Gesamtes Protokol
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne die 115. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages.
Es ist — ich bin ein bißchen vorsichtig — wahrscheinlich die letzte Sitzung im „Wasserwerk", das wir seit dem 9. September 1986 als Plenarsaal genutzt haben. Mehr als sechs Jahre haben wir uns hier zu Beratungen, zu zum Teil leidenschaftlichen Diskussionen und schließlich zu wichtigen Entscheidungen zusammengefunden.
Die Präsidentin des Deutschen Bundestages wird am Abend des heutigen Tages ein kurzes Resümee ziehen.
Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, daß der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige beantragt hat, den Tagesordnungspunkt 4 d — Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" — von der Tagesordnung abzusetzen. Dieser Antrag wird vor dem Tagesordnungspunkt 4 aufgerufen.
Meine Damen und Herren, wir wollen nun vor Eintritt in die Tagesordnung Fragen behandeln, für die eine „Sonder-Fragestunde" gemäß „SonderDrucksache" 12/3333 eingesetzt worden ist.
Ich rufe die „Sonder-Frage" der Kollegin Ulrike Mehl auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß nach der EWG-Artenschutzverordnung und der Bundesartenschutzverordnung Adler generell geschützt sind, und ist in dem Zusammenhang geplant, mit Nutzungsaufgabe des Plenarsaales den Bundesadler auszuwildern bzw. in sicherer, artgerechter Weise unterzubringen?
Zur Beantwortung dieser Frage steht uns der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Bertram Wieczorek, zur Verfügung.
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Hochverehrte Frau Kollegin Mehl! Ich bin selbstverständlich mit Freude bereit, Ihre Frage, die sehr wichtig ist, zu beantworten.Wie Sie ja wissen, fühlt sich die Bundesregierung zum Schutz gefährdeter und seltener Arten besonders verpflichtet. Deshalb hat sie unter Zurückstellung anderer wichtiger Vorhaben den Schutz aller Adler, d. h. auch des Bundesadlers, auf nationaler und internationaler Ebene durchgesetzt.
Im Rahmen ihrer vorausschauenden und weltweit anerkannten vorsorgenden Artenschutzpolitik hat die Bundesregierung nach sorgfältiger Prüfung Pläne zur Auswilderung des Bundesadlers verworfen, da sie die Sicherheit des Bundesadlers in freier Natur nicht gewährleisten könnte.Eine von der Bundesregierung kurzfristig einberufene Expertenkommission
ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der Bundesadler auf dem Territorium einiger Bundesländer starken Anfeindungen ausgesetzt wäre und insbesondere mit Prankenhieben bayerischer Löwen
oder mit Tritten niedersächsischer Pferde rechnen müßte.Die Bundesregierung hat sich deshalb entschlossen, selber auf Dauer für eine artgerechte und sichere Unterbringung des Bundesadlers zu sorgen. Trotz angespannter Haushaltslage soll durch Einsparung an anderer Stelle, nämlich durch Streichung der Subventionen für den nicht mehr bedrohten Berliner Bären,
eine Planstelle für den Bundesadler im Geschäftsbereich des BMU geschaffen werden.
Zur Zeit wird noch geprüft, wie eine artgerechteErnährung und Unterbringung des Bundesadlerssichergestellt werden können. Die Bundesregierung
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9754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorekdenkt an eine ausgewogene Ernährung mit MehlWürmern
und — im fortgeschrittenen Alter — mit MehlKlößchen. Sie prüft im Hinblick auf die erforderlichen Höhenflüge wohlwollend die endgültige Unterbringung des Bundesadlers im ehemaligen Wasserwerk. Dieses müßte zuvor allerdings zum Bundeszoo und zum Schutzzentrum im Sinne des Washingtoner Artenschutzübereinkommens erklärt werden.
Herr Staatssekretär, Sie können am Beifall des Hauses feststellen, daß wir Ihnen für die so ausführliche Beantwortung der Frage ganz herzlich danken.
Auch ich möchte mich für die Antwort bedanken. Ich hätte noch viele Zusatzfragen, etwa, ob auch die Bundesregierung der Meinung ist, daß man einen Adler entweihen" kann, obwohl es keine Adlerweihen gibt. Es gibt nämlich nur Kornweihen, Wiesenweihen. Was gibt es noch?
— Nein, Gabelweihen! Rohrweihen gibt es auch. Also einen Adler könnte man nur ent „adlern". Aber leider sind keine Zusatzfragen zugelassen.
Frau Kollegin Mehl, ich muß Sie natürlich rügen. In der Fragestunde sind solche Erklärungen überhaupt nicht zulässig.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einer zweiten „Sonder-Frage" . Der Kollege Eckart Kuhlwein fragt:
Ist die Bundesregierung bereit, zum Umzug des Deutschen Bundestages aus dem „Wasserwerk" in den neuen Plenarsaal die Ausbildungsordnung für „Wasserwerker" zu überarbeiten, um eine effektive Nutzung der dort installierten Technologien sicherzustellen?
Zur Beantwortung dieser Frage steht uns der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, unser Kollege Torsten Wolfgramm, zur Verfügung.
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Ich versuche, die Frage des Kollegen Kuhlwein einmal so zu beantworten:Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß damit insonderheit — nicht ausschließlich, aber insonderheit — die Abgeordneten gemeint sind. Wenn das der Fall wäre, dann wäre natürlich eine Ausbildungsordnung erwägenswert.Dazu ist festzuhalten, daß die Bundesregierung von folgenden Grundsätzen ausgeht:Wir brauchen fundierte Vorschläge zur Überarbeitung von Ausbildungsberufen. Wenn die Bundesregierung sie ändert oder einleitet, dann muß dies unter Beteiligung der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften erfolgen. Ich bin nicht sicher, ob die liberale Fraktion mit dieser Prüfung insonderheit und mit diesen Kriterien ohne weiteres einverstanden ist. Aber das ist eine fraktionsinterne Angelegenheit; sie muß vom amtierenden Kollegen Richter entschieden werden.
Aber kommen wir zu den Kriterien selber. Zum Beispiel ist die Frage: Gibt es, wenn diese Ausbildungsordnung neu erstellt wird, eine Sicherheit auf dauerhafte, vom Lebensalter unabhängige berufliche Tätigkeit? Das müßten wir bei den Abgeordneten sorgfältig prüfen. Parteitage sind da hilfreich.
Es muß eine Ausbildung sein, die sich für qualifizierte, eigenverantwortliche Tätigkeit auf einem möglichst breiten Gebiet eignet. Und es müßte eine Operationalisierbarkeit der Ausbildungsziele festgestellt werden. Auch das müßte dann Gegenstand der Betrachtung sein.Das angedachte Qualifikationsprofil hat offenbar eine enge Verwandtschaft zum Ver- und Entsorger-, Ver- und Entsorgerinnenbereich im Wasserbereich, also zum Wasserbauer. Es gibt übrigens keine Wasserbauerinnen.
Vielleicht hängt das mit der Nähe zu „am Wasser gebaut" zusammen.Aber bei der Analyse dieser Verwandtschaftsbeziehungen kann man natürlich auch zu einer inhaltlichen Spezialklärung kommen: „Wasserversorgung" oder Fachrichtung „Entsorgung"?Übrigens, die Vorstellung, daß man da auf den Bereich der Kanalarbeiter stoßen würde,
halte ich für einen Irrweg. Schließlich ist es ein früher versuchter Ausbildungsbereich gewesen, und der ist in dieser Form nicht fortgesetzt worden,
zumal dazu, wenn ich es recht sehe, gehörte, daß man ein großer Spargel-Kenner sein mußte; das war in der Ausbildung wesentlich.Ich habe übrigens bei den Wasserbauern, Herr Kollege Kuhlwein, in der Verordnung über die Berufsausbildung feststellen können, daß einschlägig eigentlich nur die laufende Nummer 5 ist. Sie verlangt das Bauen und Instandhalten von Dämmen, Regelbauwerken und Uferversicherungen.Wieweit das zur zweiten und dritten Lesung des Haushalts notwendig ist, will ich jetzt nicht untersuchen. Das entzieht sich der Beurteilung der Regie-
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Pari. Staatssekretär Torsten Wolfgrammrung, weil, wie wir alle wissen, der Haushalt jetzt in der Kompetenz des Parlaments liegt.
Ich habe festgehalten: Auf den ersten Blick sind alle Abgeordneten mit der Frage gemeint. Die Bundesregierung hat aber nicht nur einen flüchtigen Blick auf Ihre Frage geworfen, Herr Kollege Kuhlwein. Sie ist gehalten, sorgfältig zu prüfen, und sie schöpft dabei aus liefern Brunnen.
Bei dieser Prüfung tritt Zusätzliches ins Bild.Sie haben Ihre Frage wie ein Vexierbild aufgebaut. Einen Schlüssel zum Zugang zu diesem Vexierbild bietet auch hier, wie oft, der Altmeister Goethe.
Er bringt den Zug, wie wir wissen, zum Höheren, zum Künstlerischen, zur Kunst, in seinen Gedichten immer deutlich zum Ausdruck. Im „Zauberlehrling", meine ich, hat er die kabarettistischen Gaben z. B. von Wasserwerkern wie Eckart Kuhlwein, Manfred Richter, Gerlinde Hämmerle, Ulrike Mehl, Evelin Fischer, Wilfried Bohlsen, Wolfgang Börnsen , Peter Conradi und Jürgen Koppelin vorhergeahnt. Denn er sagt:Seine Wort' und Werke Merkt' ich und den Brauch, Und mit GeistesstärkeTu' ich Wunder auch.Wir werden das heute abend noch sehen.
Walle! walleManche Strecke, Daß zum Zwecke Wasser fließe,Und dann sagt er allerdings weiter:Und nun komm, du alter Besen! Nimm die schlechten Lumpenhüllen! Bist schon lange Knecht gewesen; Nun erfülle meinen Willen!Also, diesen Bezug herzustellen, das überlasse ich selbstverständlich den Kolleginnen und Kollegen. Die Bundesregierung wird sich hier, auch angesichts der Pauschalen, hüten, irgendeinen Bezug herzustellen.
Aber was ist nun ein Kabarettist anderes als ein Zauberer der Formulierung, ein Zauberer des Geistes? Insofern erlaube ich mir, Herr Kollege Richter, einen Hinweis auf meine Märchenrede, die ich am Freitag, dem 5. Juni 1981, gegen den Neubau des Plenarsaals gehalten habe. Vielleicht gilt sie als Entree, um der vorhin erfolgten Aufzählung der Wasserwerker noch einen Namen hinzuzufügen.Übrigens: Die Begründer der Idee, das Wasserwerk zum Ersatzplenarsaal auszubauen — u. a. die Abgeordneten Kleinert, Helmrich, Wolfgramm und de Withsowie der Journalist Herles —, erheben ebenfalls einen Anspruch auf den Beruf „Wasserwerker".Die Bundesregierung wird prüfen, ob die bisherige Ausbildungsordnung ausreicht, natürlich unter Beteiligung des Parlaments. Jeder kann feststellen, ob das der Fall ist, indem alle an den beiden Veranstaltungen heute abend um 20 oder 22 Uhr im Saal der CDU/CSU teilnehmen.Warum das nun ausgerechnet dieser Saal ist,
werden natürlich diejenigen, die uns dort erfreuen wollen, noch im Vorspann begründen müssen.Insofern, Herr Kollege Kuhlwein, lege ich die Beurteilung, ob die Ausbildungsordnung verändert werden muß, in die Hand der Zuhörer.
Meine Damen und Herren, wir haben vereinbart, daß keine weiteren Fragen zugelassen werden.
Aber ich muß an die Adresse der Regierung doch noch eine Mahnung richten. In der Anlage 4 unserer Geschäftsordnung stehen die Richtlinien für die Fragestunde. Da ist den Abgeordneten ausdrücklich verboten, Unterstellungen und Wertungen in die Fragen einfließen zu lassen. Sehr verehrter Herr Parlamentarischer Staatssekretär, nun gab es da ein paar deftige Wertungen und Unterstellungen. Ich bitte doch, daß sich auch die Regierung an diese Richtlinien der Fragestunde hält.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank, Herr Präsident. Die Regierung faßt das als ernste Mahnung auf.
Herr Präsident, ich möchte mich namens der Wasserwerker dem Dank für die Antwort der Bundesregierung anschließen und insbesondere für die Tiefsinnigkeit der Betrachtungen danken, die uns hier vorgetragen worden sind.
Es liegt mir eine Reihe von Zusatzfragen auf der Zunge, besonders zu dem, was Sie über die notwendige Qualifizierung für Fragen der Versorgung und der Entsorgung der Wasserwerker gesprochen haben.
Wir sollten das heute abend bei der von Ihnen genannten Veranstaltung der Wasserwerker in dem von Ihnen genannten Saal vertiefen. Ich lade Sie alle herzlich dazu ein, vor allem natürlich die Bundesregierung.
