Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst einmal habe ich das Vergnügen, dem Kollegen Dr. Alfred Dregger zu seinem heutigen 72. Geburtstag herzlich zu gratulieren.
Auch dem Kollegen Peter Conradi, der heute seinen 60. Geburtstag feiert, möchte ich von dieser Stelle aus herzlich gratulieren.
Sodann habe ich Ihnen bekanntzugeben, daß der Abgeordnete Franz Müntefering am 8. Dezember 1992 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag — aus bekannten Gründen — verzichtet hat. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Walter Schöler am 8. Dezember 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich und hoffe auf eine gute Zusammenarbeit.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum fortschreitenden Waldsterben
2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Extremismus und zunehmende Gewaltbereitschaft in Deutschland
3. Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen — Drucksache 12/3825 —
4. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung des Erwerbs von Wohnungseigentum — Drucksache 12/3961 —
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Augustinowitz, Heribert Scharrenbroich, Wolfgang Vogt , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Zurheide, Klaus Beckmann, weiterer Abgeordnete-rund der Fraktion der F.D.P.: Keine protektionistische europäische Regelung für die Einfuhr von Bananen — Drucksache 12/3959 —
6. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland — Drucksache 12/3944 —
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Michael Müller , Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Umweltbereich — Drucksache 12/3948 —
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 82 zu Petitionen — Drucksache 12/3962 --
9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 83 zu Petitionen — Drucksache 12/3963 —
Die Beratung des Tagesordnungspunktes 12 soll auch als „Vereinbarte Debatte zum Thema Menschenrechte " geführt werden. Der Tagesordnungspunkt 4i soll in diese Debatte einbezogen werden.
Des weiteren ist vereinbart worden, Tagesordnungspunkt 18 — es handelt sich dabei um die Trinkwasserversorgung — vorzuziehen und bereits nach Tagesordnungspunkt 15 aufzurufen. Tagesordnungspunkt 3 d soll abgesetzt und der Tagesordnungspunkt 4 a erst am Freitag aufgerufen werden.
Ich frage das Haus, ob es mit diesen Vorschlägen einverstanden ist? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 2 und Punkt 13 der Tagesordnung auf:
ZP2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Extremismus und zunehmende Gewaltbereitschaft in Deutschland
13. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Willfried Penner, Gerd Wartenberg , Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
11040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland
— Drucksachen 12/1729, 12/3074 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache nach der Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist auch das beschlossen.
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nun erteile ich zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Bundeskanzler, Herrn Dr. Helmut Kohl, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sind gegenwärtig Zeugen einer erschreckenden Zunahme von Gewalttaten in der Bundesrepublik Deutschland. Der mörderische Brandanschlag von Mölln ist ein besonders bedrückendes Beispiel dafür. Drei wehrlose Menschen fielen diesem Verbrechen zum Opfer.
Unser freiheitlicher Rechtsstaat ist bereit und, wenn wir wollen, in der Lage, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln Gewalt und extremistischen Terror zu bekämpfen.
Ich bin sicher, die allermeisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland lehnen Gewalt ab, aus welchen Motiven auch immer sie verübt wird und gegen wen auch immer sie sich richtet. Wir verurteilen jede Form von Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus.
Alle Demokraten, alle demokratischen Parteien in Deutschland und alle führenden Repräsentanten unserer Bundesrepublik haben sich kategorisch gegen jedwede Anwendung von Gewalt gewandt.
Die großen Demonstrationen am 8. November 1992 in Berlin und am vergangenen Wochenende in München mit vielen Hunderttausenden von Teilnehmern haben der Welt deutlich gemacht, wie die große Mehrheit der Deutschen denkt. In ganz Deutschland sind weit über 1 Million Menschen auf die Straße gegangen, um öffentlich gegen jede Form von Fremdenhaß und Rassismus, von Extremismus und Gewalt zu demonstrieren. Und auch das gehört zum Bild des Deutschland von heute: Es gibt viele, viele Beispiele spontaner Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber den Opfern der Gewalt, und zwar überall in Deutschland.
Die Anwendung von Gewalt muß in unserer Gesellschaft ein Tabu bleiben.
Wer dagegen verstößt, muß die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Die Brandanschläge der letzten Tage und Wochen führen jedermann vor Augen, wie verhängnisvoll, ja menschenverachtend die Unterscheidung zwischen „Gewalt gegen Personen" und „Gewalt gegen Sachen" ist. Es darf keine Nachsicht gegenüber jenen geben, die sich anmaßen, für sich selbst rechtsfreie Räume zu schaffen.
Um es noch einmal zu sagen: Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt, für niemanden. Diejenigen, die glauben, daß man über ein Klima der Einschüchterung, der Furcht und der Angst unser Land verändern könnte, täuschen sich. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie, und sie wird dies auch jetzt in dieser Herausforderung beweisen.
Unser demokratischer Rechtsstaat sieht sich einer erheblichen Zunahme von Straftaten gegenüber. Die Entwicklung — man muß es aussprechen — ist dramatisch. Allein im ersten Halbjahr 1992 wurden fast 3 Millionen Straftaten erfaßt. Bis zum Ende dieses Jahres werden es vermutlich an die 6 Millionen sein. Das hat Folgen für die Aufklärungsquote.
Besonders erschreckend ist die Zunahme der Straftaten mit Schußwaffengebrauch und auch bei den Raubdelikten. Ich sage auch das noch einmal von diesem Pult aus, was ich vor ein paar Tagen sagte: Noch immer begreifen viel zu wenige, welch ernste Bedrohung für die innere Sicherheit die Mafia und das organisierte Verbrechen überhaupt darstellen.
Große Sorgen bereiten uns allen die von Rechtsextremisten verübten Straftaten. Das Gewaltpotential steigt ständig. Die Zwischenbilanz ist erschreckend: Vom 1. Januar dieses Jahres bis heute wurden über 2 000 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation erfaßt. Die große Mehrzahl der Täter ist zwischen 12 und 20 Jahren alt. Das ist für uns alle besonders bedrückend.
Bei diesen Straftaten wurden 17 Menschen getötet, davon acht Ausländer. Der Anteil der Brand- und Sprengstoffanschläge macht mit mehr als 650 Anschlägen fast ein Drittel dieser Untaten aus. Bei über 1 850 Anschlägen lag — so kann man vermuten oder weiß man — eine fremdenfeindliche Zielsetzung vor. Die Gesamtzahl der gewaltbereiten und militanten Rechtsextremisten muß heute auf über 6 000 Personen geschätzt werden.
Zu all dem kommt — auch das gehört ins Bild —, daß der Linksextremismus nach wie vor ein gefährliches Gewaltpotential darstellt. Es gibt in Deutschland zur Zeit etwa 6 500 Mitglieder und Anhänger gewaltbereiter, anarchistischer und vergleichbarer Gruppierungen. Auch das ist mehr als noch im Vorjahr. Auch hier nimmt die Gewaltbereitschaft zu.
Für den demokratischen Rechtsstaat ist die Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus von links oder von rechts eine gleichermaßen wichtige Aufgabe; denn beiden Extremen ist gemeinsam, daß sie wesentliche Grundprinzipien, ja Grundlagen der
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Demokratie und damit die Demokratie an sich in Frage stellen.
Wir beobachten darüber hinaus — die Geschichte lehrt uns, hier besonders aufmerksam zu sein —, daß sich die Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksextremisten verschärfen, daß sie gewalttätiger werden und brutaler.
Wir alle wissen auch, daß sich die Zunahme von Gewalttaten nicht auf Deutschland allein beschränkt. Dies ist eine Erscheinung, die wir leider auch bei unseren Nachbarn und in vielen anderen Ländern beobachten müssen.
Die tiefgreifenden Umwälzungen der vergangenen Jahre, die zunehmenden Wanderungsbewegungen, aber nicht zuletzt auch die nachlassende Kraft anerkannter moralischer Autoritäten haben nicht nur in Deutschland, sondern in großen Teilen der westlichen Welt bei vielen eine tiefe Verunsicherung bewirkt.
Vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Jahrhunderts, vor allem der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sind jedoch wir, die Deutschen, in einer ganz besonderen Weise gefordert, jedweder Gewalt Einhalt zu gebieten und den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu gewährleisten.
Angesichts dieser Geschichte gilt unsere besondere Solidarität den Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens. Das schulden wir der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ebenso wie jetzigen und künftigen Generationen in Deutschland.
Ich darf zitieren, was ich am 21. April 1985 in meiner Ansprache zum 40. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern in Bergen-Belsen gesagt habe:
Es bleibt ein historisches Verdienst, daß sich auch nach 1945 jüdische Mitbürger wieder bereitfanden, tatkräftig und mit ihrem moralischen Wort und Gewicht uns beim Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zu helfen.
Auch diese Erinnerung wollen wir bewahren, um den Willen zur Gemeinschaft in einer besseren Zukunft zu stärken. Dafür ist es wichtig, der heranwachsenden Generation vor Augen zu führen, daß Toleranz, daß Aufgeschlossenheit für den Nächsten unersetzliche Tugenden sind, ohne die kein Staatswesen, auch nicht das unsere, gedeihen kann.
Uns in diesem Wettstreit der Menschlichkeit zu üben ist die eindeutigste Antwort auf das Versagen in einer Epoche, die von Machtmißbrauch und Intoleranz bestimmt war.
Die oft zu beobachtende Erosion des Rechtsbewußtseins hat insbesondere auch dazu geführt, daß sich rechts- und linksextremistische Gewalttäter zur Konfrontation mit dem Staat ermutigt fühlen. Es wäre ein falsches Verständnis von Liberalität, wenn der Rechtsstaat an der Verfolgung politisch motivierter
Terroristen gehindert würde. Ein Staat, der das Recht nicht mehr durchsetzt, verliert das Vertrauen seiner Bürger. Wo die Sicherheit der Bürger gefährdet ist, steht immer auch ihre Freiheit auf dem Spiel.
Durch strenge Anwendung der bestehenden Gesetze muß dem Recht der nötige Respekt verschafft, es muß durchgesetzt werden. Die Polizei und die Justiz brauchen im Kampf gegen den Extremismus die volle Unterstützung aller Demokraten, aller Bürger unseres Landes.
Dies gilt auch für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. Sie dienen wahrlich nicht der Ausspähung friedlicher Bürger, sondern der Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie. Wer in diesem Zusammenhang — lassen Sie mich das sagen — von einer „neuen Stasi" spricht, der weiß nicht, wovon er redet. Eine Institution zur Bekämpfung der Todfeinde der Demokratie ist nicht das gleiche wie eine Geheimpolizei zur Sicherung einer totalitären Diktatur.
Nach unserer Verfassung verfügt nur der Staat über das Gewaltmonopol. Dieses Grundprinzip unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung darf nicht angetastet werden. Wer dies versucht, muß die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Polizei, Justiz und alle in unserem Lande müssen jetzt gemeinsam und entschlossen jeder Form von Gewalt entgegentreten. Ich füge hinzu — nicht, um Verantwortung wegzuschieben —, daß dies in der Bundesrepublik Deutschland eben nicht nur eine Aufgabe des Bundes ist, sondern vor allem eine Aufgabe der Bundesländer, aber auch der Gemeinden. Hier steht auch die föderale Ordnung in unserem Lande auf dem Prüfstand. Wer zuständig ist, der hat auch die Pflicht zum Handeln. Die Bundesregierung wird alles tun, ihren Beitrag zu leisten.
Die Bundesregierung hat nach eingehender Debatte in der vergangenen Woche eine Sicherheitsoffensive gegen Gewalt beschlossen. Unter Leitung von Bundesminister Bohl werden die Ressorts erörtern, welche zusätzlichen Maßnahmen dem Bund möglich sind. Wir werden in ein paar Tagen beim Zusammentreffen mit den Ministerpräsidenten der Länder auch darüber zu sprechen haben, wo und an welcher Stelle Verbesserungen und Veränderungen notwendig sind.
Wo das gegenwärtig geltende Recht nicht ausreicht, muß es verändert werden. Dies muß deutlich gemacht werden.
Wir dürfen z. B. nicht hinnehmen, daß nur 1 % der bei einer Demonstration begangenen Gewalttaten zu einer Verurteilung führt. Das Straf- und Haftrecht muß seine Schutzfunktion auch wirklich erfüllen können. Dies sind wir nicht zuletzt auch unseren Polizeibeamten schuldig.
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Wir sollten gemeinsam — Bundesregierung, auch Landesregierungen — jetzt nicht zunächst nur über Kompetenzen reden, sondern ein Höchstmaß an nationaler Gemeinsamkeit aufbringen im Kampf gegen die Bedrohung durch den Terror politischer Extremisten. An alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes richte ich den Appell, die Polizei, auch die Justiz in ihrem Kampf gegen den Terror politischer Extremisten nach Kräften zu unterstützen. Ich bleibe dabei: Wer abseits steht oder wegschaut, trägt dazu bei, Gewalttaten zu fördern.
Die Fahndungserfolge nach dem mörderischen Brandanschlag von Mölln sind ein Signal der Ermutigung. Dieses Beispiel zeigt auch, daß extremistische Gewalttäter keine Chancen haben, wenn dieser Staat und seine Bürger zusammenstehen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen aber auch, daß die Androhung von Strafe allein nicht genügt, um Menschen zum rechtmäßigen Handeln zu bewegen. Wichtiger noch als das Strafrecht ist z. B. die Stärkung jener Institutionen, die gerade auch jungen Leuten Halt und Orientierung geben können, die an ihrer Erziehung zur eigenverantwortlichen Persönlichkeit mitwirken. Hier tragen die Familien, die Schulen, die Kirchen eine besondere Verantwortung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Wir alle hören und lesen fast täglich Berichte aus dem Alltag vieler Schulen, bestürzende Berichte über die Anwendung von Gewalt. Wir alle — ich sage bewußt: wir alle; dies ist nicht die Stunde der Schuldzuweisungen —, die Politiker ebenso wie Eltern, Lehrer und Schulbehörden, müssen uns fragen, ob wir wirklich genug getan haben und genug tun, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Wir müssen auch selbstkritisch die Frage stellen, ob nicht viele der sogenannten Reformversuche im Bildungswesen an Stelle des erhofften Ziels vielfach das Gegenteil erreicht haben.
Statt des „herrschaftsfreien Diskurses" erleben wir jetzt immer mehr gewalttätige Auseinandersetzungen.
Wir wissen natürlich, daß die Radikalisierung junger Leute vielfältige Ursachen hat. Zu diesen Ursachen gehört ein verbreiteter Verlust an festen Wertmaßstäben, an Orientierung, an Toleranz, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme.
Aber wir dürfen nicht verallgemeinernd sagen: d i e junge Generation. Auch hier ist — gemessen an der großen, großen Mehrzahl von Jugendlichen — von einer Minderheit die Rede.
Aber wahr ist, daß wir einen Abbau von Hemmschwellen und eine zunehmende Aggressivität beobachten. Wohin dies führen kann, zeigt die Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert, aber auch ein
Blick über unsere Staatsgrenzen überall in die Welt hinaus.
Wenn wir über dieses Thema sprechen, müssen wir auch sprechen über den verantwortlichen Umgang mit dem Thema Gewalt im Bereich der Medien.
Das gilt vor allem für jene Medien, die über das Bild eine besondere Wirkung haben; ich spreche also vom Fernsehen. Die Medien dürfen ihre Einschaltquoten nicht durch ein immer brutaleres Unterhaltungsprogramm zu steigern versuchen. Sie haben allen Grund, sich zu fragen, welche Wirkung die hemmungslose Darstellung von Gewalt auf junge Menschen hat.
Wir alle wissen — und wir sollten mehr darüber sprechen und dann danach handeln —: Was dort häufig an Grausamkeiten zu sehen ist, verschlägt einem die Sprache. Wie sollen auf einem solchen Boden Rechtsbewußtsein und Toleranz, Friedfertigkeit und Offenheit für den Nächsten wachsen können?
Wir alle müssen uns klar sein, was auf dem Spiel steht. Jeder einzelne muß sich bewußt machen, daß die Menschenwürde unser höchstes Gut ist und nicht angetastet werden darf. Wer dagegen verstößt, rührt an die Grundlagen unseres freiheitlichen und demokratischen Staates. Auch deshalb darf uns Ausländerfeindlichkeit, in welcher Form auch immer, niemals gleichgültig lassen.
Ich will das wiederholen, was ich vor ein paar Tagen in der Generaldebatte über den Haushalt des Bundeskanzlers hier gesagt habe: Wir Deutschen leben bis auf wenige Ausnahmen friedlich und nachbarschaftlich mit rund 6 Millionen Ausländern zusammen. Wir, die Deutschen, wissen, was wir ihnen verdanken. Wir vergessen nicht, daß wir sie selbst hierher geholt haben, damit sie uns helfen. Von den fast 2 Millionen ausländischen Arbeitnehmern in den alten Bundesländern arbeiten rund 1 Million in der Industrie, rund 1/2 Million am Bau und im Handel. Die bei uns lebenden und arbeitenden Ausländer leisten einen entscheidenden Beitrag zum Wohlstand der Deutschen. Dies wissen wir, und wir sollten es immer wieder deutlich sagen.
Aber ich möchte auch sagen: Es hat mit Fremdenfeindlichkeit nichts zu tun, wenn sich viele in unserem Lande Sorgen machen wegen des massenhaften Zustroms von Asylbewerbern, die in ihrer Heimat keine Zukunft sehen. Ich spreche dabei eben nicht — um es noch einmal klarzumachen — von jener Gruppe, die in unserer Verfassung besonders angesprochen ist, nämlich von jenen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen in ihrer Heimat verfolgt werden.
Die Menschen in unserem Land erwarten jetzt von uns — den Parlamentariern, der Regierung — schnelle, wirksame Lösungen. Ich bin sicher — und will dies dankbar feststellen —, daß die Vereinbarung, auf die sich CDU/CSU, F.D.P. und SPD vor wenigen
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Tagen verständigt haben, diesem Ziel dienen wird. Wir sollten schnell handeln.
Wir brauchen diese Grundgesetzänderung, um den Mißbrauch des Asylrechts einzudämmen, aber auch, um vor aller Welt zu dokumentieren, daß in Deutschland auch in Zukunft politisch, rassisch und religiös Verfolgten Asyl gewährt wird. Dies ist für uns eine wichtige, aber auch selbstverständliche historisch-moralische Verpflichtung aus der Zeit der Nazi-Barbarei; denn zu dieser Zeit fanden viele verfolgte Deutsche im Ausland Schutz. So werden wir auch in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland verfolgten Ausländern Zuflucht gewähren.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." So lautet der Art. 1 unseres Grundgesetzes. Gemeinsam müssen wir, meine Damen und Herren, gerade in dieser Zeit alles tun, um diese Verpflichtung der Verfassung gewissenhaft zu erfüllen.
Ich erteile nunmehr dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Oskar Lafontaine, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident: Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. " Mit diesen Worten hatte Bert Brecht kurz nach dem Krieg vor einem Wiederaufleben des Nazismus in Deutschland gewarnt.
Lange hatte es allerdings den Anschein, als sei dieser Schoß mit jedem weiteren Jahr gelebter und verinnerlichter Demokratie unfruchtbarer geworden. Um so mehr wurden wir alle vom Ausmaß und von der blinden Wut des neuen Ausbruchs an Rechtsradikalismus in Deutschland überrascht.
Vor allem den Rechtsterrorismus haben wir unterschätzt, weil er so merkwürdig sprachlos geblieben war. Er publizierte keine Bücher, er brauchte keine Theorie, er erklärte sich nicht öffentlich. Er trat von vornherein mit Stiefeln auf statt mit Argumenten. Er war geistig nie richtig präsent. Das Nachäffen von Nazi-Attitüden wurde lange als Jugendsünde belächelt, als Trotzhaltung, der man durch bloßes Älterwerden entwächst.
Jetzt aber, wo die Trotzhaltung zur Tat schreitet und sich organisiert, können wir dies nicht mehr als unpolitisch abtun. Neue rechte Parteien arbeiten daran, diesen Gefühlen eine Sprache zu verleihen und sie in ihr Fahrwasser zu ziehen. Man darf diese Parteien nicht totschweigen. Sie sollten aber auch nicht da, wo sie ohne gesellschaftliche Verankerung sind, als Medienereignis wiederbelebt werden.
Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wie konnte es zu einer solchen Renaissance des Rechtsradikalismus kommen? Und die zweite: Wie werden wir damit fertig?
Natürlich hat das Aufkommen des Rechtsradikalismus in Deutschland etwas zu tun mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen, aus denen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hervorging. Vielerorts in Osteuropa wurde die Ideologie des zusammengebrochenen Kommunismus durch die Ideologie des Nationalismus ersetzt. Auch wenn sich hinter nationalistischen Parolen oft nur der lang unterdrückte Wunsch der Völker nach Freiheit und nationaler Selbstbestimmung verbirgt, so läuft doch jeder Nationalismus, insbesondere dann, wenn er einen völkischen Hintergrund hat, Gefahr, sich wie auf dem Balkan in blutigen Exzessen radikal zu verselbständigen.
Ich behaupte nicht, daß der osteuropäische Nationalismus auf Deutschland abgefärbt hat. Daß aber Deutschland völlig unbeeinflußt von der politischen Großwetterlage über Europa bleiben könne, wird wohl niemand behaupten wollen.
Es war richtig, daß die deutsche Vereinigung ohne allzu großes nationalistisches Pathos gemacht und gleichzeitig die europäische Einigung vorangetrieben wurde. — Es ist jetzt aber auch vorrangige Aufgabe von uns allen, den deutschen Föderalismus zu stärken. — Wir waren gut beraten, auch nachher keine neue deutsche Großmannsucht aufkommen zu lassen.
Aber — auch daran will ich heute erinnern — noch immer gilt in Deutschland ein Nationenbegriff, der nicht auf eine gesellschaftliche oder staatliche Verfassung bezogen ist, sondern auf die Abstammung. Die Erfahrung lehrt, daß sich nationalistischer Radikalismus dort am aggressivsten gebärdet, wo er sich auf Blutsbande berufen kann oder durch einen religiösen Fundamentalismus motiviert wird. Wenn wir auch in Deutschland wie in anderen westlichen Staaten, beispielsweise in Frankreich oder in den USA, zu einem republikanischen Begriff der Nation kommen könnten, zu einem Begriff, der die Nation politisch als eine Gemeinschaft von Menschen definiert, die sich zu denselben Zielen bekennen und zu denselben Werten verpflichten, ohne dafür eine gemeinsame Abstammung anführen zu können, dann hätten wir dem deutschen Rechtsradikalismus eine seiner in Deutschland immer noch zu wenig reflektierten Grundlagen entzogen.
Solange unser Grundgesetz die Zugehörigkeit zur deutschen Nation auf die Abstammung zurückführt, entbehrt es nicht einmal der Logik, daß sich der deutsche Nationalismus gegen die Angehörigen anderer Völker ausgrenzend verhält.
Wer die Zuwanderung nach Deutschland in einem europäischen Geist rechtlich steuern will, der muß sich — wie alle anderen westlichen Demokratien — an einem anderen, an einem weniger ausgrenzenden Nationenbegriff orientieren.
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Auch für ein modernes Staatsbürgerrecht bis hin zum kommunalen Wahlrecht für EG-Bürger müssen wir auf die republikanische Staatsidee setzen, wenn wir konsequent sein wollen. Auf dem Weg in ein vereintes Europa haben wir inzwischen einen Gang höher geschaltet. Schon deshalb müssen wir damit rechnen, daß diejenigen, die lieber nach hinten aus dem Rückfenster als nach vorne schauen, jenen nationalen Werten, die wir zurücklassen müssen, heftig nachtrauern werden.
Wenn wir auch besorgt sind über die Auswirkungen des rechten Terrorismus im Ausland: Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, wir Deutschen betrachteten den Rechtsradikalismus in erster Linie als außenpolitisches Problem. Gewiß steht außer Frage, daß die rechtsradikalen Mordbrenner und Volksverhetzer dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland großen Schaden zufügen. Das aber ist nicht die erste Frage. Vor allem anderen geht es um die Menschenwürde und um die Demokratie in unserem Lande.
Als ich die Münchner Lichterkette im Fernsehen sah, als ich die Bilder von den unzähligen Schülerdemonstrationen überall in Deutschland sah, da faßte ich wieder Vertrauen, daß die Deutschen dies verstanden haben. Die Rechtsradikalen haben ihr Überraschungsmoment ausgenutzt. Fortan werden sie uns vorbereitet finden. Sie werden sich noch wundern, welch demokratischen Behauptungswillen ihre Brutalität in unserem Lande geweckt hat.
Auch die Länder nehmen ihre Verantwortung bei der Bekämpfung des rechten Terrors an. Sondergruppen der Polizei wurden eingerichtet, um den rechten Terror zu bekämpfen. Der Polizei sind wir für ihre Arbeit zum Dank verpflichtet.
Auch hier gilt der Grundsatz: Principiis obsta.
Aus dem rechten Lager haben wir in der Vergangenheit oft den Vorwurf gehört, die sich zur historischen Verantwortung bekennenden deutschen Demokraten neigten zur Selbstanklage und zur Nestbeschmutzung. Dieser Vorwurf wurde von dem Wunsch begleitet, aus dem Schatten Hitlers so schnell wie möglich herauszutreten.
Meine Damen und Herren, dem halte ich entgegen: Der 8. Mai 1945 war auch ein Tag der Befreiung für uns Deutsche. Und es war die Fähigkeit zur Selbstkritik, die uns zu Demokraten gemacht hat. Wir müssen diese Fähigkeit bewahren, gleichsam als Versicherung gegen uns selbst.
Es hilft uns, daß das Ausland uns auch kritisch gegenübersteht. Alle Völker, die in diesem Jahrhundert unter deutschen Großmachtansprüchen gelitten haben, sind zu Kritik berechtigt. Wir aber müssen ihnen sagen und zeigen, daß Bonn nicht Weimar ist und Berlin nicht Weimar werden wird; daß nicht der deutsche Staat oder deutsche Institutionen Menschenrechte verachten und Ausländer verfolgen; daß es in der Bundesrepublik Deutschland kein Militär als „Staat im Staate" gibt, keine Armee, die in ihren Reihen Feinde der Demokratie duldet; daß es keinen maßgeblichen Industriellen und keinen Wirtschaftsverband gibt, der in nationalistischen oder gar rechtsradikalen Kategorien denkt, daß es aber viele Demokraten gibt in Deutschland. Wir müssen zeigen, daß sie mit den wenigen Volksverhetzern und Brandstiftern fertigwerden und nicht bereit sind, ihre Taten zu entschuldigen.
Meine Damen und Herren, wir dürfen aber auch die Gefahr nicht unterschätzen, die darin liegt, daß nationalistische oder rassistische Stammtischparolen bei vielen Menschen verfangen, die nicht zur rechtsradikalen Szene gehören. Hier müssen wir die Denkmechanismen und Verhaltensweisen verstehen und erklären lernen, um an der richtigen Stelle richtig reagieren zu können. Zur wirklichen Gefahr für unser Staatswesen würden die Schlägerbanden und die Heil-Hitler-Kommandos, die Ausländer überfallen und Asylbewerberheime anzünden, erst dann, wenn eine große rechtsradikale Volksbewegung ihre Gesinnung teilte.
Es ist ja nicht zu leugnen, daß wir derzeit mit großen sozialen Problemen konfrontiert sind, die — wie wir alle wissen — einer Radikalisierung der Menschen Vorschub leisten. Kulturelle Liberalität erreicht diejenigen nicht, die sich existentiell bedroht fühlen. Das ist der Unterschied zwischen früher und heute.
Meine Damen und Herren, in der italienischen Stadt Perugia steht auf dem zentralen Platz ein alter Brunnen. Rundherum sind Eisenringe in ihn eingelassen, einer wie der andere. Jeder Ring gehörte einer alten perugianischen Familie. Kam ein Fremder in die Stadt, band er sein Pferd an einen der Ringe. Ohne es zu wissen, hatte er damit eine Entscheidung getroffen über die Familie, die ihn beherbergen durfte. Ich sage: durfte. Denn in Perugia war man auf den Einfall mit den Ringen nur deshalb gekommen, weil sich die Familien damals ständig stritten, wem nun die Ehre gebühre, einem Fremden das Gastrecht zu gewähren. Der Fremde wurde als Bereicherung empfunden.
Und heute? Sind beispielsweise die Italiener Barbaren geworden oder Rechtsradikale? — Wir haben am Fernseher miterlebt, wie in der süditalienischen Stadt Bari die Fremden aus Albanien mit dem Polizeiknüppel auf ihre Schiffe zurückgetrieben wurden. Verstehen Sie mich an dieser Stelle nicht falsch. Wir haben keine Veranlassung, den Zeigefinger anklagend in Richtung Italien zu heben. Bei uns passiert derzeit Schlimmeres. Es geht mir nur um den Vergleich zwischen Perugia einst und Bari heute.
Der Unterschied liegt in der Überforderung. Im Einzelfall ist uns der Fremde immer noch eine willkommene Bereicherung. In der Masse aber wird er von vielen als Bedrohung empfunden. Denjenigen,
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denen es gut geht, die eine schöne Wohnung haben, die ein hohes Einkommen haben, wird dies vielleicht nicht viel sagen. Aber für viele andere, denen es nicht so gut geht, die eine erschwingliche Wohnung suchen, die um ihren schlechtbezahlten Arbeitsplatz fürchten, die täglich mit den Fremden um knappe Güter konkurrieren, für diese Menschen hat das Gefühl der Bedrohung einen realen Hintergrund. Das Gefühl der Bedrohung löst im Verhalten der Menschen Abwehrmechanismen aus. Dies ist die Grundlage, auf der sich die Fremdenfeindlichkeit derzeit in Deutschland ausbreitet. Der Ausländer wird zum Sündenbock. Arbeitslosigkeit und wachsende Wohnungsnot führen dazu, daß in dem anderen nicht mehr der Mitmensch, sondern nur noch der Konkurrent um soziale Güter gesehen wird.
Durch die soziale Schieflage werden die Menschen verunsichert. Mit dem Gefühl der Verunsicherung oder gar der Bedrohung wächst das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Mit dem Bedürfnis nach Sicherheit wächst auch die Anfälligkeit für rechtsradikale „law and order"-Parolen. Wer den Rechtstrend stoppen will, darf das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit nicht ignorieren, vor allen Dingen nicht das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit.
In den östlichen Ländern haben die Menschen wirklich Grund, verunsichert zu sein, und dies nicht nur, weil die momentane wirtschaftliche Lage desolat ist und weil die täglichen Berichte über drohende globale ökologische Krisen kaum dazu angetan sind, die Stimmung junger Menschen zu heben. Die Jugend in Ostdeutschland mußte die bittere Erfahrung machen, daß die gesellschaftlichen Leitbilder, die man ihnen als Kinder eingebleut hatte, Trugbilder waren. Auch die neuen gesellschaftlichen Werte erfahren sie zunächst einmal in Verbindung mit materieller Enttäuschung. In dem Maße, wie sie in eine neue Gesellschaftsordnung „verpflanzt" wurden und sich mit einer neuen Lebensweise zurechtfinden mußten, fühlten sich viele Menschen in den neuen Ländern überfordert. Wer ohne Vergangenheit ist und keine Zukunft sieht, wird anfällig für radikale Verführer.
Wir Westdeutschen dürfen allerdings nicht der Selbsttäuschung erliegen. Die Anfälligkeit für rechte Politik ist nun wirklich keine Sache nur der Ostdeutschen.
Viele verbrecherische Anschläge auf Leben und Gesundheit unschuldiger Menschen ereigneten sich in den alten Ländern. Nichts wäre verheerender, als die Menschen glauben zu machen, rechte Tendenzen seien die Mitgift, die die neuen Länder in die Vereinigung eingebracht hätten. Trotz der großen sozialen Probleme in den neuen Ländern haben die rechten Rattenfänger dort, wie Umfragen belegen, geringere Chancen, zu einer größeren Volksbewegung zu werden.
Meine Damen und Herren, wenn es die Zukunftsangst ist, die junge Menschen radikalisiert, dann müssen wir alles daransetzen, ihnen wieder eine optimistische Lebensperspektive zu geben. Perspektiven kann man nicht überbringen wie Geschenke. Perspektiven muß sich jeder selber erarbeiten. Wenn ein junger Mensch aber eine Schule absolviert, erfolgreich eine Lehre bestanden hat und dann an Stelle eines Arbeitsplatzes nur das Hohelied der Marktwirtschaft gesungen bekommt, dann kann man seine Wut und sein Aufbegehren gegen diesen Staat zumindest verstehen.
Genauso ergeht es vielen Jugendlichen in Ostdeutschland, die derzeit keine Lehrstelle bekommen.
Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß die westdeutsche Industrie auf dem Wege der Selbstverpflichtung eine Ausbildungsgarantie für diejenigen übernimmt, die im Osten trotz aller Anstrengungen keine Lehrstelle bekommen. Vieles geschieht bereits in dieser Richtung, und wir sollten dies verstärken.
Solidarität ist schließlich keine staatliche, sondern eine moralische Kategorie.
Keine Regierung wird glaubwürdig versprechen können, alle sozialen Probleme im vereinten Deutschland zu lösen. Jede Regierung wird aber darauf drängen müssen, die Lasten so gerecht wie möglich zu verteilen. Nichts radikalisiert die Menschen so sehr wie das Bewußtsein und die Erfahrung sozialer Ungerechtigkeit und mangelnder Teilhabe an den sie betreffenden Entscheidungen.
Soziale Gerechtigkeit ist Sache des Gesetzgebers. Es ist also unsere erste Pflicht, meine Damen und Herren, durch die Herstellung der sozialen Gerechtigkeit und durch den Ausbau der demokratischen Teilhabe dem Rechtsradikalismus den Nährboden zu entziehen.
Herrschaftsfreier Diskurs heißt Ausbau der sozialen Gerechtigkeit, um soziale Sicherheit zu geben, und Ausbau der sozialen Demokratie.
Wenn dazu auch noch der in den 80er Jahren aufgezehrte Gemeinsinn der Gesellschaft wieder etwas wachsen würde, täte das uns allen gut.
Wir leben in Deutschland in einer offenen Gesellschaft. Offene Gesellschaften sind nicht bequem. Sie orientieren sich nicht wie Diktaturen am Ziel der Konfliktfreiheit. Sie orientieren sich am Ziel des zivilisierten Austragens von Konflikten. Zu diesen zivilen Grundsätzen, zu den zivilen Selbstverständlichkeiten müssen wir zurückfinden, auch im Umgang mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Wir müssen denen unnachgiebig das Handwerk legen, die dazu nicht bereit sind. Denn offene Gesellschaft
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Ministerpräsident Oskar Lafontaine
heißt nicht wehrlose Demokratie, sondern wehrhafte Demokratie.
Meine Damen und Herren, es ist nach meiner Überzeugung nicht damit getan, daß wir alle über den rechtsradikalen Terror Betroffenheit zeigen. Es kommt jetzt vielmehr darauf an, die sozialen und kulturellen Nährwurzeln des Rechtsradikalismus abzuschneiden. Dazu brauchen wir zum einen einen republikanischen Begriff der Nation, der Menschen anderer Abstammung nicht ausgrenzt, und zum anderen eine Politik, mit der die soziale Gerechtigkeit und die demokratische Teilhabe als Fundament unserer Gesellschaftsordnung weiter ausgebaut werden.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns allen steht das Bild des Hauses mit den geschwärzten Fensterhöhlen vor Augen, in dem drei Menschen elend verbrannten, als sie nichts ahnend in ihren Betten lagen. Sie wurden ermordet, nur weil sie aus der Türkei kamen, von der Schwarzmeerküste, wo Tausende von Deutschen ihren Urlaub verbracht hatten: eine 51jährige Frau, die seit ihrem 30. Lebensjahr bei uns in Deutschland lebte, ihre 10jährige Enkelin und ihre 14jährige Nichte, die für ein paar Wochen zu Besuch war.
Die Mitschüler der kleinen Yeliz Arslan standen fassungslos vor ihrem Haus, in stummer Verzweifelung, Kerzen in den Händen. Entsetzen, Trauer, Wut bewegte die Bürger von Mölln, bewegt uns alle. Aber Trauer, Abscheu, Wut macht die Toten nicht lebendig. Mölln ist kein Einzelfall, liegt auch nicht in Ostdeutschland.
Die Spur der Gewalt zieht sich quer durch unser Land, eine entsetzliche Folge von Haß und Gewaltbereitschaft, Gewalttaten und Brandanschlägen, Terror und Mord. 17 Menschenleben sind der Gewalt bereits zum Opfer gefallen, und die Täter sind meist Jugendliche unter 21 Jahren.
Deswegen sind wir für die Regierungserklärung dankbar, die der Bundeskanzler abgegeben hat, und dafür, daß wir gemeinsam zum Ausdruck bringen und entschlossen sind, dieses entsetzliche Treiben nicht weiter zuzulassen, gemeinsam zu handeln, gemeinsam den Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen.
Wir brauchen diese Entschlossenheit, wir brauchen die Unterstützung der Bürger und der politisch Verantwortlichen für die Polizei, und wir müssen auch gemeinsam darüber nachdenken, welches denn die Ursachen dieser Entwicklung sind.
Ich glaube nicht, Herr Ministerpräsident Lafontaine, daß die Antworten, die Sie gegeben haben, ausreichend erkären, wo die Ursachen für diese Entwicklung liegen, und ausreichend beschreiben, was getan werden muß, damit es sich nicht fortsetzt, damit es besser wird.
Meine Überzeugung, wenn wir nach Ursachen fragen, hat mehr damit zu tun, daß sich die Menschen, junge Menschen zumal, in dieser Zeit, in der sich soviel verändert, der Grundlagen unserer staatlichen und nationalen Gemeinschaft nicht mehr sicher sind, und daß wir vielleicht mehr daran arbeiten müßten, die Grundlagen, die unsere freiheitliche Gemeinschaft tragen, deutlicher zu machen.
Ich denke nicht, daß wir die nationale Gemeinsamkeit, die nationale Identität ausgerechnet Rechtsextremisten überlassen sollten. Ein freiheitlicher Staat lebt von Voraussetzungen, die die Menschen freiwillig zusammenführen und zusammenhalten, die er gar nicht selbst gewährleisten kann, für die man aber mehr tun kann, als es vielleicht in den zurückliegenden Jahrzehnten gelungen ist — in einer Zeit der Teilung, in einer Zeit, in der die Brüche in unserem nationalen Schicksal durch zwei Weltkriege und die Nazi-Barbarei so ungeheuer groß gewesen sind. Vielleicht haben wir uns in der Nachkriegszeit zunächst zu sehr auf das Nächstliegende, den wirtschaftlichen Aufbau, konzentriert, was ja im Ergebnis nicht schlecht war, was aber vielleicht dazu geführt hat, daß wir uns zu sehr mit wirtschaftlichen und sozialen Besitzständen eingemauert haben und glauben, daß jede Veränderung im Grunde schon an die Grundlagen unserer Existenz rührt.
Und jetzt kommen auf die Deutschen wie auf die Europäer mehr Veränderungen zu. Der Bundeskanzler hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es ja nicht nur eine Entwicklung in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa ist.
Vielleicht gehört neben diesen Ursachen auch hinzu, daß wir den großen Umbruch in den 60er Jahren noch nicht hinreichend verarbeitet haben. Wahrscheinlich ist vieles von den sozialen Strukturen noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg über die beiden Weltkriege, die Zeit von Weimar und das Dritte Reich bis in die 50er Jahre hinein tradiert worden, und der Umbruch kam in den 60er Jahren. Deswegen war der einschnitt tief.
Vielleicht ist zwar der Abbau überlieferter Werte gelungen, aber der Aufbau neuer Werte, die an ihre Stelle treten sollten, noch nicht. Vielleicht haben wir zuviel an Autorität verloren, vielleicht brauchen junge Menschen Autorität, Leitbilder.
Vielleicht brauchen wir doch mehr als nur Ausbildung, nämlich auch Erziehung.
Ich glaube nicht, daß die wirtschaftlichen und sozialen Probleme die eigentliche Ursache dieser Entwicklung sind. Ganz abgesehen davon, Herr Ministerpräsident Lafontaine: An Ausbildungsplätzen ist
Dr. Wolfgang Schäuble
in Deutschland kein Mangel, weder in West noch in Ost.
Zum Glück ist die Ausbildungsplatzgarantie der deutschen Wirtschaft auch für die jungen Menschen in den neuen Bundesländern nicht nur abgegeben, sondern auch eingehalten worden.
Da kann die Ursache nicht liegen, sondern sie muß wohl mehr darin liegen, daß wir zu viele Entwicklungen zugelassen haben, in denen alle Tabus bewußt gebrochen worden sind. Jetzt haben wir damit zu tun, daß selbst das letzte Tabu, die Ächtung des Nazi-Barbarismus, offenbar gebrochen wird. Wer alle Tabus verletzen darf, wird sich auch beim letzten nicht mehr aufhalten.
Der Bundeskanzler hat von der Gewalt an Schulen gesprochen. Ich kann nicht begreifen — ich befürchte, daß ich nicht der einzige in diesem Lande bin --, warum es nicht möglich ist, das an Schulen zu ändern. Wir wollen uns wirklich nicht gegenseitig Vorwürfe machen, weil es wichtig ist, daß wir gemeinsam das Menschenmögliche tun, um diese Entwicklungen zu Extremismus und Gewalt zu bekämpfen. Deswegen begrüße ich auch, daß nach dem Bundeskanzler als erster Redner in der Debatte der Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes gesprochen hat. Vielleicht, Herr Ministerpräsident, sollten die Ministerpräsidenten aller 16 Bundesländer einmal gemeinsam darüber nachdenken, ob die Kultusminister nicht in der Lage sein könnten, dafür zu sorgen, daß Gewalt an den Schulen in Deutschland kein Thema mehr ist. Ich bitte herzlich darum.
Wie will ein Rechtsstaat, der das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr durchsetzt, der dies nicht einmal an eigenen staatlichen Einrichtungen, in Schulen, durchsetzen kann, Kinder, junge Menschen zur Gewaltfreiheit erziehen?
— Ich glaube, es hat schon damit zu tun.
Es ist schlimm, daß Menschen in Straßenbahnen, auf öffentlichen Straßen wegsehen, wenn Gewalt ausgeübt wird, daß sie den Opfern von Gewalt nicht beistehen, sondern möglichst wegsehen, weil man im Zweifel nur Ärger oder Scherereien bekommt.
Müßte es nicht so sein, daß man Schutz vor Gewalt zuerst da, wo der Staat unmittelbar zuständig ist, in Schulen, wo Kinder Gewalt unmittelbar erfahren, verwirklichen bzw. lernen sollte? Vielleicht würden aus Kindern, die in der Schule erfahren, daß der Staat das Gewaltmonopol durchsetzt, Bürger werden, die mithelfen, daß auch außerhalb der Schule das Gewaltmonopol durchgesetzt werden kann.
Die gegenwärtige Entwicklung hat gewiß auch damit zu tun — wir können heute ja nur Fragen stellen und dann gemeinsam nachdenken, was weiter geschehen muß —, daß die sozialen Strukturen in unserem Lande, die Familien in ihrer Funktionskraft schwächer geworden sind. Wir haben in der vergangenen Woche in der Haushaltsdebatte darüber gesprochen, was es wohl bedeuten muß, daß der Anteil junger Menschen in unserem Lande immer geringer wird, daß wir gar nicht mehr so viele Kinder haben, wie man braucht, damit das Verhältnis von jung und alt einigermaßen stabil bleibt. Verbirgt sich dahinter nicht ein Stück Zukunftsverweigerung? Kann ein Land Zukunft haben, wenn es nicht an seine Zukunft glaubt, wenn die Familien schwächer werden, wenn die örtlichen Strukturen schwächer werden, wenn Vereine, Kirchen in ihren Bindungswirkungen nachlassen? Vielleicht hat das mit dem zu tun, worüber wir heute klagen und was wir verändern wollen. Deswegen sollten wir wieder mehr Gemeinschaft stiften.
— Mit der Gerechtigkeit hat das auch zu tun.
Wenn unschuldige Menschen — Fremde und Einheimische, Minderheiten, Schwache — Opfer von Gewalt werden, dann ist das eigentlich die größte Ungerechtigkeit. Deswegen reden wir ja über diese Ungerechtigkeit.
Vielleicht sollten wir versuchen, unseren Staat zu stärken. Vielleicht brauchen die Menschen doch das Gefühl, daß dieser Staat in der Lage ist, sie zu schützen, nach innen das Recht durchzusetzen und nach außen den Frieden zu bewahren.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir werden heute im Laufe des Tages über Menschenrechte debattieren und über die entsetzlichen Verletzungen von Menschenrechten ganz in unserer Nähe, deren Zeugen wir sind. Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu den Sorgen, die uns in dieser Debatte bewegen. Die Menschen können nicht begreifen, daß wir als zivilisierte Europäer zusehen, daß mitten in Europa Menschen gequält, gefoltert und gemordet werden und wir nichts dagegen tun.
Vielleicht müssen die Menschen wieder erfahren, daß wir diesen Staat brauchen, in dem wir als Deutsche vereint sind, damit er uns, seine Bürger, nach außen und nach innen schützt. Sie müssen erfahren, daß es diesen Schutz nach außen und nach innen nicht zum Nulltarif und nicht zu Billigpreisen gibt, sondern daß dazu auch von den Bürgern mehr gefordert wird. Vielleicht haben wir die jungen Menschen in den zurückliegenden Jahrzehnten zuwenig gefordert. Vielleicht wollen sie mehr gefordert werden.
Vielleicht wollen sie gar nicht nur ihre Rechte gelehrt bekommen, sondern auch ihre Pflichten.
Ich finde, wir sollten ihnen das nicht verweigern.
Wir haben uns in den letzten Wochen endlich — viel zu spät, aber besser als noch später — zusammenfin-
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Dr. Wolfgang Schäuble
den können, um die Zuwanderung nach Deutschland besser steuern und begrenzen zu können, als es bisher möglich war. Ganz gewiß erwarten die Menschen von ihrem Staat, daß er in der Lage ist, auch insoweit seine Schutzfunktion wahrzunehmen,
Ganz gewiß — das sage ich zu denjenigen, die sich mit dem schwertun, was wir gemeinsam erarbeitet haben — ist das eine Voraussetzung, um das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern in Deutschland für die Zukunft wieder friedlich und freundlich zu sichern.
Wer den Menschen das Gefühl vermittelt, daß der Staat in der Lage ist, sie zu schützen, das friedlichfreiheitliche Zusammenleben zu schützen, der schafft die Grundlage für Toleranz und für entspanntes Miteinander von Deutschen mit vielen ausländischen Mitbürgern und mit vielen Nachbarn mitten in Europa. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg weiter vorangehen.
Wir haben die Chance bekommen — nicht aus eigenem Verdienst —, eine freiheitliche, stabile rechtsstaatliche Demokratie in einem in Frieden vereinten Deutschland mitten in Europa auf dem Weg zur Einheit Europas zu schaffen. Wir sollten vor den Herausforderungen, diesen Weg friedlich, gewaltfrei weiterzugehen, nicht verzagen. Wir brauchen dazu einen Staat, der handlungsfähig ist. Innere Sicherheit ist nichts Altmodisches, sondern die Voraussetzung für Freiheit und friedliches Zusammenleben.
Deswegen sollten wir die schlimmen Ereignisse der letzten Wochen zum Anlaß nehmen, uns unserer Grundlagen neu sicher zu werden und entschlossener zu handeln, als das bisher der Fall gewesen ist. Wir dienen damit der Freiheit und dem inneren Frieden. Unsere Bürger sollen wissen: Wir sind entschlossen, das Recht, die Freiheit und den inneren Frieden zu schützen.
Ich erteile dem Abgeordneten Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mitte des 19. Jahrhunderts hat er es uns aus Paris geschrieben:
Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.
Heinrich Heine war es. Wie viele Menschen sind heute um den Schlaf gebracht, wenn sie an Deutschland denken? Wie viele Demokraten schlafen den Schlaf der Gerechten, weil sie die vermeintliche Unantastbarkeit der Demokratie für ein sanftes Ruhekissen halten?
Meine Damen und Herren, ich warne davor, zu glauben, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland würden ohne demokratische Gegenwehr so verschwinden — Sie haben das angemerkt, Herr Ministerpräsident — wie sie gekommen sind: leise, nahezu unbemerkt.
Nein; Demokratie darf nicht darauf vertrauen, daß allein ihr guter Name und ihr beispielloser Erfolg als toleranter und gerechter Regelmechanismus menschlichen Zusammenlebens Schutz genug gegen die Demokratiefeinde sind. Denn das, was wir im Augenblick in Deutschland am Werke sehen, sind nicht nur Ausländerfeinde; es sind Demokratiefeinde. Hemmungslose Gewaltbereitschaft sucht sich ihr Ventil. Was sich früher in heimlichem Vandalismus gegen Telefonzellen und Fahrkartenautomaten äußerte, entlädt sich heute immer mehr in physischer Gewalt. Weit über 4 000 Straftaten gegen Ausländer sind in diesem Jahr schon registriert worden. Ungezählt sind die vielen Schmähungen des alltäglichen Fremdenhasses, die von vielen Ausländern oft mit bewundernswerter Gelassenheit, aber sicher oft auch nur mit der Faust in der Tasche ertragen werden. Die Gewalt trifft Ausländer, Juden, Alte, Schwache, Behinderte.
Diese Gewaltbereitschaft potenziert sich. Gewalttäter wollen sich messen, irgendwann auch mit dem Staat, wenn Nachlässigkeit mit Toleranz verwechselt wird. Es mag gerade aus dem Munde eines Liberalen ungewöhnlich klingen, wenn er für kompromißlose staatliche Unnachgiebigkeit und Härte plädiert. Aber es geschieht aus Sorge, daß unser Gemeinwesen ausgehöhlt und seine Grundfesten untergraben werden. Eine Demokratie, die sich nicht wehrt, wird zum Spielball der Extreme. Deswegen ruft die F.D.P. zur Offensive der Demokraten auf, zum Schutz der Demokratie gegen Gewalt und gegen Fremdenfeindlichkeit.
Was Sie, Herr Schäuble, zur Gewalt an unseren Schulen — da liegt eine Aufgabe für unsere Kultusminister —, zur Erziehung an unseren Schulen — Herr Klose hat in der Haushaltsdebatte die Frage gestellt — und im Hinblick auf die Jugend in Deutschland — Frau Schmalz-Jacobsen wird sich mit diesem Thema beschäftigen —, aber vor allem zur Beziehung unserer Jugend zu unserem Staat gesagt haben, findet bei uns Unterstützung und Zustimmung.
Meine Damen und Herren, gestern ist in Rudolstadt der Neonazi Thomas Dienel, der sich u. a. wegen Volksverhetzung und Beleidigung verantworten mußte, verurteilt worden. Erklärung vor Gericht: „In Auschwitz wurde niemand gezielt umgebracht, und ich sage klipp und klar: Leider wurde niemand umgebracht." Es verschlägt einem die Sprache. Die F.D.P. unterstützt die Absicht der Bundesregierung, Dienel und einem weiteren Neonazi durch eine Verfassungsgerichtsentscheidung die Grundrechte zu entziehen.
Das sind Menschen, denen weder das Leben noch die körperliche Unversehrheit anderer etwas bedeuten. Das sind Menschen, für die Gewalt und Terror höher stehen als friedliches Zusammenleben, Demokratie und Gemeinsinn. Diese Menschen brüllen:
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Dr. Otto Graf Lambsdorff
„Deutschland den Deutschen". — Nein, meine Damen und Herren, den Deutschen bestimmt nicht.
Das sind diejenigen, die unser Land schon einmal ins Unglück geführt haben. Das sind diejenigen, die mit ihrer ideologischen Verbohrtheit und intellektuellen Beschränktheit unendliches Leid über die Welt gebracht haben und auf deren Fahnen Tod und Verfolgung standen.
Unsere Demokratie ist stark. Unser Staat ist kein Nachtwächterstaat. Er ist auf der Hut, und er weiß sich zu wehren. Das ist gut. Denn in manchen Früchten der Demokratie steckt ein Wurm. Bekanntlich kann ein fauler Apfel den ganzen Korb verderben.
Deshalb ist konsequentes Handeln gefordert. Es genügt nicht, ein Gewaltmonopol zu haben; man muß es auch anwenden.
Hier sind harte und abschreckende Strafen notwendig. Zuwarten in der Hoffnung, der Rechtsextremismus in Deutschland werde sich von allein erledigen, wäre fahrlässig und unverantwortlich. Ich sehe niemanden in diesem Hause, der das wollte und so dächte. Menschen, die Özmir oder Rosenbaum heißen, müssen in Deutschland leben können, ohne Angst zu haben.
Aber demokratische Wachsamkeit sind wir nicht nur den Menschen schuldig, die bei uns als Ausländer leben. Sie gebietet auch der politische Anstand gegenüber unseren Nachbarn und internationalen Partnern, die langsam, aber sicher das Gefühl bekommen, sie hätten mit ihrem Ja zur deutschen Einheit die Büchse der Pandora geöffnet.
Jeder Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim, jede Gewalttätigkeit gegen Ausländer in Deutschland, jedes Wiederaufleben von Antisemitismus wird als Beweis dafür empfunden, daß Deutschlands Weg in Wahrheit nicht in die europäische Zukunft, sondern in die deutsche Vergangenheit weist. Es gibt ein tiefsitzendes Mißtrauen im Ausland, wir könnten einem deutschen Deutschland den Vorzug vor einem europäischen Deutschland geben.
Kein Wunder, daß Berichte über Angriffe auf Asylbewerberheime, daß Bilder von Skinheads mit Nazi-Gruß auch zu massiven negativen Folgen für die Wirtschaft führen. Die Bilder von den Ausschreitungen in Deutschland gehen um die Welt.
Solange gewalttätige Aktionen Anlaß zu der Frage geben: Wohin geht Deutschland?, wird Geld aus dem Ausland spärlicher in die fünf neuen Bundesländer kommen. Ich habe nach den Rostocker Ereignissen auf diese Gefahr aufmerksam gemacht. Es müßte doch selbst in den Kopf eines Skinheads gehen, daß er damit den Ast absägt, auf dem er sitzt.
Aber — insofern teile ich die Anmerkungen des saarländischen Ministerpräsidenten — meine Sorge gilt nicht in erster Linie dem Deutschlandbild im Ausland. Sie gilt noch nicht einmal vorrangig der
Wirtschaftspolitik und den Investitionen in Deutschland. Selbst wenn uns das Ausland unbeachtet ließe, selbst wenn Investitionsquellen üppig sprudelten, wäre meine Sorge genauso groß. Es geht um den Erhalt von Toleranz und Recht und Menschenrechten bei uns.
Es geht um die Verteidigung der Demokratie als Wert an sich. Und es geht um den Anstand in Deutschland. Ich frage auch: Haben wir nicht die sogenannten Sekundärtugenden in den letzten Jahren etwas zu stiefmütterlich behandelt?
Das, was der Bundeskanzler über Gewaltdarstellung in den Medien gesagt hat, ist voll berechtigt und findet unsere volle Zustimmung. Sie können ja abends die Programme durchtippen: Zwei Morde erwischen Sie mit Sicherheit. Ich begrüße aber auf der anderen Seite ausdrücklich — das will ich auch sagen —, daß die öffentlich-rechtlichen und die privaten Anstalten mit Fernsehspots gegen Fremdenfeindlichkeit mobil machen.
Wenn Sie die ausländische Presse verfolgen — lesen Sie diese Woche den „Economist" oder „William Pfaff" in der „International Herald Tribune" —, so ist die Berichterstattung über die Ereignisse in unserem Land weitgehend von Fairneß und Vertrauen in die demokratische Stabilität Deutschlands geprägt.
Bundesregierung und Bundestag sollten aber nicht übersehen, welch kritische Würdigung die Behandlung des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland bei unseren europäischen und amerikanischen Freunden erfährt.
Die F.D.P. hätte es gern gesehen, wenn sich im Rahmen des Asylkompromisses mehr Offenheit in dieser Frage gezeigt hätte. Die doppelte Staatsbürgerschaft sollte diskutiert werden.
Aber die Argumentation, die Sie, Herr Ministerpräsident des Saarlandes, angeführt haben, vermag ich nicht nachzuvollziehen. Das hilft uns nicht.
— Nein, es geht um Erweiterung; es geht nicht um Einengung, die nach Ihrer Meinung vorgenommen werden soll. Das gibt keinen Sinn.
Wir sind froh, daß es am vergangenen Wochenende gelungen ist, zwischen den demokratischen Parteien einen Kompromiß zur Lösung der Asylproblematik zu erreichen. Aber wir warnen davor, unzulässige Zusammenhänge zwischen dem Asylproblem und dem Rechtsextremismus in Deutschland herzustellen.
Die Lösung des Asylproblems löst nicht das Problem
des Rechtsextremismus. Ich warne vor dem Argument, der Rechtsextremismus sei die zwangsläufige
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Dr. Otto Graf Lambsdorff
) Antwort auf den Zustrom der Menschen nach Deutschland.
Für Mord und Totschlag und Brandstifung gibt es überhaupt keine Entschuldigung. Als Antwort darauf gibt es nur das Gefängnis.
Ich habe in der Vergangenheit das Wort von der Gemeinsamkeit der Demokraten zu oft als Leerformel erlebt und es deshalb nie benutzt. Jetzt bin ich froh darüber, feststellen zu können, daß es diese Gemeinsamkeit gibt. Wir haben sie weit über den Kreis der Politiker hinaus bei der Demonstration in Berlin, bei der Lichterkette in München und in vielen anderen deutschen Städten erlebt. Zivilcourage ist gefragt. Deshalb bitte ich die Bürger unseres Landes: Nehmt Partei! Mischt euch ein! Zeigt der Welt, daß wir die Gebote von Demokratie, von Rechtlichkeit und Humanität verstanden haben und daß wir sie gemeinsam mit unseren ausländischen Mitbürgern in Deutschland leben wollen!
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident!
i) Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Art des Nationen-Begriffs hat auch etwas mit dem Problem zu tun, Herr Dr. Lambsdorff, mit dem wir uns hier beschäftigen. Es ist eine wichtige Frage, übrigens auch zur Regelung der Staatsbürgerschaftsfragen, ob man sich auf ein reines Abstammungsprinzip auch noch merkwürdiger völkischer Natur bezieht oder ob man einen republikanischen Nationen-Begriff einführt. Insofern kann ich dem Ministerpräsidenten nur zustimmen.
Aber ich finde, bei aller Betroffenheit, die hier zum Ausdruck gebracht wird, ist es auch erforderlich — auch hier sollten wir etwas vorbildlicher herangehen —, über eigene Mitverantwortung und eigene Mitschuld der Politik nachzudenken.
Die Große Anfrage der SPD lautet: „Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland", und der Bundeskanzler gibt eine Regierungserklärung zu dem Thema „Extremismus und zunehmende Gewaltbereitschaft in Deutschland" ab. Schon hier fangen Mitschuld und Mitverantwortung an, wenn man die Dinge nicht beim richtigen Namen nennt. Es ist im Augenblick nun einmal der Rechtsextremismus, der diese großen Sorgen bereitet, und nicht irgendein Extremismus.
Es hilft auch nichts, immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Linksextremismus genauso schlimm wäre, aber diese Form des Extremismus glücklicherweise nicht in Erscheinung tritt. Man könnte bei den Reden, die von Vertretern der Koalition gehalten werden, manchmal fast den Eindruck haben, als ob
man sich eine linksextremistische Gewalttat geradezu wünscht, damit das Weltbild endlich wieder stimmt und damit auch der Vorwand da ist, um entsprechend nach links auszuholen.
Aber wer Opfer schutzlos läßt — ich erinnere an den Brief von Giordano —, der muß sich dann auch mit entsprechenden Reaktionen abfinden und trägt auch Mitverantwortung dafür.
Nun zum eigentlichen Thema, d. h. zur nationalen Entwicklung nach rechts. Auch hier muß man die Außenpolitik einbeziehen. Mit größter Sorge betrachte ich die Bestrebungen der Bundesrepublik Deutschland, die Bundeswehr weltweit einzusetzen. Die Koalition will Blauhelm-Einsätze und -Kampfeinsätze, die SPD und zumindest Teile des Bündnisses 90 stimmen leider auch den Blauhelm-Einsätzen zu, wobei ich sage: Es gibt heute keine BlauhelmEinsätze mehr, die keine Kampfeinsätze sind. Insoweit ist die Koalition wenigstens konsequent.
Aber wer hier die Tür einen Spalt aufmacht, der wird sie nicht wieder schließen können. Wenn man die Bundeswehr in die Welt schicken will, braucht man dafür Motivation. Man braucht Feindbilder, man braucht Angst und Haß. Dafür müssen seit Jahren die Flüchtlinge herhalten.
Nicht nur wird hier mit falschen Zahlen operiert — ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß die Zuwanderungen in Deutschland zurückgehen —, auch die Sprache verrät die Brandstifter. Es ist nun einmal Tatsache, daß es nicht die Skinheads waren, sondern verantwortliche Politiker, die von einer „multikriminellen Gesellschaft", von einer „durchmischten und durchraßten Gesellschaft" sprachen, die „asylantenfreie Zonen" forderten, die Asylanten am Kragen packen und herauswerfen wollten. Die These „Das Boot ist voll" macht angst. Worte wie „Scheinasylanten" und „Asylmißbrauch" stellen Flüchtlinge als Betrüger dar. Das Wort „Wirtschaftsflüchtlinge" stellt sie zudem als gierig dar und soll die Angst verbreiten, es ginge den Deutschen ans Portemonnaie. Hier ist durch die Debatte, wie sie in den letzten Jahren geführt worden ist, eine große Mitverantwortung gegeben.
Die verbale Schlacht zeigt Wirkung. Die Geister, die gerufen wurden, wird man so einfach nicht los.
Ich möchte Ihnen etwas zitieren:
Über neunzig Prozent aller Asylanträge werden abgelehnt, aber nur jeder 15. abgelehnte Asylbewerber wird abgeschoben. Wir sagen ja zum grundgesetzlich geschützten Asylrecht; wir bekämpfen aber seinen Mißbrauch und fordern, daß das Asylrecht wie die anderen Grundrechte mit einem Gesetzesvorbehalt versehen wird.
Im einzelnen fordern wir: kein Asylanspruch bei vorausgegangenem Aufenthalt in einem Staate, in dem keine Verfolgung drohte, oder bei bereits erfolgter Ablehnung in einem anderen Staat, Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften während des Asylverfahrens zur Entlastung des
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Dr. Gregor Gysi
Wohnungsmarktes, Sach- statt Geldleistungen sowie gemeinnützige Arbeit während des Asylverfahrens. Das Aslyverfahren ist zu beschleunigen. Abgelehnte Asylbewerber sind unverzüglich abzuschieben. Kein Aufenthaltsrecht durch „Altfallregelungen" der Länder.
Woraus ich Ihnen soeben zitiert habe, ist das Programm der Republikaner aus dem Jahre 1990. Es tut mir leid: ich muß Ihnen offen sagen, daß der sogenannte Asylkompromiß, der zwischen CSU, CDU, F.D.P. und SPD vereinbart worden ist, diesen Teil des Programms der Republikaner aus dem Jahre 1990 nicht nur erfüllt, sondern übererfüllt.
Möglicherweise glauben Sie allen Ernstes, daß man den Rechtsextremisten den Boden dadurch entziehen kann, daß man ihre Forderungen erfüllt. Aber warum sollten die Leute dann nicht gleich das Original wählen?
Herr Klose hat nach der Einigung mit der Koalition in der Asylfrage erklärt, daß er sich vor drei Jahren noch nicht hätte vorstellen können, daß er aus voller Überzeugung zu einer solchen Regelung ja sagt. Er führte weiter aus:
Aber auch Politiker sind nicht daran gehindert, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Und die Realität ist: Wir haben ein nicht mehr beherrschbares Mengenproblem. Überdies muß man sehen, daß ganz offenbar die Menschen in Deutschland mit dem Problem, so wie wir es gegenwärtig gehandhabt haben, emotional überfordert waren.
Menschen als „Mengenproblem" zu begreifen ist inhuman. Außerdem werden auch dort die abnehmenden Zuwanderungszahlen und damit die Abnahme des „Mengenproblems" verschwiegen.
Die ganze Begründung ist gefährlich. Was würden Sie machen, wenn z. B. Juden oder Radfahrer zu einem „Mengenproblem" werden würden, wenn sich die Menschen in Deutschland dadurch „emotional überfordert" fühlten? Sie würden das zurückweisen. Aber wo kann solche Argumentation enden?
Der angebliche Asylkompromiß schafft das Asylrecht und diesbezüglich auch die Rechtswegegarantie praktisch ab. Damit haben die Rechtsextremisten, damit hat die Straße auf diesem Gebiet gewonnen.
Ich will es hier nicht im einzelnen ausführen, aber Fakt ist: Wir schließen nach Osteuropa hin zu Polen und der Tschechoslowakei die Grenze für die gesamte EG. Wir bauen noch eine innere Mauer um die Bundesrepublik Deutschland herum. Nach ihrem Papier steht fest, daß praktisch sämtliche Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland als sichere Drittstaaten gelten. Das heißt, zu Lande kann hier überhaupt niemand hereinkommen, ohne daß er nicht sofort abgeschoben werden kann. Das ist die praktische Abschaffung des Asylrechts. Denn es bleibt nur noch der Fallschirmsprung in die Bundesrepublik Deutschland.
