GG von einem sowieso schon schwer verständlichen in einen völlig unverständlichen umzuwandeln.
Grundsätzlich sind wir uns einig. Wir sehen das allerdings etwas maßvoller, weil wir glauben, daß damit am Ende für die Frauen mehr zu erreichen sein wird. Unser Petitum lautet daher, der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen.
Danke schön.
Ich erteile der Kollegin Uta Würfel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn ein kleines Experiment mit Ihnen machen: Welche Assoziationen haben Sie bei dem Satz „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher", welche bei dem Satz „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche"? Die meisten von Ihnen werden sich ganz selbstverständlich bei dem ersten Satz einen Mann vorgestellt haben und bei dem zweiten Satz eine Frau. Was nun verbinden Sie mit folgendem Satz: „Die Inhaber dieser Pässe sind Deutsche "? Haben Sie nur an Männer gedacht oder an Männer und Frauen? Ganz sicherlich haben Sie sich nicht eine Gruppe vorgestellt, die nur aus Frauen besteht. Wie Sprache unser Bewußtsein prägt, kann man — glaube ich — an diesem Experiment erfahren.In den letzten 20 Jahren haben im Zuge der Frauenbewegung insbesondere Sprachwissenschaftlerinnen unsere deutsche Sprache gewissenhaft analysiert und festgestellt, daß Sprache eine immens wichtige Bedeutung hat, wenn es darum geht, unser Lebensbild zu erfassen. Jedes Wort ruft in uns Vorstellungen wach, knüpft an Erfahrungen an und wird ein Teil unserer inneren Sprache. Sprache ist ein Hilfsmittel, das Hilfsmittel, mit dem wir unsere Wirklichkeit konstruieren, sie beschreiben und bewerten. Sprache spiegelt deshalb auch Verhältnisse der Unterordnung und der Dominanz wider, so auch gesellschaftliche Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen. Sprache markiert, was wichtig ist und unwichtig; denn durch Sprache vermitteln wir Normen.
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Uta WürfelAn einem Beispiel möchte ich Ihnen dies verdeutlichen: Unsere Sprache gibt vor, daß der handelnde Mensch, der tatkräftige, der sich nach außen orientierende Mensch der Mann ist. Warum heißt es „der Sekretär des Ausschusses für Frauen und Jugend", auch wenn eine Frau dieses Amt bekleidet? Sie stellen fest, daß die Bezeichnung „Sekretärin" nicht die weibliche Parallelform ist. Auch hier klafft eine Hierarchielücke.Ein „Fräulein" wird erst durch die Heirat mit einem Mann zu einer „Frau", wobei das „Fräulein" bis vor kurzem auch noch den männlichen Familiennamen übernahm. Ein „Jungchen", das mit der Eheschließung zum „Herrn" wird, gibt es in unserer Sprache nicht. Der gesellschaftlich geringere Status einer unverheirateten Frau klingt beispielsweise auch in der Formulierung „spätes Mädchen" nach.
Frauen waren jahrhundertelang nicht nur rechtlich benachteiligt, was inzwischen niemand mehr bestreitet, sondern kamen auch in der sprachlichen Wirklichkeit nur eingeschränkt vor. Seit altersher werden Frauen in unserer Sprache der Dichter und Denker — haben Sie jemals von einer „Denkerin" gehört? — unter der männlichen Bezeichnung subsumiert. Unter den Vätern des Grundgesetzes — selbstverständlich nur „Väter" des Grundgesetzes — waren vier Frauen. Hat man — „man" mit einem „n" natürlich — sie nur vergessen, oder stehen andere Fragen dahinter?Frauen sollen sich mit der männlichen Sprachform angesprochen fühlen: Wissenschaftler, Anwalt, Geldgeber, Darlehensnehmer, Bauherr, Bevollmächtigter, Gutachter. Die Mehrzahl der Frauen fühlt sich heute nicht mehr angesprochen, wenn die ausschließlich männliche Bezeichnung gebraucht wird.Fühlen Sie sich, meine Herren, eigentlich angesprochen, wenn ich formulieren würde: Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Expertinnen aus der Wirtschaft diskutierten miteinander? Stellen Sie sich vor Ihrem geistigen Auge dabei tatsächlich Männer vor?Sprache schafft Identifikation. Mit Worten erzeugen wir Bilder, auch Vorbilder. Sie sind wichtig vor allen Dingen für Mädchen und Jungen, damit sie ihre Rolle in der Gesellschaft finden und ihr Selbstverständnis entfalten. Die deutsche Amts- und Rechtssprache muß also der heutigen gesellschaftlichen Realität angepaßt werden. Sie findet damit Anschluß an die Differenzierungen, die in unserer Alltagssprache inzwischen gemacht werden; denn — die Kolleginnen haben es schon gesagt — die Alltagssprache hat sich ja inzwischen zu einer geschlechtsneutralen Sprache entwikkelt. Damit werden Frauen in ihrer Qualität, in ihrer Lebenswirklichkeit nicht mehr unterschlagen. Sie kommen in der Sprache vor. Das dient uns allen und ist ein weiterer kleiner Mosaikstein auf dem Wege der Gleichberechtigung, die ja bereits seit mehreren Jahrzehnten im Grundgesetz verankert ist und in der Lebenswirklichkeit noch nicht überall durchgesetzt werden konnte.
Die Abgeordnete Frau Christina Schenk hat das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben uns hier zum wiederholten Male mit der leidigen Tatsache auseinanderzusetzen, daß der Sprachgebrauch in dieser Gesellschaft noch immer überwiegend maskulin, d. h. auf Männer fixiert ist, sich an Männern orientiert und der Existenz von Frauen in vielen Fällen die Widerspiegelung in der Sprache einfach verweigert wird.Wir haben es zugegebenermaßen im deutschen Sprachraum besonders schwer. Es gibt auch Sprachen, bei denen dieses Problem entweder gar nicht oder nur in sehr viel geringerem Maße auftritt. Dennoch, meine ich, sind weder die Bundesregierung noch der Bundestag durch diesen Umstand aus der Pflicht entlassen, dafür zu sorgen, daß wenigstens in ihrem Einflußbereich eine Sprache benutzt wird, die nicht von vornherein über 50 % der Bevölkerung einfach ausgrenzt.Die Anwendung des generischen Maskulinums ist absolut keine Bagatelle — sie wirkt repressiv und ausgrenzend, was durchaus Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Frauen hat. Die Verwendung des generischen Maskulinums sowie einer ausschließlich männerbezogenen Sprache überhaupt führt dazu, daß Frauen und Mädchen Ausgrenzung nicht nur erleiden, sondern diese auch verinnerlichen. Wenn stets und immerfort nur die Rede ist von dem Architekten, dem Lehrer, dem Chefarzt usw., können sich junge Frauen und Mädchen mit einem Leben als Ingenieurin, Chefärztin oder Journalistin natürlich viel schlechter identifizieren als Jungen oder junge Männer. Insofern ist die Forderung nach einer geschlechtsneutralen Sprache, die Anwendung des großen „I" bzw. die regelmäßige Nennung beider Geschlechter nicht etwa ein Spleen von Feministinnen oder der Gag einer linken Tageszeitung, sondern wir meinen es damit sehr ernst.
Die erste Debatte zu diesem Thema fand in diesem Hause — wie ich mich informiert habe — im November 1987 statt. Da ist es doch verwunderlich, wenn Frauen dennoch immer noch zugemutet wird, mit dem deutschen Euroreisepaß, der jünger ist als diese Diskussion, durch die Welt zu reisen, in dem steht: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher."Ich frage mich, wie lange die Geduld von Frauen noch strapaziert werden wird, ehe sich die Regierung zu konkretem Handeln bemüßigt fühlt.Leider mangelt es auch der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend zu den maskulinen und femininen Personenbezeichnungen in der Rechtssprache an Konsequenz, indem es z. B. dort heißt, daß auf die Verwendung des generischen Maskulinums in der Vorschriftensprache nur „soweit als möglich" verzichtet werden sollte, wobei dann die Begründungen für eine Nichtbefolgung dieser Forderung gleich noch mitgeliefert werden. Die Lesbarkeit und die Verständlichkeit dürften nicht beeinträchtigt werden, heißt es da — als ob das nicht vorrangig eine Frage der Gewohnheiten wäre! Diese Debatte über
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Christina Schenkden Sprachgebrauch dient ja gerade dazu, die Gewohnheiten zu ändern. Änderungen also nur, wenn es bequem ist — sonst kann im wesentlichen alles beim alten bleiben.Das, meine Damen und Herren, kann doch nicht der Endpunkt der Debatte um eine Frauen nicht diskriminierende Sprache sein! Wir wollen, daß im täglichen Sprachgebrauch stets die männliche und die weibliche Wendung benutzt wird, wenn es um Männer und Frauen geht. Wir wollen, daß alle Gesetze — wozu es gewiß eines angemessenen Zeitraums bedarf — sprachlich so umgearbeitet werden, daß deutlich wird, daß Männer und Frauen gemeint sind. Und wir wollen, daß neue Gesetze von vornherein in geschlechtsneutraler Sprache verfaßt werden. Solange das keine Selbstsverständlichkeit ist, werden Frauen dieses Folgeproblem einer sexistischen Denkweise immer wieder thematisieren — auch hier in diesem Hohen Hause.
Das Wort hat nunmehr die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Cornelia Yzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sprache ist nichts ein für allemal Feststehendes. Wie wir sprechen, wie wir Worte gebrauchen, hängt auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammen, in denen wir leben. Deshalb kann Sprache auch nicht unberührt bleiben von den veränderten Beziehungen zwischen Männern und Frauen in unserer Gesellschaft.
Gerade in der hier zur Debatte stehenden Rechtssprache wird deutlich, daß Frauen sehr oft gar nicht oder nur beiläufig wahrgenommen werden. Wir wissen es ja auch aus dem Alltag: Wer von uns Frauen hätte nicht schon einmal die Erfahrung gemacht, daß in einer Versammlung nur die „Sehr geehrten Herren" begrüßt wurden? Darin spiegelt sich ein Bewußtsein wider, das noch immer von der Vorstellung geprägt ist, etwa die Politik sei eine männliche Domäne.
In der Tat: Politik war lange Zeit — bis weit in unser Jahrhundert — Domäne der Männer. Sie allein hatten das Wahlrecht, sie bestimmten die politische Willensbildung in Parteien, Parlamenten, Regierungen und Verwaltungen. Eine Vielzahl bedeutender Gesetzesbücher, über die wir heute verfügen, stammt aus einer Zeit, in der Frauen als politisch, sozial und rechtlich gleichberechtigte Menschen nicht wahrgenommen wurden. Die Folge: Mandate, Ämter und Funktionen waren von Männern besetzt. Gesetze und Verordnungen sind ohne die Mitwirkung von Frauen zustande gekommen.
Es kann also nicht wundern, wenn die Rechtssprache festgefügte Rollenzuweisungen und Leitbilder widerspiegelt, wonach die Frau im öffentlichen Bereich nichts zu suchen hat.
Frauen wird von unserer Rechtsordnung heute die Gleichberechtigung garantiert. Frauen nehmen am politischen und öffentlichen Leben teil. Es gibt ein
partnerschaftliches Miteinander von Männern und Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen und auf allen Ebenen. Immer mehr Frauen nehmen politische Mandate wahr. Von öffentlichen Ämtern und Funktionen sind sie nicht länger ausgeschlossen.
Doch dieser Wandel in der Gesellschaft hat sich noch immer nicht auf die Rechtssprache ausgewirkt. Es ist an der Zeit, daß sich dies ändert. Ich unterstütze deshalb die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend. Die Bundesregierung wird darin aufgefordert, sicherzustellen, daß den Empfehlungen der Arbeitsgruppe Rechtssprache in den Ressorts gefolgt wird.
Ich meine, daß diese Empfehlungen sinnvolle und vernünftige Vorschläge enthalten. Sie schießen nicht in ideologischer Verkehrung über das Ziel hinaus. Es geht nämlich nicht um eine Feminisierung der Sprache; auch das grammatikalische System soll nicht verändert werden. „Die Regierungsdirektor" wird es auch in Zukunft ebensowenig geben wie das große Binnen-I. Aber es wird dafür Sorge getragen, daß Frauen in Zukunft auch als Frauen angesprochen und somit nicht länger übersehen, verschwiegen oder ausgegrenzt werden.
Es kommt darauf an, die Empfehlungen auch in der Praxis anzuwenden. Die Bundesregierung wird dem Ausschuß für Frauen und Jugend darüber Bericht erstatten.
Ein Beispiel aus meinem eigenen Verantwortungsbereich möchte ich aber schon jetzt nennen: Im Referentenentwurf des Gleichberechtigungsgesetzes haben wir die Vorgaben der Beschlußempfehlung bereits durchgehend berücksichtigt. Er belegt, daß dies nicht auf Kosten der Lesbarkeit und Verständlichkeit geht.
Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um die Gleichberechtigung in der Rechtssprache ist nicht neu. Schon 1912 hatte der Journalist und Sprachkritiker Karl Kraus Anlaß zu der Bemerkung:Die Frauenrechtler mögen verzweifeln, aber es läßt sich nun einmal nicht ändern: Die Sprache hält mit dem Mann. Sie ist noch immer nicht emanzipiert.Damals wurde aus der Verwendung der männlichen Sprachform in Rechtsvorschriften auf fehlende Rechte von Frauen geschlossen, etwa wenn man 1912 einer Frau den Einzug in den böhmischen Landtag verweigern wollte, weil es im Gesetz hieß: „Als Landtagsabgeordneter ist jeder gewählt, der . . .".Diese rechtliche Ungleichbehandlung ist heute nicht mehr das Problem. Heute konzentriert sich die Kritik auf die Rechtssprache, weil sie nicht die heutige Stellung der Frau in Beruf und Gesellschaft widerspiegelt, weil Frauen darin nicht vorkommen, weil sie sich
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Parl. Staatssekretär Rainer Funkenicht angesprochen fühlen können, weil sie nicht länger nur „mitgemeint" sein wollen.Diese kritische Haltung unserer Sprache gegenüber wird inzwischen ernst genommen und akzeptiert. Das war nicht immer so. Bis hierhin war es ein mühsamer und ein langer Weg; ein Weg, der mit kontroversen Auffassungen, zuweilen auch mit gegenseitigen Vorwürfen von Frauen und Männern, mit überspannten Vorstellungen und unsachlichen Repliken begann.Die Arbeitsgruppe Rechtssprache hat mit ihrem Bericht wesentlich zur Versachlichung der Diskussion beigetragen. Sie hat mit vielen Beispielen aufgezeigt, wo ein Handlungsbedarf besteht, und sie hat praktikable und sprachlich annehmbare Vorschläge unterbreitet.Inzwischen haben Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung in manchen Gesetzesvorlagen und Beschlüssen bereits einige der Lösungsvorschläge berücksichtigt. Ich möchte einige Beispiele nennen: Die „Vertrauensmänner" sind inzwischen weitgehend in „Vertrauenspersonen", die „Wahlmänner" in „Delegierte" umbenannt worden. Nach Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wird nicht mehr „der Älteste der Wahlmänner den Wahlmännerausschuß" einberufen, sondern „das älteste Mitglied des Wahlausschusses den Wahlausschuß". Den Ausdruck „Frauensperson" wird es im Bürgerlichen Gesetzbuch nicht mehr geben. Zeiten der Schwangerschaft werden nicht mehr auf Ausbildungszeiten eines „Schülers" angerechnet, sondern auf die Ausbildungszeiten einer „Schülerin" . Erst kürzlich ist § 180 b StGB in einer sprachlich angemessenen Fassung hier im Bundestag beschlossen worden.Diese Beispiele zeigen, daß die Empfehlungen der Arbeitsgruppe Rechtssprache nicht ohne Wirkung geblieben sind. Es geht nun darum, auf diesem Wege nicht stehenzubleiben, sondern beharrlich bei weiteren Gelegenheiten die passenden Änderungen vorzunehmen. Von allen Vorrednerinnen ist darauf hingewiesen worden, daß das Wort „Inhaber" eines Passes geändert werden sollte. Es sollte demnächst die Möglichkeit bestehen, entsprechende Änderungen in Formularen und auch in den jeweiligen Paßvorschriften vorzunehmen. Das dürfte außer Frage stehen.Daß das Thema nicht an Aktualität verloren hat, zeigt außerdem die Forderung nach einer sprachlichen Überarbeitung des Grundgesetzes, die von Frauenpolitikerinnen und Frauenverbänden nachhaltig erhoben und von der Kommission „Verfassungsreform" des Bundesrates unterstützt wird.Sicherlich wird es auch eine Reihe von Fällen geben, in denen Lösungen nicht einfach zu finden sind und in denen sprachwissenschaftlicher Rat notwendig ist. Aber ich bin sicher, daß wir mit der Zeit immer mehr gute Formulierungen in Gesetzesvorschriften finden werden. Doch müssen wir bei allem berechtigten Bestreben um eine Bereinigung der Rechtssprache stets auch die Lesbarkeit und Verständlichkeit von Vorschriften im Blick behalten.Für die Zukunft ist es daher wichtig, daß wir im Hinblick auf sprachliche Ausdrucksformen noch sensibler werden und daß wir die Empfehlungen mit Nachdruck umsetzen. Wir sollten allerdings nichtglauben, daß damit schon die Gleichberechtigung, die Emanzipation umgesetzt wird. Das muß vielmehr in erster Linie im gesellschaftlichen und politischen Leben erfolgen. Daran wollen wir gemeinsam arbeiten.Vielen Dank.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD, Drucksache 12/4095, zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Frauen und Jugend auf Drucksache 12/2775 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Bei Enthaltung der Oppositionsfraktion und -gruppen ist die Beschlußempfehlung angenommen.Ich rufe den Punkt 16 a bis c der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts — §§ 177 bis 179, 184c StGB— Drucksache 12/1818 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts
— Drucksache 12/2167 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugendc) Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sexualstrafrechts und strafprozessualer Regelungen bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen— Drucksache 12/3303 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und JugendDer Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.Ich eröffne die Debatte. Zunächst hat der Abgeordnete Hans de With das Wort.