Ich muß nun natürlich auch den Kollegen Kuhlwein rügen, weil er gegen die Richtlinien der Fragestunde verstoßen hat. Er macht hier Kommentare. Er soll fragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nun kommen wir zum Ernst des Lebens.
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Vizepräsident Helmuth BeckerIch rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Fragestunde— Drucksache 12/3550 —Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz.Herr Kollege Dr. Ilja Seifert bittet um schriftliche Beantwortung seiner Frage 1. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Das war die einzige Frage zu diesem Geschäftsbereich.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus zur Verfügung.Ich rufe Frage 2 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:Welche Initiativen wird die Bundesregierung ergreifen, um die Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe zukünftig zum Tragen von Sozialversicherungsausweisen bei der Arbeit zu verpflichten, um damit auch die illegalen Beschäftigungen in diesem Gewerbe einzudämmen?Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege, die Pflicht zur Mitführung des Sozialversicherungsausweises besteht im Baubereich, bei der Gebäudereinigung, bei den Schaustellerbetrieben und beim Auf- und Abbau auf Messen und Ausstellungen.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung kann mit Zustimmung des Bundesrats neben den genannten Wirtschaftsbereichen weitere Wirtschaftsbereiche oder einzelne Wirtschaftszweige durch Rechtsverordnung bestimmen, in denen der Sozialversicherungsausweis von den Beschäftigten mitzuführen ist. Dies gilt jedoch nur dann, soweit wegen Verstößen, die nach Ausmaß und Schwere mit denen vergleichbar sind, die in den ausdrücklich genannten Wirtschaftsbereichen anzutreffen sind, zusätzliche Kontrollmöglichkeiten erforderlich werden.
Es ist durchaus davon auszugehen, daß auch im Hotel- und Gaststättengewerbe illegale Beschäftigung und Leistungsmißbrauch vorkommen. Die Bundesregierung hat jedoch keine Anhaltspunkte dafür, daß die illegale Beschäftigung im Hotel- und Gaststättengewerbe ein Ausmaß und eine Schwere erreicht hat, die es notwendig machen, die Pflicht zur Mitführung des Sozialversicherungsausweises im Hotel- und Gaststättengewerbe schon jetzt einzuführen.
Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Herr Kollege, wo würden Sie dann eine Grenze ziehen, ab der die Pflicht zur Mitnahme des Ausweises eingeführt wird?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Die Grenze konkret zu Beziffern ist wohl nicht möglich. Das geht aus meiner Antwort bereits hervor. Wir sind der Auffassung, daß der Sozialversicherungsausweis in derselben Weise wie in den genannten Wirtschaftszweigen eingeführt werden muß, wenn der zwingende Eindruck entsteht, daß die illegale Beschäftigung in
bestimmten Wirtschaftszweigen, z. B. den von Ihnen genannten, ein Ausmaß annimmt, daß eine solche Maßnahme gerechtfertigt erscheint.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Wie kann diese Kontrolle stattfinden; wie kann der Verschleierung der illegalen Beschäftigung, die in diesem Wirtschaftszweig wirklich herrscht — ich habe da Gespräche geführt — entgegengewirkt werden? So, wie es bisher gemacht wird, geht es nicht.
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Ich teile Ihre Auffassung, daß gerade im Hinblick auf die neuen Möglichkeiten und die geöffneten Grenzen sicher auch in diesem Bereich einiges zu überprüfen ist. Wir denken, daß uns die Auswertung, angefangen bei Presseberichten über Berichte der örtlichen Arbeitsämter bis zu der generell bereits vorgesehenen Überprüfung im Jahr 1993 im Hinblick auf die Auswirkung des Sozialversicherungsausweises und die Notwendigkeit, diese Regelungen auszudehnen, Aufschluß über die Notwendigkeit geben kann, auch hier tätig zu werden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.Wir kommen zur Frage 3, gestellt von unserer Frau Kollegin Uta Würfel:In Anbetracht der Tatsache, daß laut einer Pressemitteilung des Statistischen Landesamtes des Saarlandes vom 26. Mai 1992 jeder 12. Einwohner im Saarland 1991 als schwerbehindert anerkannt war, wie sehen diese Zahlen in den anderen Bundesländern aus, und wie beurteilt die Bundesregierung den hohen Zahlenstand der Behinderten In der Bundesrepublik Deutschland?Bitte, Herr Staatssekretär.Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Frau Würfel, bei der Beantwortung der Frage kann nur auf gesichertes Zahlenmaterial der alten Bundesländer zurückgegriffen werden, da aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und -entlastung auf die Erhebung vergleichbarer statistischer Daten in den neuen Bundesländern zunächst verzichtet wurde.Nach den uns aus den westlichen Bundesländern zum Stichtag 31. Dezember 1991 übermittelten Daten waren zu diesem Zeitpunkt 5 361 002 Schwerbehindertenausweise in den alten Bundesländern im Umlauf. Bei einer Gesamtbevölkerung der alten Bundesländer von 64 484 787 Einwohnern entspricht das einem prozentualen Anteil von 8,32 %. Damit ist auch im Bundesdurchschnitt — wie im Saarland — jeder zwölfte Einwohner im Besitz eines Schwerbehindertenausweises.Die Zahl der Schwerbehinderten ist im übrigen in den letzten Jahren weitgehend konstant geblieben. Zum Vergleich: 1987: 5 128 000, 1988: 5 247 000, 1989: 5 298 000, 1990: 5 218 000 Ausweisinhaber.Die Feststellung der Schwerbehinderung erfolgt durch die Versorgungsämter auf der Grundlage der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht
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Parl. Staatssekretär Rudolf Krausund nach dem Schwerbehindertengesetz". Die gleichbleibende Zahl der Schwerbehinderten bestätigt, daß in allen Ländern eine annähernd einheitliche Anerkennungspraxis gewährleistet ist.Von den rund 5,3 Millionen Schwerbehinderten in den alten Bundesländern stehen rund 990 000 dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Davon sind rund 873 000 Schwerbehinderte in Arbeit, rund 117 000 Schwerbehinderte waren arbeitslos. Das ist der Stand vom Oktober 1990.Zur Zeit sind in den alten Bundesländern rund 125 000 und in den neuen Bundesländern rund 30 000 Schwerbehinderte arbeitslos. Die restlichen rund 4,31 Millionen Schwerbehinderten stehen nicht oder nicht mehr im Arbeitsleben.
Eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Würfel. Bitte.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für diese umfassenden Zahlenangaben und möchte Sie fragen: Ist Ihnen aufgefallen, daß es sich bei der Mehrzahl der Behinderten nicht um Unfallfolgenopfer und nicht um Kriegsopfer handelt, sondern daß das Gros aller bei uns in der Bundesrepublik als Schwerbeschädigte anerkannten Menschen als HerzKreislauf-Geschädigte den Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderte stellt und damit dann die vom Schwerbehindertengesetz vorgesehenen subventionierten Vergünstigungen in Anspruch nimmt?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Das ist sicher richtig. Die meisten sind ja nicht mehr in Arbeit, bzw. Sie haben natürlich auch recht, wenn Sie sagen: Die wenigsten der Schwerbehinderten führen die Behinderung auf einen Arbeitsunfall oder ähnliches zurück. Das ist richtig. Wir denken aber, es ist in Ordnung, daß auch die aus gemeinen Krankheiten herrührende Schwerbehinderung in den Genuß dieser Vergünstigungen kommt.
Noch eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Würfel. Bitte.
Ich könnte mir vorstellen, daß die sofortige Antwort auf die Frage, die ich nun stelle, Sie überfordert; deshalb möchte ich darum bitten, daß Sie mir die Antwort schriftlich zukommen lassen: Könnten Sie mir bitte einmal zusammenstellen, welcher Umfang an Vergünstigungen einem zu 51 % Schwerbehinderten in der Bundesrepublik gewährt wird?
Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär: Sie haben recht, Frau Kollegin. Eine derartige Aufstellung ist von mir im Augenblick nicht vorbereitet. Aber wir werden sie selbstverständlich machen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Das waren die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Zur Beantwortung steht uns die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Ludwig Stiegler auf:
Welche finanziellen Auswirkungen haben die Eckpunkte für den Entwurf eines Gesundheits-Strukturgesetzes auf die kommunalen Krankenhäuser?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Kollege Stiegler, auf der Grundlage der Lahnsteiner Eckpunkte wird zur Zeit in intensiven Beratungen der Koalitionsfraktionen mit der SPD-Fraktion ein Entwurf eines Gesundheits-Strukturgesetzes erarbeitet, der gemeinsam durch die drei Fraktionen im Deutschen Bundestag eingebracht werden soll.
Wesentliches Reformziel im stationären Sektor ist die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in den Krankenhäusern. Die zur Erreichung dieses Ziels vorgesehenen Maßnahmen, vor allem die Aufhebung des Selbstkostendeckungsprinzips, die Zulassung der Krankenhäuser zur ambulanten Operation sowie zur vor- und nachstationären Behandlung, die Einführung eines leistungsorientierten Vergütungssystems und die dreijährige Grundlohnanbindung des Krankenhausbudgets, werden auch nach Einschätzung der Bundesregierung die finanzielle Situation kommunaler und anderer Krankhäuser jedenfalls nicht verschlechtern. Soweit ein Krankenhaus Gewinne erwirtschaftet, verbleiben diese im Krankenhaus.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Stiegler. Bitte.
Frau Staatssekretärin, inwieweit sind die kommunalen Spitzenverbände und die kommunalen Träger von Krankenhäusern an diesen Beratungen beteiligt gewesen, und wie erklären Sie sich den Unterschied, daß diese erhebliche Defizite erwarten und Sie hier sagen — es ist ja gut, daß das im Protokoll steht —, daß die Kommunen keinerlei finanzielle Einbußen hätten?
Herr Kollege Stiegler, diese Verbände sind in die Anhörung des Ausschusses für Gesundheit einbezogen worden. Sie sind an der Vorbereitung des Gesetzesvorhabens durch Gespräche beteiligt gewesen.
Ich habe deutlich gemacht, daß die Möglichkeit der größeren Wirtschaftlichkeit in den Krankenhäusern besteht. Das bedingt aber eine Mitarbeit der Krankenhausverwaltung, die nach meiner Ansicht, auch nach vielen Diskussionen, nicht immer vorhanden ist.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Stiegler. Bitte.
Frau Staatssekretärin, sind wir uns darüber einig, daß die Gesundheitsreform nicht nur das Ziel haben soll, Kosten an die Kommunen wegzudrücken, die sonst anderswo getragen werden müßten; und wird im Lauf der Beratungen des Kompromisses von Lahnstein für die Kommunen die
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Ludwig StieglerGelegenheit bestehen, noch ihre Sorgen und Bedenken einzubringen?
Da Ihre Fraktion an diesem Gesetzesvorhaben ja beteiligt ist, bin ich der Meinung, daß diese geäußerten Befürchtungen sicherlich auch an Ihre Fraktion herangetragen wurden und in den Kompromiß, der noch heute nacht gefunden wurde, mit eingebracht worden sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Duve. Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben die Gespräche erwähnt, die Sie in dieser Angelegenheit mit vielen Vertretern der Krankenhäuser gehabt haben. Könnten Sie dem Parlament sagen, welche Krankenhäuser, die sich in solchen wirtschaftlichen Fragen engagieren, Sie konkret in der letzten Zeit wann und wo besucht haben.
Herr Kollege, ich war erst am Dienstag abend bei einer großen Diskussionsveranstaltung in Wegeleben, bei der sehr viele Krankenhausvertreter anwesend waren und ihre Besorgnisse vorgetragen haben. Wir haben dort darüber diskutiert. Ich habe wohl auch in meiner Antwort deutlich gemacht, daß es nicht darum geht, eine gute medizinische Versorgung in den Krankenhäusern zu versagen, sondern darum, mehr Wirtschaftlichkeit in die Krankenhäuser hineinzubekommen und unwirtschaftliche Strukturen abzubauen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Frau Kollegin, ich habe eine Frage: Was hat der Freistaat Bayern bisher zu diesem Ergebnis gesagt?
Sie wissen, daß der Freistaat Bayern an den Gesprächen der Koalitionsfraktionen mit der SPD beteiligt war und mit dem Lahnsteiner Gesetzentwurf, an dem auch Ihre Fraktion — ich muß das noch einmal sagen — beteiligt war, einverstanden war.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Das war die einzige Frage aus Ihrem Geschäftsbereich.