Länderlisten sollen eingeführt werden. Ich habe allerdings die Ergebnisse des SPD-Parteitages — ich habe sie nicht begrüßt — so verstanden, daß sie nicht eingeführt werden sollen. Nun sollen sie doch eingeführt werden. Außerdem soll die Parlamentsmehrheit über die Länderlisten entscheiden können. Das heißt, die SPD gibt an die gegenwärtige Regierungskoalition die Befugnis ab, die Länderlisten zu fertigen. Damit wird es zu einem außenpolitischen Problem. Oder glaubt jemand, daß die Bundesregierung der Türkei offen sagen wird, daß sie ein Verfolgerstaat ist und deshalb nicht auf diese Liste kommt? Das wird ein Handel zwischen den Außenministern.
Der Asylbewerber soll gegebenenfalls die Möglichkeit bekommen, die Vermutung, daß er aus einem sicheren Land kommt, zu widerlegen. Wie soll er das real tun? Welche Möglichkeiten werden ihm nach dem 36. Mal verschärften Asylverfahrensgesetz diesbezüglich überhaupt noch gegeben?
Der Standard in Asylverfahren wird weiter heruntergeschraubt, und die Rechtswegegarantie wird ausgehöhlt. Die Sicherstellung der Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention in. einem Staat bildet nicht die geringste Garantie. Abgesehen von ihrer unterschiedlichen Auslegung kennt sie kein materielles Asylrecht.
Nun will ich etwas zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens sagen, weil ich abenteuerlich finde, was dort vereinbart worden ist. Es fängt schon damit an, daß das Verfahren auf Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes vom Hauptverfahren zwingend getrennt werden soll.
— Das hat etwas damit zu tun, ob man den Forderungen der Rechtsextremisten auf diese Art und Weise nachkommt oder nicht. Es hat auch etwas damit zu tun, ob man z. B. Rechtsstaatlichkeit in diesem Umfang abbaut. — Es reicht, wenn das Gericht darauf hinweist, daß die Begründung des Bundesamtes stimmte. Es ist zu einer eigenen Begründung nicht mehr verpflichtet. Das Hauptsacheverfahren soll der Betreffende von Somalia aus führen. Es ist eine völlig unrealistische Vorstellung, die dahintersteckt.
Dann kommt eine ganz kleine Zeile, die kaum jemandem auffällt. Mich hat das jedoch zutiefst erschüttert. Das ist der Satz, daß die Richter ganz in der Nähe entscheiden sollen, daß diese Richter überwiegend Asylverfahren machen sollen und daß ihnen für ihre Tätigkeit „zusätzliche Anreize geschaffen werden können". Sie konstruieren hier erstmals einen Sonderrichter, der besonders bezahlt werden soll, weil er eine besondere Aufgabe hat.
Was verstehen Sie unter „zusätzlichen Anreizen"? Was ist die Motivation dafür, daß ein Richter, der in diesen Fällen entscheidet, besondere Anreize bekommt, im Unterschied zu einem Richter, der komplizierteste Mordfälle oder andere Dinge zu entscheiden hat? Ist es, weil es so viel Umgang mit Ausländern hat? Ist es also ein rassistisches Motiv? Oder soll er dafür, daß es so langweilig ist, immer nur den Stempel „abgelehnt" zu verwenden, eine höhere Bezahlung bekommen? Ich würde die Motivation für materielle Anreize für Richter, die in diesen Verfahren zu entscheiden haben, gern erfahren.
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Dr. Gregor Gysi
Im gleichen Atemzug wird gesagt, daß die bisherigen Leistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber deutlich zu senken sind — obwohl sie gerade gesenkt wurden.
Der Bundesinnenminister wurde gefragt, wie er zu der Frage stehe, daß möglicherweise eine Verfassungsklage gegen den geplanten Art. 16a eingereicht wird. Er gibt wörtlich zur Antwort:
Wenn wir ... mit den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD in den Art. 16a der Verfassung hineinschreiben, was wir wollen — was im übrigen auch der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit entspricht —, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß sich das Bundesverfassungsgericht über diesen Willen des Parlaments hinwegsetzt.
Maßstab ist nicht mehr das Grundgesetz, sondern der Wille der politischen Mehrheit im Parlament.
Die Bekämpfung rechtsradikaler Gewalt und rassistischer Vorurteile darf nicht auf dem Rücken der Opfer von Gewalt und Vorurteilen ausgetragen werden. Wir sind sehr dafür, daß, wie auch die SPD vorschlägt, breite Aufklärung betrieben wird, daß sich die Bildungspolitik schwerpunktmäßig dieser Aufgabe widmet. Wir sind nicht nur dafür, daß die Bevölkerung über die wahre wirtschaftliche Situation aufgeklärt wird, sondern daß die Politik, die zu sozialem Kahlschlag führt, radikal geändert wird.
Der Appell im Antrag der SPD an alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sich gegen Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt zu wenden, muß sich zuallererst an dieses Haus richten. Der sogenannte Asylkompromiß ist intolerant, rassistisch und strukturelle Gewalt gegen Flüchtlinge. Der innere Frieden in der BRD kann nicht durch eine Kriegserklärung an die Flüchtlinge in dieser Welt hergestellt werden.
Natürlich hat Rechtsextremismus viele Ursachen: mangelndes Selbstwertgefühl von Menschen, eine inzwischen immer breiter werdende rechte Kulturszene, die Schließung von Jugendfreizeiteinrichtungen gerade in den neuen Bundesländern. Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot waren schon immer ein Nährboden für Rechtsextremismus.
Hier beginnt die Verantwortung der Bundesregierung. Heute, zwei Jahre nach der Einheit, fordert der Kanzler, die Industriekerngebiete im Osten zu erhalten. Als die Chance dafür viel größer war, nämlich vor zwei Jahren, als wir und andere das forderten, wurde es mit dem Hinweis abgelehnt, daß nur Privatisierung in Frage komme. Im sozialen Wohnungsbau passiert fast nichts.
So wird die Republik leider weiter nach rechts rücken. Aber zum Glück wird auch der Widerstand dagegen wachsen. Dafür gibt es immer mehr Zeichen in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Zeichen beruhigen mich zwar nicht, aber sie machen mir Hoffnung, daß es möglich sein wird, diesen Rechtsruck in der Bundesrepublik Deutschland doch zu stoppen. Aber wir müssen uns abgewöhnen, die Verantwortung nur bei anderen zu suchen. Wir müssen uns auch selbst befragen, und wir müssen endlich die Heuchelei in diesem Hause einstellen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Ingrid Köppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als am Abend des 9. Mai dieses Jahres 60 Skinheads eine Geburtstagsfeier in der Magdeburger Gaststätte „Elbterrassen" überfielen und dabei u. a. den 23jährigen Torsten Lambrecht erschlugen, sahen die bereits am Nachmittag um Schutz und Hilfe gebetenen Polizeibeamten an Ort und Stelle tatenlos zu.
Als vom 22. bis 27. August allabendlich fremdenfeindliche Menschenmengen vor der Zentralen Aufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen randalierten und durch Gewalttaten und Drohungen den Abtransport der ausländischen Bewohner erzwangen, sahen starke Polizeikräfte auch aus Westdeutschland zu.
Als am späten Abend des 24. August an gleicher Stelle ein von Vietnamesen bewohntes Haus in Brand gesetzt wurde und die Feuerwehr die Polizei um Hilfe bat, um den Löscheinsatz zu ermöglichen, erfolgte die notwendige Hilfe nicht.
Als in den ersten Oktobertagen dieses Jahres Neonazis mit Hitlergruß und „Sieg Heil!" -Rufen durch die Straßen Dresdens zogen, verhinderte oder verfolgte die dabeistehende Polizei diese Straftaten nicht. Auch von einem späteren staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren ist mir nichts bekanntgeworden.
Diese Fälle stehen nur beispielhaft für viele andere. Verantwortliche Entscheidungsträger haben in den letzten Monaten von vorhandenen Möglichkeiten und Kapazitäten zur Abwehr fremdenfeindlicher Gewalt oder neonazistischer Umtriebe oftmals keinen Gebrauch gemacht. Auch in anderen Bereichen als dem polizeilichen werden meinem Eindruck nach bestehende Handlungsspielräume und Befugnisse gegen rechts nicht ausgeschöpft.
Dem zum Trotz aber erweckt die öffentliche Debatte über Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsentwicklung oft den Eindruck, als gebe es keine Erfahrungen und Instrumente, als müsse man bei Null anfangen. Dem aber ist nicht so. Wir haben ausreichende Strafvorschriften, die endlich nur konsequent angewandt werden müssen. Ich möchte dies hier auch noch einmal betonen: Im Strafgesetzbuch gibt es etliche Paragraphen zur Ahndung neonazistischer Delikte, wie z. B. die §§ 85, 86, 86a, 111, 126, 130, 130a, 131, 140, 168, und auch zur Ahndung fremdenfeindlicher Delikte, wie z. B. die §§ 223 bis 227, 211, 212, die §§ 306 bis 308, die §§ 123 bis 125 a, § 303, § 305 usw. usw.
Dennoch wird in den letzten Wochen darüber diskutiert, bestehende Strafvorschriften zu verschärfen bzw. neue Gesetze zu schaffen. Bei dieser Diskussion fällt auf, daß sich der weitaus größte Teil solcher Ratschläge auf ordnungspolitische und repressive Maßnahmen, Sicherheitspersonal, verschärfte Strafbestimmungen usw. bezieht. Dies mag manchen der Diskutanten als der geeignetste und schnellste Weg
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Ingrid Köppe
erscheinen, sich der Probleme zu entledigen. Die Probleme aber sind nicht mit einem Bündel von Repressivmaßnahmen zu lösen. Wer die Aufmerksamkeit jetzt auf den Bereich solcher Reaktionsmuster konzentriert, läuft dabei Gefahr, in der Bevölkerung falsche Erwartungen und Hoffnungen zu schüren, die notwendigerweise enttäuscht werden müssen.
Wir fordern, daß die bestehenden Strafvorschriften angewandt werden, daß die Polizei nicht mehr tatenlos danebenstehen darf, wenn Übergriffe auf Ausländer oder andere Mitbürger geschehen. Außerdem sind wir der Meinung, daß wir unsere Phantasie und unsere Aktivitäten viel stärker auf die sogleich genannten sozialen Problemfelder richten müssen, auch wenn das keine kurzfristig sichtbaren Erfolge verspricht.
Erstens. Unverzichtbar erscheint uns, umfangreiche schul- und jugendpolitische Initiativen zu ergreifen, die Jugendfreizeitangebote aus- statt abzubauen und die politische Bildung auszuweiten statt auszudünnen, mehr Lehr-, ABM- und feste Arbeitsplätze zu schaffen und andere langfristige Maßnahmen zu ergreifen.
Zweitens. Dem organisierten Rechtsradikalismus müssen die geistigen Grundlagen und der personelle Zulauf entzogen werden. Hierfür bedarf es einer breiten geistig-politischen Aufklärung besonders der Jugendlichen etwa über Ursprünge und Auswirkungen des historischen Nationalsozialismus und auf den gängigen Agitationsfeldern der Rechten. Ferner sind für Jugendliche die Möglichkeiten alternativer Gemeinschaftserlebnisse auszubauen.
Drittens. Alle Bürger und Bürgerinnen sind aufgerufen, verbalen und tätlichen Angriffen gegen Ausländer entschlossen und couragiert entgegenzutreten.
Viertens. Die Länderpolizeien müssen die Unterkünfte von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen sowie andere gefährdete Treffpunkte von Ausländern konsequent rund um die Uhr durch präsente oder mobile Streifenbewachungen schützen.
Fünftens. In Ost-, aber auch in Westdeutschland müssen Asylbewerberunterkünfte vorrangig mit Telefonanschlüssen versehen werden, damit Überfälle gemeldet werden können.
Sechstens. Es muß sichergestellt werden — das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit —, daß die Polizei nach Notrufen von Ausländern und Ausländerinnen unverzüglich in ausreichender Stärke zum Einsatz ausrückt und effektive Hilfe leistet.
Siebentens. Der kürzlich aufgebaute polizeiliche Meldedienst „Fremdenfeindliche Straftaten" ist auszubauen und zu verfeinern. Bei den Meldungen ist besonderes Augenmerk auf organisatorische Verfestigung unter den Tatverdächtigen zu richten.
Zusammenfassend lassen Sie mich noch einmal sagen: Wir wenden uns energisch gegen eine beabsichtigte Verschärfung von Gesetzen. Wir kommen aus einem Staat, wo repressive Elemente außerordentlich stark waren. Wir haben sehr intensive Erfahrungen mit solchen repressiven Elementen gemacht und haben wahrscheinlich auch von daher ein tiefes
Mißtrauen gegen verschärfte Polizeibefugnisse. Zum anderen aber — und das sage ich auch deutlich—muß die Polizei dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht wird. Bloß ist das in der Vergangenheit oftmals nicht geschehen.
Die Schlußfolgerung, die jetzt oftmals in Diskussionen angeboten wird, nämlich „Unsere Gesellschaft ist bedroht, also verschärfen wir die Gesetze", zieht nicht; sie greift zu kurz und wird uns nicht weiterhelfen. Eine Verschärfung der Gesetze und bestehender Strafbestimmungen wird keine Entschärfung der sozialen und politischen Spannungen in diesem Land bringen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vor den Ereignissen in Rostock bei der Vorlage des Verfassungsschutzberichtes auf eine besorgniserregende Entwicklung im Bereich des Rechtsextremismus hingewiesen und dabei gesagt:
Nichts und niemand gibt in Deutschland das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze und zu Gewalt.
Wir haben erlebt, daß sich die Gewalttaten der vergangenen Wochen und Monate gegen wehrlose Menschen gerichtet haben, und dies gehört zu den bittersten Erfahrungen dieser Zeit.
Wir Deutschen wissen aus dem leidvollen Teil unserer Geschichte, daß Extremismus, Haß und Gewalt immer ins Unglück geführt haben. Deshalb muß sich unsere Demokratie — und das heißt ja wohl, wir alle — gegen ihre Feinde mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen.
Seit Beginn dieses Jahres haben wir über 2 000 Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation zu verzeichnen, rund 1 800 mit fremdenfeindlicher Zielsetzung. 17 Menschen kamen durch diese Gewalttaten zu Tode, darunter sieben Ausländer.
Meine Damen und Herren, dies ist eine Situation, die uns alle aufrütteln muß, zumal auch das Gewaltpotential gestiegen ist. Es liegt bei den militanten Rechtsextremisten, insbesondere den rechtsextremistischen Skinheads, derzeit bei rund 6 400 Personen.
Vier Jahrzehnte lang hat unser Land intensiv und erfolgreich daran gearbeitet, nach dem Ende des nationalsozialistischen Unrechtsstaates ein stabiles, demokratisches und rechtsstaatliches Staatswesen aufzubauen, das nach innen und außen Frieden gewährleistet. Wir dürfen nicht zulassen und werden es auch nicht zulassen, daß die Gewalttaten von Extremisten dieses Bild Deutschlands verdüstern.
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Bundesminister Rudolf Seiters
Ich füge hinzu, daß diese Bilder ja nicht gleichbedeutend sind mit unserem Land. Der ganz überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung ist ausländerfreundlich. Sechs Millionen Ausländer leben bei uns als Teil unseres Arbeits- und Gesellschaftssystems. Ich will auch wiederholen und daran erinnern, daß angesichts der schrecklichen Ereignisse in Jugoslawien eine Welle der Hilfsbereitschaft durch unser Land gegangen ist, die immer noch anhält. Ich möchte auch heute noch einmal der deutschen Bevölkerung für diese Welle der Hilfsbereitschaft ausdrücklich danken.
Wir sind uns einig, daß unsere Gesetze konsequent angewandt, alle Möglichkeiten zur Verhinderung und Ahndung von Straf- und Gewalttaten ausgeschöpft werden müssen und alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten der Bekämpfung und Eindämmung von Ausländerfeindlichkeit konsequent zu nutzen sind.
Dies beginnt bei dem verstärkten Schutz der Asylbewerberunterkünfte, der operativen Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz, dem zielgerichteten Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zur verbesserten Erkenntnisgewinnung und endet nicht zuletzt bei der geistig-politischen Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Extremismus und der fremdenfeindlichen Gewalt.
Ich begrüße nachdrücklich, daß sich die Justizministerkonferenz und die Innenministerkonferenz auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen verständigt haben. Sie betreffen den Einsatz der Bereitschaftspolizeien und das Bereithalten von Spezialkräften zur Festnahme, Beweissicherung und Dokumentation von Gewalttätern, den Einsatz von Sonderkommissionen und den von mir vorgeschlagenen aktuellen Sondermeldedienst „Fremdenfeindliche Straftaten" zwischen Bund und Ländern als Instrument zur besseren Erkennung und Bekämpfung reisender Mehrfachtäter. Die Länder haben meinem Vorschlag zugestimmt, eine Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer, auch rechtsterroristischer und fremdenfeindlicher Gewaltakte unter dem Vorsitz des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu bilden, vergleichbar und ähnlich der Koordinierungsgruppe „Terrorismus", die wir in früheren Jahren einmal mit Blick auf den Linksextremismus und den Linksterrorismus gehabt haben.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz wurde frühzeitig angewiesen, die Beobachtung des Rechtsextremismus zu verstärken. Der Personalabbau bei dieser Behörde ist gestoppt; die für die Beobachtungen des Rechtsextremismus zuständigen Arbeitseinheiten sind erheblich verstärkt worden. Im Bundeskriminalamt wurde eine neue Unterabteilung mit deutlicher Personalverstärkung eingerichtet.
Meine Damen und Herren, ich bin fest entschlossen, das Mittel des Vereinsverbots, wo immer dies unter unseren rechtsstaatlichen Voraussetzungen möglich und notwendig ist, konsequent anzuwenden.
Deshalb habe ich am 27. November die „Nationalistische Front" verboten. Heute morgen ist das Vereinsverbot gegen die „Deutsche Alternative" ausgesprochen worden. Dieses Vereinsverbot wird zur Stunde in allen Bundesländern vollzogen.
Darüber hinaus hat das Kabinett gestern beschlossen, gegen zwei Personen aus der rechtsextremistischen Szene, die in besonders übler und menschenverachtender Weise gegen Ausländer, gegen Juden Agitation betreiben und sich vorgenommen haben, die demokratische Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag nach Art. 18 auf Verwirkung der Grundrechte zu stellen.
Ich weiß, daß es hier um eine Abwägungsfrage geht. Ich kenne auch die Argumente in der Frage, ob man von diesem Instrument wirklich Gebrauch machen sollte. Aber, meine Damen und Herren, wenn es uns jetzt darum geht, deutliche Zeichen zu setzen, daß dieser Rechtsstaat entschlossen ist, dem widerwärtigen Spuk rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttäter ein Ende zu bereiten, dann müssen wir von allen Möglichkeiten Gebrauch machen, die uns unsere Verfassung zur Verfügung stellt.
Auch wenn den Sicherheitsbehörden keine Erkenntnisse über eine zentrale Steuerung der Gewalttaten vorliegen, ist unverkennbar, daß bestimmte Gruppierungen durch ihre ausländerfeindliche Agitation diese anheizen. Ich hoffe, daß die entschiedenen Maßnahmen der Bundesregierung auch manchen, der sich bisher im Dunstkreis der Szene bewegte, jedoch noch im Hintergrund hielt, zur Besinnung bringen.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Köppe zu beantworten?
Ja.
Herr Minister, ist es nicht vielmehr so, daß sich in der Vergangenheit Verbote rechtsextremistischer Parteien und Organisationen in der Altbundesrepublik — ich habe es mir ja nur angelesen —, z. B. in den 50er Jahren, aber auch 1977 das Verbot der „Wehrsportgruppe Hoffmann" und weitere Verbote in den 80er Jahren letztendlich als wirkungslos erwiesen haben, weil deren Mitglieder nahtlos in andere Vereinigungen übergewechselt sind?
Was die Vereinsverbote anbetrifft, so gilt ein Verbot gleichzeitig für Ersatzorganisationen. Das Vermögen wird beschlagnahmt, Beweismaterial wird eingesammelt. Was die Verwirkung von Grundrechten anbetrifft, so ist es in der Tat richtig, daß in früheren Jahren zwei
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Bundesminister Rudolf Seiters
Anträge vom Bundesverfassungsgericht nicht akzeptiert wurden. Wir haben aber, wie ich finde, eine geänderte Situation, eine geänderte Faktenlage. Wir haben dem Bundesverfassungsgericht eine sehr sorgfältige Begründung für den Verbotsantrag zugeleitet. Ich sage noch einmal: Es geht ja um ein Bündel von Maßnahmen. Dieser Rechtsstaat soll nach dem Willen derer, die diese Verfassung geschaffen haben, und nach unserem Willen eine wehrhafte Demokratie sein. Dann soll er bitte auch von allen Möglichkeiten Gebrauch machen, die ihm diese wehrhafte Demokratie zur Verfügung stellt.
Sie möchten noch einmal nachfragen, Frau Köppe? — Bitte sehr.
Meinen Sie nicht, daß Sie mit solchen lediglich administrativen Maßnahmen in der Bevölkerung vielleicht den falschen Eindruck erwecken könnten, daß die Probleme damit gelöst würden? Ist dies nicht lediglich eine Ersatzhandlung für eine intensive politische Auseinandersetzung mit dem Problem?
Gestatten Sie mir noch eine Zusatzbemerkung. Ich denke, daß Verbote allein nicht ausreichen. Damit ist nicht gesichert, daß eine Auseinandersetzung stattfindet. Ich befürchte viel eher, daß sich Mitglieder solcher Parteien dann eben woanders organisieren, daß dies also nur eine Scheinlösung ist.
Nun war es fast eine Kurzintervention.
Frau Köppe, Sie stellen diese Fragen mitten in meiner Rede. Ich habe zu Beginn ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer geistig-politischen Auseinandersetzung mit Extremismus und Fremdenfeindlichkeit hingewiesen.
Ich wollte auch gleich mit wenigen Sätzen noch darauf zu sprechen kommen. Ich stimme Ihnen ja absolut zu, daß Verbotsmaßnahmen, repressive Maßnahmen des Staates allein nicht ausreichen, sondern daß wir fremdenfeindliches Gedankengut durch Aufklärung und durch eine vielfältige Tätigkeit schon im Keim erstikken müssen, wobei wir allesamt gefordert sind.
Ich wollte in diesem Zusammenhang auch gerade die vor zwei Wochen vom Generalbundesanwalt und den Generalstaatsanwälten gefaßten Beschlüsse begrüßen, wonach u. a. die Strafverfahren gegen rechte Gewalttäter möglichst beschleunigt zum Abschluß gebracht werden und gegen überführte Gewalttäter durch die Staatsanwälte Anträge zur nachdrücklichen Bestrafung gestellt werden sollen.
Ich unterstütze gleichzeitig auch den von diesem Gremium an die Medien gerichteten Appell, die
Bemühungen der Strafverfolgungsbehörden, aber auch die der Sicherheitsbehörden insgesamt bei der Bekämpfung rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Straftaten dadurch zu unterstützen, daß sie auch über die Verurteilung der Täter verstärkt berichten, um den Abschreckungseffekt zu erhöhen.
Ich will im einzelnen jetzt nicht auf das eingehen, was nach meiner Überzeugung und aus meiner Sicht bei der Verbesserung des gesetzlichen Instrumentariums — beim Strafgesetzbuch und bei der Strafprozeßordnung — sinnvoll und notwendig wäre. Meine Position ist bekannt; ich habe sie auf der Innenministerkonferenz und im Parlament bereits vorgetragen.
Ich will aber doch noch einmal sagen: Wer es mit der Bekämpfung rechtsextremistischer Organisationen ernst meint, muß versuchen, deren Aktivitäten bereits im Keime zu ersticken und die notwendigen Beweise für ein Verbot dieser Vereinigungen zu sichern. Wir müssen das gesamte rechtsstaatliche Instrumentarium nutzen, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen und vorbeugend zu wirken gegen jede Art von Extremismus, Kriminalität und Gewalt — im Interesse der politischen Kultur, der inneren Sicherheit und des Ansehens unseres Landes, im Interesse der von uns gewollten wehrhaften freiheitlichen Demokratie.
Zur weiteren Intensivierung der Aufklärung gewalttätiger und gewaltfördernder Bestrebungen gehört schließlich eine ausreichende Zahl von Polizeibeamten. Das liegt mir nun nach vielen Erkenntnissen, nach vielen Erfahrungen und nach vielen Gesprächen vor Ort wirklich am Herzen. Wir haben alle miteinander auch eine moralische Verpflichtung, unseren Polizeibeamten, die nicht zu den Bestbezahlten in diesem Staate gehören, die einen schwierigen Dienst im Interesse des inneren Friedens unseres Landes verrichten, politisch den Rücken zu stärken und ihnen zu sagen: Sie haben unsere volle Solidarität.
Langfristig können fremdenfeindliche Gewalttaten nur dann, Frau Köppe, eingedämmt werden, wenn wir über die Intensivierung polizeilicher Schutzmaßnahmen, die Strafverfolgung und die Vorfeldaufklärung hinaus die geistig-politische Auseinandersetzung verstärken. Insbesondere müssen wir junge Menschen von der Ungerechtigkeit, der Schädlichkeit, der Inhumanität und der Kriminalität solcher Angriffe überzeugen und mit Entschlossenheit jedem Trend zu Gewaltbereitschaft entgegentreten.
Das Bundesinnenministerium jedenfalls führt — sicherlich machen das auch viele andere Gremien — im Rahmen der Aufklärungskampagne gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit gegenwärtig eine ganze Reihe von Vorhaben durch, die hauptsächlich auf die Jugend abzielen: durch die Bereitstellung von Unterrichtsmaterial für Schulen, Anzeigen mit themenbezogenen Beiträgen in Jugendzeitschriften, die Erstellung von Postern, Plakaten und Fernsehspots. Das Ziel ist die Aufklärung über Fremdenfeindlich-
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Bundesminister Rudolf Seiters
keit, Rassismus und Antisemitismus als Elemente rechtsextremistischer Ideologie und Propaganda.
Ich denke, daß alle gesellschaftlichen Gruppen, die Familien, die Schulen, die Vereine und die Jugendverbände, aufgefordert sind, die Werte und Normen unseres Grundgesetzes im Sinne unserer freiheitlichen und an der Würde des einzelnen Menschen orientierten Ordnung verstärkt zu vermitteln.
Alles in allem: Alle Menschen in unserem Lande, unabhängig von Nationalität, Hautfarbe und Konfession, müssen sich in Deutschland sicher fühlen können. Die Bundesregierung wird gemeinsam mit den Bundesländern ihre Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit mit aller Konsequenz fortsetzen. Wenn wir dies tun, bin ich auch sicher, daß wir diesem widerwärtigen Spuk ein Ende bereiten werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Debatte muß auch eine Stunde der Selbstkritik werden. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, aber für mich ist unser politisches Reden, ist der gewohnte politische Betrieb kaum noch erträglich. Er scheint mir dem gänzlich unangemessen, was um uns in Deutschland Nacht für Nacht alltäglich geschieht: Haßausbrüche, Gewalttaten, Morde, Menschenverachtung und Gefährdung der Demokratie, Wiederaufleben des schlimmsten deutschen Ungeistes — als wäre alles umsonst gewesen, die millionenfachen Opfer des deutschen Faschismus, die schrecklichste Erfahrung, die ein Volk gemacht haben kann, nämlich ein Volk voller Täter gewesen zu sein, und dann auch die 40jährige glückliche Geschichte im Westen und die unglückliche Geschichte im Osten unseres Vaterlandes.
Der Ungeist kommt wieder, Neonazis betreten wieder die deutsche Szene, sie erfahren Echo; viele erscheinen wieder verführbar. Und wir? Seit eineinhalb Jahren, seit Hünxe und Hoyerswerda, reden wir mehr oder minder betroffen, wir streiten über das Asylproblem und erwecken den Eindruck, als würden wir den Gewalttaten damit nachgeben, als reagierten wir nur auf die Sprache der Gewalt — ein unerträglicher Eindruck, auch wenn ich ihn für falsch halte.
Aber es war doch wirklich unerträglich, daß Nazi-Aufmärsche in Begleitung der Polizei, gar unter Polizeischutz in deutschen Städten stattgefunden haben, in Rudolstadt und Dresden; es war doch unerträglich, daß Journalisten über rechtsradikale Gewalt berichteten, als würden sie über Fußballereignisse berichten. Ich werde nie vergessen, wie ein Reporter auf einem Haus in Rostock stand und beunruhigt sagte: Es passiert noch gar nichts.
Es war doch eine zögerliche Justiz, die in skandalös niedrigen Urteilen und in noch schlimmeren Begründungen Mordtaten verharmlost hat. Das Tottreten eines Schwarzen in Eberswalde kostete zwischen zwei und vier Jahre Gefängnis wegen „Körperverletzung mit Todesfolge". Das Gericht bewertete, wie das die Skinheads in ihrer mörderischen Sprache nennen, das „Niederstiefeln" des Schwarzen aus Angola als „jugendtypische Verfehlung". Man stelle sich dies vor!
Es war dies unerträglich.
Es war doch auch unerträglich, daß manche Politiker die Ängste von Menschen, das Zuwanderungsproblem zu parteipolitischen und wahltaktischen Zwecken mißbraucht haben.
Es war doch eine schlimme, falsche Sprache, die von „Asylantenstrom" und von „SPD-Asylanten" gesprochen hat — bis hin zu jenem Wort vom „Beileidstourismus", ein Beileidstourismus, der dem Kanzler fremd sei, wie der Regierungssprecher in einer fühl- losen Sprache sagte. Wo ist die Distanzierung des Bundeskanzlers von einer solchen zynischen Ausdrucksweise bisher geblieben?
Es war doch unerträglich, daß lange schon — ich habe das ja nur von außen beobachtet — rechtsradikale und neonazistische Propaganda in der Bundesrepublik Deutschland möglich war und hingenommen wurde. Die „Deutsche National- und Soldaten-Zeitung" erhöht jährlich ihre Auflage. Diese Saat geht auf, und sie hat eine lange Vorgeschichte.
Wir müssen uns daran erinnern, damit wir begreifen, daß wir wirklich Anlaß zur Selbstkritik haben. In diesem Zusammenhang sage ich dann auch: Es besteht Anlaß zur Selbstkritik, wenn der Zusammenhang zwischen den Themen Asyl-, Zuwanderungs-, Flüchtlingsproblem und Rechtsradikalismus allzu eng formuliert wird, Herr Gysi. Wir reden heute über Rechtsextremismus. Sie haben auf eine eigentümliche Weise genau das bestätigt, was wir nicht tun sollten.
Ich bin sehr dankbar, Herr Lambsdorff, daß Sie und auch Herr Lafontaine ausdrücklich darauf hingewiesen haben, daß das Wichtigste nicht unser Ansehen ist und daß das Wichtigste nicht die mögliche Beschädigung unserer Wirtschaftskraft ist, sondern daß das Wichtigste die Verteidigung unseres Anstands ist. Denn in den vergangenen anderthalb Jahren haben Haß, Menschenverachtung, brutale Gewalttaten und Mord ständig zugenommen und sind auf eine entsetzliche Weise zugleich vollkommen alltäglich geworden. Zuerst wurden die Schwächsten und Fremdesten zu Opfern gemacht, Asylbewerber, Sinti und Roma; dann folgte Sachsenhausen, die Gewalt gegen das Gedächtnis an Tote, an Ermordete; dann ermordeten rechtsextremistische Verbrecher Mitbürger ausländischer Herkunft, und inzwischen sind antisemitische Bedrohungen alltäglich geworden. Unsere jüdischen Mitbürger leben wieder in Angst, und nicht wenige von ihnen wollen Deutschland verlassen. Der Brief
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Wolfgang Thierse
von Ralph Giordano war doch ein Aufschrei, auf den der Adressat allzu kühl reagiert hat, finde ich.
— Ein Aufschrei! Wer nicht in solcher Bedrohung ist, sollte solche Urteile über die Nöte und den Schrei der anderen nicht abgeben.
Inzwischen sind längst auch Behinderte Opfer roher Gewalt geworden. Was ist das für eine Gesellschaft, in der Behinderte mit physischer, aber auch mit juristischer Gewalt attackiert werden? Ich erinnere Sie an das skandalöse Urteil: Schadenersatz dafür, daß jemand im Urlaub gemeinsam in einem Raum mit Behinderten essen mußte. Das nenne ich juristische Apartheid!
Inzwischen ist die Gewalt unter Jugendlichen, in den Schulen, zwischen sogenannten rechten und sogenannten linken Gruppen und Szenen alltäglich und allgegenwärtig.
Die Bilanz: 17 Ermorderte, Hunderte von Verletzten, Tausende von Straftaten, Angst und Angst und Angst und zum Glück auch Scham und Scham. Wir sind lange schon eine gewalttätige Gesellschaft geworden.
Aber in den letzten Wochen hat endlich das Ende der Lähmung, das wirkliche Aufwachen der Demokraten in diesem Lande stattgefunden. Viele Hunderttausende Bürger sind auf die Straßen gegangen — in Berlin, Köln, Frankfurt, München und anderswo — und haben ein Zeichen gesetzt, sich gegenseitig ein Zeichen gesetzt, daß wir unsere Angst überwinden können und daß wir entschlossen sind, unsere Demokratie und die Menschlichkeit in diesem Lande zu verteidigen.
In den letzten Wochen hat auch die Polizei stärker als zuvor begriffen, was sie zu tun hat; auch die Justiz. Das gestrige Urteil gegen den Neonazi Dienel ist endlich ein angemessenes Urteil. Ich denke, auch die Mehrzahl der Politiker hat begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Ich begrüße ausdrücklich die Verbote, die der Bundesinnenminister ausgesprochen hat.
Ich begrüße, daß endlich, nach anderthalb Jahren, eine Regierungserklärung des Kanzlers stattgefunden hat. Ich hätte es allerdings auch gut gefunden, wenn der Bundeskanzler nach Mölln gegangen wäre und ein Zeichen gesetzt hätte. Ich hätte es auch sehr gut gefunden, wenn als eine der Reaktionen auf Mölln wir miteinander das kommunale Wahlrecht für Mitbürger türkischer Herkunft hätten vorschlagen können.
Denn ich glaube nicht, daß nur der Einsatz staatlicher Autorität notwendig ist — er ist notwendig —, sondern es ist auch das Angebot an unsere Mitbürger, Gleichberechtigung politisch, sozial und kulturell erfahren zu können, notwendig.
Es ist notwendig: Das Ende von Verharmlosung, von Wegsehen, von Verdrängen, des Mangels an Zivil- courage der Bürger und die unmißverständliche Entschlossenheit der Parteien und auch die Einigkeit der Parteien. Selbstverständlich — ich brauche dies nicht zu sagen: Der Rechtsstaat hat sich mit aller Entschlossenheit, mit allen Mitteln zu verteidigen, aber er verteidigt sich nur dann und indem er die Schwächsten unter uns verteidigt und schützt: nur dann! In dieser Hinsicht wünsche ich mir jene Entschlossenheit, die es in den 70er Jahren angesichts der Herausforderung durch Linksradikale, durch die RAF gegeben hat.
Es ist also unstrittig, daß es um den Einsatz aller polizeilichen Mittel, aller rechtsstaatlichen Mittel und die Anwendung der Gesetze in ihrer vollen Schärfe gehen muß. Selbstverständlich. Das ist gar kein Dissens zwischen uns. Wir sind auch bereit, sehr nüchtern zu prüfen, an welchen Stellen bestimmte gesetzliche Vorschriften nicht aureichen. Aber das Urteil darüber steht noch nicht fest. Dies muß geprüft werden. Ich bin nur nicht so sicher, ob die Aberkennung von Grundrechten nach Art. 18 eine angemessene und wirklich sinnvolle Maßnahme ist. Da bin ich nicht so sicher.
Über diese selbstverständliche, notwendige Entschlossenheit des Staates hinaus gilt es, die langfristigen Aufgaben ins Auge zu fassen. Wir wissen doch, daß es eine langfristige Diskrepanz zwischen dem Bedürfnis und dem Verlangen der Menschen nach ökonomischer, sozialer und menschlicher Sicherheit in diesem Lande und den objektiven Möglichkeiten, dies auch schnell zu befriedigen, geben wird. Diese Diskrepanz ist der Konfliktstoff, der sich immer wieder neu entzünden kann, und die rechtsradikalen Ideologen und Brandstifter sind unterwegs.
Die vorhandenen Ängste, eine tiefe Verunsicherung, eine, nicht nur soziale, sondern wahrhaftig auch moralische, ideelle Entwurzelung, die macht die Menschen verführbar. Die Jugendlichen, die agieren das, die setzen das in die Sprache der Gewalt um, was ihre Eltern an Konfliktfähigkeit nicht gewohnt sind, nicht artikulieren, nicht in politisches Handeln umsetzen können. Deswegen, denke ich, ist über das, was den Einsatz staatlicher Mittel betrifft, hinaus besonders wichtig, daß wir um die Jugend kämpfen. Ich appelliere an die Eltern, an die Erzieher und an die Freunde: Gebt keinen auf. Kämpft um jeden. Entreißt ihn den Fängen rechtsradikaler Ideologen und Gewalttäter. Wir dürfen keinen von ihnen aufgeben.
Deswegen wird Jugendarbeit und wird Kulturarbelt unendlich wichtig. Wenn Kommunalpolitiker
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Wolfgang Thierse
jetzt noch nicht begreifen, daß sie von dem wahrhaftig knappen Geld mehr Geld für Jugendarbeit, für Jugendklubs und für Kulturprojekte ausgeben müssen, dann haben sie nichts begriffen von der wirklichen Gefährdung der Jugend.
Es geht drittens um die Verteidigung von demokratischer Kultur, um die Erziehung zu friedlicher Konfliktfähigkeit. Ja, es ist doch eine Selbstverständlichkeit, daß es nicht nur um Bildung, sondern auch um Erziehung geht. Wer wird das je bestreiten?
— Es kommt auf die Art dieser Erziehung an. Ich bin nicht sicher, ob Ihr Ruf — ich weiß nicht, ob ich ihn so verstehen soll — nach Formen und Mustern autoritärer Erziehung sinnvoll sein soll. Ich glaube nicht. Ich denke, es geht wirklich um Erziehung,
um eine ganz langfristige Aufgabe, aber um eine Form von demokratischer Erziehung, die übrigens mit der -Theorie der herrschaftsfreien Kommunikation von Jürgen Habermas genau gemeint war. Ich will das nur in Erinnerung bringen.
Es geht auch um eine Verteidigung der demokratischen Kultur, die darin besteht, daß wir der Gewöhnung an Gewalt widerstehen. Natürlich teile ich die Auffassung, daß es Tabus gibt, die unersetzlich sind für das menschliche Leben. Also appelliere ich z. B. an Journalisten, an die Fernsehleute: Beginnt endlich mit einer selbstkritischen Diskussion darüber, daß ein Teil des Fernsehens zu einem Medium der Multiplikation von Gewalt geworden ist.
Aber machen wir es uns nicht zu einfach. Es geht nicht um eine Journalistenschelte. Wir müssen endlich auch darüber debattieren, was das von Ihnen favorisierte und durchgesetzte Prinzip erbarmungsloser Konkurrenz mit dem Fernsehen macht. Auch darüber haben wir zu reden.
Zum Schluß: Es geht insgesamt um eine Wiedergewinnung der Politik. Damit ist ja gemeint die Verteidigung unserer Polis. Das ist nicht nur eine polizeiliche Aufgabe. Das ist eine Aufgabe, die den Pakt der Demokraten — seien sie Politiker oder Journalisten oder Künstler oder Wissenschaftler oder Gewerkschafter — insgesamt voraussetzt. Die Politiker haben allerdings die Verpflichtung, darin voranzugehen.
Danke.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Graf Lambsdorff.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Herr Kollege Thierse, Sie haben das Wort „Beileidstourismus", das der Regierungssprecher gebraucht hat, kritisiert. Sie haben eine Entschuldigung des Bundeskanzlers vermißt. Der Bundeskanzler hat es nicht gebraucht. Der Bundeskanzler hat sich deswegen nach meiner Überzeugung auch nicht zu entschuldigen.
Der Regierungssprecher hat Ihrem Fraktionskollegen Duve unter dem 8. Dezember einen Brief geschrieben, der mir vorliegt, in dem er erklärt, wie es zu diesem Wort gekommen sei, und in dem er mit dem Schlußsatz endet: Daß man über die Angemessenheit dieses Begriffs streiten kann, will ich gern zugeben.
Als nächster Redner erhält der Kollege Eduard Oswald das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine politischen Freunde und ich werden oft gefragt: Was kann das Christliche in der Politik noch bedeuten? Die Antwort fällt in der Hektik und Vielfalt der tagespolitischen Arbeit und Entscheidungen nicht immer leicht. Die Auseinandersetzung mit Gewalttätigkeit und Fremdenfeindlichkeit aber verdeutlicht die fortwirkende Selbstverpflichtung auf das christliche Menschenbild. Für einen Christen kann es keinen Zweifel an der gleichen Würde aller Menschen geben. Jeder Christ verurteilt Gewalt auf das schärfste.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Wir müssen der Gewaltanwendung kompromißlos in all ihren Erscheinungsformen entgegentreten und sie bekämpfen.
Wo immer sie auftritt — als Christen und Demokraten: Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt — nicht für Gewalt gegen Menschen und auch nicht für Gewalt gegen Sachen.
Das Gewaltmonopol des demokratischen Staates muß geachtet werden. Kein noch so dringendes Problem und kein irgendwie gearteter möglicher Mißstand rechtfertigen in unserem demokratischen Rechtsstaat die Anwendung von Gewalt. Wer Gewalt ausübt, duldet oder ihr gar applaudiert, verläßt die Gemeinschaft der Demokraten.
Deshalb ist jede Gewalt gegen Ausländer auch ein Angriff auf unsere freiheitliche Demokratie, auf die wir zu Recht stolz sind.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11059
Eduard Oswald
Die Debatte heute hat es gezeigt: Wir werden das freiheitliche, weltoffene, tolerante Deutschland und seine Demokratie, die wir in den alten Bundesländern in vierzig Jahren aufgebaut haben und zu der sich unsere Landsleute in der friedlichen Revolution des Jahres 1989 bekannt haben, gegen jeden Angriff entschlossen verteidigen.
Politischer Extremismus und Ausländerfeindlichkeit werden auch künftig in Deutschland keinen Platz haben. Und unsere Fraktion hat hier nie zwischen rechts und links unterschieden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirrköpfe und Demagogen, die aus der Vergangenheit nichts gelernt haben und die die Gegenwart nicht verstehen wollen, dürfen uns nicht die Zukunft zerstören!
Rechtsextremistische Gewalt gibt es auch in anderen europäischen Staaten. Diese Tatsache macht es nicht weniger dringlich, sich damit bei uns konsequent auseinanderzusetzen. Aber es ist die Forderung, daß wir diesen Kampf für Demokratie und Freiheit mit unseren europäischen Partnern gemeinsam führen.
Ich fürchte, daß manche sich über Hintergründe, Zusammenhänge und Dimensionen der Entwicklung noch nicht ausreichend im klaren sind. Es sind heute viele Einzelheiten und Feinheiten schon angesprochen worden. Ich bin erschrocken über den Geist, der sich in bestimmten Kreisen, genauer: in Subkulturen, beispielsweise der Musikszene, breitmacht und so auch in die junge Generation hineingetragen wird, in Bereiche, in die wir mit der Sprache der Politiker überhaupt nicht mehr hineinkommen.
In den Texten einer dieser Gruppen, der Skin-Rockgruppe „Störkraft", wird ein Zusammenhang sichtbar, der weit über das Thema Ausländer hinausgreift. Ich will diese menschenverachtenden, haßerfüllten Texte an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal verbreiten helfen. Sie richten sich pauschal und brutal gegen Ausländer, aber beispielsweise auch gegen Behinderte. Ich bin dankbar, Herr Thierse, daß Sie auch dies in dem Gesamtzusammenhang dargestellt haben. Heute sind es die Ausländer und Behinderten, und morgen sind es wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Deswegen müssen wir uns wirklich umfassend mit den Hintergründen und Zusammenhängen auseinandersetzen. Der Gewalt geht im Grunde die Herabwürdigung der späteren Opfer voraus. Wo ein anderes menschliches Leben geringer geschätzt, verhöhnt, pauschal abgewertet wird, beginnt der Weg in die Gewalt gegen Mitmenschen.
Gewalt kann nur dort entstehen, wo differenziert wird in wertvolles und schützenswertes Leben und in weniger wertvolles und nicht schützenswertes Leben. Dann gibt es natürlich die Steigerung bis in diese unglaubliche Sprache, bis zum „Untermenschen", bis zum „Abschaum"; ich will es gar nicht weiter darstellen, weil wir das alles so erschütternd ja erleben. Wir werden über die Situation auf dem Balkan auch noch zu diskutieren haben, wo wir es ja in anderer Form sehen. Insofern ist das, was wir am Nachmittag diskutieren werden, eigentlich eine logische Fortsetzung der Debatte des Vormittags.
Die Wurzeln sind immer die gleichen. Deshalb müssen wir uns immer wieder über die inneren Zusammenhänge klar werden und hier die geistige Auseinandersetzung suchen, und diese Debatte darf nicht die letzte zu diesem Thema sein, Herr Thierse. Der Geist, der heute in dieser Debatte weht, muß sich in andere Debatten hineintragen und muß sich fortsetzen.
Für mich ist die Grundlage dieser Auseinandersetzung das christliche Menschenbild mit der Unverletzlichkeit der Würde der menschlichen Person, der Menschenwürde, die unteilbar gelten muß für alle, für Kranke und Alte, für Deutsche und Ausländer gleichermaßen.
Wir haben gute Chancen, die Herausforderungen erfolgreich zu bestehen, und wir sollen dies auch sagen, um der Propagandisten Herr zu werden. Die Anschläge und Morde erfüllen uns und die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land mit Entsetzen, Abscheu und Trauer.
Wir müssen die Deutschen aber insgesamt gegen jeden pauschalierenden Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit und des Ausländerhasses in Schutz nehmen, und wir lassen die großen Traditionen unseres Volkes nicht von Fanatikern mißbrauchen und in den Schmutz ziehen. Ich wünsche mir, daß die eindrucksvollen Bilder der Lichterkette mehrerer hunderttausend Menschen in meiner Landeshauptstadt München in der Welt verbreitet werden genauso wie jene Bilder, die uns selbst so betroffen gemacht haben.
Die hohe Verantwortung der Medien gilt, und sie muß weiter gelten.
Wer unser Land kennt, weiß: Deutschland ist ein weltoffenes und ausländerfreundliches Land. Seit Jahrzehnten leben wir Deutschen friedlich und im guten Miteinander mit rund 6 Millionen Ausländern zusammen. Sie sind Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinskameraden, gute Bekannte, ja — Gott sei Dank! — Freunde. Weil das so selbstverständlich geworden ist, nehmen wir es häufig gar nicht mehr wahr. Das ist gut so. Um so mehr sollten wir uns heute bewußt werden, wie unentbehrlich sie sind, wie sie unser Land und uns selbst in vielfältiger Weise bereichern.
In dieser Woche findet an unseren Hochschulen eine Aktionswoche gegen Fremdenhaß statt. Präsident Professor Berchem hat für die Aktion des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ein treffendes Motto vorgestellt: „Ohne Ausländer wären wir
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Eduard Oswald
ärmer, menschlich, wissenschaftlich, wirtschaftlich'. Es ist treffend gesagt.
Allen ist zu danken, die sich um das Zusammenleben mit Ausländern verdient gemacht haben und mit ihren aktuellen Aktionen der Fremdenfeindlichkeit Widerstand leisten.
Die Bekämpfung des Extremismus ist eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Gruppen. Durch eine eindeutige Haltung und insbesondere durch das Gespräch mit der Jugend kann jeder seinen Beitrag zur Ächtung der Gewalt leisten. Es soll niemand sagen, das gehe ihn nichts an! Nein, jeder braucht einen hellwachen Bürgersinn gegen Gleichgültigkeit im Umgang mit der Gewalt.
Familie, Vereine, Schulen und Hochschulen — sie alle müssen mithelfen, zu unseren freiheitlichen und rechtsstaatlichen Werten zu erziehen. Wie schwierig die damit gestellte Aufgabe zu lösen ist, wird klar, wenn wir uns bewußt machen, daß die Institutionen der Erziehung, daß Familie und Schule heute in Teilbereichen selbst Orte gestiegener Gewalttätigkeit sind. Trotzdem: Nur eine stabile Familie ist in der Lage, dem jungen Menschen Geborgenheit, Heimat und Orientierung zu geben. Wir müssen uns Zeit nehmen für unsere Kinder und Jugendlichen, Zeit nehmen zum Gespräch und zur Konfliktlösung. Und kein Lehrer unseres Landes darf sich nur als Stoffoder Wissensvermittler verstehen, sondern er muß sich als Erzieher und Pädagoge begreifen.
Zeit nehmen für die jungen Menschen, Stärkung der Familie — wir müssen übrigens auch das Ansehen von Haus- und Familienarbeit unserer Frauen und Mütter und die soziale Stellung mit verbessern; das ist eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe.
Vielen Dank, Herr Bundesminister Seiters, daß den Schulen mit Unterrichtsmaterialien geholfen wird. Das ist notwendig, um diese Diskussion auch in den Ländern und vor Ort weiterzuführen.
Täuschen wir uns nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren: All die sozialen Fragen spielen in vielen Fällen eine entscheidende Rolle.
Ebensowichtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Frage nach der Lebensperspektive junger Menschen. Jeder junge Mensch will gebraucht werden, will seinen Platz haben in Staat und Gesellschaft, und daneben geht es auch noch um Werthaltungen. So wichtig wie Geborgenheit und das Gefühl, gebraucht zu werden, ist das Gefühl der Sicherheit. Wenn sich Menschen der Schutzfunktion des Staates nicht mehr sicher sind, wachsen Ängste und Unsicherheiten. Sie sind ein schlechter Nährboden für Toleranz und entspanntes Miteinander mit anderen — Fremden wie Minderheiten. Auch deshalb gilt: Nur eine wehrhafte Demokratie und ein wehrhafter Staat sichern politische Stabilität und die Sicherheit all der Menschen in unserem Lande.
Nun hat die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir betrauern die Toten. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen. Die Verletzten müssen mit unserer Hilfe rechnen und sich darauf verlassen können.
Es ist selbstverständlich, daß den rechtsradikalen Gewalttätern, wie allen Gewalttätern, entschieden entgegengetreten werden muß. Man muß sie festhalten, damit sie nicht weitermachen können. Sie müssen eindeutigere Gerichtsverfahren bekommen, die eine Signalfunktion haben und die aufklärend wirken.
Es gibt die Anschläge, über die uns die Polizeiberichte und die Medien unterrichten, und es sind inzwischen weit über 3 000. Und es gibt etwas anderes, es gibt die Beispiele alltäglicher Beschimpfung, Beleidigung und Quälerei, und das sind Hunderttausende von Fällen, meine Damen und Herren, von denen man nur dann etwas erfährt, wenn man Augen und Ohren aufmacht und sich darum kümmert.
Ich denke an den jüdischen Schüler in Köln, den seine Schulkameraden auf dem Schulhof festgehalten haben und den sie nicht eher loslassen wollten, bevor er nicht, den Arm zum Hitlergruß erhoben, zehnmal „Heil Hitler" gesagt habe. Oder ich denke an die türkische Schülerin in Hamburg, dort geboren und aufgewachsen, deren Mitschüler immer häufiger ekelhafte Türkenwitze erzählen und ihr gegenüber eine Schadenfreude an den Tag legen, die sie bis vor ein oder zwei Jahren nicht erlebt hat. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, und sie verschlagen mir die Sprache.
Es ist ganz und gar unerträglich, meine Kolleginnen und Kollegen, daß Menschen in unserem Land bedrückt und verängstigt leben müssen.
Das Gift der Fremdenfeindlichkeit hat sich im Laufe der letzten zweieinhalb Jahre immer weiter und weiter ausgebreitet. Warnungen sind in den Wind geschlagen worden. Dieses Gift wieder wegzubekommen, ist nicht allein durch repressive Maßnahmen zu erreichen, es wird schwieriger und langwieriger sein.
Offenbar hat es einen schleichenden Abbau fester Normen gegeben. Viele Eltern wagen es kaum noch, ihren Kindern Schranken zu setzen. In vielen pädagogischen Institutionen und übrigens in vielen Bereichen der Jugendarbeit gibt es ein gebrochenes Verhältnis zu Grundregeln des Miteinanders, des Zusammenlebens von Menschen.
Ich will hier nur die Stichworte nennen: Schule. Ich weiß sehr gut, weil ich diese Anfragen bekomme, daß
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Cornelia Schmalz-Jacobsen
es viele Initiativen einzelner Schulen gibt: Was können wir machen? Aber ich frage hier noch einmal: Was tun die Kultusminister? Was tun die Ministerpräsidenten? Die wären wirklich aufgefordert, hier den Schulen, den Lehrern und den Rektoren unter die Anne zu greifen und auch deutlich zu machen, was hier angezeigt ist.
Ein Stichwort ist die politische Bildung, meine Damen und Herren. Die Angebote, die dort gemacht werden, müssen den Erfordernissen angepaßt werden. Da gibt es eine Masse zu entrümpeln. Nur zu, das darf kein unbeweglicher Tanker sein, hier muß man sich anpassen!
Angesichts der verbreiteten Abwehrhaltung gegenüber Fremden wäre es aber zu kurz gegriffen, das, was wir zur Zeit erleben, nur als ein Jugendproblem zu begreifen. Ich befürchte, daß sich viele dieser Rechten durchaus in Übereinstimmung mit einem Teil der Elterngeneration befinden.
Ich möchte auch davor warnen, daß man glaubt, der Rechtsextremismus habe allein Rückhalt bei den sozial Schwächeren. Nein, meine Damen und Herren, an unseren Universitäten braut sich etwas zusammen, und das sind nicht die sozial Deklassierten. Man muß die Wirklichkeit sehen und sie zur Kenntnis nehmen.
Auch in einem anderen Punkt: Woher kommt eigentlich die Art, wie wir uns und andere definieren? Wir, die Deutschen — die, die Ausländer, die aber häufig gar keine mehr sind. Woher diese Allergie allein schon gegen das Wort Einwanderung, obwohl das doch längst Realität und Normalität geworden ist? Warum hüten wir unser Staatsbürgerschaftsrecht schier wie einen Gral? Was ist das für eine eigenartige Tradition, meine Damen und Herren? Ich glaube, es geht bei dieser Auseinandersetzung im tiefsten Grunde auch um das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland.
Aber wer die Zukunft gewinnen will, der muß sich dem Wandel öffnen und sich seinen Herausforderungen stellen und darf nicht blockieren.
Parallel und gleichzeitig verwoben mit dem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit gibt es eine erschütternde Zunahme von Brutalität. Ich meine durchaus, daß die brutale Medienwirklichkeit ihren Anteil daran hat. Filme, die ich vor fünf Jahren als Jugendsenatorin zurückgewiesen und gegen die ich protestiert habe, sind heute fast gang und gäbe und durchaus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, meine Damen und Herren. Das hat mit Neuigkeitswert häufig wenig zu tun, um so mehr mit voyeuristischer Sensationsmache.
Die Würde des Menschen bleibt dabei häufig auf der Strecke, und die Gewöhnung an Bilder der Gewalt dient gewiß nicht zum Friedenstraining.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Gewalt nimmt zu, wenn ihr mit stiller Sympathie einerseits und lediglich öffentlicher Empörung andererseits begegnet wird.
Gewalt nimmt ab, wenn das scheinbar gewaltfreie Umfeld sich fragt, inwiefern haben wir dazu beigetragen, und dann auch entsprechend handelt.
Lassen Sie mich aber vorsorglich ein Rezept als untauglich einstufen, das ich in den vergangenen Wochen mehr oder weniger deutlich gehört und gelesen habe — nicht in diesem Hause, das betone ich, aber draußen. Nämlich, daß sich alles wieder leichter ins Lot bringen ließe und die Jugendlichen zur Räson, wenn die Frauen endlich von der Idee der Gleichberechtigung abließen.
Liebe Kollegen, das kann kein Weg sein. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, das ist einer jener neueren Werte, zu dem die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sich doch bekennt. Die Aufgabe, die es zu bewältigen gilt, die muß miteinander angegangen und gelöst werden. Das wird nicht auf dem Rücken der Frauen abgeladen werden.
Jeder von uns kann etwas tun durch persönliche Begegnungen und Erfahrungen, durch mehr Wissen und durch mehr Engagement, allein und gemeinsam. Kinder bekommen es mit, wenn Erwachsene wegschauen und höchstens im Kopf hilfsbereit sind. Wo zwei Leute Mut zeigen, da sind auch vier bereit, etwas zu tun.
Und wo Hunderttausende sich aus der Lethargie gelöst haben und auf die Straße gehen, da sollte es gelingen, dem schändlichen Spuk ein Ende zu bereiten.
Nun hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die gegenwärtige Debatte in Deutschland über Extremismus, Ausländerfeindlichkeit und zunehmende Gewaltbereitschaft halte ich für irreführend, weil sie unzulässig verkürzt. Nicht die Deutschen sind ausländerfeindlich, extremistisch und zunehmend gewaltbereit, sondern nur ein kleiner Teil der Deutschen.
Es ist richtig, daß von den anderen lange nichts zu hören und zu sehen war. Spätestens seit Rostock und den grausamen Morden von Mölln aber meldet sich das humanistische Deutschland zu Wort und prägt wieder zunehmend das Gesicht Deutschlands.
Niemand konnte die machtvollen Demonstrationen für das friedliche Miteinander von Deutschen und Ausländern, von Flüchtlingen, Asylsuchenden und
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Konrad Weiß
Einwanderungswilligen übersehen. 300 000 in Berlin, 150 000 in Bonn und am letzten Wochenende etwa 400 000 Menschen in München traten in das Licht der Öffentlichkeit und bezeugten für jeden sichtbar, wo in Deutschland die Mehrheiten zu finden sind.
Sie wissen, daß ich mich in den vergangenen Wochen und Monaten von dieser Stelle aus und an vielen anderen Orten im Land mit den rechtsradikalen Gewalttaten auseinandergesetzt habe. Deshalb will ich heute nicht erneut von diesen Gewalttaten sprechen, sondern von den vielen Tausenden von Demonstrationen, Aktivitäten und Initiativen, die keine Schlagzeilen machen und die kaum in einer Zeitung und auf dem Bildschirm Erwähnung finden und die doch für das alltägliche Zusammenleben von so großer, nein: von entscheidender Bedeutung sind.
Ich möchte einige solcher Aktivitäten aus den vergangenen Tagen einfach nur nennen und damit zugleich die vielen Menschen überall in Deutschland würdigen, die durch ihr Handeln Menschlichkeit bewiesen und das Wort von der wehrhaften Demokratie wahrgemacht haben.
In Fürstenwalde in Brandenburg versammeln sich seit Ende August an jedem Donnerstag Bürgerinnen und Bürger zu einer Mahnwache mit Kerzen; von Woche zu Woche kommen mehr Teilnehmer.
Ende November bildet sich am Stuttgarter Mahnmal für die Opfer des Faschismus ein Schweigekreis.
In Hildesheim versammeln sich Schülerinnen und Schüler der Grund- bzw. Hauptschulen sowie der Gymnasien der Stadt nach einem Sternmarsch auf dem Marktplatz zu einer Kundgebung.
Am Nachmittag des Buß- und Bettages findet im Berliner Stadtzentrum eine „Bußprozession für Ausländerfreundlichkeit" statt. In der St.-HedwigsKathedrale erinnert Dompropst Otto Riedel an Dompropst Bernhard Lichtenberg, einen „wahren Zeugen des Glaubens und Wahrer der Menschenwürde", der sich im Dritten Reich für die Menschenwürde der Verfolgten und Bedrängten eingesetzt hat.
In Neuruppin veranstalten Schüler nach einem Brandanschlag auf ein Übersiedlerheim eine Protestdemonstration.
In Hamburg ruft der Internationale Frauenladen zu einer Demonstration mit schwarzen Kopftüchern auf.
In Dresden hat sich ein breites Bündnis von Jugendorganisationen zur „Aktion Courage" zusammengefunden. Diese Aktion will den Dialog mit allen Jugendlichen und zwischen allen Jugendlichen fördern. Diese Aktion wird inzwischen bundesweit unterstützt.
Seit Oktober 1991 gibt es in Fürstenwalde sowie in zahllosen anderen deutschen Städten eine Telefonkette, über die sich bei Gefahr couragierte Bürgerinnen und Bürger schnell zum Schutz von Ausländer-
und Asylbewerberheimen zusammenfinden können.
In Eberswalde bildet sich eine Selbsthilfegruppe von Ehefrauen von Ausländern, die vom „Zentrum für Gewaltfreiheit" und von den Bürgerbewegungen unterstützt wird.
In Stuttgart betreut „Asyl-Pfarrer" Werner Baumgarten Kroaten, Kurden und Eritreer und lädt sie zum gemeinsamen Adventstee ein.
Der runde Tisch „Hilfe für Ausländer und Ausländerinnen" in Willhöden ruft auf zum Schweigemarsch im Gedenken an die Opfer rechter Gewalt unter dem Motto „Rassismus keine Chance".
In Frankfurt an der Oder besuchen zahlreiche Bürgerinnen und Bürger der Stadt einen Nigerianer, der von Rechtsradikalen niedergestochen worden war, im Krankenhaus und bringen ihm Blumen und Obst. Kinder bringen ihm selbstgemalte Bilder.
In Potsdam erhält die seit einem Jahr bestehende Initiative „Wir Brandenburger Schüler sagen NEIN zu Gewalt und Rassismus" die Theodor-Heuss-Medaille.
Unter dem Moto „Wir wollen nicht mehr hinnehmen, daß Ausländer in Deutschland beschimpft, bespuckt und geschlagen werden" starteten Ehefrauen und Freundinnen der Zweitligafußballer von Mainz 05 vor wenigen Wochen eine bundesweite Solidaritätsaktion. Dazu gehört, daß am letzten Spieltag dieses Jahres — am kommenden Wochenende — alle Profiklubs den Slogan „Friedlich miteinander" auf dem Trikot tragen werden.
Heute um 13 Uhr werden in Tübingen Schüler und Schülerinnen gegen Rechtsradikale demonstrieren.
In Köln werden sich wie an jedem Donnerstag auch heute Menschen zum Protest vor der Antoniterkirche versammeln.
Heute werden Holländer und Deutsche gemeinsam in einem Fackelzug zwischen Nijmegen und Beek/ Wyler gegen Fremdenfeindlichkeit demonstrieren.
In Krefeld werden sich ebenso wie im brandenburgischen Fürstenwalde Bürgerinnen und Bürger zu einer Mahnwache zusammenfinden.
Ich muß an dieser Stelle abbrechen, denn wenn ich alles nennen wollte, würde die gesamte Redezeit dieser Debatte nicht ausreichen.
Allein die Anzahl der Bürgerinnen und Bürger, die an den genannten Aktionen beteiligt waren, übersteigt die Anzahl der gewalttätigen Radikalen um ein Vielfaches.
Auch das ist Deutschland im Herbst 1992, nein: Das ist Deutschland im Herbst 1992.
Nicht die Mordbrenner, die feigen Schläger, die
Sprücheklopfer verdienen die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit, sondern die vielen tapferen Bürgerin-
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Konrad Weiß
nen und Bürger, auch Kinder und Jugendliche, die entschieden und mutig Widerstand leisten und ganz einfach menschlich sind.
Jetzt hat das Wort die Bundesministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist entsetzlich und beklemmend, daß Menschen allein deshalb, weil sie nicht Deutsche sind, daß Bürger unseres Staates ihrer religiösen Überzeugung wegen, daß Angehörige von Minderheiten nur deshalb, weil sie anders als die meisten sind, in Deutschland Angst um Leben und Gesundheit haben. Es ist tröstlich und nicht nur für diese Menschen von Bedeutung, daß wir im Gegensatz zur Weimarer Republik heute mit Bestimmtheit sagen können, daß in diesem Hause niemand ist, der diesen Zustand tolerieren will. Der Rechtsstaat ist herausgefordert. Taten, die in Zahl, Brutalität und Menschenverachtung unbegreiflich sind, werden wir nicht hinnehmen. Unser Rechtsstaat wird sich mit allen Mitteln, die ihm als Rechtsstaat zur Verfügung stehen, gegen die Gewalt des rechten Extremismus wehren.
Ich habe wiederholt darauf verwiesen, daß die Mittel unseres Straf- und Strafverfahrensrechts nach Zahl und Qualität hinreichend und geeignet sind, dem rechten Terror ein Ende zu bereiten. Es sind Instrumente, mit denen wir erfolgreich den linken Terror bekämpft haben.