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11526 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die offizielle Bezeichnung des jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkts — erste Beratung der Entwürfe von Gesetzen zur Änderung des Sexualstrafrechts — verbirgt eher, als daß sie sagt, worum es im Kern eigentlich geht. Es geht darum, daß endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe wie jede andere Vergewaltigung unter Strafe gestellt wird, daß die von der Rechtsprechung hierzu geschaffene Einengung des Gewaltbegriffs beseitigt wird und daß jedwede Vergewaltigung, nicht nur die des Mannes gegenüber der Frau, gleichermaßen der Strafdrohung unterliegt.Wir Sozialdemokraten unternehmen mit der heutigen Vorlage seit 1972 — Sie haben richtig gehört: seit 1972 — den vierten Versuch, die von der Frau wohl am schmerzlichsten empfundene Demütigung endlich unter Strafe zu stellen.Als ich im Strafrechtsonderausschuß im Rahmen der Reform des Sexualstrafrechts am 1. März 1972 einen entsprechenden Antrag stellte, wurde dieser einen Tag danach mit vier gegen fünf Stimmen bei einer Stimmenthaltung abgelehnt. Es dauerte zehn Jahre, bis es zur nächsten Vorlage kam. Der Versuch der Sozialdemokraten 1983 — mittlerweile lagen die Erfahrungen und Informationen aus den Frauenhäusern vor — scheiterte ebenso wie unser dritter Anlauf 1987.Wurde anfangs als Gegenargumente ins Feld geführt, der Staatsanwalt habe im Schlafzimmer nichts zu suchen — Herr Engelhard erinnert sich vielleicht —,
Vergewaltigung in der Ehe sei schon wegen Nötigung und/oder Körperverletzung strafbar, und in der Praxis scheitere eine solche Strafbestimmung auf alle Fälle an der Beweisfrage, so wurde seit 1987 als neu vornehmlich von der CSU vorgetragen, eine solche Vorschrift weite die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche aus.
Immerhin — das sei als wohltuend angemerkt bekannten sich auch im Plenum des Deutschen Bundestags die Vertreter von CDU und F.D.P. zu der Notwendigkeit einer Strafdrohung. Inzwischen hatten sich nämlich die Sachverständigen allenthalben in der Bundesrepublik Deutschland in Anhörungen weit überwiegend — man kann beinahe sagen: in erdrükkender Weise — für die Schließung dieser Lücke stark gemacht. Es gab eine entsprechende Entwicklung auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland.Wenn ich jetzt innerhalb von 21 Jahren zum viertenmal das Erfordernis der Einführung einer Strafvorschrift für die Vergewaltigung in der Ehe begründe, dann wende ich mich vornehmlich an die CSU. Ich hoffe, es ist noch jemand im Plenum, der zuhören kann.
Worin unterscheiden sich die Vergewaltigungen in der Ehe und die unter getrennt lebenden Eheleuten von der Vergewaltigung bei in eheähnlicher Gemeinschaft Lebenden und solchen ohne diese Beziehungen? In nichts. Allenfalls in einem zusätzlichen Vertrauensbruch für das Opfer. Ehe heißt doch auch besondere Rücksichtnahme aufeinander.Im Grund aber sehen wir darin, sich diesem Antrag zu versagen, ein Versagen vor der Korrektur einer Geschichtsentwicklung, die wir Männer zu verantworten haben. Von dem patriarchalischen Gebot „Das Weib sei dem Manne untertan" über den Filmtitel „Die Frau gehört mir" und die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gebotene Pflicht zum ehelichen Verkehr bis zur Eherechtsreform 1976 kann über die Forderung nach der sexuellen Verfügbarkeit der Frau eine wirklich bedrückende Geschichte geschrieben werden.Dieser über Jahrhunderte nachvollziehbare gesellschaftliche Mangel an wirklicher Partnerschaft im sexuellen Bereich zwischen Frau und Mann hat seine Auswirkungen noch heute. Das ist sicher unbestreitbar. Wie kann eigentlich der Bundesgerichtshof noch 1985 verlangen, daß unter Gewalt beim Erzwingen des Geschlechtsverkehrs gegenüber der Frau nur tatsächliche körperliche Gewalt verstanden werden darf, wohingegen derselbe Bundesgerichtshof bei der Nötigung den Gewaltbegriff — wie es so schön heißt — „vergeistigt" hat, und das, obwohl die Polizei landauf, landab generell empfiehlt, in diesem Fall keinen sinnlosen Widerstand zu leisten? Der zu demütigenden Frau kann es gleichgültig sein, ob ihr Widerstand durch tatsächliche, körperlich erkennbare Gewalt gebrochen wird oder durch das Versetzen in eine völlig aussichtslose Lage, in der jeder Widerstand das Geschehen nur noch verschlimmert. Wir alle kennen aus der täglichen Praxis die achselzuckende Bemerkung: Wie die sich auch anzüglich verhalten hat! Leider müssen wir feststellen, daß in unserer Zeit noch immer genügend Filme und Bücher den rüden Draufgänger verherrlichen.Natürlich kennen wir den Vorwurf, der da lautet: Beim § 218 verneinen Sie die sittenprägende Kraft des Strafrechts, und hier halten Sie sie hoch.
Das ist nichts anderes als ein doppelt falsches Pauschalurteil. Zunächst einmal verbietet es sich, uns dieses Schlagwort zuzuordnen. Zum anderen sollte seit Adolf Arndts Rede auf dem Deutschen Juristentag 1968 in Nürnberg über „Strafrecht in einer offenen Gesellschaft" — es ging vornehmlich um das Sexualstrafrecht — klar sein, daß wir das Strafrecht allein bei sozialschädlichem Verhalten, also einem „unwiderbringlichen Rechtsverlust" — was hier in beiden Fällen zutrifft —, als letztes Mittel ansehen. Es sollte klar sein, daß wir diesem letzten Mittel nur dann die Bedeutung nicht absprechen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte auf eine Wirkung hindeuten und sich damit die Strafandrohung legitimiert, also ein stumpfes Schwert nicht entsteht.Bei der einzigartigen Situation der Frau aber, in der diese als Schwangere bei einem Abbruch Opfer und Täter zugleich ist, und nachdem weit mehr als hundert Jahre bewiesen haben, daß die bloße Strafdrohung
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Dr. Hans de Withzum Schutz des werdenden Lebens — zumindest in den ersten drei Monaten — leerläuft, muß und kann gewagt werden, akzeptablere und wirksamere Einwirkungsmöglichkeiten zu schaffen.Eine Frau kann auch auf andere Weise als durch vaginalen Verkehr sexuell gedemütigt werden. Schließlich kann — um nur ein Beispiel zu nennen — ein Mann von einem Mann vergewaltigt werden. Weil das so ist, wollen wir den derzeitigen Vergewaltigungsparagraphen, der nur die Vergewaltigung der Frau durch vaginalen Geschlechtsverkehr unter Strafe stellt, erweitern und zusätzlich geschlechtsneutral fassen. Schließlich haben wir in die Strafvorschrift, die die Nötigung zum Beischlaf betrifft den Begriff „unter Ausnutzung einer hilflosen Lage" eingefügt, um auch diese bisher nicht erfaßten Handlungen, weil sie gleichermaßen kriminell sind, unter Strafe zu stellen.Das Verhalten der Menschen in unserer Zeit scheint mir — bei allen kriminellen Auswüchsen — im Umgang zwischen Mann und Frau partnerschaftlicher geworden zu sein. Natürlich können wir nur schwerlich messen, ob und wie heute Angriffe gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frau mehr als noch vor zehn Jahren gesellschaftlich tabuisiert oder gar geächtet werden. Aber wir können und müssen etwas tun, um das Bewußtsein zur unbedingten Achtung der körperlichen Integrität in seinem wohl empfindlichsten Bereich, der sexuellen Selbstbestimmung, zu fördern.Ich sage vorsichtig: Ich hoffe, daß wir keinen fünften Anlauf benötigen.Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Horst Eylmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Passiert in der Ehe eine Vergewaltigung, so ist es keine. So will es jedenfalls unser Strafgesetzbuch. Der Grund dafür liegt in der Rechtsgeschichte. Sowohl nach römischen als auch nach germanischen Rechtsvorstellungen stand die Ehefrau unter der Vormundschaft und Herrschaft ihres Mannes. Demgemäß war es sein gutes Recht, den Geschlechtsverkehr zu verlangen und ihn notfalls zu erzwingen, wann immer es ihm paßte. Er nahm sich damit nur, was ihm rechtlich zustand.Nun bekennt sich ja heute kein halbwegs ernstzunehmender Mensch noch zu diesem Ehebild. Gesetzlich, im BGB, ist die Ehe ja ganz anders geregelt. Aber es finden sich in unseren Gesetzen noch Spuren aus grauer Vorzeit. Die Beschränkung der Vergewaltigung auf den „außerehelichen Beischlaf" — so heißt es in § 177 StGB — ist solch ein lebendes Fossil.Es hat in den letzten beiden Jahrzehnten nicht an Versuchen gefehlt — Herr Kollege de With hat das berichtet —, diesen Anachronismus zu beseitigen. Die Koalitionsfraktionen standen in der letzten Wahlperiode kurz vor der Einigung über einen im BMJ erarbeiteten Gesetzentwurf. Die Sache scheiterte an einer unseligen Verquickung mit dem § 218 StGB.Ein Teil meiner Fraktion vertrat die Auffassung, die auf eine Vergewaltigung zurückzuführende Schwangerschaft dürfe dann nicht zum Schwangerschaftsabbruch berechtigen, wenn der Vergewaltiger der eigene Ehemann gewesen sei.Ich mache keinen Hehl daraus, daß mich dieses Argument nicht überzeugt hat; aber eine Auseinandersetzung mit diesem Problem führt uns ja nicht weiter. Sie ist auch überflüssig, da nach Auffassung der überwältigenden Mehrheit dieses Hauses der Tatbestand der kriminologischen Indikation in Zukunft entfallen soll. Das gilt sowohl für die gesetzliche Neuregelung, über deren Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht in Kürze entscheiden wird, als auch für den Mehrheitsentwurf der Union, der nur noch eine einheitliche Indikation der psychosozialen Notlage enthielt. Damit bestehen, wie ich meine, guteVoraussetzungen dafür. endlich eine Änderung des § 177 StGB zu erreichen.Wenngleich die Einsicht, daß es an der Zeit ist, die Privilegierung der Vergewaltigung der eigenen Ehefrau zu beseitigen, in den letzten Jahren allseits gewachsen ist, gibt es dennoch, insbesondere unter den Männern, eine Reihe von ausgesprochenen, vor allem aber unausgesprochenen Bedenken und Vorbehalten. Soweit es die Zeit erlaubt, werde ich mich damit kurz auseinandersetzen.An Anhängerschaft verloren hat und im Grundenicht mehr ernst zu nehmen ist ein Argument, dasnoch 1988, vor fünf Jahren, von einem anerkanntenKommentator des Strafgesetzbuchs, Herrn Dreher, ineinem Leserbrief vertreten wurde. Ich zitiere:Nun begeht zwar der Mann, der seine Frau vergewaltigt, gewiß ein verwerfliches und strafwürdiges Unrecht, aber er holt sich nur, was ihm seine Frau zu gewähren grundsätzlich verpflichtet ist.Deshalb weise die sexuelle Gewalt im Ehebett einen deutlich geringeren Unrechts- und Schuldgehalt auf als der typische Fall der Vergewaltigung, bei dem ein fremder Mann eine Frau gewaltsam mißbraucht.Eine fürwahr merkwürdige Argumentation! Abgesehen davon, daß Raub im Strafgesetzbuch ja auch dann tatbestandsmäßig Raub bleibt, wenn der Räuber mit der Pistole eine fällige Geldforderung eintreibt, läßt sich doch die eheliche Geschlechtsgemeinschaft nicht als ein — im Gegensatz zum Bordellbesuch sittlich befürwortetes und rechtlich abgesichertes — Gläubiger-Schuldner-Modell darstellen, in dem jeder Teil auf Verlangen Ansprüche des Partners zu befriedigen hat.Die Ehe ist nach heutigem Verständnis auf ein partnerschaftliches Miteinander angelegt, in dem sich die sexuellen Beziehungen immer wieder neu kommunikativ entwickeln müssen. Hier kann und darf nichts einseitig verlangt, beansprucht und eingefordert werden. Vor allem bestimmt doch nicht allein der Mann den Zeitpunkt, zu dem ihm seine Ehefrau sexuell zur Verfügung zu stehen habe, etwa nach der
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Horst Eylmannbierschwangeren Rückkehr vom Herrenabend. Und weil er es nicht allein zu bestimmen hat, ist er innerhalb der Ehe auch nicht ein Gran mehr als außerhalb der Ehe berechtigt, seine Wünsche mit Gewalt durchzusetzen.
Im Gegenteil ließe sich aus dem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, den die Ehe genießt, folgern, daß sich ein Ehemann in gesteigertem Maß strafwürdig verhält, wenn er in einer solch engen menschlichen Gemeinschaft, in der sich jeder Partner notwendigerweise auch ein Stück weit in die Hand des anderen begibt und sich ihm anvertraut, seiner Aggression freien Lauf läßt und sie zur Durchsetzung sexueller Wünsche instrumentalisiert. Wie will man es denn eigentlich rechtfertigen, daß eine in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebende Frau einen besseren strafrechtlichen Schutz genießt als eine Ehefrau?
Schon seit langem streite ich für die Einbeziehung der ehelichen Vergewaltigung in den Tatbestand des § 177 StGB, vor allem unter diesem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit.Dem häufig von den Frauen in den Vordergrund geschobenen Argument, das Strafrecht müsse hier sittenbildend wirken, stehe ich skeptisch gegenüber. Gerade jetzt erleben wir überall in unserer Gesellschaft eine beunruhigende Zunahme von Gewalt, obwohl unsere Strafgesetze eindeutig jede Gewaltanwendung mißbilligen.Mein Ansatz ist ein anderer: Die gewaltsame Durchsetzung sexueller Ziele ist vom Gesetzgeber grundsätzlich als so sozialschädlich gewertet worden, daß er dafür einen besonderen als Verbrechen ausgestalteten Tatbestand zu schaffen für notwendig gehalten hat. Die Tatbestände der Nötigung und der Körperverletzung erschienen ihm nicht ausreichend, um den Unrechtsgehalt einer solchen Tat angemessen ahnden zu können.Die Frage ist nun, ob sich die Anwendung sexueller Gewalt gegen die eigene Ehefrau nicht nur graduell, sondern auch in ihrer Qualität so weitgehend von der Vergewaltigung einer anderen Frau unterscheidet, daß es gerechtfertigt ist, sie nicht unter diesen Tatbestand einzuordnen. Mir hat bisher niemand dafür einen plausiblen Grund nennen können.Einen gewissen populären Charme hat das Argument, wie man eine Vergewaltigung in der Ehe beweisen wolle. Der Staatsanwalt unterm Bett sei doch wohl das letzte, was man der Ehe noch wünschen könne.Das läßt sich leicht entkräften. Der oben erwähnte Kommentator des Strafgesetzbuches hält es für einen typischen Fall der Vergewaltigung, wenn ein fremder Mann eine Frau gewaltsam mißbraucht. Dieses Vorurteil scheint einfach nicht auszurotten zu sein. Als Kriminologe sollte es Herr Dreher allerdings besser wissen.Die Vergewaltigung ereignet sich auch außerhalb der Ehe in den meisten Fällen innerhalb einer schonbestehenden Zweierbeziehung. Täter und Opfer kennen sich mehr oder weniger intensiv. Das Spektrum der Fälle reicht von der Disko-Bekanntschaft, die sich später im Pkw nicht nach den Vorstellungen des Mannes entwickelt, über länger dauernde Beziehungen im Bekannten-, Freundes- und Verwandtenkreis bis hin zum eheähnlichen Zusammenleben.Der Mann hinterm Busch, der einer fremden Frau auflauert, ist einer der Tätertypen, aber nicht der häufigste in der Notzucht. Das beunruhigend Gefährliche sexueller Aggression liegt ja gerade darin, daß sie sich gegen ein Objekt richtet, das der Täter nicht verachtet, sondern zu dem er sich hingezogen fühlt und das er besitzen will.Es liegt auf der Hand, daß in solchen Fällen die Beweisschwierigkeiten groß sind — spektakuläre Fälle beweisen das immer wieder —, vor allem dann, wenn Spuren von Gewaltanwendung fehlen oder nicht mehr festgestellt werden können. Da Zweifel für den Angeklagten ausschlagen müssen, sind hier Freisprüche häufig unumgänglich, mögen sie von den betroffenen Frauen auch als empörend empfunden werden.Diese Beweisschwierigkeiten sind allerdings noch nie als ein Argument gegen die Strafbarkeit der Vergewaltigung schlechtin verwendet worden. Es ist daher wenig überzeugend, wenn man sie für die Straflosigkeit der ehelichen Notzucht ins Feld führt.Selbstverständlich werden auch bei einer ehelichen Vergewaltigung die Beweisschwierigkeiten in vielen Fällen erheblich sein. Andererseits zeigen praktische Fälle, daß auch hier Täter überführt werden können, insbesondere dann, wenn sie besonders roh vorgegangen sind. Vor einigen Monaten ging in Norddeutschland ein Fall durch die Presse, in dem während des Scheidungsprozesses der schon getrennt lebende Ehemann seine Frau unter dem Vorwand, mit ihr über Scheidungsfolgen sprechen zu wollen, in der ehelichen Wohnung aufgesucht und sie in Gegenwart eines fünfjährigen Kindes in besonders brutaler Weise vergewaltigt hat. Die Tat war klar beweisbar, der Täter konnte aber nur wegen Nötigung und Körperverletzung, nicht wegen Vergewaltigung, verurteilt werden.
Erneut frage ich. Was kann diese Privilegierung rechtfertigen?Ernster zu nehmen ist das Argument, der eheliche Intimbereich solle von staatlicher Ausforschung möglichst freigehalten werden. — In der Tat tut der Staat gut daran, sich nicht ohne Not in die eheliche Lebensgemeinschaft einzumischen. Dem Toleranzgebot entspricht es, daß nicht nur Eheleute in ihren vier Wänden das tun können, was ihnen beliebt, solange es nicht den Interessen schutzbedürftiger Personen widerstreitet.Gerade um diesen Schutz des meist physisch schwächeren Partners geht es aber hier. Deshalb halte ich eine Gesetzesänderung in diesem Punkt für notwendig.Ich will nur noch ergänzen: Wenn es jetzt um die Ausgestaltung geht, dann meine ich, der Schutz der
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Horst EylmannEhe gebietet es, der betroffenen Ehefrau ein Widerspruchsrecht gegen die Strafverfolgung einzuräumen. Ich glaube, wenn sie sich zutraut, mit diesem Mann weiterhin zusammenzuleben und ihn von seinen Aggressionen abzubringen, dann ist das mehr wert, als ihn ins Gefängnis zu stecken.