Wir haben jetzt eine Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 der Abgeordneten Frau Ingrid Matthäus-Maier auf:
Trifft es zu, daß aus dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, das nach dem Bericht der Bundesregierung vom 29. Mai 1992 seinen Sitz in Bonn behalten soll, um hier u. a. den Politikbereich „Umwelt" zu bilden, das Referat WA II 3 „Vermeidung und Verwertung schadstoffhaltiger Abfälle, Altölentsorgung" ganz oder teilweise von Bonn nach Berlin verlagert wird, und wie läßt sich dies ggf. mit der ursprünglichen Konzeption der Bildung von Politikbereichen in Bonn vereinbaren?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Frau Kollegin Matthäus-Maier, es trifft zu, daß die Aufgaben des Referats WA II 3 „Vermeidung und Verwertung schadstoffhaltiger Abfälle, Altölentsorgung" bis auf weiteres in Berlin wahrgenommen werden.
Diese organisatorische Maßnahme ist mit den Beschlüssen der Bundesregierung vom 11. Dezember 1991 und vom 3. Juni 1992 voll vereinbar, wonach u. a. der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit seinen Sitz in Bonn behalten und hier mit anderen Einrichtungen den Politikbereich „Umwelt und Gesundheit" bilden soll. Sie entspricht der Haltung der Bundesregierung, bis zur Verlagerung von Bundesregierung und Parlament nach Berlin die Bundespräsenz in Berlin grundsätzlich zu erhalten.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, habe ich es richtig verstanden, daß die Bundesregierung, obwohl es noch kein Umzugsgesetz Bonn/ Berlin gibt, obwohl der Kroppenstedt-Bericht eindeutig sagt, das Umweltministerium bleibe in Bonn, und obwohl es auch keinen Grund gibt, ein Referat des Umweltministeriums etwa wegen des Umweltbundesamtes nach Berlin zu verlegen — denn das soll nach den Plänen der Bundesregierung nach Sachsen-Anhalt —, trotzdem ein Referat verlagert? Könnten Sie uns klarmachen, warum dieses Referat nun unbedingt vor einem Umzugsgesetz und vor weiteren Beschlüssen nach Berlin muß? Die Gründe hätte ich gerne gewußt.
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen, daß die Bundesministerien Außenstellen in Berlin unterhalten, die verschiedene ressortspezifische und vor allen Dingen auch Aufgaben wahrnehmen, die insbesondere die neuen Bundesländer betreffen. Das heißt, die Außenstelle des Bundesumweltministeriums ist struktureller Bestandteil unseres Hauses.
Ich will noch einmal ganz kurz die Aufgaben nennen: Aufgaben, die mit dem Aufbau der neuen Bundesländer zusammenhängen, und Aufgaben im Bereich der intensiven Zusammenarbeit mit den Ressorts der neuen Bundesländer, die eine besondere Relevanz für das Beitrittsgebiet haben oder in Zusammenhang mit der Unterstützung der Staaten Mittel- und Osteuropas bzw. der GUS stehen.
Dieser Sachverhalt ist von dem Beschluß der Bundesregierung eindeutig zu trennen, den ich Ihnen genannt habe und aus dem folgt, daß das Bundesumweltministerium in Bonn den von mir dargestellten Politikbereich bildet und einen zweiten Dienstsitz in Berlin einrichten wird.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Matthäus-Maier.
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Ist Ihnen bekannt, Herr Staatssekretär, ob auch aus anderen Ministerien — es kann sein, daß Sie das nicht wissen — eine Art klammheimliche Verlagerung von Stellen nach Berlin schon stattfindet?
Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Matthäus-Maier, das ist mir nicht bekannt. Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, daß bei der Strukturierung der Außenstellen der Bundesministerien in Berlin natürlich auch der zunehmenden Übertragung von Verantwortung von Bürgern der neuen Bundesländer, die in diesem Bereich arbeiten, Rechnung getragen wurde und daß das — ich kann das nur noch einmal betonen — nichts mit dem Umzugsbeschluß zu tun hat.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Uns steht zur Beantwortung der beiden gestellten Fragen der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen auf:
Erwartet die Bundesregierung von dem am 15. Oktober 1992 im Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetz zur Änderung von Fördervoraussetzungen im Arbeitsförderungsgesetz und in anderen Gesetzen Auswirkungen für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Bereich von Forschung und Wissenschaft in den ostdeutschen Bundesländern, und wenn ja, welche?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Der vorgenannte Gesetzentwurf hat auch Auswirkungen auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern. Damit sind ABM im Bereich von Wissenschaft und Forschung ebenso tangiert wie Maßnahmen in anderen Bereichen. In welchem Umfang die ABM-Förderung reduziert wird, wird erst im Zusammenhang mit der Genehmigung des Haushaltes der Bundesanstalt für Arbeit durch die Bundesregierung zu entscheiden sein.
Der Bundesminister für Forschung und Technologie bemüht sich, einem Abbruch von ABM im FuE- Bereich nach Ablauf der einjährigen Bewilligung dadurch entgegenzuwirken, daß er für Verlängerungen laufender ABM auch die Verlängerung der von ihm gewährten Ergänzungsförderung aus Projektmitteln vorsieht.
Herr Kollege Catenhusen, eine Zusatzfrage? — Bitte.
Wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind nach Ihnen vorliegenden Informationen zur Zeit in solche AB- Maßnahmen in den neuen Bundesländern einbezogen?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Diese Frage — wir sprechen nur vom FuE-Bereich — ist für den Gesamtbereich nicht konkret zu beantworten, weil die Bundesanstalt für Arbeit z. B. im Bereich der Wirtschaft eine differenzierte Ausweisung der Zahlen nicht vornimmt.
Was den Bereich, den der BMFT zu verantworten hat, angeht — ich nehme jetzt einmal den institutionellen Bereich und da die Umstrukturierung der ehemaligen AdW-Institute in die neue Forschungslandschaft —, ist festzustellen, daß in diesem Bereich 3 000 Stellen mit ABM-Mitteln gefördert werden. Wenn ich den Bereich der Wirtschaft nehme, ist festzuhalten, daß wir mit zusätzlichen Fördermitteln, die über den ABM-Bereich hinausgehen, etwa 11 000 Arbeitsplätze in Forschung und Entwicklung gesichert haben.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Catenhusen.
Können Sie uns darüber informieren, in welchem Umfang die Gruppe dieser mindestens 3 000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in die AB-Maßnahmen aufgenommen sind, vom Wissenschaftsrat eine ausdrückliche Bestätigung erhalten haben, daß sie eine wichtige und qualifizierte wissenschaftliche Leistung vollbringen und daß deshalb auch ihr weiterer Verbleib in der Wissenschaft für die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft von besonderer Bedeutung ist?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Catenhusen, hier ist zu differenzieren. Der Wissenschaftsrat hat, wie Sie wissen, im Rahmen seiner Evaluierung der verschiedenen Institute, auch und insbesondere der Akademie der Wissenschaften, ein Sach- und Personalkonzept vorgelegt. Wenn ich einmal auf die Personalstärken Bezug nehme, dann ist zu sagen, daß wir dabei sind, diesen Teil des Konzepts umzusetzen. Das heißt: All das, was im institutionellen Bereich durch die Evaluierung des Wissenschaftsrates als im Hinblick auf eine neue Forschungsstruktur für unabdingbar und forschungspolitisch nötig angesehen wird, wird umgesetzt.
Der Bereich der ABM geht darüber hinaus. Hier wird sich zeigen, inwieweit es gelingt — das muß das Ziel sein —, diejenigen, die Stellen im Bereich von Forschung und Entwicklung, die über ABM gefördert werden — einmal abgesehen von einer möglichen Verlängerung durch weitere ABM-Mittel; ich habe davon gesprochen —, innehaben, in Forschungsbereichen der freien Wirtschaft, aber möglicherweise auch, wenn sich das weiterentwickelt, in anderen Bereichen unterzubringen.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Kollegin Dr. Otto.
Ich möchte Sie erstens fragen, ob Ihnen bekannt ist, wie viele Wissenschaftlerinnen im Bereich der ABM zur Zeit beschäftigt sind und wie deren Perspektiven für eine Weiterbeschäftigung sind, und ich möchte Sie zweitens fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß teilweise die Fristen für die ABM kürzer sind als die Laufzeiten der für ein besonderes Projekt bewilligten Mittel?Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Inwieweit ganz konkret die Forscherinnen dabei berücksichtigt
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Parl. Staatssekretär Bernd Neumannsind, kann ich Ihnen aus dem Stand nicht sagen. Dazu ist anzumerken, daß die Entscheidungskriterien, die einer Bewilligung zugrunde liegen, primär natürlich forschungspolitischen Gesichtspunkten unterliegen. Ich bin aber nicht in der Lage, Ihnen das jetzt zu sagen. Was den Bereich, den wir zu verantworten haben, also den Bereich Forschung angeht, können wir Ihnen die Zahlen nachliefern.Das betrifft den Bereich AdW wie auch den gesamten Bereich der institutionellen Förderung, den man übersehen kann. In den FuE-Bereichen der Wirtschaft, die über ABM gefördert werden, gibt es keine gesonderte Ausweisung der Bundesanstalt für Arbeit. Deswegen können wir Ihnen diese Zahlen auch nicht liefern.
Ich rufe nunmehr die Frage 7 des Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen auf:
Sieht die Bundesregierung infolge des Gesetzes Risiken für den Umstrukturierungsprozeß der Forschungslandschaft und für den Erhalt des — ohnehin durch Abwanderung ausgezehrten — wissenschaftlichen Potentials in den ostdeutschen Bundesländern?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Bei der Beantwortung dieser Frage kann man die Beantwortung der Zusatzfragen, die Sie vorhin gestellt haben, mit einbeziehen. Insoweit wiederhole ich mich möglicherweise. Aber ich möchte die Frage dennoch wie folgt formal beantworten:
ABM waren bei der Umstrukturierung der außeruniversitären Forschungslandschaft von Anfang an als flankierende Übergangslösung angelegt. Sie haben sich als Brücke zu einer neuen Beschäftigung bewährt und tragen auch noch gegenwärtig dazu bei, den Übergang zur angestrebten Dauerbeschäftigung sozial abzufedern.
In der Zwischenzeit ist die Projektförderung aus Mitteln des BMFT in den neuen Bundesländern auf 750 Millionen DM jährlich angewachsen — sie soll für das nächste Jahr noch weiter erhöht werden — und schafft damit neue, systemkonformere Wege zum Erhalt des qualifizierten wissenschaftlichen Potentials. Allein die Förderprogramme des BMFT für die Wirtschaft der neuen Bundesländer tragen im Jahr 1992 bei einem Fördervolumen von rund 430 Millionen DM zur Sicherung von etwa 11 000 Arbeitsplätzen — diese Zahl hatte ich vorhin schon genannt — in Forschung und Entwicklung bei.
Zusatzfrage des Kollegen Catenhusen, bitte.
Herr Staatssekretär, geht die Bundesregierung davon aus, daß wir auf Grund der Schwierigkeiten bei der personellen Erneuerung an den Hochschulen in den neuen Bundesländern und auf Grund des weiteren Zusammenbruchs von Strukturen im Bereich der Industrieforschung zumindest für die nächsten zwei bis drei Jahre auf den Einsatz von ABM im Forschungsbereich nicht verzichten können?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Wir gehen davon aus, daß wir auf den Einsatz von ABM nicht verzichten können. Deswegen werden weiterhin Mittel aus dem ABM-Bereich verstärkt in die neuen Bundesländer fließen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Kürzungen, die erfolgt sind, auf den FuE-Bereich durchschlagen. Soweit der FuE-Bereich davon betroffen ist, wollen und werden wir versuchen, zusätzlich Ergänzungsmittel vorzusehen — Sie kennen die Systematik —, die die Bundesanstalt für Arbeit, weil sie dabei Geld einspart, motivieren könnten, den Forschungs- und Entwicklungsbereich besser zu berücksichtigen. Wir haben diese Mittel von uns aus bereits vorgesehen. Wir hoffen, daß wir in Gesprächen mit der Bundesanstalt für Arbeit möglichst viel dabei herausholen.
Die Probleme der Industrieforschung, Herr Kollege Catenhusen, sind etwas anderer Natur, weil sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung der Wirtschaft stehen, die im Augenblick in ihrer Gesamtheit noch reduziert und nicht aufbaut. Daß das unmittelbare Probleme für die Industrieforschung nach sich zieht, ergibt sich aus der Logik der Entwicklung. Im Augenblick wird darüber diskutiert — auch im Bereich der Bundesregierung —, inwieweit zusätzliche Maßnahmen — wie in diesem und im letzten Jahr über das Gemeinschaftswerk Ost; Sie kennen dieses Programm — möglich und finanzierbar sind.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Catenhusen.
Können Sie heute schon absehen, ob die von Ihnen ins Auge gefaßten Maßnahmen dazu beitragen können, daß für die 3 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Verbleiben in dieser Art von Tätigkeit ermöglicht wird, zumindest befristet?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: In der Regel sind sie ein Jahr unter ABM-Vertrag. Ich bin nicht in der Lage, zu sagen, wie viele von den 3 000 im Bereich ABM eine weitere Beschäftigung finden. Aber es ist die Absicht, durch Ergänzungsmittel für Entlastung zu sorgen. Insofern beantworte ich Ihre Frage mit Ja.