Um die Strafverfolgung der radikalen Gewalttäter zu erleichtern, sind wir dabei, die Handhabbarkeit des Haftrechts zu verbessern
sowie die Strafbarkeit der Verwendung nationalsozialistischer Symbole auch auf solche Fälle auszudehnen, in denen sie verfremdet und verzerrt verwendet werden. Wir ziehen in Erwägung, das Evokationsrecht des Generalbundesanwalts zu erweitern. Wir überlegen, ob die Strafrahmen bei bestimmten Delikten verändert werden sollten.
Eine Rückentwicklung des Tatbestands des Landfriedensbruchs, die ja auch gefordert wird, halte ich dagegen nicht für nötig. Diese meine Ansicht wird nicht nur von den allermeisten Praktikern, sondern auch von vielen rechtspolitischen Experten mitgetragen. In einer solchen Solidarität trägt es sich etwas leichter, wenn von anderer, juristisch äußerst kompetenter Seite mit wahrlich meisterhafter Wortgewalt dieser Auffassung „Libertinage" bescheinigt wird.
Meine Damen und Herren, wir haben rechtlich alles, was wir brauchen, um des rechten Terrors Herr zu werden. Es kommt — darauf ist auch heute schon des öfteren hingewiesen worden — im wesentlichen darauf an, die Möglichkeiten angemessen umzusetzen, die das Straf- und Strafverfahrensrecht zur Verfügung stellt.
Ich bin der festen Überzeugung, daß unsere Polizisten, Richter und Staatsanwälte wissen, daß es nunmehr ihre Aufgabe ist, der Welt und unseren Bürgern zu beweisen, daß sie weder rechts noch links blind sind.
Die Justiz in unserem Land ist sich klar, daß sie von aller Welt daran gemessen wird, ob sie den rechtsstaatlich eingeräumten Handlungsspielraum in einer der Bedeutung des Problems angemessenen Weise auszuschöpfen weiß. Sie wird es tun. Die Verfahren und auch die Entscheidungen aus den letzten Wochen und Tagen unterstreichen dies.
Mit der gleichen Härte und auch Unnachgiebigkeit, die die Justiz in den zurückliegenden Jahren gegen den Terrorismus von links gezeigt hat, muß auch gegen den Rechtsextremismus vorgegangen werden.
Jedes Opfer fordert die Polizei und die Justiz heraus. Wir können meiner Meinung nach aber guten Mutes sein, daß es uns gelingen wird, die offene Gewalt in unserem Land auf jenes Maß zu beschränken, das in einem Staat, wie wir ihn alle wollen, leider nicht zu unterschreiten ist.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Frau Ministerin, ist Ihnen bekannt, daß wir in der Frage der Strafverschärfung nicht ganz übereinstimmen? Sie haben selbst davon gesprochen, daß wir das Haftrecht ändern oder verschärfen müssen, gegebenenfalls auch Strafvorschriften. Sie sagten, es handele sich um eine einhellige Meinung.
Ich habe erwähnt, daß es hier unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich möchte mit meinen Worten gerade zum Ausdruck bringen, daß für mich bei den Überlegungen nicht an erster Stelle steht, welche Gesetze verändert, verschärft oder angepaßt werden müssen, sondern daß wir mit den Instrumenten, die wir haben und die sich bewährt haben, handeln müssen. Über die offenen Punkte, die es gibt, wird selbstverständlich, wie das unter uns üblich ist, diskutiert werden. Wir werden uns mit den Argumenten auseinandersetzen. Daß es hier und da unterschiedliche Auffassungen gibt, das, glaube ich, zeigt doch die lebendige Demokratie.
70 % der Gewalttäter und Randalierer sind junge Menschen unter 21 Jahren, also Kinder, Jugendliche und Heranwachsende. Lassen Sie uns daraus nicht den Schluß ziehen, wie es teilweise geschieht, daß jetzt eine Reform des Jugendstrafrechts notwendig
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
sei, damit es mehr Repression und Abschreckung gebe. Repression und Abschreckung sind auch schon nach unserem derzeitigen Jugendstrafrecht und Jugendgerichtsgesetz möglich. Wir kurieren damit an Symptomen, erreichen aber nicht die Ursächlichkeiten. Gerade in der Jugendgerichtsbarkeit — wir haben an Entscheidungen aus den letzten Tagen gesehen, daß sehr wohl angemessen auf die gewalttätigen Ausschreitungen Jugendlicher reagiert werden kann — stellen wir fest, daß hinter den Taten und Verfehlungen junger Menschen häufig gesellschaftliche Defizite stehen.
Letztlich, Kolleginnen und Kollegen, werden uns eben allein das Strafrecht und auch das Jugendstrafrecht nicht weiterhelfen. Wir müssen voller Sorge sehen, daß es ganz offensichtlich nicht nur wenige sind; es sind bereits zu viele, die den nationalistischrechtsextremen Virus in sich tragen und die offen oder im Verborgenen die Feindschaft gegen unseren demokratisch-liberal verfaßten Staat schüren. Diesen Feinden müssen wir mit anderen Mitteln beizukommen suchen.
Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, was vor mir schon Graf Lambsdorff und auch Wolfgang Thierse gesagt haben. Wir dürfen nicht das Argument gebrauchen, daß der mühsam und auch von meiner Seite aus — wenn auch mit Bedenken — hergestellte Asylrechtskompromiß das Instrument der Wahl sei, um dem rechten Terror beizukommen. Diese Sicht ist in meinen Augen falsch und bedenklich, weil sie die Gefahr nicht reflektiert, daß die guten Argumente für den Kompromiß in den bornierten Hirnen rechter Extremisten zu Argumenten gegen Fremde umgedeutet werden können.
Es wird sich erweisen, daß die rechten Extremisten den Haß auf alles, was ihnen nicht als deutsch erscheint, kaum danach bemessen werden, ob wir viele oder nicht so viele Fremde bei uns haben. Sie werden immer Minderheiten finden, die sie zum Zentrum ihres Hasses machen können. Deshalb sollten wir uns und unseren Bürgern eingestehen: Der Parteienkompromiß war notwendig. Er mag für einige problematisch sein. Er ist nicht das Mittel, mit dem der rechte Extremismus in seinem Kern getroffen werden kann.
Wir sollten, glaube ich, auch nicht Argumente gebrauchen, daß Gründe für den Ausbruch rechter terroristischer Gewalt im Umgang unseres Staates mit der linken Terrorszene zu sehen seien. Wir sollten uns des Ernstes unserer Probleme wegen nicht dazu verleiten lassen, die Gründe für die offene Gewalt von rechts dort zu suchen, wo wir sie vielleicht eher suchen möchten. Dazu ist die Situation zu ernst.
Wir brauchen den Konsens mit allen Kräften der
Gesellschaft, denen Toleranz und Fremdenfreundlichkeit, denen demokratisch-liberale Werte eben höchste Werte sind. Dann ist mir nicht bang um unseren Staat.
Rechtsstaatliche Mittel gegen rechtsradikale Verbrechen einerseits und gemeinsame demokratische Gegenwehr andererseits können den rechten Virus besiegen. Mir macht es Mut, wenn in kleineren und größeren Protestkundgebungen und Demonstrationen Tausende, ja Hunderttausende auf die Straße gehen und sich für unsere ausländischen Mitbürger stark machen. In einem solchen Klima, das wir fördern sollten, wird die rechtsradikale Saat auf Dauer keine Wurzeln schlagen.
Jetzt hat die Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens die Morde von Mölln haben Klischees weggeräumt: Rechtsradikale Gewalt entsteht eben nicht nur in seelenlosen Großsiedlungen, sondern auch in idyllischen, alten Städtchen. Ich will sagen, daß soziale Analysen — mögen sie auch wichtig sein — nur bedingt taugen.
Vor allem aber: Noch so trübe Aussichten auf Ausbildung und Arbeit, noch so dürftige Freizeitangebote und ein trister Alltag, all dies darf eben nicht zur Verharmlosung oder gar zur Entschuldigung solcher Taten herhalten.
Wer auch nur den Hauch eines solchen Eindrucks erweckt, der macht sich mitschuldig; denn Rechtsradikalismus ist in diesem Herbst ja nicht etwa vom Himmel gefallen. Er war lange vorhanden — das ist auch demoskopisch belegt —, aber er wurde als Randerscheinung abgetan, verharmlost, ignoriert. Augenzwinkernde Gleichgültigkeit jedoch war der geeignete Nährboden. Die Saat ist wieder aufgegangen. Das Polster an Sympathie, das die Steinewerfer und Brandstifter noch immer schützt, der offene oder heimliche Beifall, beides ist widerlich und empörend.
Mich empören aber auch die vielleicht versehentlichen, vielleicht aber auch bewußten Versuche einer feinen Differenzierung. Was sollen z. B. Fragen wie etwa diese: Warum ist gerade das Haus dieser Ausländer angezündet worden? Das sind doch alles Leute, die schon lange hier leben, nette Nachbarn und gute Steuerzahler. — Schwingt in dieser Frage vielleicht der Gedanke mit, daß man mit Asylbewerbern, frisch eingetroffen, weniger pingelig umgehen darf? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verurteilung von
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Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Gewalt verträgt keine Abstufungen, sie ist unteilbar.
Auch wer als Zufluchtsuchender erst gestern bei uns eingetroffen ist, auch wer keine Steuern zahlt und kein netter Nachbar ist, hat Recht auf Schutz für sein Leib und sein Leben sowie auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Es ist jetzt offenbar notwendig, Selbstverständliches so laut und deutlich zu sagen. Eigentlich ist es enttäuschend, daß man es noch erwähnen muß.
Es hat ohnehin lange gedauert, bis in diesem Land das Gewissen auf die Barrikaden ging. Herr Weiß hat das positiv hervorgehoben. Aber wer noch jetzt als prominenter Politiker und Ministerpräsident die Berliner Kundgebung als Schaufensterveranstaltung herabwürdigt oder die Eröffnung eines Weihnachtsmarktes für wichtiger hält als die Teilnahme an der großen Lichterkettenaktion von München, der stoppt, der schädigt die große und notwendige Offensive, die wir alle gegen Intoleranz und Ausländerhaß führen müssen. Ich hätte mir dazu aus den Reihen der CDU/CSU und auch von Mitgliedern der Bundesregierung deutlichere Worte der Enttäuschung gewünscht.
In den vergangenen Wochen habe ich auf öffentlichen Veranstaltungen über Rechtsextremismus und Fremdenhaß diskutiert: mit Lehrern, Eltern, Pastoren, Jugendlichen — darunter auch Skinheads — in meinem schleswig-holsteinischen Wahlkreis. Ich gestehe, es ist schwer, deren Gebräu aus Vorurteilen und Aggressionen anzuhören.
Aber man muß mit ihnen reden; denn solange wir reden, fliegen noch nicht die Steine und die Molotowcocktails. Gewalt und Feindseligkeit entstehen in den Köpfen — nicht nur bei diesen Jugendlichen. Dort muß man sie bekämpfen. Wenn Fäuste und Baseballschläger erst einmal sprechen, dann haben wir alle schon eine wesentliche Chance verpaßt.
Diese 16- bis 19jährigen, mit denen ich sprach, verstehen nicht alles. Wohl aber verstehen sie deutliche und harte Informationen darüber, was strafbar ist. Wir haben doch die Instrumente, um neonazistische, ausländerfeindliche Taten und Worte zu ahnden. Nutzen wir das doch. Hitler-Gruß und Nazi-Embleme sind verboten. Wir sagen es ihnen vielleicht nicht deutlich genug. Böse Lieder und Gedichte gegen Minderheiten sind Volksverhetzung. Anschläge auf Menschen sind Verbrechen. Wir brauchen vielleicht keine neuen Gesetze, sondern nur die konsequente Anwendung der bereits vorhandenen.
Dafür zu sorgen ist Pflicht der Bundesregierung. Mit hilflosem Aktionismus ist wenig gewonnen. Nötig wäre ein Crash-Programm für mehr soziale Gerechtigkeit und kulturelle Angebote.
Aber nicht nur Worte und Taten zur Abwehr sind nötig, sondern auch positive Signale, und zwar an die Adresse derjenigen, die betroffen und bedroht sind. Gerade jetzt eben brauchen wir das kommunale Wahlrecht für Ausländer, gerade jetzt die doppelte Staatsbürgerschaft
als Zeichen gegen Fremdenhaß und für gute Nachbarschaft zu Menschen anderer Hautfarbe, Nationalität und Kultur. Ich begreife nicht, warum die Koalition insgesamt entgegen anderslautenden Beteuerungen, die ich auch heute wieder von der F.D.P. gehört habe, diesen anhaltenden Widerstand gegen die doppelte Staatsbürgerschaft wieder hineingebracht hat, auch in die Vereinbarungen zum Asylrecht.
Es ist gut und richtig, die schrecklichen Texte rassistischer Rock- und Popgruppen anzuprangern. Es wäre besser und wichtiger, das böse und dumme Zeug nicht erst in den Läden zu verkaufen. Es wäre noch besser, es ganz zu verbieten. Wir brauchen Abkommen des Anstands, an denen sich auch Chefredakteure und Intendanten der großen Medien beteiligen sollten.
Es muß doch möglich sein, in Absprache auf Berichte ausschließlich über Missetaten von Asylsuchenden sozusagen in Serie zu verzichten, und es muß auch möglich sein, Wortführer rechtsradikaler Parteien nicht mehr zu liebedienerischen Interviews und Talkshows einzuladen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einem Leserbrief an den „Spiegel" heißt es: „Nazis lassen sich nicht aussitzen." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Jetzt spricht Frau Staatssekretärin Cornelia Yzer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin beschämt über die gewalttätigen Ausschreitungen, die in den letzten Wochen und Monaten in unserem Land stattgefunden haben. Diese Gewaltakte zeichnen ein Bild der Deutschen in der Weltöffentlichkeit, das der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht gerecht wird. Dies belegt die hohe Zahl derjenigen, die gegen Radikalismus und Gewalt eintreten, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen und Ausländern einsetzen und die ihre Überzeugung, daß Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung sein kann, durch Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Aktionen öffentlich bekunden.
Wir brauchen, wie ich meine, diese öffentlichen Bekenntnisse, die öffentliche Absage an jegliche Form der Gewalt. Natürlich reagieren jetzt auch viele
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Pari. Staatssekretärin Cornelia Yzer
Bürgerinnen und Bürger mit Sprachlosigkeit angesichts der grausamen Gewalttaten. Ich kann dies verstehen; denn Angst macht oft stumm. Doch sollte sich jeder vergegenwärtigen, daß sein Schweigen mißverstanden und als Signal der Zustimmung gewertet werden kann. Gefordert ist jetzt der bekennende Demokrat.
Allerdings reichen in der gegenwärtigen Situation Erklärungen der Betroffenheit nicht aus. Der Staat muß jetzt vor allem seine Handlungsfähigkeit und seine Problemlösungskompetenz unter Beweis stellen. Dazu gehört, daß er die Gesetze konsequent anwendet und mit Entschlossenheit dort Veränderungen vornimmt, wo sie zum Schutz der friedfertigen Menschen in unserem Land geboten sind. Unsere Geschichte lehrt: Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie die Feinde der Demokratie die Freiheit dazu benutzen, um sie zu beseitigen. Zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehört Wehrhaftigkeit. Ich halte es z. B. für unerträglich, wenn in unserem Land Neonazis durch die Straßen marschieren, Hakenkreuzfahnen mit sich tragen und die Hand zum Hitler-Gruß erheben.
Können wir uns tatsächlich darauf zurückziehen, ein unabhängiges Verwaltungsgericht habe diese rechtsextremistische Demonstration genehmigt? Oder müssen wir nicht vielmehr klar sagen: Es gibt eindeutige Gesetze gegen das Tragen von nationalsozialistischen Emblemen? Diese Verbote müssen vollzogen werden, unmittelbar und konsequent.
Ein Staat, der sich nicht als handlungsfähig erweist und seinem Anspruch auf Einhaltung der Gesetze nicht gerecht wird, verliert, so der Jurist Rudolf Wassermann, bei immer mehr Bürgern Respekt, ja wird verachtet.
Ich halte nach wie vor die tatnahe Ergreifung und Verurteilung eines Gewalttäters nicht nur für eine repressive Maßnahme, sondern auch für eine der wirksamsten Präventionsmaßnahmen, weil sie jedem weiteren potentiellen Täter deutlich macht, daß sein geplantes Tun sanktioniert wird.
Doch die Frage, wie wir der Gewalt Herr werden können, richtet sich nicht nur an Polizei und Justiz. Wir müssen neue Wege gehen, um das Umfeld der Gewalt auszutrocknen und um zu verhindern, daß extremistische und gewaltbereite Potentiale entstehen.
Die Gewalttäter werden jünger. Schon 14jährige begehen Gewalttaten. Ein großer Teil der Mitglieder extremistischer Gruppierungen ist jünger als 18 Jahre. Hier ist die Jugendpolitik gefordert, zumal viele der Jugendlichen, die radikalen Gruppen zuzuordnen sind, für sich sagen, sie seien nicht politisch motiviert. Zahlreiche Jugendliche lassen sich von extremen Kräften vereinnahmen, weil sie nach Orientierung suchen und bei diesen vermeintlich Halt in einer
Gemeinschaft finden, die ihnen andernorts fehlt. Hier muß Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit eingreifen.
Die Bundesregierung hat ihre jugendpolitische Verantwortung durch das Programm gegen Aggression und Gewalt sowie durch das Programm zum Aufbau freier Träger in den neuen Bundesländern wahrgenommen. Hier wurden frühzeitig wichtige Schritte eingeleitet.
Schon jetzt zeigen erste Erfahrungen, daß die Eskalation von Gewalt durch gezielte Maßnahmen verhindert werden kann. Durch aufsuchende Jugendsozialarbeit kann ein Beitrag geleistet werden, Gewaltbereitschaft abzubauen und den Jugendlichen zu sinnvoller Lebensgestaltung zu motivieren. Doch wir dürfen uns auch nichts vormachen. Maßnahmen der Jugendarbeit brauchen Zeit. Deshalb werden wir auch künftig, ohne eine unmittelbare Erfolgsbilanz von großem Umfang ziehen zu können, in unseren jugendpolitischen Anstrengungen nicht nachlassen dürfen. Dabei appelliere ich insbesondere auch an die Länder und Kommunen, ihre jugendpolitischen Anstrengungen jetzt zu verstärken. Es darf nicht dazu kommen, daß in Zeiten knapper Finanzen jugendpolitische Aktivitäten vernachlässigt werden. Eine neue Prioritätensetzung ist erforderlich. Jetzt gerade sind Maßnahmen für Jugendliche gefragt.
Wir brauchen mehr Jugendarbeit, neue Ideen und viel Phantasie. Jugendarbeit muß Jugendliche so in ihrer Persönlichkeit stärken, daß sie den Gefahren des Extremismus offensiv begegnen können.
Verstärken müssen wir allerdings auch unsere Bemühungen in der politischen Bildung. Dabei müssen wir von der Vorstellung Abschied nehmen, Bildungsarbeit könne wertneutral sein. Sie muß im Gegenteil Werte vermitteln und damit einen gesellschaftlichen Grundkonsens schaffen, insbesondere hin zu mehr Gemeinwohlorientierung.
Allerdings ist der Staat überfordert, wenn man es ihm allein überläßt, den einzelnen Jugendlichen zu stärken. Die Familie, die Eltern sind prägend für das Verhalten des jungen Menschen. Eltern müssen ihrem Erziehungsauftrag gerecht werden und auf ihre Kinder eingehen. Frau Kollegin Schmalz-Jacobsen, ich bitte Sie, hier keinen Widerspruch zwischen Stärkung der Familie und Gleichberechtigung der Frau zu begründen. Es ist nicht nur so, daß viele Frauen nach wie vor ihre volle Entfaltung in der Familie sehen; auch dort, wo die Frau außerhalb der Famile neue Freiräume durch Emanzipation gewinnt, darf dies statt zu Lasten der Männer, wie das im Einzelfall ja vorstellbar ist, nicht zu Lasten der Kinder gehen, nur weil sie die Schwächsten sind.
Ich räume deshalb der Familie einen so hohen Stellenwert ein, weil mangelnde Zuwendung der Familie nicht durch den Staat ersetzt werden kann. Deshalb appelliere ich gerade unter dem Aspekt der
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Parl. Staatssekretärin Cornelia Yzer
Gleichberechtigung an Mütter und an Väter, ihren Erziehungsauftrag wieder stärker wahrzunehmen.
Allerdings steht auch die Schule in der Pflicht. Auch sie hat einen Erziehungsauftrag, den sie wahrnehmen muß. Dabei stellt sich zunächst nicht die Haushaltsfrage, sondern die Wertefrage. Toleranz und friedliche Konfliktbewältigung, die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, das sind Themenbereiche, die in den Klassenzimmern nicht vernachlässigt werden dürfen, die erst recht nicht fehlen dürfen. Jeder einzelne Lehrer muß seinen Schülern die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nachhaltig vermitteln. Er muß klarmachen, daß unsere Gesellschaft auf der grundsätzlichen Wertentscheidung beruht, auf Gewalt zur Konfliktlösung zu verzichten.
Ich glaube, es ist nicht zuviel verlangt, daß sich ein Lehrer der Auseinandersetzung mit seinen Schülern stellt, und ich habe kein Verständnis dafür, wenn mir ein Lehrer auf die Frage, welche Werte er vermittelt, sagt, darüber müsse man einmal diskutieren.
Wer als Jugendlicher ein humanistisches oder aus meiner Sicht besser noch ein christliches Menschenbild verinnerlicht hat, für den sind Toleranz und Achtung seiner Mitmenschen eine Selbstverständlichkeit.
Und letztlich: Dürfen wir uns über Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung wundern, wenn in den Medien Gewalt als probates Mittel der Sieger dargestellt wird, wenn ein Jugendlicher beim Fernsehen Gewalt als ein Stück Normalität empfinden muß, wenn der Krimi nicht mehr ausreicht und die Reality-Show her muß, weil nur sie noch die Pulbikumszahlen bringt, indem sie das Unglück einzelner Mitmenschen vermarktet?
Ich appelliere von hier aus an die Programmverantwortlichen, aber auch an die Vertreter der gesellschaftlichen Gruppen in den Aufsichtsgremien der Medien, sich ihrer Verantwortung bewußt zu sein. Freiheit ist nicht schrankenlos. Deshalb wird das Bundesministerium für Frauen und Jugend mit aller Entschiedenheit gegen Songs rechtsradikaler Bands und sogenannte Fanzines vorgehen, mit denen rechtsradikales, gewaltverherrlichendes und rassistisches Gedankengut unter Jugendlichen verbreitet werden soll.
Jugendgefährdende Schriften gehören auf den Index.
Frau Staatssekretärin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gern, wenn ich diesen Absatz zunächst zu Ende führen darf.
Mein Haus hat in den vergangenen Wochen mehrere Indizierungsanträge bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften gestellt. Ich fordere an dieser Stelle die Landesjugendbehörden auf, gemeinsam mit den Verfassungsschutzbehörden an der Indizierung mitzuwirken. — Bitte, haben Sie Verständnis dafür, Herr Kollege, daß ich diesen Punkt zu Ende führen wollte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben sehr eindrucksvoll die Verantwortung auch der Mitglieder von aufsichtsführenden Gremien in öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten herausgestellt. An welche Gremien hat die Bundesregierung durch Sie hier eben appelliert, die ähnliches dann bei den privaten Fernsehveranstaltern machen sollen, die ja im wesentlichen die Mitsender und manchmal sogar Mittäter solcher Szenen sind, von denen Sie gesprochen haben?
Bedauerlicherweise ist hier der Einfluß auf die Privatsender gering. Wir haben deshalb von seiten des Ministeriums unsere Appelle direkt an die privaten Sender verschickt.
Meine Damen und Herren, ein Abschlußsatz: Es ist keine Zeit für ein Gegeneinander der Demokraten. Lassen Sie uns miteinander, alle gemeinsam, auf allen Ebenen wirken, der Gewalt in unserem Land entgegenzutreten!
Und nun spricht der Kollege Günter Graf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Welle der Gewalt gegen Ausländerinnen und Ausländer, gegen jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten und nicht zuletzt die Morde in Mölln haben unser Land verändert. Fremdenhaß durch Gewalt nicht nur gegen Ausländer haben sich krebsartig in unserer Gesellschaft ausgebreitet. Dies ist nicht zuletzt die Folge jahrelanger Verharmlosung und Verdrängung des rechten Terrors in unserem Land.
Es gibt gegenwärtig 41 400 Mitglieder in rechtsextremistischen Organisationen gegenüber 20 300 im Jahre 1983. Was die neonazistischen Gruppierungen angeht, so lag die Mitgliederzahl im Jahre 1983 bei 1 130 und hat sich bis zum heutigen Tag auf 6 400 gesteigert. Was allerdings die Steigerung der Gewalttaten von Rechtsextremisten angeht, so ist diese noch dramatischer verlaufen. 76 Gewalttaten im Jahre 1983 stehen in diesem Jahr 2 084 gegenüber.
Kolleginnen und Kollegen, diese Zahlen dürfen uns alle nicht überraschen, denn bereits im November des vergangenen Jahres hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages in sehr eindringlicher Weise auf diese Zahlen hingewiesen.
Kolleginnen und Kollegen, 17 Personen starben im Jahre 1992 an den Folgen rechtsextremistischer Gewalttaten. Dies ist die höchste Zahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Diese möderische Gewalt trägt dazu bei, das Bild vom häßlichen Deutschen im Ausland wiederzubeleben. Dies schadet den
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Günter Graf
Interessen und dem Ansehen des wiedervereinigten und größer gewordenen Deutschlands.
Es reicht in dieser Zeit nicht mehr aus, zu sagen, Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Vielmehr ist es notwendig, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, daß diesem Satz täglich neue Geltung verschafft wird, und zwar nicht nur durch Reden, sondern in erster Linie durch aktives Handeln.
Hierzu, Kolleginnen und Kollegen, wird mein Kollege Siegfried Vergin noch einige nähere Ausführungen machen.
Der mörderischen Gewalt von Rechtsextremisten muß mit der ganzen Härte des Gesetzes Einhalt geboten werden. Die rechtsextremen Gewalttäter rütteln an den Grundfesten unserer demokratischen Verfassung. Deshalb müssen sie als Verfassungsfeinde bekämpft und verurteilt werden.
Zu dieser konsequenten Bekämpfung der fremdenfeindlichen Kriminalität gehören unter anderem: Erstens der Einsatz aller polizeilichen Mittel gegen rechtsextremistische Straftäter, insbesondere das Vorhalten von Kräften, die ohne großen Zeitverzug als geschlossene Einheit eingesetzt werden können, urn präventive Wirkung zu erzielen bzw. Ausschreitungen innerhalb kürzester Zeit zu beenden, soweit es sich um das massive Auftreten rechtsextremistischer Gruppierungen handelt. Der Einsatz spezieller zentraler Organisationseinheiten, z. B. Sonderkommissionen, wie sie heute bereits vom Ministerpräsidenten des Saarlandes angesprochen worden sind, sind zur wirksamen Bekämpfung fremdenfeindlicher Kriminalität zu schaffen. Weiterhin gehören dazu die Verbesserung des Informationsaustausches und der Ausbau der Meldedienste und der Meldewege zwischen den Polizeien der Länder und des Bundes sowie die konsequente APIS-Erfassung der extremistischen Gewalttäter und deren Umfeld, wie sie auf der ständigen Konferenz der Innenminister der Länder vom 20. 11. 1992 beschlossen wurde.
Zweitens. Hinsichtlich des besonderen Schutzes der bei uns lebenden Ausländerinnen und Ausländer ist es notwendig, Ansprechpartner für Ausländer bei den Polizeidienststellen zu bestellen, in deren Dienstbezirken sich Asylbewerberinnen und -bewerber oder Ausländerwohnheime befinden. Diese Maßnahme dient der Herstellung von Kontakten zwischen Heimleitern, Wachpersonal und Ausländern einerseits und der Polizei andererseits. Darüber hinaus ist die Benennung von Kontaktpersonen in den jeweiligen Unterkünften und die Sensibilisierung der Nachbarschaft anzustreben, um die Schutzmaßnahmen entscheidend zu verbessern. Außerdem sind die Kommunikationsmöglichkeiten wie z. B. Notruftelefone zwischen Unterkünften und der Polizei zu verbessern sowie die Erstellung von Objektlisten und Einsatzplänen für den Schutz solcher konkreten Objekte vorzunehmen.
Drittens. Die Beobachtung aller rechtsextremistischen Parteien und Gruppen durch den Verfassungsschutz im Bund und in den Ländern ist zu intensivieren, um insbesondere die von diesen Organisationen ausgehende Fremdenfeindlichkeit besser bekämpfen zu können.
Was das heute schon mehrfach zitierte Verbot rechtsextremistischer Organisationen und Parteien angeht, so ist dies sicherlich ein wirksames Mittel. Aber ich denke, man muß auch mit diesem Instrument insoweit sehr sorgsam umgehen, als man sich über die Folgen im klaren ist, was im Einzelfall möglicherweise geschehen kann, wenn diese Gruppen in den Untergrund, in die Illegalität getrieben werden.
Was die Notwendigkeit von Gesetzesverschärfungen angeht, so ist einiges dazu gesagt worden. Ich sage für die Sozialdemokraten: Wir werden uns nicht verschließen, wenn es darum geht und wir erkannt haben, daß an bestimmten Stellen Veränderungen notwendig sind. Aber ich will auch ganz deutlich sagen, daß die konkrete Anwendung viel wichtiger ist. Und ich wiederhole das, was ich in der letzten Woche im Rahmen der Haushaltsplanberatung gesagt habe: Wenn es beispielsweise in zehn Jahren nicht zu einer einzigen Verurteilung wegen Landfriedensbruchs gekommen ist, bei der eine Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren ausgesprochen wurde, nicht ein einziger Fall, dann muß man darüber nachdenken und sich über die Folgen im klaren sein.
Kolleginnen und Kollegen! Es muß hier und heute unmißverständlich deutlich werden, daß in Deutschland niemand andere mit Gewalt bedrohen oder ihnen Gewalt antun kann. Wir Politiker müssen den Rechtsextremisten den Resonanzboden für ihre verhetzenden Parolen entziehen. Insoweit stimmen wir der Antwort der Bundesregierung auf die hier debattierte Große Anfrage der SPD-Fraktion zu, in der sie unter anderem ausführt, daß die Erfolge rechtsextremistischer Parteien und Organisationen weniger auf fremdenfeindlichen Parolen beruhen als auf einer allgemeinen Protesthaltung gegenüber Lösungsdefiziten in den verschiedenen Politikbereichen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen außer Stichworte wie: wachsende Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, Wohnungsnot, steigende Kriminalität und nicht zuletzt eine unsoziale Steuer- und Finanzpolitik zum Nachteil der unteren Gruppen in unserer Gesellschaft.
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert alle demokratischen Kräfte auf, weder stillschweigend noch offen mit rechtsradikalen Parteien zu paktieren. Die SPD-Bundestagsfraktion appelliert an alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande: Wehren Sie sich gegen alle Anzeichen von Intoleranz, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt! Zeigen Sie Zivilcourage!
Dank schön.
Nun hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der angesichts des drängenden Themas eher zurückhaltenden Erklärung des Bundeskanzlers ist ein in wesentlichen Aspekten vorwärtsweisender Beitrag des saarländischen Ministerpräsidenten gefolgt. In der Tat, in unseren westli-
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Dr. Ulrich Briefs
chen Nachbarländern wird immer wieder Kritik geübt an unserem Verständnis von Nation und Vaterland. Es wird immer wieder Kritik geübt daran, daß bei uns die Abstammung, die Blutsabstammung darüber entscheidet, ob einer Deutscher ist oder nicht. In diesem Prinzip ist eine wesentliche gesellschaftliche Wurzel des deutschen Rechtsradikalismus zu sehen.
Wenn die republikanische Verfassung, die der Ministerpräsident des Saarlandes angesprochen hat, in der Zukunft auch die Möglichkeit umfassen soll, z. B. mit der Geburt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, gleichgültig, woher die Eltern stammen, dann ist dem zuzustimmen. Wenn sie die Möglichkeit umfassen soll, eine doppelte Staatsbürgerschaft, z. B. die deutsche und die türkische, zu haben, so ist dem zuzustimmen.
Die republikanische Verfaßtheit ist Grundlage der multikulturellen Gesellschaft, von der gerade wir Deutschen profitieren. Der Kollege Stercken hat jüngst erwähnt, daß in Paris inzwischen fast 100 000 Deutsche leben. Für sie und viele andere im Ausland lebende Deutsche sind eben der alte/neue deutsche Nationalismus und der wieder aufkommende Nationalsozialismus geradezu eine Bedrohung. Das dürfen wir nicht vergessen. Wir dürfen jedoch zugleich auch nicht vergessen, daß dieses Land bisher fast keine republikanische Tradition hat, außer in einigen Phasen jener kurzen 15 Jahre der Weimarer Republik und auch der immerhin vier Jahrzehnte Nachkriegsentwicklung in Westdeutschland. In einigen kurzen Phasen dieser Entwicklung zumindest hat es diese Tradition gegeben.
Dieses Land hat fast keine erfolgreiche Tradition bürgerlicher Rebellion und Revolution wie Frankreich, wie England, wie die Niederlande. Die deutsche bürgerliche Gesellschaft hat vor den Mächtigen fast stets gekuscht, im „Untertan" von Heinrich Mann geradezu beispielhaft literarisch beschrieben. Die deutsche bürgerliche Gesellschaft, das Groß-, wie das Kleinbürgertum, hat insbesondere die größten politischen Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus, geduldet, bejaht, unterstützt und deshalb mitzuverantworten.
Der liberale und zivilisierte Westen Europas hat insofern eigentlich immer erst an der Maas beziehungsweise kurz davor und am Rhein begonnen. Auch deshalb: Wer jetzt auf eine andere Erziehung mit einem Zurück zu traditionellen deutschen Werten setzt, setzt angesichts der deutschen Tradition völlig falsch an. Nicht eine neoautoritäre Erziehung auf „deutsche Werte" und sogenannte Sekundärtugenden wie Gehorsam, Sichanpassen usw. kann Abhilfe schaffen.
Veränderungen in der Erziehung wirken zudem nur langfristig. Das wird hier auch immer wieder vergessen. Wir können aber mit der Bekämpfung des alten neuen deutschen Nationalismus und Nationalsozialismus nicht eine oder zwei Generationen warten. Gehandelt werden muß jetzt und viel massiver als bisher. Die rechtsradikalen Organisationen, ihre
Lager, ihre Büros, ihre Infrastruktur, ihre Unterstützerszene, ihre Publikationsorgane müssen ausgehoben werden. Wo sie kriminell sind oder werden, müssen sie vor Gericht und in die Gefängnisse gebracht werden.
Ich habe im niederländischen Fernsehen jüngst einen Bericht gesehen, in dem, nicht zwei, sondern ca. 20 Wortführer der Neonazis mit eindeutig antisemitischen und völkerverhetzenden öffentlichen Äußerungen dokumentiert wurden. Warum nicht das sofortige Verbot aller rechtsradikalen Gruppen? Warum nicht Einleitung des Verfahrens auf ein Parteienverbot, z. B. gegen die NPD? Warum werden nicht gegen ca. 20 oder 30 führende Neonazis sofort entsprechend wirksame Maßnahmen veranlaßt, wie sie jetzt in zwei Fällen, Herr Innenminister, veranlaßt worden sind? Volksverhetzung und Antisemitismus sind eben keine Gentleman-Delikte.
Die polizeiliche und gerichtliche Bekämpfung der Rechtsradikalen darf nicht tropfenweise wie jetzt, sondern muß umfassend und Schlag auf Schlag in einer konzertierten Aktion von Bundes- und Landesbehörden erfolgen.
Wer rechtsradikale Parolen äußert oder Aktionen unterstützt, an der Theke, am Arbeitsplatz, auf dem Sportplatz, in der Schule oder Hochschule oder sonstwo, muß geächtet werden, muß die Folgen, insbesondere auch am Arbeitsplatz — insofern ist einigen gewerkschaftlichen Stimmen durchaus zuzustimmen —, spüren. Die unnachgiebige polizeiliche und juristische Bekämpfung des Rechtsradikalismus ist notwendig. Die Hauptaufgabe ist und bleibt jedoch eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung, die Bekämpfung und Achtung des Rechtsradikalismus, des Rassismus und des Antisemitismus.
In diesem Zusammenhang muß eines klargestellt werden: Die Rassisten und Antisemiten in diesem Lande sind wie in der NS-Zeit vor allem die deutschen Spießer, die im Grunde den autoritären starken Staat, die autoritäre Erziehung, Ruhe und Ordnung, Gehorsam und Anpassung im Staat, in der Gesellschaft, in den Schulen und in der Familie wollen.
Der Vandalismus, der hier angesprochen wurde, z. B. die Zerstörung von Telefonzellen, ist seit langem in den Niederlanden viel umfangreicher als in Deutschland. Da gibt es das viel stärker. Er hat dort trotzdem nicht zu rassistischen Pogromen geführt. Spitzenreiter — leider, muß man dazu sagen — bei rassistischen Pogromen und Angriffen ist dieses Deutschland mit seinem so sehr auf Ruhe und Ordnung hin orientierten Bürgertum. Das dürfen wir nicht vergessen.
Im übrigen — auch das ist eine sehr nachteilige Folge der Entwicklung derzeit bei uns —, in den Niederlanden zeigen sich jetzt erste Spurenelemente von rassistischen Angriffen, angestoßen allerdings durch die Brandanschläge auf Asylbewerberheime und ihre Drahtzieher in Deutschland. Nicht eine Wende hin zu einer neoautoritären Erziehung und Gesellschaft sind die angebrachte gesellschaftliche Antwort, sondern mehr Offenheit nach innen und nach außen, mehr private und öffentliche Liberalität,
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Dr. Ulrich Briefs
mehr Zivilcourage, mehr Widerstandsgeist, mehr Bereitschaft zum aktiven Widerstand und zum konsequenten Eingreifen gegen die Rechtsentwicklung in diesem Lande.
Im übrigen — abschließende Bemerkung —: Wer versucht, die drängenden Probleme bei Arbeitsplätzen, bei Wohnungen, bei alleinerziehenden Frauen z. B. dadurch zu verdecken, daß er jetzt auf die Notwendigkeit von Veränderungen hin zu alten/ neuen traditionellen deutschen Werten im Erziehungssystem setzt, der setzt genau an der falschen Stelle an. Bei den sozialen Problemen muß insbesondere angesetzt werden und nicht bei diesen langfristigen Veränderungen des Erziehungssystems.
Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin.
Als nächster hat der Kollege Meinrad Belle das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Bestürzung, Entsetzen, Scham und hilflose Wut befallen uns, wenn wir von den extremistischen Ausschreitungen und Verbrechen hören oder sehen. Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer. Wir entschuldigen uns vor der Weltöffentlichkeit für diese schrecklichen Ereignisse in unserem Vaterland. Wir entschuldigen uns auch für diejenigen, die selbst zwar keine Gewalt ausüben, die aber klammheimlich oder offen Beifall bekunden.
Der Extremismus, gleichgültig, ob von rechts oder von links, bekämpft den demokratischen Rechtsstaat und seine Einrichtungen. Wir alle sind aufgefordert, den Extremisten aller Schattierungen das Handwerk zu legen.
Es kann für uns nicht tröstlich sein, daß nicht nur in Deutschland diese Geschehnisse zu beklagen sind. „In Europa droht ein Sturm des Fremdenhasses ", so die Schlagzeile einer deutschen Tageszeitung.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, was uns der amerikanische Fachmann und Psychotherapeut Barry Goodfield prophezeit:
Es wird noch schlimmer werden, es wird brutal werden, es wird organisiert sein. Die Menschen brauchen Sündenböcke für alles, was schiefgeht, und die Rassisten liefern sie ihnen.
Aus den Ländern Frankreich, Großbritannien, ja, selbst aus Schweden und den Niederlanden wird uns über Probleme durch den Fremdenhaß und über Ausschreitungen berichtet. Aber nirgendwo ist ein derartiges Ausmaß an Gewaltausbrüchen zu beklagen wie bei uns. In den ersten neun Monaten dieses Jahres sind bei uns insgesamt 3 107 fremdenfeindliche Straftaten gemeldet worden. Dagegen wurden im gesamten Jahr 1991 2 426 solcher Straftaten registriert.
Die Schamröte steigt mir ins Gesicht, wenn ich aus der Presse erfahren muß, daß sich sogar viele Juden in Deutschland erneut vom wachsenden Rechtsextremismus so verunsichert fühlen, daß sie überlegen, nach Israel auszuwandern.
In dieser Situation stellen wir uns die Frage: Was können wir tun, was sollen wir tun, welche Gegenmaßnahmen müssen wir ergreifen? Eines steht fest: Hysterische Reaktionen sind schädlich und bringen keinerlei Erfolg.
Auch in diesem Zusammenhang müssen wir uns auf die Grundanforderungen rückbesinnen, die Max Weber für die Politik formulierte:
Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß sind in unserem Handeln gefordert.
Selbstkritisch müssen wir uns, müssen sich die Politiker und die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden täglich fragen: Erstens. Haben wir Politiker bisher wirklich alles getan, um die gesetzlichen Grundlagen für den Kampf gegen diese Verbrechen in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen?
Tun wir im parteiübergreifenden Konsens wirklich alles uns Mögliche, um den Nährboden, den Sumpf für ausländerfeindliche Stimmung und extremistische Gewalttaten auszutrocknen?
Zweitens. Haben die Verantwortlichen der Verwaltungen in Bund, Ländern und Gemeinden tatsächlich sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft — der Unterstützung der Polizei in allen Bereichen, des Verbots extremistischer Gruppen, der Zusammenarbeit aller zuständigen Stellen —, um dieser gewaltigen Herausforderung in der Bundesrepublik zu begegnen?
Drittens. Haben die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte bisher wirklich alle Maßnahmen ergriffen, um die Straftäter zu verfolgen und unter Ausnutzung des vollen Strafrahmens der gerechten Strafe zuzuführen? Die erfolgreiche Fahndung nach den Tätern von Mölln, die Bildung der Bund-LänderKoordinierungsgruppe Rechtsextremismus und Terrorismus und erste Verbote von rechtsextremistischen Organisationen sind wichtige Schritte am Beginn des langen Weges. Jeder Verantwortliche, jeder Bürger ist in seinem jeweiligen Bereich gefordert, der jetzt erkennbaren Entwicklung entgegenzutreten.
Wer in schwankender Zeit auch schwankend gesinnt ist, der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter,
sagt schon Johann Wolfgang von Goethe.
Angesichts der gewaltigen Aufgabe ist für gegenseitige Vorwürfe kein Raum. Parteitaktische Süppchen dürfen nicht gekocht werden. Es wäre mir lieb gewesen, wenn wir eine gemeinsame Entschließung aller demokratischen Parteien erreicht hätten.
Die Zeit des Taktierens und Lavierens ist vorbei. Entschlossenes und vor allem gemeinsames Handeln ist das Gebot der Stunde.
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Meinrad Belle
Ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Meine Damen und Herren! Eines der erschütterndsten Dokumente zur Situation in Deutschland ist das Interview mit sogenannten rechtsradikalen Jugendlichen in der letzten „Spiegel" -Ausgabe. Die Jugendlichen werden gefragt, was sie unter Nationalsozialismus bzw. nationalen Jugendlichen verstehen, und sie antworten — ich zitiere —:
Volksverbundenheit, das Bestreben, das Beste für unser Volk zu erreichen ... zu einer Nation gehören, in der zu leben sich lohnt!
Sie werden weiter gefragt, was ihnen am bundesdeutschen System mißfällt, und sie antworten:
In unserer Weltanschauung, die national und sozialistisch ist, haben ideelle Werte den Vorrang vor materiellen Werten. Diese Gesellschaft baut dagegen fast ausschließlich auf materiellen Dingen auf. Jeder ist bestrebt, sich Geld und damit dicke Autos, Designerklamotten oder teure Wohnungen zu beschaffen. Das kann nicht so weitergehen und nicht der Sinn des Lebens sein. Kameradschaft und Zusammengehörigkeit sind uns dagegen wichtiger.
Ich werte diese Antworten vor allem auch als den Aufschrei einer alleingelassenen, idealistisch orientierten Jugend in Deutschland, die keinerlei Antwort aus der Politik, erst recht nicht von unseren verantwortlichen Spitzenpolitikern erhält.
Wenn ein sogenanntes rechtsradikales Mädchen sagt, es dürfe doch nicht sein — ich zitiere —
daß Leute sich Kinder nicht mehr leisten können,
wie das bei uns durch die Diskriminierung der Familie üblich sei, so frage ich, wer hier eigentlich verrückt oder radikal ist: der junge Mensch, der diese völlig natürliche Auffassung vertritt, oder eine Politik, die diesen Zustand herbeigeführt hat und die Menschen ideell ihrem Schicksal überläßt.
Pluralismus, hinter dem wir natürlich politisch stehen, heißt doch nicht die völlige geistige Leere in den Köpfen der Politiker, die Menschen beeinflussen könnten. Es darf auch nicht so sein.
Ich möchte aus einem anderen Brief zitieren, den ein engagiertes CDU-Mitglied schon vor etlichen Monaten an den Bundeskanzler geschickt hat. Es heißt hier:
Die Bundesregierung ist aus Unkenntnis der historischen Gegebenheiten, in Unkenntnis der strategischen Zielsetzung der perversen menschenverachtenden kommunistischen Ideologie, aus Verstrickung mit dem System der modrowschen Strategie der Restauration kommunistischer Missetaten und insbesondere der kommunistischen Eigentumsschändung voll und ganz erlegen. Der sogenannte Rechtsstaat — Bundesrepublik Deutschland — versagt kläglich.
Ich darf weiter aus dem Brief zitieren:
Inkonsequenz und Beschwichtigung helfen der alten Nomenklatura und richten sich vor allem gegen die CDU.
Wer ist eigentlich deren Parteivorsitzender? — Ich zitiere weiter:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, in der Ex-DDR wurde der Raum Dresden früher ob mangelnder Möglichkeiten der umfassenden Kommunikation mit dem freien Teil Deutschlands vom Volksmund als das „Tal der Ahnungslosen" bezeichnet. Mittlerweile wird Bonn von den hier in Mitteldeutschland lebenden Bürgern als im „Tal der Ahnungslosen" liegend bezeichnet.
Ich zitiere weiter:
Die Geschundenen des SED-Regimes stehen fassungslos ob des Geschehens wie gelähmt zwischen Schein und Wirklichkeit, während die SED-Schergen in diesem Rechtsstaat ihre Pfründe in Sicherheit bringen.
Ich zitiere weiter:
Bilanzfälschungen gigantischen Ausmaßes werden staatlich abgesegnet und sanktioniert ... In diesem Tollhaus, in dieser Orgie des Rechtsmißbrauchs, der fortgesetzten Eigentumsmißachtung gedeihen Kräfte, die der Gesellschaft zum Verhängnis werden können.
— Er ist vom 18. August dieses Jahres.
Die Zerstörung des Rechts im Inneren, aber leider auch im Äußeren — ich frage hier noch einmal: Weshalb wurde den eigenen Menschen, den Heimatvertriebenen, nicht mehr zu ihrem Recht verholfen, als es notwendig war? —, die Stigmatisierung von Jugendlichen, die für eine Vergangenheit, an der sie nicht beteiligt waren, nur deshalb haftbar gemacht werden, weil sie Deutsche sind, haben den Boden für etwas bereitet, was wir alle zu Recht ablehnen.
Die Tatsache, daß linke Chaoten über Jahrzehnte öffentlich Straftaten begehen konnten, daß sie die Demokratie herausgefordert haben, ohne daß die Demokratie in der Lage war, zu antworten, hat entscheidend dazu beigetragen, daß hier ein Umfeld entstanden ist, das sie heute beklagen.
Der Bundeskanzler hat es ja heute gebracht: die sechs Millionen Straftaten, die dieses Jahr registriert werden. Ich freue mich darüber, daß er das ausgesprochen hat. Aber es kommt noch mehr dazu: die Kriminalisierung in den neuen Bundesländern. Beides fällt doch in seine Regierungszeit. Das zu beklagen, ohne zu sagen, was man tut, ist das, was wir ihm vorwerfen müssen.
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Ortwin Lowack
Täuschen Sie sich nicht: Mit repressiven Mitteln allein werden sie das Problem nicht in den Griff bekommen. Sie brauchen Vorbild und geistige Führung. Beides hat diese Bundesregierung bisher, besonders in diesen Bereichen, nicht gezeigt und nicht bewiesen.
Als nächster spricht der Kollege Siegfried Vergin.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat vor wenigen Tagen den Grundstein für die Heinz-Galinski-Schule gelegt. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die jüdischen Bürger darauf vertrauen, daß sie und ihre Kinder auch in Zukunft hier leben können. Noch ist ihr Glaube daran nicht verloren, aber er beginnt zu bröckeln, es beginnen die Zweifel.
Im Kommentar der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" vom 3. Dezember 1992 wird die konsequente Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zum Schutze aller Menschen in Deutschland gefordert. Es heißt, man müsse endlich gegen den Extremismus von rechts vorgehen, so wie man gegen den Linksextremismus vorgegangen ist. Ich glaube, wir sind uns einig, daß gerade die jüdischen Bürger unseres Landes dieses Recht der Kritik und dieser Einforderung haben.
Es ist mir unverständlich, daß der Sprecher der Bundesregierung formulieren kann — ich zitiere —: „Bei allem Verständnis für die Sorge Israels über neonazistische Erscheinungen in Deutschland . " Wie sollen junge Menschen aus unserer Geschichte lernen, wenn sich die Repräsentanten des Staates und ihre Sprecher derart unsensibel äußern?
Der Kanzler hat heute gesagt, dies sei nicht die Stunde der Schuldzuweisung. Aber die Stunde der Betroffenheit und des Handelns sollte es sein. Leider gibt es Belege für die Art des Fehlverhaltens, an die ich doch erinnern will:
Der Kanzler trifft persönlich Kurt Waldheim, aber Ralph Giordano läßt er antworten, daß er dessen Beschuldigungen wegen der Untätigkeit der Regierung als „unerträglich" zurückweise.
Der Kanzler erweist persönlich Gräbern von Nazis in Bitburg die Ehre,
aber hat bis heute das böse Wort vom Beileidstourismus nicht zurücknehmen lassen. — Herr Bohl, ich bin der Auffassung, daß dies öffentlich geschehen muß
und nicht durch einen Brief an einen Kollegen und durch eine Mitteilung darüber durch den Kollegen Lambsdorff.
Vorgestern habe ich einen Brief des deutschen Generalkonsuls in Mailand erhalten. Er ist zuständig für den deutschen Soldatenfriedhof Costermano in Norditalien. Dort liegen seit 25 Jahren neben Kriegsopfern drei Naziverbrecher — Henker der italienischen Juden — begraben. Bis vor wenigen Wochen waren die Namen dieser Verbrecher mit Billigung der Bundesregierung im Ehrenbuch des Ehrenfriedhofs verzeichnet.
Der Generalkonsul schreibt — ich zitiere —:
— Lassen Sie mich dies bitte abschließen. — Ich zitiere:
Mölln wäre, so glaube ich fest, nicht möglich gewesen, wenn man in Costermano und an allzuvielen Punkten, an denen sich uns Deutschen das Problem unserer Vergangenheit stellt, wirklich klar und entschieden Stellung bezogen hätte. Statt dessen: nichts als faule Kompromisse .. . Was in Deutschland wieder aufbricht, das ist nicht normale Kriminalität.
Das ist das Böse schlechthin, das Böse, das ein gutes Gewissen hat, wenn es Kinder verbrennt .. .
Er schreibt weiter:
... es ist ein Irrtum, zu glauben, man könne dem Teufel den kleinen Finger geben, und er werde sich damit begnügen.
Meine Damen und Herren, viel zu viele in Deutschland haben dem Teufel den kleinen Finger gegeben und tun es noch heute. Zu lange haben viele weggesehen und weggehört. Wir müssen jetzt handeln, schnell und effektiv.
Die Probleme, mit denen wir fertig werden müssen, sind längst keine Randerscheinungen einer intakten Gesellschaft mehr. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft und Praxis muß die Grundlage für unser Handeln sein. Wir können es uns nicht mehr leisten, einzeln vor uns hin zu denken. Sehr schnell muß eine tragfähige Basis für das wirkungsvolle Vorgehen gegen Gewalt und die menschenverachtenden Ideologien geschaffen werden. Wichtig ist dabei, daß nicht nur das staatliche Gewaltmonopol im Blick ist, sondern genauso die staatliche Prävention und Therapie.
Meine Damen und Herren, hierbei kommt der Bildungspolitik eine besondere Verantwortung zu. Es ist gut, daß die Bundesregierung heute hier erklärt hat, sie habe Maßnahmen in dem Bereich ergriffen. Es wäre gut, Herr Bundesminister, wenn Sie die dafür zuständigen Ausschüsse darüber unterrichteten, da-
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Siegfried Vergin
mit auch wir unsere Erfahrungen dort noch einbringen können.
Die schlimme Fehlentscheidung, die im Zusammenhang mit der Haushaltsberatung im Bereich der politischen Bildung getroffen wurde, ist von mir scharf zu kritisieren. Ich hoffe, daß dies im Nachtragshaushalt geheilt wird; denn wer in diesem und in anderen Bereichen spart, baut sich einen bald nicht mehr finanzierbaren gesellschaftlichen Reparaturladen auf. Dem müssen wir entgegentreten.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Zum Schluß möchte ich den Wunsch zum Ausdruck bringen, daß die Jüdische Gemeinde zu Berlin ihre Schule beziehen kann, ohne sich eines Tages fragen zu müssen, ob es nicht besser gewesen wäre, diese Schule in einem anderen Land zu bauen. Helfen wir alle mit, daß dieser Wunsch erfüllt werden kann!
Jetzt zwei Kurzinterventionen, eine vom Kollegen Graf Lambsdorff und eine vom Kollegen Duve.
Frau Präsidentin! Ich wollte dem Kollegen, der eine öffentliche Erklärung gefordert hat, nur sagen, daß ich die gerade vorhin hier abgegeben habe. Man kann ja der Meinung sein, daß wir im Bundestag, zumal im Plenarsaal, unter Ausschluß der Öffentlichkeit sprechen. Falls Sie dieser Auffassung sind, verstehe ich Ihr weiteres Anmahnen. Es war aber öffentlich.
Nun eine Kurzintervention auf den Kollegen Lowack vom Kollegen Duve.
Herr Kollege Lowack, ich möchte auf Ihre kurze Rede antworten. — Sie haben in den ersten zwei, drei Minuten Ihrer Rede mit richtigen Formulierungen durchaus eindrucksvoll die alleingelassene Jugend angesprochen. Sie haben dann im zweiten Drittel Ihrer Rede dieses Eingehen auf die Jugend in einer boshaften Weise zu allgemeinen, fast rattenfängerischen Pauschalangriffen auf die Bundesrepublik, auf politische Vorgänge verschiedenster Art, benutzt.
Ich habe mich gemeldet, um klarzumachen, in welcher Weise — Sie streben, wie ich höre, ja an, zu den Republikanern zu gehen — hier argumentiert wird, und zwar mit einer Sensibilität, die ich Ihnen persönlich abnehme, die ich von Ihnen kenne, die aber vermischt wird mit einem Pauschalangriff, zu dem Sie die Jugendlichen, die Sie eben noch bemitleidet haben, sozusagen mit heranziehen wollen. Ich will das, was Sie im einzelnen gesagt haben, gar nicht bewerten. Das wird ja aus dem Protokoll hervorgehen.
Ich will uns alle hier nur darauf aufmerksam machen: Sensibilität, Jugendliche auch begeistern können, auf der einen Seite und dann mit ihnen gemeinsam gegen Bonn auf der anderen Seite — das ist die Methode. Gegen diese Methode werden wir uns wehren. Aber wir brauchen auch Sensibilität und müssen dann diese Anmerkungen zum AufmerksamSein für Jugendliche und für deren AlleingelassenSein ernst nehmen.
Danke.
Der Kollege Lowack hat das Recht, selbst eine abschließende Kurzintervention dazu zu machen. Sie haben das Wort, Herr Kollege Lowack.
Ich kann mich sehr kurz fassen.
Erstens. Herr Kollege Duve, Sie sind völlig falsch informiert.
Zweitens. Was ich hier vortrage, trage ich unter Berufung auf mein Gewissen als Abgeordneter vor. Nichts anderes.
Jetzt hat der Kollege Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Kollege Lowack, es ist Ihnen unbenommen, zu sagen, was Sie für richtig halten; aber inhaltlich muß man der Kritik des Kollegen Duve zustimmen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man am Ende einer Debatte spricht, tut man gut daran, den Journalisten mitzuteilen, daß auch das geschriebene Wort gilt, und sich im übrigen auf wenige Bemerkungen zu beschränken.
Was in den letzten Wochen und Monaten in Deutschland geschehen ist, schädigt nicht nur unser Ansehen in der Welt. Die Verbrechen gegen Ausländer, Brandfackeln gegen Flüchtlinge, Haß gegen alles Fremde sind auch dann aufs schärfste zu verurteilen, wenn niemand außerhalb Deutschlands sie zur Kenntnis nähme.
Gewalt gegen Minderheiten, ihre sprachliche Verniedlichung mit den Worten „aufklatschen" oder „abfackeln", der Versuch, Fremde zu Sündenböcken für eigene Probleme zu machen, verstößt gegen die demokratische Kultur unseres Landes, gegen unsere Verfassung und gefährdet unsere Zukunft.
Ich möchte ein Wort an die schweigenden Mehrheiten richten, die aufhören zu schweigen. Es ist in der Tat richtig, daß man den Schutz unserer Verfassung dem Staat nicht wie einem Dienstleistungsunternehmen übertragen kann, sich selber auf die Ränge setzt und zusieht, wie die Herren da unten herumturnen. Darum ist es ein ermutigendes Zeichen, das immer mehr Mitbürger für Tolerenz, für Demokratie, für die Integration und für das friedliche Zusammenleben mit
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Dr. Burkhard Hirsch
Ausländern, für Menschenwürde auf die Straße gehen und demonstrieren, um unsere Demokratie zu erhalten. Darum brauchen wir unseren Staat und unsere Gesellschaft nicht in eine waffenstarrende Festung zu verwandeln, sondern können auch Vertrauen darauf setzen, daß die sonst so schweigsame Mehrheit erkennt, in welcher Gefahr wir uns alle befinden, wenn diese Mehrheit nicht erkennbar Partei ergreift für Toleranz und für die Weltoffenheit, die wir uns in den über 40 Jahren, die die Bundesrepublik besteht, erkämpft haben.
Der Staat muß das Gesetz durchsetzen. Wenn die Polizei dazu nicht in allen Bundesländern stark genug ist, muß sie mobiler werden und ihre Zusammenarbeit verbessern. Zum Verfassungsschutz sagen wir, daß die neuen Bundesländer, aber auch andere, bei ihrer Gesetzgebung daran denken mögen, daß wir im Deutschen Bundestag mit breiter Mehrheit ein Gesetz in der Erwartung verabschiedet haben, daß es für andere ein Muster wird, weil nur so die notwendige Zusammenarbeit erreicht werden kann.
Der Justiz sagen wir: Es kann nicht länger angehen, daß Rockgruppen in Liedern davon singen, man möge nicht die Zeit, sondern die Juden totschlagen, und man möge Türken aufhängen, und nichts geschieht. Wenn das nicht Volksverhetzung ist, dann weiß ich nicht, was dieses Wort sonst für eine Bedeutung haben soll.
Die letzte Bemerkung muß ich an die Politik, an uns selber, richten. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, nur die Symptome zu bekämpfen und nicht auch die Ursachen. Zu den Ursachen gehören sowohl fehlende Jugendarbeit in Schulen und Familie als auch unbewältigte Sorgen um Arbeitsplatz und Wohnung. Vorurteile und fehlende verantwortliche Erziehung sind der Nährboden für Aggressivität und Gewalt und für Rassismus. Dafür sind nicht nur die Politik und die Politiker verantwortlich, aber auch.
Ich habe schon einmal bei einer Debatte über das Asylrecht darauf hingewiesen, daß auch die Art unserer Auseinandersetzung und die dabei gewählte Sprache eine der Ursachen dafür ist, daß Ausländer im Bewußtsein vieler unserer Mitbürger zu Südenböcken gestempelt werden.
Jeder bösen Tat gehen böse Worte voraus. Auch diese Mitverantwortung darf nicht länger verdrängt und sollte nicht länger geleugnet werden. Wir sollten den Versuch unternehmen, bei den politischen Auseinandersetzungen auch in Kernfragen unserer Politik gegenseitig die Toleranz zu üben, die wir von unseren Bürgern verlangen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/3968. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag bei vielen Enthaltungen einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3952. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3954 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und zur Mitberatung an den Innenausschuß. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/3921 —
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Wilz zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Kollegen Koppelin auf. — Der Fragesteller ist nicht im Raum. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen zur Frage 4 des Abgeordneten Wallow:
Welche Bedrohungsanalyse liegt den konzeptionellen Anforderungen des von Bundesminister Volker Rühe geforderten Kampf-Jet zugrunde?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Herr Präsident! Ich antworte wie folgt: Die konzeptionellen Anforderungen basieren auf einer Studie der Generalstabschefs von Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland. Darin werden die militärischen Anforderungen an ein neues europäisches Jagdflugzeug aus einer in drei Schritten durchgeführten Analyse abgeleitet.
Erstens. In einer umfassenden militärpolitischen und -strategischen Lagebeurteilung wird die grundlegend veränderte sicherheitspolitische Situation analysiert.
Zweitens. Darauf aufbauend, wird eine detaillierte Beurteilung des operationellen Umfelds eines künftigen Jagdflugzeugs vorgenommen. Dabei wird von einer voraussichtlich deutlich verlangsamten technologischen Entwicklung von Luft- und Luftverteidigungsstreitkräften ausgegangen. Der möglichen Entwicklung und Proliferation moderner Waffensysteme wird dabei Rechnung getragen.
Drittens. Schließlich werden die Konsequenzen der neuen sicherheitspolitischen Lage für das Konzept der künftigen Luftverteidigung herausgearbeitet. Die Rolle und die Aufgaben von Jagdflugzeugen werden unter Berücksichtigung der anderen Komponenten im Luftverteidigungssystem dargelegt. Die Studie bein-
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Parl. Staatssekretär Bernd Wilz
haltet keine Bedrohungsanalyse, da sie nicht von konkreten Szenarien ausgeht. Vielmehr werden aus potentiellen Risikoursachen und -formen nachvollziehbare Schlüsse für eine angemessene Sicherheitsvorsorge im Rahmen der künftigen Luftverteidigung gezogen.
Alle drei Abschnitte der Studie, Lagebeurteilung, operationelles Umfeld und konzeptionelle Konsequenzen, werden von den Generalstabschefs der vier beteiligten Nationen einvernehmlich beurteilt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Wallow.
Herr Staatssekretär, ich habe das Gefühl, daß Sie mich gezielt mißverstanden haben. Ich wollte keine formale Darstellung des Ablaufs, sondern eine inhaltliche Projektion. Das Militär zeichnete sich ja früher dadurch aus, daß es uns sehr genau sagen konnte, wo der böse Feind mit der entsprechenden Bewaffnung steht. Daraufhin erfolgte eine Ziel-Mittel-Beurteilung.
Herr Kollege Wallow, unsere Geschäftsordnung sieht vor, daß in der Fragestunde Fragen gestellt und keine größeren Darlegungen gemacht werden sollen.
Meine Frage ist nur verständlich, wenn ich zwei Sätze vorwegschicke, Herr Präsident.
Ich frage Sie noch einmal: Welche Eigenschaften muß ein solches Flugzeug haben?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, vom „bösen Feind" haben wir nie gesprochen.
— Das ist ja Ihr gutes Recht. — Wir haben in der Vergangenheit von einem potentiellen Gegner gesprochen.
Im übrigen habe ich soeben auf Ihre Frage hin ausgeführt, daß wir nicht von einer konkreten Bedrohungsanalyse ausgehen, sondern Risikovorsorge zu treffen haben. Im Hinblick auf diese Risikovorsorge werden militärische Anforderungen formuliert und definiert. Diese Anforderungen sind gerade von den vier betroffenen Generalstabschefs neu formuliert worden. Heute reden die vier betroffenen Verteidigungsminister genau über dieses Thema. Wenn sich die vier Minister verständigt haben, dann werden wir damit auch an die Öffentlichkeit gehen.
Zweite Zusatzfrage.
Vorhin kam in den Nachrichten, daß sich die beteiligten Länder geeinigt hätten, dieses Flugzeug ohne Eigenschaften zu bauen. Trifft das zu?
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Zunächst einmal hat jedes Flugzeug Eigenschaften. Auch jedes künftig zu bauende Flugzeug wird Eigenschaften haben.
Ich habe im Moment noch keinen abschließenden Bericht von Bundesverteidigungsminister Volker Rühe erhalten. Er wird aber heute nachmittag eintreffen. Ab morgen können Sie einen entsprechenden Bericht bekommen.