Es ist wirklich an der Zeit — lassen Sie mich das zum Schluß sagen —, die letzten Spuren eines überholten Ehebildes in unserem Strafgesetzbuch zu tilgen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel; sie gehört als ständige Bedrohung oder als erlittene Geschichte zur Wirklichkeitswahrnehmung aller Frauen. Sexuelle Gewalt hat unter den Bedingungen unserer partriarchalen gesellschaftlichen Strukturen eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Männern und Frauen, indem sie Frauen und Mädchen in nachhaltigster Weise deutlich macht, daß ihre Bedürfnisse und Willensäußerungen nicht von Bedeutung sind und weibliche Würde und Integrität verletzbar sind.
Das Recht auf den eigenen Körper und auf sexuelle Selbstbestimmung — für Männer eine Selbstverständlichkeit — ist für Frauen keineswegs selbstverständlich. Die existentielle Angst vor sexueller Gewalt ist in unserer Gesellschaft einer der zentralen Grundbestandteile eines Frauenlebens. Frauen leben nirgendwo — von den Nischen abgesehen, die sich lesbisch lebende in Teilbereichen aufgebaut haben — in ihrer eigenen Welt, sondern immer in der Welt der anderen, der Welt der Männer. Es gibt für Frauen und Mädchen keinen Ort, an dem sie in ihrer körperlichen und seelischen Integrität nicht bedroht und verletzt werden könnten. Gerade in den Räumen, die Geborgenheit bedeuten sollten, einschließlich der Familie und der Arbeitsplätze, geschieht die Hälfte aller sexuellen Straftaten.
Sexuelle Gewalt trifft Frauen und Mädchen im Zentrum ihrer weiblichen Existenz und wirkt lebenslang nach.
Extremster Ausdruck der bestehenden frauenfeindlichen Verhältnisse in der Gesetzgebung ist die Tatsache, daß Vergewaltigung in der Ehe bisher straffrei ist und daß in der Spruchpraxis diese Vergewaltigungsart als sexuelle Nötigung ein minder schwerer Fall ist. Der Schutz des Staates gilt bislang offensichtlich sehr wohl der Institution Ehe, nicht aber der Würde der Frau. Das ist nach meiner Meinung unerträglich.
Es ist notwendig, die gegenwärtige Rechtslage auf diesem Gebiet zu ändern und allen Frauen und Mädchen, unabhängig von der von ihnen gewählten Lebensform und von ihren verwandtschaftlichen Beziehungen, das Recht auf ungestörte Entwicklung
und Entfaltung der eigenen Sexualität und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Schutz der sexuellen Intimsphäre durch entsprechende Gesetze zu sichern. Das heißt eben auch, Frauen, die für sich die Form der Ehe gewählt haben, zu schützen und nicht dafür zu bestrafen.
Sexuelle Integrität und Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen müssen ungeteilt und uneingeschränkt und gegen jegliche Art ihrer Verletzung geschützt werden. Wir begrüßen es deshalb, daß aufs neue der wiederholte Versuch unternommen wird, die bestehende Rechtsprechung in Deutschland endlich zu ändern.
Meines Erachtens ist es aber notwendig, gleichzeitig über die Sinnhaftigkeit des bestehenden Sexualstrafrechts insgesamt nachzudenken. Dieses wird als solches ja recht unterschiedlich ausgestaltet und gehandhabt. Der endlich zu überholende § 175 diente in Deutschland seit 100 Jahren zur Diskriminierung homosexueller Männer und war real ein Eingriff in die Privatsphäre dieser betroffenen Personen. Andererseits ist das bestehende Sexualstrafrecht bisher nicht in der Lage bzw. nicht willens, Frauen innerhalb dieser Privatsphäre zu schützen.
Aus diesem Grund begrüßen wir diese Initiative der Vorlage der drei Gesetzentwürfe. Wir hoffen, daß es mit diesem vierten Versuch endlich gelingen möge, die bestehende katastrophale Rechtslage in Deutschland zu ändern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hans Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im gesamten politischen Raum ist es, soweit man dort artikulationsbereit ist, mittlerweile eine gefestigte Überzeugung, daß die Vergewaltigung in der Ehe ebenso verwerflich und damit unter Strafe zu stellen ist wie die Vergewaltigung außerhalb der Ehe. Wir wissen, daß wir das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen haben. Und es kann nicht richtig sein, daß mit der Eheschließung bei der Ehefrau Fremdbestimmung durch den Mann Platz greifen soll.Es ist bereits zu Recht betont worden, daß die Eheleute ja ein besonderes Vertrauensverhältnis miteinander verbindet und deswegen unter Umständen die Vergewaltigung in der Ehe besonders verwerflich sein kann. In einer Zeit, in der gerade in den Städten viele Bedenken haben, des Nachts die Straßen aufzusuchen, da ist die Wohnung der schützende Raum. Und dort, mit dem vertrauten Partner zusammen, da gibt man sich in besonderer Weise preis, man kann nicht glauben, daß nicht zumindest das der sichere Ort sein soll.Meine Damen und Herren, daß bei dieser Sachlage eine gesetzliche Regelung abschließend noch nicht
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Hans A. Engelhardbewirkt worden ist, gereicht ganz sicherlich der Gesetzgebung nicht zur Zierde.
Aber ich meine, wenn wir diesen langen, langen Weg einmal betrachten, den die Diskussion genommen hat, kann man auch die Hartnäckigkeit lobend erwähnen, mit der wir es nie aufgegeben haben, die Dinge weiterzutreiben.Es ist auch daran zu erinnern, daß es Schritt für Schritt gelungen ist, zu besseren Modellen und Lösungen zu kommen. Herr Kollege de With, das ist ganz klar: Es ist ein weiter Weg seit jenem Frühjahr 1972, als Sie im Strafrechtssonderauschuß des Deutschen Bundestags die Streichung des Begriffs „außerehelich" im § 177 StGB beantragt hatten.Dann gab es — um nur die wichtigsten Punkte zu nennen — ja immer den Plan, eine Sondervorschrift für die eheliche Vergewaltigung zu verankern — auch ein falscher Weg.Man hatte ehedem es beschränkt auf den „Beischlaf" des § 177 StGB. Abgewandt hat man sich davon.So bleibt ja auch für die SPD noch Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob es richtig sein kann, aus § 179 StBG — über sexuellen Mißbrauch Widerstandsunfähiger — das Wort „außerehelich" herauszunehmen, weil eine Überlegung gezeigt hat, daß man damit einer psychisch beeinträchtigten, ja gestörten Ehefrau unter Umständen die Möglichkeit des sexuellen Kontakts überhaupt nähme, weil ihr Ehemann damit in die Gefahr gebracht werden könnte, eine strafbare Handlung zu begehen.Über all das kann man sich unterhalten, und insofern kann dem langen Zeitraum auch etwas Positives abgewonnen werden.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat zu meiner Zeit als Minister ein Konzept entwickelt — ich habe es bei anderer Gelegenheit bereits vorgestellt —: die Zusammenführung der Tatbestände von Vergewaltigung und sexueller Nötigung in einer einzigen Bestimmung, die Gleichbehandlung von ehelichen und außerehelichen sexuellen Gewalthandlungen, die Gleichbehandlung der verschiedenen Penetrationsformen. Aber zu letzterem füge ich hier hinzu: Im Gesetzbuch hat das, wenn man es mit der deutschen Sprache ernst meint, nichts verloren. Jenes Konzept, das von der Bundesregierung im Bundesministerium der Justiz entwickelt worden ist, braucht solche Begriffe nicht. Es kommt mit der deutschen Sprache aus, denn gehen Sie einmal hinaus und fragen Sie den berühmten Mann, die berühmte Frau auf der Straße unvorbereitet, was sie von vaginaler, analer, oraler Penetration wissen, und Sie werden staunen: Nichts!
Wir können hier mit diesen Begriffen hantieren, sie haben Platz in Gesetzentwürfen, aber schließlich, im Bundesgesetzblatt und in den Gesetzestexten, sollten sie keinen Platz haben.Meine Damen und Herren, wir haben uns weiter in dem Konzept der Bundesregierung den gleichen Schutz von Frauen und Männern durch eine geschlechtsneutrale Tatbestandsbestimmung angelegen sein lassen. Dieser Text ist seinerzeit im Jahre 1988 mit Frau Professor Süssmuth als der damaligen Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit abgestimmt worden.Es kam dann zu jenem Punkte, den Herr Kollege Eylmann bereits erwähnt hat, zu dem Einwand, daß sich aus der Union Stimmen erhoben, die auf die kriminologische Indikation verwiesen mit dem Bedenken, daß davon von Ehefrauen Gebrauch gemacht werden könnte bis hin zu der sicherlich etwas verrückten Vorstellung, daraus könnte die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zahlenmäßig anwachsen. Wir wissen: Allenfalls 0,1 % der legal ablaufenden Schwangerschaftsabbrüche — derer, die angemeldet werden — werden auf diese Indikation gestützt. Deswegen kann man sich nicht vorstellen, daß da irgend etwas in eine falsche Richtung laufen sollte.Ich habe bei anderer Gelegenheit hier im Hause im übrigen darauf hingewiesen: Wer antritt, um die soziale Indikation einer verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen zu lassen, weil das ausgeweitet und kein vernünftiges Instrumentarium mehr sei, der wird doch nicht glauben, daß eine Ehefrau gar zu der wahrheitswidrigen Beschuldigung einer Vergewaltigung gegenüber ihrem Ehemann greift, um qua diesen Weg zu einer Indikation zu kommen! Nein, das ist das Problem nicht.Ich sage mit aller Deutlichkeit: Wer aus religiösen Gründen die Auffassung der kriminologischen Indikation vertritt und hier Bedenken hat, dem begegne ich mit Achtung. Die Bedenken teile ich nicht, und ich weise nachdrücklich darauf hin, daß in unserem Staat nach seiner Konstruktion solche Bedenken nicht zum Maßstab allgemeiner Gesetzgebung erhoben werden können.
Meine Damen und Herren, wir stehen jetzt vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum § 218. Wenn unsere Beschlüsse, die wir — gestützt auf den Gruppenantrag — am 25. Juni 1992 gefaßt haben, der verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten, was unserer Überzeugung entspricht, was aber auch unsere Hoffnung ist, dann gibt es auch keine kriminologische Indikation mehr, und die Sache ist hinfällig.Aber ich will ein kritisches Wort anfügen. Dann wird sich in dem Moment zeigen, ob die Verfechter der kriminologischen Argumentationskette wirklich das und nur das gemeint haben
oder ob es nicht bei manchen eine Möglichkeit war, sich wegen ganz anderer Argumente hinter einem solchen Argument verstecken zu können.
Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal ganz klar ansprechen. Ich kenne Kollegen, die gegen
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Hans A. Engelharddie Strafbarstellung der ehelichen Vergewaltigung Bedenken haben, aber das sind Kollegen, die sagen, worum es ihnen geht. Das sind strafprozessuale Vorstellungen und anderes, die ich für falsch halte, aber mit diesen Kollegen kann gesprochen werden. Mit wem man nicht sprechen kann, das sind die, die nicht im Arbeitskreis, nicht in ihrer jeweiligen Fraktion, nein, nirgends sich melden, sondern sich im verborgenen halten und allenfalls hinter vorgehaltener Hand sagen, daß man damit nicht einverstanden sein könne. Mit denen muß gesprochen werden, und notfalls müssen sie in ihrer Fraktion und dann insgesamt im Deutschen Bundestag überstimmt werden.
Auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wartet die Fraktion der Freien Demokraten mit hartnäckiger und entschlossener Geduld.
Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hierzulande wird noch immer mit erschreckender Blindheit und Blauäugigkeit die Ehe als die Idealform des Zusammenlebens eines Mannes mit einer Frau dargestellt. Wer sich den Blick auf die Realität nicht von diesen Trugbildern einer patriarchalischen Ideologie verkleistern läßt, wird feststellen, daß Frauen, die der Tradition und dem Leitbild Ehe bzw. den ökonomisch und rechtlich gesetzten Ködern folgen, das mit diversen gravierenden Nachteilen bezahlen müssen. Einer dieser Nachteile ist bis jetzt noch der fehlende Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von verheirateten Frauen, und um den geht es heute hier. Die mit Beginn des Patriarchats konstruierten Besitzrechte von Männern an ihren Frauen werden auch vom Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland noch immer behauptet.Es ist in der Tat ein himmelschreiender Skandal, daß das Parlament dieses Landes es noch immer nicht geschafft hat, diesen unhaltbaren Zustand zu beenden, und es ist auch skandalös, daß die Bundesregierung es nicht für nötig gehalten hat, in dieser Frage die Initiative zu ergreifen. Angesichts der Tatsache, daß Vergewaltigungen zum überwiegenden Teil im familialen Rahmen stattfinden, ist es auch bezeichnend, daß von der Familienministerin zu diesem Problem noch kein Wort zu vernehmen war. Frau Rönsch ist offenbar von der Aufgabe, permanent das Bild der Ehe und Familie in vollendeter Harmonie und Eintracht zu malen und außerdem noch die Familienpolitik der Bundesregierung als deren angeblich ernsthaftes Anliegen zu verkaufen, so in Anspruch genommen, daß es zu einem deutlichen Wort in der Öffentlichkeit, im Kabinett nicht mehr reicht.Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordert eine Reform des Sexualstrafrechts hinsichtlich Vergewaltigung und sexueller Nötigung über die aus unserer Sicht nicht weiter diskutierenswerte, da selbstverständliche Ausweitung der Geltung auch für verheiratete Frauen hinaus in drei Punkten.Erstens. Unter Vergewaltigung sollte nicht mehr nur die vaginale Penetration verstanden werden, sondern jedes gegen den Willen des Opfers erfolgende Eindringen in den Körper. Versuche, bei der Beurteilung der Schwere der Tat eine Unterscheidung zwischen vaginaler, analer oder oraler Penetration machen zu wollen, sind willkürlich und lassen die Perspektive des Opfers außer acht. Zudem wäre — das ist hier auch schon öfter gesagt worden — mit einer solchen Formulierung die sexuelle Selbstbestimmung sowohl von Frauen als auch von Männern unter den strafrechtlichen Schutz gestellt.Zweitens. Wir wollen, daß im deutlichen Unterschied zu den Gesetzentwürfen von SPD und Bundesrat die jetzige Definition des Tatbestandsmerkmals des gegenüber dem Opfer ausgeübten Zwangs geändert wird. Nach geltendem Recht wird der Tatbestand einer Vergewaltigung oder einer sexuellen Nötigung daran geknüpft, daß die Tat mit „Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben" ausgeführt worden ist. Die Gewaltanwendung gegenüber Frauen wiederum wird in der gegenwärtigen Rechtspraxis danach beurteilt, ob Frauen glaubwürdig machen können, daß sie physische Gegenwehr geleistet haben. Dies hat im Gerichtsverfahren tendenziöse Täterschutzstrategien zur Regel werden lassen, in denen die alte Mär, Frauen meinten ja, wenn sie nein sagten, aufscheint und die patriarchale Tradition, Frauen nicht wirklich ernst zu nehmen, fortgeführt wird. Es hat Freisprüche gegeben, wenn Vergewaltiger nicht mit physischer, sondern psychischer oder indirekter körperlicher Gewalt eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung erzwungen haben.Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Polizei von einer aktiven körperlichen Gegenwehr in einer Vergewaltigungssituation dringend abrät, da dies unmittelbare Lebensgefahr heraufbeschwört, muß das Tatbestandsmerkmal anders definiert werden. Wir meinen, daß jede Mißachtung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, die ein Täter wissentlich gegen den in irgendeiner Weise vom Opfer zum Ausdruck gebrachten Willen begeht, als Vergewaltigung bzw. Nötigung gewertet werden muß.Drittens. Für die Straftatbestände Vergewaltigung und Nötigung muß der minder schwere Fall gestrichen werden. In der Praxis patriarchaler Rechtsprechung wird in der Regel versucht, der vergewaltigten Frau eine Mitschuld an dem an ihr begangenen Verbrechen zu geben, sei es durch die Art, wie sie angeblich bekleidet war, sei es, weil sie den Täter bereits vor der Tat gekannt hat oder vor der Tat sexuelle Kontakte zu ihm hatte, sei es, weil sie Prostituierte von Beruf war, oder sei es, weil sie der Einladung in seine Wohnung gefolgt war, oder sei es, weil der Täter angeblich in Liebe zum Opfer entbrannt ist. In solchen Fällen hat man bisher die Konstruktion eines minderschweren Falles dazu genutzt, dem Täter ein geringeres Strafmaß zuzumessen. Wir meinen, daß für die Beurteilung der Schwere der Tat ausschließlich das Tatgeschehen und dessen Auswirkung auf das Opfer maßgeblich sein sollten und nicht das Aussehen
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11532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Christina Schenkoder die Art der Beziehung zwischen Opfer und Täter.Meine Damen und Herren, wir wenden uns auch strikt gegen eine sogenannte Versöhnungsklausel, wie sie in den Gesetzentwürfen des Bundesrates und der SPD vorgesehen ist. Dieser Passus soll es dem Gericht ermöglichen, die Strafe zu mildern oder gar von ihr abzusehen, wenn es, wie es heißt, im Interesse der Aufrechterhaltung ehelicher oder eheähnlicher Bindungen zwischen Täter und Opfer geboten scheint. Eine solche Klausel gibt es bei keinem anderen Offizialdelikt. Sie ist zudem überflüssig, denn das Opfer hat durch Rückgriff auf das Zeugnisverweigerungsrecht jederzeit die Möglichkeit, einen Prozeß praktisch zum Erliegen zu bringen, wenn es ihn nicht will. Die Versöhnungsklausel ist nicht harmlos. Ihre überaus schädliche Wirkung besteht darin, daß sie die Verurteilung des Täters an eine nicht oder doch stattgefundene Versöhnung bindet und damit die vergewaltigte Frau einem unsäglichen Druck aussetzt und sie geradezu zur Zielscheibe von Erpressungsversuchen seitens ihres Ehemannes oder Partners macht.Es gibt also viel zu tun in den dann damit befaßten Ausschüssen. Ich hoffe, auch wenn die Chancen angesichts der Mehrheitsverhältnisse in diesem Hohen Hause dafür nicht sehr hoch sind, daß es wenigstens an dieser Stelle gelingt, die patriarchalen Traditionen im Sexualstrafrecht zu brechen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Anni Brandt-Elsweier das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über 20 Jahren berät dieses Haus Gesetzentwürfe, die die Vergewaltigung in der Ehe im Strafrecht nicht nur als Nötigung behandelt wissen wollen. Eine Einigung wurde bisher nicht erzielt. Während all dieser Jahre habe ich in meiner beruflichen Eigenschaft als Richterin diese Diskussion teilweise verständnislos verfolgt. Wer wie ich die erschütternden Schilderungen der mißhandelten Frauen bereits oft als Anwältin in Scheidungssachen und später im Gerichtssaal erlebt hat, ihre Ängste, ihre Ohnmacht, ihre Erniedrigung gespürt hat, wird eine erneute Verzögerung der Reform nicht hinnehmen können.