Eine Zusatzfrage der Kollegin Dr. Helga Otto.
Ich möchte nachfragen, ob die Bundesregierung beabsichtigt, die Zeiten der Förderung durch ABM mit den Laufzeiten der Projekte zu koordinieren.Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Das anzustreben ist sicherlich ganz wichtig. Die Voraussetzung für die Vergabe von Mitteln ist die Bewilligung von Projekten. Wir können aber nicht ins Blaue hinein sagen: Wir wollen ABM-Mittel haben, und wenn wir später ein Projekt sehen, werden wir es über ABM abwickeln. Voraussetzung ist vielmehr die Sachentscheidung. Ich glaube auch nicht, daß dies — zumindest was die Quantität betrifft — ein gewichtiges Problem ist. Ich kann jedoch nicht ausschließen, daß es in Einzelfällen hin und wieder ein solches Problem
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Parl. Staatssekretär Bernd Neumanngegeben hat. Denn Projektmittel hat der BMFT in beträchtlicher Zahl zur Verfügung gestellt. Ich habe die Zahl von 750 Millionen DM genannt. Sie wird noch weiter gesteigert. Somit wird jede vernünftige Maßnahme, die die Minimalkriterien erfüllt, auch bewilligt.Verstehen Sie, der Ansatz ist hier ein anderer — und ich halte ihn für gut —: Es ist nicht so, daß wir ABM-Stellen haben und unter eher sozialen Gesichtspunkten Leute für ein oder zwei Jahre unter Arbeit halten und sie dann, weil der Bedarf nicht da ist, ins Nichts fallen lassen. Unser anderer Ansatz, ausreichend Projektmittel zur Verfügung zu stellen, die forschungspolitisch in sich begründet sind, und über ABM Erleichterungen zu schaffen, ist der zukunftsträchtigere Weg. Ich bin nicht in der Lage, zu sagen, in wie vielen Fällen es Überschneidungen gegeben hat. Ich bin aber gern bereit, das prüfen zu lassen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie abgehandelt. Wir danken Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Torsten Wolfgramm zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 8 unseres Kollegen Stephan Hilsberg auf:
Wie schätzt die Bundesregierung Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Bundesländern für das kommende Jahr 1993/1994 ein, dies auch vor dem Hintergrund, daß die Sonderregelung im § 40c AFG zur Förderung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern Ende 1992 ausläuft?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Hilsberg, der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat nach § 3 des Berufsbildungsförderungsgesetzes die regionale und die sektorale Entwicklung des Angebots an Ausbildungsplätzen und der Nachfrage danach ständig zu beobachten und der Bundesregierung darüber jeweils bis zum 1. März zu berichten. Der nächste Termin dafür ist also der 1. März 1993.
Der Gesetzgeber hat den 1. März übrigens deshalb als Termin gewählt, weil zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr die vorhandene Datenbasis für eine qualifizierte Schätzung noch nicht ausreicht. Bei der Beurteilung des Ausbildungsstellenmarktes in den neuen Ländern kommt erschwerend hinzu, daß die Zuverlässigkeit der statistischen Angaben für diesen Bereich immer noch nicht in vollem Umfang erreicht ist. Das bedauern wir. An einer Verbesserung wird gearbeitet, aber das Ziel ist eben noch nicht voll erreicht.
Bei der zum 1. März 1993 vorzulegenden Einschätzung wird auf Grund der demographischen Entwicklung und des geänderten Bildungsverhaltens zu berücksichtigen sein, daß sowohl die Zahl der Abiturienten, die in den neuen Ländern 1993 die Schule verlassen, als auch die Zahl der Absolventen aus Klasse 10 steigen werden.
Die Förderung von außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen nach dem Arbeitsförderungsgesetz der ehemaligen DDR besteht gemäß Einigungsvertrag noch für Ausbildungsplatzbewerber für das Ausbildungsjahr 1992/93.
Anläßlich des Beschlusses über den Entwurf der AFG-Novelle hat die Bundesregierung den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft beauftragt, die Ausbildungsentwicklung in den neuen Bundesländern gemeinsam mit dem Bundesminister für Wirtschaft und dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unter Beteiligung der Wirtschaft ständig zu beobachten und dem Kabinett zum 1. Juli 1993 und zum 1. Juli 1994 einen Bericht mit konkreten Lösungsvorschlägen vorzulegen, damit darüber — einschließlich der finanziellen Folgen, die dann natürlich entstehen — rechtzeitig entschieden werden kann.
Die Zahl der Neueintritte in Maßnahmen nach § 40 c Abs. 4 AFG/DDR konnte bereits 1992 im Vergleich zum Vorjahr nachhaltig zurückgeführt werden. In derartige Maßnahmen sind bis zum 30. September 1992 knapp 17 000 Jugendliche — im Vorjahr waren es rund 35 000, bis Ende Dezember 1991 rund 37 000 — aufgenommen worden, davon rund 4 000 „Konkurslehrlinge". Im Vorjahr waren es rund 28 000.
Jugendliche aus dieser Gruppe können auch noch im ersten Halbjahr 1993 aufgenommen werden. Die Förderung von Lernbeeinträchtigten oder sozial benachteiligten Jugendlichen sowie jungen Ausländern nach § 40c Abs. 2 AFG wird ohnehin fortgeführt.
Die gemeinsamen Bemühungen zur Stärkung der Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in den neuen Ländern werden unvermindert fortgesetzt. Die Aufnahmefähigkeit des Ausbildungsstellenmarktes und die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen in den neuen Ländern werden entscheidend auch von einer Stabilisierung und Besserung der Wirtschaftsentwicklung im Jahre 1993 abhängen. Sich abzeichnende günstige Entwicklungen, z. B. im Bereich des Bau- und Bauausbaugewerbes und im Dienstleistungsbereich, werden zusätzliche betriebliche Ausbildungsstellenangebote ermöglichen. Die sich daraus ergebenden Chancen müssen durch weitere Informationen und geeignete Beratung der Unternehmen genutzt werden. Hier sind die Spitzenorganisationen natürlich besonders gefragt.
Kollege Hilsberg, eine Zusatzfrage, bitte.
Neben den Baubereichen gibt es eine ganze Reihe von Sektoren in der Wirtschaft, deren Entwicklung lange nicht so erfolgversprechend ist. Darüber hinaus gibt es einen Rückstau von möglichen Bewerbern im kommenden Ausbildungsjahr 1993/94. Wir können also davon ausgehen, daß es auch in Zukunft großer Anstrengungen bedarf, über das Benachteiligtenprogramm weiterhin Lehrstellen zur Verfügung zu stellen.Inwiefern faßt die Bundesregierung gegebenenfalls bei den von Ihnen angesprochenen Lösungen auch eine Fortsetzung der Benachteiligtenförderung nach
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9762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Stephan Hilsberg§ 40c des Arbeitsförderungsgesetzes ins Auge? Wenn ja, wäre es dann nicht im Interesse der Planungssicherheit besser, einen solchen Entschluß möglichst frühzeitig zu fassen?Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe eben darzustellen versucht, daß wir im Bereich der marktbenachteiligten Lehrstellenbewerber einen erheblichen Rückgang zu verzeichnen haben und daß wir natürlich weiterhin versuchen, gerade durch Information in diesem Bereich bei den Unternehmen zu werben.Ich war Anfang der Woche in Geseke. Dort war eine größere Präsentation gerade der Benachteiligtenorganisationen aus den neuen Ländern. 80 % der Teilnehmer kamen aus den neuen Ländern, um sich zu informieren und uns zu berichten, wie die Entwicklung auf diesen Gebiet dort aussieht.Ich will hier durchaus auch einräumen, daß gerade Mädchen bei der Ausbildungsplatzsuche ebenfalls Schwierigkeiten haben. Ob und wieweit Maßnahmen ergriffen werden müssen, werden wir an Hand der weiteren Entwicklung entscheiden.
Ich rufe nunmehr die Frage 9 des Kollegen Hilsberg auf:
Welchen Beitrag leistet die Bundesrepublik Deutschland bei der Ausgestaltung der Gipfelerklärung von Helsinki vom Juli 1992 in Kapitel VI „Die menschlichen Dimensionen" Absatz „Bildungswesen" in Unterstützung der dem Europarat übertragenen Aufgabe, ein Seminar mit dem Titel „Bildungswesen, Strukturen, Grundsätze und Strategien" zu veranstalten?
Herr Staatssekretär bitte.
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Hilsberg, am 7. September 1992 hat das 478. Treffen der Ministerbeauftragten stattgefunden. Dabei wurde das Sekretariat des Europarates gebeten, das von Ihnen angesprochene Seminar fiber das Bildungswesen grundsätzlich vorzubereiten.
Bei einem weiteren Treffen vom 22. bis 25. September wurde festgestellt, daß die bisher sehr allgemein gehaltene Thematik, also Recht auf Bildung, Bildungspolitik und Wandel in Wirtschaft und Beschäftigungsstrukturen, Kooperation und Hilfe auf dem Gebiet der Ausbildung, nationale Minderheiten und Ausbildung — ich will den ganzen Katalog nicht vorlesen; Sie kennen ihn wahrscheinlich ohnehin —, der Konkretisierung bedarf. Man ist übereingekommen, so zu verfahren, damit ein solches Seminar zum Erfolg wird.
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Finanzierung zu klären, die von der Gestaltung, der Dauer und der konkreten Zielsetzung des Seminars abhängt. Auf der nächsten Sitzung der Ministerbeauftragten, die sich mit der Konkretisierung der Thematik und damit letztlich auch mit der Finanzierung beschäftigen werden, wird es zu eben dieser Frage einen gesonderten Tagesordnungspunkt geben. Der Stand der Seminarvorbereitung ist aber noch zu vage, um Ihnen jetzt schon genau zu sagen, welchen Beitrag die Bundesrepublik Deutschland hierzu leisten wird. Aber eines ist ganz sicher: Wir messen diesem Seminar eine große Bedeutung bei; denn es ist die erste gemeinsame Veranstaltung dieser Art mit der KSZE,
und sie spiegelt seitens der KSZE die wachsende Bedeutung des Europarates bei der Zusammenarbeit auf den Gebieten von Bildung, Ausbildung und Kultur wider.
Herr Kollege Hilsberg, eine Zusatzfrage.
Nun kommt ja der Vermittlung von Grundsätzen und Strategien eine erhebliche Bedeutung zu, und der Europarat ist auch so etwas wie eine staatliche Organisation. Wie gewährleisten Sie denn die Abstimmung zwischen den einzelnen politischen Kräften, die in den Ländern des Europarates vertreten sind, hinsichtlich der Entwicklung der Grundsätze und der Strategien?
Torsten Wolfgramm, Parl. Staatssekretär: Schon die Zahl der Treffen der Ministerbeauftragten zeigt, daß man an diesen Grundsätzen und an der Kooperation sehr intensiv arbeitet. Wenn wir feststellen, daß man bezüglich der beim Treffen am 7. September aufgelisteten Themen schon beim nächsten Treffen gemerkt hat, daß das nicht konkret genug war und daß zielgerichteter gearbeitet werden muß, dann zeigt das, daß sich alle Beteiligten — auch wir — um die erfolgreiche Durchführung eines solchen Seminars bemühen.
Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft behandelt. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe nun als letzten Geschäftsbereich in der Fragestunde — denn wir haben nur noch sechs Minuten Zeit — den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Ortwin Lowack sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit kommen wir zur Frage 12 des Abgeordneten Klaus Riegert:
Bis wann gedenkt die Bundesregierung das automatische Fingerabdruck-Identifizierungssystem einzuführen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Riegert, die Antwort lautet wie folgt: Das automatische Fingerabdruck-Identifizierungssystem AFIS wird in mehreren Stufen eingeführt. Die erste Stufe ist für die Erfassung der Fingerabdrücke von bis zu 400 000 Asylbewerbern pro Jahr vorgesehen. Sie geht am 1. Dezember 1992 beim Bundeskriminalamt in Wirk-Betrieb.Die Umstellung des bisherigen Verfahrens auf das neue System im Bereich der kriminalpolizeilichen Anwendung befindet sich in Vorbereitung und wird beim Bundeskriminalamt sowie bei den Landeskriminalämtern mit dezentralen AFIS-Stationen bis zum Herbst 1993 abgeschlossen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9763
Keine Zusatzfrage.
Ich rufe dann die Frage 13 des Kollegen Klaus Riegert auf.
Welche Fingerabdrücke wird das System aufnehmen, und nach welchen Kriterien soll deren Abgleich erfolgen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das Projekt AFIS besteht aus zwei selbständigen Teilsystemen. Die erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern, die Auswertung der Fingerabdrücke beim Bundeskriminalamt in Amtshilfe sowie die weitere Nutzung der Unterlagen richten sich nach § 16 des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens vom 30. Juni 1992.