Der Kollege Dr. Klejdzinki möchte eine weitere Zusatzfrage stellen.
Herr Staatssekretär, da dieses Waffenprojekt lediglich auf einer Studie beruht, frage ich Sie, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, daß dieser Umstand — insbesondere wenn man darauf abstellt, was man mit diesem Projekt erreichen will — ein äußerst schwaches Argument ist.
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Verehrter Herr Kollege, Sie wissen sehr genau, daß dieses Projekt nicht nur auf einer Studie beruht, sondern daß zunächst einmal ein neues Jagdflugzeug entwickelt worden ist, und zwar auf Grund einer ganz konkreten Bedrohungsanalyse. Diese Bedrohungsanalyse ist Gott sei Dank insofern nicht mehr zutreffend, als es keinen Warschauer Pakt mehr gibt. Insofern konnten Verbesserungen und Modifizierungen berücksichtigt werden. Dennoch müssen die Generalstabschefs, wenn sie zu einer übereinstimmenden Bewertung kommen wollen, dies auch schriftlich niederlegen. Zu diesem Zweck ist zunächst eine Studie angefertigt worden. Die militärischen Anforderungen werden noch sehr genau konkretisiert, und diese Konkretisierung wird auch schriftlich vorgelegt.
Die nächste Zusatzfrage stellt der Kollege von Larcher.
Herr Staatssekretär, ist es denn so abwegig, die Schlußfolgerungen zu ziehen, daß wenn es doch keine Bedrohungsanalyse gibt —
Er hat gesagt, es wurde auf Grund der damaligen Bedrohungsanalyse geplant, die Bedrohung sei jedoch weggefallen. Ist es dann abwegig, zu sagen: Da es keine Bedrohung mehr gibt, muß man auch keinen neuen Jäger bauen.
Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies ist in der Tat abwegig, denn was sich geändert hat, ist, daß wir in der Tat keine konkrete Bedrohung mehr haben. Ich habe aber soeben sehr klar gesagt, daß wir Risikovorsorge zu treffen haben. Sie können ferner nicht ausschließen, daß es in Europa — siehe das ehemalige Jugoslawien — zu lokalen oder regionalen Konflikten kommen kann und daß solche Konflikte überschwappen könnten. Sie können nicht ausschließen, daß an den Rändern von Europa oder an den Rändern des NATO-Gebiets irgendwelche Angriffshandlungen vorgenommen werden.
Insofern ist es zwingend notwendig, daß wir verteidigungsfähig bleiben. Wer verteidigungsfähig bleiben will und muß, muß natürlich auch eine Luftwaffe besitzen. Dann braucht er zum Zwecke der Luftverteidigung auch Jagdflugzeuge, und diese müssen bestimmte Eigenschaften haben.
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Keine weiteren Zusatzfragen.
Ich danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Staatsminister Anton Pfeifer erschienen.
Ich rufe die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Detlev von Larcher auf:
Treffen Informationen der Zeitschrift „Wirtschafts-Woche" zu, wonach 1986/87 durch eine „unter-der-Hand-Diplomatie" unter Mitwirkung des damaligen Abteilungsleiters für Außen- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt über die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und die Behebung der finanziellen Schwierigkeiten der DDR verhandelt und als Gegenleistung die Öffnung der Mauer angeboten wurde?
Bitte, Herr Staatsminister.
Herr Präsident! Herr Kollege von Larcher, ich wäre dankbar, wenn ich die beiden von Ihnen eingereichten Fragen wegen des Sachzusammenhangs zusammen beantworten könnte.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch Frage 15 des Herrn Abgeordneten Detlev von Larcher auf:
Trifft es zu, daß diese Verhandlungen bereits vor dem Besuch Honeckers in der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossen waren und nur am Widerstand Honeckers gescheitert sind?
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege von Larcher, die in Ihren Fragen so bezeichnete „Unterder-Hand-Diplomatie" unter Mitwirkung des damaligen Abteilungsleiters für Außen- und Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt hat es nicht gegeben.
War das die ganze Antwort? — Meine Fragen beziehen sich ja auf einen Artikel in der „Wirtschaftswoche". Darin wird auf ein Buch Bezug genommen, das vorgibt, wissenschaftlichen Kriterien zu entsprechen. Die Informationen gehen auf Gerhard Beil zurück, der bis Juni 1991 Projektberater für die Sowjetunion im Krupp-Konzern war; er war vorher der Chef von Schalck-Golodkowski.
Herr Kollege, das geht nicht! Wir können in der Fragestunde keine Zeitungsartikel vorlesen!
Sie können eine Frage stellen, aber Sie können sie nicht auf diese umfangreiche Weise begründen.
Dieser Informant sagt, es habe ein Angebot an die Bundesregierung gegeben, wie ich es in der Frage formuliert habe. Ich frage Sie: Gab es ein solches Angebot? An wen richtete es sich? Mit wem ist über dieses Angebot gesprochen worden?
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege, ich denke, daß ich in meiner Antwort eindeutig Stellung dazu genommen habe. Beispielsweise das behauptete Angebot, unter bestimmten Bedingungen eine Öffnung der Mauer vorzusehen, hat es nicht gegeben.
Zweite Zusatzfrage.
War der damaligen Bundesregierung bekannt, daß sich eine Fünfergruppe in der DDR, die aus Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck-Golodkowski, Herta König und Werner Polze bestand, Überlegungen darüber gemacht hat, im Tausch gegen die Übernahme der finanziellen Schwierigkeiten der DDR durch die Bundesregierung die Mauer zum Zeitpunkt des Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik zu öffnen?
Anton Pfeifer, Staatsminister: Herr Kollege, in welchem Umfange der Bundesregierung Überlegungen bekannt waren, die damals intern in der Regierung der DDR angestellt worden sind, müßte ich nachprüfen; das kann ich nicht aus dem Handgelenk sagen.
Dritte Zusatzfrage.
Gab es Kontakte zur Bundesregierung mit dieser Gruppe oder mit Mittelsmännern dieser Gruppe?
Anton Pfeifer, Staatsminister: Nach meiner Kenntnis in dem genannten Zusammenhang nicht.
Eine vierte Zusatzfrage wird nicht gewünscht. Gibt es noch weitere Zusatzfragen aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen zu diesem Thema? — Das ist nicht der Fall.
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Frage.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zu Verfügung.
Ich rufe Frage 16 der Kollegin Renate Blank auf:
Welche Lösungswege faßt die Bundesregierung ins Auge, im Falle einer Aufhebung des Kontrahierungszwanges bei der Kfz-Versicherung — wie von der Koalitionsarbeitsgruppe Deregulierung gefordert — sicherzustellen, daß jeder Verkehrsteilnehmer einen ausreichenden Versicherungsschutz erhalten kann?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Frau Kollegin Blank, die Deregulierung des europäischen Versicherungsmarkts zum 1. Juli 1994, die auf Grund der EG-Richtlinien zum Versicherungsrecht notwendig geworden ist, erfordert in der Tat auch eine Umgestaltung des bisherigen Kontrahierungszwanges in der KFZ-Haftpflichtversicherung. Nach Wegfall der Bedingungs- und Tarifgenehmigung in der Kfz-Haftpflichtversicherung zum 1. Juli 1994 stehen Inhalt und Preis einer Kfz-Haftpflichtversicherung nicht von vornherein und allgemein bei Antragstellung fest.
Vor einer etwaigen Abschaffung des Kontrahierungszwanges wird aber zu berücksichtigen sein, daß grundsätzlich jedem Autofahrer der Abschluß einer
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner Kfz-Haftpflichtversicherung auch in Zukunft möglich sein und bleiben muß. Es kann nicht hingenommen werden, daß bestimmte Gruppen von Versicherungsnehmern mit hohem Risiko in Zukunft Schwierigkeiten haben, in Deutschland einen Versicherer zu finden. Deshalb haben DIHT, BDI und ADAC zu Recht ernste Bedenken gegen den Wegfall des Kontrahierungszwanges angemeldet.
Es wird zu prüfen sein, ob der Kontrahierungszwang in einer abgeschwächten Weise dergestalt beizubehalten ist, daß die Versicherer, wenn sie einen Antrag auf Abschluß einer Kfz-Haftpflichtversicherung zum allgemeinen Unternehmenstarif wegen einer von ihnen zu tragenden höheren Gefahr nicht abschließen wollen, gehalten sind, ein wegen des erhöhten Risikos abweichendes verbindliches Angebot zu unterbreiten. Es ist dann Sache des Antragstellers, zu entscheiden, ob er ein solches Angebot annehmen oder sich an eine andere Versicherung wenden will.
So könnte gewährleistet werden, daß in der KfzHaftpflichtversicherung jedes Risiko einen Versicherer findet, wenn auch natürlich zu teilweise deutlich höheren Prämien bei schlechteren Risiken.
Die Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen. Die zur Umsetzung der Versicherungsrichtlinien erforderlichen Gesetzesänderungen werden gegenwärtig vorbereitet.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es nach derzeitigem Recht ca. 400 000 bis 500 000 Autofahrer in der Bundesrepublik gibt, die ohne Versicherungsschutz fahren? Daß Sie über Lösungsmöglichkeiten, die Sie aufgezeigt haben, noch einmal nachdenken werden, befriedigt mich nicht.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Versicherungsrichtlinien sind zum 1. Juli 1994 umzusetzen. Die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen werden bis dahin durchzuführen sein. Überlegungen, eine Regelung zu finden, die bei einer Einschränkung oder Umgestaltung des Kontrahierungszwanges gleichwohl für jeden Autofahrer die Möglichkeit eröffnet, eine Haftpflichtversicherung zu bekommen, müssen natürlich Gegenstand eines solchen Gesetzgebungsverfahrens sein.
Zweite Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es derzeit ca. 400 000 bis 500 000 Kraftfahrzeuge gibt, die nicht unter Versicherungsschutz stehen? Diese Frage ist nicht beantwortet worden.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja. Frau Kollegin, die zuständigen Landesbehörden sind darum bemüht, dieses strafbare Verhalten entsprechend zu ahnden und zu unterbinden.
Wird noch eine Zusatzfrage gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich rufe dann die Frage 17 auf, die die Frau Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink gestellt hat:
Wie viele Ermittlungsverfahren laufen seit Jahresbeginn gegen Personen aus der rechtsradikalen/rechtsextremen Szene , und um welche Tatbestände handelt es sich im einzelnen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß vollständige Angaben über sämtliche Ermittlungsverfahren wegen rechtsradikaler/rechtsextremer Straftaten aus dem laufenden Jahr noch nicht vorliegen.
Die Bundesregierung hat schon in der Fragestunde am 12. November 1992 Zahlen zu Verstößen gegen die §§ 86 und 86a StGB genannt. Auch die bezogen sich aber auf die Vorjahre.
Es ist so, daß für einen umfassenden und systematischen Überblick über eingeleitete und abgeschlossene Strafverfahren wegen rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Straftaten zur Zeit im Gespräch mit den Ländern ein Meldeverfahren verabredet wird. Ein entsprechender Fragebogen wird ausgearbeitet. An Hand dieses Fragebogens sollen die Landesjustizverwaltungen rückwirkend für das laufende Jahr 1992 und ab 1993 regelmäßig über entsprechende Verfahren berichten. Ein spezieller Fragebogen dazu wird derzeit mit den Landesjustizverwaltungen erörtert. Es kann keine Frage sein, daß wir schnellere und präzisere Angaben auf diesem Gebiet brauchen.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Welche Folgerung werden Sie ziehen, da man davon ausgehen kann, daß es sehr viele Ermittlungsverfahren sein werden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Die Folgerung im Hinblick auf die Erfassung dieser Straftaten wird sein, eine genauere Aufschlüsselung dieser Straftaten zu bekommen. Denn die in Betracht kommenden Straftaten sollen ja auf die Motivation hin gemeldet werden. Wenn Sie Gewalttaten, etwa Körperverletzungen, danach einordnen wollen, ob sie rechtsextremistisch sind, bedarf das besonderer Angaben. Darum bitten wir zur Zeit die entsprechenden Landesjustizverwaltungen.
Wird zu dieser Frage noch eine Zusatzfrage gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 18 auf, die der Kollege Dr. Michael Luther gestellt hat:
Wann legt das Bundesministerium der Justiz das seit langem versprochene 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vor?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Luther, nach sehr umfänglichen rechtstatsächlichen Erhebungen und Vorarbeiten ist im Bundesministerium der Justiz der Referentenentwurf eines 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes erarbeitet worden. Das Gesetz soll, wie Sie wissen, die
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Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner verwaltungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung abschließend regeln.
Die Abstimmung mit den anderen Ressorts und mit den Ländern, insbesondere mit den neuen Ländern, konnte inzwischen weitgehend abgeschlossen werden. Ich hoffe, daß die noch offenen Fragen rasch geklärt werden können und die Verabschiedung eines Regierungsentwurfs durch das Bundeskabinett in Kürze möglich ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Ich hatte die Frage deswegen gestellt, weil schon vor fast einem Jahr den Zwangsausgesiedelten gesagt wurde, daß ihre Fälle geklärt werden müßten, und zwar in diesem Gesetz. Sehen auch Sie die Dringlichkeit, das relativ schnell anzupacken?
Herr Kollege, war das eine Frage oder nur die Begründung, warum Sie Ihre Frage gestellt haben?
Wir müssen langsam wieder zum Regelwerk kommen: In der Fragestunde werden Fragen gestellt und, wenn es geht, beantwortet.
Ich habe das sozusagen mit Komma gesagt. Es war eine Frage.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Luther, keine Frage: Auch wegen der Problematik, die Sie angesprochen haben, ist das 2. SEDUnrechtsbereinigungsgesetz dringend erforderlich. Nicht zuletzt wegen dieses Sachverhaltes gab es aber vorher sehr umfängliche Sachermittlungen. Wir haben beim ersten Gesetz ja gesehen, daß die tatsächlichen Angaben, die man dazu braucht, um beispielsweise präzise Kosten und Folgen klären zu können, sehr umfangreich waren. Deshalb hat es, obwohl mit Hochdruck daran gearbeitet worden ist, einige Zeit in Anspruch genommen. Aber in Kürze werden wir diesen Gesetzentwurf vorlegen.
Herr Kollege Klejdzinski, eine Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, daß — soweit mir bekannt — die materiellen Entschädigungen, die Sie vorgesehen haben, im Grunde genommen lächerliche Beträge sind?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Klejdzinski, wir werden auch mit diesem Gesetz sicher nicht in der Lage sein, das gesamte in der früheren DDR geschehene Unrecht wiedergutzumachen. Das, worauf sich diese Gesetzgebung im Hinblick auf die verwaltungsrechtliche und berufliche Rehabilitierung konzentriert, ist vor allem der Ausgleich fortbestehender Nachteile in diesem Bereich. Wir müssen das in dem Bewußtsein tun, daß es uns — ganz gleich, was wir machen werden — immer nur gelingen wird, einen Teil des Unrechtes wiedergutzumachen.
Gibt es den Wunsch, dazu weitere Zusatzfragen zu stellen? — Der besteht nicht.
Dann rufe ich die Frage 19 auf, die ebenfalls der Kollege Dr. Michael Luther gestellt hat:
Wann legt das Bundesministerium der Justiz das dringend benötigte Sachenrechtsbereinigungsgesetz vor?
Bitte sehr.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Luther, auch für das in der Tat dringend benötigte Sachenrechtsbereinigungsgesetz wird im Bundesministerium der Justiz mit Hochdruck an einem Diskussionsentwurf gearbeitet, der zum Jahreswechsel fertiggestellt und danach mit den Ländern und den zahlreichen Verbänden erörtert werden soll. Die Ergebnisse der Besprechungen werden in einen Referentenentwurf einfließen, dessen Fertigstellung und Präsentation für März oder April kommenden Jahres ins Auge gefaßt ist.
Eine Zusatzfrage? — Nein, auch nicht von anderen Kolleginnen oder Kollegen. Dann, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bedanke ich mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Manfred Kolbe sowie die Fragen 22 und 23 des Abgeordneten Martin Grüner sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 24 des Kollegen Meckel auf. Er ist nicht im Saal. Somit wird bezüglich seiner Fragen 24 und 25 nach der Geschäftsordnung verfahren.
Die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid, die Frage 28 des Abgeordneten Ortwin Lowack sowie die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Ernst Hinsken sollen ebenfalls schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Es bleibt somit die Frage 31 des Kollegen Ottmar Schreiner:
Teilt die Bundesregierung die Analyse des RWI und die Auffassung des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit, daß bei der Finanzierung der deutschen Einheit eine erhebliche soziale Schieflage entstanden ist, weil Arbeiter und Angestellte weit überdurchschnittlich, Beamte und Selbständige weit unterdurchschnittlich belastet wurden?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte Sie um Beantwortung.
Die Ergebnisse des RWI können nicht bestätigt werden.
Nach Modellrechnungen des Bundesministeriums der Finanzen deckt sich der Lastenanteil der einzelnen Bevölkerungsgruppen weitgehend mit ihrem Anteil am verfügbaren Einkommen. Sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer tragen rechnerisch einen Lastenanteil von rund 69 v. H., haben aber rund 67 v. H. des verfügbaren Einkommens. Selbständige tragen rechnerisch rund 17 % der Lasten,. haben dagegen rund 18 % des verfügbaren Einkommens.
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald
Beamte und Versorgungsempfänger tragen rechnerisch rund 14 % der Lasten, haben dagegen aber rund 15 % des verfügbaren Einkommens.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schreiner.
Herr Staatssekretär, wieso weicht die Bundesregierung bei der Beantwortung dieser Frage von dem bei Steuern üblichen Maßstab ab, wonach die relative Belastung als Prozentanteil vom Einkommen für die Beurteilung der Verteilungswirkung maßgeblich ist? Das war auch der Gegenstand der RWI-Untersuchungen, die nachzuweisen versucht haben, daß der Arbeitnehmerhaushalt im Schnitt mit etwa 4 % belastet ist, während der Selbständigen- oder Beamtenhaushalt für die Finanzierung der deutschen Einheit nur mit 1,5 % belastet ist?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich durfte — ich glaube, es war eine Anfrage vom Kollegen Schröter — auf diese Studie des RWI schon näher eingehen. Ich will das aber gern im Telegrammstil wiederholen.
Den Ansatzpunkt der RWI-Studie teilen wir nicht. Eine Vorbemerkung zur steuerlichen Situation: 28,1 % der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen erbringen 71,8 % des Gesamtsteueraufkommens. Das ersehen Sie schon aus der Rubrik Steuereinnahmen. Im übrigen sind die Lasten auch durch Einsparungen und Umschichtungen, die nicht zuzuordnen sind, und über eine erhöhte Nettokreditaufnahme, die die Steuerzahler betrifft und jedenfalls für die Zukunft auch nicht ohne weiteres zuzuordnen ist, refinanziert.
Jetzt zu dem Ansatz des RWI: Das RWI berechnet die Sozialversicherungsbeiträge zur Arbeitslosen- und zur Rentenversicherung in toto als Arbeitnehmeranteil. Das ist falsch; denn Sie wissen ja, daß die hälftig getragen werden. Das RWI rechnet die Folgewirkungen aus der Verbrauchsteuererhöhung, etwa bei der Mineralölsteuer, in toto dem Arbeitnehmeranteil zu, obgleich Sie wissen, daß wir gar nicht quantifizieren können, in welchem Umfang sich das überhaupt in Preisen niedergeschlagen hat und wie sich das auswirkt. Daraus erklären sich die Differenzen zwischen dem RWI und unseren Berechnungen.
Ich wiederhole: Nach unserer Auffassung sind die sozioökonomischen Gruppen in etwa gleicher Weise belastet.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Schreiner.
Diese In-toto-Betrachtungen sind wirklich völlig abwegig.
Ich wollte Sie dennoch in Ruhe fragen, wie denn die Bundesregierung die Forderung des Sachverständigenrates und die Forderung der Arbeitgeberverbände nach einem Zuschlag von 7 % auf die Einkommensteuer und einer gleichzeitigen Absenkung des Beitrages zur Bundesanstalt für Arbeit um 2 Prozentpunkte auf dann 4,5 % interpretiert.
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich, was die Frage nach möglichen Einnahmeverbesserungen betrifft, noch nicht erklärt. Sie ist der Meinung, daß wir zunächst über alle Möglichkeiten der Konsolidierung über die Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte die Problemlösung angehen und gemeinsam zwischen Bund und Ländern den Transferbedarf für den Aufbau der neuen Länder erst einmal festlegen müssen. Deswegen gibt es auch keine konkreten Vorstellungen etwa einer Wiederbelebung der Ergänzungsabgabe.
Die Vorstellungen des Sachverständigenrates, nach denen Sie gefragt haben, weichen in diesem Einzelpunkt von den Vorstellungen der Bundesregierung ab. Im übrigen sind, wie Sie wissen, in allen anderen Punkten der Sachverständigenrat und wir völlig einer Meinung, auch in dem Punkt, daß zunächst die Konsolidierung über die Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte gesucht werden sollte.
Wünscht jemand dazu eine Zusatzfrage zu stellen? — Dies ist nicht der Fall. Dann sind wir mit diesem Geschäftsbereich schon am Ende. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb zur Verfügung.
Ich kann den Kollegen Dr. Protzner nicht entdekken. Infolgedessen wird mit seinen Fragen 32 und 33 nach der Geschäftsordnung verfahren.
Dann rufe ich die Frage 34 der Kollegin Siegrun Klemmer auf:
Welchen Umfang hat die für den Haushalt der WISMUTGmbH im kommenden Jahr gegenüber dem diesjährigen Haushalt geplante Streichung und bestätigt die Bundesregierung die Einschätzung, daß, angesichts der von ihr in ihrer Antwort auf eine Große Anfrage angegebenen 250 km2 Verdachtsflächen, für die sie aus juristischen Gründen die Haftung ablehnt, die für das nächste Jahr im WISMUT-Haushalt gestrichenen Summen in einem „Nothilfe-fonds Altlastensanierung" den Kommunen Ostdeutschlands zur Verfügung gestellt werden müssen, die andernfalls mit der Sanierung der auf ihren eigenen Liegenschaften befindlichen Altlasten überfordert wären?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Der Bundeshaushalt 1992 sieht entsprechend dem Wirtschaftsplan der Wismut GmbH Ausgaben für Betrieb und Investitionen in Höhe von 968 Millionen DM vor. Insbesondere infolge von Verzögerungen bei den Genehmigungsverfahren der zuständigen Landesbehörden wird dieser Betrag aber nicht in voller Höhe abfließen. Der vom Deutschen Bundestag für das Jahr 1993 beschlossene Haushalt sieht demgegenüber nach Kürzung um 150 Millionen DM Mittel in Höhe von 774 Millionen DM vor. Der Differenzbetrag zum 1992er Ansatz liegt somit bei 194 Millionen DM.
Für die Schaffung eines Nothilfefonds „Altlastensanierung für uranbergbaulich bedingte Altlasten auf Liegenschaften ostdeutscher Kommunen" sieht die Bundesregierung derzeit keine Notwendigkeit. Un-
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb
beschadet der Rechtsauffassung der Bundesregierung, wonach eine Haftung der Wismut GmbH in diesen Fällen grundsätzlich nicht in Betracht kommt, erscheint eine Bereitstellung entsprechender Mittel derzeit auch deshalb nicht sinnvoll, weil laufende Untersuchungen zur Ermittlung des hier bestehenden Sanierungsbedarfs noch nicht abgeschlossen sind.
Das Projekt des Bundesamtes für Strahlenschutz „Radiologische Erfassung, Untersuchung und Bewertung bergbaulicher Altlasten" ist auf einen Zeitraum bis 1996 angelegt. Nach dem Ergebnis der inzwischen beendeten ersten Projektphase „Auswertung vorhandener Daten und Informationen" konnten die bisherigen Verdachtsflächen von ca. 1 500 km2 auf Untersuchungsgebiete in einer Größenordnung von insgesamt ca. 250 km2 reduziert werden. Mit einer weiteren Reduzierung der Verdachtsflächen ist bei Fortgang der Arbeiten zu rechnen.
Aussagen über den Umfang erforderlicher Sanierungsmaßnahmen sind auf der derzeitigen Datenbasis jedoch ebenso wenig möglich wie fundierte Schätzungen zu den dafür erforderlichen Kosten. Auch konnte bislang nicht bestätigt werden, daß über bereits erfolgte Sicherungsvorkehrungen hinaus, z. B. Zugangsbeschränkungen, weitere kurzfristige Maßnahmen zur Gefahrenabwehr getroffen werden müssen. Näheren Aufschluß hierüber werden erst die für 1993 bis 1996 vorgesehenen vertieften Altlastenuntersuchungen des genannten Projektes ergeben.
Im übrigen können für Sanierungsmaßnahmen an uranbergbaulich belasteten Industrie- und Gewerbeflächen gegebenenfalls auch Mittel aus bundes- oder landeseigenen Förderprogrammen in Anspruch genommen werden, soweit die jeweiligen Voraussetzungen gegeben sind.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, könnten Sie noch einmal ganz genau definieren, was in dem Zeitraum zwischen 1993 und 1996, in dem ja nach Ihren Darstellungen noch genauere Untersuchungen über das, was denn nun wie saniert werden muß, vorgenommen werden müssen, an Sanierungsmaßnahmen stattfinden wird und wie und in welcher Höhe Sie sich die Finanzierung für diese vier Jahre vorstellen?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zum einen ist festzustellen, daß — wie ich dargestellt habe — in den Jahren 1993 bis 1996 vertiefende Untersuchungen durchgeführt werden. Wir werden selbstverständlich nach dem jeweiligen Fortschritt dieser Untersuchungen auch Maßnahmen, so sie geboten sein sollten, ergreifen.
Zum anderen bitte ich um Verständnis, daß über den Haushalt 1993, der ja gerade erst vor anderthalb Wochen beschlossen wurde, noch keine Aussage möglich ist, d. h. noch nicht gesagt werden kann, in welchem Umfang in den Jahren 1994, 1995 und 1996 Haushaltsmittel für Wismut zur Verfügung stehen werden.
Die zweite Zusatzfrage.
Habe ich Sie richtig verstanden, Herr Staatssekretär, daß die Mittelkürzung nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß die Genehmigungsverfahren in den beiden betroffenen Ländern Sachsen und Thüringen nicht ordentlich oder nicht in einem überschaubaren Zeitraum stattgefunden haben?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich vermag Ihre Einschätzung, was die Verfahren in den beiden in Rede stehenden neuen Bundesländern anbelangt, nicht zu teilen. Ich kann nur feststellen, daß im Jahre 1992 Mittel in einer erheblichen Größenordnung nicht abgeflossen sind und daß daraufhin Ansätze im Bundeshaushalt 1993 auch entsprechend angepaßt wurden.
Wünscht jemand, dazu noch eine Zusatzfrage zu stellen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 35 auf, die ebenfalls von der Kollegin Klemmer gestellt wurde:
Bestätigt die Bundesregierung die Angaben des Fernsehmagazins FAKT , denen zufolge die Bundesregierung keineswegs der Ansicht ist, daß die WISMUT für die weitere Förderung von Uran im Bergbaugebiet Königstein die Unbedenklichkeit bezüglich möglicher Gefahren für das dortige Trinkwasserreservoir bewiesen habe und dennoch die WISMUT mit der Förderung von insgesamt 2 000 t Uran fortfahren will, die auf dem Weltmarkt verkauft werden sollen?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die möglicherweise aus bergsicherungstechnischen und ökologischen Gründen notwendige Fortführung des untertägigen In-situ-Laugungsbergbaus im Sanierungsgebiet Königstein der Wismut GmbH ist Gegenstand eines derzeit anhängigen strahlenschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens. Im Rahmen dieses Genehmigungsverfahrens werden die Umweltauswirkungen insbesondere im Hinblick auf den für die regionale Trinkwasserversorgung wichtigen dritten Grundwasserleiter einer vertieften Prüfung unterzogen. Die zuständige sächsische Genehmigungsbehörde hat zu diesem Fragen-kreis im Genehmigungsverfahren ein hydrogeologisches Gutachten in Auftrag gegeben. Weitere Gutachten sind von der Antragstellerin Wismut GmbH vorgelegt worden.
Das strahlenschutzrechtliche Genehmigungsverfahren unterliegt der Aufsicht des Bundesumweltministers, der seinerseits ebenfalls Fachberater hinzugezogen hat. Die Prüfungen dauern zur Zeit noch an. Eine abschließende Bewertung kann erst im Rahmen der Entscheidung über den Genehmigungsantrag erfolgen.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Ich möchte diese Zusatzfrage eigentlich gar nicht als Zusatzfrage gewertet wissen, Herr Präsident, weil der wesentliche Teil meiner Frage von dem Herrn Staatssekretär nicht beantwortet wurde.
Die Frage war: Was hat es mit der beabsichtigten oder immer schon laufenden Förderung von Uran und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11081
Siegrun Klemmer
seiner Vermarktung auf sich? Ich habe die Antwort darauf vermißt oder überhört.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Sehr geehrte Frau Kollegin, ich hatte eingangs meiner Antwort gesagt, daß derzeit ja ein strahlenschutzrechtliches Genehmigungsverfahren anhängig ist. Im übrigen hatte ich darauf hingewiesen, daß im Zusammenhang mit diesem Verfahren derzeit Untersuchungen laufen, mithin abschließende Antworten noch nicht gegeben werden können. Sie müßten das möglicherweise konkretisieren.
Die zweite Zusatzfrage.
Können Sie ausschließen, daß zur Zeit Uran gefördert und auch vermarktet wird? Können Sie — wenn Sie es nicht ausschließen — sagen, wohin, in welche Länder, und was passiert mit dem daraus gewonnenen Geld?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, in bezug auf Ihre jetzt gestellte Frage liegen mir keine Erkenntnisse vor, ob Uran gefördert wird, mithin auch keine Erkenntnisse über eine mögliche Vermarktung.
Eine Zusatzfrage, Dr. Klejdzinski.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie im zuständigen Ministerium, wenn jemand behauptet, daß 2 000 t Uran gefördert werden, davon nichts wissen?
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Sie haben mich richtig verstanden, daß ich persönlich keine Kenntnis davon habe.
Gibt es weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Für die Fragen 36, 37, 38, 39 und 40 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir mit diesem Geschäftsbereich am Ende. Ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus zur Verfügung.
Die Fragen 41, 42, 43 und 44 werden schriftlich beantwortet. Ich darf vorab sagen, daß auch die Frage 46 schriftlich beantwortet werden soll. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Kollege Schreiner rettet sozusagen die Ehre der Fragesteller. Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Schreiner auf:
Welche konkreten Vorstellungen hat die Bundesregierung im Hinblick auf die vom Deutschen Bundestag aufgeworfene Frage, ob die Leistungen aktiver Arbeitsmarktpolitik für die neuen Bundesländer nicht aus Steuermitteln oder einer Arbeitsmarktabgabe zu finanzieren sind?
Herr Kollege
Schreiner, zur Frage der Mittelaufbringung für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus Steuern weist die Bundesregierung darauf hin, daß der Bund bereits jetzt in erheblichem Umfang zur Finanzierung dieser Leistungen beiträgt. Der Bund wird sich voraussichtlich in diesem Jahr an den Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit in einer Größenordnung von etwa 13 Milliarden DM beteiligen.
Verzeihung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Würden Sie freundlicherweise ein bißchen näher ans Mikrophon treten?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Hinzu kommen Aufwendungen für das Vorruhestandsgeld in einer Größenordnung von 4,5 Milliarden DM 1992 sowie von rund 9 Milliarden DM für die Arbeitslosenhilfe, die ausschließlich aus Bundesmitteln finanziert wird. Ab 1993 wird sich der Bund auch an den Aufwendungen für das Altersübergangsgeld beteiligen.
Darüber hinaus sind die beiden Mitte 1989 aufgelegten Sonderprogramme der Bundesregierung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit mit einem Gesamtfinanzierungsvolumen von 3,33 Milliarden DM und das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost zu erwähnen, mit dem 1992 3 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus Bundesmitteln zur Verfügung stehen.
Ob es im Hinblick auf eine ausgewogene Lastenverteilung einer Änderung der Finanzierungsgrundlagen von Leistungen der Arbeitsmarktpolitik bedarf, ist eine Frage, die im Zusammenhang mit der Finanzierung der gesamten einigungsbedingten Lasten zu sehen ist. Die Bundesregierung möchte gegenwärtig auch wegen der laufenden Gespräche zum Solidarpakt hierzu nicht Stellung nehmen.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schreiner.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die vor wenigen Minuten geäußerte Auffassung Ihres Kollegen aus dem Bundesfinanzministerium, die Finanzierung der Einheitslasten sei sozial gerecht und ausgewogen?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Wenn der Kollege das gesagt hat, nehme ich an, daß er gute Gründe dazu hat.
Die zweite Zusatzfrage.
Teilen Sie denn die von Ihnen unterstellten guten Gründe?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich habe gute Gründe unterstellt. Ich bin der Meinung, daß er sicher entsprechende Unterlagen zur Verfügung hat, um die Untersuchungen zu untermauern, die er ausdrücklich erwähnt hat.
Darf ich abschließend fragen, weil das ja eigentlich keine Zusatzfrage war?
11082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Eigentlich nicht, aber da Sie der einzige in dieser Serie sind, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir denn sagen, welchen Sinn es gemacht haben soll, daß im Rahmen der Beratungen zur 10. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes die beiden Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. diesem Haus einen Antrag vorgelegt haben — der dann auch mehrheitlich beschlossen worden ist —, wonach ausdrücklich die Frage aufgeworfen wurde, ob es nicht sinnvoller wäre, die Finanzierung der Einheitslasten über eine Arbeitsmarktabgabe zu regeln, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen könnte, weil dann auch Selbständige und Beamte die Chance zur Solidarität hätten?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Herr Schreiner, Sie wissen ganz genau, daß in den Koalitionsfraktionen, insbesondere aber in den Beratungen zum Solidarpakt diese Überlegungen natürlich eine ganz große Rolle spielen. Sie wissen auch, daß in unserer Fraktion und in der Regierung überlegt worden ist, welche verfassungsrechtlichen Bedingungen zu erfüllen sind. Das Ganze deutet darauf hin, daß man sich darüber noch sehr intensiv unterhalten muß und wird.
Wenn wir uns im Augenblick dazu sehr zurückhaltend äußern, bitte ich noch einmal um Verständnis. Wir tun das deshalb, weil wir diese Gespräche, die wir für sehr wichtig halten, einfach nicht stören wollen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich herzlich für die Beantwortung.
Ich muß noch eine etwas unübliche Bemerkung anfügen, weil Sie dort hinten das nicht hören konnten, ich aber wohl. Herr Staatsminister Schäfer hat eine nicht allgemein hörbare Bemerkung über die Schönheit und den Wohlklang unserer bayerischen Mundart gemacht.
Lieber Herr Weng, damit würden wir in eine Dialektanalyse eintreten.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek erschienen.
Ich darf Ihnen mitteilen, daß die Fragen 58, 59, 60, 62 und 63 schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Fragesteller der Frage 61, Kollege Dr. Klaus Kübler, ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Damit, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ist Ihre Tätigkeit in diesem Zusammenhang beendet. Ich bedanke mich herzlich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht uns Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 64 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo auf:
Worauf ist es zurückzuführen, daß die Eröffnung eines Goethe-Institutes in Südafrika verzögert wird, bis dort eine Übergangsregierung im Amt ist, während eine große Zahl farbiger und weißer Südafrikaner darauf wartet, sich mit deutscher Sprache und Kultur beschäftigen zu können?
Bitte, Herr Kollege Schäfer.
Herr Kollege, die Bundesregierung hat die Absicht, allen interessierten Menschen in Südafrika, insbesondere natürlich der schwarzen Bevölkerung — der Bevölkerungsmehrheit muß ich sagen —, möglichst bald durch die Eröffnung eines Goethe-Instituts den Zugang zur deutschen Sprache und Kultur zu ermöglichen. Wegen der schwierigen innenpolitischen Situation im Land müssen die Rahmenbedingungen für ein Tätigwerden des Goethe-Instituts allerdings durch eine Regierungsvereinbarung abgesichert sein, die von allen Bevölkerungsgruppen in Südafrika mitgetragen wird.
Der Abschluß eines solchen Abkommens — eines allgemeinen Kulturabkommens und gegebenenfalls einer Regierungsvereinbarung über den Austausch von Kulturinstituten — ist in der jetzigen Übergangsphase mit einer Regierung, die nur für die weiße Bevölkerung spricht, nicht angezeigt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Mahlo.
Herr Staatsminister Schäfer, ich habe Sie also richtig verstanden, daß die Nichteröffnung eines Goethe-Instituts in Südafrika bisher nicht auf Rücksichtnahme oder auf Fragen der Öffentlichkeitswirksamkeit in der Innenpolitik zurückzuführen ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, abgesehen davon, daß die Nichteröffnung eines GoetheInstituts noch einen ganz anderen Grund hat, nämlich den, daß der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages erst einmal Mittel für weitere Goethe-Institute zur Verfügung stellen oder die Schließung weiterer Bibliotheken von bereits bestehenden Goethe-Instituten anordnen müßte, wenn er weitere GoetheInstitute mit den derzeitigen Haushaltsmitteln eröffnen lassen will, ist es nicht angebracht, daß wir Monate oder vielleicht ein Jahr vor der hoffentlich zustande kommenden Wahl und der Schaffung einer Übergangsregierung in Südafrika bereits jetzt mit der alten Regierung noch ein Kulturabkommen verhandeln, in das die Eröffnung eines Goethe-Instituts natürlich einbezogen wäre. Ich glaube, das liegt auch gar nicht im Sinne der alten, noch regierenden weißen Minderheitsregierung, die ja selbst daran interessiert ist, die schwarze Mehrheit schon möglichst bald zu beteiligen.
Ich rufe Frage 65 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo auf:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11083
Vizepräsident Hans Klein
Mißt die deutsche Außen- und Menschenrechtspolitik mit zweierlei Maß, wenn die Nichteröffnung des Institutes in Johannesburg als erzieherische Maßnahme sittlich und politisch ein Zeichen setzen soll, während das Institut in Peking zu keiner Zeit, auch nicht nach dem Massaker an Studenten 1989, Opfer ähnlicher Prinzipienfestigkeit geworden ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wie der Antwort auf die vorausgegangene Frage schon zu entnehmen war, ist die Tatsache, daß es bisher nicht zu der Eröffnung eines Goethe-Instituts in Johannesburg gekommen ist, nicht — ich zitiere Sie jetzt — „als erzieherische Maßnahme " zu werten, die „sittlich und politisch ein Zeichen setzen soll".
Insofern besteht auch kein Anlaß, aus einem Vergleich der Situation in Afrika und China abzuleiten, die deutsche Außen- und Menschenrechtspolitik messe mit zweierlei Maß. Die Bundesregierung setzt sich unterschiedslos weltweit mit großem Nachdruck für die Achtung der Menschenrechte ein. Ich gehe davon aus, daß die Frage der Eröffnung des GoetheInstituts nichts mit der derzeit noch bestehenden Menschenrechtssituation zu tun hat, sondern mit der ganz anders gearteten politischen Situation in Südafrika.
Keine Zusatzfrage.
Frage 66 des Abgeordneten Ortwin Lowack soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe Frage 67 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf:
Hat es in diesem Jahr Zusagen der Bundesregierung gegeben, Israel finanziell, z. B. auch durch Kredite bei Waffenkäufen, zu unterstützen?
Bitte.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Israel wird in diesem Jahr von der Bundesrepublik Deutschland wie in den Vorjahren im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit 140 Millionen DM — die Laufzeit dieses Abkommens, das aus dem Jahre 1967 rührt, beträgt 30 Jahre — erhalten. Es handelt sich um zweckgebundene Mittel für den Trinkwasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsbereich.
Darüber hinaus hat es keine Zusagen gegeben und gibt es auch keine Zusagen der Bundesregierung, Israel finanziell zu unterstützen, auch nicht durch Kredite bei Waffenkäufen.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, gibt es andere Zusagen im Waffenbereich an Israel?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Nein. Ich kann nur sagen, daß es auch bei den Gesprächen, die zuletzt der Bundesaußenminister in Israel geführt hat, solche Absprachen nicht gegeben hat. Im übrigen wissen Sie so gut wie ich, daß es in der Bundesrepublik eine Rüstungsexportrichtlinie gibt, die solche Waffenlieferungen nur in ganz extremen Sonderfällen ermöglichen würde. Ich sehe im Moment keinerlei Verhandlungen, aber auch keine Anfragen aus Israel nach Bereitstellung von Krediten für Waffenkäufe.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wie können Sie mir dann erklären, daß der Generalinspekteur bei seinem letzten Besuch, der parallel zum Besuch des Außenministers in Israel stattfand, laut Presse erklärt hat, daß die Wehrforschung mit Israel erheblich ausgebaut werden soll?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wenn ich Gelegenheit hätte, Sie als Verteidigungsexperten zu fragen, was Sie davon hielten, würde ich erleuchteter sein, als wenn ich Ihnen jetzt eine schlechte Antwort gäbe, denn sie sprechen den Generalinspekteur und das Bundesverteidigungsministerium am besten selbst an.
Ich kenne die Beweggründe nicht, glaube aber nicht, daß die forschungspolitische oder, wie Sie es nennen, Wehrforschungszusammenarbeit von uns in irgendeiner Weise finanziert wird. Vielmehr werden hier gewisse Traditionen fortgesetzt. Soviel bekannt ist, gab es das schon früher.
— Ich lasse mich im Anschluß an die Fragestunde gern informieren.
Ich rufe Frage 68 des Kollegen Claus Jäger auf:
Welche Initiativen und welche konkreten Anträge hat die Bundesregierung, die durch Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf meine schriftliche Anfrage mitgeteilt hat, daß eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung von Sarajewo bisher lediglich im Monat August sichergestellt werden konnte und daß für eine gewaltsame Öffnung der Versorgungswege der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zuständig sei , beim Sicherheitsrat allein oder zusammen mit anderen europäischen Regierungen im Hinblick auf eine gewaltsame Öffnung der Zugangswege zur Versorgung der vom Hungertod bedrohten Bevölkerung von Sarajewo und anderen bosnischen Städten gestellt?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung arbeitet bei der Suche nach einer Lösung des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien mit ihren Partnern, insbesondere der Europäischen Gemeinschaft, zusammen. Dies gilt für die Genfer Jugoslawien-Konferenz und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
In der Abstimmung über die Ausgestaltung des Mandats trägt die Bundesregierung der Tatsache Rechnung, daß sich Deutschland aus den verfassungsrechtlichen Gründen, die Ihnen bekannt sind, nicht selbst mit Truppen an UNPROFOR beteiligt. Die Umsetzung des Mandats dieser Truppen der Vereinten Nationen ist bereits jetzt mit Lebensgefahr für die dort stationierten UN-Soldaten verbunden. Bisher haben schon 20 UNPROFOR-Soldaten ihr Leben verloren. Solange sich Deutschland aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mit Truppen an diesem Unternehmen beteiligt, hält die Bundesregierung es für geboten, auch keine eigenen Initiativen zu einer gewaltsamen Öffnung der Versorgungswege zu verfolgen. Bislang bestand im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen keine Absicht, im Rahmen von UNPRO-
11084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Staatsminister Helmut Schäfer
FOR und auf anderer Grundlage eine gewaltsame Öffnung von Zugangswegen durchzuführen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Herr Staatsminister, sieht denn die Bundesregierung angesichts der verzweifelten Situation der Bevölkerung des eingeschlossenen Sarajevos überhaupt noch eine Alternative — um diese Menschen auch nur vor dem Hungertod zu bewahren — zu dem gewaltsamen Öffnen des Zugangs für Transporte, die zur Zeit praktisch nicht mehr möglich sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wenn Sie vom gewaltsamen Öffnen des Zugangs sprechen, meinen Sie in Wahrheit eine militärische Intervention. Diese militärische Intervention würde nicht nur — aus den genannten Gründen — uns, sondern auch alle anderen Staaten vor große Schwierigkeiten stellen. Ich schließe nicht aus, daß die weitere Entwicklung in Sarajevo — aber nicht nur dort — dazu führen kann, daß auch die Vereinten Nationen ihre derzeitige Haltung ändern. Es gibt Anzeichen dafür, daß der Sicherheitsrat neue Erwägungen anstellen wird. Aber ich darf darauf hinweisen, daß wir von uns aus kaum Forderungen nach gewaltsamen Eingriffen im ehemaligen Jugoslawien aufstellen können, wenn wir von vornherein sagen müssen, daß wir daran aus verschiedenen Gründen nicht teilnehmen können.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da Ihnen sicherlich bekannt ist, daß auch in der deutschen Bevölkerung an der überaus passiven Haltung der Vereinten Nationen in dieser Frage massive Kritik geübt wird und die Menschen nicht langer bereit sind, einfach so hinzunehmen, daß Menschen dort dem Hungertod preisgegeben werden: Kann sich die Bundesregierung denn ausschließlich darauf hinausreden und sagen, weil wir selber militärisch nicht intervenieren können, stellen wir auch keine derartigen Anträge an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, daß es dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland sogar schaden würde, wenn wir unter dem Gesichtspunkt, daß unsere Verfassung es nicht erlaubt, in Jugoslawien militärisch einzugreifen, die ganze Welt dazu auffordern, weil die deutsche Bevölkerung nicht mehr mit ansehen will, daß die Welt nicht eingreift. Es müßte die deutsche Bevölkerung dann bereit sein, vielleicht darüber nachzudenken, ob es nicht richtig wäre, unsere Haltung im Deutschen Bundestag zu ändern.
Ich muß Ihnen in diesem Zusammenhang auch sagen, daß Ihre Bemerkung unzutreffend ist, die Vereinten Nationen seien überaus passiv. Im Gegenteil, es gibt im früheren Jugoslawien bereits eine militärische Truppe zum Schutz der Hilfsgüter; sie ist angegriffen worden und hat bereits 20 getötete UNSoldaten zu beklagen. Also, von Passivität kann hier nicht die Rede sein.
Im übrigen darf ich noch eines dazu sagen: Wir sind zusammen mit den Franzosen dabei, in Bihac, das auch beschossen wird, alles zu tun, damit die Menschen dort den Winter unbeschadet überstehen. Zu diesem Zweck wird an die Einrichtung von Winterquartieren gedacht.
Noch einmal: Passivität ist im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen sicher nicht der richtige Ausdruck.
Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Herr Staatsminister, da Sie die Zurückhaltung der Bundesrepublik bei Forderungen nach einer militärischen Intervention im ehemaligen Jugoslawien mit verfassungsrechtlichen Restriktionen begründen, möchte ich Sie fragen, ob es bei der Position der Bundesregierung bleibt, die der Bundeskanzler in diesem Saal in einer Debatte vor einem Jahr verkündet hat, daß nämlich selbst dann, wenn es diese Restriktionen nicht gäbe, für die Bundesrepublik Deutschland aus historischen Gründen ein Einsatz deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien nicht in Frage kommt. Der Bundeskanzler hat damals gesagt, eine solche Forderung sei bar jeder politischen Vernunft. Steht die Bundesregierung noch dazu?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich stelle mit Überraschung fest, daß in dem Unterton Ihrer Frage eine deutliche Sympathie für die Äußerung des Bundeskanzlers zum Ausdruck kommt,
was ich hier nur unterstützen kann.
— Das freut mich natürlich, Herr Kollege. Aber wenn Sie mir erlauben, möchte ich jetzt die ins verfassungspolitische gehende Debatte noch urn einen Gedanken bereichern.
— Nun, die Verfassung spielt bei solchen Fragen, die Sie hier gestellt haben, immer eine Rolle.
Ich möchte nur darauf hinweisen, Herr Kollege Gansel, daß ich mir wünsche, daß der Deutsche Bundestag in Zukunft jeweils über Einsatz oder Nichteinsatz der deutschen Bundeswehr politisch entscheidet, dies möglicherweise dann in einer Situation, in der wir uns nicht mehr auf unsere Verfassung zu berufen brauchen, weil wir endlich den Mut haben, politische Entscheidungen zu treffen.
Bitte keine Dialoge!
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11085
Vizepräsident Hans Klein
Herr Kollege Mahlo, Sie haben das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, auf die Gefahr hin, als bar jeder politischen Vernunft angesehen zu werden, frage ich Sie, ob sich die Bundesregierung — bei allen anerkennenswerten Bedenken, die von Ihnen hier bereits vorgetragen worden sind — darüber im klaren ist, daß das, was im ehemaligen Jugoslawien passiert und hier täglich über die Bildschirme läuft, dazu führt, daß weder die Verbreitung des europäischen Gedankens noch der Glaube an die Managementfähigkeit der Politik in der deutschen Bevölkerung zunimmt, und glauben Sie, daß diese Überlegung in der Bundesregierung eine Rolle spielt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Bei den Überlegungen der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages — wenn ich es recht sehe, bei allen Fraktionen — haben von Anfang an große Sorge und große Betroffenheit über die Vorgänge im früheren Jugoslawien, die ja nicht wir ausgelöst haben und die wir nicht verhindern konnten, eine Rolle gespielt. Aber, Herr Kollege, Sie wissen so gut wie ich, daß die Schuld dafür — bei aller Betroffenheit auch in der deutschen Bevölkerung —, daß es bis heute noch nicht gelungen ist, diesen unsinnigen, grauenvollen Krieg zu beenden, nicht bei den europäischen Staaten liegt, sondern bei den Verursachern dieses Krieges zu suchen ist. Alle nur denkbaren Anstrengungen, die unternommen worden sind, um ihn zu beenden, blieben ohne den gewünschten Erfolg. Was bleibt, ist — das haben Sie angedeutet — möglicherweise eine militärische Intervention. Aber darüber können nicht wir — zumindest nicht allein — entscheiden, sondern dem müssen Entscheidungen der Vereinten Nationen vorausgehen. Ich halte sie nicht für ausgeschlossen.
Die Fragen 69 bis 78 sollten allesamt schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Fragesteller der Frage 79, der Kollege Klaus Kübler, ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 80 des Kollegen Norbert Gansel auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die außenpolitischen Implikationen des Verkaufs von U-Booten und Fregatten an Taiwan, und ist die Bundesregierung bereit, vor einer Genehmigung eines solchen Rüstungsgeschäftes den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsausschuß zu informieren?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesregierung liegt eine Voranfrage vom 25. November 1992 zu der Ausfuhr von U-Booten nach Taiwan vor. Diese Voranfrage wird derzeit von der Bundesregierung geprüft. Die Prüfung erfolgt im üblichen Genehmigungsverfahren. Ein Beschluß ist gegebenenfalls auf Kabinettsebene zu fassen. Eine Entscheidung über die Genehmigung für kommerzielle Rüstungsexporte fällt in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung.
Ich verweise in dem Zusammenhang darauf, daß eine frühere Voranfrage aus Taiwan vom 14. Februar — ich hatte Ihnen das in einer früheren Fragestunde schon beantwortet, und zwar in Form einer schriftlichen Antwort — negativ beschieden worden ist.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ich habe in meiner Frage 80 — wenn Sie noch einmal hineinschauen würden — gefragt:
Wie beurteilt die Bundesregierung die außenpolitischen Implikationen des Verkaufs von U-Booten und Fregatten an Taiwan, und ist die Bundesregierung bereit, vor einer Genehmigung eines solchen Rüstungsgeschäftes den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsausschuß zu informieren?
Also, ich habe nach den außenpolitischen Implikationen gefragt, z. B. danach: Wie reagiert China darauf? Was bedeutet das für die Bestellung von AirbusFlugzeugen? Wie beurteilen Sie die Spannungssituation zwischen China und Taiwan und in Südostasien überhaupt?
Die zweite Frage ist schlicht und einfach: Sind Sie bereit, den Auswärtigen Ausschuß vorher zu informieren?
Verzeihung, ist das jetzt noch die erste Zusatzfrage? Oder wollen Sie beide Zusatzfragen auf einmal stellen?
Nein. Aber ich darf doch in einer Zusatzfrage zwei Fragen stellen.
Wir sind fast am Ende der Fragestunde. Wenn Sie jetzt solche Fächerfragen stellen, Herr Kollege, dann wird es schwierig.
Herr Präsident, die Bundesregierung hat meine schriftlich gestellte Frage gar nicht beantwortet. Deshalb mußte ich sie noch einmal vorlesen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, daß alle die Punkte, die Sie gerade aufgezählt haben, auf schwerwiegende außenpolitische Implikationen eines solchen Geschäftes schließen lassen. Daher wird die Bundesregierung über etwaige außenpolitische Folgen einer so weitgehenden Entscheidung nachdenken. In dem Zusammenhang wird sie auch wirtschaftliche Konsequenzen zu berücksichtigen haben.
Zweite Zusatzfrage.
Verstehe ich Sie richtig, daß die Bundesregierung eine solche außenpolitische Abwägung noch nicht vorgenommen hat?
Ich frage noch einmal: Sind Sie bereit, vor der Genehmigung eines solchen Geschäfts den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages zu informieren? Ich sage nicht: die Genehmigung von seiner Entscheidung abhängig zu machen. Ich frage schlicht und einfach, ob Sie bereit sind, uns vor einer Entscheidung zu informieren, damit die nicht gefallen ist, wenn wir aus der Weihnachtspause zurück sind.
11086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann mir nicht vorstellen, daß die Bundesregierung die Ausschüsse in der Weihnachtspause informieren kann. Aber ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, daß die Exekutive, die hier das Vorrecht hat, Entscheidungen zu treffen, alle Bedenken, die es gibt — und die der Bundesregierung sehr wohl bewußt sind und ihr durch diese Fragestunde vielleicht noch bewußter werden, wenn sie ihr denn nicht schon bewußt wären — berücksichtigen wird. Ich gehe davon aus, daß die Prüfung der Bundesregierung auch die Auffassung des Parlaments berücksichtigen muß. Aber es ist ja nicht gesagt, daß die Prüfung zu einem positiven Ergebnis führt, so daß die Beschäftigung der Ausschüsse dann ganz überflüssig wäre.
Nächste Zusatzfrage, Kollege Dr. Klejdzinski.
Herr Staatsminister, kann ich davon ausgehen, daß die Bundesregierung neben der sehr wichtigen und vorrangigen Beurteilung der Lieferung von U-Booten unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten auch Überlegungen darüber anstellen wird, wie sich eine solche Entscheidung auf den einschlägigen Technologieerhalt und den Schiffbau in Deutschland auswirkt, u. a. in Kenntnis der Tatsache, daß Mitbieter in diesem Geschäft WEU-Staaten und Schweden sind?
Wir haben die Zeit für die Fragestunde bereits überschritten. Wenn Sie jetzt noch so breit angelegte Fragen stellen, dann kann ich den nachfolgenden Kollegen, die Zusatzfragen stellen wollen, das Wort nicht mehr geben. Ich bitte sie also, sich jetzt ganz kurz zu fassen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Sie gehen schon einen Schritt weiter, indem Sie jetzt sozusagen über die Nachsorge dieses Geschäftes sprechen, das noch gar nicht genehmigt ist. Von daher kann ich nur sagen: Wir sollten noch bei der ersten Stufe, nämlich den Ganselschen Fragen, bleiben, welche die Überlegung, ob geliefert werden soll oder nicht, einer kritischen Würdigung unterzogen. Sie gehen jetzt schon einen Schritt weiter und fragen: Wie verhalten wir uns dann, wenn geliefert ist? Ich kann Ihnen das nicht beantworten.
Herr Kollege Uldall.
Herr Staatsminister, wird die Bundesregierung bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen, daß schon heute, aber erst recht ab 1. Januar 1993, nach Beginn des Europäischen Binnenmarktes, eine Wettbewerbsgleichheit unter den EG-Staaten bei der Abgabe von Angeboten bestehen muß?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das ist eine komplizierte Frage. Wir haben ja, wie Sie wissen, bislang eine ganz besondere und historisch bedingte Haltung in der Frage von Rüstungsexporten eingenommen. Es ist ja denkbar, daß das Haus diese Richtlinien in Zukunft im Sinne einer von Ihnen angedeuteten Entwicklung ändern, mildern will. Das kann ich hier nicht beurteilen.
Ich kann nur sagen, daß wir gerade im Hinblick auf dieses sogenannte Geschäft natürlich auch sehr genau die Konsequenzen, die andere euorpäische Staaten auf Grund von Geschäften mit Taiwan bereits ziehen müssen, zu berücksichtigen haben.
Kollege Koppelin.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bei ihrer Entscheidungsfindung bereit, zu berücksichtigen, daß sich die SPD-Ministerpräsidenten Norddeutschlands also auch die Regierung Engholm, für dieses Geschäft mit Taiwan ausgesprochen haben?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Herr Gansel sagt zwar, das sei nicht wahr. Aber wenn es wahr wäre — und ich unterstelle, daß Sie das wissen, da Sie aus Norddeutschland kommen, Herr Kollege Koppelin —, kann ich nur sagen: Es wäre nicht neu; denn ich erinnere mich noch sehr wohl an das Zustandekommen dieser Richtlinie in der früheren Regierung von SPD und F.D.P. Führende Persönlichkeiten der Sozialdemokratischen Partei aus Norddeutschland wollten den sogenannten Sonderschiffbau von Rüstungsexporten immer ausgenommen haben, und dazu zählten natürlich auch gewisse im Krieg verwendbare Marineeinheiten.
Kollege Klein.
Herr Staatsminister, wird die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung auch berücksichtigen, daß dieses Projekt Teil eines Gesamtprojektes in einer Größenordnung von 12 Milliarden DM ist, das die taiwanesische Regierung für deutsche Werften vorgesehen hat, und daß damit die Werftenkrise an der Nordsee- und Ostseeküste überwunden werden könnte? Wird die Regierung ferner berücksichtigen, daß sich im Falle einer ablehnenden Entscheidung britische, französische, niederländische und schwedische Firmen als Auftragnehmer für das Gesamtprojekt bereithalten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir werden alle Besorgnisse im Hinblick auf dieses noch nicht getätigte Geschäft, von dem ich gesagt habe, es wird erst einer Prüfung unterzogen, berücksichtigen, eine Güterabwägung vornehmen und dann entscheiden.
Ich muß darauf hinweisen, daß uns bekannt ist, daß Vorstellungen, die von einigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages vertreten worden sind, die Proteste Chinas seien nicht so ganz ernst zu nehmen, man habe sich in China inzwischen auch gegenüber Frankreich — trotz Lieferungen Frankreichs nach Taiwan -- einer freundlicheren Sprache bedient, unzutreffend sind. Es hat beachtliche Konsequenzen auf der chinesischen Seite gegeben. Wir müssen uns darüber im klaren sein, welche Konsequenzen bei einer solchen Entscheidung in bezug auf den China-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11087
Staatsminister Helmut Schäfer
handel für — zum Teil norddeutsche — Unternehmen zu gewärtigen wären.
Nur als kleine Hilfskonstruktion, Herr Staatsminister: In der Bundespressekonferenz gibt es diese fabelhafte Antwort-Methode, zu sagen: Hypothetische Fragen können nicht beantwortet werden. — Aber dies hier ist ein anderer Fall.
— Das ist richtig, Herr Weng.
Herr Kollege Voigt, bitte.
Herr Staatsminister, abgesehen davon, daß Ihre Unterstellungen in bezug auf die norddeutschen SPD-Regierungschefs in dieser Form so nicht zutreffen,
und abgesehen davon, daß Ihre anderen Antworten relativ unklar waren, möchte ich fragen, ob Sie wenigstens auf die Frage des Kollegen Gansel klar antworten können, ob vor der Genehmigung eines solchen Geschäftes der Auswärtige Ausschuß und der Verteidigungsausschuß informiert werden.
— Darauf gab es keine klare Antwort; deshalb frage ich noch einmal, ob Sie eine klare Antwort auf die Frage nach der parlamentarischen Beteiligung geben können.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe bei meinen Antworten vielleicht nicht ganz Ihren Tonfall getroffen. „Sophisticated" — was ich ins Deutsche mit „verfeinert" übersetzen würde, ist möglicherweise nicht ganz Ihr Stil. Aber ich darf doch sagen: Es war ziemlich deutlich, auch im Unterton, zu hören, was die Bundesregierung an Besorgnissen des Bundestages zu berücksichtigen hat, bevor sie eine Entscheidung in dem Taiwan-Geschäft fällt. Ich darf Ihnen noch einmal sagen: Es ist noch gar nicht sicher, daß die Bundesregierung überhaupt zu einem Ergebnis kommt, das Sie befürchten.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen: Nicht ich, sondern der Kollege Koppelin hat von den norddeutschen Regierungschefs gesprochen. Ich dachte, was die seinerzeitigen Verhandlungen angeht, an Herrn Bahr und andere SPD-Kollegen aus dem norddeutschen Raum, die hier 1982 eine ähnliche Haltung eingenommen haben.
Kollege Adam.
Herr Staatsminister, wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit eines Strukturhilfefonds für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern, die im Zusammenhang mit dem Taiwan-Auftrag stehen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, jetzt überschreiten Sie die Grenzen des Auswärtigen Amtes wirklich gewaltig.
Ich würde diese Frage gern an meinen — nicht anwesenden — Kollegen Möllemann bzw, seinen Vertreter weitergeben, der das in der nächsten Fragestunde sicher beantworten kann.
Herr Staatsminister, ich danke Ihnen.
Die Fragestunde ist geschlossen.*)
— Das ist unsere Schwierigkeit, Herr Kollege Baum, daß wir es leider nicht nur nach „interessant" oder „uninteressant" einrichten können. Es täte uns allen manches Mal besser.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis c sowie die Zusatzpunkte 3 bis 5 auf:
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze
— Drucksache 12/3630 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung
— Drucksache 12/3803 --
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/3791 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
*) Die nicht aufgerufenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
11088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Vizepräsident Hans Klein
ZP3 Erste Beratung des von der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen
— Drucksache 12/3825 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
ZP4 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Heilung des Erwerbs von Wohnungseigentum
— Drucksache 12/3961 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Augustinowitz, Heribert Scharrenbroich, Wolfgang Vogt , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Zurheide, Klaus Beckmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Keine protektionistische europäische Regelung für die Einfuhr von Bananen
— Drucksache 12/3959 —
Überweisungsvorschlag : Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten EG-Ausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Der Regierungsentwurf zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze auf Drucksache 12/3630 soll noch dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an die übrigen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse ist bereits erfolgt.
Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 b bis 4h und 4j bis 4n auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer , Heinz-Günter Bargfrede, Dr. Wolf Bauer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Rege-
lung über die Anmietung von Kraftfahrzeugen im Werkverkehr nach dem Einigungsvertrag
— Drucksache 12/3577 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/3967 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rolf Niese
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 9. Dezember 1991 zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe
— Drucksache 12/2660 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
— Drucksache 12/3855 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Ehlers Dietmar Schütz
Josef Grünbeck
d) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes
— Drucksache 12/1867 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses
— Drucksache 12/3805 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Hauser
Dieter Heistermann
e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährleistung der Geheimhaltung der dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften übermittelten vertraulichen Daten — SAEGÜbermittlungsschutzgesetz —— Drucksache 12/2685 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/3912 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Meinrad Belle Johannes Singer
Dr. Burkhard Hirsch
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11089
Vizepräsident Hans Klein
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Adler, Dr. Liesel Hartenstein, Klaus Kirschner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbesserung der Situation bei Tiertransporten
— Drucksachen 12/2069, 12/3716 —
Berichterstattung: Abgeordneter Meinolf Michels
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Odendahl, Josef Vosen, Eckhart Kuhlwein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland
— Drucksache 12/3815 —
h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Odendahl, Josef Vosen, Eckart Kuhlwein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland
— Drucksachen 12/1983, 12/2949 —
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ursula Lehr
Stephan Hilsberg
Dr. Karlheinz Guttmacher
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Barbara Hö11 und der Gruppe der PDS/Linke Liste zur Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Finanzierung der Einheit und die Verteilung der Lasten
— Drucksachen 12/2235, 12/2840,
12/3760 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission
Ersuchen um Zustimmung des Rates und Anhörung des EGKS-Ausschusses, nach Artikel 55 § 2 c) des EGKS-Vertrags zum Entwurf einer Entscheidung der Kommission betreffend Untersuchungen zur Ermittlung des Bedarfs und der Strategien im Bereich der Wohnungen für Arbeitnehmer in den EGKS-Industriegebieten
— Drucksachen 12/2636 Nr. 2.17, 12/3762 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr.-Ing. Dietmar Kansy Dieter Maaß
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates, mit dem die Kommission ermächtigt wird, die Europäische Investitionsbank für Verluste zu entschädigen, die ihr aus Darlehen für Vorhaben in bestimmten Ländern außerhalb der Gemeinschaft entstehen
— Drucksachen 12/3240 Nr. 3.2, 12/3782 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
m) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1799/87 über die Sonderregelung zur Einfuhr von Mais und Sorghum nach Spanien für den Zeitraum 19871991
— Drucksachen 12/3182 Nr. 38, 12/3746 —
Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Koltzsch
n) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 81 zu Petitionen
— Drucksache 12/3859 —
Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 4 b: Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anmietung von Kraftfahrzeugen im Werkverkehr, Drucksache 12/3577. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/3967, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Keine. Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
11090 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Vizepräsident Hans Klein
Tagesordnungspunkt 4 c: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe, Drucksache 12/2660. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/3855, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 d: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes, Drucksache 12/1867. Der Verteidigungsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3805, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrats abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 4 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährleistung der Geheimhaltung der dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften übermittelten vertraulichen Daten, Drucksachen 12/2685 und 12/3912. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetz in der Ausschuß-fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt4 f: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der SPD zur Verbesserung der Situation bei Tiertransporten. Drucksachen 12/2069 und 12/3716. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 g und 4 h: Antrag der Fraktion der SPD zur Stärkung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in den neuen Ländern und im geeinten Deutschland, Drucksache 12/3815, sowie Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem entsprechenden früheren Antrag der SPD, Drucksachen 12/1983 und 12/2949. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3815 ist wortgleich mit der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 12/2949. Ich lasse deshalb über beide gemeinsam abstimmen. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Antrag und die Beschlußempfehlung sind angenommen.