Auch widerspricht es meinem Gerechtigkeitssinn, daß das geltende Strafrecht eine Ungleichbehandlung von verheirateten und unverheirateten Frauen akzeptiert. Während die außereheliche Vergewaltigung als solche geahndet wird, wird die Vergewaltigung der Ehefrau lediglich als Nötigung behandelt. Der staatliche Schutz gilt somit vorrangig der Institution Ehe, nicht aber der Würde der Frau und ihrem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf das sie mit dem Ja beim Standesamt nicht verzichtet.Nach dem vorliegenden Entwurf der SPD-Fraktion soll auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden, und zwar unabhängig vom Antrag der Betroffenen. Der Straftatbestand der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und des sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger soll auf Handlungen ausgeweitet werden, bei denen der Täter keine körperliche Gewalt anwendet, aber eine hilflose Lage ausnutzt. Weiterhin muß auch die anale und orale Penetration als Vergewaltigung erfaßt werden, denn für die erniedrigten Opfer gibt es keine Unterscheidung in entwürdigend und weniger entwürdigend.Die Gewaltanwendung allein als Voraussetzung für das Anerkennen der Vergewaltigung als solche geht meines Erachtens auch an der Realität vorbei. Insoweit ist auch der Gesetzentwurf des Bundesrats nicht weitgehend genug. Gerade diese Einschränkung hat bisher zur Folge gehabt, daß der Täter in zahlreichen Fällen freigesprochen wurde, weil es zur physischen Gewaltanwendung nicht gekommen war. Die Frau aber empfindet ihre Lage als aussichtslos, aus Angst unterläßt sie jede Gegenwehr, ein Verhalten, das im übrigen zum eigenen Schutz der Frau von der Kriminalpolizei empfohlen wird, weil sie sich durch Gegenwehr manchmal auch einer Todesgefahr aussetzt.Auch hier wird die Fragwürdigkeit der Gesetzgebung, die besteht, deutlich. Diese Gesetzgebung entspricht noch einer veralteten Auffassung von einem geschlechtsrollenkonformen Verhalten einer Frau dem Mann gegenüber. Eine anständige Frau hat eben jede Situation zu vermeiden oder ihr frühzeitig aus dem Wege zu gehen, die damit enden könnte, daß es gegen ihren Willen zu sexuellen Übergriffen kommt. Kommt es dann aber doch dazu, muß sich die Frau als Opfer häufig noch fragen lassen, ob sie denn nicht etwa durch ihre Kleidung oder durch ihr Verhalten den Mann provoziert hat, ob sie denn nun auch alles getan hat, um der sexuellen Nötigung, der Vergewaltigung zu entgehen. Das dürfen wir nicht weiter hinnehmen.
Meine Damen und Herren, auch uns ist klar, daß die Änderung des Strafgesetzbuchs die Gewalttätigkeit der Ehemänner gegenüber ihren Frauen allein nicht beenden wird. Nein, das Strafrecht allein wird keine Frau vor den Schlägen ihres Mannes retten. Eines aber kann eine Änderung erreichen, einen Anstoß für einen Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft geben: Jeder muß akzeptieren, daß die Ehefrau auch gegenüber ihrem Ehemann ein eigenes Persönlichkeitsrecht und ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung hat. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, diese Rechte zu schützen. Der Schutz dieser Rechte darf auch nicht erst dann erfolgen, wenn das Opfer einen Antrag stellt. Dafür ist die Lebenssituation der betroffenen Frauen viel zu bedrohlich und der Druck des Ehemanns viel zu stark. Nein, hier ist der Staat gefordert, von sich aus die Initiative zu ergreifen. Die innereheliche Tat darf nicht auf die Ebene eines rein partnerschaftlichen Konflikts gezogen werden.Es will mir nicht einleuchten, warum die Vergewaltigung außerhalb der Ehe von Amts wegen verfolgt wird, die durch den Ehemann aber erst auf Antrag. Dennoch ist es denkbar, daß die verletzte Ehefrau im Interesse der Aufrechterhaltung der Ehe eine Bestrafung nicht für sinnvoll hält. Entscheidend muß dabei jedoch sein, daß die Frau eine Fortsetzung der Ehe für möglich hält. Da die Brutalität des Ehemanns gegen
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Anni Brandt-Elsweierseine Familie ein oft schon jahrelange geübtes Verhaltensmuster ist, wird das Versprechen einer Verhaltensänderung allein nicht ausreichen. Hier wird es sicherlich ohne eine gutachterliche Stellungnahme nicht gehen. Dabei ist es jedoch für die Opfer entscheidend, daß der Täter seine Schuld zugeben muß, daß er ein echtes Unrechtsbewußtsein entwickelt hat und den Willen hat, sich zu ändern.Wenn aber der Täter Einsicht in seine Schuld zeigt, wenn eine Therapie Erfolg verspricht, warum sollte dann diese winzige Chance, die Ehe auf Wunsch der Frau zu retten, nicht wahrgenommen werden? Von den Gegnern des bereits früher diskutierten Ansatzes „Therapie statt Strafe" werden die, wenn auch geringen Erfolgschancen dieses Weges nicht geleugnet, aber es folgt in der Regel sofort der Hinweis auf den finanziellen und personellen Aufwand. Sie müssen sich dann allerdings fragen lassen, wieviel Ihnen der Schutz von Ehe und Familie wirklich wert ist. Es ist nur zu hoffen, daß dieser Wert nicht genauso gering angesetzt wird, wie er sich in der Unterstützung der Frauenhäuser durch die Bundesregierung ausdrückt. Nur rund 25 000 Frauen finden in Frauenhäusern Schutz; mehr lassen die von der Frauenministerin zu bewilligenden Mittel nicht zu. Die Frauenhäuser in den neuen Bundesländern leiden darunter ganz besonders.In der ehemaligen DDR wurde das Problem der Gewalt in der Ehe aus ideologischen Gründen verleugnet, aber nach 1990 waren die aus dem Boden schießenden Frauenhäuser schnell überfüllt. Wohlgesetzte Worte stärken hier vielleicht noch den Rücken, aber Geld verschafft Standhaftigkeit. Wenn hier nicht schnell finanzielle Hilfe erfolgt, wird die Hälfte der ostdeutschen Frauenhäuser ihre Türen vor geschlagenen, mißhandelten und vergewaltigten Frauen schließen müssen.Diesen Frauen mit ihren Kindern bleibt dann nichts anderes übrig, als das Martyrium weiter zu ertragen. Denn wo sollen sie auch hin? Eine Wohnung bekommen sie nicht, in der eigenen Wohnung wartet der gewalttätige Ehemann. Auch hier werden die Mißstände und Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft deutlich. Es ist die Frau, die mit ihren Kindern die Wohnung verlassen muß, nicht aber der mißhandelnde Mann. Dies, meine Damen und Herren, ist in Israel und Argentinien z. B. anders. Dort muß der Täter die Wohnung verlassen. — Auch hier besteht noch dringender Handlungsbedarf.Ich muß allerdings gestehen, daß ich in die Reformfähigkeit und Reformwilligkeit der Regierungskoalition wenig Hoffnung setze. Der Konservatismus mit seinem Ziel der geistig-moralischen Erneuerung, dessen zehnten Jahrestag Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, erst vor kurzem feierten, hat auch einen Werteverfall hinnehmen müssen. Die Folgen dieses konservativen Werteverfalls können wir jeden Abend in den Privatsendern betrachten: Gewalt, Soft-und bald auch Hardpornos sind nicht geeignet, eine Vorbildfunktion auszuüben, jedenfalls nicht, wenn es einem mit der sexuellen Selbstbestimmung der Frau und der Achtung ihrer Würde ernst ist.
Jeder, der an dieser Stelle die Stichworte „Presse- und Informationsfreiheit" einwirft, hat von diesem Grundrecht nichts, aber auch gar nichts begriffen, oder er übersieht, daß auch die Würde der Frau unantastbar ist.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Parlamentarischen Staatssekretärin Cornelia Yzer noch einmal das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich steht außer Frage, daß die geltenden Regelungen der §§ 177 und 178 StGB, die nur die außereheliche Vergewaltigung und sexuelle Nötigung erfassen, als Relikte früherer Zeiten verändert werden müssen. Denn was besagt beispielsweise der heutige § 177? Er besagt letztlich, daß es eine Vergewaltigung in der Ehe schon begrifflich nicht geben kann. Dies war einmal, wenn schon nicht richtig, so doch folgerichtig. Nach den germanischen und römischen Rechtsvorstellungen bis hin zu den Rechtsvorschriften des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts galt die Rechtsmeinung — ich zitiere hier aus einem alten Lehrbuch —:Wer, wie der Ehemann, auf den Beischlaf ein vollkommenes Recht hat, macht sich durch Erzwingung desselben keiner Notzucht schuldig.Noch 1937 entschied das Reichsgericht, daß ein Beischlaf unter Eheleuten nie Unzucht sein kann, auch wenn er erzwungen wird. Diese Meinung galt bis in die 70er Jahre und war durch das Strafgesetzbuch gedeckt, das die „Sittlichkeit" schützte und ,,unzüchtige Handlungen" unter Strafe stellte.Doch in den letzten 20 Jahren hat sich unsere Rechtsauffassung grundlegend verändert. Unser Eherecht wird vom Leitbild der Partnerschaft geprägt. Unter dem Begriff der ehelichen Lebensgemeinschaft verstehen wir heute die Partnerschaft gleichen Rechts und gleicher Pflichten mit besonderen Anforderungen auf gegenseitige Rücksichtnahme, auf Mitsprache und Mitentscheidung.Im Strafrecht ist das geschützte Rechtsgut nicht mehr die Sittlichkeit, sondern das sexuelle Selbstbestimmungsrecht. Dieses sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau wird auch durch die Ehe nicht eingeschränkt.Die Vergewaltigung — dies muß man immer wieder betonen — ist auch dann keine Bagatelle, wenn sie innerhalb der Ehe geschieht. Machen wir uns doch einmal bewußt: Ehegatten sind zu wechselseitiger Rücksicht und Achtung verpflichtet. Eine Vergewaltigung in der Ehe muß daher besonders schwer wiegen. Die Erfahrung zeigt deshalb auch, daß sich die Opfer einer Beziehungstat häufig in besonderer Weise psychisch verletzt fühlen. Dies ist auch nachvollziehbar. Schließlich hat sich bei einer ehelichen Vergewaltigung jemand an der Frau vergangen, von dem sie gerade besondere Liebe, Fürsorge und Rücksichtnahme erwartet.
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11534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
Eine Frau muß vor Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich geschützt sein. Ich setze mich daher dafür ein, daß die eheliche Vergewaltigung in einem Straftatbestand verankert wird. Es muß allerdings eine Regelung gefunden werden, die verhindert, daß gegen den Willen der Ehefrau ermittelt wird.
Noch eine Bemerkung, gerade auch um Mißverständnissen vorzubeugen: Es kann und wird nicht das Ziel sein, eine Kette von Strafverfahren gegen Ehemänner auszulösen. Dies ist auch nach allen internationalen Erfahrungen nicht zu erwarten. Es geht vielmehr darum, bewußt zu machen, daß die eheliche Vergewaltigung weder erlaubt noch ein Kavaliersdelikt ist. Denn auch heute fehlt oftmals noch das Unrechtsbewußtsein. Eine im Auftrag des Justizministeriums erstellte Studie aus dem Jahre 1986 belegt, daß ein Viertel der Befragten auch heute noch nicht sicher ist, ob ein solches Verhalten des Ehemannes, die Vergewaltigung, strafrechtlich geahndet werden kann.
Ich bin allerdings auch der Meinung, daß eine Änderung des Sexualstrafrechts nicht nur die Einbeziehung des ehelichen Bereichs umfassen sollte. Studien des Bundesministeriums für Frauen und Jugend haben gezeigt, daß die strafrechtliche Ahndung von Sexualdelikten unzureichend ist. Ich denke dabei insbesondere an eine Erweiterung des Gewaltbegriffs in den §§ 177 und 178 StGB. Die sehr enge Auslegung des Gewaltbegriffs durch die Rechtsprechung hat dazu geführt, daß Vergewaltigungen nicht als solche geahndet werden, nur weil es an einer aktiven Gegenwehr der Frau fehlte oder weil diese Gegenwehr nicht nachgewiesen werden konnte. In dieser Debatte wurde bereits darauf verwiesen, daß wir doch alle wissen: Frauen wird empfohlen, im Falle eines Angriffs keine Gegenwehr zu leisten, um die Aggressivität des Täters nicht weiter zu erhöhen.
Wir müssen ferner prüfen, ob andere Formen des Geschlechtsverkehrs in § 177 StGB einbezogen werden müssen, da diese Formen von Frauen als besonders erniedrigend empfunden werden.
Eine weitere wichtige Regelung wird das Ruhen der Verjährungsfrist bei Sexualdelikten gegen Kinder sein. Dabei werden wir uns darauf verständigen müssen, ob aus strafrechtssystematischen Gründen ein Ruhen der Verjährung nur bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres möglich ist oder ob ein Ruhen der Verjährung bis zur Volljährigkeit des Opfers in Betracht kommt.
Ich spreche mich dafür aus, bei der notwendigen Novellierung der §§ 177 bis 179 StGB auch diese Aspekte mit einzubeziehen, damit dieser Bereich insgesamt abgeschlossen werden kann.
Allerdings tragen die vorliegenden Entwürfe der komplexen Regelungsmaterie meines Erachtens nicht ausreichend Rechnung; sie weisen zum Teil sogar den falschen Weg.
Lassen Sie mich abschließend über das Strafrecht hinaus auch noch auf folgendes hinweisen. Wir müssen bei Gewalttaten von Männern gegen Frauen auch über wirksame Resozialisierungsmaßnahmen nachdenken. Geldstrafen oder Haftstrafen allein reichen in
der Regel in diesem Bereich nicht aus, um einen Täter zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten aufgreifend, sollte hier die Teilnahme an entsprechenden Resozialisierungsmaßnahmen zur Bewährungsauflage gemacht werden. Denn Ziel einer Änderung des Sexualstrafrechts kann nicht sein, daß ein neuer Kampf der Geschlechter gegeneinander beginnt, Frau gegen Mann oder umgekehrt. Ziel muß es auch sein, Hilfe dort anzubieten, wo es möglich ist, die Gewaltspirale zu durchbrechen. Ich weiß, daß diese Forderung zur Zeit noch nicht erfüllt werden kann, da es in Deutschland noch keine einschlägigen Therapiemaßnahmen für diese Täter gibt. Das Bundesministerium für Frauen und Jugend prüft aber zur Zeit, ob und gegebenenfalls wo ein entsprechender Modellversuch gemacht werden kann.
Das Wort erteile ich nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Funke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst dem verehrten Kollegen Engelhard für seine eindrucksvolle Rede sehr danken. Er hat die Vielschichtigkeit der Probleme aufgezeigt und darauf hingewiesen, warum in der letzten Legislaturperiode die Gesetzesnovelle gescheitert ist
— bedauerlicherweise, Frau Kollegin Würfel —, weil doch eine Verknüpfung mit § 218 gesehen wurde. Diese Verknüpfung wird man auflösen können, wenn das Bundesverfassungsgericht — hoffentlich im Sinne der Mehrheit diese Parlamentes — entschieden hat.
Meine Damen und Herren, der zweite Einwand zeigt, daß es um mehr geht, als nur das Wort „außerehelich" in den §§ 177, 178 und 179 des StGB zu streichen. Es geht auch und gerade darum, ob und in welcher Form der besonderen Situation bei Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung innerhalb bestehender Ehen und Lebensgemeinschaften Rechnung getragen werden soll. Die vorliegenden Entwürfe sehen dazu ganz unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten vor.Am weitesten geht der Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die offensichtlich an ihrem eigenen Gesetzentwurf nicht übermäßig interessiert zu sein scheinen; denn sie sind gar nicht mehr da. Diese verzichten auf Sonderregelungen, und darüber hinaus wollen sie die milderen Strafrahmen für minder schwere Fälle streichen. Dieser Vorschlag führt zwar zu einer formellen Gleichbehandlung bei der Bestrafung erzwungener sexueller Handlungen innerhalb und außerhalb bestehender Lebensgemeinschaften. Er erlaubt es aber meines Erachtens zum einen nicht, dem vielfach bestehenden Wunsch von Täter und Opfer nach Aufrechterhaltung ihrer Lebensgemeinschaft und einer eigenständigen Konfliktregelung ausreichend Rechnung zu tragen. Zum anderen könnten Gerichte dazu neigen, die Vorschrif-
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Parl. Staatssekretär Rainer Funketen der §§ 177 bis 179 StGB einschränkend auszulegen, um nicht die hohen Mindeststrafen verhängen zu müssen.Akzeptabler erscheinen mir, Herr Kollege de With, dagegen der Gesetzentwurf der SPD und der des Bundesrates, die es dem Gericht ermöglichen sollen, die Strafe zu mildern oder von Strafe abzusehen, wenn dies im Interesse der Aufrechterhaltung der Bindung zwischen dem Opfer und dem Täter geboten ist. Für bedenklich halte ich es allerdings, daß diese Regelung sogar ein völliges Absehen von Strafe zulassen soll, obwohl es sich bei den §§ 177 bis 179 StGB um Verbrechenstatbestände handelt. Darüber müssen wir vielleicht rechtssystematisch noch einmal miteinander intensiv diskutieren.Als dritte Möglichkeit, die ich ebenfalls für prüf ens-wert halte, käme ein Widerspruchsrecht des Opfers gegen die Strafverfolgung in Betracht. Das würde vielleicht rechtssystematisch etwas besser passen. Aber, wie gesagt, darüber muß gesprochen werden.Wenn wir hier schon über die Vergewaltigung in der Ehe sprechen, sollten natürlich auch andere Probleme des Sexualstrafrechts einer Lösung zugeführt werden. Im Bereich der Tatbestände der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung sind Fälle aufgetreten, in denen weder das Tatbestandsmerkmal Gewalt noch das Tatbestandsmerkmal Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben erfüllt waren. Gleichwohl erscheinen diese Fälle nicht minder strafwürdig. Es handelte sich dabei um Situationen, in denen Frauen vor Schreck starr oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen ließen. Die Gesetzentwürfe der SPD und auch der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen dazu einige sinnvolle Lösungsvorschläge. Ich halte es zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung für durchaus erwägenswert, die §§ 177 und 178 StGB um das weitere Tatmittel „Ausnutzung einer hilflosen Lage" zu ergänzen.Lassen Sie mich noch eine weitere Fallgruppe in diesem Zusammenhang erwähnen: sexuelle Übergriffe von Therapeuten gegenüber ihren Patienten im Rahmen psychotherapeutischer Behandlung ohne Anwendung von Gewalt oder Drohung. Ich meine, daß diese Fälle auch in den § 179 StGB aufgenommen werden sollten.Das sind einige zusätzliche Anregungen. Ich halte es für sinnvoll, daß wir diese Punkte gemeinsam angehen und lösen. Lassen Sie uns die vorliegenden Gesetzentwürfe zum Anlaß nehmen, mit dieser Arbeit gemeinsam zu beginnen.Lassen Sie mich abschließend ein kritisches Wort zu Ihnen, Frau Brandt-Elsweier, sagen. Ihre durchaus versöhnlichen Worte zum Eingang hätten sicherlich der gemeinsamen Beratung geholfen. Ich fürchte, daß das, was Sie am Schluß Ihrer Rede zum zehnjährigen Jubiläum dieser Koalition gesagt haben, für die gemeinsame Beratung nicht gerade hilfreich war.Danke schön.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/1818, 12/2167 und 12/3303 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann sind diese Überweisungen beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur Krise der Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutschland
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat diese Aktuelle Stunde beantragt.