Die beim Bundeskriminalamt bereits vorliegenden Fingerabdrucksblätter von Asylbewerbern werden retrograd erfaßt und stehen ab Dezember 1992 zu Auswertungszwecken zur Verfügung. Die kriminalpolizeiliche Anwendung basiert wie bisher auf § 2 Abs. 1 Nr. 3 des BKA-Gesetzes in Verbindung mit den jeweiligen Fachgesetzen des Bundes und der Länder für die erkennungsdienstliche Behandlung, insbesondere der Strafprozeßordnung und den Polizeigesetzen der Länder.
Die Einzelheiten sind in den erkennungsdienstlichen Richtlinien geregelt. Die bestehende Sammlung wird ebenfalls retrograd übernommen und für die Auswertung verfügbar gehalten. Beim Bundeskriminalamt bringt das neue System vor allem Effizienzsteigerungen im Bereich der Spurenrecherche.
Zusatzfrage, Herr Kollege Riegert.
Werden die Kapazitäten ausreichen, um im Bereich der Kriminalität und der Asylbewerber tatsächlich alle Fingerabdrücke im System aufzunehmen und abzugleichen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Kapazität ermöglicht eine Erfassung von 400 000 Asylbewerbern pro Jahr. Wenn es also auf Dauer bei Zahlen von mehr als 400 000 Asylbewerbern bleiben sollte, müßte die Kapazität erweitert werden.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Stiegler.
Herr Staatssekretär, was ist die Ursache dafür, daß es so lange gedauert hat, bis dieses System überhaupt angelaufen ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich nehme an, es hat an technischen Dingen gelegen.
Nun eine Zusatzfrage unseres Kollegen Claus Jäger.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß das AFIS-System heute als das einzig sichere, leicht handhabbare und im Endeffekt auch preisgünstige System zur Personenidentifikation bezeichnet werden kann?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das trifft nach meiner Kenntnis zu. Es gab ein anderes System, das aber im Vergleich zu dem MORPHO-System, das AFIS zugrunde liegt, bei der Überprüfung nicht derart günstig abgeschnitten hat.
Eine weitere Zusatzfrage unseres Kollegen Uwe Lambinus.
Herr Staatssekretär, können Sie uns diese technischen Probleme etwas näher schildern?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Im Moment natürlich nicht, Herr Kollege. Ich müßte mich noch einmal vergewissern, worum es sich im Detail handelt. Aber eines kann ich Ihnen als Hinweis doch geben: Es standen zwei Systeme zur Auswahl. Es war auch abzuklären, für welche Systeme sich die anderen Länder entscheiden; denn die Kompatibilität innerhalb der EG hat natürlich eine erhebliche Bedeutung. Nachdem sich beispielsweise Frankreich, Österreich und Schottland bereits für das MORPHO-System ausgesprochen hatten, lag natürlich für dieses System ein weiteres Argument vor.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Sie haben von der Möglichkeit technischer Schwierigkeiten gesprochen. Besteht auch die Möglichkeit, daß es politische Schwierigkeiten gegeben hat?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Davon ist mir nichts bekannt, Herr Kollege.
Ich rufe numehr die Frage 14 unseres Kollegen Dietmar Schütz auf:
Wie begründet der Bundesminister des Innern die erhebliche zeitliche Verzögerung bei der Auswahl von 45 niedersächsischen Bewerbern für die Besetzung von Einzelentscheiderstellen , obwohl die dem Bund vom Land Niedersachsen übermittelten Bewerbungen bereits allesamt sowohl nach laufbahnrechtlichen Kriterien als auch im Hinblick auf das Anforderungsprofil überprüft und als geeignet bewertet worden waren und deshalb außer einem Einstellungsgespräch keine weiteren Prüfungen nötig waren?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Pari. Staatssekretär: Ich bitte um die Genehmigung, die Fragen 14 und 15 zusammen beantworten zu dürfen.
Der Fragesteller hat keine Bedenken. Dann rufe ich auch noch die Frage 15 des Abg. Dietmar Schütz auf.Warum hat der Bundesminister des Innern dem Land Niedersachsen trotz Nachfrage bis heute nicht mitgeteilt, wer die 45 Bewerber sind, die als Einzelentscheider beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eingestellt werden sollen, obwohl das Land mehrfach seine Bereitschaft erklärt hat, sich bei Landkreisen, Bezirksregierungen etc. um eine vorzeitige Freistellung der Bewerber für das Bundesamt zu bemühen?Bitte sehr, Herr Staatssekretär.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schutz, die Antwort lautet wie folgt: Das Land Niedersachsen hat nicht, wie in der Besprechung am 10. Oktober 1991 vereinbart, dem Bund 46 als Entscheider
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9764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Parl. Staatssekretär Eduard Lintnergeeignete Bedienstete zur Verfügung gestellt. Vielmehr wurden auf eine Ausschreibung des Landes Niedersachsen hin dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge erstmals mit Schreiben des niedersächsischen Innenministeriums vom 13. April 1992, also ein halbes Jahr nach der Einigung am 10. Oktober 1991, Bewerbungen übermittelt. Weitere Bewerbungen wurden mit Schreiben vom 28. April 1992, 19. Mai 1992 und 19. Juni 1992 zugeleitet.Insgesamt wurden Bewerbungsunterlagen und Namenslisten von 240 Bewerbern, größtenteils aus dem Landes- und Kommunalbereich, durch das Innenministerium des Landes Niedersachsen befürwortend übermittelt. Diese Bewerbungen waren nicht näher bewertet und vorbearbeitet. Außerdem war die Freigabe durch das Land oder den jeweiligen Dienstherren nicht geklärt.In den bislang geführten Vorstellungsgesprächen konnten die 46 von Niedersachsen zu stellenden Einzelentscheider ausgewählt werden. Das Land Niedersachsen ist mit Schreiben vom 12. Oktober und vom 28. Oktober 1992 um Unterstützung bei der Freigabe gebeten worden. Zwei Mitarbeiter haben ihren Dienst inzwischen angetreten. Die übrigen Bediensteten können ihren Dienst nach der Freigabe aufnehmen.
Herr Staatssekretär, die erste Zusatzfrage. Sie erwecken den Eindruck, Niedersachsen habe erst ein halbes Jahr später reagiert, und zwar im April, nachdem die Kanzlerrunde im Oktober war. Ist es richtig, daß Sie die Anforderungsprofile dem Land Niedersachsen erst im März mitgeteilt haben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich nehme an, das Land Niedersachsen kannte die Anforderungsprofile, denn die Position eines Entscheiders ist ja nicht neu geschaffen worden, sondern sie lag seit längerer Zeit fest. Die Länder haben Kenntnis von dieser Position und ihrer Qualifikation. Sie haben dem Bund seinerzeit zugesagt, 500 als Entscheider geeignete Bewerber zur Verfügung zu stellen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie sagen, das Land behaupte, es habe die gesamten Akten vorgeprüft und nur die konkreten Anschlußgespräche noch offengelassen. Das Land hat nach Anforderungsprofilen, nach beamtenrechtlichen Zulässigkeiten usw. alles vorgeprüft und hat Ihnen die Akten nur noch mit diesem offenen Punkt zugesandt, und zwar alle 246 Akten, so daß das Land eigentlich nur 45 hätte hinzusetzen können — —
Herr Kollege, keinen Vortrag, bitte!
Es war nur eine Frage.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schütz, da muß ich Ihnen widersprechen. Das Land hat uns Bewerberunterlagen zugesandt, die nicht vorbearbeitet waren, so daß die ganze Arbeit der Auswahl, das Führen der Bewerbergespräche und
dergleichen von uns und unseren Bediensteten vorgenommen werden mußten.
Dritte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, zwei Mitglieder seien jetzt dem Land mitgeteilt worden. 45 sollen eingestellt werden. Wann werden die restlichen 43 benannt? Denn das Land muß ja noch mit den Gemeinden verhandeln.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich habe gesagt: Zwei haben ihren Dienst bereits angetreten. Aber 46 sind ausgewählt worden.
Und sind dem Land mitgeteilt worden?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Sie sind dem Land mitgeteilt worden.
War das die vierte Zusatzfrage?
Herr Kollege Duve, bitte.
Im Moment scheint es ja relativ schnell zu gehen. Meine Frage als Hamburger Abgeordneter ist: Wie erklärt denn die Bundesregierung die ungeheuer lange Zeit zwischen Kanzlergespräch, dem realen Angebot der Stellen — im Falle Hamburg sehr früh — und dem praktischen Übernehmen der Bewerber? Diese Zeit von fünf bis sechs Monaten ist bisher nicht erklärt worden; und Sie wissen, daß wir das politisch immer wieder nachfragen werden.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Duve, ich finde, ich habe es schon erklärt. Es ist festzustellen, daß die Länder ihre Zusage, dem Bund 500 geeignete Entscheider zu benennen und zur Verfügung zu stellen, nicht eingehalten haben. Das ist übrigens bis heute nicht lückenlos geschehen. Viele Länder haben einfach Bewerbungsunterlagen an den Bund weitergereicht, und der Bund hatte dann die Aufgabe, aus insgesamt 14 000 Bewerbungen geeignete Bewerber herauszufiltern.
Um einen geeigneten Bewerber zu finden, muß man u. a. Personalgespräche führen, man muß mit der Personalvertretung sprechen und die Freigabe des jeweiligen Bewerbers vom bisherigen Dienstherrn erhalten. Diese Freigabe haben die Länder übrigens nicht generell gleich miterteilt, sondern sie behalten sich vor, daß erst nach Überprüfung der Eignung des Bewerbers durch den Bund um die Freigabe ersucht werden muß. Auch dadurch geht natürlich wertvolle Zeit verloren.
Im übrigen mußte auch das Bundesamt personell zunächst aufgestockt werden, um überhaupt mit der Flut der Bewerbungen fertig zu werden. Wir haben das Bundesamt innerhalb eines Jahres von 1 200 auf mittlerweile 3 600 Beschäftigte angehoben. Wenn wir ein Fazit ziehen wollen, können wir also kein Versäumnis in unserem Bereich feststellen.
Herr Kollege Beucher.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9765
Herr Staatssekretär, können Sie mir denn auch erklären, wieso von den 2 259 vom Land Nordrhein-Westfalen weitergereichten Bewerbungen angeblich nur 299 Kandidaten als geeignet befunden worden waren und diese 299 bis heute noch nicht eingestellt sind.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen natürlich nicht erklären, weil die einzelnen Gründe im konkreten Fall liegen und ich die konkreten Fälle hier naturgemäß nicht präsent habe. Außerdem würde es den Rahmen des Ganzen sprengen, wenn ich darauf einginge.
Ich kann Ihnen aber eines sagen: Es ergeben sich auch dauernd wieder Veränderungen und Verzögerungen dadurch, daß die Länder die Standorte für die zentralen Aufnahmestellen nicht benannt haben. Die Bewerber wollen in den meisten Fällen wissen, wo sie eingesetzt werden sollen. Das kann ich aber häufig nicht beantworten, solange die Länder ihre Zentralen nicht benannt haben. Hier existiert eine Spirale, die erst dann aufgelöst werden kann, wenn die Länder diese Standorte benannt haben. Zur Zeit sind aber erst 25 von insgesamt 50 Standorten tatsächlich bezeichnet worden, so daß wir in vielen Fällen zwar Bewerber haben, die Bewerber aber ihre endgültige Zustimmung davon abhängig machen, daß ihnen der Standort, den sie nur akzeptieren wollen, auch zugesagt werden kann. Und jetzt könnte ich wieder von vorn anfangen.
Meine Damen und Herrn, wir sind bereits sechs Minuten über die Zeit. Im Grunde müßte ich die Fragestunde jetzt schließen. Ich bitte auf weitere Zusatzfragen zu dieser Frage zu verzichten, weil ich gern diesen Geschäftsbereich vollständig erledigen möchte.
Ich rufe als letzte Frage in der letzten Fragestunde im Wasserwerk die Frage 16 des Kollegen Ludwig Stiegler auf:
Wie ist der derzeitige Stand der Besetzung der Entscheiderstellen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, und bis wann ist nach der bisherigen Entwicklung eine volle Besetzung aller Entscheiderstellen zu erwarten?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, ich schätze mich ohnehin glücklich, endlich einmal eine Frage von Ihnen beantworten zu dürfen.