Tagesordnungspunkt 4j: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Finanzierung der Einheit und zur Verteilung der Lasten, Drucksache 12/3760.
Dazu möchte die Kollegin Barbara Höll eine Erklärung zur Abstimmung abgeben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten abgeben, weil der Haushaltsausschuß am 12. November in Abwesenheit des Vertreters der PDS/Linke Liste, die begründet war und für die wir uns nicht zu rechtfertigen haben, über diesen Antrag der PDS/ Linke Liste abgestimmt hat.
Der dem Bundestag vorliegende Bericht des Haushaltsausschusses zum Entschließungsantrag der PDS/ Linke Liste ist jedoch geeignet, den Eindruck zu erwecken, auch der Vertreter der Gruppe PDS/Linke Liste hätte im Haushaltsausschuß für die Ablehnung des Entschließungsantrags gestimmt. Die im Bericht erwähnte Einstimmigkeit im Ausschuß muß also unbedingt relativiert werden. Deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet.
Meine Ablehnung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses erfolgt nicht nur, weil ich den Antrag der Abgeordnetengruppe, der ich angehöre, ohne jede Einschränkung für richtig und notwendig halte, sondern auch vor dem Hintergrund der Chemnitzer Erklärung der Kämmerer der kreisfreien Städte des Freistaates Sachsen vom 30. Oktober dieses Jahres.
Die Kämmerer der Städte Chemnitz, Dresden, Görlitz, Leipzig, Zwickau und Plauen haben, stellvertretend für die ostdeutschen Kommunen, alle politisch Verantwortlichen in Dresden und Bonn aufgefordert, ihren Kommunen finanziell unter die Arme zu greifen. Angesichts der nicht nur aus ihrer Sicht zögernden und unzureichenden Finanzhilfen des Bundes zur Erneuerung und zum Ausbau der kommunalen Infrastruktur fordern sie u. a. die mittelfristige Festlegung einer Investitionspauschale als Voraussetzung dafür, daß die Kommunen endlich in die Lage versetzt werden, perspektivische Investitionsentscheidungen in eigener Kompetenz, also tatsächlich in Selbstverwaltung zu treffen.
Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit Kämmerern anderer ostdeutscher Kommunen, daß die kommunale Investitionspauschale den besonderen Bedürfnissen der ostdeutschen Gebietskörperschaften entsprach.
Dem Deutschen Bundestag liegt seit dem 17. Juni der Antrag vor, den ostdeutschen Gemeinden 1993 eine kommunale Investitionspauschale in Höhe von 6 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen. Der Finanzausschuß lehnte diesen Antrag am 23. September ohne Aussprache mit den Stimmen der SPD ab. Am 24. November scheiterte im Plenum ein Änderungsantrag identischen Inhalts, der sich ausdrücklich auf diese Chemnitzer Erklärung bezog, an den Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD, ebenfalls ohne Aussprache.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11091
Dr. Barbara Höll
Wer so wie die CDU/CSU, die F.D.P. und die SPD abstimmt und jede Diskussion vermeiden will, und das übrigens nicht nur in dieser Frage, der möchte offenbar verhindern, daß der Widerspruch zwischen dem verbalen Bekenntnis zur besseren finanziellen Ausstattung ostdeutscher Kommunen und der schnöden, allein parteipolitisch und taktisch motivierten parlamentarischen Realpolitik deutlich wird. Ich kann im Interesse der ostdeutschen Kommunen dieser Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Es ist immer eine schwierige Sache mit dem § 31. Wie soll man plausibel machen, daß jemand sein Abstimmungsverhalten begründet, das vollidentisch mit seiner Gruppe oder seiner Fraktion ist, und dann dazu einen Debattenbeitrag leistet? Das ist keine Spezialität der PDS; das muß man fairerweise sagen. Aber die ungewöhnliche Langmut des amtierenden Präsidenten hat die Sache ja in diesem Fall zugelassen.
— Herr Weng, ich habe mich gelobt, um mir zu ersparen, Sie alle loben zu müssen, weil Sie es ja alle mit angehört haben.
Der Haushaltsausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/2840 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe? —Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 k: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu einer Mitteilung der EG zu Wohnungen für Arbeitnehmer, Drucksache 12/3762. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 41: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu einem Vorschlag der EG zur Entschädigung der Europäischen Investitionsbank, Drucksache 12/3782. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 m: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu einem Vorschlag der EG zur Änderung der Verordnung über die Sonderregelung zur Einfuhr von Mais und Sorghum, Drucksache 12/3746. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 n: Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/3859. Das ist die Sammelübersicht 81. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Menschenrechte
zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
VN-Menschenrechtsgerichtshof und Hochkommissar für Menschenrechte
— Drucksachen 12/1753, 12/1715, 12/3904 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Heribert Scharrenbroich
Volker Neumann
Ulrich Irmer
Gerd Poppe
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Friedrich Vogel das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte des Bundestags heute vormittag zum Rechtsradikalismus — im Anschluß an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers — hat uns vor Augen geführt, daß in der Welt um uns herum besorgt gefragt wird, ob das elementarste Menschenrecht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, für Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland hinreichend gewährleistet ist.
Das bekommen wir so schnell in die gegenwärtige Generation der Parlamentarischen Geschäftsführer nicht hinein, daß wir Debattenwortmeldungen gern schon einen Tag oder gar eine Woche vorher, was früher möglich war, vorliegen hätten. Das wird jetzt immer hier oben ausgemacht. Das hat auch seine Vorzüge, denn man kann es flexibler handhaben. Wenn allerdings die Gespräche darüber zu laut geführt werden, dann ist es für den Redner fast unmöglich, sich akustisch verständlich zu machen.
Ich bitte also darum, wenn Sie hier schon verhandeln müssen, das mit gesenkter Stimme zu tun.
Herr Kollege Vogel, fahren Sie bitte fort. Wir geben Ihnen die Zeit zu.
Ich beginne noch einmal, weil ich Ihnen sonst den Zusammenhang der Rede nicht ausreichend nahebringen kann.
Die Debatte des Bundestages heute vormittag zum Rechtsradikalismus — im Anschluß an die Regierungserklärung des Bundeskanzlers — hat uns vor Augen geführt, daß in der Welt um uns herum besorgt gefragt wird, ob das elementarste Menschenrecht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, für Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland hinrei-
11092 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Friedrich Vogel
chend gewährleistet ist. Wir kommen nicht darum herum, das am Tage der Menschenrechte heute mit in unsere Betrachtung hineinzunehmen.
Natürlich ist es ein gravierender Unterschied, ob Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Organen ausgehen — wie etwa Folter in Polizeigefängnissen — oder jedenfalls unter staatlicher Duldung geschehen oder ob sie ohne staatliches Hinzutun Gewaltakte von Privatpersonen sind.
Dennoch müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob der Staat bei uns seinen Schutzverpflichtungen gegenüber den bei uns lebenden Ausländern genügend nachgekommen ist.
Wenn jetzt bei uns über die Frage von Gesetzesverschärfungen und wirksameren Gesetzen diskutiert wird, dann sollten wir das auch in diesem Zusammenhang sehen.
Wichtiger scheint mir, daß uns die an uns gerichteten Fragen Veranlassung sind, darüber nachzudenken, ob wir nicht manches Mal zu schnell und zu vollmundig Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern anprangern, ohne uns mit der Gesamtheit der Umstände, unter denen sie geschehen, näher befaßt zu haben.
Sinn des Eintretens für den Menschenrechtsschutz überall in der Welt darf es ja nicht sein, es bei verbalen Protesten bewenden zu lassen.
Es muß immer darum gehen, einen Beitrag zur tatsächlichen und wirksamen Verbesserung des Menschenrechtsschutzes zu leisten. Vielfach ist das nur möglich, wenn das Bemühen eingebettet ist in eine Politik des Dialogs und der Kooperation, nicht zuletzt auch im wirtschaftlichen Bereich. Es muß versucht werden, die Chance des Einflußnehmens herzustellen.
Ein wichtiger Teil unseres Bemühens um wirksameren Menschenrechtsschutz ist unsere Mitarbeit an einer Verbesserung und Schärfung der Instrumente, die die Staatengemeinschaft mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den großen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen geschaffen hat.
Damit befaßt sich die zu dieser Debatte vorgelegte, im Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie von der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN erarbeitete und vom Auswärtigen Ausschuß zur Annahme empfohlene Beschlußempfehlung.
Diese richtet den Blick auf die im Mai 1993 stattfindende Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien und fordert die Bundesregierung auf, in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern einen Vorschlag zur Verbesserung des Menschenrechtsinstrumentariums der Vereinten Nationen zu erarbeiten, der folgenden Forderungen Rechnung trägt:
Erstens. An der Spitze der Forderungen steht die Errichtung eines Menschenrechtsgerichtshofes nach dem Vorbild des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg.
Zweitens. Seit langem ist der Vorschlag gemacht worden, bei den Vereinten Nationen nach dem Vorbild des Hohen Flüchtlingskommissars einen Hohen Kommissar für Menschenrechte zu bestellen. Diesem könnte u. a. die Befugnis eingeräumt werden, Menschenrechtsverletzungen vor den Menschenrechtsgerichtshof zu bringen.
Drittens. Wir schlagen darüber hinaus vor, alle bisherigen Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen, das Menschenrechtszentrum in Genf mitsamt seinen Beratenden Diensten und das System der Sonderberichterstatter unter gleichzeitigem Ausbau ihrer jeweiligen Kompetenzen dem UN-Menschenrechtskommissariat zuzuordnen. Daß das auch bedeutet, Herr Kollege Brecht, daß dann mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muß und daß die Mitgliedsländer ihre Beiträge entsprechend gestalten müssen, ist völlig richtig und von Ihnen soeben zutreffend bemerkt worden.
Viertens. Schließlich fordern wir die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs, der für die Ahndung besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen — ich nenne z. B. Völkermord, das, was wir gegenwärtig unter dem Stichwort „ethnische Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien erleben, sowie die massive Unterdrückung von Minderheiten — zuständig wird.
Niemand von uns gibt sich der Illusion hin, daß es leicht sein wird, diese Forderungen in den Vereinten Nationen durchzusetzen. Aber wir verlangen, daß diese Zielsetzung zu einem festen, dauerhaften und beharrlich verfolgten Bestandteil unserer Menschenrechtspolitik, vor allem der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung, gemacht wird.
Nicht nur das Menschenrechtsinstrumentarium der Vereinten Nationen wollen wir verbessern; unsere Aufmerksamkeit gilt in gleicher Weise der Verbesserung der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme.
Das uns besonders angehende Menschenrechtsschutzsystem des Europarats ist zweifellos das bisher wirksamste in der Welt. Seine Attraktivität kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß immer mehr Staaten den Beitritt zum Europarat beantragt haben oder voraussichtlich beantragen werden. Nach der Aufnahme von Ungarn, Polen, der CSFR und Bulgariens gehören inzwischen 27 Staaten dem Europarat an. Wir dürfen realistischerweise erwarten, daß die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11093
Friedrich Vogel
Zahl der Mitglieder auf 40 oder mehr Staaten anwachsen wird. In der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sind angesichts der Probleme, die sich daraus ergeben, zwei wesentliche Forderungen gestellt worden.
Erstens. Die Parlamentarische Versammlung hat das Ministerkomitee des Europarats aufgefordert, ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu beschließen, das die Grundsätze für einen wirksamen Minderheitenschutz aufstellt.
Zweitens. Sie hat darüber hinaus das Ministerkomitee aufgefordert, unverzüglich die notwendigen Schritte zur Reform des Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu dem vor allem die Menschenrechtskommission und der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gehören, einzuleiten, damit der erreichte hohe Standard des Menschenrechtsschutzes auch in Zukunft gewahrt werden kann.
Zu beiden Forderungen hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats detaillierte Vorstellungen beschlossen. Ich kündige an, daß wir dazu Anträge im Bundestag einbringen werden, in denen wir die Bundesregierung auffordern werden, für die Verwirklichung dieser Forderungen nachdrücklich im Ministerkomitee des Europarats einzutreten.
Unser Eindruck in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist der, daß wir, wenn diese Forderungen weiter auf Beamtenebene und nicht auf der politischen Ebene der Minister behandelt werden, noch lange auf die Verwirklichung warten müssen.
Deshalb verlangen wir, daß diese Forderungen auf der politischen Ebene der Minister behandelt und entschieden werden.
Was andere regionale Menschenrechtsschutzsysterne angeht, möchte ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß der Unterausschuß für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe beabsichtigt, Delegationen zum amerikanischen wie zum afrikanischen Menschenrechtsgerichtshof zu entsenden. Wir möchten diese regionalen Menschenrechtsschutzsysteme genauer kennenlernen und mit ihnen zu einem Gedankenaustausch darüber kommen, wie die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme verbessert werden können.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine relativ kurze Zeit für diese Debatte. Aber mir schien es wichtig, auf die relevanten Reformgesichtspunkte, Absichten und Zielvorstellungen hinzuweisen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie möglichst einmütig der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zustimmen würden.
Das Wort hat der Kollege Volker Neumann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In diesem Jahr scheinen mir am Tag der Menschenrechte leise und bescheidene Töne angemessen. Anlaß der Debatte ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. In Art. 14 dieser Allgemeinen Erklärung heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen." Ich kann nach der Praxis vergangener Jahre und den Debatten der letzten Tage nicht erkennen, daß wir diesem Anspruch gerecht werden.
Während wir uns in den Debatten der letzten Jahre vornehmlich mit der Menschenrechtssituation in anderen Ländern beschäftigen mußten, sitzen wir nun selber im Glashaus. Das hat zwangsläufig Auswirkungen auf Forderungen und Ansprüche, die wir gegen andere erheben.
Bisher haben Menschenrechtsverletzungen nahezu ausschließlich im Ausland stattgefunden. Es gab und gibt in zu vielen Ländern Folter und Unterdrückung, meist verübt durch diktatorische Regime. Heute aber steht auf den Transparenten bei Demonstrationen in unserem Land zu lesen: Menschenrechte in Deutschland! Das, was seit geraumer Zeit direkt vor unserer Nase geschieht, sind Verletzungen der Menschenrechte.
Mit ungleich größerer Energie müssen wir dagegen angehen, mehr als gegen die Menschenrechtsverletzungen im Ausland.
Natürlich besteht ein grundsätzlicher Unterschied — Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen — zwischen Menschenrechtsverletzungen, die durch die Staatsgewalt begangen werden, und solchen, die durch Privatpersonen und Gruppen verübt werden. Erstere sind ungleich gravierender und systematischer, die Situation für die Opfer ist viel auswegloser und rechtloser. Aber die Morde von Mölln und andere, die ihnen vorausgegangen sind und die folgten, müssen als schwere Menschenrechtsverletzungen betrachtet werden.
Zugegeben, es ist eine schwierige Aufgabe, dermaßen heimtückischen Verbrechen vorzubeugen. Aber aus der Sicht der Opfer ist das Ergebnis das gleiche, nämlich Feuer und Mord, Körperverletzung und Angst um die Existenz und das Leben. Es ist Aufgabe des Staates, die Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat sich auch die Bundesrepublik als Mitglied der Vereinten Nationen verpflichtet, die Verwirklichung der Menschenrechte durchzusetzen. Dazu zählt auch — offenbar muß man das immer wieder betonen — das in Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbriefte „Recht auf Sicherheit der Person". Wir haben immer selbstzufrieden gesagt: Der Schutz, den ein Asylland den Verfolgten gewährt, ist der Indikator für die Menschenrechtssituation. Zur Zeit
11094 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Volker Neumann
kann unser Staat diesen Schutz nicht in ausreichendem Maß gewähren.
Wir Menschenrechtspolitiker verweisen gern auf die Universalität der Menschenrechte. Diese Maßstäbe müssen auch bei uns angelegt werden. Menschenrechte sind universal. Das heißt, sie gelten für Deutsche und Nichtdeutsche, sie gelten im Ausland und in Deutschland gleichermaßen.
Wenn das israelische Parlament die rechtsextremistische Gewalt in Deutschland verurteilt, so ist das nur verständlich. Nicht nur aus israelischer Sicht trägt, wie „Die Zeit" zutreffend schreibt, der Fremdenhaß die Knospe des Antisemitismus. Wir begrüßen auch, daß der Menschenrechtsausschuß des türkischen Parlaments zu uns kommt. Aber wir hätten uns einen anderen Anlaß gewünscht. Die türkischen Kollegen nehmen das gleiche Recht in Anspruch wie wir. Schon oft haben wir mit ihnen über die Menschenrechtssituation in ihrem Land sprechen müssen, und wir werden das weiter tun.
Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die Außenpolitik und die Menschenrechtspolitik immer in engem Zusammenhang betrachtet.
Es stimmt: Unser Ansehen im Ausland ist durch die Vorfälle in unserem eigenen Land beschädigt. Aber wir haben nach wie vor die Pflicht und die Verantwortung, weiterhin aktiv die Menschenrechtsdefizite in anderen Ländern anzuprangern.
Das gilt nicht zuletzt für China. Nicht nur der gestern erschienene China-Bericht von amnesty international zeigt, daß sich die Menschenrechtslage in China in den letzten Jahren drastisch verschlechtert hat. Die Brutalität der Folterer ist unvorstellbar. Dabei haben sie keinerlei Konsequenzen für ihr Tun zu befürchten.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die Regierungskoalition zu dem nach meiner Einschätzung ungeheuren Zynismus fähig ist, am Internationalen Tag der Menschenrechte angesichts der Menschenrechtslage in China den Antrag einzubringen, die Sanktionen gegen China aufzuheben.
Herr Außenminister, wie verträgt sich eigentlich Ihr Versprechen, die Menschenrechte zum Schwerpunkt Ihrer Politik zu machen, mit diesem Antrag? Ist Ihnen nicht bewußt, daß China seit ungefähr 15 Jahren wirtschaftliche Reformen durchführt und in dieser Zeit jede noch so geringere Verbesserung der Menschenrechtssituation ausgeblieben ist? Haben wir nicht gelernt, daß wirtschaftliche Reformen eben nicht automatisch zur Verbesserung von Menschenrechtssituationen und demokratischen Prozessen führen?
Wer uns das glauben machen will, versucht, wahre Motive zu verbergen. Die bittere Wahrheit ist doch: Wirtschaftliches Wachstum läßt sich bis zu einem gewissen Grad sehr gut ohne Menschenrechte und politische Freiheiten bewerkstelligen. Es gibt keinen
Anlaß und keine moralische Rechtfertigung dafür, die Sanktionen aufzuheben, solange die in dem Antrag der Regierungskoalition erwähnten Veränderungen in China nur wirtschaftlicher Natur sind.
Von der chinesischen Regierung eine Verbesserung der Menschenrechtslage zu erwarten und zu erhoffen reicht nicht aus. Es muß dabei bleiben: Die Bundesrepublik darf zu Folterstaaten keine normalen Beziehungen haben.
Dialog ja, aber unmißverständlich müssen wir wie die USA und andere demokratische Staaten eine Verbesserung der Menschenrechtslage zur Bedingung machen.
Art. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen lautet:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen! Das gilt für die Staaten wie China, Irak, Burundi, Birma und Iran. Zuallererst und in vorderster Linie gilt das aber für uns selber.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerhart Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde in dem gemeinsamen Antrag der Fraktionen und der Gruppen eine gute Grundlage auch für meine Aufgabe als Leiter der deutschen Delegation bei der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Er liegt auf der Linie, die von Außenminister Genscher und jetzt von Außenminister Kinkel vertreten wird und die auch Gegenstand unserer Vorstöße bei der Menschenrechtskommission ist.
Ich habe mir auf der letzten Sonderkonferenz vor 14 Tagen, als ich wieder in Genf war, zu einer Konferenz zu Jugoslawien die Frage gestellt: Was ist das eigentlich für ein Instrument? Wie kann man damit arbeiten? Was bewirkt die seit 42 Jahren bestehende Kommission? Ich meine, es ist nicht viel, aber immerhin ein Anfang, und er hat sich in den letzten Jahren bewährt. Die Kommission kann die Wahrheit herausfinden. Das tut sie. Sie macht sie öffentlich, und sie verurteilt die Menschenrechtsverletzer. Dies ist eine wichtige Funktion. Sie wird jetzt deutlich durch den Sonderberichterstatter für Jugoslawien, Herrn Mazowiecki. Die Berichte haben eine Wirkung. Ich nenne nur die Berichte über die Lager oder über die Massenvergewaltigungen. Ich denke auch an andere Bereiche, an Kuba, Iran, China. Ich denke auch daran, welchen Einflüssen man auf der Konferenz ausgesetzt ist, Verurteilungen abzumildern oder zu vermeiden. Das moralische Gewicht ist vorhanden, und Sie müssen einkalkulieren, daß jetzt der Westen und der
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Gerhart Rudolf Baum
Osten gemeinsam beispielsweise Kuba verurteilen. Das ist auch eine Entwicklung, die vor drei Jahren noch nicht denkbar gewesen ist.
Wie kann das Instrumentarium verbessert werden? Es muß verbessert werden. Es ist unvollkommen und zahnlos. Ich halte es für dringend erforderlich, daß wir zunächst einmal die persönliche Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen festhalten, jetzt — am Beispiel Jugoslawien — diejenigen Leute namentlich feststellen, die Menschenrechtsverletzungen begehen — das ist möglich, das geschieht auch —, und daß wir ein internationales Register aufbauen, so daß die Verletzer, die Täter nicht davon ausgehen können, daß sie ungeschoren davonkommen, daß jedenfalls das, was sie getan haben, festgehalten wird.
Wir haben den Berichterstatter noch einmal ermuntert, das jetzt insbesondere in bezug auf Jugoslawien zu tun. Ich möchte auch hier noch einmal sagen, daß es wichtig ist, die Flüchtlinge — wir haben ja 275 000 im Lande — zu befragen, Herr Außenminister, um ein System zu schaffen, diese Informationen zusammenzubringen.
Ohne ein solches Register wird auch der zweite Vorschlag, den ich für sehr wichtig halte, nicht funktionieren können, die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs.
Hier sind die Vorbereitungen in der Völkerrechtskommission getroffen worden. Die Generalversammlung hat ein weiteres Mandat gegeben. Das geht langsam, außerordentlich langsam. Ich erinnere mich an die Gespräche, die ich im Frühjahr in Genf geführt habe. Die kühle Ablehnung auch unserer westlichen Freunde war unverkennbar. Durch Jugoslawien ist diese Ablehnungsfront etwas aufgeweicht worden. Es wird also nicht einfach sein, aber wir müssen diese Forderung stellen, damit wir ein Instumentarium schaffen, das die Täter zur Verantwortung zieht.
Das alles ist möglich, das alles kann nach unseren rechtsstaatlichen Vorstellungen geschehen. Die Vorbereitungen sind bestens gediehen.
Weiterhin ist es wichtig, daß wir die Administration bei den Vereinten Nationen in ihrer Ausstattung verstärken. Der Berichterstatter über Jugoslawien ist nicht annähernd dafür ausgestattet, das, was wir von ihm verlangen, auch auszufüllen. Wir unterstützen ihn, aber das reicht nicht. Und es reicht eben nicht, nur einen Hohen Kommissar dahin zu setzen — ich halte das für ganz wichtig —, wenn er nicht entsprechend ausgestattet ist, wenn er nicht die Mittel hat, die Erwartungen zu erfüllen, die wir an ihn richten. Das heutige Sekretariat ist bisher gar nicht in der Lage, seine Arbeit zufriedenstellend zu leisten.
Und schließlich der Menschenrechtsgerichtshof: Wir stellen uns ein aus unabhängigen Richtern zusammengesetztes Gremium vor, bei dem Einzelpersonen Klage einreichen können wegen der Verletzung der im Zivilpakt festgelegten Menschenrechte, also nicht den Internationalen Gerichtshof, sondern ein Gremium, das sich am Zivilpakt orientiert. Es genügt eben nicht, nur die Völkerrechtsverletzungen und die Verletzungen in Form von Kriegsverbrechen festzuhalten. Wir brauchen daneben — das ist rechtlich eine andere Kategorie — auch Sanktionen für eigentliche Menschenrechtsverletzungen, über die wir ja heute reden.
Ich meine, daß wir noch in anderer Weise das Instrumentarium schärfen müssen. Wir haben in der Kommission keinen Dringlichkeitsmechanismus. Was wir jetzt machen, zwei Sondersitzungen, in 42 Jahren die ersten überhaupt in diesem Jahr, geschieht nicht auf einer sehr festen rechtlichen Grundlage. Wir müssen mit diesem Instrumentarium schneller reagieren können. Wir brauchen also eine Verbesserung des Dringlichkeitsmechanismus. Auch dies wird eine Aufgabe der Konferenz von Wien im nächsten Jahr sein, die wir in enger Abstimmung mit den Menschenrechtsorganisationen vorbereiten sollten. Denn eine Eigentümlichkeit der Kommission in Genf ist es, daß die Nichtregierungsorganisationen vertreten sind, daß man immer wieder Debatten erlebt zwischen den Vertretern der Opfer und den Vertretern der Staaten, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Es ist außerordentlich wichtig, daß dies geschieht, daß sich die Staaten diesem Forum stellen müssen.
Auch ich möchte darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß wir jetzt — ich habe das auch persönlich gespürt —, aus der Sicht einer Reihe von Staaten in die Rolle des Angeklagten kommen. Mehrfach geriet die deutsche Delegation in den Ausschüssen der Generalversammlung in diesem Jahr in eine Defensivposition, in der es notwendig wurde, die negativen Entwicklungen in Deutschland objektiv darzustellen. Ich meine auch, daß es wichtig ist, dies zu sehen. Sollte es nicht gelingen, die fremdenfeindlichen Aktionen zu beenden und ein anderes Klima in unserem Lande herzustellen, dann wird unsere Rolle sehr viel schwieriger werden. Daran ist gar kein Zweifel; das wird der Außenminister sicher bestätigen.
Es geht bei der Verteidigung der Menschenrechte, meine Damen und Herren, um uns selbst und unsere zivilisatorischen Werte. Auch wenn wir wissen, daß Menschenrechte nicht zum alleinigen Maßstab der Beziehungen zwischen den Völkern gemacht werden können, darf jedoch niemals der Eindruck entstehen, daß sie hinter anderem, beispielsweise wirtschaftlichen Interessen, zurückstehen. Ich meine wie Sie, Herr Kollege Vogel, daß wir unsere Beziehungen zu Staaten nutzen müssen, gerade auch für Menschenrechte einzutreten.
Ich halte diesen Antrag für eine sehr wichtige Unterstützung des Parlaments auf dem sicherlich sehr schwierigen Weg, das Instrumentarium griffiger zu machen, wirkungsvoller zu machen. Aber wir sollten
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Gerhart Rudolf Baum
die Regierung ermutigen, mit allem Nachdruck auf diesem Wege fortzuschreiten.
Ich erteile der Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Debatte zum Thema Menschenrechte zu führen gibt es mehr als einen guten Grund. Der Tag der Menschenrechte als formaler Anlaß und die aktuelle internationale Lage als besorgniserregender Hintergrund machen es auch aus meiner Sicht mehr als notwendig, daß wir uns hier mit diesen Problemen auseinandersetzen. Die vorliegenden Anträge und Beschlußempfehlungen sprechen ein dringendes Problem an. Ihre Lösungsansätze greifen jedoch zu kurz.
Lassen Sie mich erklären, wo aus meiner Sicht die Probleme liegen. Die Beschlußempfehlung geht davon aus, daß die bisherigen Verfahren und Institutionen zur Achtung der Menschenrechte und zum Schutz von Minderheiten nicht ausreichen. Die Lösung wiederum besteht in der Weiterentwicklung dieser Verfahren und Institutionen und der Einführung ihrer völkerrechtlichen Verbindlichkeit.
Der 1966 von der UNO-Vollversammlung verabschiedete Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte kann spätestens seit 1976 völkerrechtliche Verbindlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Er wurde bis 1990 von 89 Staaten ratifiziert, darunter einige notorische Folterregime, von 75 Staaten noch nicht unterzeichnet und von 5 Staaten unterzeichnet, aber nicht ratifziert. Ein ähnliches Bild bietet sich bei anderen internationalen Vereinbarungen und Konventionen. Das Problem sind also nicht fehlende Vereinbarungen, sondern die Möglichkeiten ihrer Umsetzung. Die Schaffung neuer Strukturen innerhalb des bestehenden Systems internationaler Organisationen stellt aus meiner Sicht keine sehr perspektivreiche Lösung dar.
Was in erster Linie fehlt, ist der politische Wille, einen Teil nationalstaatlicher Kompetenz an eine globale Struktur abzutreten, die in der Lage sein sollte, bestehende Völkerrechtsnormen ohne Rücksichtnahme auf die wirtschaftliche, politische und militärische Potenz der einzelnen betroffenen Länder durchzusetzen. Weder UNO noch UN-Sicherheitsrat sind in ihrer jetzigen Funktions- und Organisationsweise für diese Aufgaben geeignet. Das ergibt sich schon aus der Dominanz der wirtschaftlichen Großmächte in diesen Strukturen. Kompetenzerweiterung ohne grundlegende Demokratisierung der Wirkungsweise macht also keinen Sinn. Dies gilt analog für die angeregte Schaffung eines UN- Menschenrechtsgerichtshofes und eines Hochkommissars für Menschenrechte.
Ich sage nicht, daß nicht mehr für die Durchsetzung der Menschenrechte aller drei Generationen getan werden muß, wenn es auf Dauer ein friedliches Zusammenleben in dieser einen Welt geben soll. Angesichts des Umgangs mit dem oder, besser gesagt, des Mißbrauchs und der Instrumentalisierung des Begriffs Menschenrechte in der internationalen und bundesdeutschen Politik habe ich allerdings erhebliche Bedenken bei der Bewertung der vorliegenden Anträge.
Die Achtung der Menschenrechte als wichtige Bedingung für die Vergabe von Entwicklungshilfe wurde in den letzten Monaten immer wieder betont. Parallel dazu werden aber genau diese Kriterien von der bundesdeutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik ignoriert und unterlaufen. Auf der Strecke bleiben die Glaubwürdigkeit und der moralische Anspruch der Bundesrepublik, in vornehmlich wirtschaftlich abhängigen Staaten auf die Einhaltung völkerrechtlich verbindlicher Normen zu dringen.
Auch die aktuellen innenpolitischen Probleme in diesem unseren Land sind im Moment nicht dazu angetan, Deutschland besonders als Verteidiger von Menschenrechten zu autorisieren. Was in den letzten Monaten unter den Stichworten „Ausländerfeindlichkeit", „Rassismus" und „Asyldiskussion" gelaufen ist, fällt vielmehr durchaus unter den Begriff „Menschenrechtsverletzungen".
Ein weiteres Manko der vorliegenden Anträge: Der Blick auf die Ursachen massiver Menschenrechtsverletzungen in zahlreichen Ländern, ihre bedrohliche Zunahme und Eskalation bleibt ausgespart. Mit Strafe, Zwang und Einmischung wird Erscheinungen unzureichend begegnet, werden Ursachen jedoch nicht berührt. Ich denke, auch das sollte man in Betracht ziehen.
Noch ein Wort zur geforderten Aufhebung des Prinzips der Nichteinmischung: Ich bin durchaus der Meinung, daß Einmischung im Sinne der Verteidigung von Menschenrechten legitim und erforderlich sein kann. Allerdings ist bis jetzt nirgendwo verbindlich fixiert, daß dieses Recht nicht nur von Nord nach Süd oder von West nach Ost oder von reich zu arm funktionieren muß, sondern im Bedarfsfalle auch umgekehrt.
Völlig ungeklärt ist, wie weit Einmischung gehen darf. Gewalt hat viele Formen. Militärische Gewalt ist nur eine, wenn auch die offensichtlichste Spielart.
In diesem Zusammenhang sind viele Probleme offen bzw. nicht zu Ende durchdacht und diskutiert. Das Anliegen der Verteidigung der Menschenrechte und des Schutzes von Minderheiten ist zu unterstützen. Die vorliegende Beschlußempfehlung wird den angesprochenen Problemen aber nicht gerecht.
Daher werde ich diesen Anträgen keine Zustimmung geben können und mich der Stimme enthalten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Gerd Poppe das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem Jahr ließ uns die Menschenrechtsdebatte im Deutschen Bundestag hoffen, daß das oft beschworene Primat
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Gerd Poppe
der Menschenrechte sowohl die außen- als auch die innenpolitische Praxis stärker als in früheren Zeiten bestimmen würde. Wir sahen uns trotz aller politischen Differenzen ermutigt, den hohen Stellenwert der Menschenrechte durch gemeinsame interfraktionelle Initiativen deutlich zu machen.
Auch seitens der Bundesregierung gab es begrüßenswerte Ansätze, z. B. durch den vom Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit verkündeten Anspruch, Entwicklungshilfe an Verbesserungen der Menschenrechtspolitik der Nehmerländer binden zu wollen.
So fiel es unserer Gruppe z. B. überhaupt nicht schwer, unseren damals eingebrachten eigenen Antrag zur Einrichtung eines Menschenrechtsgerichtshofes und eines Hochkommissariats für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen mit den entsprechenden Vorstellungen von Koalition und SPD zu einem gemeinsamen Antrag zusammenzufassen, über den ja der Kollege Vogel ausführlich berichtet hat.
Zu dieser Praxis, parteipolitische Barrieren zu überwinden und durch einen hohen Grad an Gemeinsamkeit eine effizientere Durchsetzung elementarer Menschenrechte zu ermöglichen, bekennen wir uns auch weiterhin. Jedoch bietet die kritische Bestandsaufnahme eines Jahres genug Anlaß, am Erfolg solcher Bemühungen zu zweifeln, und dies nicht nur wegen der dramatischen Zunahme terroristischer Gewalttaten und kriegerischer Auseinandersetzungen, sondern auch wegen der Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz der Politik der Bundesregierung. Der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist für uns oft nicht mehr nachvollziehbar.
Die Bemühungen des Bundesaußenministers um Einzelfälle im Rahmen der sogenannten stillen Diplomatie, z. B. in China, gehören zu den Selbstverständlichkeiten seiner Amtsausübung. Ihr Vorgänger, Herr Minister Kinkel, hat sie über viele Jahre hinweg erfolgreich praktiziert, ohne sie als Durchbruch in Menschenrechtsfragen überzubewerten.
Ein hinreichender Beleg für eine glaubwürdige und erfolgreiche Menschenrechtspolitik sind sie nicht, zumal dann nicht — um beim Beispiel China zu bleiben —, wenn öffentlich festgestellt wird, die Beziehungen seien normalisiert, obwohl sich die dortigen Verhältnisse seit dem Massaker von 1989 nicht verbessert haben.
Wenn, wie zu erwarten ist, die Mehrheit dieses Hauses es ablehnen wird, an den seinerzeit beschlossenen Sanktionen festzuhalten, dann bedeutet das, daß die Interessen der deutschen Wirtschaft für die Regierungskoalition von größerem Gewicht sind als die Leiden des chinesischen Volkes. Dann bedeutet das auch, daß Folter und öffentliche Hinrichtungen, die weitere Existenz der mit dem sowjetischen GULAG vergleichbaren Gefangenenlager sowie die anhaltende Unterdrückung der Tibeter auf lange Sicht die Bestandteile der sogenannten Normalität des deutschen Verhältnisses zu China sein werden.
Die Behauptung, wirtschaftliche Liberalisierung würde zwangsläufig zum Ende der Unterdrückung führen, wird auch durch häufige Wiederholungen nicht zutreffender.
Sie widerspricht nicht nur jeder Erfahrung mit stalinistischen Diktaturen, sondern bedeutet zugleich eine Absage an eine aktive deutsche Menschenrechtspolitik.
Diese Politik vermisse ich auch gegenüber der Türkei, um noch ein anderes Beispiel zu nennen. Noch vor wenigen Monaten haben wir die dortigen Bemühungen um eine Justizreform gewürdigt. Inzwischen ist auf Betreiben Özals und anderer Politiker, die weiter auf das hergebrachte Muster von Terror und Gegenterror setzen anstatt auf die Akzeptanz der Minderheitenrechte, das Kernstück dieser Reform zunichte gemacht worden. Es wird also während einer 15- bzw. 30tägigen Polizeihaft weiter gefoltert werden. Es wird weiter unaufgeklärte Mordanschläge auf kritische Journalisten geben. Dennoch spricht die Bundesregierung — einzig auf Ankündigungen und von der Realität längst widerlegte Behauptungen der türkischen Regierung gestützt — von der Verbesserung der Lage.
Glaubwürdigkeit in Menschenrechtsfragen wird allerdings nur erreichbar, wenn auch Verbündete von Kritik nicht ausgenommen werden. Das gilt natürlich gegenseitig, was spätestens seit Mölln offenkundig geworden ist. Wer menschenverachtenden Gewalttätern nur zögerlich entgegentritt, sich angesichts nationalistischer Tendenzen und rechtsextremistischer Aktivitäten opportunistisch verhält oder gar auf politischen Terraingewinn spekuliert, indem er Grundrechte im eigenen Land einschränkt, wird im Ausland unglaubwürdig, wenn er dort die Einhaltung der Menschenrechte einklagen will.
Die Zurücknahme von Sanktionen gegenüber einem diktatorischen Regime und die Relativierung des Grundrechts auf politisches Asyl sind zwei Bestandteile der gleichen Negativbilanz. Sie sind Indizien für den Rückschlag, den die deutsche Menschenrechtspolitik innerhalb eines Jahres erlitten hat.
Herr Kollege Heribert Scharrenbroich, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Terroristen müssen wissen, daß ihre Verbrechen unnachsichtig verfolgt und geahndet werden. Das ist eigentlich der Klammersatz zwischen heute morgen und dem Thema heute nachmittag. Das gilt nämlich für Terroristen im Gewande staatlicher Machthaber im Ausland ebenso wie für die Cliquen der Rechtsterroristen, die zur Zeit in unserem Land ausländischen Mitbürgern und Asylbewerbern Angst und Schrecken einjagen und vor Mord nicht zurückschrecken.
Dazu hat sich heute in einer sehr nachdenklich stimmenden Rede der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung geäußert, ebenso die Fraktionen dieses Hauses.
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Heribert Scharrenbroich
Ich gebe unumwunden zu, angesichts dieser Verbrechen in unserem Lande ist es natürlich für deutsche Politiker schwieriger, sich für die Eindämmung von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern zu engagieren. Und trotzdem sind wir dazu aufgerufen. Sicher müssen wir noch sensibler, aber nicht minder eindeutig reagieren. Wir nehmen die Mahnungen aus dem Ausland ernst, aber wem geht es nicht so, daß wir natürlich manches auch als ungerecht empfinden, wenn einige ausländische Politiker oder Medien nur ein vergröberndes Bild von der Bundesrepublik zeichnen, wenn sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, wie die Bevölkerung und die demokratischen Kräfte sowie die Institutionen unseres Landes gegen diese rechtsterroristischen Anschläge auf die hier lebenden Menschen und unseren Rechtsstaat vorgehen?
Wir sollten, meine ich, für unser internationales Menschenrechtsengagement vor allem zwei Lehren aus dem ziehen, was hier passiert und was uns jetzt widerfährt:
Erstens müssen wir stärker nach den Ursachen für Menschenrechtsverletzungen fragen. Wir müssen uns bemühen, die Ursachen zu beheben, und dabei anderen Nationen helfen.
Wir haben uns als Europäer, glaube ich, manchmal eine sehr verkürzte Menschenrechtsargumentation zugelegt, bei der wir schon zufrieden sind, wenn die formalen juristischen Bedingungen erfüllt sind, wenn die positiven Gesetze eingehalten werden. Aber „Menschenrechte" bedeutet mehr; das hat auch etwas mit Stillen von Hunger und mit Beseitigung von Unrecht und Ungerechtigkeit zu tun.
Zweitens glaube ich — das sollte uns auch die jetzige Lage lehren —: Wir müssen stärker unterscheiden, wo Regierungen und Machthaber Terror gegen Menschen zulassen oder sogar verantworten und wo Regierungen es trotz großer Anstrengungen nicht schaffen, Rechtssicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in ihrem Land herzustellen.
Diese Regierungen bedürfen unserer Unterstützung, nicht unserer Ausgrenzung. Ich bitte die Bundesregierung, dies bei der Anwendung ihrer Kriterien für Entwicklungshilfe stärker in Rechnung zu stellen.
Herr Neumann, ich glaube, es ist nicht zynisch, wenn wir hier heute über den China-Antrag debattieren. Ich glaube, es ist ehrlich. Deswegen haben wir über ihn auch gerade heute debattieren wollen. Es ist mir wichtig, daß wir mit gleicher Elle messen. Das heißt aber nicht, daß wir bei jedem Land die gleiche Methode anwenden. Wir müssen — so richtig unsere Entschließungen nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren — auch die Frage beantworten, wie vielen Menschen wir damit geholfen haben. Ich bin froh, daß wir damals diese klaren Beschlüsse gefaßt haben. Aber in der jetzigen Phase müssen wir uns fragen: Wie können wir mehr Menschen helfen? Da glaube ich schon, daß es nicht zu leugnen ist, daß wir wenn wir jetzt die Türe zuließen oder gleich wieder zuschlagen würden, dann keinen Einfluß mehr hätten. Eine engere Kooperation mit der Volksrepublik China fördert meiner Ansicht nach eher die Respektierung der Menschenrechte und die Gewährung von Rechtssicherheit. Herstellen werden wir sie dadurch nicht.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben die immer notwendige Frage aufgeworfen, ob und wie vielen Menschen wir seinerzeit durch unseren Protest geholfen haben. Ist es nicht in jedem Fall auch eine ungeheuer wichtige Hilfe, daß Menschen das Signal bekommen, daß andere von ihrem Elend oder ihrem Leid wissen? Ist dieses Wissen an sich — das ist meine Frage an Sie — nicht auch schon eine Hilfe für die — in diesem Fall in China — Unterdrückten?
Es ist sicherlich, Herr Kollege, eine wichtige Hilfe für diejenigen, die unsere Debatten verfolgen können. Aber für diejenigen, die in den Verliesen liegen und nichts von dem erfahren, was wir hier sagen, ist das keine Hilfe. Ich muß differenzieren und abwägen.
Ich wiederhole meinen Eingangssatz: Terroristen müssen wissen, daß ihre Verbrechen unnachsichtig verfolgt und geahndet werden. Ich wiederhole: Das gilt auch für Terror staatlicher Machthaber. Deswegen unterstreiche ich besonders die Eingangssätze der Beschlußempfehlung, zu der ich Sie um Zustimmung bitte. Ich zitiere:
Die Universalität der Menschenrechte verlangt, daß die Forderung nach Achtung der Menschenrechte und dem Schutz von Minderheiten nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückgewiesen werden kann. Die internationale Staatengemeinschaft muß das Instrumentarium fortentwickeln, das eine Ahndung von Menschenrechtsverletzungen notfalls auch gegen den Willen des betroffenen Staates ermöglicht.
Menschenrechte sind heute keine innerstaatliche Angelegenheit mehr. Das ist eigentlich das Leitmotiv der internationalen Menschenrechtspolitik. Die Nichtbeachtung von Minderheitenrechten und Menschenrechtsverletzungen, insbesondere hervorgerufen durch Kriege und Bürgerkriege, wie sie zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien oder in Somalia stattfinden, lösen Vertreibung und Flüchtlingsströme großen Ausmaßes aus. Die Lage in Somalia und Jugoslawien zeigt, daß die Problematik der Menschenrechtssituation ein solches Ausmaß erreichen kann, daß sogar begrenzte militärische Aktionen zur Sicherung humanitärer Hilfsaktionen notwendig werden.
Für meine Fraktion sage ich: Es wird immer unerträglicher, daß sich Deutschland auf Grund der bizar-
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Heribert Scharrenbroich
ren und absurden Diskussion hierzulande nicht an solchen Aktionen beteiligen kann.
Wir setzen uns in allen internationalen Gremien für die Durchsetzung dieses Leitmotivs internationaler Menschenrechtspolitik ein: im Europarat, wie es Kollege Vogel eben darstellte, in der KSZE, in der Interparlamentarischen Union oder in den Vereinten Nationen. Herr Bundesaußenminister Kinkel hat in seiner Antrittsrede in der letzten UNO-Vollversammlung auch diese unsere Botschaft verdeutlicht. Ich danke Ihnen, daß Sie sich vor den Vereinten Nationen auch für die Schaffung der Institutionen eingesetzt haben, die — diese Auffassung kommt auch in der heute zu verabschiedenden Entschließung zum Ausdruck, die ja schon lange in der Diskussion ist — zum Schutz der Menschenrechte neu werden eingerichtet werden müssen. Sie sind hier bereits genannt worden: der Menschenrechtsgerichtshof, ein Hoher Kommissar für Menschenrechte, ein Strafgerichtshof und ein Codex über Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschen.
Aber wir müssen genauso deutlich sagen: Den Menschen, die jetzt, während wir hier debattieren, ausgehungert werden — ich sage nicht „hungern" oder „verhungern", sondern sie werden ausgehungert —, Menschen, die in dieser Stunde bestialisch gefoltert werden, die in diesen Tagen von der Kriegsfurie umgebracht werden, hilft das nicht mehr.
Die in diesen Tagen praktizierten massenweisen Vergewaltigungen von Frauen im ehemaligen Jugoslawien werden durch rein rhetorische Entschließungen nicht verhindert, auch nicht, wenn die Regierungen, die Vereinten Nationen die Anlage von Strafregistern unterstützen, die eine spätere Strafverfolgung derjenigen, die diese bestialischen Verbrechen begehen, ermöglichen. Das hält die Furie, die zur „Säuberung" in Bosnien-Herzegowina systematisch eingesetzt wird, nicht auf, leider nicht. Trotzdem ist es notwendig, daß es gemacht wird. Wir hoffen, daß Menschen, die zu solchen Verbrechen fähig sind oder sich dazu verleiten lassen, künftig wissen, daß sie irgendwann mit Namen registriert und bestraft werden.
Natürlich danken wir der Bundesregierung und den Bundesländern dafür, daß sie sich in beispielhafter Form bemühen, durch einen deutschen Beitrag und durch Mobilisierung der Weltgemeinschaft die Menschen aus den Kriegsgefangenenlagern herauszuholen. Von den 6 600 Menschen in Kriegsgefangenenlagern sollen, so wurde mir gestern berichtet, 1 000 nach Deutschland kommen. Großbritannien hat seine Quote von 150 auf 1 000 erhöht. Ich bedanke mich für die Diskussionen, die dafür notwendig waren, Herr Minister. Aber 1 500 dieser Menschen, die bekanntlich unter den unsagbarsten Umständen gefangengehalten werden, haben noch kein Aufnahmeland, bis gestern jedenfalls nicht. Es ist in der Tat eine Schande für Europa, wie Mazowiecki sagt, wie lange es dauert, bis diese Gefangenenlager aufgelöst werden.
Auch das sollte ein Thema des Edinburgher Gipfels sein. Ich bin sicher, daß die Bundesregierung dies einführt.
Wir stehen ohnmächtig vor Wut vor der Feststellung, daß in UNO-Resolutionen Völkermord zum x-ten Mal verurteilt und richtigerweise sogar als Bedrohung des Weltfriedens definiert wurde, daß dieser Völkermord aber im ehemaligen Jugoslawien zugelassen wird.
Wir müssen die Frage beantworten: Wie viele Menschen müssen in Jugoslawien noch umgebracht werden, bis sich die Weltgemeinschaft endlich zu militärischen Aktionen aufrafft? Das fragen uns die Bürger draußen Tag für Tag.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Nein. — Jeder weiß, daß dieses Massaker nur durch militärische Interventionen beendet werden kann. Wir sind sicher: Gestern war es Kroatien, heute ist es Bosnien-Herzegowina, morgen ist der Sandschak oder der Kosovo. Wie lange sollen wir noch warten?
Ich füge hinzu: Wir Deutschen können diese Frage nur ganz leise stellen. Man glaubt uns nicht, wenn wir uns hinter unserem Grundgesetz verschanzen und nur die anderen zu einer militärischen Intervention auffordern. Das ist wenig glaubwürdig. Genau das war im Hearing aus Anlaß der Massenvergewaltigung von Frauen die immer wiederholte Frage von Menschenrechtsorganisationen, die gar nicht so sehr im rechten Spektrum angesiedelt sind: Wann ist die Weltöffentlichkeit und auch die Bundesrepublik endlich bereit, hier zu intervenieren?
War Ihre Absage, Fragen zu beantworten, eine grundsätzliche, Herr Abgeordneter Scharrenbroich?
Nein, nur bezogen auf die Passage.
Bitte schön!
Herr Kollege, Sie haben als Grund der deutschen Zurückhaltung die Grundgesetzlage genannt. Sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß sich ein militärisches Eingreifen deutscher Soldaten in Jugoslawien aus historischen Gründen grundsätzlich verbietet?
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Erstens würde ich dem grundsätzlich so nicht zustimmen. Zweitens ist es zunächst einmal eine generelle Diskussion. Wir haben nicht das moralische Recht, von anderen Ländern zu verlangen, daß sie ihre Söhne in diese Gefahr schicken, wenn wir uns hinter dem Grundgesetz verschanzen.
Der Abgeordnete Oostergetelo hat noch einmal darum gebeten, eine Zwischenfrage stellen zu dürfen.
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, ich hatte mich bei Ihrer vorigen Passage gemeldet. Ich teile Ihre Meinung, daß der Zustand schrecklich ist, den Sie beschrieben haben. Außenpolitiker aus Polen, Frankreich und Deutschland haben hier nach dem Vortrag des polnischen Ministerpräsidenten a. D. gesagt, man sollte sehr schnell dafür sorgen, daß etwas geschieht. Ich habe gestern und heute noch immer nicht in Erfahrung bringen können, ob diese von allen Parteien und von den drei Staaten gewollte Hilfe exekutiert wird oder ob wir wieder bis nach Weihnachten warten. Ich habe es nicht in Erfahrung bringen können, obwohl man mir gestern gesagt hat, auch im Kabinett sei darüber geredet worden. Können Sie mir da weiterhelfen? Denn ich teile die Sorgen, die Sie in der vorigen Passage genannt haben.
Ich glaube, dazu wird sich sicherlich der Herr Außenminister äußern, wobei ich dem Herrn Außenminister — sicherlich auch in Ihrem Sinne, Herr Kollege — mit auf den Weg gebe: Wenn das stimmt, was ich heute in der Zeitung gelesen habe, nämlich daß man sich Mitte Januar mit den Fraktionen über dieses Thema unterhalten will, dann halte auch ich das für zu spät.
Meine Damen und Herren, ich möchte schließen, indem ich nicht nur an das erinnere, was zur Stunde in Skandinavien stattfindet, daß Frau Rigoberta Menchú den Friedensnobelpreis bekommt, und damit in die Weltöffentlichkeit gerät, welche Menschenrechtsverletzungen gerade bei indigenen Völkern stattfinden, sondern ich möchte voller Trauer auch daran erinnern, daß wir uns im vergangenen Jahr für die damalige Nobelpreisträgerin Frau Aung San Suu sehr engagiert hatten und daß dieser Frau immer noch unter unmenschlichen Verhältnissen ihre Freiheit vorenthalten wird. Auch ihrer sollten wir an diesem Tage gedenken.
Danke schön.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rudolf Bindig.
Herr Präsident! Herr Kollege, wir warten natürlich noch auf Ihren Textvorschlag für die Neufassung des Grundgesetzes, wie man die
Bundeswehr für humanitäre Aktionen und zum Schutz humanitärer Aktionen einsetzen kann. Wir warten auf den Textvorschlag der Bundesregierung und der Koalition.
Wenn wir uns am Tage der Menschenrechte mit der Lage der Menschenrechte in der Welt und der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung beschäftigen, so liegen die Problemstrukturen heute ähnlich wie vor einem Jahr. Hinzugekommen sind vor allem Menschenrechtsprobleme in unserem eigenen Land im Zusammenhang mit Aktionen gegen Ausländer und Asylbewerber. Hinzugekommen ist ein unvorstellbares Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen in einem Krieg, der in Europa im ehemaligen Jugoslawien herrscht.
Geblieben ist vor allem das Mißverhältnis zwischen durchaus anspruchsvollen völkerrechtlichen Normen und der realen menschenrechtlichen Lage in vielen Staaten mit Bürgerkriegen, Gewalt und Willkürherrschaft, mit politischer Unterdrückung, mit Elend, Armut und Hungersnot.
Was den Ausbau und die Festigung des internationalen Menschenrechtsinstrumentariums angeht und hier wieder die Mitwirkung Deutschlands, so sind zwei wichtige Anliegen aus dem vergangenen Jahr inzwischen erfüllt: Dieses Parlament hat die beiden Zusatzprotokolle zum internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, zur Individualbeschwerde und zur weltweiten Ächtung der Todesstrafe ratifiziert. Die Ratifikationsgesetze zum neunten und zehnten Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention sind auf den Weg gebracht.
Nach vorne richtete sich der Blick vor allem auf die zweite Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen im Juli 1993 in Wien. Hier erwarten wir, daß sich die Bundesregierung in besonderem Maße verpflichtet fühlt, zum Gelingen dieser Konferenz beizutragen, nachdem sie mit der Einladung der Vereinten Nationen zu dieser Konferenz nach Berlin und der späteren Ausladung die Konferenz im Vorfeld nicht gerade gefördert hat.
Auf dieser Konferenz geht es nicht mehr nur um die rhetorische Forderung nach der Schaffung eines Menschenrechtsgerichtshofs und eines Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte, sondern um das frühzeitige Einbringen und das Voranbringen von operativen Vorschlägen für diese Institutionen.
Bei dem UN-Menschenrechtskommissariat — so fordern wir in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag — sollen alle bisherigen Menschenrechtsausschüsse und Menschenrechtskommissionen, die beratenden Dienste und die Sonderberichterstatter neu geordnet, zusammengefaßt und ihre jeweiligen Kompetenzen ausgebaut werden. Besonders wichtig sind
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Rudolf Bindig
die Schaffung und Stärkung effektiver Überwachungs-, Kontroll- und Durchsetzungsverfahren sowie eine wesentliche Stärkung der Verfahren zur Tatsachenermittlung.
Natürlich wissen wir um die Schwierigkeiten, für diese Projekte Unterstützung schon bei den EGMitgliedsländern und in der Gruppe der westlichen Staaten zu finden und dann vor allem die anderen Ländergruppen hinter diese Projekte zu bringen.
Aber ähnlich wie die beharrlichen Forderungen aus dem Parlament die Bundesregierung veranlaßt haben, intensiver an konkreten Vorschlägen für einen Menschenrechtsgerichtshof und einen Hohen Kommissar für Menschenrechte zu arbeiten, wird auch die Beharrlichkeit der Bundesregierung in den Vorbereitungsgremien ausschlaggebend für einen möglichen Erfolg sein.
Noch schwieriger gestalten sich die Arbeiten an der Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs und der Kodifizierung eines internationalen Strafrechts. Immerhin haben die bisher erhobenen Forderungen auch durch die Bemühungen der Bundesregierung dazu geführt, daß ein solcher Strafgerichtshof beginnt, Formen anzunehmen.
Durch Beschluß des zuständigen Ausschusses der UN-Generalversammlung ist die Völkerrechtskommission gebeten worden, ein entsprechendes Statut auszuarbeiten. Ziel dieser Bemühungen ist es, gegen die Täter schwerster internationaler Verbrechen nach dem Kodex von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit ein Verfahren vor einem Gerichtshof in Gang zu bringen, ein Urteil zu fällen und eine Vollstreckung zu ermöglichen.
Daß bei der Ausarbeitung neuer und effizienterer Instrumente der Menschenrechtspolitik die Arbeiten der Bundesregierung allmählich anfangen, in Schwung zu kommen und sogar erste Erfolge zu tätigen, scheint mir erkennbar damit zusammenzuhängen, daß das Parlament durch die Schaffung eines besonderen Gremiums für Menschenrechte und durch regelmäßige Menschenrechtsdebatten wie am heutigen Tage seine Initiativ- und Kontrollfunktionen verbessert und verstärkt hat. Dieses wirkt sich arbeitsfördernd und kreativ auf die Bundesregierung aus.
Schade ist allerdings, daß die Bundesregierung unseren Vorschlag nicht aufgenommen hat, zur Vorbereitung der UN-Menschenrechtskonferenz ein nationales Vorbereitungskomitee einzuberufen, nach dem Vorbild eines entsprechenden Gremiums zur Vorbereitung der Weltumweltkonferenz in Rio.
Auch auf anderer Ebene sind es die Parlamente, welche die entsprechenden Regierungsinstitutionen in wichtigen Menschenrechtsbereichen zum Handeln auffordern und zum Teil auch drängen müssen. So hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats mit aktiver Beteiligung deutscher Teilnehmer den
Ministerrat aufgefordert, eine Reform des Kontrollmechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention vorzunehmen. Ziel ist die Bildung eines einzigen Gerichtshofs mit vollzeitbeschäftigten Richtern anstelle des derzeitigen zweistufigen Kontrollsystems.
Hängen die Erfolge beim Ausarbeiten neuer Konventionen und der Schaffung effizienter Durchsetzungsmechanismen wesentlich von der Haltung und Entscheidung anderer Staaten ab, so gibt es natürlich auch den Bereich unmittelbarer Menschenrechtspolitik, der von einer Regierung direkt gestaltet werden kann. In diesen Bereichen offenbart sich besonders die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit einer konsequenten Menschenrechtspolitik.
Besonders auffällig ist die Unabgestimmtheit der Politik der Bundesregierung in den verschiedenen Politikbereichen. Da gibt es einerseits im Bereich der Entwicklungspolitik erkennbare Bemühungen, menschenrechtliche Gesichtspunkte zu einem Entscheidungsfaktor der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zu machen, aber es wird dieses Kriterium dann bei Ländern unterschiedlicher Größe und wirtschaftlicher Bedeutung unterschiedlich gewichtet, wie es sich am Beispiel Chinas oder Malawis zeigen läßt. Es werden zum anderen solche Ansätze durch die Haltung in anderen Politikbereichen, z. B. der Rüstungsexportpolitik oder der Wirtschaftspolitik, konterkariert.
Wenn einem Land mit erheblichen inneren Spannungen und schweren Menschenrechtsverletzungen wie der Türkei in erheblichem Umfang Militärhilfe in Form von Rüstungssonderhilfe, Materialhilfe, Nato-Verteidigungshilfe und Ausstattungshilfe geliefert wird, so wird dadurch jede konstruktive Menschenrechtsarbeit in diesem Land blockiert.
Die meisten unserer menschenrechtlichen Forderungen, welche wir heute, am Tag der Menschenrechte, diskutieren, beziehen sich darauf, den Menschen frei von Angst, Verfolgung und Unterdrückung zu stellen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Professor Pinger zu beantworten?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege, im Hinblick auf die kritischen Bemerkungen zu China erlaube ich mir folgende Frage — ich gehe davon aus, daß Sie den Entschließungsantrag der CDU/CSU und der F.D.P., der vorliegt und wahrscheinlich nachher beschlossen wird, Drucksache 12/2960, gelesen haben —: Stimmen Sie mir zu, daß auf Seite 5 dieses Entschließungsantrages ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß hinsichtlich der entwicklungspolitischen Kriterien die Menschenrechtslage in China genauso beurteilt werden soll wie in anderen Län-
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Dr. Winfried Pinger
dern, und daraus auch die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden, indem hier ausdrücklich auf die Ziffer 1 des früheren gemeinsamen Antrags zur Menschenrechtssituation Bezug genommen wird?
Ich stimme Ihnen zu, daß dies so in dem Entschließungsantrag steht, aber genau hier kommt eine merkwürdige Doppelhaltung zum Ausdruck. In einem Bereich soll die Menschenrechtslage Kriterium sein, im andern nicht. Man kann es auch so ausdrücken: in einem Bereich etwas für das Herz und im anderen Bereich etwas für die Kasse.
Das veranlaßt den Abgeordneten Vogel , eine Frage zu stellen. — Bitte schön.
Herr Kollege Bindig, ehe wir hier in einen allzugroßen Streit kommen: Ich habe hier eine Meldung, die aus China kommt, mit der Überschrift „Baden-Württembergs Wirtschaftsminister zu Gesprächen in China".
Wenn ich mich richtig erinnere, ist das unser früherer Kollege Spöri, der der SPD angehört. Ich könnte Ihnen jetzt gleiches vorlegen aus dem Lande Rheinland-Pfalz, dessen Wirtschaftsminister, der zwar von der F.D.P. gestellt wird, die aber zu einer SPD-geführten Regierung gehört, ebenfalls zu Wirtschaftsgesprächen in China ist.
Deshalb frage ich, ob es nicht auch doppelbödig ist, wenn hier so aufgetreten wird und da so gehandelt wird.
Herr Kollege, differenzierte Probleme erfordern auch differenziertes politisches Vorgehen.
Niemand ist der Auffassung, daß nicht normale Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit China gepflegt werden sollen.
Es geht um die Frage, ob Handelsgeschäfte mit diesem Land aus Steuermitteln besonders gefördert werden sollten oder nicht. Über diese Problematik diskutieren wir bei der Aufhebung des Beschlusses und nicht allgemein über die Frage der Handelsbeziehungen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob gehandelt wird oder ob aus Steuermitteln subventioniert wird.
Ich war gerade dabei darzulegen, daß sich die meisten unserer menschenrechtlichen Forderungen, welche wir am Tag der Menschenrechte diskutieren, darauf beziehen, den Menschen frei vor Angst, Verfolgung und Unterdrückung zu stellen. Auf dieses Ziel hin sind auch unsere Forderungen zur Weiterentwicklung des internationalen Menschenrechtsinstrumentariums in dem Entschließungsantrag gerichtet.
Es geht hier um den Schutz und die Gewährung der bürgerlichen und politischen Menschenrechte. Die Forderung nach dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Menschen zeigt überdeutlich, daß zu den Menschenrechten auch das Freisein von Not gehört. Es geht um die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte.
Auf der Welternährungskonferenz in Rom wurde dieser Tage die bittere Realität bekanntgemacht, daß trotz einer relativen Abnahme des Hungers in der Welt seit vielen Jahren noch immer 786 Millionen Menschen unterernährt sind. Jeden Tag sterben 40 000 Kinder vor allem an den Folgen des Nahrungsmangels. 2 Milliarden Menschen leiden unter stark einseitiger Ernährung.
Zur Menschenrechtspolitik gehört auch die Frage, wie wir uns gegenüber diesen erschreckenden Zahlen verhalten. Die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse als Menschenrecht muß stärker als bisher in die menschenrechtliche Diskussion eingebracht werden. Es geht dabei nicht um das Ausspielen der einen Gruppe der Menschenrechte gegen die andere Gruppe der Menschenrechte, wie dies politisch gelegentlich geschieht; es geht nicht um Freiheit oder Brot, sondern um Freiheit und Brot, um Freisein von Angst und Not.
Gleichberechtigt neben unsere Forderungen nach der Erfüllung und Gewährleistung der Menschenrechte der ersten Generation sollten wir unsere Forderungen und unsere Aufmerksamkeit auf die Erfüllung der Menschenrechte der zweiten Generation richten. Ebensowenig wie es angeht, mit dem Hinweis auf nichterfüllte soziale Mindestrechte von der schmählichen Mißachtung der klassischen Schutzrechte der Bürger abzulenken, kann es angehen, unter alleiniger Betrachtung der politischen Freiheitsrechte das soziale Elend Millionen Hungernder und Unterernährter zu verdrängen.
Beachtet man auch diesen Aspekt der Menschenrechte und sieht als Menschenrecht auch das Recht auf Teilnahme an Entwicklung, das Recht auf Frieden und auf eine gesunde Umwelt an, so tritt noch schärfer als bei der Betrachtung der bürgerlichen und politischen Menschenrechte hervor, daß wir wahrlich noch nicht alles tun können, was wir tun könnten, um uns mit aller Kraft für die Verwirklichung der Menschenrechte einzusetzen.