Das Wort erteile ich zunächst einmal dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten hier am Mittwoch eine Aktuelle Stunde, die sich letztlich — wenn ich mich recht entsinne — über sechs oder sieben Stunden hingezogen hat, und zwar zu dem spannenden Thema, daß der Bundeskanzler dem F.D.P.-Vorsitzenden einen Brief geschrieben hat. Ich hätte es als angemessener empfunden, wenn wir die Zeit genutzt hätten, um vor vollem Haus über das Schicksal der Stahlindustrie in Deutschland und in Europa zu sprechen; denn hier geht es, glaube ich, um sehr ernsthafte Probleme. Ich finde es sehr bedauerlich, daß wir uns hier am Freitagnachmittag darüber verständigen, wenn die meisten Abgeordneten natürlich bereits auf dem Wege nach Hause sind.Nichtsdestotrotz ist es wichtig, daß wir das überhaupt tun; denn es gilt meines Erachtens in erster Linie, den Klöckner-Konzern als ein integriertes Stahlwerk im Interesse nicht nur der über 7 000 Stahlarbeiter und ihrer Familien in Bremen und Georgsmarienhütte zu erhalten. Es geht auch darum, allen Stahlstandorten in Deutschland und Europa, die sich in Westeuropa meines Erachtens sämtlich in einer tiefen Krise befinden, und zwar seit Anfang der achtziger Jahre, ihre Zukunft zu sichern. Dabei geht es letztlich um Zehntausende von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie.Ich bedaure, daß wir das hier nicht konkreter machen können. Wenn man nämlich einen regionalen Vorschlag unterbreitet, wie z. B. betreffend Bremen oder die Klöckner-Werke, dann wird einem entgegengehalten, daß sich der Bundestag nun einmal mit der Bundesrepublik Deutschland als Ganzem zu beschäftigen hat und nicht mit einzelnen Regionen. Aber ich finde, das Leben ist immer konkret, und die Bundesrepublik besteht nun einmal aus einzelnen Regionen. Deshalb meine ich, daß es auch möglich sein muß, über einzelne Regionen hier in einer Aktuellen Stunde zu sprechen.Nun leben wir zwar in einer Zeit, in der die dramatische Vernichtung von Arbeitsplätzen in Ostdeutschland und die wieder wachsende Massenarbeitslosigkeit in Westdeutschland fast zur Normalität
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11536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Gregor Gysigeraten sind; dennoch ist es wichtig, hier darüber zu sprechen, weil nämlich im Falle der Stahlindustrie die Bundesregierung wirtschafliche Instrumentarien besitzt wie in anderen Branchen nicht und deshalb die Chance besteht, daß diese eingesetzt werden. Mit Unfähigkeit kann sich hier also niemand herausreden. Wenn, dann ginge es höchstens um Unwilligkeit.Für die Stahlindustrie gibt es die Möglichkeit, im Rahmen des EGKS-Vertrages mit der Feststellung einer manifesten Krise Regulierungen anzuwenden, die die Arbeitsplatzvernichtung vermeiden oder doch zumindest wesentlich beschränken und aufhalten könnten. Ich meine, daß es an der Zeit ist, diese manifeste Krise auszurufen.Schon Anfang der 80er Jahre wurde durch die Festsetzung von Produktionsquoten und Mindestpreisen in der westeuropäischen Stahlindustrie eine dramatische Krise abgefedert und der unvermeidliche Arbeitsplatzabbau wenigstens sozial verträglich durchgeführt. Wir halten daher die neuerliche Anwendung der Art. 58 und 61 des EGKS-Vertrages für dringend geboten, um Konkurse und Stillegungen in der Stahlindustrie abzuwenden.Wir halten diese Instrumentarien auch deshalb für sinnvoll, weil unseres Erachtens keine Notwendigkeit zu einer dauerhaften Kapazitätsreduzierung besteht. Das konjunkturell und durch die desolate Lage in Osteuropa bedingte Überangebot an Stahl ist vorübergehender Natur und wäre durch eine vernünftige Wirtschaftspolitik auflösbar. Der Stahl selbst als Werkstoff wird sich langfristig auf Grund seiner positiven Eigenschaften, vor allem in umweltpolitischer Hinsicht, sogar Terrain vom Kunststoff, Beton und Aluminium zurückerobern.
Außerdem müssen wir davon ausgehen, daß in Osteuropa irgendwann der Aufbau ernsthaft beginnt. Zu dieser Zeit wird auch dort der Bedarf an Stahl beachtlich zunehmen. Es wäre ja geradezu verheerend, wenn ein modernes integriertes Stahlwerk schließen würde, das dann wieder neu aufgebaut werden müßte, um neue Kapazitäten zu erschließen.Selbst diejenigen, die den langfristigen Stahlabsatz negativ einschätzen, müßten dennoch dem Krisenmechanismus zustimmen, gibt er doch die Chance wie in keiner anderen Branche, eine Umstrukturierung zeitlich zu strecken und den eventuell nicht vermeidbaren Abbau von Arbeitsplätzen durch Altersabgänge und den Aufbau neuer Arbeitsplätze sozial verträglich durchzuführen.Es gibt darüber hinaus einen weiteren ganz aktuellen Ansatzpunkt: Wenn die Beteuerungen, die gestern in diesem Hause von allen Fraktionen zur künftigen Vermeidung von Tankerkatastrophen abgegeben wurden, ernst gemeint waren, dann muß meines Erachtens durchgesetzt werden, daß Öltanker westeuropäische Häfen baldmöglichst nur noch dann anlaufen dürfen, wenn sie auf doppelwandige Tanks umgerüstet bzw. durch entsprechende Neubauten ersetzt worden sind. Das bedeutete nicht nur viel Arbeit für die Werften, sondern auch eine erheblicheMengensteigerung im Absatz von Grobblech und natürlich wesentlich mehr Sicherheit auf den Meeren.
— Stahl.
— Wenn Sie sich die einmal angucken, werden Sie feststellen: Die meisten Tanker sind inzwischen Blechdosen.
Es gibt schon Gründe für die deutschen Unternehmen, ihre Schiffe sozusagen in den Libanon umzuflaggen, damit sie halt die sicherheitspolitischen Vorschriften der Bundesrepublik nicht mehr zu erfüllen brauchen.
Dagegen, meine ich, müßte man schon einiges tun. Wenn wir das täten — und Sie wissen: Ein Tanker besteht in erster Linie aus Stahl —, dann hätten wir hier wirklich eine Chance, daß ganz andere Mengen produziert und hergestellt werden können, und die Regionen an der Nordküste und überhaupt im Norden wären durch entsprechende Arbeit und Arbeitsplätze ebenfalls bevorteilt. Das wäre zugleich ein sinnvolles Konjunkturprogramm für Werften und Stahl.
Herr Abgeordneter Dr. Gysi, Sie wissen, daß ich bei der Aktuellen Stunde gezwungen bin, mich sehr streng an die zeitlichen Vorgaben der Geschäftsordnung zu halten.
Das ist sehr bedauerlich.
Sonst bin ich immer sehr großzügig. Ich wäre dankbar, wenn Sie mir das Geschäft nicht so schwierig machten.
Ich verstehe das sehr gut. Aber gerade, wenn es um etwas Aktuelles geht, sollte man großzügiger sein.
Verehrter Dr. Gysi, aber Sie wissen doch, wie es ist.
Ich bin sofort am Ende. Lassen Sie mich nur noch eines sagen: Wir brauchen ein positives Signal für die Stahlarbeiter und ihre Familien. Das muß heute vordringlich nach Bremen und Georgsmarienhütte gehen, aber auch an die Kolleginnen und Kollegen an Rhein und Ruhr, in Niedersachsen, an der Saar und nicht zuletzt in den ostdeutschen Bundesländern.Deshalb hoffe ich sehr, daß sich alle nachfolgenden Fraktionssprecher für die Anwendung der Art. 58 und 61 des EGKS-Vertrages aussprechen und daß der Bundeswirtschaftsminister — wie auch immer er heißen mag — dieses am 23. Februar in der nächsten EG-Ministerratssitzung durchsetzt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11537
Dr. Gregor GysiDanke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klein das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die weltweite Krisensituation der Stahlindustrie hat die Klöckner-Hütte in Bremen mit rund 6 000 Mitarbeitern und rund 5 000 Arbeitsplätzen im Zulieferungsbereich besonders hart getroffen. Die Hütte mußte die Eröffnung des Vergleichsverfahrens beantragen. Über den Antrag ist noch nicht entschieden, die Gefahr des Konkurses nicht abgewendet.
Diese dramatische Entwicklung bei dem KlöcknerStahlunternehmen beruht auf der drastischen Verschlechterung auf dem Stahlmarkt. Der Erlösverfall
setzte sich 1992 verstärkt fort. Das Minus beträgt zur Zeit 30 %. Hinzu kommt ein starker Mengenverfall von 15 %, verursacht durch die sich verschlechternden konjunkturellen Bedingungen, besonders der deutschen Automobilindustrie.
Wenn man nun der Klöckner-Hütte helfen möchte, dann muß man die Stärken dieser Hütte im Wettbewerbsvergleich als einen positiven Bestandteil eines möglichen Vergleichskonzepts bewerten. Deswegen möchte ich sie hier ausdrücklich erwähnen. Diese Stärken sind: einziger deutscher Küstenstandort mit unmittelbarem Zugang zum seeschifftiefen Wasser; ein integriertes Hüttenwerk mit der Konzentration aller Produktionsanlagen an einem Standort; die Leistungsfähigkeit und Modernität der Produktionsanlagen; eine sehr hohe Produktivität des Werkes auch im Vergleich zum deutschen Wettbewerb und schließlich der Anschluß an ein weltweites Vertriebsnetz über Klöckner & Co. sowie anerkannte Qualitätsleistungen, z. B. durch Ford oder General Motors, die noch im Jahre 1991 der Hütte das Prädikat „Lieferant des Jahres 1991" einbrachten. Last, not least — für Norddeutschland besonders wichtig —: keine Umweltrisiken und selbstverständlich — auch das möchte ich hier betonen — ein qualifiziertes und sehr motiviertes Mitarbeiterpotential.
Meine Damen und Herren, diesen Stärken stehen Schwächen gegenüber, die durch ein tragfähiges Vergleichskonzept ausgeglichen werden müssen. Diese Schwächen möchte ich hier erwähnen — auch und gerade mit der Bitte um Unterstützung der öffentlichen Hand; aber selbstverständlich müssen hier auch die Privatwirtschaft und die Banken helfen. Folgende Schwächen sind auszugleichen:
Erstens. Bis zu einer Eröffnung des Vergleichs in etwa vier Monaten muß die Liquidität gesichert werden, und zwar durch die zugesagte Soforthilfe des Klöckner-Handelshauses in Höhe von 160 Millionen DM.
Zweitens. Die Vergleichsgläubiger, die auf 60 % — bei dinglicher Sicherung auf 40 % — ihrer Forderungen verzichten müssen, verlangen vom Bund und den Ländern Bremen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen den Verzicht auf die bedingte Rückzahlungsverpflichtung aus der Gewährung von Stahlstrukturhilfen in Höhe von 370 Millionen DM.
Ich bitte die Bundesregierung und die beteiligten Länder — also auch und gerade Bremen —, dieser Forderung zu entsprechen, und zwar im Interesse des Zustandekommens des Vergleichs.
Ich bin sicher und auch informiert, Herr Kollege Koschnick, daß diese Forderung im Bereich des Bundesministers der Finanzen wohlwollend geprüft wird. Ich wäre dankbar, wenn das Haus diese für den Vergleich wichtige Forderung unterstützen könnte.
Drittens. Die Hütte Bremen erleidet durch den Zwang zur Abnahme von Ruhrkoks einen Jahresverlust von rund 85 Millionen DM, die Georgsmarienhütte, die ebenfalls vom Vergleichsverfahren betroffen ist und die zum Klöckner-Stahlbereich gehört, einen Verlust von 15 Millionen DM.
Dieser Verlust von rund 100 Millionen DM im Jahr muß durch die im Hüttenvertrag vorgesehene Anpassungsklausel verhindert werden, selbst wenn dadurch die Kohlesubvention von 200 DM je Tonne berührt würde.
Im übrigen: Bei Hereinnahme des preiswerteren Importkokses käme der Standortvorteil der Hütte voll zum Tragen — nämlich unmittelbarer Zugang zum Meer.
Viertens. Der sich aus dem Vergleich ergebende außerordentliche Ertrag soll ausschließlich dem Stahlbereich zugute kommen.
Fünftens. Die im Vergleichskonzept vorgesehenen Anpassungsmaßnahmen im Personalbereich — Abbau von 1 000 Arbeitsplätzen in Bremen und von 500 in Osnabrück — sind sozial verträglich zu gestalten.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch zwei Forderungen stellen:
Erstens. Die Bundesregierung wird gebeten, sich dafür einzusetzen, daß zur notwendigen Restrukturierung, insbesondere für die Finanzierung der sozialen Anpassungsmaßnahmen, das von der EG-Kommission verwaltete Montanvermögen in Höhe von mehr als 1,5 Milliarden DM mobilisiert wird.
Zweitens sollte darauf hingewirkt werden, daß auch die laufenden Erträge aus der beim Stahlunternehmen erhobenen Montanumlage in Höhe von 250 Milionen DM jährlich auf die Finanzierung der notwendigen Anpassungsmaßnahmen insbesondere im sozialen Bereich konzentriert werden.
Meine Damen und Herren, dies wäre ein Beitrag zu einem tragfähigen Vergleichskonzept. Ich bin sicher: Wenn das in die übergeordneten Maßnahmen meiner Fraktion zur Überwindung der Stahlkrise eingebettet wird, wird es gelingen, in Bremen wieder einen sicheren Stahlstandort zu realisieren.
Ich darf mich bedanken.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht über
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Ernst Schwanholdein isoliertes Konzept reden, welches nur die Georgsmarienhütte und die Klöckner-Betriebe in Bremen angeht, sondern will zunächst darauf hinweisen, daß die sich seit Monaten abzeichnende Schwierigkeit in diesem Bereich längst durch diese Bundesregierung hätte angegangen werden können. Wir haben häufig eine nationale Stahlkonferenz gefordert. Bis heute ist die Bundesregierung untätig.Ich will, um zu illustrieren, welcher Bewußtseinsstand in der Bundesregierung vorherrscht, Herrn Kolb, den ich persönlich sehr schätze, wie er weiß, auf seinen Brief vom 7. Januar zu diesem Thema aufmerksam machen, mit dem er mir geantwortet hat — ich hatte ihn im Vorfeld angeschrieben. Im Prinzip steht nichts darin, außer: Dieses muß betriebswirtschaftlich geregelt werden.