Die Antwort lautet also: Von 868 Stellen und Planstellen für Einzelentscheider im Haushalt 1992, d. h. seit 1. Januar 1992, sind derzeit 423,5 Stellen und Planstellen besetzt. Davon wurden 24 Einzelentscheider von den Bundesländern zur Verfügung gestellt. 257 Bewerber haben eine Einstellungszusage des Bundesamtes noch für dieses Jahr erhalten. Die Besetzung aller Entscheiderstellen ist vorbehaltlich der weiteren Entwicklung in der ersten Hälfte des Jahres 1993 zu erwarten.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Stiegler.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin für Niedersachsen die Abläufe geschildert, wie dem Bund die Bewerber benannt worden sind. Sind Sie bereit, mir die Abläufe auch für alle anderen Länder detailliert so zur Verfügung zu stellen? Denn es geht hier auch darum, die Verantwortung für die Verzögerungen am Amt an die richtige Stelle zu bringen.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Stiegler, das würde jetzt hier den Rahmen sprengen. Ich biete Ihnen dazu ein ausführliches Gespräch in unserem Hause an, oder ich teile es Ihnen schriftlich mit.
Schriftlich!
Ich schließe die Fragestunde. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Lintner.Meine Damen und Herren! Der Kollege Gerhart Baum feierte gestern seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm im Namen des ganzen Hauses die herzlichsten Glückwünsche aus.
In den Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes sind auf seiten der Fraktion der CDU/ CSU noch zwei stellvertretende Mitglieder nachzuwählen. Es werden dafür die Abgeordneten Peter Kittelmann und Dr. Joachim Schmidt vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Damit sind die Kollegen Peter Kittelmann und Dr. Joachim Schmidt als stellvertretende Mitglieder im Gemeinsamen Ausschuß bestimmt.Als Nachfolgerin für den verstorbenen Kollegen Dr. Kappes in der Gemeinsamen Verfassungskommission schlägt die Fraktion der CDU/CSU als ordentliches Mitglied die Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann, die bisher stellvertretendes Mitglied war, vor. Neues stellvertretendes Mitglied in der Gemeinsamen Verfassungskommission soll der Abgeordnete Dr. Heribert Blens werden. Sind Sie auch damit einverstanden? — Ich sehe, daß dies der Fall ist. Damit sind die beiden Abgeordneten als ordentliches bzw. als stellvertretendes Mitglied in der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Rücknahme des von der Bundesregierung vorgelegten Bundesverkehrswegeplans sowie des Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes — Drucksache 12/3561 —2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rücknahme des ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplans 1992 — Wende in der Verkehrspolitik — Drucksache 12/3562 —
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9766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Vizepräsident Hans KleinBei der Beschlußempfehlung zu Tagesordnungspunkt 9 soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.Des weiteren mache ich auf Änderungen und Ergänzungen von Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.Anhang zur Zusatzpunktlistehier: Änderungen und Ergänzungen bereits erfolgter Überweisungen— Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum IFC-Abkommensänderungsgesetz , der dem Ausschuß für Wirtschaft zur federführenden Beratung überwiesen wurde, soll nunmehr dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur federführenden Beratung überwiesen werden.— Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes über das Kreditwesen soll nachträglich dem Ausschuß für Post und Telekommunikation zur Mitberatung überwiesen werden.— Die Mitberatung des Ausschusses für Post und Telekommunikation beim Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Regelung bestimmter Vermögensansprüche mit Amerika soll gestrichen werden.— Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Europäische Union soll nachträglich dem Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden.— Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes soll nachträglich dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Mitberatung überwiesen werden.Sind Sie mit diesen Ergänzungen der Tagesordnung und den Änderungen der Ausschußüberweisungen einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre in den Jahren 1992 und 1993— Drucksache 12/3344 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Haushaltsausschuß reitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
— Drucksache 12/3532 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Familie und Senioren InnenausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union— Drucksache 12/3540 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungAuswärtiger AusschußRechtsausschußAusschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungAusschuß für Bildung und WissenschaftEG-Ausschußd) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Diplomatische Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland mit den neuen Staaten in Ost- und Südosteuropa— Drucksache 12/2233 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuße) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P.Beratungskapazität „Technikfolgenabschätzung" beim Deutschen Bundestag— Drucksache 12/3499 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und GeschäftsordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschußInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 12/3540 — Tagesordnungspunkt 2 c — soll zusätzlich dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung überwiesen werden. Besteht darin Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. April 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze in der Sektion III des Grenzabschnittes „Scheibelberg-Bodensee" sowie in einem Teil des Grenzabschnittes „Dreieckmark-Dandlbachmündung" und des Grenzabschnittes „Saarlach-Scheibelberg"— Drucksache 12/1242 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9767
Vizepräsident Hans KleinBeschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses
— Drucksache 12/3396 —Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Freiherr von SchorlemerDr. Peter GlotzDr. Olaf Feldmann
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu der Unterrichtung durch die BundesregierungMemorandum zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemeinschaft— Drucksachen 12/2867 Nr. 2.22, 12/3546 —Berichterstattung:Abgeordnete Alois Graf von Waldburg-Zeil Stephan HilsbergDirk Hansenc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Abgeordneten Wieland Sorge, Albert Pfuhl, Dr. Uwe Jens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDGleichstellung von Meistern in der Industrie und Meistern im Handwerk in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/738, 12/2313 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolbd) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Bismarck-Kaserne in Schwäbisch Gmünd— Drucksachen 12/3093, 12/3399 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietze) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung einer Teilfläche des ehemaligen Exerzierplatzes Toppheide in Münster-Gievenbeck— Drucksachen 12/3193, 12/3400 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietzf) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Teilveräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlungen in NeuUlm-, Steuben-, Ried- und Bradleystraße— Drucksachen 12/3205, 12/3401 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Nils Diederich Hans-Werner Müller (Wadern)Werner Zywietzg) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungÜberplanmäßige Ausgaben im Haushaltsjahr 1992 bei Kapitel 60 02 Titel 532 03 — Ausgleichsabgabe nach § 11 Abs. 1 Schwerbehindertengesetz —— Drucksachen 12/3060, 12/3402 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg)
Herr Präsident, ich bitte um Einzelabstimmung zu Punkt 3 c.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Vertrag über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze mit der Republik Österreich, Drucksache 12/1242.Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3396 die Annahme des Gesetzentwurfs. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt gegen diesen Gesetzentwurf? — Niemand. Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist angenommen.Tagesordnungspunkt 3 b, Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zur Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Hochschulbildung in der Europäischen Gemeinschaft, Drucksache 12/3546. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Entschuldigung, ich hätte nach dem vorherigen Verfahren vielleicht sagen sollen: „den bitte ich um ein Handzeichen". Aber die erfahrenen Geschäftsführer haben es von sich aus gegeben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 c. Auf Antrag der Fraktion der SPD soll über ihn eigens abgestimmt werden; aber das ist ohnehin der Fall. Es handelt sich um die Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Gleichstellung von Meistern in der Industrie und Meistern im Handwerk in den neuen Bundesländern, Drucksache 12/738.Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/2313, den Antrag der Fraktion der SPD abzulehnen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
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9768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Vizepräsident Hans KleinZu den Tagesordnungspunkten 3 e bis 3 f wünscht die Kollegin Höll eine persönliche Erklärung abzugeben. Frau Kollegin Höll, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine persönliche Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten zu den Tagesordnungspunkten 3 d, e und f abgeben.
Ich werde die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf den Drucksachen 12/3399, 12/3400 und 12/3401 ablehnen. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, ich würde gegen den Bau von Kindergärten, gegen Hochschulen oder gar gegen den sozialen Wohnungsbau stimmen, möchte ich mein Abstimmungsverhalten kurz begründen.
Ich kann dem Verkauf der bundeseigenen Liegenschaft in Schwäbisch Gmünd deshalb nicht zustimmen, weil Nutznießerin des um 50 % verbilligten Kaufpreises die University of Maryland sein wird, von der bekannt ist, daß sie im Auftrag der Regierung der Vereinigten Staaten Forschungen betreibt, deren Ergebnisse auch militärische Anwendungen finden.
Ich werde den Verkauf einer Teilfläche eines ehemaligen Exerzierplatzes in Münster ablehnen, obwohl Teile der Grundstücksfläche für den Bau von Kindergärten und für den sozialen Wohnungsbau genutzt werden sollen. Mein Nein stütze ich darauf, daß einer GmbH ermöglicht wird, auf einem nicht näher quantifizierten Teil der Grundstücksfläche frei finanzierten Wohnungsbau durchzuführen; und zwar bei einer GmbH, bei der nicht ausgeschlossen ist, daß ihre Gesellschafter mit denjenigen der Gesellschaft bürgerlichen Rechts identisch sind,
denen der Bund gleichzeitig einen 50%igen Verbilligungszuschlag in Höhe von rund 6,5 Millionen DM gewähren würde. Ich halte es angesichts des hohen Fehlbestands an preiswerten Sozialwohnungen für einen Skandal, daß der Bund beabsichtigt, Teile seines Grundvermögens zugunsten des für die meisten Wohnungssuchenden unbezahlbaren, sogenannten frei finanzierten Wohnungsbaus zu verscherbeln.
Ich kann dem Verkauf von 336 bundeseigenen Wohnungen in Neu-Ulm an eine Wohnungsbaugesellschaft ebenfalls nicht zustimmen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß ehemals bundeseigene Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt oder überhöhte Mietforderungen gestellt werden.
Ich kann nicht zustimmen, weil der Bund nicht weiter dazu beitragen darf, daß sich die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt verschärft.
Haushaltsausschuß und Bundestag haben vor, diese Vorlagen ohne Aussprache abzusegnen. Ich möchte mit meiner Erklärung zur Abstimmung erreichen, daß die Öffentlichkeit mein Abstimmungsverhalten im Lichte dieser von mir vorgetragenen Bedenken und Anregungen verstehen kann.
Danke.
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat diese Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu allen drei Tagesordnungspunkten abgegeben.
Wir sind in der Beratung von drei Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu Anträgen des Bundesministers der Finanzen zur Veräußerung von mehreren bundeseigenen Liegenschaften auf den Drucksachen 12/3399, 12/3400 und 12/3401. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen. — Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Wer für die drei Beschlußempfehlungen stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 g: Wir stimmen jetzt noch ab über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1992. Es handelt sich um die Ausgleichsabgabe nach dem Schwerbehindertengesetz auf Drucksache 12/3402. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wie bereits zu Beginn der Sitzung mitgeteilt, hat der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige beantragt, den Tagesordnungspunkt 4 d von der Tagesordnung abzusetzen.
Es handelt sich um die erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs über den Bau der „Südumfahrung Stendal" . Wird das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Bitte, Herr Kollege Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie tun so, als sähen Sie das zum erstenmal. Sie sollten eigentlich wissen, um was es geht.Gemäß § 20 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung beantrage ich eine Änderung der Tagesordnung, nämlich genau die Absetzung dieses Paketes — die Unterlagen habe ich hier in der Hand —, das ich Ihnen mitgebracht habe. Es handelt sich um die Beratung des ersten von insgesamt 17 vorgesehenen Maßnahmegesetzen auf Drucksache 12/3477 bzw. auf Bundesratsdrucksache 513/92. Während wir hier in anderthalb Stunden über etliche hundert Milliarden beraten sollen — übrigens etwas, das einer Haushaltsberatung gleichwertig wäre —, wird uns in diesem
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9769
Dr. Klaus-Dieter FeigeZusammenhang ganz einfach und stillschweigend dieser Gesetzentwurf untergejubelt.
Ich glaube, einen derartigen Gesetzentwurf hat es in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik vermutlich noch nicht gegeben.
Ich kann und möchte jetzt nicht auf die verkehrspolitischen Aspekte dieses Gesetzentwurfes eingehen. Ich glaube, daß daran grundsätzlich wenig zu kritisieren ist. Die Eisenbahn-Südumfahrung Stendal-BerlinOebisfelde ist möglicherweise eine vernünftige und sinnvolle Maßnahme.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aber nicht nur nach unserer Meinung kraß verfassungswidrig. Wie Ihnen sicher bekannt ist, hat auch das Bundesland Hessen bereits angekündigt, eine verfassungsrechtliche Überprüfung dieses Eingriffs in die Demokratie vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zu scheuen; so er denn überhaupt durchkommt.Aber ich glaube, solch ein Gesetz, solch ein Eingriff — auch in unsere Rechtsvorstellung —, kann man nicht einfach en passant, irgendwo im vorübergehen, behandeln. Aber, auch wenn wir in diesem Hause sicher darin übereinstimmen, daß sich der Aufbau der neuen Bundesländer zügig vollziehen soll, so darf dies nicht zum Anlaß genommen werden, bewährte Verfassungsgrundsätze außer Kraft zu setzen. Wenn sie sich den Gesetzentwurf einmal anschauen, selbst wenn Sie ihn wirklich nur durchblättern, dann werden Sie feststellen, daß da sehr viele bunte Bilder drin sind; Vorlagen und Planzeichnungen in allen Farben und Schattierungen.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Legislative also, soll die Befugnisse der Exekutive, von Planfeststellungsbehörden, wahrnehmen. Ich bin gespannt, wie die meisten Kollegen das absolvieren werden,
wie Sie sich in kürzester Zeit ein ausgewogenes Urteil bilden wollen und anschließend als selbsternannte Genehmigungsbehörde den Gesetzentwurf verabschieden.Meine Damen und Herren, mit dieser Vorgehensweise wird in der Tat ein wesentlicher Verfassungsgrundsatz, nämlich der Grundsatz der Gewaltenteilung, schlichtweg außer Kraft gesetzt.