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel,
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Abgeordneter Oostergetelo — jetzt ist er gerade hinausgegangen —, ich kann Ihre Frage im Augenblick nicht im einzelnen beantworten, weil ich nicht genau verstanden habe, was Sie meinten. Wenn Sie davon gesprochen haben sollten, daß es um diese 6 000 Lagerinsassen geht, dann kann ich Ihnen sagen, daß auf meinen Druck hin diese 6 000 Lagerinsassen, jedenfalls im europäischen Raum, gemeinsam mit den Amerikanern untergebracht worden sind. Wir nehmen 1 000, die Amerikaner nehmen 1 000, die Spanier nehmen 1 000, die Briten nehmen 1 000, und den Rest haben wir auf die übrigen Lander in der Gemeinschaft verteilt. Dies ist theoretisch geschehen. Ich habe mich gestern noch einmal erkundigt und erfahren, daß bei uns in der Bundesrepublik — nageln Sie mich jetzt nicht genau fest — inzwischen 150 angekommen und untergebracht sind und daß noch einmal 100 auf dem Weg sind.
Es ist absolut selbstverständlich — wenn ich das hier auch noch sagen darf —, daß wir, wenn es etwas mehr als 1 000 sein sollten, diese natürlich genauso aufnehmen, wie wir uns verpflichtet haben, die vergewaltigten Frauen, wenn diese denn im Ausland Aufnahme suchen, hier aufzunehmen.
Meine Damen und Herren, heute vor 44 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Dies geschah unter dem Eindruck der Schrecken des Nationalsozialismus und der verheerenden Zerstörungen und Menschenopfer des zweiten Weltkriegs. „Nie wieder" !, das war das Credo der Verfasser der Erklärung.
Inzwischen ist die Allgemeine Erklärung zum meistzitierten Menschenrechtsdokument geworden. Es ist ein umfassendes Netz von Konventionen und Institutionen entstanden, die alle dem Schutz und der Verwirklichung der Menschenrechte dienen.
Dennoch — das wurde heute schon mehrmals erwähnt — vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit erschreckenden Bildern der Menschenverachtung konfrontiert werden. Die Vergewaltigung muslimischer Frauen — diese habe ich eben erwähnt — in Bosnien-Herzegowina haben der Unmenschlichkeit eine neue, erschütternde Dimension hinzugefügt.
Was sich in diesem Land heute ereignet, ist nur mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs vergleichbar. Die gequälten, geschundenen und ihrer Würde beraubten Menschen brauchen unsere Hilfe. Für sie ist unser Einsatz oft die letzte und einzige Hoffnung.
Unser Grundgesetz bekennt sich zu den unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Wenn wir dem Anspruch, daß der Mensch im Mittelpunkt unserer Politik, auch der Außenpolitik, stehen muß, gerecht werden wollen, dann darf uns für den Menschenrechtsschutz keine Anstrengung zuviel sein.
Gewiß, die Verbesserung der Menschenrechtslage ist ein mühsames Unterfangen, verlangt großes Engagement, langen Atem und eine wohlüberlegte Wahl der Mittel. Jedenfalls mit der Brechstange allein ist es nicht getan.
Unsere eigene leidvolle Erfahrung mit zwei Unrechtsregimen bringt uns in der Menschenrechtsfrage in eine besondere, nicht immer einfache Lage. Wir tragen eine besondere Verantwortung, aber als gebrannte Kinder und nicht in erster Linie als Lehrmeister.
Unsere unheilvolle Vergangenheit, auf die heute schon hingewiesen worden ist, verleiht auch den beschämenden Angriffen gegen Asylsuchende, den Anschlägen auf jüdische Gedenkstätten eine besondere Dimension. Sie treffen — ich habe es hier schon einmal gesagt — unser demokratisches Selbstverständnis im Kern. Daß sie uns nach drinnen und nach draußen großen Schaden gebracht haben, wird jeden Tag deutlicher. Sie alle, wir alle erleben es täglich durch die Medien.
Hunderttausende von Menschen haben allerdings in bewegender Weise gezeigt, daß die ganz große Mehrheit unserer Bürger den braunen Spuk einer kleinen verblendeten Minderheit zutiefst verabscheut. Dies muß auch der Staat jetzt zeigen. Er muß zeigen, daß wir eine wehrhafte Demokratie sind.
Polizei, Justiz im repressiven Bereich und — ich wiederhole es hier nochmals — natürlich auch Medien, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften, Kirchen, die ganze Gesellschaft, sind aufgefordert zu zeigen, daß wir nicht zulassen — auch das wiederhole ich —, daß mühsam aufgebaute demokratische Strukturen in unserem Land durch diesen braunen Minderheitenpöbel in Gefahr geraten.
Nach Übernahme des Amtes des Außenministers habe ich von diesem Pult aus deutlich gemacht, daß ich den Menschenrechten in der Außenpolitik einen besonderen Stellenwert einräume. Ich fühle mich — das sage ich aus einem ganz bestimmten Grund — diesem Bekenntnis nach wie vor sehr verpflichtet. Ich habe mich auch — ich werde in dem anderen Teil der Debatte nachher darauf eingehen — bei meinen Gesprächen in Peking diesem Problembereich in besonderer Weise verpflichtet gefühlt und auch danach gehandelt, auch wenn in der Presse, zumindest in einigen Organen, dies anders dargestellt wurde. Ich werde nachher darauf im einzelnen eingehen.
Der internationale Menschenrechtsschutz beruht auf der gemeinsamen Anerkennung der dem Menschen innewohnenden Würde. Dies gilt universell, unabhängig von der Verschiedenheit der Kulturen. Wir wollen unsere Wertmaßstäbe anderen nicht überstülpen, aber es gibt eben international und völker-
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
rechtlich verbindliche Mindeststandards, deren Verletzung nicht mit andersartigen kulturellen Traditionen oder anderem ideologischen Überbau zu entschuldigen ist.
Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar" gilt für alle Staaten, und jeder muß sich daran messen lassen. Wir haben auch, wie vorhin schon gesagt wurde, niemals das Argument akzeptiert, das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten schließe den Schutz der Menschenrechte ein. Die Praxis der Vereinten Nationen und die Entwicklung in der KSZE haben dieser Auffassung recht gegeben. Im jüngsten Beschluß des Weltsicherheitsrats wird ausdrücklich festgestellt, daß eine menschliche Tragödie, wie wir sie in Somalia erleben, eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt. Der Sicherheitsrat leitet daraus nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zur Ergreifung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel 7 der UN-Charta ab.
Wo die Staatengemeinschaft in jüngster Zeit zugunsten von Menschen- und Minderheitenrechten eingegriffen hat, hat sich gezeigt, daß es nicht genügt, Menschenrechte nur verbal einzufordern; sie müssen notfalls auch verteidigt, notfalls auch erstritten werden.
Diese Verpflichtung gilt auch für uns. Es ist eben nicht mehr möglich, sich die Weltlage nur von den Zuschauerbänken aus anzusehen oder auf die Rolle des Zahlmeisters zu beschränken. Das ist auch oder gerade mit unserer Geschichte, aus der uns eine besondere Verantwortung erwachsen ist, nicht zu rechtfertigen.
Die jüngste Aktion der Staatengemeinschaft in Somalia zeigt wieder auf deutliche Art und Weise, was wir tun mußten, was wir tun müssen. Ich kann es nicht oft genug sagen: Wir müssen schnellstens zu einem normalen staatlichen Verhalten finden, wenn wir nicht auf ganzer außenpolitischer Breite Schaden nehmen wollen.
Wir müssen auch berücksichtigen, daß sich der Charakter der UN-Aktionen im humanitären Bereich unter dem Druck der Ereignisse zu verändern beginnt und die Vereinten Nationen gerade beim Schutz der Menschenrechte immer häufiger neue Wege einschlagen, ja einschlagen müssen, die bisherige Grenzziehungen überholt erscheinen lassen.
Die Normalisierung unseres Handlungsspielraums muß allerdings in verfassungsrechtlich eindeutiger Weise vollzogen werden. Ich habe zu einem Gespräch Anfang Januar eingeladen, auf das ich eine gewisse Hoffnung setze.
Ich will mir ersparen, auf die schrecklichen Ereignisse in Jugoslawien einzugehen. Ich nehme an, daß das im zweiten Teil der Debatte anschließend geschieht. Ich will nur sagen, daß uns die Entwicklung in Jugoslawien die Notwendigkeit eines effektiven Minderheitenschutzes täglich deutlich vor Augen führt. Im Rahmen der KSZE sind weitreichende Standards und Mechanismen vereinbart worden. Beim Außenministertreffen der KSZE in Stockholm werden wir das Amt des Hochkommissars für nationale Minderheiten besetzen, und gleichzeitig unterstützen wir die bereits begonnenen Bemühungen um eine völkerrechtliche Absicherung des Minderheitenschutzes im Rahmen des Europarats.
Ich möchte mit dem schließen, was ich vorhin schon angedeutet habe: Die weltweite Förderung und Stärkung der Menschenrechte muß und wird ein zentrales Anliegen jeder Bundesregierung sein. Wenn wir in Menschenrechtsfragen mit dem Parlament besonders eng zusammenarbeiten, was Gott sei Dank geschieht, kann das der Sache nur dienen. Dazu verpflichtet uns das Grundgesetz, in dem sich das deutsche Volk zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekennt.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aussprache schließen kann.
Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 12/3904 abstimmen. Hierzu liegt eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung des Abgeordneten Kersten Wetzel vor, die wir zu Protokoll nehmen.* ) Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS/Linke Liste vom Haus einstimmig angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis f und 4 i auf:
12. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Brigitte Adler, Angelika Barbe und weiterer Abgeordneter
Lage der Menschenrechte von Frauen, Jugendlichen und Kindern in Pakistan
— Drucksachen 12/2340, 12/3203 —
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Gernot Erler, Hans Koschnick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gewährleistung der Menschenrechte und Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Kosovo-Albaner
— Drucksachen 12/2289, 12/3391 —
*) Anlage 2
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11105
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Berichterstattung:
Abgeordnete Friedrich Vogel Dr. Eberhard Brecht
Ulrich Irmer
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationale Initiative zur Rettung bedrohter Menschenleben
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Internationale Initiative zur Rettung bedrohter Menschenleben
— Drucksachen 12/3660, 12/3700, 12/3953 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Lamers Freimut Duve
Ulrich Irmer
Gerd Poppe
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Konvention gegen Vertreibung
— Drucksache 12/3369 --
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Rudolf Bindig, Helmuth Becker , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Lage und Zukunft der Kurden — Drucksache 12/3720 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Rudolf Bindig, Helmuth Becker , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Dringende humanitäre Hilfsmaßnahmen für die Kurden im Nord-Irak
— Drucksache 12/3719 —4. i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Festhalten an den Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 15. und 23. Juni 1989 zu China
— Drucksachen 12/1536, 12/2871 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich
Dr. Hartmut Soell Ulrich Irmer
Es handelt sich um eine vereinbarte Debatte und Beratung mehrerer Vorlagen zu den Menschenrechten. Die genauen Titel wollen Sie bitte freundlicherweise von der Tagesordnung ablesen.
Es liegen drei Entschließungsanträge und ein Änderungsantrag vor. Ich weise vorsorglich darauf hin, daß über einen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. im Anschluß an die Debatte namentlich abgestimmt wird.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen für die Debatte eine Zeit von anderthalb Stunden vor. Ich frage das Haus zunächst, ob es damit einverstanden ist. — Das ist offensichtlich der Fall.
Ich eröffne die Debatte und erteile zunächst der Abgeordneten Frau Dr. Edith Niehuis das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle leiden unter den tagtäglichen Grausamkeiten und schweren Menschenrechtsverletzungen, die aus dem Kriegsgebiet im ehemaligen Jugoslawien an die Öffentlichkeit gelangen. Wir haben seit Monaten schon viel Leid erfahren müssen, das Menschen angetan wird. Um so mehr macht es mich betroffen, daß wir relativ spät das unsägliche Leid wahrgenommen haben, das Frauen zugefügt wurde und wird und das nur Frauen angetan werden kann: Ich meine die Massenvergewaltigungen insbesondere in Bosnien-Herzegowina.
Leider ist es nicht das erste Mal, daß frauenspezifische Menschenrechtsverletzungen — und seien sie noch so grausam — nur zögerlich wahrgenommen werden, und das, obwohl bekannt ist, daß Frauen häufig einer Doppelverfolgung ausgesetzt sind, sobald sie in Verhör- und Haftsituationen kommen.
Amnesty international schreibt dazu in dem 1991 herausgegebenen Bericht „Frauen im Blickpunkt", der sich ausschließlich mit Menschensrechtsverletzungen an Frauen beschäftigt:
Anders als männliche Gefangene werden Frauen nicht nur als vermeintliche oder tatsächliche Gegnerinnen des jeweils herrschenden Systems angegriffen, sondern auch in ihrer Identität als Frauen, die einem sehr an männlichen Werten orientierten Militär- und Polizeiapparat ausgeliefert sind.
Wissen Sie, was uns als Frauen und Sie als Männer an dieser Feststellung von amnesty international aufmerksam und nachdenklich machen muß, ist der Hinweis auf die männlichen Werte der Militär- und Polizeiapparate, die unter den außergewöhnlichen Bedingungen von Gefängnis, Lager und Krieg zu frauenspezifischer Folter, wozu Vergewaltigung, sexuelle Erniedrigung, Mißbrauch und Nötigung gehören, führen.
Für uns als Politikerinnen und Politiker bedeutet dies nach meiner Meinung zweierlei. Erstens: Wir alle zusammen sollten den heute vorliegenden Entschließungsantrag zu Bosnien-Herzegowina unterstützen, um deutlich zu machen, daß wir helfen wollen.
Zweitens haben wir als Politikerinnen und Politiker auch den Auftrag, das zu tun, was wir tun können, den brutalen frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen auf der Welt den Nährboden zu entziehen. Das bedeutet, daß wir nirgendwo — in der Bundesrepublik nicht und international nicht — patriarchalische Systeme und männliche Werte hinnehmen dürfen, die die Ungleichbehandlung und Unterdrückung von Frauen beinhalten.
11106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Dr. Edith Niehuis
Wer die Erkenntnisse von amnesty international ernst nimmt, muß gerade auch in Friedenszeiten sagen: „Wehret den Anfängen!" und auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinweisen, die ausdrücklich für Männer und Frauen gilt.
Im Deutschen Bundestag sind in diesem Sinne von Parlamentariern und Parlamentarierinnen aller Fraktionen so manche Initiativen angestoßen worden. Ich erinnere an die Große Anfrage „Menschenrechtsverletzungen an Frauen" aus der letzten Legislaturperiode und an die Anfrage „Lage der Menschenrechte von Frauen, Jugendlichen und Kindern in Pakistan" die neben anderem Grundlage der heutigen Menschenrechtsdebatte ist. Sie sind Ausdruck unseres Bemühens, immer wieder anzumahnen, die Menschenrechte der Frauen zu respektieren. Dazu gehört auch ein Entschließungsantrag aus der letzten Legislaturperiode zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen, der einstimmig angenommen wurde und dessen Forderungen nach wie vor Gültigkeit haben, aber leider noch nicht erfüllt sind. Angesichts der Schreckensbilder aus dem ehemaligen Jugoslawien möchte ich zwei Forderungen aus diesem alten Entschließungsantrag noch einmal nennen.
Wenn Frauen — daran gibt es keinen Zweifel — auch wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, dann ist es erforderlich, daß Verfolgungen wegen des Geschlechts als Asylgrund anerkannt werden.
Ich erinnere nur daran, daß sich der Bundestag schon einmal einstimmig hinter diese Forderung gestellt hat. Wenn Sie die Meldungen von heute verfolgen, dann werden Sie feststellen, daß auch der Bonner Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars, Herr Koisser, dies heute noch einmal nachdrücklich gefordert und darauf hingewiesen hat, wie schwer die Menschenrechtsverletzungen an Frauen — insbesondere beim sexuellen Mißbrauch — sind.
Wir haben vor zwei Jahren auch gefordert, daß bei der UN-Menschenrechtskommission eine Sonderberichterstatterin zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen bestellt wird. Ich denke, wir alle müssen bedauern, daß entsprechende Bemühungen bisher erfolglos gewesen sind. Darum greifen wir diese Forderung in dem heute vorliegenden Entschließungsantrag noch einmal nachdrücklich auf.
Wer die Sachverständigenanhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend am Montag dieser Woche zu den Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere in Bosnien-Herzegowina, verfolgt hat, kann keinen Zweifel mehr an der Notwendigkeit dieser Sonderberichterstatterin haben. Bei allem Respekt vor der Leistung des UNSonderbeauftragten für die Menschenrechte im ehemaligen Jugoslawien, Herrn Mazowiecki — dieser Respekt ist ernst gemeint —, kann man nicht übersehen, daß in seinem letzten Bericht vom 17. November 1992 das, was uns so bedrückt, nämlich die Massenvergewaltigungen, nur auf einer Drittelseite andeutungsweise behandelt wird. Ich möchte das unterstützen, was Herr Baum heute gesagt hat. Er sagte: Die Ausstattung des Sonderbeauftragten in Genf ist katastrophal und müßte dringend verbessert werden.
Es muß gewährleistet sein, daß die Untersuchungen zumindest von jetzt an diesen seelischen und körperlichen Verletzungen und Demütigungen von Frauen besondere Aufmerksamkeit widmen. Ich will in diesem Zusammenhang nicht verhehlen, daß ich enttäuscht bin, daß UN-Organisationen wie der Hohe Flüchtlingskommissar so wenig zu den Berichten über die Vergewaltigungslager zu sagen haben, über deren Existenz nach so vielen glaubhaften Zeuginnenberichten kein Zweifel mehr bestehen kann. Anfang Dezember trat die UN-Menschenrechtskommission in Genf zu einer Sondersitzung zusammen und hat in einer Resolution die Menschenrechtsverletzungen einschließlich der Vergewaltigungen aufs schärfste verurteilt und verlangt, daß alle Gefangenenlager im ehemaligen Jugoslawien geschlossen werden. Ich sage: Nicht nur alle Gefangenenlager, sondern auch alle Vergewaltigungslager jedweder Größe müssen umgehend aufgelöst werden.
Wenn die Expertenkommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen Mitte Dezember erstmals in Genf zusammentritt, dann erwarten wir, daß auch die Vergewaltigungen als Kriegsverbrechen dort erfaßt werden.
Frau Abgeordnete Dr. Niehuis, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve zu beantworten?
Ja.
Frau Kollegin, Sie haben mit Recht die schlechte Ausstattung des Beauftragten, Herrn Mazowiecki, dargestellt. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß wir in diesem Zusammenhang gerade bei der Aufdeckung der Verbrechen an Frauen würdigen sollten, daß es insbesondere Journalistinnen gewesen sind, die ins Land gegangen sind — oft unter großer Bedrohung; wir haben ja viele Todesopfer unter Journalisten zu betrauern — und als erste gerade dieses besondere Verbrechen aufgedeckt und die Hinweise dafür geliefert haben?
Das ist richtig. Sie sind von uns, von der Öffentlichkeit viel zu spät wahrgenommen worden.
Die Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof, die heute in mehreren Beiträgen immer wieder erhoben wurde, muß, denke ich, auch in
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11107
Dr. Edith Niehuis
diesem Zusammenhang noch einmal nachdrücklich unterstützt werden.
Zu lange ist stillschweigend hingenommen worden, daß Vergewaltigungen angeblich zu Kriegen gehören. Ich denke, wir alle sind uns einig: Frauen sind keine Kriegsbeute.
Doch das, was wir aus Bosnien-Herzegowina hören, geht allem Anschein nach noch weit über diese Feststellung hinaus. Es wird von Befehlen zu Vergewaltigungen berichtet, von systematischen Massenvergewaltigungen an Mädchen und Frauen allen Alters vorwiegend muslimischer Herkunft durch serbische Paramilitärs, vielleicht auch Militärs. Diese Vergewaltigungen sind Teil der sogenannten ethnischen Säuberung, Teil eines geplanten Völkermords. Das, was wir von den Frauen hören, übersteigt jede Vorstellungskraft. Es ist entsetzlich. Mädchen sterben an den Folgen. Frauen begehen Selbstmord, werden als Schwangere nach den Vergewaltigungen gefangengehalten, um sie zum Austragen der Schwangerschaft zu zwingen. Auf diese Weise soll die muslimische Bevölkerung zerstört werden.
Frauen werden als Kriegswaffen benutzt, um den Kriegsgegner zu entmutigen, zu demoralisieren, zu erniedrigen. Frauen werden zerstört, um mit ihnen ihre Stellung in der Familie zu zerstören.
Die Filmemacherin Heike Sander beschreibt in ihrem Film „BeFreier und Befreite", der von den Vergewaltigungen der Frauen im Zweiten Weltkrieg bei uns handelt, die Reaktion der Angehörigen auf die Vergewaltigung mit dem Zitat: „Eine kaputte Tasse nimmt man nicht mehr. " — Dies geschah in unserem Kulturkreis. Um wieviel verheerender werden die Auswirkungen im muslimischen Kulturkreis sein?
Diese Frauen brauchen unsere Hilfe. Sie brauchen die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland, die Hilfe aller EG-Staaten und auch die Hilfe der UN.
Es ist bedrückend, wenn, wie in der Sachverständigenanhörung am Montag erneut zu hören war, beklagt wird, daß Lager nicht aufgelöst werden konnten, weil die europäischen Staaten nicht bereit waren, genügend Kriegsopfer unterzubringen. Wenn Humanität und Nächstenliebe nicht zu leeren Worthülsen verkommen sollen, dann müssen wir bereit sein, diese Opfer, diese Frauen aufzunehmen.
Wir dürfen auch nicht zögern, aber auch die anderen EG-Staaten dürfen nicht zögern. Ich erwarte vom Bundeskanzler, daß er in Edingburgh alle EG-Staaten darauf aufmerksam macht.
Wenn einerseits festgestellt werden muß, daß die fehlende Aufnahmebereitschaft der europäischen
Länder verhindert, daß Frauen den Grausamkeiten entfliehen können, so gilt das andererseits auch für die immer noch bestehende Visumpflicht. Darum sollte die Bundesrepublik Deutschland die Visumpflicht für die Betroffenen aufheben, bis ein gesetzlicher Status für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge festgelegt ist. Leider ist es uns nicht gelungen, eine entsprechende Formulierung in den gemeinsamen Entschließungsantrag aufzunehmen.
Am allerwichtigsten aber ist, daß den Mädchen und Frauen medizinisch und psychologisch geholfen wird. Solche seelischen und körperlichen Schmerzen, wie sie diesen Frauen zugefügt wurden, können lange, manchmal ein Leben lang nicht vergessen und verarbeitet werden. Sie brauchen unsere Hilfe.
Dazu gehört, daß wir unbürokratisch und schnell Betreuungszentren vor Ort unterstützen. Priorität sollten die Selbsthilfeinitiativen von Frauen vor Ort haben, die schon jetzt unter widrigen Umständen zu helfen versuchen.
Aber ich erwarte auch, daß die Regierungen vor Ort unterstützend tätig werden. Ich muß Ihnen sagen: Es entsetzt mich, wenn ich hören muß, daß es dem Komitee Cap Anamur nicht möglich ist, ein zur Betreuung der Opfer gedachtes Haus anzumieten, weil sich die kroatische Regierung plötzlich sperrt. Ich appelliere an die kroatische Regierung, diese Behinderung zu unterlassen. Dafür haben wir kein Verständnis.
Ebenso wichtig wie die psychologische Betreuung der Frauen ist ihre medizinische Behandlung. Viele Mädchen und Frauen haben schweren körperlichen Schaden erlitten. Zur medizinischen Behandlung gehört auch, daß man ihnen den Schwangerschaftsabbruch ermöglicht, wenn sie es wünschen und es medizinisch verantwortbar ist. Es ist aufs höchste unmenschlich, Frauen, die diese Vergewaltigungen durchlitten haben, Schwangerschaften aufzuzwingen.
Denn wir wissen: Wir müssen uns große Sorgen um die Kinder machen, die unter diesen Umständen ungewollt geboren wurden und noch werden. Auch sie bedürfen unserer Hilfe.
In der Bevölkerung ist eine große Bereitschaft zu spüren, den Frauen und den Kindern zu helfen. Das Telefon im Büro des Ausschusses für Frauen und Jugend steht nach der Anhörung nicht mehr still. Es ist jetzt an uns als Parlament, unseren Willen zur Hilfe ebenso deutlich zu machen. Ich würde mich freuen, wenn der Entschließungsantrag mit großer Mehrheit angenommen würde.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Stefan Schwarz.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dies ist meine erste
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Stefan Schwarz
Bundestagsrede. Ich will Ihnen vorneweg sagen: Es kommt nicht viel Freude über den Anlaß auf, über den ich rede. Ich habe die freundliche Bitte, weil ich berichten will, daß Sie mir nach Möglichkeit in weiten Strecken zuhören.
Wir haben heute den Tag der Menschenrechte. Wir haben eine Reihe wichtiger Anträge vorliegen. Wir haben heute morgen zum Thema Ausländer in Deutschland gesprochen. Wir haben über Menschen in Deutschland gesprochen, die verbrannt worden sind.
Ich will mit Ihnen zum Thema Menschenrechte über die brutalste Form von Menschenrechtsverletzungen reden, die sich zur Zeit abspielen — in Bosnien-Herzegowina, vor unserer Haustür. Ich will Ihnen auch von brennenden Menschen berichten. Ich zitiere aus Dokumenten von Menschenrechtsorganisationen:
Ein Gefangener ... wurde bei lebendigem Leib verbrannt. Dies sei Ende Juli
— dieses Jahres —
geschehen, als die Gefangenen ihre Mittagsration erhielten, erzählt der 23jährige Augenzeuge Nedjat Hadzic, der sich inzwischen nach Karlovac retten konnte. Der Mann sei gerade von einem Verhör gekommen, als die Bewacher ihn aufgefordert hätten, wegzulaufen. Sie hätten so getan, als wollten sie ihn erschießen. „Ihr Feiglinge, ihr könnt nichts anderes, als grausam sein", hätte der Mann die Wachen verhöhnt. Als sie ihn zu Boden gestoßen hätten, hätte er ihnen ein Gewehr entrissen. „Sie haben ihn überwältigt, ihm das Gewehr wieder abgenommen und ihn zum ,weißen Haus' geschleppt. Dort haben sie ihn mit Benzin übergossen und angezündet", erinnert sich Hadzic.
Meine Damen und Herren, Frau Niehuis hat in ausführlicher und eindrucksvoller Weise über Vergewaltigungen und Gewalt gegenüber Frauen als System dieses Krieges gesprochen. Es sei mir erlaubt, daß nach den mir vorliegenden Dokumenten zu bestätigen. Es gibt klare Hinweise darauf, daß Vergewaltigungen auf Befehl geschehen. Zeuginnen haben sogar berichtet, daß die Vergewaltiger das ihnen gegenüber eingestanden haben. Sie hätten gesagt: Es ist besser, ich vergewaltige dich als die, die hinter mir kommen, weil sie noch viel grausamer und schlimmer sein werden.
Ich möchte mit Ihnen aber auch gern darüber reden, daß die Schrecken dieses Krieges kein Frau-MannThema, sondern ein Thema der Menschenrechte sind. Ich möchte Ihnen deshalb nicht ersparen, etwas darüber zu hören, was Männern geschieht:
Einmal hätten die Wachen einem Gefangenen ein Ohr abgeschnitten und anschließend einen anderen Mann gezwungen, das Ohr zu essen... .
Doch gab es keine traumatischeren Erlebnisse für die Gefangenen als die Kastrationen. Ein Zeuge berichtete den Beamten der US-Botschaft, er habe gesehen, wie einige Bewacher die Hoden eines Mannes mit einem Draht durchstochen und den Draht dann an das Ende eines Motorrades
gebunden hätten. Einer sei schließlich mit großer Geschwindigkeit losgefahren. Der Mann sei verblutet.
... ein ... Bewacher einen anderen Moslem gefunden, auf dessen Vater er wütend gewesen sei, und ihm deshalb befohlen, sein Gesicht in eine Abflußrinne im Betonboden zu stecken und Motoröl zu trinken. Anschließend habe er ihm den Befehl gegeben, (eines anderen Gefangenen) Hoden abzubeißen. „Die Schreie waren unerträglich, und dann war plötzlich alles ruhig" ... Drei andere Männer, die die Kastration gesehen hätten, seien anschließend mit Metallstangen erschlagen worden. Der Mann, der zur Kastration gezwungen worden sei, sei mit schwarzem Gesicht zurück in den Raum gekommen und habe 24 Stunden nicht sprechen können.
Meine Damen und Herren, bei der Anhörung war es uns nicht möglich, einen Zeitzeugen aus dem weltweit größten Dokumentationszentrum für Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina anzuhören, was ich sehr bedaure. Er hat unter Lebensgefahr Dokumente herausgeschmuggelt, von denen ich einen Teil hier dabeihabe. Es ist eine computermäßig erfaßte Liste von 500 Kriegsverbrechern, die gesichert sind, und weiteren 4 000, die noch nach einem sehr strengen wissenschaftlichen Verfahren überprüft werden. Herr Bundesaußenminister, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie vor dem EG-Gipfel Gelegenheit nähmen, mit diesem Mann zu reden. Denn ich finde, es ist in einem zusammenwachsenden Europa nicht gut, wenn wir uns in Europa benehmen, als seien wir im 19. Jahrhundert, und nicht so, als hätten wir die Menschenrechtsfortschritte des 20. Jahrhunderts gegen eine solche Gruppe wie die Serben zu verteidigen. Es muß ein Europa aller Völker geben. Dazu gehören Menschenrechte. Es kann uns nicht egal sein, wenn — so geht es aus der Dokumentation hervor — mindestens 200 000 Tote — bisher sind 17 000 identifiziert —, mindestens 60 lokalisierte Massengräber — darin liegen Tausende von Menschen —, vergewaltigte Frauen, kastrierte Männer und zerstückelte Kinder im Angesicht eines zusammenwachsenden EG-E uropas vor unserer Haustür zu registrieren sind.
Ich habe mir vorgenommen, folgendes zu sagen:
Ich bin ein Kind des Nachkriegsdeutschland. Ich habe Humanität und Menschenrechte gelernt und bin damit groß geworden. Ich frage uns, meine Damen und Herren Abgeordneten des Deutschen Bundestages: Was muß nach allem, was wir hier hören, eigentlich noch passieren, bis wir uns dazu entschließen können, nicht mehr nur zuzuschauen?
Wie kann man — so möchte ich fragen — zuschauen, wenn Menschen so abgeschlachtet werden?
Ich will Ihnen noch etwas sagen, was ich bisher nur aus Wochenschauen und aus der unmittelbaren Nachkriegsberichterstattung kannte — es handelt sich um den Einsatz von Gas —:
An einem Tag gegen Ende Juli
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11109
Stefan Schwarz
— dieses Jahres, meine Damen und Herren, vor wenigen Monaten —
sahen wir gegen 18 Uhr durch die halboffene Tür der Halle, daß Leute aus Hambarin und Brdo
— das sind zwei Orte —
etwa 150 Menschen gebracht hatten. In die Halle, wo diese Menschen untergebracht waren, warfen sie Tränengas. Als die ersten von Ihnen erstickten, öffneten sie die Hallentür und empfingen die Fliehenden mit Maschinengewehrsalven. Die Feuerstöße rissen den Menschen ganze Körperteile ab. Das Ganze dauerte etwa eine halbe Stunde. So wurden mehr als 100 Menschen getötet. Zehn Leute der Gruppe verschonten sie, damit diese die herumliegenden menschlichen Körperteile einsammelten und in Lastwagen luden. Davon kehrten dann auch sie nicht mehr zurück. Solche Massentötungen geschahen täglich. Wir erfuhren davon, weil wir dann immer die Schreie und Schüsse hörten.
Meine Mutter hat mir erzählt, daß sie sich, als sie 15 Jahre alt war — damals war der Zweite Weltkrieg zu Ende —, fast hat übergeben müssen, als sie die Bilder aus den KZs sah. Ich habe heute morgen der Debatte aufmerksam zugehört. Ich sage im Anschluß an das, was der Fraktionsvorsitzende Schäuble gesagt hat: Vielleicht ist es so, daß man die Menschen nicht fordert. Vielleicht ist es auch so, daß die Menschen an der politischen Klasse deshalb verzweifeln, weil wir angesichts von solchen Tragödien fast nichts tun und behaupten, wir könnten nichts tun. Ich will Ihnen sagen: Wir sehen alles. Wir haben Journalistenberichte, Satellitenaufnahmen, wir haben Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wir wissen alles. Der Mann, der die Berichte gemacht hat, aus denen ich zitiert habe, ein amerikanischer Journalist, hat sein Büro hier in Bonn, direkt um die Ecke. Er hat Anfang August darüber berichtet und damit ausgelöst, daß Fernsehteams nach Omarska gegangen sind.
Ich wiederhole, was ich gestern öffentlich gesagt habe — ich sage das auch mit Bedacht vor dem Hintergrund von Grundgesetzdebatten —: Nach dem Ende dieses Völkermordes kann sich niemand von uns allen, die wir hier sitze, davonstehlen und sagen, man habe das Ausmaß nicht gekannt. Es ist abscheulich. Gestern hat jemand gesagt: Wenn man ein Herz im Leib hat, muß man doch eigentlich etwas tun.
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Wir haben jetzt Weihnachten. Eben war von Weihnachtsmärkten die Rede. Kennen Sie das Lied „Kling Glöckchen, klingelingeling"? Dort kommt vor: „Laßt mich nicht erfrieren, öffnet mir die Türen. " Nach UNICEF-Schätzungen werden Zehntausende von Kindern, während wir alle Weihnachten feiern, elendiglich krepieren, weil wir nichts tun, meine Damen und Herren. Ich sage das vor dem Hintergrund, daß ich weiß, daß es Wenns und Abers gibt. Das alles ist durchdiskutiert. Aber eines ist auch klar: Wir können nicht mit Wenn und Aber zusehen, wie Männer, Frauen, Moslems, Kroaten, Italiener, Russen, Ukrainer, alle Nicht-Serben massakriert werden, wie es Hitler und die Nazis vorgemacht haben. Ich sage als Nachkriegsdeutscher: Ich finde, es ist eine antifaschistische Haltung, zu sagen: Gerade weil wir es miterlebt haben, müssen wir etwas dagegen tun.
Ich möchte Ihnen abschließend etwas vorlesen, was der Vizepräsident von Bosnien und Herzegowina mir auf meine Bitte hin heute um 13.41 Uhr ins Büro gefaxt hat:
An das Parlament und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland
Das dramatische Ansteigen der Aggression gegen die Republik Bosnien und Herzegowina geht weiter. An diesem Morgen finden neue Angriffe auf die Städte Brcko, Gradacac und Maglaj statt. Neu motorisierte Truppen aus Serbien sind seit diesem Morgen dabei, in den Norden von Bosnien einzumarschieren.
Sarajevo steht weiter unter Beschuß. Die Krankenhäuser sind überfüllt und stehen unter ständiger Bombardierung. In Sarajevo gibt es kein Wasser, keine Elektrizität, keine Heizung und keine Nahrungsmittel. Schwadronen von Helicoptern bringen neue Truppen des Aggressors in die Nähe von Sarajevo.
Bitte helfen Sie uns! Stoppen Sie die Aggression gegen Bosnien und Herzegowina, oder geben Sie uns wenigstens das Recht, uns selbst zu verteidigen.
Sarajevo, den 10. Dezember 1992 Dr. Ejup Ganic, Vizepräsident
Erlauben Sie mir, daß ich mit dem Brutalsten ende, weil ich leider finde, daß es anders in Deutschland wahrscheinlich nicht geht. Ich zitiere:
Am ersten Tag warfen sie 15 Kinder, von den allerkleinsten bis zu fünfjährigen, in den Ofen. Die Mütter drückten sie an sich und widersetzten sich. Die, die den größten Widerstand leisteten, töteten sie sofort . . .
Wenn sie ein Kind in den Ofen steckten, schlossen sie die Überwölbung, so daß die Kinder nicht brannten, sondern gebraten wurden. Die Kinder schrien zuerst, dann schwiegen sie.
Meine Damen und Herren, ich bin dafür, daß wir eingreifen. Ich will nicht mehr schweigen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Uta Würfel.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Menschenrechtsdebatte macht eines beschämend deutlich: Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert gibt es immer noch Menschenrechtsverletzungen an Kindern, Frauen und Männern. Weltweit sind sie zu beklagen, anzuprangern und zu ächten. Die Vorstellung, daß durch die Verbreitung von zivilisierten Umgangsformen, die von Respekt und Achtung gegenüber jedem Mitmenschen geprägt sind, durch Vermittlung von Bildung
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Uta Würfel
und durch technischen Fortschritt Gewalt und Krieg aus unserer Welt verbannt werden kann, war eine Vision, eine Vision nach den leidvollen Erfahrungen zweier vernichtender Weltkriege, und sie hat sich als ein Trugschluß erwiesen. Aber auch der Aufbau internationaler Gremien und die Zunahme internationaler Verflechtungen haben Kriege bis heute nicht verhindern können. Die Hoffnung auf ein friedvolles Miteinander hat sich bis heute nicht erfüllt.
Wir sind alle zutiefst erschüttert über das, was sich Menschen gegenseitig antun, über die Anwendung von Gewalt, über die Qualen, die sie sich zufügen, über die zahlreichen Formen von körperlichen Mißhandlungen, Demütigungen und Einschränkungen der persönlichen Freiheit, von denen eben so eindrucksvoll mein Kollege berichtet hat.
Körperliche Mißhandlungen, Folter, Elektroschocks, das Abtrennen von Gliedmaßen, Verbrennungen und Vergewaltigungen sind die sichtbaren Verletzungen. Systematische Demütigung, Benachteiligung und Beschränkung der persönlichen Freiheit einer Gruppe durch staatliche Maßnahmen sind ebenfalls Menschenrechtsverletzungen.
Tiefe Erschütterung und Trauer erfüllt uns alle über diese unvorstellbaren Greueltaten an Frauen im Kriegsgebiet des ehemaligen Jugoslawien. Das Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien hat eine Tragödie entfesselt. Mitten in Europa, vor unserer Haustür, tobt ein Bürgerkrieg und geschieht täglich unermeßliches Leid. Für jeden von uns ist es unvorstellbar, was dort direkt vor unserer Haustür geschieht.
Unmittelbar, mit voller Härte wurde der Ausschuß für Frauen und Jugend vor wenigen Tagen mit dem Gesamtumfang des Grauens konfrontiert.
— Ich bitte Verständnis dafür zu haben, Herr Schwarz, daß ich jetzt meine Ausführungen fortsetzen möchte. Ich bin auch nicht auf einem Auge blind, wenn ich mich jetzt den Greueltaten an Frauen und Mädchen besonders zuwende, falls das der Gegenstand Ihrer Frage sein sollte.
In diesem Krieg wie auch in jedem Krieg zuvor sind Mädchen und Frauen der ständigen Gefahr ausgesetzt, vergewaltigt zu werden, von feindlichen Soldaten oder von paramilitärischen Einrichtungen. In diesem Krieg auf dem Balkan — wir haben es gehört — trifft es muslimische, bosnische und serbische Frauen.
Vergewaltigung als Begleiterscheinung von Krieg und Vertreibung ist eine bekannte Tatsache; neu jedoch für uns alle ist das Phänomen von Massenvergewaltigungen in Lagern. Zynisch und menschenverachtend ist die Systematik, mit der vor allem die serbische Seite Tausende von Frauen Tag für Tag, Nacht für Nacht sexuell mißbraucht. Deshalb müssen wir es öffentlich machen. Wir müssen es artikulieren; denn glaubhafte Angaben, daß mindestens 30 000 bis 50 000 Frauen in diesen Vergewaltigungslagern gefangengehalten und systematisch vergewaltigt werden, liegen uns ja vor. Täglich mehrmals — so wurde uns im Ausschuß berichtet — werden sie unter Gewaltanwendung und Androhung von Folter sexuell mißbraucht. Sie werden vor den Augen von Familienangehörigen zum Geschlechtsverkehr mit ihren Peinigern gezwungen oder müssen die öffentliche Vergewaltigung von anderen miterleben. Sie werden bis zu ihrer vollständigen körperlichen und seelischen Erschöpfung gequält und erniedrigt. Wir haben es gehört: Kleine Mädchen sind so mißhandelt worden, daß sie verbluteten, weil sie medizinisch nicht versorgt wurden.
Gezielt werden vor allem muslimische Frauen geschwängert und so lange gefangengehalten, bis sie keine Abtreibung mehr vornehmen lassen können. Sie sollen bewußt serbische Kinder gebären, und diese Kinder werden in der nächsten Zeit geboren.
Wir alle verurteilen diese infame Menschenverachtung; denn damit werden Frauen auf ihren Körper reduziert; sie sind das symbolische menschliche Schlachtfeld, auf dem die Sieger den Besiegten eindringlich ihre Niederlage vor Augen führen.
Vergewaltigte Frauen sowie Frauen, die dadurch schwanger geworden sind, haben aber auch von ihren eigenen muslimischen Landsleuten keinen Rückhalt zu erwarten, weil in ihren Augen eine geschändete Frau ehrlos geworden ist. Nach ihren Wertvorstellungen wird durch eine Vergewaltigung die Ehre des Ehemannes und der ganzen Familie gravierend verletzt. Frauen und Mädchen werden zu Täterinnen gemacht, wo sie Opfer sind. Kaum jemand kümmert sich um das Leid und die Demütigung, die die eigene Frau, die Schwester, die Tochter durch die Vergewaltigung erfahren hat. Viele gedemütigte Frauen begehen Selbstmord, weil sie die ihnen zugefügten seelischen Verletzungen nicht verkraften und nicht verarbeiten können.
Meine Damen und Herren, diese Vergewaltigungen sind Mord auf Raten. Die Frauen und Mädchen, die das Martyrium überleben, werden ihr weiteres Leben unter den traumatischen Erlebnissen leiden. Eine Partnerschaft einzugehen ist vielen nicht mehr möglich; denn das Erlebte kann nicht verdrängt werden.
Herr Außenminister Kinkel, ich danke Ihnen für Ihr Engagement, und ich danke Ihnen für die Zusicherung, diesen Frauen helfen zu wollen. Was wir noch tun müssen, was wir für unverzichtbar halten, entnehmen Sie bitte dem Antrag. Meine Kollegin Niehuis hat bereits darauf hingewiesen, wie umfassend die Hilfen sein müssen, die wir für diese Frauen und Kinder brauchen. Wir wollen uns alle engagieren. Auch ich bitte darum, unserem Entschließungsantrag mit großer Mehrheit zuzustimmen.
Ich fordere vor allen Dingen die Medien auf, diese geschundenen Frauen in ihrem Wunsch nach Ruhe und Anonymität zu respektieren und sie nicht erneut zu Opfern — dieses Mal der Sensationslust Dritter —
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Uta Würfel
zu machen, sondern mitzuhelfen, daß diese Frauen an Körper und Seele genesen können.
Das Wort hat nun mehr der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung stehen zehn verschiedene Anträge, und schon die bloße Aufzählung der unter diesem Tagesordnungspunkt versammelten Probleme würde einen Großteil meiner Redezeit beanspruchen, nicht zu reden von jenen Themen, die mangels passender Anträge gar nicht debattiert werden, wie beispielsweise das Engagement für die Menschenrechte in Guatemala, um dessentwillen der diesjährige Friedensnobelpreis an Rigoberta Menchu verliehen wird, was ich an dieser Stelle ausdrücklich würdigen möchte.
Statt die einzelnen Themen angemessen zu behandeln, entledigt sich der Bundestag sozusagen en passant der Anträge, die sich ein Jahr lang angestaut haben, jedenfalls zum Teil. Dieses Verfahren provoziert mich zu einem Vergleich, den Sie bitte nicht mißverstehen mögen. Es erinnert mich ein wenig an den Internationalen Frauentag in der DDR, an dem einmal im Jahr alle männlichen Chefs all ihren weiblichen Untergebenen Kaffee kochten.
Der Tag der Menschenrechte verdiente besser behandelt zu werden. Ich sage dies als jemand, der in der DDR an solchen Tagen mit seinem Anliegen die Straße betrat, um wenige Minuten später für mindestens 24 Stunden von der Staatssicherheit eingefangen zu werden. Dies geschieht mir und vielen anderen heute zum Glück nicht mehr. Dennoch oder gerade deswegen, meine ich, sollten die Menschenrechte in diesem Hause kontinuierlich und nicht nur einmal im Jahr angesprochen werden.
Jeder der vorliegenden Anträge verdient eine eigene Debatte.
Zu dem fragwürdigen Umgang mit China habe ich mich vorhin schon geäußert. Zusätzlich möchte ich nur noch meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, wie positiv die Koalition in ihrem Antrag den 14. Parteitag der Chinesischen Kommunistischen Partei sieht. Das überrascht mich wirklich.
Im folgenden möchte ich mich auf die schrecklichen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien beschränken. Es fällt mir sehr schwer, gerade nach dem, was Stefan Schwarz hier vorgetragen hat.
Daß der Krieg hemmungslos weitergeht und mittlerweile auch zum Scheitern der Blauhelmaktion in Bosnien geführt hat, ist u. a. auch eine Folge der inkonsequenten Embargopolitik der EG.
Neben dem unkontrollierten Einschmuggeln kriegswichtiger Güter über die östlichen Landesgrenzen nach Serbien wird das Embargo vor allem von Griechenland aus gebrochen. Damit verstößt Griechenland nicht nur gegen geltende EG-Beschlüsse, sondern wirft wissentlich und möglicherweise auch aus Eigeninteresse — siehe Mazedonien — Funken in das Pulverfaß Balkan.
Eine Staatengemeinschaft auf dem Weg zur politischen Union, die unfähig ist, ihre eigenen Beschlüsse zu achten und wenigstens für ihre eigenen Mitglieder durchzusetzen, macht sich auch in den Augen der Überfallenen, deren Menschenrechte sie zu vertreten behauptet, unglaubwürdig.
Wenngleich es inzwischen längst eine Illusion ist zu glauben, eine Durchsetzung des Embargos könnte in absehbarer Zeit den serbischen Eroberungskrieg und damit das Leiden der Menschen in Bosnien-Herzegowina beenden, muß doch nach wie vor diese Forderung aufrechterhalten werden. Allerdings sollten, da sie nicht mehr genügt, wir alle uns verpflichtet fühlen, über unsere Hilflosigkeit hinaus ohne Denkverbote nach Lösungen zu suchen.
Ich konnte sehr gut hören, lieber Stefan Schwarz, was Du zum Schluß hier gesagt hast. Das sind Überlegungen, die jeder von uns hat, der diese schrecklichen Bilder und Berichte sieht bzw. hört.
Es gibt viele Vorschläge, über die man nachdenken müßte, von Waffenlieferungen für die bosnischen Verteidiger von Sarajevo über Militärblockaden bis zur Intervention durch UNO-Truppen. Aber wer kann wirklich sagen, ob der Preis nicht zu hoch wäre? Die Rufe nach Befreiung der Lager und Einrichtung von Schutzzonen z. B. sind nur zu verständlich. Wer dies fordert, muß sich aber darüber im klaren sein, daß die dafür geeigneten Maßnahmen kaum andere als militärische sein können.
Schon oft wurde in diesem Hause über die Lage im Kosovo diskutiert. Noch herrscht dort kein Krieg, aber die Menschen erwarten von der EG und ganz besonders von Deutschland deutliche Signale und praktische Hilfe. Wenn dann ein Antrag, der nichts weiter als einen Appell an die Bundesregierung enthält, sich für die Rechte der Kosovo-Albaner einzusetzen, sage und schreibe neun Monate braucht, um hier im Plenum beschlossen zu werden, ist das ein Armutszeugnis. Seit mehreren Jahren ist immer wieder darauf hingewiesen worden, was sich im Kosovo anbahnt. Es ist fast ein Glücksfall, daß das Morden dort noch nicht begonnen hat. Immer deutlichere Zeichen aber gibt es, daß es unmittelbar bevorsteht. Deshalb sollten wir uns endlich auf vorbeugend wirkende politische Entscheidungen für Kosovo einlassen.
Wir hatten dazu auch Vorschläge gemacht, z. B. den
Vorschlag, ob es nicht möglich wäre, Blauhelme
11112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Gerd Poppe
vorbeugend im Kosovo zu stationieren. Solche Möglichkeiten müssen wenigstens geprüft werden.
Da alle Bemühungen, den Krieg in Bosnien zu beenden, erfolglos waren, muß wenigstens die Hilfe für seine Opfer verbessert werden. Vieles ist schon geschehen, und die Bundesrepublik hat sich mehr als andere Staaten daran beteiligt. Dennoch, wer die Bilder aus den Konzentrationslagern in Bosnien gesehen hat, wer die Aussagen von Opfern und die Berichte von Augenzeugen der Verwüstung ganzer Städte gehört hat, wußte von Anfang an, daß das zuwenig war. Für wen, wenn nicht für die von diesem Krieg Betroffenen, gelten die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention? Die Hilfsbereitschaft vieler Bürgerinnen und Bürger, von Familien in der Bundesrepublik ist beeindruckend. Aber sie scheitert oftmals an bürokratischen Verfahren zur Eindämmung der sogenannten Ausländerflut.
Ausgerechnet von den Flüchtlingen aus dem zerstörten Bosnien werden Visa oder Nachweise von finanziell bürgenden Gastgeberfamilien verlangt. Angesichts der Leiden zehntausender Menschen in den Lagern ist es ein Skandal, daß sogar jene, die nach schwierigen Verhandlungen freigelassen wurden, nicht selbstverständlich in Westeuropa aufgenommen werden. Statt dessen wurde innerhalb der EG über vergleichsweise geringfügige Quoten gestritten und riskiert, daß die halbverhungerten, gequälten Opfer in die Vernichtungslager zurückgeschafft würden, wie es der bosnische Serbenführer angedroht hat. Noch immer ist nur ein Teil der vereinbarten Aufnahmekontingente erfüllt worden.
Meine Damen und Herren, der während der gemeinsamen Sitzung der Auswärtigen Ausschüsse Polens, Frankreichs und Deutschlands zustande gekommene Antrag zur unbegrenzten Aufnahme dieser Menschen ist deswegen uneingeschränkt zu begrüßen. Daß er als unmittelbare Folge des Berichtes eines prominenten Augenzeugen, des UN-Sonderbeobachters Tadeusz Mazowiecki, spontan entstanden ist, spricht für den nachhaltigen Eindruck, den authentische Schilderungen zu erwecken vermögen. Unverständlich ist mir jedoch, daß dieser mittlerweile interfraktionelle Antrag mehrerer Anläufe und eines ganzen Monats bedurfte, um hier im Plenum verabschiedet zu werden. Wir sollten nicht, wie vorhin angegeben wurde, bis zum Januar warten, hier Tatsachen zu schaffen.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen. Das, was hier mehrfach geschildert worden ist, gehört zum Entsetzlichsten, was uns in jüngster Zeit an Nachrichten aus Bosnien erreichte: die Berichte über die Vergewaltigungslager. Die Worte fehlen, um systematische Massenvergewaltigung von Frauen und Kindern, die gezielt als Instrument zur Herabwürdigung und Erniedrigung eines ganzen Volkes eingesetzt wird, angemessen zu verurteilen. Dies sind schlimmste Kriegsverbrechen, ist Teil eines planmäßigen Völkermordes. Nach meinem Empfinden stellt diese Ungeheuerlichkeit alles in den Schatten, was bisher schon an Brutalität entmenschter Banden in diesem Krieg bekanntgeworden ist.
Seit den systematischen Vernichtungen durch die Nationalsozialisten hat es wenig gegeben, was dem gleichkäme.
Dem vorliegenden Antrag, der all dies feststellt und entsprechende Forderungen aufstellt, stimmen wir zu. Allerdings sind wir der Meinung, daß außer den Opfern von Vergewaltigungen auch jenen Schutz gewährt werden muß, die in Gefahr sind, in Kürze Opfer zu werden. Zum anderen darf die Aufnahme von Frauen und Kindern nicht als Begründung dafür dienen, andere Opfer von Folter und Lagerhaft abzuweisen. Deshalb haben wir in einem Änderungsantrag eine kleine Textänderung vorgeschlagen.
Wenn die reichen Staaten Europas schon außerstande sind, den Krieg zu beenden oder wenigstens einzudämmen, sollten sie wenigstens alles tun, um seinen Opfern zu helfen und ihr Leben zu retten. Dazu bedarf es nicht einmal des vorhin von mir geforderten Primats der Menschenrechte in der Politik, sondern das ist ein Gebot elementarer Menschlichkeit.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende des 20. Jahrhunderts, nach zwei verheerenden Weltkriegen und einer Unzahl sogenannter begrenzter Konflikte in den außereuropäischen Ländern hat der Krieg auch Europa wieder. Mit dem Krieg gehen die massenhaften Verletzungen elementarer Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf Leben, einher.
Alle Kriege der uns bekannten Geschichte wurden durch Männer wegen der Durchsetzung der Interessen von Männern mit den Mitteln der Männer geführt. Eines dieser Mittel war zu allen Zeiten die Gewalt gegenüber Frauen. Was sich heute im Kampfgebiet von Kroatien und Bosnien-Herzegowina abspielt und morgen vielleicht schon den Frauen und Mädchen in Kosovo oder Mazedonien droht, hat dennoch eine neue Dimension von Menschenrechtsverletzung eröffnet. Erstmals werden von allen beteiligten Seiten systematisch Massenvergewaltigungen als strategische Waffe gegen den jeweiligen Feind eingesetzt.
Täter sind reguläre Soldaten, paramilitärische Gruppen, Wächter in den Gefangenenlagern
und Bordellkonzentrationslagern, Nachbarn aus derselben Straße und wahrscheinlich sogar Blauhelm-
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Dr. Barbara Höll
Soldaten, kurzum, Männer aller Bevölkerungsschichten und auch Nationalitäten.
Frau Dr. Höll, Sie sind bereit, eine Frage des Abgeordneten Duve zu beantworten?
Ja.
Frau Kollegin, glauben Sie nicht, daß es ein weiteres Unrecht ist, das man Opfern zumutet, wenn man eine politische Gleichsetzung dieses ungeheuren Verbrechens der systematischen, kriegszielorientierten Massenvergewaltigung von Frauen, für den es einen Urheber gibt, in einem Satz, in einem Nebensatz, wie Sie es gemacht haben, vornimmt und sagt, genau dies täten alle beteiligten Seiten? Ich bitte Sie sehr — wir haben uns schon einmal auseinandergesetzt —, daß auch Ihre Organisation davon absieht, immer wieder diese diplomatisch schreckliche Gleichsetzung in einem Fall von Völkermord vorzunehmen. Wir kommen sonst in eine schlimme sozusagen diplomatische Neutralität, die wir uns angesichts dieser Vorgänge nicht leisten können.
Herr Duve, ich komme in meinem nächsten Absatz zu einer Wertung und auch Unterscheidung, welche Bevölkerungsgruppen es im Moment besonders trifft. Aber man muß auch feststellen — das kann in der Anhörung am Montag gerade durch die Sachverständige aus Jugoslawien, die viel vor Ort gearbeitet und sich unwahrscheinlich engagiert hat, zum Ausdruck —, daß es verfehlt ist, hier Unterscheidungen zu treffen, die vielleicht auf eine Freisprechung von Gruppen hinauslaufen, bei denen ebenfalls Massenvergewaltigungen — nicht in so vielen Lagern und anders — ausgeführt werden.
Der Abgeordnete Stefan Schwarz wollte auch eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich würde gern erst einmal weitersprechen.
Die bisher bekanntgewordenen Opfer sind Frauen jeder Nationalität und jeden Alters, von zehnjährigen Kindern bis zu dreiundachtzigjährigen Greisinnen. Einen extrem hohen Anteil an den Opfern haben muslimische Bosnierinnen, da auf ihrem Territorium der Krieg am heftigsten tobt. Die offiziellen Berichte aller kriegsführenden Seiten gleichen sich: Die eigene Beteiligung an derartigen Verbrechen wird geleugnet, die Frauen der eigenen Nationalität, die Opfer von Vergewaltigungen geworden sind, instrumentalisiert man, um mit ihrer Hilfe nationalistische Gefühle zu schüren und den Kampfeswillen der Soldaten zu stärken.
Obwohl sich diese Verbrechen bereits seit mindestens einem halben Jahr ereignen, schwieg die internationale Öffentlichkeit bis vor kurzem unisono. Wie sich in der Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend am Montag dieser Woche herausstellte, wußte z. B. der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen, Herr Mazowiecki, seit langem von der Existenz der Konzentrationslager für Frauen und Mädchen und den Verbrechen, die sich in ihnen abspielen. Daß er und andere Vertreter internationaler Organisationen dazu so lange schwiegen, zeigt, welchen Stellenwert die Menschenrechte von Frauen trotz der schönen und wahren Floskel von der Unteilbarkeit der Menschenrechte noch immer einnehmen.
Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch ein Hinweis von amnesty international auf die seit Jahren festgestellten Massenvergewaltigungen in Indien, Peru und Eritrea zu sein, die keinerlei Echo in der Weltöffentlichkeit gefunden haben.
Erst durch das Engagement von mutigen Frauen auch aus der Bundesrepublik konnte dieses Schweigen gebrochen werden.
Interessanterweise verdrängen jetzt, wo dieses Thema in den Medien hohe Auflagen und Einschaltquoten verspricht, die Journalisten immer mehr ihre Kolleginnen. Ich war einigermaßen verblüfft darüber, daß in der Anhörung bei den Sachverständigen ebenfalls die Männer überwogen. Substantielles zur Sache hatten sie denn auch nicht in dem Maße zu bieten wie die anwesenden Frauen, aber es gab jede Menge guter Ratschläge, insbesondere an die Kolleginnen der SPD, sich das mit den „out of area"-Einsätzen der Bundeswehr angesichts der Massenvergewaltigungen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens doch noch einmal zu überlegen. Ich konnte mich hierbei des Eindrucks nicht erwehren, daß genau wegen dieser brisanten innenpolitischen Problematik die offizielle Resonanz plötzlich derart groß ist. Oder wie soll ich mir anders den Umstand erklären, daß die massenhafte Vergewaltigung von Frauen aus Eritrea die Bundesregierung zu keiner Aktivität veranlaßte? Ist diese in Ihren Augen vielleicht weniger schlimm als die von Europäerinnen? Das möchte ich dann allerdings doch nicht glauben.
Was können wir jetzt alle tun, um die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen und Mädchen zu beenden und den Opfern zu helfen? An erster Stelle sollte meiner Meinung nach statt der Entsendung weiterer Soldaten, die ja ebenfalls potentielle Vergewaltiger sind,
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Dr. Barbara Höll
die sofortige Einstellung jedweder Waffenlieferungen stehen, die ja auch aus t' er Bundesrepublik kommen.
Wie Ihnen bekannt sein dürfte, wurde ein hoher Offizier der UNO-Blauhelme beschuldigt, ein gefangenes minderjähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Obwohl angeblich keine Beweise dafür gefunden werden konnten, wurde er nach Dänemark strafversetzt. Ich denke, dies spricht bereits eindeutig für sich.
Auf internationaler Ebene sollte die Bundesrepublik mit dafür sorgen, daß Vergewaltigung als Kriegsverbrechen nicht nur formell anerkannt wird,
sondern vor dem Internationalen Gerichtshof ein Prozeß gegen das Verbrechen der Massenvergewaltigung einschließlich der Verurteilung aller bekannten Täter durchgeführt wird.
Würde sich Herr Kinkel mit derselben Intensität, mit der er die neue Rolle der Bundesrepublik als Großmacht in den internationalen Gremien vorantreibt,
um die Schließung der Frauenlager in Bosnien-Herzegowina kümmern, könnte das ebenfalls hilfreich sein.
Schließlich sollten wir hier im Bundestag beschließen, die Grenzen für die Frauen und Kinder aus den Kriegsgebieten — ohne Visumspflicht und ohne Nachweis einer individuellen Verfolgung — sofort zu öffnen. Das schließt auch ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht für all die Frauen ein, denen wegen der islamischen Tradition auch nach Beendigung des Krieges Verstoßung durch ihre Familien oder anderweitige Verfolgungen drehen. Vor Ort, besonders in Kroatien, müssen sehr schnell Zentren für die Betreuung der Opfer eingerichtet werden, die aus den Lagern und Bordellen kommen und dringender medizinischer und psychologischer Hilfe bedürfen. Die Selbstmordrate ist bei den durch Vergewaltigungen geschwängerten Frauen — das ist die überwiegende Mehrzahl der Opfer — erfahrungsgemäß sehr hoch. Deshalb müssen Möglichkeiten für ambulante Schwangerschaftsabbrüche für die Frauen geschaffen werden, die dies wünschen und bei denen es noch möglich ist. Dies haben nach letzten Meldungen im übrigen selbst ranghohe islamische Geistliche gefordert. Den Frauen, die auf Grund der fortgeschrittenen Schwangerschaft diese austragen müssen, und den durch sie geborenen unschuldigen Kindern muß psychologischer Beistand über einen langen Zeitraum ermöglicht werden. Dazu sind materielle und finanzielle Mittel erforderlich, die wir ebenfalls sofort beschließen sollten.
Ich bitte Sie eindringlich, nicht noch mehr Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen. Sonst kommt für viele Opfer jede Hilfe zu spät.
Frau Abgeordnete Dr. Höll, die Äußerung und die generelle These „Soldaten als potentielle Vergewaltiger" hier zu vertreten, möchte ich aufs schärfste zurückweisen und erteile Ihnen dafür eine Rüge.
Das Wort hat der Abgeordnete Stefan Schwarz zu einer Kurzintervention.
Liebe Frau Kollegin! Ich will mich zu ein, zwei Punkten dann doch äußern.
— Geschätzte Frau Kollegin, Entschuldigung. — Sie müssen schon etwas zur Kenntnis nehmen — ich habe es bewußt weggelassen, weil es um Massenvergewaltigung geht —: Ich könnte Ihnen die Photos zeigen von kastrierten Männern, die von namhaft gemachten Frauen mit zerschlagenen Flaschen die Genitalien abgeschnitten bekommen haben. Ich will Ihnen dies auf die Art und Weise entgegnen, wie Sie im Unterschied zu Ihren Vorrednerinnen versucht haben, sozusagen ein ganzes Geschlecht einem geschmacklosen Verdacht auszusetzen. Es geht nicht um die Frage Frau/Mann, sondern um menschlich/unmenschlich. Dies ist das erste, was ich Ihnen sagen muß.
Das zweite: Ich danke Ihnen für die Klarstellung. Wissen Sie, es tut mir immer ganz gut, wenn man sieht, daß die SED geblieben ist, wie sie war, auch wenn sie das Firmenschild gewechselt hat.
Die Frau, die Sie angeführt haben, die aus Jugoslawien kommt — bekanntermaßen ist das SerbienMontenegro —, kommt aus Zagreb, aus Kroatien. Sehen Sie, Sie haben es bis heute nicht gelernt. Ich will Ihnen sagen: Die Gedankensplitter großserbischen Denkens, die bei Ihnen zum Ausdruck kommen, erinnern mich fatal an die Ausbildung, die die jugoslawische Bundesarmee, die da heute im serbischen Namen so herumwütet, im Namen der SED von der NVA und von anderen mitbekommen hat. Der Westen hat Geld hineingepumpt. Die DDR hat viel Ausbildung gemacht. Eine der Auswirkungen sehen wir jetzt.
Ich finde Ihren Beitrag unerträglich und kann ihn deshalb nicht unkommentiert stehenlassen.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ilse Falk das Wort.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11115
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will jetzt nicht diese Diskussion fortsetzen, sondern noch einmal auf einen Punkt kommen, der mir sehr wesentlich zu sein scheint — unser Umgang mit Gewalt, unsere Wahrnehmung von Gewalt.
Wenn wir heute die Nachrichten einschalten, wenn wir Tageszeitungen aufschlagen oder wenn wir uns einfach einen gemütlichen Fernsehabend machen wollen, eines ist uns immer sicher: Wir werden mit Gewalt konfrontiert.
Da werden Menschen als Opfer von Kriegen, von Naturkatastrophen oder Verkehrsunfällen verstümmelt und sterben, da werden Menschen gefoltert und gequält, geprügelt, mißbraucht, ermordet — und immer können wir Dank moderner Großaufnahme-und Übertragungstechnik ganz nah dabeisein. Mal ist es Berichterstattung aus irgendeinem Winkel dieser Welt, mal aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft, mal sind es sogenannte Unterhaltungsfilme oder auch nur Comics. Mal ist es Schein, mal Wirklichkeit.
Immer aber haben diese Bilder eine klare Abgrenzung — der Fernseher hilft uns, Distanz zu schaffen. Die schnelle Abfolge der Themen — ein bißchen Somalia, ein bißchen Trennungsdrama im englischen Königshaus, ein bißchen Krieg in Bosnien und dann ein netter Western — setzt uns einem Wechselbad der Gefühle aus, und es kann uns nur schwer gelingen, Schrecken und Entsetzen in Mitgefühl umzusetzen. Vielleicht sind gut funktionierende Abwehrmechanismen sogar ein Selbstschutz, der uns davor bewahrt, am Mit-Leiden zu zerbrechen.