— Mit dem Kopf des Bundeswirtschaftsministeriums als Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Kolb, wenn eine betriebswirtschaftliche Regelung Ihr Lösungskonzept ist, werden Sie viele Fälle wie Klöckner erleben. Beständig wird uns in den nächsten Jahren eine regionale Strukturkrise an allen Stahlstandorten verfolgen. Es wird eine Fülle von Arbeitslosigkeit geben, ein Flächenbrand entzündet werden, den wir nicht aufhalten können. Das ist die erste Feststellung.Übrigens ist die Niedersächsische Landesregierung am Tag des Vergleichs tätig geworden, hat in intensiven Kontakten mit der Georgsmarienhütte, mit der Geschäftsleitung und dem Betriebsrat, unter regional-und strukturpolitischer Verantwortung an Lösungskonzepten und Vorschlägen gearbeitet. Dies ist Industriepolitik, die man in solch einer Situation machen muß. Ihnen aber geht das Wort „Industriepolitik" nicht über die Lippen; Sie sind da ideologisch borniert. Am Ende werden wir all das auszulöffeln haben.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß allein in Georgsmarienhütte, einer Stadt mit etwas mehr als 20 000 Einwohnern, heute noch 1 700 Arbeitsplätze im Stahlbereich existieren. Im Sekundärbereich sind noch einmal 1 700 Arbeitsplätze anzusiedeln. Bei einem Faktor von 3 der indirekt Betroffenen sind wir bei 10 000 Menschen, die in dieser Region dann arbeitslos oder zumindest direkt davon betroffen wären. Dies ist nicht hinnehmbar. Es ist dann nicht mehr Aufgabe der Niedersächsischen Landesregierung und der Region allein, sondern auch Aufgabe der Bundesregierung, an Lösungskonzepten mitzuarbeiten.Ich will die Verantwortung des Klöckner-Konzerns überhaupt nicht in Abrede stellen. Ich weiß, daß im Bereich der Stahlindustrie in vielen Jahren viel Geld verdient worden ist. Dieses Geld ist der Stahlindustrie nicht zugute gekommen. Es wurde leider Gottes viel zuwenig investiert. Auch die Diversifizierung dieses Unternehmens, um gewinnträchtige Teile zu erreichen, ist nicht in ausreichendem Maße durchgeführtworden. Insofern werde ich Klöckner nicht verteidigen.Der einzig beständige Faktor im Bereich der Stahlkrise, die uns nun schon seit vielen Jahren verfolgt, ist die Identifikation, Leistungswilligkeit und -fähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Schauen Sie sich gerade in einer solch kleinen Stadt wie Georgsmarienhütte die Identifikation an. Da war man stolz, Klöckneraner zu sein. Zwischenzeitlich, über viele Jahre hinweg, ist ihnen dieser Stolz abgekauft worden, wurden die Arbeitsplätze von 8 000 auf 1 700 abgespeckt.Dabei gibt es insbesondere für die Georgsmarienhütte Lösungskonzepte. Sie könnte ein integriertes Stahlwerk mit einer vorzüglichen Technologie und Qualität bieten, allerdings nicht ohne daß Arbeitsplätze abgebaut werden. Ich weiß dies und will Ihnen, Herr Klein, in einem Teil Ihrer Forderungen ausdrücklich zustimmen. Es ist aber — ich sage das noch einmal — auch Aufgabe der Bundesregierung, hier tätig zu werden.Das Konzept müßte so aussehen, daß Investitionen getätigt werden: Ein Elektroofen, der einen kapazitätsorientieren Ausstoß hat, der Kosten senken würde, sollte dorthin kommen, im Anschluß daran die Walzstraße, die eine vorzügliche Qualität liefern würde.Gestatten Sie mir letztlich darauf hinzuweisen: Wer Klöckner heute in Konkurs gehen läßt oder einen Abbau von Arbeitsplätzen betreibt, der nimmt eine Fehlkalkulation vor, wenn er meint, an den anderen Standorten damit Sanierungskonzepte zu betreiben. Auch die anderen Standorte werden auf Grund des Verdrängungswettbewerbes in die Bredouille kommen.Wir sind also aufgerufen, einen deutschen Stahlkompromiß herzustellen, bei dem alle Standorte erhalten bleiben, wobei allerdings jeder einige Federn zu lassen hat. Wir sind vor allen Dingen aufgefordert, die Tatbestände, die Klöckner und anderen Schwierigkeiten bereitet haben, nämlich die verdeckte Subventionspolitik der Vergangenheit, in europäischen Mitbewerberländern auszugleichen und den Versuch zu unternehmen, die Standortnachteile zu beheben.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Paul Friedhoff.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, wie oft wir uns in letzter Zeit im Deutschen Bundestag auf Antrag einer Gruppe mit den Problemen eines einzelnen Unternehmens befassen müssen. Deshalb lassen Sie mich vorab klarstellen: Auch in einer Sozialen Marktwirtschaft ist es nach wie vor Aufgabe von Privaten, unternehmerische Verantwortung zu tragen. Die Politik hat die Rahmenbedingungen dafür zu setzen; sie darf sich also nicht als Obervorstand oder Oberaufsichtsrat aufspielen und entsprechend handeln.
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Paul K. FriedhoffMeine Damen und Herren, es ist richtig: Die Stahlindustrie befindet sich in einer Krise — nicht allein in Deutschland, sondern europaweit. Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Die Stahlindustrie ist wie viele andere Industriezweige von einer weltweit schwachen Konjunktur bei lustlosen internationalen Märkten betroffen. Gleichzeitig bestehen nach Berechnungen der EG-Kommission europaweit in der Stahlindustrie erhebliche Überkapazitäten.Herr Schwanhold, Sie haben hier gerade sehr eindrucksvoll beschrieben, was alles getan werden muß. Ich habe dabei aber eines vermißt: Sie sind nicht auf die Marktsituation eingegangen. In der Marktwirtschaft mag man noch so gute Produkte herstellen, mag man noch so intensiv arbeiten: Ganz wichtig dabei ist, daß man für seine Produkte zu auskömmlichen Preisen einen Markt findet. Das findet zur Zeit zumindest hier nicht statt.Hinzu kommt ein Wettbewerbsdruck durch die Stahlproduzenten aus Mittel- und Osteuropa. Diesen Wettbewerbern nun mit protektionistischen Maßnahmen den Marktzugang zu verwehren wäre sicher nicht richtig in einer Zeit, in der die politische und ökonomische Umgestaltung, der Transformationsprozeß in diesen Ländern, auch darauf angewiesen ist, daß wir Produkte aus diesen Ländern kaufen.Der Rückgang der Preise um ca. 20 % gegenüber 1989 in einer Situation, in der eine sinkende Nachfrage auf Produktionsüberkapazitäten trifft, kommt daher nicht von ungefähr, sondern ist ein Element, das in der Marktwirtschaft automatisch zum Tragen kommt.Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Stahlkrise ist also eher ein auslösendes Moment als eine Ursache für die spektakuläre Entscheidung von Klöckner Stahl, den Vergleichsantrag zu stellen.Die Probleme von Klöckner Stahl sind zu einem großen Teil hausgemacht. Wenn aber alles zusammenkommt, tritt das in einer solchen Situation besonders deutlich hervor. Dort, wo sehr viel Hausgemachtes ist, werden dann auch am ehesten die Probleme sichtbar.So ist die Klöcknerhütte überdimensioniert, so daß die Kapazitäten nicht genügend ausgelastet sind. Der Ausbau der Hütte hat zu einem Kapitaldienst von etwa 300 Millionen DM pro Jahr geführt. Wenn ich es richtig gelesen habe, hat der Vorstandsvorsitzende von Klöckner, Hans Christoph von Rohr, erläutert, daß dies nur in sehr guten Stahljahren tatsächlich erwirtschaftet werden kann.Überdies leidet die Hütte unter ihrem Standort: Entgegen dem, was hier vorhin gesagt worden ist, ist die Hütte keine reine Küstenhütte, sondern küstennah, aber verbraucherentfernt, so daß die eigentlichen Vorteile gar nicht zum Tragen kommen, die Vorteile nämlich, daß man die Rohstoffe mit großen Schiffen direkt heranbringen kann. Dies kommt hier nicht voll zum Tragen. Von daher hat man nicht einen Standortvorteile, sondern wegen der Kundenferne eher einen Standortnachteil, weil zusätzliche Kosten entstehen.Eine weitere Belastung — auch das ist hier gesagt worden — sind die Kosten, die dadurch entstehen, daßdeutsche Steinkohle, deutscher Koks, eingesetzt werden muß, der nicht so weit heruntersubventioniert wird, daß er mit dem, was auf dem Weltmarkt gehandelt wird, konkurrieren kann. Auch das ist nicht besonders günstig.Zum Abschluß möchte ich noch eines sagen. Vorhin wurde gelobt — das kann man ja von der SPD erwarten —, daß die Mitarbeiter besonders engagiert sind. Dies ist sicher richtig. Aber hier gibt es auch eine besondere Verantwortung. Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Hütte — wie die gesamte deutsche Stahlindustrie — eine montan-mitbestimmte Industrie ist.
— Natürlich. —
Alle diese Entscheidungen wurden nicht einsam getroffen, sondern, wenn ich es richtig weiß, sind in der montan-mitbestimmten Industrie immer noch 50 % der Aufsichtsratssitze mit Vertretern besetzt, die nicht vom Anteilseigner bestimmt werden. Jetzt so zu tun, als sei das alles nicht wahr, kann ich nicht als richtig empfinden.
— Entschuldigen Sie, im Gegensatz zu Ihnen, Herr Gysi, kann ich auf eigene Erfahrungen in der Stahlindustrie verweisen. Ich weiß, wie schwierig es ist, dort Rationalisierungen durchzuführen.
— Ich weiß. Sie können noch so laut rufen, ich sage es dennoch: In dieser montan-mitbestimmten Industrie sind Rationalisierungen nicht so leicht durchzuführen wie in anderen Industriezweigen.ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Kolb.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lage der Stahlindustrie hat sich nach einem Zwischenhoch Mitte der 80er Jahre und vier Jahren guter Stahlkonjunktur Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre wieder drastisch verschlechtert. Die gut strukturierten Unternehmen konnten die guten Phasen nutzen, um Gewinne zu machen und, Herr Schwanhold, Reserven anzulegen. Das gilt leider nicht für alle deutschen Stahlunternehmen.Die gute Stahlkonjunktur hat die strukturellen Schwächen vieler Unternehmen in der Europäischen Gemeinschaft überdeckt. In einer Reihe von Fällen haben diese wohl im Vertrauen darauf, daß schlechte
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11540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. KolbZeiten nicht mehr kommen werden, versäumt, die langfristig nicht zu umgehenden einschneidenden Maßnahmen durchzuführen. Diese Unternehmen sind jetzt — bereits kurz nach dem neuerlichen Einbruch des Marktes — in erheblichen Schwierigkeiten. Das gilt z. B. für spanische und italienische Unternehmen, leider aber auch für deutsche Unternehmen.Die Situation in den neuen Bundesländern ist infolge der Umstellung auf ein marktorientiertes Wirtschaftssystem noch stärker als in Westdeutschland auch durch strukturelle Schwierigkeiten gekennzeichnet.Ursächlich für den weltweiten Einbruch der Stahlnachfrage ist die weltweit schwache Konjunktur für Produkte, für die Stahl eingesetzt wird. Ich will insoweit nur an den rückläufigen Automobil- und Maschinenbauabsatz erinnern.Für den Stahlmarkt kommen Sonderfaktoren hinzu. Die Stahlproduzenten der osteuropäischen Länder suchen neue Absatzmöglichkeiten. Sie haben ihre traditionellen Märkte durch den Zusammenbruch der sozialistischen Systeme verloren. Ihre massierten Stahlverkäufe zu niedrigen Preisen haben 1992 unseren Markt erheblich betroffen. Die Industrie bereitete Antidumpinganträge vor. Um den Markt kurzfristig zu stabilisieren, hat die EG-Kommission im August auf deutschen und französischen Antrag hin die Schutzklausel aus dem Interimsabkommen zum Europaabkommen mit der CSFR angewandt. Sie hat deren Lieferungen von Warmbreitband, Walzdraht und bestimmten Rohrsorten nach Deutschland, Frankreich und Italien mengenmäßig begrenzt. Diese Maßnahme hat wesentlich zur Beruhigung der Märkte beigetragen. Sie galt bis Ende 1992.Zum Jahreswechsel nun hat die EG-Kommission im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten — also auch der Bundesregierung — für 1993 folgende Maßnahmen für die Einfuhr von Stahlerzeugnissen ergriffen. Für GUS-Staaten werden Gemeinschaftskontingente für Flachstahlerzeugnisse mit Unterkontingenten für Warmbreitband und Grobbleche eingeführt. Die Höhe entspricht etwa den EG-Importen von 1991. Bei Langstahlerzeugnissen liegt die Kontingentsmenge über den Lieferungen 1991.Da die Europaabkommen mit Rumänien und Bulgarien zwar schon ausgehandelt, die Interimsabkommen bis zur Ratifizierung aber noch nicht in Kraft gesetzt sind, wurden auch für diese Länder gemeinschaftliche Mengenkontingente festgelegt.Mit der Tschechischen und der Slowakischen Republik werden Gemeinschaftszollkontingente für einige Stahlerzeugnisse und Rohrsorten vereinbart, die an die Stelle der Ende 1992 ausgelaufenen Kontingente treten. Die Verhandlungen hierüber sind weitgehend abgeschlossen. Die ausgehandelten Mengen liegen im übrigen auch hier beträchtlich unter den tatsächlichen Lieferungen des Jahres 1992.Die Einfuhren aus Polen und Ungarn sind entsprechend den Interimsabkommen zu den Europaabkommen liberalisiert. Allerdings wird die Entwicklung der Einfuhr der einzelnen Stahlerzeugnisse durch die EG-Kommission ständig beobachtet und mit diesenLändern erörtert. Sollte sich bei einem Produkt eine erhebliche Marktstörung durch Niedrigpreiseinfuhren abzeichnen, müßte über Abhilfe entschieden werden.Die strukturelle Anpassung der Stahlunternehmen in der EG will die EG-Kommission durch geeignete Maßnahmen flankieren. Zum Beispiel will sie zusätzliche Mittel für die Sozialmaßnahmen nach Art. 56 EGKS-Vertrag zur Verfügung stellen. Sie läßt derzeit durch einen Beauftragten die Pläne der Unternehmen zur Anpassung der Kapazitäten feststellen.Im Anschluß daran beabsichtigt die Kommission, dem Ministerrat Vorschläge vorzulegen, inwieweit sie die Vorstellungen der europäischen Stahlindustrie, die Überkapazitäten in einer abgestimmten Eigeninitiative anzupassen, durch wettbewerbspolitische Maßnahmen flankieren will. Die Bundesregierung unterstützt diese Zielrichtung.Nicht zuletzt auf deutsches Drängen hin achtet die Kommission zudem sehr aufmerksam auf die Einhaltung des Subventionskodex. Deshalb wurde ein großer spanischer Beihilfefall nicht im Ministerrat am24. November 1992 entschieden, vielmehr wird er am25. Februar 1993 erneut verhandelt. Nach unserer Auffassung und der Auffassung nahezu aller anderen EG-Mitgliedstaaten stand der von Spanien angebotene Kapazitätsabbau in keinem angemessenen Verhältnis zu den beabsichtigten Beihilfen. Allerdings — ich räume dies ein — werden auch wir alsbald möglicherweise mit Fällen aus den neuen Bundesländern antreten müssen.Das von Klöckner beantragte Vergleichsverfahren für die Klöckner-Werke AG und ihre Stahltöchter ist zwar auch vor dem Hintergrund der derzeit schlechten Stahlmarktverfassung zu sehen; Sonderfaktoren in erheblichem Umfang kommen aber hinzu.
Klöckner bemüht sich, zusammen mit den Gläubigern zu langfristigen Lösungen der bestehenden Probleme zu kommen.Von dem eingeleiteten Vergleichsverfahren ist übrigens auch die Bundesregierung als Gläubiger auf Grund der von 1983 bis 1985 bedingt rückzahlbar gewährten Strukturverbesserungshilfen betroffen. Sie wird sich konstruktiv verhalten. Ein Vorschlag des Vergleichsverwalters für eine Beteiligung am Vergleich liegt aber noch nicht vor.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erteile ich nun dem Abgeordneten Arne Börnsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sind heute gut 25 Mitarbeiter und Betriebsräte der Klöckner AG aus Bremen und Georgsmarienhütte nach Bonn gekommen. Ich freue mich, daß wir mit ihnen reden konnten. Ich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11541
Arne Börnsen
freue mich auch, daß sie es haben einrichten können, an dieser Debatte als Zuhörer teilzunehmen.Die Kollegen sind gekommen, um von der Politik und speziell von der Bundesregierung zu hören, wie ihr Unternehmen gerettet werden kann, wie ihre Arbeitsplätze gerettet werden können.
— Hören Sie erst einmal zu. Es geht hier nicht darum, daß die Verantwortung gezielt nur einem zugeschoben wird.
Aber es ist ein Anspruch, dem wir gemeinsam gerecht werden müssen, dem auch die Bundesregierung gerecht werden muß, nämlich daß gesagt wird, welche einzelnen Initiativen denn auch aus dem Bereich der Politik gestartet werden, um im Gesamtkonzert eine Rettung dieses Unternehmens und der beiden hier genannten Standorte zu ermöglichen.Wir haben eben, verehrte Frau Kollegin, den Herrn Staatssekretär gehört. Ganz zum Schluß tauchte einmal der Name Klöckner auf, aber ansonsten war von gezielten Initiativen, die die Bundesregierung in diesem Zusammenhang ergreift, nicht die Rede.Wir haben vorher den Kollegen der F.D.P. gehört. — Ich stocke, weil ich gerade meine Erinnerung auffrischte, was da an Initiativen zu hören war. Aber das war wohl auf einer anderen Ebene.Sie haben davon gesprochen, daß in negativer Art und Weise immer wieder einzelne Unternehmen über Aktuelle Stunden in die Debatte des Bundestages eingebracht werden. Verehrter Kollege, es geht hier um 6 000 Mitarbeiter in Bremen, deren Arbeitsplätze gefährdet sind.
Es geht nicht nur um den Standort Bremen, es geht um die Region Norddeutschland. Deswegen versuche ich auch, den betroffenen Kollegen deutlich zu machen, daß wir ihre Probleme ernst nehmen und nicht nur einfach sagen, daß wir uns mit ihnen solidarisch fühlen. Wir müssen auch zeigen, daß etwas getan wird. Da muß man aber mindestens die Verantwortung der Politik erkennen und dazu stehen. Sie haben aber marktwirtschaftliche Elemente in den Vordergrund gestellt und gesagt, das sei nun einmal so, und damit müsse das Unternehmen alleine fertigwerden. Ich habe das jetzt in verkürzter Form gesagt. Damit können Sie den Problemen nicht gerecht werden.