Dies gilt in ähnlicher Weise für die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes.Ich darf Sie an dieser Stelle auch daran erinnern, daß zur Erstellung des Entwurfs von einem privaten Unternehmen personenbezogene Daten erhoben undim ursprünglichen Gesetzentwurf auch noch veröffentlicht wurden, was normalerweise schon ein Fall für den Staatsanwalt ist. Erst nach der Stellungnahme des Bundesrats wurde das ein bißchen korrigiert. Eine Behandlung dieses Entwurfs im Deutschen Bundestag ist — überspitzt formuliert — eine Selbstmißachtung des Parlaments und ein erheblicher Verstoß gegen das Grundprinzip der Gewaltenteilung.
Wir treten uns als Abgeordnete förmlich selber in den Hintern, wenn wir dieses behandeln.Eine Behandlung des Entwurfs würde dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie dieses Landes weiteren Schaden zufügen.
Nutzen Sie Ihre Souveränität als Abgeordnete, und schieben Sie dem einen Riegel vor. Zu dem, daß hier in diesem Gesetzentwurf als Alternative „keine" steht, gilt: „keine", das würde bedeuten, daß wir in Zukunft derartige Gesetzentwürfe praktisch nur noch als Parlament beraten können. Das ist eine Ungeheuerlichkeit; hieße dies doch in letzter Konsequenz, daß nur noch wir Projekte dieser Größenordnung per Gesetzentwurf planfeststellen können.Aus den genannten Gründen fordere ich Sie auf, unserem Antrag auf Absetzung dieses Tagesordnungspunktes zuzustimmen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Klaus Daubertshäuser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich hier in der Tat, wie Kollege Feige das dargestellt hat, um ein Einzelprojekt auf der Grundlage der sogenannten Investitionsmaßnahmengesetze. Wir sehen, wie Sie, Herr Kollege Feige, in diesem Verfahren eine Pervertierung des Parlaments. Wir sehen darin eine reale Stärkung einer anonymen Bürokratie.
Weil dies so ist, haben wir überlegt, wenn es das Instrument der sogenannten Feststellungsklage in Karlsruhe gäbe, diesen Weg jetzt bereits vor den Beratungen zu gehen. Leider gibt es ein derartiges Rechtsinstrument nicht. Sie haben zu Recht angekündigt, daß die hessische Landesregierung zum frühestmöglichen Zeitpunkt den Gang nach Karlsruhe wagen wird.
Weil dies alles so ist, sind wir in der Konsequenz für den Antrag und werden ihn unterstützen.
Wird weiter das Wort gewünscht? — Bitte, die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Die Fraktion der CDU/CSU ist für die Beratung des
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9770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Clemens SchwalbeGesetzentwurfes. Wir bitten, ihn so zu beraten, wie es ausgedruckt ist.
Herr Kollege Gries, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion ist ebenfalls für die Beratung in der ersten Lesung. Wir beraten hier nicht im Detail, Herr Kollege Feige, sondern wir beraten hier in erster Lesung, und dann geht das in den Ausschuß.
Ich mache gar kein Hehl daraus, daß es sich hier um eine besondere Maßnahme handelt. Deshalb heißt es auch Maßnahmegesetz. Es handelt sich aber auch maximal — ich glaube nicht, daß wir das erreichen werden — um 17 Projekte Straße, Schiene, Schiff, Wasserweg, die wir in diesem besonderen Fall als Notstandsmaßnahme — herrührend aus dem ganz miserablen Verkehrsinfrastrukturzustand der ehemaligen DDR — hier ganz schnell gemeinsam beraten wollen.
Die besondere Bedeutung ist nicht die Entmachtung des Parlaments. Das Parlament nimmt sich hier Rechte, die es sich sonst nicht nehmen müßte. Es ist nämlich genau umgekehrt.
Aber weil diese 17 Maßnahmen im nationalen Interesse notwendig sind, ist dieses in anderen europäischen Demokratien — das lassen Sie sich mal sagen — wie in Frankreich, wie in Spanien, wie in England übliche Verfahren dringend geboten, ein Verfahren, daß das Parlament in einem nationalen Notstandsfall auch selbst Verwaltungsentscheidungen an sich ziehen kann. Das ist eine Kompetenzwahrnehmung des Parlaments, keine Entmachtung des Parlaments. Wir sind dafür, daß das jetzt so gemacht wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag des Kollegen Feige? — Danke. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Absetzungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4j sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:4. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes
— Drucksache 12/2560 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
RechtsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschußb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer , Dr. Dionys Jobst, Horst Gibtner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie denAbgeordneten Ekkehard Gries, Roland Kohn, Horst Friedrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes
— Drucksache 12/3500 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
RechtsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes
— Drucksachen 12/3480, 12/3481 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
RechtsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaud) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau der „Südumfahrung Stendal" der Eisenbahnstrecke Berlin—Oebisfelde— Drucksache 12/3477 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
RechtsausschußAusschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaue) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungsbericht der Bundesregierung über das Zentrale Verkehrsinformationssystem
— Drucksache 12/3251 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr Innenausschußf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Otto , Dr. Jürgen Schmieder, Martin Göttsching und weiterer AbgeordneterBundesverkehrswegeplan 1992— Drucksache 12/2777 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaug) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reiner Krziskewitz, Wilfried Seibel, Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup und weiterer AbgeordneterBundesverkehrswegeplan— Drucksache 12/2994 —
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9771
Vizepräsident Hans KleinÜberweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauh) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Graf, Hermann Rappe , Dietmar Schütz und weiterer AbgeordneterAufnahme des Baus der Ortsumgehung B 213 Lastrup/Niedersachsen in den Bundesverkehrswegeplan 1992 als Vordringlicher Bedarf— Drucksache 12/3192 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebaui) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke ListeErsatzlose Streichung der Projekte A 100 AD Tempelhof-Treptow und A 113 Treptow-Schönefeld aus dem Bundesverkehrswegeplan '92— Drucksache 12/3351 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebauj) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael von Schmude, Dietrich Austermann, Hans-Werner Müller und weiterer AbgeordneterAufnahme des Baus der Ortsumgehung B 208 Ratzeburg/Schleswig-Holstein in den Vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans 1992— Drucksache 12/3486 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der PDS/Linke ListeRücknahme des von der Bundesregierung vorgelegten Bundesverkehrswegeplans sowie des Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes— Drucksache 12/3561 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRücknahme des ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplans 1992 — Wende in der Verkehrspolitik— Drucksache 12/3562 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitEs handelt sich um die Beratung mehrerer Vorlagen zur Verkehrspolitik.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Verkehr, Professor Günther Krause.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat diesem Hohen Haus zwei Gesetzentwürfe zur Beratung und zur Entscheidung vorgelegt, die eindrucksvoll belegen, mit welcher Entschlossenheit wir auf die verkehrspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre reagieren.Diese beiden Gesetze sind aber auch der Beweis, daß wir Arbeitsplätze in Ostdeutschland, Wohlstand in Europa erreichen wollen und nicht nur darüber reden; Herr Kollege Feige, wie die Arbeitslosigkeit in unserem gemeinsamen Land Mecklenburg-Vorpommern zu beheben wäre, sondern wir handeln. Und ich fordere Sie auf, daß Sie endlich auch mit uns zusammen handeln.
Deutschland ist bereits heute das Transitland Nr. 1 in Europa. Wir können und wollen uns aus der zentralen Bedeutung für den zwangsläufig daraus resultierenden europäischen Verkehr nicht auskoppeln. Wir werden die gewaltigen Defizite im Ausbauzustand der ostdeutschen Verkehrsnetze und die erkannten Engpässe in Westdeutschland abbauen.Dies gilt besonders für den Verkehrsträger Schiene. Und wenn wir nicht in wenigen Wochen mit einem Investitionsmaßnahmengesetz hier die Umfahrung von Stendal beschließen, wird der ICE nicht 1997 nach Berlin fahren können. Meine Verkehrspolitik ist eine schienenfreundliche, um möglichst schnell den Intercity von Hannover nach Berlin fahren zu lassen, und nicht eine Politik, die bürokratische Klauseln mit einem durchschnittlichen Planungsrecht von 15 Jahren zum Hauptverhinderer des Aufbaus im Osten und zum Hauptverursacher für Steuererhöhungen macht.
Angesichts der bestehenden Belastung für Mensch und Umwelt — —
— Ich sage etwas dazu, demnächst noch. Aber Sie können sich ja vielleicht mit einer Anfrage konkretisieren. —
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9772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Günther KrauseAngesichts der Belastung für Mensch und Umwelt setzt die Bundesregierung für Mensch und Umwelt auf den umweltgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und nicht auf Stagnation im Verkehrswegeausbau, damit die Umwelt in Ostdeutschland jetzt in einer gravierenden Form geschädigt wird.Weil wir auf diesen Ausbau setzen, bin ich besonders dankbar, daß eines der hier zu beratenden Gesetze in einer kontroversen Diskussion bereits im ersten Durchgang mit Mehrheitsentscheidung den Bundesrat passiert hat. Es ist richtig, daß zwei Bundesländer, Hessen und Niedersachsen, diesem Investitionsmaßnahmengesetz ablehend gegenüberstanden. Es ist auch richtig, daß die Aufbauverhinderung von Brandenburg wieder in einer Stimmenthaltung endete. Es war beim beschleunigten Planungsrecht seinerzeit nicht anders. Aber ich bin den Kolleginnen und Kollegen der SPD-geführten Bundesländer, die sich dem Aufbau im Osten verpflichtet sehen und deshalb in einer Ausnahmesituation das Richtige machen, sehr dankbar. Ich möchte hier in der Öffentlichkeit deutlich sagen, daß ich mit sehr, sehr vielen SPD-geführten Bundesländern jetzt schon im Sinne des Solidarpakts in der Verkehrspolitik ausgezeichnet zusammenarbeiten kann.
— Ja, ich würde mich freuen, wenn das mit der Opposition auch hier im Bundestag ginge, denn das ist ja unsere gemeinsame Aufgabe, denke ich. Man kann doch im Bundesrat nicht eine andere Politik machen als im Bundestag, ich bitte Sie!
Das heute hier vorgelegte vierte Gesetz zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes mit seinem Bedarfsplan 1992 für den Ausbau der Bundesfernstraßen ist integraler Bestandteil des Bundesverkehrswegeplanes 1992. Dieser ist die Grundlage für den Ausbau der Verkehrswege des Bundes in den nächsten 20 Jahren. Dieser Plan wird einerseits die spezifischen Bedingungen der Europäischen Gemeinschaft und damit die Transitaufgabe, andererseits die wichtigen Anforderungen an die Verkehrspolitik, die sich aus dem Wegfall der Grenze zwischen Ost und West ergeben, berücksichtigen.Der Bedarfsplan ist eingebunden in die Investitionsstruktur, mit der investitionspolitisch eine entscheidende Wende vollzogen worden ist.In die Schiene wird erstmals — sie hatten ja in der Opposition auch einige Jahre wohl die Chance, das habe ich nachgelesen — wesentlich mehr investiert als in die Straße. Das ist korrekt, und wir sollten der Öffentlichkeit dies deutlich sagen. Wir handeln für die Schiene als Union gemeinsam mit der F.D.P., und andere reden über die Schiene, ohne für die Schiene etwas zu tun.