Und dann kann es plötzlich passieren, daß einem Bilder näherrücken und Wirklichkeit werden und wir das Unangenehme einfach nicht mehr abschalten können. In dramatischen Schilderungen haben wir gerade eben von den grauenvollsten Menschenrechtsverletzungen an Kindern, Frauen und Männern im Kriegsgebiet von Bosnien-Herzegowina gehört. Betroffene haben uns ihre unvorstellbaren Leiden geschildert. Sachverständige haben bei der Anhörung am Montag die Situation dargestellt und ihre Hilflosigkeit.
Wenn wir Frauen heute — mit der vollen Unterstützung unserer Fraktionen — in einem gemeinsamen Entschließungsantrag in besonderer Weise die Menschenrechtsverletzungen an Frauen und — man müßte ergänzen — an Mädchen und Jungen angesprochen haben, wird das wohl jeder, der uns zuhört, verstehen können. Hier werden Vergewaltigung, Empfängnis-Erzwingung als Kriegswaffen benutzt, um eine Gesellschaft und ein Volk zu zerbrechen. Ich glaube nicht, daß wir uns wirklich vorstellen können, was den Frauen in den Vergewaltigungslagern täglich und stündlich passiert. Nur eine völlig kranke Phantasie kann fähig sein, sich dieses auszumalen. Aber das, was wir verstehen, reicht aus, es in alle Welt hinauszuschreien, jeden Menschen aufzurütteln:
Wacht endlich auf! Helft uns helfen! Helft, den fürchterlichen Krieg zu beenden! Kapiert endlich, daß hier unmittelbar neben unserer gepflegten Haustür in einem Land, das ehemals ein bevorzugtes Urlaubsland der Deutschen war, Menschen sterben müssen oder für ihr ganzes Leben gezeichnet werden!
Wir dürfen nicht weiter die Bilder aus der Distanz des Fernsehsessels betrachten und, wenn wir sie nicht mehr ertragen können, abschalten. Die so gequälten Frauen werden, wenn sie denn überleben, die Bilder in ihren Köpfen nie mehr abschalten können.
Unser Entschließungsantrag enthält Forderungen, die eine Hilfe sein könnten. Wir bitten die Bundesregierung dringend, sich mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht für die Umsetzung dieser Forderungen einzusetzen. Ich fordere uns alle auf, in unseren Wahlkreisen auf die Not der Frauen in Bosnien aufmerksam zu machen und Initiativen zu unterstützen, die direkte Hilfe leisten.
Ich bin dankbar, daß die Bundesregierung schnell und unbürokratisch Geld zur Verfügung stellt, damit Hilfsmaßnahmen speziell für die betroffenen Frauen anlaufen können. Aber ich weiß auch, daß humanitäre Aktivitäten politische nicht ersetzen können und frage Sie deshalb:
Darf die internationale Staatengemeinschaft wirklich weiterhin Völkermord und Vertreibung dulden und hilflose Menschen der Willkür der Angreifer aussetzen?
Müßte nicht die europäische Politik wesentlich entschlossener als bisher Konfliktunterbindung an die Stelle von Konfliktbeobachtung und Konfliktbegrenzung setzen?
Müssen wir wirklich handlungsunfähig einer Ausweitung des Krieges womöglich auf Kosovo und Makedonien zusehen und wieder hinnehmen, daß weitere 50 000 oder 80 000 oder vielleicht hunderttausende Frauen, Mädchen und Jungen vergewaltigt werden, Männer verstümmelt oder gemordet werden?
Meine Damen und Herren, ich habe zwei erwachsene Söhne, und so weiP ich, was die Antwort auf meine Fragen in Konsequenz bedeuten kann, aber ich habe auch zwei Töchter, und ich stelle mir vor, sie wären in ihrem bisher 27jährigen Leben oder in Zukunft irgendwann einmal solcher Brutalität ausgesetzt: Kann ich dann wirklich noch schweigen und geduldig sein und abwarten, ob dieser schreckliche Krieg vielleicht irgendwann einmal von alleine aufhört?
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich an keine Menschenrechtsdebatte erinnern, die frei von Resignation war. Da stellt man einerseits befriedigt fest, daß im Land X nicht mehr soviel gefoltert oder gar nicht mehr gefoltert wird. Da gibt es ein Land Y, das man wieder neu in die Liste aufnehmen muß, in dem sich die Menschenrechtssituation eher verschärft hat.
11116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Dr. Eberhard Brecht
Besonders schmerzlich ist es dabei, wenn im Ausland angesichts der Ausschreitungen, die wir heute in Deutschland erleben, unser Land plötzlich in die Kategorie Y gestellt wird.
Resignation macht sich aber auch breit, wenn Publizisten, wenn NGOs, wenn Politiker gegen die Verletzung der Menschenrechte angehen, wenn sie versuchen, durch Veröffentlichungen Druck auszuüben, wenn sie Gespräche führen, Verhandlungen, wenn sie wirtschaftlichen und politischen Druck ausüben und all das dann trotzdem ohne Erfolg bleibt. Um unsere bescheidenen Möglichkeiten wissend, ist es gleichwohl unsere moralische Pflicht, immer wieder gegen diese Vergehen gegen die Menschlichkeit anzurennen.
Besonders deutlich wird unsere Ohnmacht angesichts des Balkankonflikts, der hier in verschiedenen Redebeiträgen angesprochen wurde. Da werden Bürger Bosnien-Herzegowinas vertrieben, gefoltert, geschlagen, verwundet, getötet und ausgehungert. Frauen werden systematisch vergewaltigt, und Kinder erleiden seelische Schäden, von denen sie sich vermutlich ein Leben lang nicht erholen werden. Aber auch in einigen Regionen des früheren Jugoslawiens, in denen derzeit kein offener Krieg tobt, werden die Menschenrechte grob mißachtet. Besorgniserregend ist die Situation insbesondere im Kosovo. Seit der Aufhebung der Autonomierechte des Kosovo und der Auflösung des Parlaments und der Absetzung der Regierung in Prišdina, sehen sich die Kosovo-Albaner einer gesteigerten Repression durch die serbischen Behörden ausgesetzt, die mit permanenten Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Ich verweise hier auf die einschlägigen Berichte von amnesty international, auf den Kosovo-Report und auf den im vergangenen Monat herausgegebenen Bericht von Helsinki Watch über die Situation der Menschenrechte im Kosovo.
Nachdem sich der Bundestag in einem gemeinsamen Entschließungsantrag im letzten Jahr, 1991, für die Wiederherstellung der Menschenrechte im Kosovo eingesetzt hat, hat es die aktuelle Situation erforderlich gemacht, daß wir in diesem Jahr als SPD-Fraktion einen erneuten Antrag einbringen mußten.
Dieser Antrag hat zum Ziel, die Bundesregierung dazu zu ermuntern, für die Gewährleistung der Menschenrechte und die Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Kosovo-Albaner zu sorgen. Dabei haben wir nicht dem Drängen vieler Kosovo-Albaner auf eine Sezession von Restjugoslawien und auf eine anschließende Vereinigung mit Albanien gegen den Willen der dort lebenden Serben nachgegeben. Solche Forderungen würden einen Friedensprozeß von vornherein ausschließen.
Es ist erfreulich, daß der Antrag im Auswärtigen Ausschuß die Zustimmung aller Fraktionen des Bundestages gefunden hat. Ich bedaure gleichwohl — wie der Kollege Poppe —, daß es so lange gedauert hat, bis er auf die Tagesordnung gekommen ist.
Inzwischen gibt es leider eine neue Entwicklung. Der Internationale Bund Freier Gewerkschaften wies in einer Dokumentation darauf hin, daß die serbischen Behörden derzeit bemüht sind, eine intensive Reslawisierungspolitik durchzupauken. Besorgniserregend sind vor allem die Versuche einer ethnischen Säuberung im Kosovo. Sie fallen nur deshalb nicht so besonders auf, weil die entsprechenden Vorgänge in Bosnien — bisher zumindest — in Art und Umfang noch viel schlimmer sind.
Der Vorsitzende der radikalen serbischen Partei z. B. macht gar kein Hehl daraus, die ethnische Struktur im Kosovo drastisch verändern zu wollen. So werden serbischen Flüchtlingen Grundstücke und Gebäude zugewiesen, die man vorher Albanern konfiszierte. Auch Ackerland, Baugrundstücke und Waldgebiete wurden Serben zu Lasten albanischer Bewohner zugeschoben.
Das alles trägt dazu bei, die schon vorhandenen ethnischen Spannungen weiter zu verschärfen. Auf solche Vorgänge zielt unser Antrag mit dem Titel „Konvention gegen Vertreibung". Damit die Völkergemeinschaft auf derartige Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen angemessener reagieren kann, fordern wir darin die Bundesregierung auf, dem Deutschen Bundestag einen Entwurf für eine Anti-Vertreibungs-Konvention zur Beratung vorzulegen. Wir fordern die Bundesregierung weiterhin auf, eine Initiative in den internationalen Gremien für eine solche Konvention zu ergreifen, damit die Vertreibung von Minderheiten und Bevölkerungsgruppen völkerrechtlich und letztlich auch strafrechtlich geahndet und bestraft werden kann.
Unter dem Regime von Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen nimmt es nicht wunder, wenn sich mehr und mehr Kosovo-Albaner zur Flucht aus ihrer Heimat entschließen. In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage, wie wir Deutschen uns künftig den Flüchtlingen aus dem Kosovo gegenüber verhalten werden.
Viele von ihnen sind inzwischen so verarmt, daß ihnen der Erwerb eines Flugtickets unmöglich ist. So werden sie also mehrheitlich auf dem Landweg zu uns kommen und um Asyl nachsuchen.
An der deutsch-polnischen, deutsch-tschechischen oder deutsch-österreichischen Grenze würden die Kosovo-Albaner nach Umsetzung des jetzt gefundenen Asylkompromisses zurückgewiesen, da einerseits im Kosovo kein offener Krieg oder Bürgerkrieg stattfindet, aber sie andererseits nach Abs. 2 des neuen Art. 16a des Grundgesetzes aus einem sicheren Drittstaat einreisen.
Mir fällt es sehr schwer, in diesem Zusammenhang an Bekenntnisse zu Menschlichkeit und zur Menschenrechtskonvention zu glauben, wenn eine ganze Gruppe politisch Verfolgter nämlich praktisch keine Chance mehr auf ein Asylverfahren in Deutschland hat.
Ich kann daher den gefundenen Asylkompromiß nur dann mittragen, wenn gleichzeitig eine gerechte Quotierung der Flüchtlingsaufnahme mit unseren
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11117
Dr. Eberhard Brecht
europäischen Anrainerstaaten vertraglich vereinbart wird.
Heute müssen wir feststellen, daß alle internationalen Bemühungen für eine Befriedung des Kosovo ohne sichtbares Ergebnis geblieben sind. Alle Beteiligten beschreiben nur die brennende Zündschnur am Pulverfaß des Kosovo, ohne in der Lage zu sein, sie zu löschen.
Da wurde eine Langzeitkommission der KSZE zum Kosovo-Konflikt installiert. Herr Mazowiecki und seine Kommission tun ihr Bestes. Die NATO beschäftigte sich jüngst mit dem eskalierenden Konflikt. Mit der Einsetzung des Lenkungsausschusses in Genf und der sechs Arbeitsgruppen im Anschluß an die Londoner Konferenz ist es zwar gelungen, innerhalb der „Arbeitsgruppe über die ethnischen und nationalen Gemeinschaften und Minderheiten" eine sogenannte Sondergruppe für die frühere autonome Provinz Kosovo einzurichten; aber bewirken konnte sie bislang nichts.
Denn der serbische Präsident Milosevic behauptet nach wie vor, daß der Konfliktherd Kosovo lediglich ein innerserbisches Problem sei. In der Konsequenz dieser Position hat er denn auch den Vorschlag einer internationalen Friedenskonferenz über den Kosovo rundweg abgelehnt, und deshalb konnte im Sommer dieses Jahres die KSZE auch nur gegen den erklärten Willen der serbischen Regierung den Beschluß fassen, eine Untersuchungskommission auch in den Kosovo zu entsenden.
Da einerseits Milosevic und seine Freunde an einer fairen Verhandlungslösung desinteressiert sind, andererseits die Völkergemeinschaft vor dem hohen Blutzoll einer militärischen Intervention im ehemaligen Jugoslawien zurückschreckt, entsteht in der Öffentlichkeit der fatale Eindruck eines hilflosen Aktionismus von UNO, EG und KSZE.
Dennoch: Es muß und kann gehandelt werden! War das vorrangige Ziel früherer internationaler Bemühungen die Austrocknung und Beendigung des Krieges in Kroatien und Bosnien-Herzegowina und die Wiederherstellung der Menschenrechte dort allein, so müssen wir heute unsere Anstrengungen auch darauf konzentrieren, einen Flächenbrand auf dem Balkan zu verhindern. Eine solche Eskalation würde ihren Ursprung vermutlich im Kosovo haben.
Wenn Europa oder die Vereinten Nationen auch nur die Spur einer Chance für eine Begrenzung des Balkankrieges haben wollen, so muß der Druck auf die serbischen Machthaber erheblich verstärkt werden. Dazu gehört die Botschaft, daß die NATO nicht zusehen wird, wie neben Albanien auch ihre Mitgliedstaaten Griechenland und die Türkei in einen bewaffneten Konflikt hineingezogen werden.
Jüngste Berichte aus Brüssel verdeutlichen die Interessenlage des Bündnisses.
Zum Druck auf Serbien gehört auch die auf der Londoner Konferenz beschlossene präventive Stationierung von Beobachtern in den explosiven Regionen Kosovo, Mazedonien, Vojvodina und Sandzak. Auch könnte die KSZE-Langzeitkommission EG-Beobachter aufnehmen und auf diesem Weg dafür sorgen, daß sie auch im Kosovo ihre Tätigkeit ausüben können.
Beklagenswert ist dabei — Herr Lamers, ich komme gleich zu unserem Manko — der völlig unzureichende deutsche Beitrag zu den EG-Monitoren.
Von den ca. 170 Monitoren der EG, die gegenwärtig im Gebiet des früheren Jugoslawiens tätig sind, sind lediglich zwei deutsche.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich hier mit eigenen Monitoren stärker zu engagieren. Und ich sage auch: Dies hat nichts mit einer gebotenen deutschen Zurückhaltung in Jugoslawien zu tun. Im übrigen begrüßen wir die Initiative des scheidenden Präsidenten Bush, US-Bürger an einer internationalen zivilen Monitor-Mission im Kosovo zu beteiligen.
Als eine weitere präventive Maßnahme sollte die Stationierung von UNO-Blauhelmen im Kosovo und in Mazedonien erstritten werden.
Dies ist auch eine Forderung der Übergangsregierung des Kosovo.
Herr Lamers, wir sollten wenigstens das ernst nehmen, was die Kosovo-Albaner ja selbst fordern, und dies ist es! — Auch Albanien und Mazedonien haben ihre Bereitschaft erklärt, an ihren Grenzen UNO-Friedenstruppen zum Zwecke der vorbeugenden Konfliktabwehr aufstellen zu lassen.
Die Bundesregierung sollte nun innerhalb der EG und der UNO ihren Einfluß geltend machen, damit diese Form der Prävention verwirklicht werden kann. Ich erinnere an die damals verspätete Stationierung der UNPROFOR-Truppen in Kroatien. Dies sollte uns zur Eile treiben.
Schließlich sollten wir mehr als bisher die serbische Opposition stützen, die zwar differenziert, aber doch mehrheitlich für einen Friedensprozeß eintritt. In diesem Zusammenhang ist die Sondergenehmigung des UN-Sanktionsausschusses für den Ausbau des Oppositionssenders ausdrücklich zu begrüßen.
Falls es bei den in zehn Tagen abzuhaltenden Wahlen in Serbien Milosevic nicht gelingt, an die Regierung zu kommen, müßten sich die Oppositionsgruppen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm und auf einen von allen getragenen Spitzenkandidaten verständigen. Eine neue serbische Regierung
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Dr. Eberhard Brecht
würde unserem Verständnis nach eher national orientiert sein. Dennoch bestünde eher bei ihr die Hoffnung auf Achtung der Menschenrechte und auf die Bereitschaft, in Genf den Weg des Friedens einzuschlagen.
Meine Damen und Herren, viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Nutzen wir sie!
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Herr Schwarz hier vorgetragen hat, war erschütternd, in jeder Beziehung erschütternd. Ich war wahrscheinlich nicht der einzige, der das so empfunden hat. Sie alle haben das empfunden. Das hat man auch gemerkt.
Es war sozusagen mit dem Brennglas ein Aspekt herausgearbeitet — zugegebenermaßen einer der schlimmsten — dieses schrecklichen Vorgehens und der schrecklichen Vorgänge im früheren Jugoslawien. Aber ich glaube, es war wichtig, daß dieser Aspekt so herausgearbeitet worden ist, wie das geschehen ist.
Trotzdem muß ich sagen: Natürlich ist es nur ein Aspekt. Ich bin jetzt sechs Monate Außenminister und habe mit der mir zur Verfügung stehenden Kraft versucht, mich ganz speziell auch dieses Problems anzunehmen. Es ist so, daß die Hilflosigkeit und die überwältigenden Probleme einen wütend und traurig zugleich machen. Wütend und traurig zugleich, weil die Völkergemeinschaft es bisher nicht fertiggebracht hat, dieses schreckliche Problem auch nur einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Ja, die Vereinten Nationen, der Sicherheitsrat, die KSZE, die WEU, wir zwölf Europäer, die Amerikaner bilateral, — wir alle haben uns gemeinsam bemüht. Das Ergebnis ist beschämend, beschämend gering.
Ich sage das in aller Deutlichkeit und in aller Klarheit auch und gerade vor dem Gipfel in Edinburgh, zu dem ich heute abend mit dem Bundeskanzler fliege, wo dieses Thema wieder auf der Tagesordnung stehen wird, und auch vor der erneut einberufenen Konferenz am 16. Dezember in Genf, wo wir nach der Londoner Konferenz und aller dazwischenliegenden Bemühungen erneut versuchen wollen, das Problem in den Griff zu bekommen.
Man hat in der Tat den Eindruck, daß bisher alles vergeblich war und daß eigentlich nur eines helfen könnte. Nur, bei aller Bedrückung, bei aller Hilflosigkeit und bei aller Wut, ich habe in den sechs Monaten auch lernen müssen, und zwar bitter lernen müssen, daß wir jedenfalls — es ist heute schon gesagt worden — im Fordern dieses letzten Mittels vorsichtig sein sollten aus Gründen, die ich hier nicht wiederholen will.
Denn mein Eindruck war bisher jedenfalls: Selbst wenn wir in der verfassungsrechtlich-politischen Frage einig wären, wäre in diesem Bundestag wohl nur schwer eine Mehrheit für einen Einsatz deutscher Soldaten in Jugoslawien zu finden.
Ich sage das mit der notwendigen Zurückhaltung, aber ich sage es doch deutlich und klar, um auch darauf hinzuweisen, daß wir in besonderer Weise Verständnis dafür haben müssen, daß diejenigen, die einen solchen Eingriff machen könnten, was die militärische Seite dieses Eingriffs anbelangt, außerordentlich zurückhaltend sind.
Ich habe noch vor kurzem ein Gespräch mit dem amerikanischen Verteidigungsminister geführt und ihn gefragt: Bleibt es bei der bisherigen Einschätzung? — Eindeutig ja. Fragen Sie die Franzosen, fragen Sie die Briten, alle haben Angst — das muß einmal ausgesprochen werden, auch in diesem Plenum —, daß sie wegen der geographischen Situation in einen unsäglichen Guerillakrieg hineingezogen werden könnten, bei dem alle Angst und Sorge haben, daß er nicht kalkulierbare Opfer auch auf der zivilen Seite mit sich bringen würde.
Dazu muß man sagen, wenn man sich die moralischethische Seite der ganzen Sache ansieht, daß man natürlich besonders wütend wird, daß wir auf Grund der Regeln des Waffenembargos, das wir ja unterstützen und für meine Begriffe auch unterstützen müssen, das berechtigte Selbstverteidigungsrecht dieser zu Unrecht angegriffenen Menschen nicht dadurch erleichtern können, daß wir ihnen wenigstens helfen, sich selbst verteidigen zu können.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Jäger zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich würde dies gern zu Ende führen. Ein bißchen später, Herr Jäger, wenn Sie einverstanden sind.
Ich wollte einfach sagen: „Et respice finem" bei allem, was wir hier miteinander besprechen und erörtern! Es ist in der Sache eben ungeheuer kompliziert.
Nun hilft das alles nichts. In der Analyse sind wir uns einig. Die Therapie ist das Entscheidende. Deshalb will ich versuchen, zur Therapie zwei Dinge zu sagen. In der Analyse, wie gesagt, brauchen wir uns nicht weiter zu bewegen, aber in der Therapie. Da möchte ich zu dem letzten schrecklichen Problem, das angesprochen worden ist, aus meiner Sicht sagen, was da getan werden kann und getan wurde.
Erstens. Es müssen Häuser für Frauen in Not geschaffen werden, in denen die Frauen und Mädchen medizinisch und psychologisch betreut werden. Ein erstes dieser Häuser wird wohl in Zagreb eröffnet werden. Wir sind daran. Das Auswärtige Amt und die Bundesregierung versuchen, da zu tun, was nur irgend geht.
Zweitens. Eine Kette örtlicher Beratungsstellen soll sowohl einen Anlaufpunkt für betroffene Frauen als auch für die Fachberatung von Krankenhäusern, Kliniken und frei praktizierenden Ärzten bilden. Wir sind dabei, das in die Praxis umzusetzen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11119
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Drittens. Man muß klar sehen, daß das Maß an Solidarität, das den betroffenen Frauen gegenüber inzwischen Gott sei Dank, wie sich in mancher Beziehung gezeigt hat, zum Ausdruck kommt, auch hilft, die Probleme zu bewältigen. Zum Teil sind vor Ort auch weitgehend intakte Großfamilien oder einzelne Verwandte, die den Frauen Rückhalt geben können.
Die Frauen sollten deshalb nur in Ausnahmefällen und nur auf besonderen persönlichen Wunsch aus dieser Umgebung genommen werden. Soweit Sie das wollen und wünschen, hat die Bundesregierung erklärt — und wir haben das personell zahlenmäßig nicht beschränkt —, daß wir bereit sind, und zwar sofort, diese Frauen hier aufzunehmen. Ich habe das schon vorher gesagt.
Viertens. Frau Seiler-Albring wird nächste Woche — ich habe angeregt, daß weibliche Mitglieder der Fraktionen an dieser Reise teilnehmen — dorthin fahren. Bloß ist das äußerst schwierig. Ich habe gesagt, es hat keinen Sinn, eine Reise dorthin zu machen, wenn man nicht die Chance hat, in diese 16 Vergewaltigungslager, die es da angeblich gibt, hineinzukommen. Das heißt, ich muß erst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir jedenfalls die Chance haben, in eines oder zwei dieser Lager hineinzukommen, weil eine Reise „for show" keinen Sinn hat. Wir sind dabei, es vorzubereiten.
Ich lade die Fraktionen ein, an dieser Reise teilzunehmen. Ich glaube, daß das wirklich einmal ein Anlaß wäre, wo Exekutive und Parlament zusammen etwas unternehmen könnten. Denn ich sage, wir müssen endlich raus aus dem ewigen Analysieren, wir müssen mal dorthin und sagen: Jawohl, so viele Lager gibt es dort, das haben wir gesehen. Und wir helfen vor Ort wie folgt.
Wir haben uns entschlossen, mit Herrn Panić zu sprechen. Sie wissen das. Das ist mir wahrhaftig schwergefallen; das sage ich in diesem Haus. Ich habe mich über Wochen oder Monate hinweg gedrückt, auch noch bei der Londoner Konferenz. Ich habe Herrn Panić unmißverständlich und deutlich gesagt, daß es nichts nützt, nur Worte zu machen, sondern daß wir Taten sehen wollen und daß er als Ministerpräsident auch und in erster Linie mit die Verantwortung dafür trägt, daß solche Dinge geschehen. Er kann sich dort nicht nur hinstellen und sagen, er sei der Ministerpräsident dieses Landes und werde die Dinge in Ordnung bringen, und in der Praxis Nullkommanichts bewegen.
Ich habe Herr Mazowiecki hier gehabt und habe mir ausführlich berichten lassen. Wir versuchen, ihn zu unterstützen, soweit es nur irgendwie möglich ist, durch Manpower und Geld. Ich habe mich an Herrn Owen und an Herrn Vance gewandt und versucht, umzusetzen, was umzusetzen geht. Ich habe mich an Herrn Douglas Hurd als derzeitige Präsidentschaft
gewandt. Ich habe Montag und Dienstag nacht in langen Gesprächen dieses Thema mit den Zwölf besprochen. Wir werden auf Initiative des Bundeskanzlers morgen in Edinburgh diese Vergewaltigungsproblematik zu einem Top-Punkt des Gipfels machen und darauf bestehen, daß auch die Zwölf mit der Power, die sie gegenüber diesen Ländern haben, versuchen, mitzuwirken, daß diese Dinge unterbunden werden.
Herr Bundesminister, ich habe jetzt drei Wünsche nach Fragen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin bereit, diese Fragen zu beantworten, möchte aber, daß das nicht von meiner Zeit abgezogen wird. Denn ich würde sehr gern noch etwas zu China sagen, weil das noch gar nicht zur Sprache gekommen ist. Wegen der Angriffe, die da gegen mich gestartet worden sind, habe ich das Bedürfnis, zwei oder drei Sätze dazu zu sagen.
Herr Bundesminister, ich rechne Ihnen die Zeit nicht an. — Zunächst der Herr Abgeordnete Jäger .
Herr Bundesminister, wenn ich davon ausgehe, daß in diesem Hause durchaus Verständnis für die Haltung der Bundesregierung ist, Zurückhaltung bei der Frage zu üben, wo es um den Einsatz von Militär geht, so möchte ich Sie doch fragen, weshalb die Bundesregierung an ihrem Standpunkt festhält, daß die Beibehaltung des Waffenembargos auch gegenüber den Opfern der Aggression noch ein sinnvolles Mittel ist, dort zu helfen, und warum die Bundesregierung nicht umgekehrt bei den Vereinten Nationen den Antrag stellt, dieses Waffenembargo zugunsten der von der Aggression Betroffenen, also vor allem der Bosnier, aufzuheben, damit sie sich endlich wenigstens selbst verteidigen können, wenn wir ihnen schon nicht helfen wollen oder glauben, ihnen nicht helfen zu können.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Frage des Waffenembargos ist innerhalb der Vereinten Nationen, vor allem auch unterhalb der Zwölf x-mal intensivst besprochen worden. Es spricht vieles für das, was Sie, Herr Jäger, sagen. Es spricht aber, jedenfalls bisher, nach Meinung der überwiegenden Mehrzahl der Mitglieder der Vereinten Nationen und der Zwölf, die sich Gedanken darüber machen, vieles dagegen, das Waffenembargo in diesem Sinne aufzuheben. Wir sind der Meinung, daß die Aufhebung letzendlich kontraproduktiver wäre als die Aufrechterhaltung. Das ist eine Abwägung.
Man kann verschiedener Meinung sein; das räume ich ein. Wir, die Bundesregierung, sind intensiv an den Gesprächen beteiligt. Bisher haben wir uns dieser Auffassung angeschlossen.
Frau Steinbach-Hermann, bitte sehr.
11120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Herr Außenminister, Sie haben angeregt, daß mit Abgeordneten eine Besichtigung der Vergewaltigungslager vorgenommen wird. Haben Sie nicht die Befürchtung, daß dieser Sightseeinghumanismus anschließend wieder in einen unsäglichen Sprechblasenhumanismus ausarten wird? Es werden Taten gefordert, zumindest die Hilfe zur Selbsthilfe mit der Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen. Es ist eigentlich unerträglich, wenn man beachtet, was am Ende dann herauskommt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich sehe das Problem, habe aber diese Sorge nicht, weil ich von denen, die dorthin fahren, erwarte, daß sie dies in der Form machen werden, wie man so etwas machen muß, um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, was dort unten los ist, um etwas zu bewirken.
Vor der Frage stehend, ob wir das von hier aus, wenn wir die Verhältnisse nicht genau kennen, kommentieren oder ob wir uns vor Ort umsehen, um zu wissen, worüber wir reden, würde ich persönlich mich für das zweite entscheiden.
Herr Abgeordneter Duve.
Herr Bundesaußenminister, Sie haben die vielfachen Gespräche für das, was als Vorbereitung für Edinburgh, auch im Rahmen der UNO, zu tun ist, erwähnt. Meine Frage: Ist in diesem Zusammenhang bereits davon gesprochen worden, bei einer möglicherweise noch dramatischeren Situation in Bosnien-Herzegowina dieses Gebiet unter UNO-Mandatsprotektion zu stellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, dieses Thema ist erörtert worden, bisher aber noch nicht mit einem Ergebnis.
Frau Abgeordnete Limbach.
Herr Bundesaußenminister, haben Sie nicht die Befürchtung, daß bei einem offiziellen Besuch in solchen Menschenvernichtungslagern ein Ergebnis herauskommen könnte wie beispielsweise bei einem Besuch des Roten Kreuzes in Theresienstadt?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich glaube nicht, daß das so sein wird. Ich sage noch einmal: Ich vertraue auf diejenigen, die dorthin fahren.
Im übrigen ist es so: Wir werden die Reise für die Bundesregierung machen. Wenn sich die Fraktionen des Bundestages nicht anschließen wollen oder können — aus Gründen, die ich akzeptiere —, dann ist das eine andere Sache.
Im übrigen haben wir nicht vor, Sightseeingtourismus zu betreiben, sondern vor Ort zu eruieren, welche Situation vorliegt, um helfen zu können. Der Vorschlag ist also gutgemeint; denn ich gehe davon aus — ein drittes Mal —, daß diejenigen, die die Reise unternehmen, dies so machen werden, daß der Eindruck, den Sie befürchten, nicht entstehen kann.
Herr Abgeordneter Werner.
Herr Bundesaußenminister, vorab erklärend, daß ich sehr dankbar dafür bin, was Sie bisher in dieser Hinsicht unternommen haben — das schätze ich sehr —,
möchte ich gleichwohl den Eindruck vermitteln, daß ich das, was Sie bisher gesagt haben, nur als Ausweich- und Ausfluchtsmanöver empfinden kann.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie denn bereit sind, uns hier zu sagen, in welche Richtung Sie in Edinburgh argumentieren wollen, und dort im Hinblick auf eine gemeinsame militärische Aktion gegebenenfalls bereit sind, den Verbündeten zu erklären, daß, wenn es hier schon unüberwindbare grundrechtliche Positionen gibt, wir als Deutsche bereit sein müssen, logistische militärische Hilfe und auch finanzielle Hilfe zur Verfügung zu stellen, so wie wir dies in einer anderen Krisenregion, nämlich am Golf, sehr wohl getan haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Zunächst einmal werden auf dem Gipfel morgen vor allem die Regierungschefs sprechen und die Außenminister nur assistierend dabeisein. Da ich diese Fragen mit dem Herrn Bundeskanzler ausführlich zuletzt gestern bzw. heute morgen vorbesprochen habe, bin ich sehr sicher, daß wir dort natürlich erklären werden, daß wir mit allen uns auch rechtlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterstützend mithelfen werden; da kann gar keine Frage sein.
Wir haben bisher, was die gesamte Hilfe für das frühere Jugoslawien, für Somalia und für andere Krisengebiete auf dieser Erde anbelangt, wahrhaftig viel getan. Wir brauchen unser Licht mit dem, was wir getan haben, nicht unter den Scheffel zu stellen. Das muß nach draußen, auch hier im Deutschen Bundestag, einmal deutlich gesagt werden.
Es wird aber immer wieder die entscheidende Frage an uns gestellt werden: Seid ihr denn, wenn es ernst wird, bereit, eure deutschen Soldaten dorthin zu schicken? Das ist die Kernfrage, um die wir uns nicht drücken können.
Meine Damen und Herren, ich möchte das Haus darauf aufmerksam machen, daß ich Zwischenfragen zulassen kann, nicht muß. Ich sage deswegen vorsorglich: Ich lasse jetzt noch die Frage von Dr. Pflüger zu. Dann ist Schluß, damit der Bundesaußenminister seine Rede zu Ende führen kann.
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Herr Dr. Pflüger.
Herr Minister, ist es angesichts der bewegenden Dinge, die wir von Herrn Schwarz und anderen gehört haben, und angesichts des spürbaren Empfindens im ganzen Haus, daß wir bisher angesichts der Brutalitäten in Jugoslawien zuwenig getan haben, nicht wirklich beschämend, daß wir bisher nicht in der Lage gewesen sind, uns wenigstens im Rahmen der UNO an Stop- und Search-Aktionen zur Überwachung des Embargos zu beteiligen? Sollten wir innerhalb der Bundesregierung und auch darüber hinaus nicht endlich zu einer klareren und deutlicheren Haltung kommen? Das wäre nach meinem Dafürhalten das einzige, was das Gerede in normale Taten verwandelte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wie ich vorher gesagt habe, ist die Frage der Vergewaltigungen ein Punkt des Konflikts im früheren Jugoslawien; ein Ansatzpunkt ist der Adriaeinsatz. Es ist so, daß wir nach wie vor mit unseren Schiffen und unseren Flugzeugen teilnehmen, daß wir uns aber wegen unserer verfassungsrechtlichen Situation nur an Beobachtungs-, nicht an Durchsuchungsmaßnahmen beteiligen. So ist die derzeitige Kommandolage dem deutschen Schiff gegenüber. Ich glaube, daß daran nichts geändert werden sollte.
So, Herr Bundesaußenminister, Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihre Rede zu beenden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe ein wenig Hemmungen, nun den zweiten Punkt anzusprechen, der noch zu dieser Debatte gehört, nämlich die China-Problematik. Ich will es auf das beschränken, was mir wichtig ist.
Ich bin in China in einer schwierigen Situation gewesen. Ich möchte dem Deutschen Bundestag sagen, so wie ich es gestern im Auswärtigen Ausschuß und auch bei anderer Gelegenheit getan habe, daß ich entgegen dem Bild, das nach draußen vermittelt worden ist, in sämtlichen Gesprächen die Menschenrechtslage in China, die ich zutiefst als unbefriedigend empfinde und die ich aus meiner Zeit als langjähriger Staatssekretär im Justizministerium und als Bundesjustizminister sehr genau kenne, massivst angesprochen und mich nicht nur generell, sondern auch in Einzelfällen eingesetzt habe. Ich möchte darauf hinweisen, daß ich mich zum Teil auf inständigen Wunsch der Betroffenen nach draußen nicht so äußern konnte, wie ich es gerne getan hätte.
Ich möchte jedem Mitglied des Deutschen Bundestages gegenüber versichern, daß ich bereit bin, ihm im einzelnen, wenn er es wünscht, zu sagen, wo, für wen und wie ich mich engagiert und welche Gespräche ich geführt habe.
Die Situation war so, daß ich es aus Gründen, die ich hier nicht im einzelnen darlegen kann, nach draußen nicht so darstellen konnte, wie ich es eigentlich gern getan hätte. Ich fand, daß ich ungerecht angegriffen worden bin.
Die China-Debatte spielt heute eine wesentliche Rolle. Ich hätte gerne noch ein paar andere Dinge beigetragen, will Ihnen aber jetzt nicht die Zeit stehlen, weil der andere Punkt so lange gedauert hat.
Ich bitte aber, mir abzunehmen, daß es so war, und sage Ihnen zu, daß ich weiterhin in all den Ländern und all den Bereichen, wo es Menschenrechtsfragen anzusprechen gilt, kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern klar und deutlich sagen werde, was wir von diesen Ländern in diesen speziellen Situationen erwarten.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Karl Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben gut daran getan, nicht Ihre vorbereitete Rede zu halten. Auch ich will das nicht tun.
Ich will zu China nur soviel sagen: Erstens. Wir glauben Ihnen, daß Sie sich in China mit Nachdruck für die Verwirklichung der Menschenrechte eingesetzt haben.
Zweitens. Der einzige Sinn des Antrages, den die Koalitionsfraktionen heute dem Deutschen Bundestag vorlegen, ist, einen Wechsel in der Methode der Menschenrechtspolitik gegenüber China vorzunehmen, nicht aber, einen Verzicht auf Menschenrechtspolitik gegenüber China auszusprechen.
Ich muß sagen: Meine Befürchtungen, die ich schon vor Beginn dieser Debatte hatte, daß wir nämlich in Anbetracht eines sich vor unseren Augen abspielenden Grauens reden würden, aber nicht wüßten, was wir als Antwort darauf sagen sollten, haben sich durch das, was der Kollege Schwarz so eindrucksvoll vorgetragen hat, noch verstärkt. Deswegen finde ich es ganz natürlich, daß wir nun zu der Frage kommen: Was denn tun? Es ist eben nicht damit getan, daß wir Politiker ohnmächtig und wütend sind, sondern wir müssen sagen, was wir tun können, um das Grauen zu beenden.
Ich stelle fest, daß sich von links — nicht ganz links außen —, von dem Kollegen Voigt bis hin zu dem Kollegen Solms alle in diesem Hause einig sind: Es reicht nur noch ein militärischer Einsatz, so gräßlich wie das ist. Das ist die schreckliche Alternative, vor der wir stehen.
Diese Einsicht verbreitet sich im übrigen ja in der ganzen Welt, und es werden konkrete Überlegungen angestellt.
Nun ist es richtig, Herr Kollege Duve, was der Minister gesagt hat:
11122 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Karl Lamers
daß wir im Falle des früheren Jugoslawien natürlich in einer besonderen historischen Situation sind. Das ist wohl wahr.
Herr Kollege Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Ja, aber zuerst möchte ich meinen Gedanken noch zu Ende führen.
Aber, Herr Minister, solange wir diese geradezu bizarre, pseudojuristische Diskussion führen, solange wir nicht selber Klarheit haben über das, was wir wollen und auch nicht wollen, so lange können wir doch nicht einmal einen Vorschlag machen oder uns beteiligen, wenn andere den Vorschlag machen, daß etwas geschieht.
Deswegen muß das Ganze ein Ende haben — nicht irgendwann, sondern jetzt.
Wir wissen alle — auch die Kollegen von der SPD —, daß das, was sie auf ihrem Parteitag beschlossen haben, doch längst nicht mehr ausreicht.
Die Grenzen zwischen Blauhelm-Einsätzen und anderen sind doch überhaupt nicht mehr zu ziehen, wie die Erfahrungen und auch die Überlegungen in der UNO zeigen. Da können Sie uns doch nicht zumuten, daß wir dieses Land jetzt ein für allemal nur auf Blauhelm-Einsätze durch eine verfassungsrechtliche Klarstellung festlegen. Das ist doch eine geradezu zynische Aufforderung, die Sie an uns richten.
Sie wissen doch ganz genau, was wir wollen.
— Wir haben ungezählte Male gesagt, was wir wollen.
Das ist ganz klar. Was wir wollen, ist eindeutig. Wir
wollen uns so bewegen können wie jedes andere Land auf dieser Erde.
— Volle Freigabe? Nein, ich will Ihnen etwas sagen: Wir sind bereit, uns auch verfassungsrechtlich zu binden, daß wir das nie alleine tun.
Ich finde, der Verbund, die Einheit mit den Europäem, mit den westlichen Mächten und/oder der UNO, ist doch die beste Garantie dafür, daß kein Mißbrauch mit dieser Möglichkeit geschaffen wird.
Aber bei Ihnen befürchten einige, unsere engsten Partner könnten uns in Abenteuer verstricken. Das ist die Wirklichkeit.
Bitte sehr.
Herr Kollege Lamers, gestatten Sie die Zwischenfragen der Kollegen Voigt und Koschnick?
Ja.
Bitte, Kollege Voigt.
Kollege Lamers, würden Sie zum ersten bitte zur Kenntnis nehmen, daß Sie meine Meinung falsch wiedergegeben haben?
Ich habe Sie ja gar nicht zitiert!
Sie haben behauptet, daß ich für eine militärische Intervention in Bosnien-Herzegowina bin. Dies ist falsch.
Es kann sein, daß eine solche Intervention moralisch legitim ist. Aber wenn das humane Ziel mit militärischen Mitteln nicht erreicht wird, dann ist sie moralisch und erst recht politisch nicht zu verantworten. Aus diesem Grunde bin ich gegen eine solche Intervention und besonders gegen eine deutsche Beteiligung.
Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Kollege Lamers, daß der Ausdruck der Empörung, den Sie hinsichtlich der Hilflosigkeit äußern, kein Ersatz für die Hilflosigkeit ist, die nicht von der SPD zu verantworten ist, sondern von der Bundesregierung, die selber nichts tut, weil sie sich über nichts einigen kann?
Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß es, auch wenn Sie Ihre Rechtsauffassung haben —
Herr Kollege Voigt, das ist dann schon die dritte Frage.
— entschuldigen Sie, ich bringe den Satz zu Ende —, es gehe ohne eine Verfassungsänderung, Ihre Aufgabe wäre, ihr erst in der Bundesregierung zum Durchbruch zu verhelfen? Das scheitert nicht an uns — ich bin anderer Meinung —, sondern zuerst an Ihrem Koalitionspartner. Bewerfen Sie uns also bitte nicht, wenn Sie selber nicht handlungsfähig sind.
Herr Kollege, zum ersten: Es gibt nie eine Garantie in der Politik, und es gibt erst recht — dessen bin ich mir sehr wohl bewußt — keine Garantie bei Einsatz des militärischen Mittels. Deswegen will ich mit allem Nachdruck sagen: Es fordert niemand — auch ich nicht — hier eine großangelegte Bodenoperation.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11123
Karl Lamers
Niemand tut das. Es würden aber vergleichsweise sehr risikolose Einsätze reichen, um eine sehr gute Aussicht zu haben, die Situation in Bosnien-Herzegowina grundlegend zu ändern.
Sie wissen ganz genau — besser als viele andere Kollegen, die hier sitzen —, daß das nicht nur meine persönliche Meinung ist, sondern daß die Experten das längst wissen. Ich habe dazu übrigens einige ganz konkrete Überlegungen angestellt. Niemand wird mir widersprechen können, daß sie erfolgversprechend sind.
Zum zweiten: Ich rede für meine Fraktion. Ich will überhaupt nicht leugnen, daß auch die Bundesregierung hier eine Verantwortung hat. Ich will mich jetzt nicht auf die Diskussion über die Notwendigkeit bzw. Nichtnotwendigkeit einer Verfassungsänderung einlassen. Ich will nur mit allem Nachdruck sagen: Die Union ist, obwohl wissend, daß es rechtlich nicht notwendig ist, des Konsens wegen, den wir wollen, bereit, eine Verfassungsklarstellung vorzunehmen, — das haben wir immer gesagt —,
aber nicht eine solche, die unter dem Vorwand, die Einsatzmöglichkeiten deutscher Streitkräfte zu erweitern, sie in Wirklichkeit in einer für das Ansehen und die Handlungsfähigkeit unseres Landes unerträglichen Weise einschränkt.
Ich möchte uns alle abschließend noch folgendes fragen: Was in aller Welt
sollte unser Land, dieses Deutschland, veranlassen, eine in der Welt wirklich einzigartige Sonderstellung einzunehmen? Was eigentlich sollte das sein?
Lassen Sie uns darüber diskutieren, was wir politisch wollen, dürfen und können, aber lassen Sie uns doch nicht diese draußen wirklich überhaupt nicht mehr verstandene Diskussion — die übrigens auch hierzulande immer weniger verstanden wird — weiterführen. Kein Mensch versteht sie mehr. Die Menschen spüren immer mehr: Wir müssen etwas tun. Niemand in diesem Lande ist kriegslüstern. Ganz im Gegenteil: Wenn die Menschen in einem Lande gebrannt sind, dann die Deutschen.
Herr Kollege Koschnick hat jetzt eine Zwischenfrage. Bitte.
Herr Lamers, wir kennen Ihre Position und Ihre Haltung. Ich habe sie nur zu respektieren; ich muß sie nicht teilen. Aber sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die für Außenpolitik verantwortlich handelnde Regierung, wenn wir in diesem Bundestag über politische Prinzipien sprechen müssen, uns deutlich machen muß, welche Position sie hier gemeinsam vertritt und welche Hilfe sie von uns erwartet? Warum sprechen Sie mit uns, solange Sie in der eigenen Regierung nicht eine gemeinsame Konzeption hinbekommen, über die wir uns unterhalten können?
Herr Kollege Koschnick, ich habe schon einmal gesagt, daß ich die Verantwortung, und zwar auch die primäre Verantwortung der Regierung, gar nicht leugne. Sie und nicht die Opposition hat in der Tat den Schlüssel. Aber auf der anderen Seite können Sie doch auch nicht leugnen, daß Sie, wenn Sie wie wir den Konsens fordern, genauso eine Verantwortung haben und daß Sie eine Position haben, die diesen Konsens nicht ermöglicht. Denn diese Position — das wissen Sie und wissen viele sehr genau; Sie haben es ja auch zum Ausdruck gebracht — kann dieses Land nicht übernehmen.
Gestatten Sie noch eine weitere Frage des Kollegen Koschnick? — Bitte, Herr Kollege Koschnick.
Ich verstehe Ihre Erregung, Herr Kollege Lamers. Dennoch bleibe ich dabei: Wann beginnt die Regierung, eine Führungsfunktion mit Klarheit für das Parlament wahrzunehmen und zu sagen, dies möchten wir? Ich stelle mich der Diskussion. Aber solange Sie im eigenen Lager nicht fertig werden, beschimpfen Sie bitte nicht die Opposition.
Herr Kollege Koschnick, ich beschimpfe Sie schon einmal gar nicht, aber auch nicht die SPD-Fraktion. Das ist kein Beschimpfen; das wissen Sie auch. Mir liegt ungewöhnlich an einem Konsens in dieser für die Zukunft unseres Landes wirklich so entscheidenden Frage. Deswegen ist das kein Beschimpfen, sondern das ist ein Appell. Ich finde, die heutige Debatte hat doch gezeigt, daß es so nicht weitergeht. Ich appelliere in der Tat auch an die Bundesregierung, sich ihrer besonderen Verantwortung in dieser Frage durch eine größere Klarheit in ihren eigenen Reihen bewußt zu werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Nachsicht. Ich hatte eigentlich ganz anders reden wollen. Aber es war mir klar, nachdem der Kollege Schwarz geredet hat und der Bundesaußenminister gottlob auch darauf eingegangen ist und nicht seine vorbereitete Rede gehalten hat, daß ich nur so reden konnte. Vielleicht hilft diese Debatte, daß wir uns morgen ein wenig näher kommen und dieses schreckliche Dilemma, in dem wir uns befinden, besser lösen können.
Vielen Dank.
11124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Kollegin Frau Ursula Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was habt ihr gewußt? Was habt ihr getan? Diese Fragen, unzählige Male von vielen meiner Generation an die Elterngeneration gerichtet, werden morgen an uns gestellt.
Was antworten wir? Wir können uns nicht herausreden. Der Kollege Stefan Schwarz hat es heute sehr, sehr deutlich gesagt. Die Medien übermitteln uns täglich die Greueltaten der Welt. Wir alle wissen, was in den Krisengebieten der Welt geschieht. Trotzdem dauert es oft Monate, bis veröffentlichte Informationen öffentlich registriert werden, bis öffentlich reagiert wird, bis Nachrichten Schlagzeilenwert erlangen und die politische Maschinerie in Bewegung gerät.
Seit den Fernsehberichten über Massenvergewaltigungen, über sexuelle Gewalt gegen Kinder im ehemaligen Jugoslawien ist das Entsetzen in der Bundesrepublik groß. Betroffene berichteten. Unvorstellbares wurde präsentiert. Die Reaktion: tiefe Entrüstung oder Betroffenheit wie heute nachmittag.
Warum eigentlich erst jetzt? Die militärischen Aktionen, das Morden, das Abschlachten, das Vergewaltigen dauern schon seit Monaten an. Belege gibt es zuhauf. Ist eine neue Eskalation der Gewalt erreicht? Krieg, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen gehören für den Medienbürger zum Alltag, zum Fernsehalltag. Kollegin Falk hat es deutlich gemacht. Der Zuschauer, ob alt, ob jung, entwöhnt sich, betroffen zu sein und zu reagieren. Gewalt wird zunehmend enttabuisiert. Läßt uns eigentlich erst ein Mehr an Grauen aufhorchen? Verwiesen wird jetzt auf die neue Dimension des Krieges, auf das ungeheure Maß an Gewalt, an Brutalität, auf neue Formen des Schreckens: systematische Vergewaltigung, Vergewaltigungslager, Frauen als Kriegswaffe, Vergewaltigung als Instrument der ethnischen Vernichtung.
Manche glauben, Vergewaltigung sei Teil jedes Krieges, gehöre zur Geschichte des Krieges. Daß es immer geschehen ist, relativiert nicht das Verbrecherische der Tat. Daß in Jugoslawien Vergewaltigung als Kriegswaffe und Kriegsstrategie eingesetzt wird, ist eine neue Stufe der Perversion des Krieges, ein neues Ausmaß an Kriegsverbrechen.
Unser Protest kommt spät — für viele Frauen, für Männer, für Kinder im ehemaligen Jugoslawien leider zu spät. Der Mord auf Raten an Hunderten, an Tausenden von Menschen geht jede Stunde weiter, auch jetzt, während wir diskutieren.
Was können wir tun? Wir zeigen Betroffenheit, bringen unser Entsetzen zum Ausdruck, wir protestieren in aller Entschiedenheit und aufs schärfste. Es besteht im Deutschen Bundestag Einigkeit: Den Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien, vor allem in Bosnien-Herzegowina, muß Einhalt geboten werden, der Aggressor Serbien muß gestoppt, die ethnische Vernichtung, der Völkermord an Muslimen muß beendet werden.
Aber es reicht nicht aus, zu protestieren, sich moralisch zu entrüsten, die Greueltaten zu registrieren, zu dokumentieren und für die Zeit danach zu archivieren. Die internationale Staatengemeinschaft ist gefordert, konkrete Aktionen zu unternehmen, humanitäre — selbstverständlich — wie politische. Sicherlich ist jetzt vorrangig den Frauen und auch all den anderen, Männern und Kindern, die zutiefst verwundet worden sind, unbürokratisch medizinische und psychologische Hilfe zukommen zu lassen. Es müssen Zentren für die Opfer errichtet werden. Wir danken der Bundesregierung, daß sie so schnell auf unsere Vorschläge eingegangen ist und daß auch sehr viele Frauen aus den betroffenen Gebieten aufgenommen worden sind.
Alle finanziellen Mittel auf nationalstaatlicher, europäischer und internationaler Ebene müssen ausgeschöpft werden, um Hilfsprogramme zu erweitern. Finanzielle und personelle Unterstüzungen sowie Sachleistungen sind sicherlich unverzichtbar. Aber diese humanitären Maßnahmen sind nicht ausreichend. Unisono wurde in den vergangenen Wochen gefordert, es müsse gehandelt werden, um endlich den Terror, die Greueltaten zu beenden.
Zu Recht hat die jüngere Generation in der Bundesrepublik Deutschland kritische Fragen an die eigene Bevölkerung und die politische Klasse des Auslandes gestellt. Warum konnte Hitler bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges seine Zerstörungsmaschinerie und die Konzentrationslager betreiben? Haben nicht damals auch die Verfolgten auf die Rettung aus dem Ausland gehofft und gewartet? Gerade dieser historische Nachlaß verpflichtet uns, überall in der Welt die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern, aktiv für die Rechte und den umfassenden Schutz von Minderheiten zu streiten, denen zu helfen, die Opfer brutaler Gewalt sind.
Vielen dienen unsere Geschichte und unser Grundgesetz dazu, eine Politik der gespaltenen Zunge zu betreiben. Die Bundesrepublik Deutschland soll die weltweite Achtung von Menschenrechten fordern, sich aber nicht an internationalen Maßnahmen zur Durchsetzung von Menschenrechten beteiligen. Die Rolle Deutschlands kann sich jedoch nicht darin erschöpfen, moralisch zu beurteilen, zu verurteilen, die Aktivitäten anderer mitzufinanzieren. Somalia lehrt: Humanitäre Hilfe muß leider — so paradox dies ist — auch mit Waffengewalt durchgesetzt werden.
Deutschland muß seine internationale Verantwortung neu definieren. Deutschland muß endlich zu seinen Verpflichtungen aus dem Beitritt zu den Vereinten Nationen stehen,
Internationale Friedensmissionen sind Teil aktiver Menschenrechtspolitik. Das Grundgesetz kann und darf nicht als Vorwand für politische Abstinenz mißbraucht werden.
Wir alle haben heute betont, Menschenrechte sind unteilbar, sie gelten für alle, unabhängig von Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Nationalität oder Geschlecht. Frauen sind — dies belegen die Berichte aus
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Ursula Männle
dem ehemaligen Jugoslawien — von Menschenrechtsverletzungen in spezifischer Weise betroffen. Natürlich gilt es, unverzüglich diesen Frauen im ehemaligen Jugoslawien zu helfen.
Von besonderer Bedeutung ist jedoch: Die internationale Staatengemeinschaft muß den Aggressor ächten und die Kriegshandlungen stoppen.
Herr Kollege Bindig, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zur Gestaltung unseres politischen Verhältnisses mit China legen die Koalitionsfraktionen gerade heute, am Tag der Menschenrechte, einen Antrag vor, welcher auf eine Normalisierung der Beziehungen zu China abzielt. Dies wird damit begründet, daß die eingetretenen Veränderungen im Lande eine Überprüfung der bisherigen Regelungen für geboten erscheinen lassen.
Nach dem geltenden Beschluß des Bundestages war und ist es bereits möglich, die entwicklungspolitische Zusammenarbeit auf Maßnahmen auszudehnen, die unmittelbar der Bevölkerung bzw. dem Schutz und der Erhaltung der Umwelt dienen sowie zur Reform der chinesischen Wirtschaft beitragen. Da rein kommerzielle Handelsbeziehungen sowieso uneingeschränkt möglich sind, geht es jetzt um eine Kreditabsicherung von Geschäften aller Art und vor allem um die Ermöglichung von mit Steuergeldern subventionierten Handelsgeschäften und Mischfinanzierungen.
Der vorliegende Entschließungsantrag sieht praktisch ein zweigeteiltes Verfahren vor. Für subventionierte Handelsgeschäfte und Bürgschaften gibt es keinerlei einschränkende Regelungen mehr, während für die Vereinbarungen von neuen Entwicklungsprojekten die Grundsätze der Entwicklungszusammenarbeit gelten, die auf die Beachtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, die Schaffung einer marktfreundlichen und sozialen Wirtschaftsordnung sowie die Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns abzielen. Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit sollen diese Gesichtspunkte weiterhin berücksichtigt werden, während sie bei den subventionierten Handelsbeziehungen unbeachtet bleiben sollen.
Eine solche zweigeteilte Menschenrechtspolitik wird wohl auch die chinesische Seite kaum verstehen; sie wird vor ihr keinen Respekt haben. Die menschenrechtliche Konditionierung der Entwicklungspolitik zur Beruhigung des Gewissens, die volle Liberalisierung und die geförderten und subventionierten Handelsbeziehungen für das Geschäft — das ist der Versuch zu bremsen und Gas zu geben zu gleicher Zeit, geradeaus zu fahren und dennoch eine Kurve zu nehmen.
Gibt es die im Entschließungsantrag behaupteten eingetretenen Änderungen im Lande, die einen solchen neuen Kurs unserer China-Politik rechtfertigen? Die Volksrepublik China hat weiterhin ein absolut starres politisches System mit Unterdrückung und Verfolgung der politischen Opposition. Politisch Andersdenkende können sich nicht frei äußern, müssen mit willkürlicher Gefangennahme und Verschleppung in Arbeitslager zur Umerziehung rechnen. Viele Gefangene müssen wegen angeblicher konterrevolutionärer Tätigkeit in Haftlagern lange Strafen verbüßen und werden auch dann in Arbeitslagern festgehalten, wenn sie ihre eigentliche Haftzeit schon lange hinter sich haben. Auch die Todesstrafe oder die angedrohte Todesstrafe wird in China weiterhin als Mittel der Disziplinierung und Unterdrückung eingesetzt.
Ein aktueller Bericht von amnesty international legt dar, daß die Folter an vielen Haftorten in China noch an der Tagesordnung sei. Die Folter werde trotz Verbots nach chinesischem Recht weiterhin dazu benutzt, Geständnisse zu erzwingen sowie Gefangene einzuschüchtern und zu bestrafen. Das Ausmaß von Foltern in chinesischen Gefängnissen sei nicht reduziert worden, sondern es habe offensichtlich zugenommen.
Die chinesische Seite erklärt, wenn ihr diese Praxis und diese Situation vorgehalten wird, daß China den Schwerpunkt auf die Entwicklung des Landes und die sozialen Menschenrechte lege, daß sie ein spezielles Menschenrechtsverständnis habe und den kollektiven Menschenrechten Vorrang vor den individuellen Menschenrechten gebe, daß die Ausgestaltung ihrer inneren Ordnung für die Art der Gewährung der Menschenrechte in ihrem Land eine innere Angelegenheit sei, in die sich das Ausland nicht einmischen solle.
In allen diesen drei Punkten ist den Machthabern in China deutlich zu widersprechen, und es ist ihnen das internationale Menschenrechtsverständnis entgegenzuhalten. Es geht nicht um soziale oder politische Rechte, sondern um soziale und zivile Rechte. Auch ein Land mit großem politischen Gewicht in der internationalen Staatengemeinschaft kann für sich nicht ein spezielles Menschenrechtsverständnis reklamieren. Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte ist einer der Grundpfeiler der Menschenrechtspolitik überhaupt.
Schließlich ist es einer der großen Erfolge der internationalen Diskussion über Menschenrechte, daß sich in der Völkergemeinschaft das Verständnis durchzusetzen beginnt, daß es ein überstaatliches Recht zur Respektierung und Achtung der Menschenrechte gibt, welches die nationale Souveränität der Länder überragt.
Mit einem Land, das sich Grundtrends der internationalen Menschenrechtsdiskussion entgegenstellt, kann es keine volle Normalisierung der Beziehungen geben. Wer sich so gravierend von den Normen des Völkerrechtes entfernt, kann auch keine Normalität erwarten.
Da wir die Situation in China nicht als normal ansehen, werden wir den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen ablehnen.
11126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Geschäftslage: Wir haben noch zwei Wortmeldungen und drei Erklärungen nach § 31 bzw. § 32 der Geschäftsordnung. Die namentliche Abstimmung, die dann folgt, wird in etwa 25 Minuten stattfinden.
Ich erteile dem nächsten Redner das Wort, unserem Kollegen Hartmut Koschyk.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der Verlauf dieser heutigen Debatte aus Anlaß des Tages der Menschenrechte zeigt, wie komplex dieses Thema Durchsetzung von Menschenrechten weltweit ist und wie sehr wir, je mehr wir über dieses Thema sprechen, eigentlich immer wieder in ein gewisses Dilemma geraten. Die Debatte zeigt auch, wie sehr wir uns auch immer davor hüten müssen, Menschenrechtsprobleme auf dieser Welt stets aus einem besonderen deutschen Blickwinkel anzugehen.
Herr Bindig, in vielem, was Sie gerade zu China gesagt haben, stimme ich Ihnen zu. Wir müssen aber auch erkennen, daß wir als Deutsche auf die Menschenrechtssituation in China nur dann Einfluß nehmen können, wenn wir zu einer Koordinierung internationaler Politik gegenüber China kommen. Sie wissen doch, wie die internationale Politik gegenüber China ist. Da macht es keinen Sinn, Herr Bindig, wenn die deutsche Seite eine singuläre Rolle einnimmt, anstatt sich zu bemühen, im Rahmen der internationalen Politik durch Dialog und durch Gleichziehen mit der internationalen Politik auf die Situation in China Einfluß zu nehmen.
Wie ich, Herr Bindig, keine Singularisierung der deutschen Politik gegenüber China möchte, möchte ich eben auch keine Singularisierung deutscher Politik hinsichtlich der Durchsetzung der Menschenrechte auf unserem europäischen Kontinent.
Herr Bindig, mich stellt die bisherige Politik nicht mehr zufrieden. Ich will nicht das abwerten, was Sie gesagt haben, ich will nicht das abwerten, was andere heute hier gesagt haben. Aber ich habe das Gefühl, daß wir uns dann, wenn wir vor Konsequenzen zurückschrecken — dazu gehört auch das, was wir an hehren Haltungen beschwören —, immer im Moralisieren ergehen.
Herr Bindig, ich sage: Es wird keinen Sinn mehr machen, in unserer Bevölkerung ein tieferes Bewußtsein für Menschenrechtsverletzungen zu finden, dafür, wie wir mit Menschenrechtsverletzungen umzugehen haben, wenn unser Engagement immer dann um so lauter wird, je weiter weg diese Menschenrechtsverletzungen von Deutschland und von Europa liegen.
Ich habe gestern abend mit jungen Menschen gesprochen. Als ich es als einen gewissen Erfolg beschrieben habe, daß jetzt die internationale Gemeinschaft auch handelt, um humanitäre Maßnahmen in Somalia notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen, haben mir diese jungen Menschen gesagt, das könne sie nicht mehr ermutigen. Es könne sie nicht mehr zufriedenstellen, wenn sie mit ansehen müßten, wie wir zu einem grausamen Völkermord auf unserem europäischen Kontinent einfach schweigen würden.
Ich fand es sehr ehrlich, daß Herr Lamers gesagt hat, daß wir nicht nur an Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sondern auch an unsere Bundesregierung appellieren sollten, in der Frage der Menschenrechte endlich eine klare Haltung einzunehmen und zu sagen,
daß Deutschland bereit ist, nicht nur zur Durchsetzung der Menschenrechte in China und in Somalia, sondern auch zur Durchsetzung elementarer Menschenrechte hier in Europa beizutragen.
Wenn diese Debatte mit dazu beiträgt, daß sich jetzt nicht jeder hinter seinem Lieblingsmenschenrechtsthema verschanzt, sondern endlich damit anfängt, in einem konkreten Fall, und zwar im Fall Bosnien-Herzegowina — das ist nur wenige hundert Kilometer von hier entfernt —, seinen spezifischen Beitrag zur Durchsetzung von Menschenrechten zu leisten, dann war dies eine gute Debatte.
Meine Damen und Herren, letzter Redner in der Debatte ist unser Kollege Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst den Versuch machen, einer Legendenbildung entgegenzutreten, die der Kollege Karsten Voigt hier versucht hat.
In einem Teil Ihrer weitgefächerten Zwischenfrage an Herrn Lamers haben Sie, Herr Voigt, unterstellt, die Koalition sei in der Frage, welche Rolle deutsche Soldaten in Zukunft in der Welt spielen müssen, uneins. Ich sage Ihnen: Das ist nicht der Fall. Wir sind uns alle völlig darüber einig: Erstens müssen wir die Möglichkeit haben, uns an Blauhelmeinsätzen zu beteiligen. Darüber hinaus müssen wir aber auch die Möglichkeit haben, an friedensschaffenden Maßnahmen beteiligt zu sein,
wenn dies als letzte Möglichkeit einer Konfliktlösung unausweichlich ist und wenn dieses Haus mit der „Kanzlermehrheit" im Einzelfall zustimmt.
Wir sind uns auch darüber einig, daß wir hierzu eine verfassungsrechtliche Klarstellung brauchen. Keiner von uns kann das Risiko übernehmen, daß wir solche Aktionen durchführen und daß uns nachher das Bundesverfassungsgericht etwa bescheinigt, dies sei
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Ulrich Irmer
nicht zulässig gewesen. Das Risiko kann keiner auf sich nehmen.
Was Sie, Herr Voigt, hier betreiben, das ist nichts anderes als die Methode „Haltet den Dieb!"
Wir haben nämlich auf Ihren Bundesparteitag gewartet.
Wir hatten gehofft, daß Sie endlich zur Kenntnis nehmen, welche Verantwortung dem vereinten Deutschland zugewachsen ist und daß wir uns dieser Verantwortung auch nicht entziehen dürfen.
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koschnick?
Ja, gerne.
Bitte, Kollege Koschnick.
Herr Kollege Irmer, ich will nicht darauf eingehen, wen Sie als Dieb bezeichnen, wenn Sie die Fraktionen meinen. — Sie haben soeben gesagt, Sie hätten auf uns gewartet, um sich eine eigene Meinung zu bilden, und zwar im Rahmen der Koalition. Ist das richtig?
Herr Kollege Koschnick, ich habe beanstandet, daß der Kollege Voigt hier so tut, als trüge die Koalition die Verantwortung dafür, daß wir unser Grundgesetz nicht entsprechend haben anpassen können. Das ist einfach albern.
Herr Kollege Koschnick, wir werden alsbald, die Koalition wird alsbald die entsprechenden Vorlagen präsentieren. Dann werden wir ja sehen, wie Sie sich dazu verhalten.