Meine Damen und Herren, es geht um 6 000 Arbeitsplätze in Bremen, um 1 700 Arbeitsplätze in Georgsmarienhütte. Es geht um mindestens die gleiche Zahl von Arbeitsplätzen in Zulieferbetrieben von Klöckner. Es geht tatsächlich um eine Region.Wir haben noch in Erinnerung — Herr Kollege Koschnick vielleicht ganz besonders —, wie in der Stadt Bremen vor ungefähr 10 Jahren die Großwerft AG Weser zugemacht wurde. Das konnte damalsgerade eben aufgefangen werden, weil sich in Bremen ein anderer großer Betrieb allmählich aufbaute und eine erhebliche zusätzliche Zahl an Arbeitsplätzen anbot. Er gehört zur Automobilindustrie, ist selbst Abnehmer von Klöckner, steckt aber jetzt selbst in einer Rezession und muß Arbeitsplätze abbauen. In dieser wirtschaftlichen Situation ist der Standort der Klöckner-Hütte in Bremen gefährdet.Wenn der Standort tatsächlich kaputtgeht, sind die mehr als 6 000 Arbeitsplätze alle kaputt. Damit sind Familienexistenzen kaputt, damit sind Dienstleistungsbereiche gefährdet, damit sind Anbieter nicht nur in Bremen, sondern auch in den umliegenden Landkreisen in ihrer Existenz gefährdet.Meine Damen und Herren, in einer solchen Situation muß man seiner Verantwortung ein kleines bißchen mehr gerecht werden. Ich will das nicht auf das Problem eines Unternehmens oder einer Region reduzieren, aber Kollege Schwanhold hat deutlich gemacht, daß dies symptomatisch ist für die Krise der Stahlindustrie. Wenn Sie hier handlungsunfähig oder -unwillig sind, wird das nur der erste Fall einer Kette von weiteren Fällen sein. Deswegen müssen Sie rechtzeitig beginnen. Es ist also kein Einzelfall Klöckner, wo wir erwarten, daß industriepolitische Initiativen ergriffen werden, sondern es ist exemplarisch dafür, daß der Branche der Stahlindustrie geholfen werden muß.Ich habe ein Zitat, mit dem belegbar ist, daß auch über die Europäische Kommission eine Reihe von Initiativen möglich ist, die weit über das hinausgehen, was Sie getan haben.Es ist für mich und, ich fürchte, bisher auch für die angereisten Kolleginnen und Kollegen enttäuschend, was die Politik an Antworten gefunden hat. Industriepolitik muß dafür Sorge tragen, daß Regionen nicht entindustrialisiert werden. Dieser Begriff, der für Ostdeutschland oftmals angewendet werden muß, ist leider für eine Region in Norddeutschland ebenfalls annähernd — ich sage das mit aller Vorsicht — gerechtfertigt. Da erwarten wir Antworten von der Bundesregierung.Herzlichen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten von Hammerstein das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich darf mich ganz herzlich dafür bedanken, daß ich wie Herr Börnsen sowohl mit den Betriebsräten als auch mit der Unternehmensleitung sprechen konnte.
Die Lage ist sehr, sehr kritisch. Alle Stahlunternehmen der Bundesrepublik Deutschland haben 1992 rote Zahlen geschrieben. Die Bundesregierung und vor allem auch die Landesregierungen, der Bundestag und die Landesparlamente, aber auch Betriebsleitungen und Betriebsräte müssen überlegen, wie sie aus dieser Notlage herauskommen.
Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein
Ich will ein paar Gründe nennen. Erstens. Die Marktbedingungen für die deutschen Stahlindustrieunternehmen sind katastrophal. Es werden zur Zeit nahezu unbegrenzte Importmengen auf den deutschen Markt gebracht, die nicht mehr marktorientiert kalkuliert sind. Der deutsche Markt war 1992 der einzige in der gesamten Welt, der noch gewisse Kapazitäten aufgenommen hat, allerdings Importmengen, die subventioniert auf den deutschen Markt gekommen sind.
Zweitens. Weil die Amerikaner und leider auch andere in der Welt ihren Markt durch Antidumpingmaßnahmen schützen, ist Deutschland Abladeplatz für Billigmengen geworden.
Drittens. Nahezu alle Stahlstandorte in Europa befinden sich in staatlicher Hand bzw. werden staatlich gelenkt mit der Folge, daß die Staatskassen der einzelnen Länder für die Stahlunternehmen geradestehen. Herr Staatssekretär Kolb hat gerade Spanien angesprochen. Spanien hat 1992 8,5 Milliarden DM in die Stahlindustrie subventionieren müssen. Das sind Gelder der spanischen Bürger. Das muß man sich einmal vorstellen.
Wenn man zur Stahlkrise in der Bundesrepublik im Parlament spricht, sollte man sich nicht nur gegenüber den Unternehmen, der Arbeitnehmerschaft und den vielen Tausend Zulieferern solidarisch erklären, sondern auch Vorschläge machen, wie man aus dieser kritischen Situation herauskommt.
Erstens. Jeder im Hause sollte jegliche Subventionierung europäischer Stahlwerke mit Entschiedenheit bekämpfen. Ich betone klar und deutlich, daß kurzfristige Hilfen für deutsche Standorte als Investitionsbeihilfen nötig sind, um aus dieser Krise herauszukommen.
Zweitens. Wir sollten uns auf keinen Fall auf Koppelgeschäfte unter dem Motto einlassen: Tolerierst du meine Subvention, drücke ich die Augen zu.
Drittens. Verhinderung jeglicher Wettbewerbsverzerrungen.
Viertens. Abbau der Subventionen im Kohlebergbau in der Bundesrepublik Deutschland.
— Ich weiß, daß ich mit dieser Aussage viele vor den Kopf stoße. Mir ist der Jahrhundertvertrag wohlbekannt. Aber was nützen den Bergarbeitern Stahlwerke, wenn sie in der Bundesrepublik in allerkürzester Zeit schließen müssen? Das bedeutet, daß sie keine Kohle mehr abnehmen; das bedeutet auch arbeitslose Bergarbeiter. Es ist ein Teufelskreis, der meines Erachtens dringend gelöst werden muß. Wenn man überlegt, daß man zur Zeit auf dem deutschen Markt z. B. australische Kohle, die in Japan verkokst worden ist, in Bremen für 100 DM pro Tonne billiger bekommen kann als die eigene, dann muß man sich, so glaube ich, auch der Lösung dieses Problems in Zukunft zuwenden.
Fünftens. Um die Stahlstandorte Bremen und Georgsmarienhütte zu erhalten, ist es wichtig, daß es zu dem Vergleich kommt, den der Vorstand vorgelegt hat.
Sechstens. Ich bitte die Bundesregierung, auf alle Beihilferückzahlungen zu verzichten. Ich glaube, daß das für beide Unternehmen sehr wichtig ist.
Siebtens. Ich bitte auch die Betriebsräte und die Mitarbeiter, sich Gedanken zu machen, wie sie nicht nur ihr Werk, ihre Firma, ihren Arbeitsplatz, sondern auch viele weitere Tausend Arbeitsplätze in den vor-und nachgelagerten Unternehmen schützen und erhalten können.
Achtens. Ich glaube, daß es auch wichtig wäre, daß sich die Unternehmensleitungen, die Betriebsräte mit ihren Mitarbeitern und die Bundesregierung zusammensetzen, um sich über die Zukunft der Stahlindustrie in der Bundesrepublik Deutschland zu unterhalten und dann weitere Gespräche in der Europäischen Gemeinschaft zu führen.
Zum Schluß gestatten Sie mir, aus einem Kommentar von Professor Walter von der Deutschen Bank zu zitieren,
der kürzlich zur deutschen Wirtschaft unter der Überschrift „Stimmung schlechter als die Lage" die Aussage getroffen hat, Herr Roth:
Es ist erforderlich, daß sich alle herausgefordert fühlen und entsprechend handeln, da nur dies die Basis dafür ist, daß aus der Krise nicht der Kollaps, sondern der Neubeginn wird. Panik ist unangebracht.
Lassen Sie uns der Realität ins Auge sehen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht nur die Stahlindustrie in Bremen, sondern die deutsche Stahlindustrie insgesamt ist von dieser Krise betroffen. Wir müssen befürchten, daß zwischen 15 000 und 20 000 direkt betroffene Arbeitsplätze wegfallen. Die Kurzarbeit schnellt weiter an. Ich spreche jetzt gar nicht die angrenzenden Bereiche an. Aber ich meine auch die Kohle, weil Kohle und Stahl wirtschaftlich doch eng miteinander verknüpft sind.Es geht in der Tat darum, was die Bundesregierung zu tun gedenkt und ob sie endlich bereit ist, ein Gesamtkonzept zur Stabilisierung des EG-Stahlmarktes zu beschließen, in dem letztlich auch die Interessen der deutschen Stahlindustrie Eingang finden.Hier ist schon viel über radikal herabgesetzte Preise bei Stahllieferungen aus den europäischen Ländern gesprochen worden. Sie machen uns im Bereich der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11543
Wolfgang WeiermannEG, aber auch im Bereich der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu schaffen. Das erfordert zwingend, daß der Stahlhandel mit Osteuropa einer geordneten Regelung zugeführt wird und daß man auch gegen Maßnahmen in den USA mit allen GATT- konformen Mitteln angeht.Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Das, was der Wirtschaftsausschuß am 11. November 1992 beschlossen hat, nämlich darauf hinzuwirken, daß im EG-Ministerrat keinen weiteren Subventionen zugestimmt wird, bis in der deutschen Stahlindustrie gleiche Wettbewerbsmöglichkeiten gesichert sind, findet meine und, ich glaube, unser aller volle Zustimmung. Die seit Jahren geforderten gleichen Start- und Wettbewerbschancen sind bis heute nicht verwirklicht worden.Angesichts der jetzigen katastrophalen Situation bei Klöckner — ich komme selber aus einem solchen Stahlstandort, und ich sage ganz deutlich: es sieht woanders leider nicht besser aus — darf vermutet werden — ich habe bislang von der Bundesregierung jedenfalls nichts gehört —, daß es ihr am politischen Willen fehlt, deutsche Stahlarbeitsplätze zu schützen.Mehr als 120 Milliarden DM an Subventionen sind seit etlichen Jahren in anderen EG-Ländern in die dortigen Stahlindustrien geflossen unter Zustimmung des EG-Ministerrates und damit doch wohl auch unter Zustimmung des deutschen Bundeswirtschaftsministers.Um nur wenige Beispiele zu nennen: Die Subventionen betragen mehr als 40 Milliarden DM für das staatliche Unternehmen in Italien, mehr als 30 Milliarden DM in England, mehr als 25 Milliarden DM in Frankreich und noch einmal rund 15 Milliarden DM in Belgien. Wie wollen denn bei größtem Fleiß deutsche Stahlunternehmen und deutsche Stahlarbeiter in diesem Wettbewerb überhaupt bestehen können, wenn die Stahlindustrie in anderen Ländern mit diesen Riesensummen subventioniert wird?Die deutsche Stahlindustrie hat natürlich einige finanzielle Hilfen bekommen, die aber der Zurückzahlung unterlagen und die in der Tat auch zurückgezahlt worden sind. Wir stehen nun vor dem Scherbenhaufen dieser Politik. Das muß man an dieser Stelle deutlich festhalten.Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind sich klar darüber — das ist ein Teil der Eigenverantwortung, die Sie angesprochen haben —, daß vorhandenen Überkapazitäten im gesamten EG-Bereich — das sind rund 20 Millionen t — durch eine Strukturbereinigung innerhalb der Branche begegnet werden muß. Aber das heißt doch im Klartext, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht allein die Zeche einer verfehlten Industriepolitik zu begleichen haben. Das kann doch nicht der Fall sein.
Aus diesem Grunde und angesichts der steigenden Dramatik fordere ich die Bundesregierung auf, bei der EG auf das Ausrufen der manifestierten Krise gemäß Art. 58 des Montanunionsvertrages zu drängen. Das bedeutet, daß in diesem Fall feste Produktionsquotenund Mindestpreise für alle Stahlhersteller in den Mitgliedsländern festgelegt werden.Die bislang für Kapazitätsstillegungen gezahlte EG-Sozialhilfe muß bei möglichen betriebsbedingten Freisetzungen im Zuge von Strukturanpassungen, wie etwa Rationalisierungsvorhaben, durch Art. 56 EGKS ergänzt werden. Sonst bekommen wir es nicht in den Griff, daß Gelder für Sozialplanleistungen zur Verfügung stehen, die verhindern, daß Menschen ins Bergfreie falle.Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Einrichtung einer europäischen Stahlstiftung mit Beibehaltung der Montanumlage und die unverzügliche Einberufung einer nationalen Stahlrunde aus Vertretern der Stahlindustrie, der Politik und der Gewerkschaften. Das muß das erste sein, was der neue Bundeswirtschaftsminister aufgreift; denn wir schreiben fünf vor zwölf.Wir brauchen des weiteren eine Intensivierung der Schaffung neuer Arbeitsplätze in Verbindung mit differenzierten arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Sofortmaßnahmen in Finanzkombination von EG, Bund, Ländern und Gemeinden.
Wir brauchen letztlich und endlich — ich komme zum Schluß — ein nationales Stahlkonzept im Rahmen europäischer Stahlpolitik, das diesen Namen auch verdient.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Friedhelm Ost das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Gysi hatte vorhin auf „aktuell" und „konkret" hingewiesen.
— Er ist wieder nicht da.
Wir haben uns — der Kollege Weiermann hat es angesprochen — sehr intensiv, aktuell und konkret schon am 11. November 1992 im Wirtschaftsausschuß mit den Stahlproblemen beschäftigt. Es wäre sehr gut gewesen, wenn die Gruppe, die den Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde gestellt hat, damals dabeigewesen wäre. Ich hielte das jedenfalls für seriöser, als hier immer spezielle Dinge in die Diskussion zu bringen, weil man meint, man könnte damit PR-Effekte erzielen.
Es geht in der Tat um Einzelunternehmen, auch um das Schicksal der Menschen. Es ist wiederholt gesagt worden: Es geht um die Region, es geht um Standorte,
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11544 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Friedhelm Ostes geht um 6 000 Arbeitsplätze. Natürlich müssen wir uns davor hüten, jedesmal, wenn 6 000 Arbeitsplätze in mittleren oder kleineren Unternehmen oder jetzt in Ostdeutschland in Gefahr sind, hier große Diskussionen zu führen; dann wären wir wirklich Tag und Nacht damit beschäftigt.Wir alle — ich glaube, die Kollegen der SPD sind da derselben Meinung — bekennen uns doch nach wie vor zur Sozialen Marktwirtschaft.
— Auch danach handeln; das ist richtig. — Dann muß aber zunächst in den Vorständen gehandelt werden. Es muß auch in den Aufsichtsräten gehandelt und entschieden werden. Montan-Mitbestimmung — ich bin kein Gegner — heißt aber auch große und intensive Verantwortung für beide Seiten. Sie muß im Sinne der Arbeitnehmer auch wahrgenommen werden.
Das ist manchmal geglückt, aber manche Dinge sind auch verkleistert worden. Man hat sich in Unternehmen im Norden wie auch anderswo insoweit etwas vorgemacht.Natürlich haben wir — Herr Kollege Weiermann hat darauf hingewiesen — in der deutschen Stahlindustrie, insgesamt in der europäischen Stahlindustrie, in der Weltstahlindustrie Strukturprobleme. Die kann man natürlich nicht mit läppischen Anmerkungen lösen, indem man sagt: Die Schiffe werden demnächst vielleicht anders konstruiert. Das ist — das weiß der Kollege Börnsen sicherlich aus eigener Erfahrung besser; er ist ja Schiffsbauingenieur — nicht die Lösung der Stahlprobleme. Wenn jemand so redet, spricht er wie ein Blinder von der Farbe.
— Nein, Sie haben das nicht gesagt. Ich meinte jetzt sozusagen den Premierenredner, der hier aufgetreten ist.
— Gut, das brauchen wir jetzt nicht mehr festzustellen.Klöckner mußte den Vergleich anmelden; dies ist gesagt worden. Nun werden in der Tat gewaltige Kraftanstrengungen und auch riesige Opfer von Gläubigern und Banken abverlangt.Auch die Mahnung in Richtung Bund ist erfolgt. Ich hoffe, daß die für die Regionalpolitik und die Arbeitsplätze zuständigen Landesregierungen ihren Teil einbringen
und wirklich mit großer Phantasie — lieber Herr Kollege Koschnick, Sie waren da vielleicht sogar phantasievoller als Ihre Nachfolger — zu einer Lösung beitragen,
Natürlich gibt es dieses Problem nicht nur in Bremen. Auch die neue Maxhütte ist in existentielle Schwierigkeiten geraten.Diejenigen, die jetzt sehr laut nach Produktionsquoten rufen, warne ich: Es mag die Ultima ratio sein. Aber wir müssen auch zu Ende denken, was die Einführung von Produktionsquoten letztendlich bedeuten würde — möglicherweise Linderung bei der einen Hütte, Verschlechterung bei den anderen —, und zwar auch mit Blick auf die ostdeutsche Stahlindustrie.Es sind über eine längere Strecke kräftig rote Zahlen geschrieben worden. Rot ist für viele eine politisch beliebte Farbe, aber rote Zahlen bedeuten ökonomisch und auch sozial operative Verluste und einen Abbau von Arbeitsplätzen. Wir müssen alles versuchen, damit die Branche nicht wieder in einen ruinösen Wettbewerb verfällt, sondern zu einer Stabilisierung kommt.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Ina Albowitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wende mich zunächst an die Kollegen von der PDS/Linke Liste: Es ist kein guter Stil, wenn der Gruppenvorsitzende hier spricht und als Antragsteller dann nicht bis zum Schluß der Debatte hier ist.
— Natürlich nicht, Herr Weiermann; aber warten Sie ab, ich komme zu Ihnen auch noch. — Ich finde also, es gehört sich eigentlich, dann auch freitags um 17 Uhr noch hier zu sein, denn die Damen und Herren, die oben sitzen, wollen ja in dieser Aktuellen Stunde zu diesem Punkt auch etwas hören.
— Das interessiert mich jetzt nicht; Gründe haben wir sicher alle eine ganze Menge.Noch zwei andere Vorbemerkungen. Wir können es alles auf den Punkt bringen, Herr Weiermann, und Herr Schwanhold hat es noch dezidierter gesagt. Wir können auch fragen: Wie strukturieren wir eigentlich neue Subventionspolitik? Denn nichts anderes haben Sie eigentlich gefordert.
— Sie haben es etwas vornehmer genannt: neue Strukturpolitik; aber Sie haben mehr Geld gefordert. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn es das ist, was Sie wollen, dann frage ich mich, was wir hier ständig für eine scheinheilige Debatte führen, wenn wir uns über die Finanzen unterhalten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993 11545
Ina Albowitz— Herr Weiermann, ich helfe Ihnen gerne, wenn wir uns beim Bundeshaushalt über die Subventionen unterhalten, die in den einzelnen Haushalten stehen.
Wir haben den Haushalt gerade beraten und beschlossen. Wir haben Subventionen für die Werftindustrie, für die Autoindustrie usw. drin.
—Ja, ja, wir können das ja alles machen. Aber fordern Sie nicht gleichzeitig ständig Subventionsabbau. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir brauchen eine neue Strukturpolitik, dann fordern Sie im Grunde, um es deutlich zu sagen, nur mehr Geld.
Im übrigen, Herr Kollege, müssen Sie offensichtlich ein Trauma haben. Als mein Kollege Friedhoff nur die Feststellung von der Montán-Mitbestimmung getroffen hat, sind Sie wie eine Rakete hochgegangen. Ich weiß überhaupt nicht, warum.
— Herr Kollege, ich habe von Ihrem offensichtlichen Trauma gesprochen,
das Sie bei der Feststellung einer Montan-Mitbestimmung haben. Ich habe nicht gesagt, daß es Verfehlungen gegeben hat. Offensichtlich müssen Sie mehr Erkenntnisse haben als wir.