Aber es ist doch so, daß Sie uns von vornherein durch Parteitagsbeschlüsse gesagt haben, was Sie nicht wollen. Sollen wir Ihnen denn dann in diese Attrappenfalle laufen, wenn Sie uns von vornherein sagen, was Sie nicht mitmachen?
Herr Kollege Koschnick, ich will auf eines hinweisen: Die SPD ist in diesem Punkt wesentlich besser, als sie von manchen ihrer Führer gemacht wird. Es ist nämlich so, daß wir in Ihrer Fraktion selbst eine ganze Reihe von Kollegen — ich bin davon überzeugt, daß es so viele sind, wie wir als Ergänzung für unsere Mehrheit brauchen, um die Verfassung ändern zu können — finden werden, die sich vor der Verantwortung nicht drücken werden, wie das einige bei Ihnen tun.
Kollege Irmer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Gansel? — Das ist dann aber auch die letzte.
Ja. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.
Herr Kollege Irmer, da die Regierungskoalition, die Bundesregierung und auch wir daran interessiert sind, daß das Bundesverfassungsgericht möglichst bald eine Entscheidung über unsere Klage wegen des Adria-Einsatzes herbeiführt, möchte ich Sie fragen: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Bundesregierung es nicht geschafft hat, vor dem Bundesverfassungsgericht bis zum 1. Dezember fristgemäß auf unsere Klage zu erwidern? Warum hat sich die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht eine Fristverlängerung bis zum 15. Januar ausgebeten? Liegt das daran, daß die Bundesregierung noch nicht einmal in der Lage ist, ihre Rechtsposition gegenüber der Klage der SPDBundestagsfraktion festzulegen,
und ist das nicht eine Verzögerung einer notwendigen Entscheidung, die rasch ergehen sollte?
Herr Kollege Gansel, ich sehe Ihnen diese Frage nach.
— Er ist ja leider kein Anwaltskollege von mir; sonst wüßte er nämlich, daß die Bitte um Fristverlängerung im Gerichtsbetrieb das Normalste ist, was überhaupt geschehen kann.
— Herr Kollege Voigt, schonen Sie doch Ihre Stimme! Ich beantworte gerade eine Zwischenfrage des Kollegen Gansel; Sie könnten sich ja auch melden. Ich verstehe Sie auch akustisch nicht, so laut Sie auch brüllen mögen, und es ist wirklich schlecht für Ihre Stimme.
Herr Kollege Gansel, es ist vorher klargestellt worden, daß sich die Entscheidung in keiner Weise dadurch verzögern wird, daß für die Erwiderung etwas mehr Zeit benötigt wird.
Im übrigen, meine Damen und Herren von der SPD, lassen Sie uns doch in Ruhe, in Kollegialität und vor allem in dem gebotenen Ernst über dieses Problem reden. Der Bundesaußenminister hat Gespräche angeboten. Wir sind jederzeit — das glaube ich auch für die Kollegen von der CDU/CSU sagen zu dürfen und nicht nur für die Kollegen von der F.D.P. — zu Gesprächen bereit, weil wir nämlich wirklich vor der Situation stehen, daß es sich unser Land international,
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Ulrich Irmer
aber auch in der Verantwortung vor seinen eigenen Bürgern nicht länger leisten kann,
in Wut und Trauer, wie es Herr Kinkel ausgedrückt hat, zu verharren. Wir müssen zu diesen Entscheidungen kommen. Ich bin ganz sicher, daß sich auch die SPD auf Dauer — „auf Dauer" heißt „sehr bald" — ihrer Verantwortung stellen wird.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Es liegen jetzt noch vier Wortmeldungen zu Erklärungen gemäß § 31 bzw. gemäß § 32 unserer Geschäftsordnung vor.
Ich erteile zunächst der Kollegin Frau Dr. Fischer gemäß § 32 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, daß Sie das, was ich zu sagen habe, nicht als Polemik auffassen.
Ich verstehe nur teilweise Ihre Empörung über den Begriff, alle Soldaten sind potentielle Vergewaltiger; denn das ist nicht nur die Meinung meiner Kollegin Frau Dr. Höll, sondern dieser Begriff fiel auch in der Anhörung des Ausschusses für Frauen und Jugend am Montag zum Thema Massenvergewaltigungen — übrigens ohne gerügt zu werden — auf seiten einer renommierten Nichtregierungsorganisation. — Soweit zu dieser Richtigstellung.
Im übrigen möchte ich feststellen: Wir sind es gewohnt, für alles, was in der DDR geschehen ist, verantwortlich gemacht zu werden. Wir sind auch bereit, uns dieser Verantwortung zu stellen, obwohl viele von uns, die in diesem Hause sitzen, persönliche Schuld mit großer Sicherheit nicht auf sich geladen haben.
Ich hoffe, daß sich alle hier im Hause gleichermaßen zu ihrer ganz persönlichen Verantwortung bekennen, um einen sachlichen Dialog zu ermöglichen.
Einen Fakt muß ich hier allerdings richtigstellen, ganz sachlich: Es wurden im Irak, in der Sowjetunion, in Ungarn, in Libyen Soldaten, Offiziere ausgebildet — was ich übrigens nicht wußte —, aber nicht in Jugoslawien, Herr Kollege; Jugoslawien war ein blockfreies Land.
Diese Feststellung dient übrigens nicht der Relativierung der Auswirkungen einer Politik, an der wir ebenfalls vehemente Kritik üben. Ich würde mich freuen, wenn die Kollegen der CDU die Politik des Westens und der Bundesrepublik — früher und jetzt — genauso kritisch begleiten würden wie uns, um wirklich zu einem Dialog zu kommen. Beispiele und Auswirkungen dieser Politik brauche ich hier wohl nicht zu nennen; die aus der DDR sind bekannt.
Ich weise an dieser Stelle die Beleidigung unserer Sachverständigen, Frau Nina Kadic aus der Republik Kroation, zurück. Diese Frau ist seit Monaten unter Lebensgefahr vor Ort als Koordinatorin einer Frauengruppe tätig, um Frauen aller Nationalitäten Hilfe und Beistand zu geben. Diese Frauengruppe informierte das Sonderkommissariat der UNO und den UNO-Sonderbeauftragten bereits im Juli dieses Jahres über die Existenz von 16 Massenvergewaltigungslagern; reagiert wurde nicht. Dafür sind wir wohl alle in diesem Hause mitverantwortlich.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Hoyer gemäß § 32 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Ich möchte nicht zu der Frage sprechen, ob die Geschäftsordnung hier soeben mißbraucht worden ist oder nicht.
Aber ich möchte dazu sprechen, daß damit indirekt erneut auf eine unerträgliche Äußerung Bezug genommen worden ist, die vorhin hier gefallen ist.
— Die hat er zu Recht erteilt, Herr Kollege Schäuble. — Sie ist eine infame Pauschalverunglimpfung derer, die im Auftrag der Vereinten Nationen den Menschenrechten, über die wir heute diskutieren, Geltung verschaffen.
und die, nebenbei bemerkt, hierfür — es sind zum allergrößten Teil nicht Bürger dieses Staates — ihr Leben riskieren. Eine solche Verunglimpfung hat keiner dieser Soldaten verdient, seien es Amerikaner, Nigerianer, Schweden oder eines Tages auch Deutsche.
Schließlich: Auch diese Soldaten, auch die Angehörigen der deutschen Streitkräfte stehen unter dem Schutz der Menschenrechte, über die wir heute diskutieren. Auch für sie gilt der wichtigste Satz unseres Grundgesetzes, der in den letzten Wochen soviel Bedeutung gewonnen hat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. " Dagegen haben Sie mit Ihrer Äußerung verstoßen.
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Meine Damen und Herren, der Ordnungsruf, der erteilt worden ist, steht außer jeder Frage.
Nur, jemandem, der gemäß § 32 der Geschäftsordnung das Wort zu einer tatsächlichen oder persönlichen Erklärung außerhalb der Tagesordnung begehrt, muß ich es erteilen.
Nun wünscht unser Kollege Wolfgang Lüder das Wort gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung. Bitte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte hat den Eindruck erweckt, als stünde hier alternativ das Ja oder Nein zum China-Antrag der Koalitionsfraktionen zur Diskussion, als ob diejenigen, die für den Antrag seien, die Menschenrechtsverstöße in Rotchina deckten oder nicht ernst genug nähmen.
Ich selbst bin engagiertes Mitglied des Parlamentarischen Freundeskreises Bonn—Taipeh. Ich respektiere, schätze und freue mich über die demokratische Entwicklung, die auf Taiwan am 19. Dezember zu freien Wahlen führen wird.
Hier geht es nun nicht darum, den einen in die eine Ecke und den anderen in die andere zu stellen. Der Weg, den die Koalitionsfraktionen suchen, um den Menschenrechten zum Erfolg zu verhelfen, verdient vielmehr unser aller Unterstützung.
Deswegen sage ich als Freund Taiwans und Befürworter der demokratischen Entwicklung in der Republik China ja zu unserer Resolution, weil dies ein Weg ist, der hoffentlich dazu führt, mehr Rechte für die Menschen in Rotchina, in Festlandchina, durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, die letzte Wortmeldung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung hat der Kollege Heinz-Jürgen Kronberg abgegeben. Bitte sehr, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Tag der Menschenrechte befaßt sich der Deutsche Bundestag mit der Menschenrechtslage in China. Leider sind die vorliegenden Anträge nicht sonderlich hilfreich.
An die SPD sei gerichtet: Es reicht nicht aus, nach zwei Jahren ohne eine erneute, der Situation angemessene Überprüfung einen Sanktionsbeschluß zu verlängern. Notwendig ist unter vorläufiger Beibehaltung der Sanktionen eine erneute parlamentarische Behandlung des Themas, die auf eine sachgerechte Entschließung des Deutschen Bundestages abzielt.
Aber dieses Ziel erfüllt auch der vorliegende Antrag meiner Fraktion leider nicht. Amnesty International legt in diesen Tagen einen sehr erschreckenden
Bericht über die Lage der Menschenrechte in China vor. Es wird glaubhaft geschildet, daß sie so schlimm wie noch nie zuvor ist.
Die Politik, auf wirtschaftliche Förderung zu setzen und so auf Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte zu hoffen, wird im vorliegenden Antrag selbst schon mit vielen Fragezeichen versehen; es ist die Rede von der Gefahr von Rückschlägen. Rückschläge aber bedeuten Elend, Folter und Tod für die demokratische Opposition in China.
Eine angestrebte Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen, sogar eine Intensivierung des Handelsaustausches freut zwar die deutsche und auch die chinesische Wirtschaft, diese Absichten sind aber ein Schlag ins Gesicht derer, die sich um eine konkrete Verbesserung der innenpolitischen Situation in China bemühen.
Eine Amnestie für die Mitglieder der Demokratiebewegungen ist realistischerweise ohne außenpolitischen Druck nicht zu erwarten. Die vielen bereits vollstreckten Todesurteile Sprecher hier eine deutliche Sprache.
Die Bundesregierung und vor allen Dingen wir als Parlament haben die Aufgabe, auf die Achtung der Menschenrechte in allen Staaten dieser Erde hinzuwirken, und dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Die derzeitige Beschlußlage des Bundestages ist in der momentanen Situation das einzige Mittel, um erfolgreich eine demokratische Entwicklung in China einzuklagen.
Der Mehrheitsbeschluß der Ausschüsse und der vorliegende Entschließungsantrag werden in der Öffentlichkeit als Bankrotterklärung der deutschen Menschenrechtspolitik verstanden werden. Aus diesem Grund kann ich unserem Antrag leider nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zu China auf Drucksache 12/3960.
Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. — Dies ist geschehen.
Ich eröffne die Abstimmung. —
Meine Damen und Herren, zu dem Thema Menschenrechte finden nach Schluß dieser namentlichen Abstimmung weitere streitige Abstimmungen statt.
Meine Damen und Herren, ich möchte fragen, ob jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben haben. — Offensichtlich ist das der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird etwas später mitgeteilt, *) weil wir in der Tagesordnung fortfahren wollen.
*) Seite 11134A
11130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Vizepräsident Helmuth Becker
Zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. liegen noch schriftliche Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor: eine gemeinsame schriftliche Erklärung der Abgeordneten Pofalla und Stefan Schwarz sowie weitere schriftliche Erklärungen der Abgeordneten Hubert Hüppe, Adolf Hörsken, Wolfgang Vogt und Jörg Ganschow. * )
— Ich möchte die Beratungen jetzt gern fortsetzen. Dazu ist allerdings erforderlich, daß Sie Platz nehmen. — Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Bevor wir jetzt über weitere Entschließungsanträge abstimmen, kommen wir zunächst zur Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zu den Beschlüsen des Bundestages vom 15. und 23. Juni 1989 zu China. Das ist Tagesordnungspunkt 4 i. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2871, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1536 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den gemeinsamen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Salman Rushdie auf Drucksache 12/3957. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Dieser Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. zu Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina, Drucksache 12/3958. Dazu liegt auf Drucksache 12/3964 ein Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt.
Wer stimmt für den interfraktionellen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dieser interfraktionelle Entschließungsantrag ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Fraktion der SPD zur Gewährleistung der Menschenrechte und Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Kosovo-Albaner, Drucksachen 12/2289 und 12/3391. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Stimmenthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 c: Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu den Anträgen der Fraktion der SPD und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE
') Anlage 3 GRÜNEN zu einer Internationalen Initiative zur Rettung bedrohter Menschenleben, Drucksachen 12/3660, 12/3700 und 12/3953. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Tagesordnungspunkt 12d und e: Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3369 und 12/3720 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 12 f : Antrag der Fraktion der SPD zu dringenden humanitären Hilfsmaßnahmen für die Kurden im Nord-Irak, Drucksache 12/3719.
Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die Vorlage zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Die Fraktion der SPD verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. Damit erübrigt sich die von der SPD verlangte sofortige Abstimmung in der Sache.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung liegt noch nicht vor. Wir müssen noch einen Moment darauf warten.
Jetzt frage ich Sie, ob wir mit Tagesordnungspunkt 14 fortfahren können.
— Das ist der Fall.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Berichts des Innenausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Stiftung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe
— Drucksachen 12/2084, 12/3715 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Clemens Jochen Welt
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Im Ältestenrat ist dafür eine Fünf-Minuten-Runde vorgesehen. Können wir so verfahren? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile als erster Rednerin das Wort unserer Frau Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: Natürlich wäre es mir angesichts der Wichtigkeit dieses Antrags lieber gewesen, wenn er heute zur Abstimmung gekommen wäre. Aber ich muß zugeben, daß mir die Geschäftsordnung in diesem Punkt
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11131
Ulla Jelpke
nicht klar war. Ich hatte nicht erkannt, daß auch wir dafür sorgen müssen, daß unsere Anträge im Ausschuß auf die Tagesordnung kommen. Deswegen führen wir heute eine Zwischendebatte. Ich finde sie nicht weniger wichtig. Aber es wäre, wie gesagt, besser gewesen, wenn wir über diesen Antrag bereits heute hätten beschließen können.
Nichts charakterisiert die Verhältnisse in diesem Land besser als die Tatsache, daß nach dem Anschlag von Mölln, wie der Presse zu entnehmen war, ein großer ausländischer Automobilhersteller den betroffenen Familien 50 000 DM spendete. Sicher war das nicht viel, aber es war immerhin eine Geste, eine demonstrative Zurschaustellung der Tatsache, daß man sich mit den Opfern solidarisch fühlen muß. Der Wert dieser symbolischen Handlung steigt um so mehr, wenn man bedenkt, daß die Bundesregierung nichts, rein gar nichts für die Angehörigen und Betroffenen an unbürokratischer Hilfe zur Verfügung gestellt hat.
Am 24. April 1992 wird in Berlin ein vietnamesischer Bürger auf offener Straße brutal niedergestochen. Das Opfer erliegt den Verletzungen des rassistisch motivierten Anschlags. Der Fall sorgt für große Aufregung und Bestürzung in der Öffentlichkeit. In einem Brief vom 27. April 1992 bittet die Berliner Außenstelle der vietnamesischen Botschaft den Berliner Senat, eine Entschädigung für die Angehörigen des Opfers zu erwirken. Hat die Bundesregierung Hilfe zugesichert? Aber nein; Fehlanzeige.
Am 23. August 1992 griffen in Rostock-Lichtenhagen Hunderte von Neofaschisten und Rassisten die dortige ZAST und Familien vietnamesischer Vertragsarbeiter an. Menschen wurden gejagt und wären fast verbrannt, Wohnungseinrichtungen wurden demoliert. Entschädigungszahlungen haben die Opfer des Pogroms vom Staat nicht erhalten. Viele Einzelverbände und Menschenrechtsorganisationen haben statt dessen in Rostock versucht, das Leid dieser Menschen mit Spenden wenigstens materiell auszugleichen.
Es ist nicht Knickerigkeit und Geiz, was die Bundesregierung dazu veranlaßt, selbst Menschen in größter Not ohne Hilfe zu lassen. Im Opferentschädigungsgesetz werden Ausländerinnen explizit von Hilfeleistungen ausgeklammert. Der Weiße Ring bezeichnete dieses Gesetz jüngst in einer Presseerklärung als diskriminierend und als einen Skandal. Die Hilfsorganisation wies darauf hin, daß die Forderung nach einer Änderung bisher stets in den Wind geschlagen worden sei und daß angesichts der Übergriffe gegen Ausländerinnen ein gleichberechtigter Rechtsanspruch überfällig sei.
Im Auswärtigen Ausschuß wurde unsere Forderung nach einer Stiftung damit abgelehnt, daß der federführende Innenausschuß die Anwendung des Opferentschädigungsgesetzes überprüfen soli.
Frau Kollegin Jelpke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch?
Ja.
Bitte, Herr Kollege Hirsch.
Frau Kollegin, ist Ihnen bewußt, daß das Opferentschädigungsgesetz auf Ausländer Anwendung findet, sobald die Gegenseitigkeit verbürgt ist, also wenn Deutsche in dem betreffenden anderen Staat, falls sie dort einen solchen Schaden erleiden, eine Entschädigung erhalten? Halten Sie das für so unbillig?
Darum geht es nicht. Es geht darum, daß das Opferentschädigungsgesetz ausdrücklich Ausländerinnen *) von einem Anspruch ausschließt.
Das wird hier eingeklagt, nicht mehr, Herr Kollege Hirsch. Sie können im übrigen das Petitum des Auswärtigen Ausschusses nachlesen. Dieser empfiehlt dem Innenausschuß, das Opferentschädigungsgesetz dahin gehend zu ändern, daß auch Ausländerinnen* ) diesen Anspruch haben. Das sollte der Innenausschuß meiner Meinung nach auch schnellstens tun.
Wir werden eine Gesetzesänderung einbringen, die die Ausgrenzung anderer Nationalitäten aufhebt und die Gleichbehandlung der Menschen vor dem Gesetz wenigstens in dieser Frage endlich herstellt.
Allerdings sind wir nicht der Ansicht, daß durch eine derartige Änderung die von uns vorgeschlagene Stiftung überflüssig wird. Klar ist, daß nicht alle Schäden versicherungstechnisch ersetzt werden. Die Bundesregierung muß hier ganz deutlich ein Signal setzen. Sie muß zeigen, daß sie es nicht hinnimmt, das Ausländern aus rassistischen Übergriffen Nachteile entstehen können. Sie muß zeigen, daß sie die Fürsorgepflicht speziell für durch rassistische und neofaschistische Gewalt Geschädigte ernst nimmt.
Danke.
Meine Damen und Herren, die nächste Wortmeldung ist die des Kollegen Martin Göttsching. Er erhält jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin von der PDS, wenn ich die Empfehlung des Auswärtigen Ausschusses richtig lesen kann, steht da, ob die wenigen nicht gedeckten Fälle, die bisher nicht erfaßt sind, nicht berücksichtigt werden können. Ich lese in diesem Bericht nichts von einer geschlechtsspezifischen Auslegung einer Empfehlung.
Wir haben heute darüber zu befinden, ob wir diese Stiftung einrichten wollen oder nicht. Damit hier keine
*) Die Abg. Ulla Jelpke hat mitgeteilt, daß sie mit dieser Formulierung Ausländerinnen und Ausländer gemeint habe und deshalb in ihrem Redemanuskript die Schreibweise „Ausländerinnen" verwendet habe
11132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Martin Göttsching
Mißverständnisse aufkommen, möchte ich gleich zu Beginn sagen, daß Gewalt gegen Ausländer keineswegs toleriert oder auch nur bagatellisiert werden darf. Ich verurteile das aufs schärfste. Diejenigen, die dies tun, handeln nicht gesetzeskonform. Diese grundlegende Haltung, in der wir uns sicher einig sind, darf jedoch nicht dazu führen, daß wir mit einer Art Sondergesetzgebung für Ausländer diese gegenüber anderen Bürgern unseres Landes privilegieren.
Bereits sehr früh hat die Bundesrepublik Deutschland mit dem Opferentschädigungsgesetz und dem Opferschutzgesetz Gesetze verabschiedet, die die Situation der Opfer von Gewalttaten verbessert. Der Staat hat mit diesen Gesetzen eine Einstandspflicht für Gesundheitsstörungen und den Tod von unschuldigen Opfern. Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz erhält, wer eine gesundheitliche Schädigung infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen oder auch tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person erlitten hat. Dies gilt für Gesamtdeutschland und auch für die in Deutschland lebenden Ausländer.
Die gesundheitlichen Schäden sind das eine, materielle Schäden sind das andere. Ich will nicht vom Tisch wischen, daß es Fälle geben mag, in denen die materielle Entschädigung von den zur Zeit geltenden Gesetzen her nicht gesichert ist. Diese Fälle müssen meiner Ansicht nach erfaßt und daraufhin überprüft werden, ob Handlungsbedarf besteht.
Grundsätzlich kann es jedoch nur darum gehen, ob das Opferentschädigungsgesetz in dem einen oder anderen Paragraphen geändert oder erweitert werden müßte. Eine Stiftung ins Leben zu rufen, um eventuell vorhandene gesetzliche Unzulänglichkeiten zu kaschieren, halte ich schon vom Grundsatz her für den falschen Weg.
Einen weiteren Gedanken halte ich für wichtig: Welches Signal setzen wir eigentlich für das Ausland, wenn wir eine solche Stiftung in der Bundesrepublik Deutschland installieren?
Wir schaffen praktisch eine Instanz, die jedem vor Augen führen würde, daß Deutschland nicht einmal mehr in der Lage ist, Ausländer vor systematischen — ich betone: systematischen — Übergriffen zu schützen. Das kann nicht Sinn unserer Gesetzgebung sein.
Eine letzte Bemerkung: Kein noch so ausgeklügeltes Gesetzeswerk und auch keine noch so gut funktionierende Stiftung ersetzen im Ernstfall die Solidarität der Menschen mit den Opfern von Gewalt, handle es sich um ausländerfeindliche Aktionen oder nicht. Gerade hinsichtlich unserer ausländischen Mitbürger ist die Solidarität ein politisch wichtiges Signal. Dies sollten wir in diesem Hohen Haus wissen.
Die Fraktion der CDU/CSU lehnt den Antrag ab.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Jochen Welt das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit den Ereignissen von Rostock und den Morden von Mölln sind die bislang schon schrecklichen Dimensionen des rechten Terrors sicherlich erneut gesprengt worden. Wir sind uns sicherlich auch einig in der Auffassung, daß es nicht reicht, Bestürzung zu äußern, Trauer zu zeigen und die eigene Abscheu vor diesen Gewalttaten deutlich zu machen.
Uns muß klar sein, daß die Ankündigung des Einsatzes einer bewaffneten Schutztruppe, wie dies jetzt durch den Präsidenten des Türkisch-Deutschen Unternehmervereins in Niedersachsen und Bremen, Güler, geschehen ist, keine Hilfe und erst recht kein Beitrag zur Lösung des Problems ist. Ausländische wie deutsche Bürger müssen ausreichend unter dem Schutz des Staates stehen. Er allein hat das Gewaltmonopol.
Der Schutz unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und ein Ausgleich für das ihnen zugefügte Leid müssen umfassend gewährleistet sein. Mit diesem Problem dürfen nicht die sozialen und karitativen Organisationen und Verbände oder Privatpersonen und Gemeinden alleingelassen werden.
Die SPD-Fraktion hat bereits am 25. September 1990 in ihrer Anfrage zur Situation der Opfer von Straftaten den Ausländern ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Wir haben schon damals die Bundesregierung aufgefordert, Herr Kollege Hirsch, den Opferschutz auf alle hier lebenden Bevölkerungsgruppen auszudehnen.
Die Bundesregierung bestätigte damals in ihrer Antwort die Kritik der SPD, daß das Opferentschädigungsgesetz und das Opferschutzgesetz lediglich auf deutsche Staatsangehörige angewandt werden kann. Wir mahnen heute ausdrücklich die Aufnahme der ausländischen Mitbürger in den Anwendungsbereich des Opferschutzgesetzes an.
Nach unserer Meinung reicht es nicht aus, sich jetzt im Rahmen einer Stiftung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe engagieren zu wollen. Dies wäre nach meiner Auffassung nur ein Feigenblatt; ich möchte schon sagen: es wäre Aktionismus.
Die SPD-Fraktion sieht in den Vorschlägen zur Schaffung einer Stiftung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe keinen ausreichenden und geeigneten Lösungsansatz. Im übrigen hat der Innenausschuß diesen Antrag noch nicht beraten. Bei den Beratungen im Innenausschuß werden wir uns insbesondere mit der Anwendung bzw. der Erweiterung des Opferschutzes zu beschäftigen haben.
An dieser Stelle komme ich nicht daran vorbei, mich mit der Art und Weise der Vergangenheitsbewältigung der Antragsteller auseinanderzusetzen. Mehr Selbstkritik in der Gruppe PDS/Linke Liste ist nach meiner Einschätzung notwendig. Es hat sich ja im nachhinein gezeigt, daß die Verleugnung von Rechtsradikalität, publizistische Schönfärberei und das Negieren von Ausländerfeindlichkeit in der Ex-DDR eine gefährliche Selbsttäuschung waren, die sich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11133
Jochen Welt
heute unter anderen gesellschaftlichen Umständen entlädt.
Wer sich aus seiner eigenen geschichtlichen Verantwortung ausblendet, der hat nicht nur Kreide gefressen, sondern der handelt wenig glaubwürdig und unseriös.
Die Bekämpfung des rechten Terrors ist eine wichtige, eine große Aufgabe, die wir nur gemeinsam bewältigen werden. Dies hat auch die Bundesregierung bei ihren jüngsten Schritten erkannt. Sie hat allerdings, was auch im Ausland heftig bemängelt wurde, viel zu lange gezögert.
Nach neuesten Umfragen sind das Verständnis und gar die Sympathie für den Rechtsextremismus in der Bevölkerung zurückgegangen. Großdemonstrationen Hunderttausender von Menschen zeigen Wirkung. Ich denke, es darf jetzt nicht voreilig Entwarnung gegeben werden.
Wir alle müssen — trotz dieser ermutigenden Reaktionen der bislang schweigenden Mehrheit unserer Bürger — offen und ehrlich sagen: Die Gefahr ist erst dann wirklich gebannt, wenn wir den rechten Parolen den kulturellen und sozialökonomischen Nährboden entzogen haben. Es ist also besser und wichtiger, das soziale Klima in unserer Republik zu verändern. Wer Bestürzung und Abscheu über ausländerfeindliche Übergriffe nicht heuchelt, der muß dafür sorgen, daß Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und soziale Ängste beseitigt werden. Leider sind die Bundesregierung und die sie tragende Koalition offensichtlich weder willens noch in der Lage dazu.
Die einzige dauerhafte und wirkungsvolle Bekämpfung des Rechtsextremismus verlangt eine grundlegende Umkehr der Politik in unserem Lande. Hierzu, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind wir alle in diesem Hause aufgerufen.
Ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.
Herr Präsident! Meine Kollegen und Kolleginnen! Ich muß schon sagen: Wenn die Nachfolgeorganisation der SED einen Antrag stellt, in dem die Forderung erhoben wird, sich um die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe zu kümmern, dann kann ich nicht umhin, unwillkürlich an die Opfer des DDR-Regimes zu denken,
die nicht einmal die Chance hatten, zur Kenntnis genommen zu werden, geschweige denn rehabilitiert oder entschädigt zu werden. Wenn sie Glück hatten, wurden sie verkauft.
Es kommt mir vor wie in Grimms Märchen: Einige von Ihnen — ich will hier differenzieren — sind so wie der Wolf, der die sieben Geißlein verschlungen hat, sich jetzt als Rotkäppchens Großmutter verkleidet und sich die Decke über den Kopf zieht, damit wir alle das nicht merken sollen.
Aber an die Märchen und an die Verkleidung glauben nur noch wenige, und es werden nur wenige darauf hereinfallen. — Diese Bemerkung dient der inneren Hygiene.
Das Ziel Ihres Antrags, den Opfern fremdenfeindlicher motivierter Gewalt zu helfen, wird, glaube ich, von niemandem in diesem Haus angezweifelt. Ich glaube allerdings nicht, daß hier der richtige Weg eingeschlagen wird.
Die Gründung einer Stiftung ist zuallerletzt Sache des Staates, dem hier ja irgendwie auch eine Art Hauptschuld zugeschoben werden soll, die nicht gegeben ist. Die Gründung einer Stiftung — wir haben „staatliche" Stiftungen — ist in erster Linie eine Sache bürgerschaftlichen Engagements. Der Staat muß gesetzliche Grundlagen schaffen. Er sollte klare Rechtsansprüche formulieren. Das ist Sache des Staates. Er sollte Haushaltsmittel auch nicht gewissermaßen parzellieren und aus dem normalen Haushalt herausnehmen.
Was nun das bürgerschaftliche Engagement betrifft, so kann ich dem Hohen Hause mitteilen, daß die Gründung eines Vereins, einer Vereinigung in Vorbereitung ist, die den Opfern fremdenfeindlich motivierter Gewalt helfen soll. Ich finde, es ist ermutigend, zu erfahren, daß sich eine ganze Reihe von Spendern meldet. Ich bin dankbar dafür.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit aber auch ein Wort in Richtung Bundesregierung sagen. Nach Sinn und Zweck des Opferentschädigungsgesetzes müßten gerade die Opfer ausländerfeindlich motivierter Gewalttaten Leistungen nach diesem Gesetz erhalten. Nicht umsonst heißt es in der Begründung dieses Gesetzes — ich zitiere —: „Wenn es der staatlichen Gemeinschaft trotz ihrer Anstrengung zur Verbrechensverhütung nicht gelingt, Gewalttaten völlig zu verhindern, so muß sie wenigstens für die Opfer dieser Straftaten einstehen."
Dennoch können viele diese Entschädigung nicht erhalten. Einbegriffen sind die EG-Bürger, die Unionsbürger; ansonsten gilt das Prinzip der Gegenseitigkeit. Ich halte zwar viel vom Prinzip der Gegenseitigkeit, aber man muß doch auch einmal fragen, ob es richtig ist, daß beispielsweise der türkische Tourist demjenigen gleichgestellt wird, der seit 25 Jahren bei uns lebt.
In vielen Fällen ist es so, daß wir nicht nur unterscheiden sollten, wer Unionsbürger ist und wer nicht, sondern daß wir. auch fragen sollten: Wer lebt hier schon sehr lange und dauerhaft, und wer ist nur vorübergehend hier? Ich bitte die Bundesregierung, das noch einmal zu prüfen.
Ich weiß — das möchte ich bei dieser Gelegenheit auch gar nicht verschweigen —, daß es mit den
11134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Rechten der Deutschen, die in der Türkei leben, nicht gut bestellt ist. Ich denke vor allen Dingen an die vielen deutschen Frauen, die mit türkischen Ehemännern verheiratet sind. Die gewisse Schwerhörigkeit der türkischen Regierung sollte uns jedoch nicht veranlassen, das auf dem Rücken und zu Lasten der fast zwei Millionen türkischen Menschen in der Bundesrepublik auszutragen.
Hilfe ist notwendig. Der Weg dazu muß gefunden werden. Ich wiederhole meine Bitte an die Bundesregierung, hier noch einmal zu prüfen. Bürgerschaftliches Engagement besteht. Der vorliegende Antrag scheint mir der falsche Weg zu sein.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß der Aussprache. Damit ist der Tagesordnungspunkt 14 erledigt.
Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf der Drucksache 12/3960 bekannt. Er betrifft China. Abgegebene Stimmen: 543. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt: 323 Abgeordnete. Mit Nein haben gestimmt: 197 Abgeordnete. Es hat 23 Enthaltungen gegeben.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 540; davon:
ja: 321
nein: 196
enthalten: 23
Ja
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else
Adam, Ulrich
Dr. Altherr, Walter Franz Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte
Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert
Bleser, Peter
Böhm , Wilfried Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang Bohlsen, Wilfried
Borchert, Jochen
Brähmig, Klaus
Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg
Bühler , Klaus
Büttner , Hartmut
Buwitt, Dankward Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deres Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Dr. Faltlhauser, Kurt Fischer , Leni Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, Herbert Dr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim Ganz , Johannes Geiger, Michaela
Dr. Geiger , Sissy Geis, Norbert
Dr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Dr. Göhner, Reinhard Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang Gres, Joachim
Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,
Carl-Detlev
Harries, Klaus
Haschke , Gottfried
Haschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser , Otto Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter
Hörster, Joachim Dr. Hoffacker, Paul Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Jaffke, Susanne
Jagoda, Bernhard Dr. Jahn ,
Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, Karin
Dr. Jobst, Dionys Dr. Jüttner, Egon
Jung , Michael Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
Kiechle, Ignaz
Kittelmann, Peter Klein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ,
Hans-Ulrich
Dr. Köhler , Volkmar
Kolbe, Manfred
Kors, Eva-Maria
Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Dr. Krause , Rudolf Karl
Krause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut
Lattmann, Herbert Laumann, Karl-Josef Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, Ursula
Dr. Lieberoth, Immo Link , Walter Dr. Lippold (Offenbach),
Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann , Wolfgang
Louven, Julius
Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael
Maaß , Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Marschewski, Erwin Marten, Günter
Dr. Mayer , Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf
Dr. Meseke, Hedda Dr. Meyer zu Bentrup, Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf Dr. Möller, Franz Dr. Müller, Günther
Müller , Elmar Müller (Wadern),
Hans-Werner
Müller , Alfons Nelle, Engelbert Neumann (Bremen), Bernd Nitsch, Johannes
Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Petzold, Ulrich
Pfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pinger, Winfried Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm Reichenbach, Klaus Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden),
Hannelore
Romer, Franz
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Dr. Rüttgers, Jürgen
Sauer , Helmut Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidt , Andreas von Schmude, Michael
Dr. Schneider ,
Oscar
Dr. Schockenhoff, Andreas Dr. Scholz, Rupert
Frhr. von Schorlemer,
Reinhard
Schulz , Gerhard Schwalbe, Clemens
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Seibel, Wilfried
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992 11135
Vizepräsident Helmuth Becker Sikora, Jürgen
Skowron, Werner H.
Dr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel
Spilker, Karl-Heinz
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Enka Dr. Stercken, Hans
Dr. Frhr. von Stetten, Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd
Stübgen, Michael
Susset, Egon
Tillmann, Ferdi
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Dr. Voigt (Northeim),
Hans-Peter
Dr, Waffenschmidt, Horst Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Dr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek ,
Bertram
Wilz, Bernd
Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz
Wittmann , Simon
Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zierer, Benno
Zöller, Wolfgang
SPD
Esters, Helmut
Fischer , Lothar Koschnick, Hans
Kuessner, Hinrich
Roth, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Beckmann, Klaus
Bredehorn, Günther Cronenberg , Dieter-Julius
Eimer , Norbert Engelhard, Hans A.
van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf
Friedhoff, Paul K.
Friedrich, Horst
Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Gallus, Georg
Gries, Ekkehard
Grünbeck, Josef
Grüner, Martin
Günther , Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter
Hansen, Dirk
Dr. Haussmann, Helmut Heinrich, Ulrich
Dr. Hoyer, Werner
Irmer, Ulrich
Kleinert , Detlef
Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L.
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lühr, Uwe
Dr. Menzel, Bruno Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Paintner, Johann
Peters, Lisa
Dr. Pohl, Eva
Richter , Manfred
Rind, Hermann
Dr. Röhl, Klaus
Schmidt , Arno Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard
Schuster, Hans
Sehn, Manta
Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Starnick, Jürgen
Dr. von Teichman, Cornelia Dr. Thomae, Dieter
Timm, Jürgen
Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Dr. Weng , Wolfgang
Wolfgramm , Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
PDS/Linke Liste
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Keller, Dietmar
Fraktionslos
Henn, Bernd
Nein
CDU/CSU
Hörsken, Heinz-Adolf
Hüppe, Hubert Jäger, Claus
Kronberg, Heinz-Jürgen Limbach, Editha Pofalla, Ronald Schwarz, Stefan
Vogt , Wolfgang Wetzel, Kersten Wonneberger, Michael
SPD
Adler, Brigitte
Andres, Gerd
Antretter, Robert
Bachmaier, Hermann
Becker , Helmuth Becker-Inglau, Ingrid Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Bock, Thea
Dr. Böhme , Ulrich Dr. Brecht, Eberhard
Dr. von Bülow, Andreas Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Conradi, Peter
Dr. Diederich , Nils Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Duve, Freimut
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke , Horst Eich, Ludwig
Ewen, Carl
Ferner, Elke
Formanski, Norbert Fuchs , Anke Fuchs (Verl), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, Norbert
Gleicke, Iris
Graf, Günter
Großmann, Achim Haack ,
Karl Hermann Habermann, Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Hanewinckel, Christel Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Heistermann, Dieter Hilsberg, Stephan Horn, Erwin
Ibrügger, Lothar Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich Jaunich, Horst
Dr. Jens, Uwe
Jung , Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, Susanne
Kirschner, Klaus
Klappert, Marianne
Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Klemmer, Siegrun
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbe, Regina
Kolbow, Walter
Koltzsch, Rolf
Dr. Küster, Uwe
Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe
Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Lennartz, Klaus
Lohmann , Klaus
Dr. Lucyga, Christine Maaß , Dieter Mascher, Ulrike
Matschie, Christoph Dr. Matterne, Dietmar Mattischeck, Heide Meckel, Markus
Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert
Dr. Mertens , Franz-Josef
Dr. Meyer , Jürgen Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf
Niggemeier, Horst
Odendahl, Doris Oostergetelo, Jan Opel, Manfred Ostertag, Adolf Dr. Otto, Helga Paterna, Peter Dr. Penner, Willfried
Peter , Horst
Dr. Pfaff, Martin Pfuhl, Albert
Dr. Pick, Eckhart Reimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, Renate Reschke, Otto
Reuschenbach, Peter W. Reuter, Bernd
Rixe, Günter
Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter Scheffler, Siegfried Schily, Otto
Schloten, Dieter Schmidbauer , Horst
Schmidt , Ursula Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen
Dr. Schöfberger, Rudolf Schöler, Walter Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schütz, Dietmar
Schulte , Brigitte
Dr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
Dr. Soell, Hartmut
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich
Steiner, Heinz-Alfred
Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Dr. Thalheim, Gerald
Thierse, Wolfgang Titze, Uta
Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, Günter
Dr. Vogel, Hans-Jochen
Voigt , Karsten D. Wallow, Hans
Walter , Ralf Wartenberg (Berlin), Gerd
Dr. Wegner, Konstanze Weiler, Barbara Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter
Welt, Jochen
Dr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge
Dr. Wetzel, Margrit
Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, Dieter
Wimmer ,
Hermann
Dr. de With, Hans Wittich, Berthold Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
11136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Vizepräsident Helmuth Becker F.D.P.
Ganschow, Jörg
PDS/Linke Liste
Dr. Enkelmann, Dagmar Jelpke, Ulla
Philipp, Ingeborg
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Schulz , Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich
Enthalten
CDU/CSU
Göttsching, Martin Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Mahlo, Dietrich
Rahardt-Vahldieck, Susanne Reddemann, Gerhard
Dr. Schmidt , Joachim
Schmidt , Trudi
SPD
Gilges, Konrad
Dr. Schnell, Emil Waltemathe, Ernst
F.D.P.
Baum, Gerhart Rudolf
Dr. Blunk , Michaela Dr. Hirsch, Burkhard Koppelin, Jürgen Schmalz-Jacobsen, Cornelia
PDS/Linke Liste
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor Dr. Höll, Barbara Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Dr. Schumann ,
Fritz
Dr. Seifert, Ilja
Damit ist der Entschließungsantrag angenommen.
Nun, meine Damen und Herren, rufe ich den Punkt 15 der Tagesordnung auf:
Beratung des Berichts des Innenausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
a) zu dem von den Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Rechte von Niederlassungsberechtigten, Einwanderinnen und Einwanderern
— Drucksache 12/1714 —
b) zu dem von der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsstellung von Flüchtlingen
— Drucksachen 12/2089, 12/3918 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann Gerd Wartenberg
Dr. Burkhard Hirsch
Es war noch nicht ganz geklärt, ob zu diesem Tagesordnungspunkt geredet werden soll. — Der Herr Kollege Weiß nickt. Wir reden also. Im Ältestenrat ist eine Fünf-Minuten-Runde vereinbart.
Herr Kollege Weiß, bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 22. Januar 1992 hat die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Einwanderungsgesetz und am 13. Februar 1992 ein Flüchtlingsgesetz sowie ein Gesetz zur Änderung des Staatsbürgerbegriffs in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das waren und sind unsere Vorschläge zur Lösung jener Probleme, die objektiv vorhanden sind und die, den politischen Willen vorausgesetzt, längst hätten angegangen werden können.
Ich habe nicht die Illusion — das gestehe ich gern zu —, daß unsere Vorschläge allein die vielfältigen Probleme der Immigration lösen könnten. Aber das, was die Koalition und die SPD als sogenannten Asylkompromiß ausgehandelt haben, bleibt weit hinter unserem realistischen Lösungsansatz zurück.
Dieser Asylkompromiß ist ein fauler Kompromiß. Der neue Art. 16 a, so wie Sie ihn formuliert haben, ist ein Asylverhinderungsartikel. Ihr Kompromiß ist nicht vom Willen bestimmt, möglichst vielen Menschen in Deutschland Zuflucht und eine neue Heimat zu geben, sondern von der Absicht sie abzuweisen. Sie wollen die Zuwanderung nicht menschenwürdig regeln und gestalten. Sie wollen sie unterbinden. Damit kann jeder, ob er nun asylberechtigt ist oder nicht, an der Grenze abgewiesen werden. Das ist die Lesart des bayerischen Innenministers Stoiber. Er hat recht. Deutlicher kann auch ich es nicht sagen.
Damit würde entgegen allen Versicherungen und entgegen dem Parteitagsbeschluß der SPD der Art. 16 Abs. 2 Satz 2 unseres Grundgesetzes — „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. " — nicht ergänzt, sondern de facto gestrichen.
Der Asylkompromiß verstümmelt das Grundrecht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit. Er setzt auf Europa, ohne daß eine europäische Lösung auch nur ange-dacht wäre. Was mich betroffen macht, ist die Unverfrorenheit, mit der versucht wird, diese einfache Wahrheit zu verschleiern. Ihre Parteien werden dadurch ebenso Schaden nehmen wie die Demokratie in unserem Land.
Die Verfasser des Asylkompromisses wollen im Alleingang ihre Art von europäischer Harmonisierung betreiben. Das wird zur Folge haben, daß vor allem die osteuropäischen Staaten, die demokratieunerfahren und mit ethnischen und nationalistischen Problemen befaßt sind, den Flüchtlingsstrom auffangen müßten. Angesichts der desolaten Wirtschaftssituation, die die Unrechtsregime des Ostens hinterlassen haben, ist der Knall, also die urzivile gewalttätige Lösung, praktisch programmiert. Da nützt auch das Gerede von der europäischen Lastenverteilung nichts. Denn diese ist zur Zeit nicht in Sicht. Der gefundene Kompromiß ist egoistisch und gegenüber den osteuropäischen Staaten schlicht unverantwortlich.
Der Botschafter der Republik Polen hat inzwischen klargestellt, daß der Asylkompromiß für sein Land keine Verbindlichkeit hat. Ich frage auch: Was ist das für ein politischer Stil, in einer so gewichtigen Frage über andere Staaten zu entscheiden, ohne dies auch nur zu befragen? Das ist unerträgliches Großmachtgehabe. Ich distanziere mich davon entschieden.
Statt dessen wäre eine Politik nötig gewesen, die die komplexen Probleme nach dem Ende des Kalten Krieges nicht leugnet, sondern die Realitäten und damit die unumkehrbare Tatsache der Einwanderung anerkennt. Die Asylpolitik muß an der Selbstverpflichtung der Gesellschaft zur Solidarität gegenüber Flüchtlingen festhalten. Es geht darum, endlich ein zeitgemäßes Staatsbürgerrecht zu verabschieden, das von dem Anachronismus Abschied nimmt, daß Deut-
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Konrad Weiß
scher nur der ist, in dessen Adern deutsches Blut fließt.
Die Parteien des Asylkompromisses sind nicht bereit, hier essentielle Verbesserungen zu vereinbaren. Statt dessen ist die Lüge schon wieder eingebaut, wenn der bestehende Regelanspruch in einen Rechtsanspruch umgewandelt, die 15-Jahres-Frist aufgehoben und das als großer Sieg gefeiert wird. Entscheidend sind aber die liberale Handhabung von Mehrstaatlichkeit bei Einbürgerung und die Aufgabe des Jus sanguinis zugunsten des Jus soli.
Wir haben in unserem Gesetz eine Quote für Einwanderinnen und Einwanderer vorgesehen, allerdings demokratisch abgefedert durch das Erfordernis der Entscheidung im Parlament. Ihr Asylkompromiß überantwortet die Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten ausschließlich dem Bundesinnenminister und den Innenministern der Länder.
Noch ist eine Rückkehr zur praktischen Vernunft möglich. Wenn sich aber eine Mehrheit für Ihr Asylverhinderungsgesetz finden sollte, wird es das individuelle und einklagbare Recht auf Asyl nicht mehr geben. Ich wünsche mir endlich eine ernsthafte Beratung unseres Vorschlags für ein Einwanderungsgesetz.
Dieser Gesetzesvorschlag hält am Konzept der offenen zivilen Gesellschaft fest, die es heute erstmals nach mehr als vierzig Jahren ernsthaft wieder zu verteidigen gilt. Ich denke, die kurze Debatte heute sollte auch Anlaß sein, um über den Stil nachzudenken, wie mit Gesetzentwürfen, die seit mehr als zehn Monaten im Deutschen Bundestag eingebracht sind, umgegangen wird.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Wolfgang Zeitlmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren ein Flüchtlingsgesetz — auf das will ich mich konzentrieren —, das die Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebracht hat, das bisher wegen fehlender Voten noch nicht behandelt wurde und das sinngemäß wohl auch in die Behandlung der kommenden Asylgesetzgebung hineinfällt. Ich will ein paar Punkte herausgreifen, von denen ich glaube, daß sie dafür sprechen, Ihr Gesetz nicht anzunehmen.
Erstens. Sie wollen den Geltungsbereich erweitern. Sie wollen den Kreis derer, die ein Recht auf Bleibe, ein Recht auf Anerkennung, ein Recht auf Genehmigung des Aufenthalts erhalten sollen, wesentlich erweitern. Sie nehmen weitere Gesichtspunkte der Flüchtlingseigenschaft als Grundlage an.
Zweitens. Sie wollen jedem Antragsteller vom Beginn seiner Antragstellung an bis zum Ende des Verfahrens eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen.
Drittens. Sie wollen jedem Flüchtling von der Antragstellung an eine Arbeitserlaubnis einräumen, gleich, ob in selbständiger oder in nichtselbständiger Arbeit.
Viertens. Sie wollen ein Ministerium für Einwanderung, Flucht und multikulturelle Angelegenheiten.
Fünftens. Sie wollen sogar eine Gruppenanerkennung einführen, also für bestimmte Flüchtlingsgruppen, etwa Landsmannschaften, generelle und pauschale Regelungen treffen und dann jede Einzelprüfung unterlassen.
All das, glaube ich, kann derzeit nicht geprüft werden. Wer die Realität mit den überhöhten Zahlen an Zugängen sieht, die wir haben — heuer sind es 450 000 —, der kann im Ernst nicht davon ausgehen, daß man mit solchen Mitteln und Methoden zur Beruhigung und zur Klärung der Sache beiträgt. Deswegen sage ich Ihnen ganz offen: Wer solche Gesetze vorschlägt und vorlegt, darf nicht erwarten, daß sie in der derzeitigen Lage ernstlich geprüft werden. Deswegen gehe ich davon aus, daß wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen werden, aber mit dem interfraktionell Vereinbarten doch eine akzeptable Lösung vorlegen werden, die sicherstellt, daß der wirklich Verfolgte sein Verfahren bekommt und daß nur dort, wo wir Mißbräuche haben, diese verhindert werden. Ich meine, dies ist dann für uns alle wirklich eine tragbare und sichere Basis und eine Lösung der zukünftigen Probleme.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist unser Kollege Jochen Welt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ruf, die langwierige Diskussion zu beenden und endlich in der Zuwanderungsfrage zum Handeln zu kommen, hat sicherlich auf dem Hintergrund der heute diskutierten Ereignisse seine Berechtigung. Aber ich glaube, daß dieser Ruf nicht zur politischen Agitation und zu einem nicht eingeordneten Aktionismus führen darf. Deswegen ist es für meine Fraktion mehr als eine Hoffnung, wenn sich am letzten Wochenende die Parteien der Regierungskoalition und die SPD auf gemeinsame Eckpunkte in Fragen der Zuwanderung geeinigt haben. Ein Teil unserer Beratungen über das Gesamtpaket wird sich auch mit dem Status derjenigen Menschen beschäftigen, die schon lange hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sind. Der Parteienkompromiß des vergangenen Wochenendes weist hier auf einige Änderungen und Vereinfachungen zur Einbürgerung im Rahmen des Staatsangehörigkeitsrechtes hin. Ich wäre allerdings zufriedener, wenn hier weitere Maßnahmen zur Integrationsförderung, z. B. die Erlangung der Doppelstaatsangehörigkeit, erreicht werden könnten.
Beim Arbeitsgespräch mit türkischen Mitbürgern, das ich als Bürgermeister meiner Heimatstadt Recklinghausen am Tag nach Mölln geführt habe, wurden die Sorgen und natürlich auch die persönlichen Ängste sehr wohl deutlich. Aber es wurde auch ein hohes Maß an Solidarität, insbesondere aus den Betrieben heraus, erkennbar, Solidarität, die auch wieder Mut macht: Telefonketten, gemeinsame Gesprächskreise,
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Jochen Welt
der Wunsch nach mehr Zusammenarbeit von deutschen und türkischen Mitbürgern. Gemeinsamkeit gibt Schutz. Gemeinsamkeit macht stark. Deshalb ist es auch nur logisch, daß bei diesem Gespräch in Recklinghausen gefordert wurde, Ausländer, Zuwanderer stärker einzubinden, sie auch politisch teilnehmen zu lassen, ihre und unsere gemeinsamen Probleme stärker zum Gegenstand der politischen Diskussion werden zu lassen. Die Forderung nach einem kommunalen Wahlrecht für ausländische Mitbürger ist hier ein weiterer, konsequenter Schritt.
Ich denke, die Verfassungskommission muß auf dem Hintergrund der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Situation einen Schritt nach vorne tun und eine entsprechende Wahlrechtsänderung verfas - sungsrechtlich möglich machen, um so allen Ausländergruppen, die zum Teil schon über Generationen in der Bundesrepublik wohnen, eine aktive Teilnahme zu ermöglichen.
Wir Sozialdemokraten haben im Rahmen unseres Gesamtzuwanderungskonzeptes darauf hingewiesen, daß wir uns unseres Status als faktisches Einwanderungsland bewußt sein müssen und daß wir hierzu entsprechende gesetzliche Möglichkeiten schaffen müssen. Das Parteienpapier des vergangenen Wochenendes geht auf diese Fragen ein. Es bleibt zu wünschen, daß es auch hier zu praktikablen Lösungen kommt; denn ohne eine legale Chance der Einwanderung in die Bundesrepublik werden die illegalen Zutrittsmöglichkeiten in die Bundesrepublik sicherlich stärker genutzt werden als im gegenwärtigen Zeitraum.
Wir nehmen den Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu den genannten Punkten mit Interesse zur Kenntnis. Vorbehaltlich der noch stattfindenden Beratungen im Innenausschuß muß ich aber für meine Fraktion darauf hinweisen, daß wir eine isolierte Beratung dieser Fragen, die Sie auch genannt haben, nicht für sinnvoll halten.
Diese Überlegungen müssen eingebettet sein in das genannte Zuwanderungspaket, das auch in Einklang zu bringen ist mit den jeweiligen Bedingungen der Bundesrepublik, mit den sozialen Komponenten, den Arbeitsplätzen, den Wohnungen, den Sozialeinrichtungen und den Integrationsmöglichkeiten der Gemeinden.
Meine Damen und Herren, der Begriff Einwanderung ist für viele ein Reizwort. Wir sollten mit kühlem Kopf davon ausgehen, daß es sie als Fakt gibt und auch weiter geben wird, legal oder illegal. Wir müssen lernen, mit dieser Einwanderung umzugehen, sie sozial verträglich zu gestalten und sie zu steuern. Es ist an der Zeit, es auch einmal positiv zu formulieren: Wir sollten auch verstärkt an den Nutzen dieser Einwanderung denken, der nicht unbedingt nur ökonomisch begründet sein muß.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Wolfgang Lüder das Wort.
— Uns ist der Kollege Wolfgang Lüder angemeldet worden. Wenn nun der Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort wünscht, dann bekommt er es. — Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben getauscht, und ich werde versuchen, meinen Kollegen Lüder würdig zu vertreten.
Herr Kollege Weiß, das Flüchtlingsgesetz, das Sie vorlegen, vermischt in der Tat den Begriff der Armutsflüchtlinge mit dem der Flüchtlinge aus politischen Gründen. Darum glaube ich, daß dieser Entwurf nicht tragfähig ist. Ich möchte hier der Versuchung widerstehen, im Fünf-Minuten-Takt über den Asylkompromiß zu sprechen, mit dem ich selber meine Probleme habe, der aber Anfang nächsten Jahres in die parlamentarische Behandlung geraten wird. Dann werden wir sicherlich über das Pro und Kontra ausführlich reden können.
Ich möchte darum etwas zu dem Einwanderungsgesetz sagen, das Sie auch vorlegen. Es leben in der Bundesrepublik über sechs Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die als Einwanderer in die Bundesrepublik gekommen sind oder als zweite Generation hier geboren und aufgewachsen sind. Wir haben einen großen Teil von ihnen aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik geholt. Wir haben uns selber zu einem Einwanderungsland gemacht und können uns von den Folgen nicht deswegen losschwören, weil wir sie nicht bedacht haben.
Viele dieser Einwanderer sind Deutsche ohne deutschen Paß geworden. Wir können sie aus Handwerk und Industrie nicht mehr wegdenken. Sie zahlen weit mehr an Steuern und an Sozialbeträgen, als sie herausbekommen — ein Tatbestand, den wir unseren Mitbürgern nicht verschweigen sollten.
Also müssen wir weit mehr tun, um diese Menschen zu integrieren. Wir müssen ihnen den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit drastisch erleichtern. Wir sollten rationale Regelungen für die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland formulieren und begreifen, daß ein erheblicher Teil unserer Schwierigkeiten daher rührt, daß die deutsche Politik glaubt, das Problem dadurch lösen zu können, daß seine Existenz bestritten wird.
Die vorgelegten Vorschläge sind aber eben keine Lösung dieser Probleme, denn Ihr Entwurf will darauf hinaus, die Einwanderung drastisch zu erleichtern und dann jeden Einwanderer, der sich fünf Jahre rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten hat, praktisch und rechtlich dem deutschen Inländer gleichzustellen. Das ist gut gemeint und würde uns in ein Chaos führen. Die Verwaltung würde alles tun, um einen Ausländer daran zu hindern, die fünf Jahre
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Dr. Burkhard Hirsch
vollzubekommen. Wir würden überdies nicht nur mit der Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung kollidieren, sondern uns obendrein den Vorwurf einhandeln, daß wir viele Völker ihrer aktiven, beweglichen Intelligenz berauben, während wir doch eigentlich mehr dafür tun müßten, Menschen zu motivieren und es ihnen auch tatsächlich zu ermöglichen, in ihrer Heimat eine sinnvolle wirtschaftliche Zukunft zu suchen und zu finden.
Einwanderung setzt Aufnahmebereitschaft und Integration voraus — Arbeitsmöglichkeiten, Wohnraum, Bildungsangebote —, ohne daß die hier lebende deutsche Bevölkerung das Gefühl bekommen müßte, in ihren eigenen Lebenserwartungen ernsthaft bedroht zu sein. Ich bin mit Ihnen der Überzeugung, daß wir ein beachtliches Maß an Einwanderung in die Bundesrepublik brauchen, schon aus eigenem Interesse, nicht nur wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen, in denen wir leben, sondern auch um unsere Sozialsysteme in absehbarer Zeit überhaupt noch wirksam und funktionsfähig zu erhalten. Ich glaube, daß die Politik mehr tun muß, um dafür Verständnis in der deutschen Bevölkerung zu erwecken.
Trotzdem: Dieser Gesetzentwurf ist zwar wohlgemeint, verzichtet aber auf die notwendigen Abwägungen. Er hat zwar einen richtigen Ansatzpunkt, führt aber nicht zur Lösung der Probleme, sondern würde sie nach unserer Meinung vermehren. Deswegen können wir ihm nicht zustimmen.
Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition und die SPD haben mit ihrem sogenannten Asylkompromiß ein Paket geschnürt. Das Asylrecht wurde in die Anrainerstaaten verbannt, die Rechtsweggarantie genauso. Der Individualanspruch ist praktisch nur noch für gutbetuchte Reisekünstler reserviert, die es schaffen, auf ihrer Flucht alle Unterzeichnerstaaten der Genfer Konvention zu umgehen. Da mit dieser Aufgabe der Landweg schon ausgeschlossen ist, müssen noch die Schleusen für Menschen sogenannter Drittländer auf Flug- und Seehäfen überwunden werden, die bis 1993 umgebaut werden, um den Anforderungen des Schengener Abkommens gerecht zu werden.
Im Grunde genommen wird auch die von der Bundesrepublik unterzeichnete Genfer Konvention in der BRD außer Kraft gesetzt, denn ihre wesentliche Voraussetzung ist doch immer noch, daß Flüchtlinge hier überhaupt Schutz suchen, d. h. den Boden betreten können. Für die Bundesrepublik liefert sie nur noch den Vorwand für Abschiebung und Zurückweisung in sichere Drittstaaten oder sogenannte verfolgungsfreie Länder.
Herr Stoiber spricht jetzt schon triumphierend davon, daß alle abgeschoben werden können, ob sie asylberechtigt sind oder nicht.
Innenminister Seiters rechnet mit 80 % der heutigen Asylbewerber und Asylbewerberinnen, die auch schon an den Grenzen abgewiesen werden können, wenn der Kompromiß Wirklichkeit wird.
Der sogenannte Kompromiß klopft aber auch die Eckpfeiler der bisherigen völkischen Zuwanderungspolitik fest. Bis zu 220 000 deutschstämmige Aussiedler und Aussiedlerinnen sollen jährlich aufgenommen werden, und der ökonomische Faktor ist mit der Quote von 100 000 Werksvertragsarbeitern und -arbeiterinnen berücksichtigt. Erhalten bleiben ebenfalls — mit geringfügigen Erleichterungen — die völkischen und schikanösen Einbürgerungs- bzw. Staatsbürgerschaftsregelungen. Diese und weitere Regelungen des sogenannten Kompromisses zerschlagen alle Hoffnungen darauf, daß eine Mehrheit in den großen Parteien die Realität eines Einwanderungslandes BRD akzeptieren könnte.
Abschottung und Verweigerung der vollen politischen, sozialen und kulturellen Gleichberechtigung für die hier schon lebenden Ausländer und Ausländerinnen sind zwei Seiten derselben Medaille. An dem Hochpeitschen der Asylfrage und der absehbaren Entscheidung durch den Kompromiß wird an der Flüchtlingsfrage die Herausforderung der BRD verändert. Illegalisierung der Einwanderung in einem für die BRD bislang unbekannten Ausmaß sowie die entsprechenden sicherheitspolitischen, sprich: polizeilichen und paramilitärischen Reaktionen werden die Folge sein. Die Konsequenzen werden sich auf alle Ausländer und Ausländerinnen und auf alle Deutschen auswirken.
Die zur Debatte stehenden Gesetzesanträge vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN repräsentieren in großen Teilen humane und demokratische Alternativen zur Mehrheitspolitik in diesem Hause. Das gilt vor allem für das Gesetz über die Rechtsstellung von Flüchtlingen. Sowohl die Erweiterung der Asyl- und Fluchtgründe als auch die frühestmöglichen Integrationsmöglichkeiten, wie Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, wären eine enorme Verbesserung zur jetzigen, noch mehr zur zukünftigen Situation.
Dasselbe gilt für die Niederlassungsregelung. Die bei der Entstehung der Gesetzentwürfe vielfach von den Autoren geäußerten Hoffnungen, mit Quoten der Einwanderung und einer jährlichen Kontingentierung bestimmter Flüchtlinge die Zerstörung des Grundrechts auf Asyl abmildern zu können oder gar dessen Anwendung ausweiten zu können, sind spätestens mit dem sogenannten Kompromiß auf absehbare Zeit hinfällig.
Ich halte es nicht für einen Zufall, daß die Asyldebatte ausschließlich zur Behandlung eines Mengenproblems, wie der Kollege Klose das nennt, mißbraucht und verfälscht wurde. Die Quotierung und Sortierung der Einwanderer in der Gesetzesvorlage spiegelt das in gewisser Weise wider. Die vollständige politische Gleichstellung von Immigranten und hier lebenden Ausländern und Ausländerinnen kann und darf nicht Abschottung und Ausgrenzung anderer zur Bedingung haben.
Um wirkliche Integration und Gleichstellung zu erreichen, bedarf es keiner Quoten, sondern der
11140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 128. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Dezember 1992
Ulla Jelpke
Entrümpelung der Staatsbürgerschafts- und Einbürgerungsgesetze. Doppelstaatsbürgerschaften müssen zugelassen werden, und das Abstammungsprinzip muß durch das Prinzip des Geburtsorts und des Lebensmittelpunktes ersetzt werden.
All das ist in den vorliegenden Entwürfen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthalten. Es ist aber, wie gesagt, leider mit den Quoten verbunden, und damit habe ich erhebliche Schwierigkeiten. Ich hoffe aber, wir können darüber noch diskutieren.
Danke.
Der Kollege Reddemann möchte das Wort nach § 27 der Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Herr Kollege Weiß hat Kritik an den Vereinbarungen über das Asylrecht geübt, indem er darauf hinwies, daß es noch keine europäische Regelung gibt. Ich darf den Herrn Kollegen Weiß darauf aufmerksam machen, daß eine europäische Regelung bisher daran gescheitert ist, daß kein anderer europäischer Staat bereit war, eine solche Regelung herbeizuführen, solange wir bei unserer bisherigen Asylregelung geblieben sind.
Ich darf deswegen den Herrn Kollegen Weiß bitten, einen Moment darüber nachzudenken, ob nicht vielleicht die jetzt angestrebte neue Gesetzgebung jene Chance der europäischen Regelung bietet, die notwendig ist, damit wir dieses Problem auf eine menschliche Weise regeln können.
Ich darf eine zweite Bemerkung machen, Herr Präsident. Die Frau Kollegin Jelpke hat in der ihr eigenen Art interveniert. Ich glaube, es gibt viele Menschen in Deutschland, die sich daran erinnern, daß die Partei, der sie sich jetzt angeschlossen hat, über Jahrzehnte das Thema Aus- und Einreise mit Maschinengewehren, mit Stacheldraht, mit Selbstschußanlagen und Minen zu regeln versucht hat. Deswegen meinen viele Menschen, daß Ihnen, Frau Kollegin, das moralische Recht auf eine solche Intervention, wie Sie sie eben gebracht haben, nicht zusteht.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß der Beratungen über den Tagesordnungspunkt 15.
Interfraktionell ist vereinbart, daß der Tagesordnungspunkt 18 abgesetzt wird. Es handelt sich um die Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit zu den Anträgen der Fraktion der SPD sowie der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern und um einen Änderungsantrag, den die SPD-Fraktion eingereicht hat.
Wir kommen zu Punkt 16 der Tagesordnung:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen
— Drucksache 12/3346 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1988 gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen
— Drucksache 12/3533 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Die Redner wollen ihre Reden zu Protokoll geben. * ) Ich hoffe, es erhebt sich kein Widerspruch. — Dann ist es so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/3346 und 12/3533 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu noch andere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Berichts des Rechtsausschusses gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Peter Conradi, Achim Großmann, Dr. Eckhart Pick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes
— Drucksachen 12/1856, 12/3945 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Auch hier wollen die Redner ihre Ausführungen zu Protokoll geben. * * ) Ich hoffe, es besteht Übereinstimmung, daß wir so verfahren können. — Das ist offenbar der Fall. Somit ist auch dieser Punkt erledigt.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Dezember 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.