Ich warne Neugierige davor, wenn wir jedes Unternehmen mit seinen Fehlleistungen und seinen Erfolgen — manchmal ist ja beides da — hier sozusagen auf den Tisch legen wollten.Wir sollten uns auch über folgendes unterhalten, Herr Kollege Hammerstein, denn der Staatssekretär hat ja zu der sozialen Verantwortung auch Stellung genommen. Wenn hier gefordert wird, auf die Forderung des Bundes im Vergleich zu verzichten, frage ich Sie, ob man das einfach so in den Raum stellen kann. Wissen Sie eigentlich, um wieviel Geld es geht? Ich will es gern laut erklären: Es geht hier schlicht erst einmal um 250 Millionen DM.
— Das ist etwas anderes. Sie erwarten doch wohl nicht von einem Gläubiger, daß er sich hinstellt und sagt: Weil das alles nichts ist, verzichte ich gleich von Anfang an darauf. Das kann es nicht gewesen sein.Meine Damen und Herren, wir haben bei den schwierigen Zeiten, die in der Wirtschaft sind — auchin der Stahlindustrie sind sie außerordentlich kritisch und schwierig —, Ursachenforschung zu betreiben. Wir haben Konzepte zu entwickeln und müssen unserer sozialen Verantwortung gerecht werden.Das gilt für alle Fraktionen dieses Hauses. Wir müssen an der Lösung bestimmter schwieriger Probleme auf dem europäischen Markt mitarbeiten.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans Koschnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um eine Krise eines Industriebereichs, die nicht regionalisiert werden kann. Es kann nicht heißen, das sei nur Bremen oder Osnabrück oder Duisburg — wo der Hauptvorstand sitzt oder die Maxhütte. Wir haben eine ganze Menge Gesamtprobleme, und es gibt spezielle Probleme, die gemeinsam gesehen werden müssen. Wir können nichts ausklammern und sagen: Nur dieses eine ist etwas Wichtiges. Wir können umgekehrt auch nicht nur von den globalen Fragen reden. Wir reden über die Sorgen von Menschen in einer Region, die mit ihren Familien darauf warten, daß die Politik Antworten gibt — natürlich nicht an Stelle von Unternehmen.Ich bin da für Schumpeter: Unternehmer sollen Unternehmensführung leisten. Mitbestimmung ist da, um mitzudenken und nachzuprüfen. Alles das ist richtig. Aber Wettbewerbsverzerrung im europäischen oder internationalen Rahmen beseitige ich in keinem Unternehmen durch Mitbestimmung.
Unternehmensprobleme sind nicht allein vom Unternehmensvorstand zu lösen, wenn auf anderen Gebieten die Dinge völlig verschoben werden.Ich möchte noch einmal deutlich machen: Es geht hier, verdammt noch mal, nicht um Subventionen; es geht um Europa, um Wettbewerbschancengleichheit, es geht bei GATT um ähnliche Positionen. Es geht nicht um Abriegelung der Märkte, aber um gleiche Chancen für alle.Zum zweiten geht es um Industriepolitik. Hier bitteich die christlichen Demokraten und die Freien Demokraten, besonders zuzuhören.
Nach 1948, 1949, 1950 ist die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft auch als eine Antwort gegen ein kommunistisches System aufgebaut worden. Es war ein Prinzip, das nach dem „tausendjährigen Reich" entwickelt worden ist und bei dem ganz klar war — nicht nur bei Ludwig Erhard, auch bei den theoretischen Vordenkern —, daß man es nicht ohne Ordnungsrahmen machen kann, daß es nicht mit „laissez faire " geht, daß man nicht sagen kann: Der freie Markt regelt alles. Wir haben politische Strukturen aufzubauen, um Chancen für die Wirtschaft zu entwikkeln.
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11546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Hans KoschnickDiese Frage der Industriepolitik, von Ludwig Erhard damals gesehen, von anderen weitergetragen, wird heute zum Teil geleugnet, und zwar aus dem Wirtschaftsministerium. In den letzten Jahren habe ich von den Wirtschaftsministern nur gehört: Der freie Markt regelt alles. — Hier regelt er nichts! Das sage ich Ihnen!
— Ich will ja nicht von Möllemann reden; auch davor war es nicht viel besser.Lassen Sie es mich in wenigen Worten sagen. Die konkrete Frage ist: Wo ist die industriepolitische Antwort, auf die sich Unternehmen einstellen können, mit der wir mit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben arbeiten können? Kommen Sie nicht und sagen: Die Betriebsräte und die Arbeitnehmer müssen etwas leisten! Die Antwort im freien Unternehmerbereich, wie wir ihn heute kennen, ist: Ich erwarte gut motivierte Arbeitnehmer mit einer hohen Effektivität im Betrieb bei der Aufgabenstellung, den Betrieb zu modernisieren. Aber der Arbeitnehmer ist nicht dazu da, das Kapital zu erbringen — bei den Löhnen, die wir zahlen.Wenn es richtig ist, bleibt eine große Frage: Ist es industriepolitisch vernünftig, moderne Werke kaputtgehen zu lassen, weil sie heute unter Kapitalenge leiden, andere Bereiche in Europa aber weiterzuführen, obwohl sie schrottreif sind, und das nur, weil wir sagen, mit Brüssel werden wir weiter für freie Marktwirtschaft sein?Ich sage: Wenn wir den Menschen helfen wollen, wenn wir der Wirtschaft helfen wollen, brauchen wir eine Politik, die für gleiche Wettbewerbsbedingungen sorgt. Wir brauchen nach wie vor Unternehmer, auch Gewerkschaften, auch Arbeitnehmer, die gemeinsam darüber nachdenken, wie sie insgesamt die Strukturen verbessern können. Darauf könnten wir uns verständigen, falls Sie bereit sind, endlich zu sagen: Wir wollen wirklich Industriepolitik betreiben.Es ist doch ein Hohn in Deutschland. Es gibt große Anzeigen, daß wir den Industriestandort Deutschland gefährden, und wir würden gar die modernsten Werke dichtmachen! Ich frage jeden, der Verantwortung hat, in der Diskussion, ob man bei der Entscheidung, wo was getan werden muß, nicht auch die Qualität der Arbeit sehen muß. Ich meine damit nicht nur Bremen, nicht nur Osnabrück, nicht nur die Maxhütte. Es ist eine Frage, die insgesamt gesehen werden muß. Ich hoffe, daß wir uns vielleicht doch verständigen können; denn die Diskussion von heute ist auch eine Diskussion über Hoffnungen für Menschen.
Meine Damen und Herren! Damit die Abgeordnete Frau Grochtmann, die als Schriftführerin hier neben mir sitzt, noch die Möglichkeit hat, nach Hause zu kommen, bitte ich um Zustimmung des Hauses, daß ich
ersatzweise Herrn Erich Fritz zum Schriftführer ernenne. — Dies ist damit geschehen.
Ich darf nunmehr dem Abgeordneten Dr. Sprung das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicherlich wäre die Lösung der Probleme der Stahlindustrie leichter, wenn es sich nur um ein EG-Thema handeln würde. Die Probleme werden jedoch dadurch entscheidend verschärft, daß sich die Stahlindustrie weltweit wegen Überkapazitäten in Schwierigkeiten befindet. Die Gründe dafür sind bereits genannt worden. Die Folge sind einerseits oft weit unter den Gestehungskosten stattfindende Exporte, andererseits Abwehrmaßnahmen, Straf- und Retorsionsaktionen, oft GATT-widrig und unzulässig.Was ist zu tun?Erstens. Ich wiederhole die Forderung, die der Wirtschaftsausschuß bereits im November an die Bundesregierung gerichtet hat, in Brüssel mit Nachdruck darauf zu drängen, daß sich die EG mit aller Entschiedenheit gegen die Maßnahmen der USA und — so muß man heute hinzufügen — auch Kanadas im Bereich der Stahlindustrie zur Wehr setzt und alle verfügbaren Mittel dafür einsetzt, daß den deutschen Stahlunternehmen daraus kein Schaden entsteht.Zweitens. Die Bundesregierung muß darauf drängen, daß die Stahlimporte aus Mittel- und Osteuropa nicht weiterhin zu Dumpingpreisen auf den europäischen Markt kommen. Wir alle lehnen protektionistische Maßnahmen ab. Wir haben den EG-Markt zum Osten hin geöffnet, um den mittel- und osteuropäischen Ländern die Möglichkeit zu geben, sich zügig auf dem Weg zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung in die internationale Arbeitsteilung einzufügen. Die Preise, zu denen ihre Stahlexporte auf unseren Markt kommen, insbesondere auf den deutschen Markt, und zwar wegen unserer geographischen Lage, haben allerdings nur bedingt etwas mit den tatsächlichen Kosten zu tun.Bis Ende des vergangenen Jahres konnte wenigstens im Fall der CSFR für einige Stahlprodukte die Schutzklausel des Interimsabkommens angewendet werden. Seit dem 1. Januar gibt es einen solchen Schutz nicht mehr — wir haben es von Herrn Staatssekretär Kolb gehört —, weder gegenüber den beiden Nachfolgestaaten der CSFR noch gegenüber Polen und Ungarn.Wir haben auch gehört, welche Maßnahmen die Kommission ergreifen will bzw. schon ergriffen hat, um auch weiterhin der Stahlindustrie in der EG einen gewissen Schutz gegenüber den Einfuhren aus den mittel- und osteuropäischen Ländern zukommen zu lassen.Diese Maßnahmen betreffen allerdings nur einige wenige Produkte, und sie reichen deshalb nicht aus. Für die deutsche Stahlindustrie bliebe damit nur der Weg, über Antidumpingklagen im GATT diesen Billigimporten entgegenzutreten. Diese Antidumping-
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Dr. Rudolf Sprungklagen besitzen jedoch einen entscheidenden Nachteil: sie dauern zu lange.
Bis über sie entschieden wird, können bis zu drei Jahre vergehen. Die Folge kann sein, daß bis dahin die privaten Stahlunternehmen in der EG aus dem Markt ausgeschieden sind, während die staatlich gestützten Stahlunternehmen in Italien und die massiv subventionierten Stahlunternehmen in Spanien im Markt verbleiben.
Das wäre ein wirklich groteskes Ergebnis, meine Damen und Herren. Die wettbewerbsfähigen Privatunternehmen — dazu gehören auch die deutschen Stahlfirmen — scheiden aus, während die am staatlichen Tropf hängenden subventionierten Stahlunternehmen im Markt verbleiben. Keiner von uns, meine Damen und Herren, kann dem zustimmen!
Drittens. Sowohl das Subventionsverbot als auch die Genehmigung von Subventionen nach dem Subventionskodex des § 95 des EGKS-Vertrages müssen endlich konsequent angewandt werden. Das heißt, daß Subventionen allenfalls für Maßnahmen im Umweltschutz, für die Forschung und für die Regionalbeihilfen zugelassen werden können — entsprechend dem Subventionskodex von 1987.Gleichzeitig muß die Bundesregierung darauf drängen, die Gewährung von Subventionen, wenn sie dennoch über die Maßnahmen des Subventionskodex hinaus erfolgen, grundsätzlich mit einem Kapazitätsabbau zu verbinden und zwischen Subventionen und dem Kapazitätsabbau einen zwingenden Zusammenhang herzustellen, der sich in festen Relationen zwischen gewährten Subventionsbeträgen und dem dafür stillzulegenden Produktionspotential ausdrückt.Es kann nicht so weitergehen, daß deutsche Unternehmen, wie Mitte der 80er Jahre, pro Subventionsmilliarde eine Kapazität von einer Million Tonnen stillegen mußten, während sich die Kommission im aktuellen Fall Spanien, das für seine Stahlunternehmen Subventionen in Höhe von 19 Milliarden DM beantragt hat, mit nur einem Viertel an Stillegungen zufriedengibt.
Meine Damen und Herren, wenn es der Bundesregierung gelingt, diese und die anderen in der Entschließung des Wirtschaftsausschusses vom November genannten Maßnahmen auf europäischer Ebene durchzusetzen, werden die Arbeitsplätze in der deutschen Stahlindustrie weitgehend erhalten und die Ertragskraft der Unternehmen deutlich gestärkt werden können. Die Kommission ist aufgefordert und verpflichtet, entsprechend und sehr schnell tätig zu werden.Ich danke Ihnen.
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Abgeordneten Dr. Vondran das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht hier um Klöckner, aber es geht um noch mehr. Es geht — und das ist zum Ausdruck gekommen — um die Zukunft der deutschen Stahlindustrie, von der über 300 000 Arbeitsplätze abhängen. Und es geht um ein wichtiges Stück unserer privaten Wirtschaftsordnung.Überall in Europa unterliegt die Stahlindustrie einem Substanzverzehr, schlimmer als in der schwärzesten Zeit der Stahlkrise Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre. Die Chancen zu überleben sind dabei nicht gleichmäßig verteilt. Herr Sprung hat gesagt, private Unternehmen geraten gegenüber der verstaatlichten Konkurrenz immer mehr in die Defensive. Ich unterstreiche das. Wenn der Mengen- und Preisverfall so weitergeht, gibt es in der EG Ende dieses Jahres — in wenigen Monaten — nur noch zwei oder drei integrierte privatwirtschaftliche Erzeuger; so der Chef des Hauses Thyssen, Heinz Kriwet, vor kurzem. Am Ende droht Brüsseler Dirigismus, ein behördliches Quotenregiment, Planwirtschaft. Im Osten haben wir sie gerade ohne Wehmut verabschiedet.Betreiben wir Ursachenforschung, wie Frau Albowitz es vorgeschlagen hat. Sieht man einmal von den allgemeinen Konjunkturschwankungen, mit der jede Industrie, auch die Stahlindustrie, fertig werden muß, und der notwendigen Bereinigung der Kostenstrukturen — auch das ist eine Aufgabe für Vorstände und Aufsichtsräte — ab, so kommen die Belastungselemente ganz überwiegend aus dem Feld der Politik. Überkapazitäten: eine Altlast der hemmungslosen Subventionswirtschaft. Einfuhrschwemme aus Osteuropa: Ergebnis einer Handelspolitik mit der Brechstange, die nicht wahrhaben wollte, daß die Kostenstrukturen in Ost und West unvergleichbar sind, daß sich die Kostengüterpreise für Kohle, Strom, Erz, Frachten und Kapital im Osten nicht im Markt bilden, daß Umweltschutz jenseits der Oder und des Erzgebirges ein Fremdwort ist.Verstärkter Importdruck aus anderen Ländern: eine Folge des amerikanischen Protektionismus. Der größte Stahlmarkt der Welt macht für alle Importe dicht.
Die dort verdrängten Tonnagen suchen Asyl bei uns. Zugleich werden 600 000 Tonnen deutschen Stahls ausgesperrt.Schließlich nenne ich eine verklemmte Wettbewerbspolitik, die bisher nicht zuläßt, daß die Unternehmen das wirtschaftlich Vernünftige tun, nämlich das Angebot kurzfristig verkürzen, um den Zusammenbruch des Marktes zu vermeiden und die Strukturen in gemeinsamer Anstrengung auf Dauer zu bereinigen.Wer ist verantwortlich? Einige der Oppositionsredner sagten: Bonn. Ich trete dem mit Deutlichkeit entgegen. Ja, es hat eine Zeit gegeben, da hat die
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11548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 132. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Januar 1993
Dr. Ruprecht VondranBundesregierung in Brüssel nicht hart genug gegengehalten. Ich habe mich nicht gescheut, das hier zur Sprache zu bringen. Das war z. B. im Sommer 1991. Aber in den letzten eineinhalb Jahren sind solche Fehler nicht zu beklagen.Der Bundeswirtschaftsminister hat mit Nachdruck Subventionsdisziplin angemahnt. Er hat konsequent Kapazitätsabbau gefordert. Er hat sich für faire Handelsregelungen eingesetzt. Er hat deutliche Signale gesetzt, daß ein Krisenkartell politisch begleitet werden soll.Der Wirtschaftsminister hat sein Amt zur Verfügung gestellt. Aber für seinen Einsatz im Sinne der deutschen Stahlindustrie möchte ich ihm und der Spitze des Wirtschaftsministeriums hier Dank zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, daß dieser Kurs auch künftig weiter gefahren wird.Die Verantwortung für den Scherbenhaufen der Stahlpolitik liegt vor allem in Brüssel. Ich wiederhole das hier ungerührt, obwohl mir das von dort schon heftig entgegengehallt ist, einfach deshalb, meine Damen und Herren, weil es die Wahrheit ist: Unter dem Recht der Montanunion liegen die Kompetenzen in Brüssel. In Brüssel wird geschönt, wenn es um Subventionen geht. Dort sind die Probleme des Osthandels völlig verkannt worden. Die dort entwickelte dogmatisch verhärtete Wettbewerbspolitik hat der Stahlindustrie die notwendigen Reaktionsspielräume genommen.Aber ich muß hier differenzieren. Vizepräsident Bangemann und sein Kabinett kennen die Probleme. Sie haben versucht, das Richtige zu tun. Den Kurs der EG-Kommission haben sie jedoch nicht bestimmt. Nachgeordnete Dienste haben zum Teil miserable Arbeit geleistet. Noch vor wenigen Wochen haben sie eine, gemessen an den Tatsachen, viel zu optimistische Stahlprognose vorgelegt.Seit Jahresanfang ist dort eine neue Mannschaft tätig. Das gibt die Chance auf einen Neuanfang in der Stahlpolitik. Ich setze darauf, daß diese Chance genutzt wird. Vielleicht gibt auch der Bericht des früheren EG-Generaldirektors Braun, der zum Monatsende vorliegen müßte, konkrete Ansätze dazu. Vorschläge aus Deutschland liegen dazu auf dem Tisch. Art. 58 kann — da stimme ich dem Kollegen Ost zu — nur die Ultima ratio sein. Vorrang hat anderes.Der Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages hat sich am 11. November einstimmig für eine gemeinsame Politik entschieden. Es erscheint mir wichtig, daß die politisch Verantwortlichen im Bund und in den Ländern, die Gewerkschaftler und die Arbeitgeber in diesem Sinn auch weiter zusammenwirken. Dann haben wir zumindest noch eine Chance, die Krise zu bewältigen.Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde und am Ende unserer Tagesordnung.
Mir bleibt nicht mehr übrig, als die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Januar 1993, 13 Uhr einzuberufen und Ihnen allen ein sorgenfreies Wochenende zu wünschen.
Die Sitzung ist geschlossen.