Ich werde auch noch etwas über die Straßenbenutzungsgebühr sagen.Ein entscheidender Schritt meiner Verkehrspolitik besteht darin, daß wir die Verkehrssituation in Ost undWest in den nächsten Jahren einer Lösung zuführen, indem wir eine investitionsstrategische Entscheidung für umweltfreundliche Verkehrsträger — Schiene, Binnen- und Seeschiffahrt, Küstenschiffahrt — fällen, indem wir deutlich darauf verweisen, daß aber diese investitionsstrategische Entscheidung von vier Reformen begleitet werden muß: von der Bahnreform, sie muß von der Reform des Planungsrechts für Deutschland begleitet werden. Es wird nicht ausreichend sein, die Verkehrsprobleme in Westdeutschland mit einer Bürokratie zu lösen, die im Durchschnitt 15 Jahre für Entscheidungsprozesse braucht, um unerträgliche Situationen für Menschen in Städten durch den Bau einer Ortsumgehungsstraße zu verbessern.Ich möchte das Parlament darüber informieren, daß ich am Mittwoch nächster Woche im Kabinett das novellierte Planungsrecht für Deutschland bereits vorlegen werde. Ich bin sehr gespannt, wie kreativ wir auch hier im Parlament die Diskussion über das neue Verkehrsplanungsrecht für Deutschland führen.Es gibt einen wichtigen dritten Punkt in den Reformen, das ist die Frage, wie wir es in Deutschland begreifen, in den nächsten Jahren etwas zu tun, was in Frankreich selbstverständlich ist, daß privates Kapital zur Finanzierung öffentlicher Infrastruktur genutzt wird, damit wir dann natürlich die Belastungen der deutschen Einheit einfacher gegenfinanzieren können.Es gibt eine vierte Reform. Wir können nicht über die Bahn reden, wenn wir nicht die richtigen Schritte zur Fiskalharmonisierung vorlegen. Diese vierte Reform ist gegenwärtig in der öffentlichen Diskussion. Mich verwundert dabei die Einschätzung und die Haltung einiger.Warum brauchen wir in Deutschland eine Straßenbenutzungsgebühr? Wir brauchen sie, weil ein heute in Deutschland zugelassener Lkw im Kostenvergleich zehnfach schlechtere Karten hat als ein Lkw, der nicht in Deutschland zugelassen ist und mit einem anderen Nummernschild über unsere Straßen den gleichen Verkehrsraum nutzt.Wenn Sie von der Opposition eine Politik, wie ich das heute in den Ticker-Meldungen schon wieder lesen durfte, fordern, bei der durch den Griff in die Mineralölsteuertasche des deutschen Steuerzahlers die Ungerechtigkeitslücke noch größer wird, weil die Subventionierung ausländischer Verkehre auf unseren Straßen noch weiter zunehmen denn abnehmen wird, wenn Sie es als selbstverständlich ansehen, tief in die Tasche zu greifen, um auf anderen europäischen Straßensystemen selbst zu fahren — Stichwort Maut —, dann sehe ich es an dieser Stelle als gerechtfertigt an, über eine Gerechtigkeitslücke zu sprechen, die wir jetzt schließen. Deshalb werde ich mich im Bereich der Fiskalharmonisierung dafür einsetzen, daß der Vorschlag der EG-Kommission — gegebenenfalls auch erweitert um die Einführung einer Pkw- Vignette für Deutschland — der richtige Weg ist, um die Fiskalharmonisierung und damit den Grundsatz „Wer bestellt, bezahlt" durchzusetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist, denke ich, legitim — ich komme jetzt auf die entschei-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9773
Bundesminister Dr. Günther Krausedende Frage zurück —, in einer außergewöhnlichen Situation danach zu fragen, ob nicht auch außergewöhnliche Mittel, außergewöhnliche Methoden und die Verantwortung des Parlaments an die erste Stelle zu setzen sind.Ich frage mich häufig, was ich meinen Wählerinnen und Wählern in Mecklenburg-Vorpommern sagen soll. Herr Feige, ich habe andere Wähler als Sie, aber trotzdem haben mich doch wahrscheinlich wesentlich mehr gewählt; deshalb ist meine Fraktion etwas größer und deshalb vertrete ich eine Mehrheitsmeinung. Ich frage mich, was wir den Bürgerinnen und Bürgern z. B. in unserer gemeinsamen Stadt Wismar sagen, wenn Sie es jetzt schon als erdrückend empfinden, wenn nach zweieinhalb Jahren nicht endlich die Autobahn gebaut wird. Es sind rund 80 bis 90% der Menschen, die sich das wünschen. Ich würde glücklich sein, wenn dieses Ergebnis 1994 durch ein Mehrheitsvotum für meine Fraktion erreicht werden würde.
Wir müssen, wenn wir über beschleunigtes Planungsrecht in Ostdeutschland sprechen — auch diesbezüglich bin ich im Jahre 1991 in der öffentlichen Diskussion angegriffen und durch meine Freunde in den Koalitionsfraktionen gestützt worden —, heute feststellen, daß beim Verkehrsaufbau im Osten drei Dinge funktionieren. Wir haben mit dem beschleunigten Planungsrecht ein Verwaltungsrecht geschaffen, das transparent und verständlich ist. Wir haben als zweites dadurch ein Planungsrecht geschaffen, mit dem ein Anfänger, der aus Ostdeutschland kommt und eine Beamtenlaufbahn im westdeutschen Sinne vor sich hat, umgehen kann. Wir haben als drittes durch dieses Planungsrecht erreicht, daß notwendige Investitionen nicht auf die Zukunft verschoben werden, sondern den Menschen vor Ort durch die Investitionen sofort Perspektiven eröffnet werden.Ich wünsche mir, daß wir in diesem Parlament in wenigen Wochen gemeinsam Planungsvereinfachung auch in anderen Ressorts beschließen, weil dies der richtige Weg ist, um Konjunktur, um Aufbau in Ostdeutschland zu bewirken. Es sollten nicht zu allererst Steuererhöhungen der deutschen Einheit wegen proklamiert werden. Ich fordere Sie dazu auf, denn Sie haben in dieser Frage auch eine sehr, sehr große Verantwortung.
Es wird zu Recht diskutiert, ob das Investitionsmaßnahmengesetz sowohl von seiner Ausgestaltung als auch von seiner Anwendung her in dieser Form legitim ist. Ich denke, wir müssen die Rahmenbedingungen dessen, was wir bisher erreicht haben, und das, was wir vor allem bis zum Jahr 2000 in den jungen Bundesländern noch erreichen wollen, als Grundlage zur sachlichen Diskussion dieses Gesetzes, des ersten Investitionsmaßnahmengesetzes in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, am letzten Tag der Beratung hier im Wasserwerk richtig gegenüberstellen.Mit dem beschleunigten Planungsrecht bin ich in der Lage, Planungszeiten von drei bis fünf Jahren jetzt zu sichern. Das bedeutet, daß wir uns im Blick aufdie großen Investitionsvorhaben, über die wir ja erst demnächst entscheiden und die in einer Kabinettsentscheidung im Vorgriff auf den Bundesverkehrswegeplan im Februar 1991 mit dem Begriff 17 Maßnahmen deutsche Einheit umschrieben worden sind, überlegen müssen, ob wir erst drei bis fünf Jahre ausschließlich und alleine planen oder ob wir nicht Elemente der Verkehrsinfrastruktur, die wir realisieren müssen, vorziehen und der Verantwortung des Parlaments anvertrauen, um die notwendigen Investitionsentscheidungen nicht in die Länge zu ziehen und weiter zu verzögern.Wenn wir uns heute über ein Element der Strecke Hannover — Berlin im ersten Durchgang unterhalten, dann sprechen wir nicht über die Strecke Hannover — Berlin und das Investitionsmaßnahmengesetz, sondern über einen Teil dieser Strecke, mit dessen Ausbau ich heute oder morgen, möglichst aber nicht übermorgen, beginnen muß. Mit dem beschleunigten Planungsrecht können wir zeitlich gestaffelt dann auch die anderen Streckenabschnitte realisieren. Das ist der Sinn und Zweck unserer Strategie. Sie verlangt dem Parlament eine Entscheidung in einer Sondersituation ab: Sage ich ja zu 40 %, 50 % Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland? Sage ich ja dazu, daß die Standortnachteile weiterhin bestehen? Sage ich ja zu der Entscheidung, daß es auf Dauer weniger Privatinvestitionen im Osten als im Westen gibt? Ich sage dazu nicht ja. Ich sage: Wir müssen die Ärmel hochkrempeln und auch zu alternativen Mitteln und Methoden greifen und erkennen, daß das dritte Jahr nach der deutschen Einheit nicht das 44. Jahr westdeutschen Denkens sein kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang müssen wir die Diskussion und die Entscheidung sehen. Ich akzeptiere, daß das Bundesland Hessen seine verfassungsmäßigen Spielräume natürlich ausnutzt. Diese Maßnahme betrifft aber nicht Hessen; diese Maßnahme betrifft ein anderes Bundesland, nämlich Sachsen-Anhalt. Man sollte vielleicht auch nachfragen, wie sich die Sachsen-Anhalter diese Verkehrsinfrastruktur wünschen, damit die Autobahnverkehre zwischen Hannover und Berlin, die heute ein entscheidender Engpaß sind, die heute ein entscheidender Faktor der Umweltverschmutzung sind, verbessert werden. Wir können über Grenzwerte diskutieren, wir können über alles reden. Aber an einer Stelle, wo wir Verkehrsinfrastruktur erst unbedingt ausbauen müssen, vorhalten müssen, damit der Umstieg von der Straße auf die Schiene gelingt, sind Verhinderungspraktiken für mich unerträglich, vor allem wenn ich daran denke, daß wir in der gemeinsamen Politik im Bundesrat schon wesentlich weiter sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zu den Investitionen selbst sagen. In diesem Haushaltsjahr investieren wir 26,5 Milliarden DM in Deutschland. Wir investieren in diesem Haushaltsjahr 14,5 Milliarden DM in Ostdeutschland. Das sind, relativ gesehen, etwa eine Mark im Osten und etwa 80 bis 85 Pfennige im Westen. Ich bin für jeden Umschichtungsbeschluß,
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9774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Günther Krausefür jede Umschichtungsentscheidung, auf die vor allem von der Opposition gedrängt wird. Die finanzpolitische Sprecherin hat mir ja in einer der vergangenen Debatten solche Umschichtungsvorschläge aufgetragen. Ich kann es aber nicht verantworten, daß in Westdeutschland weniger in die Verkehrsinfrastruktur investiert wird, weil wir sonst in Westdeutschland einen Verkehrsnotstand auf Dauer zu erwarten haben.
Deshablb bitte ich Sie, um durch den gezielten Abfluß von Investitionsmitteln zur Schließung der Lücke zwischen beschleunigtem Planungsrecht, dem Planungsrecht in Deutschland, aber auch den sehr, sehr schnell notwendig werdenden punktuellen Investitionen die 17 Maßnahmen deutsche Einheit bis zum Jahr 2000 realisieren zu können, meinen Gesetzentwurf in den Ausschußsitzungen kreativ zu unterstützen.Ich möchte mit einem Beispiel schließen. Das Maßnahmengesetz Nr. 17 wird voraussichtlich das Gesetz sein, mit dem wir die Lücke beim Mittellandkanal schließen wollen. Jedes Jahr, dessen es mehr an Planung bedarf, wird es in Deutschland je nachdem, wie man rechnet, mindestens 200 000 t Kohlendioxid mehr geben. Wenn man davon ausgeht, daß wir einen 25%igen Anteil der Binnenschiffahrt — das ist der heutige Zustand in Deutschland West — dann auch in Ostdeutschland haben — der Sozialismus hat 3 % Binnenschiffahrt übriggelassen —, werden wir 500 000 t CO2 einsparen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Investitionsmaßnahmengesetze sind mein Beitrag, ein entscheidender Beitrag, um die Ziele der Bundesregierung bei der Einsparung an CO2 bis zum Jahr 2005 mit zu realisieren.
Wer dagegen ist, müßte diese Einsparziele eigentlich eher verhindern wollen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Klaus Daubertshäuser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Sprichwort, Kollege Gries, sagt: Was lange währt, wird endlich gut. Auf den Regierungsentwurf des Bundesverkehrswegeplans haben wir ja lange, sehr lange warten müssen.
Aber er widerlegt das gute Ergebnis dieses Sprichworts. Herr Verkehrsminister, Sie haben hier eine gigantische Seifenblase aufgepustet, die mit einer realistischen Verkehrswegeplanung wahrhaftig nichts zu tun hat.
Sie erwecken hier den Eindruck, als stünden der Bundesrepublik Deutschland unbeschränkt Geld, unbeschränkt Raum und unbeschränkt Zeit zur Umsetzung dieses Wunschzettels zur Verfügung. Das ist eben nicht der Fall.Man muß doch davon ausgehen, daß der Bundesverkehrswegeplan das zentrale Element verkehrspolitischer Planung ist. Das heißt, er soll den verkehrsbedingten Investitionsbedarf feststellen, und er soll die Projekte bestimmen, die vom Bund finanziert werden. Damit hat er die Funktion einer wichtigen Weichenstellung hinsichtlich der grundsätzlichen Ausrichtung der Verkehrspolitik.
— Eben nicht. — Was hier auf dem Prüfstand steht, ist doch nicht nur die Fülle von Einzelprojekten, vielmehr ist es die gesamte Verkehrspolitik der Bundesregierung. Unter dieser Prämisse, Herr Kollege Börnsen, zeigt der Entwurf des Verkehrswegeplans überdeutlich die Philosophie des „Weiter so!". Es ist eben keine Trendumkehr erkennbar.
Dies beginnt bei den Prognosen, bei den Szenarien, die der Verkehrsminister zugrunde gelegt hat. Alle bisher vorliegenden Prognosen gehen davon aus, daß ohne ein energisches Gegensteuern ein exorbitantes Verkehrswachstum auf uns zukommt. Man muß sich die Zahlen immer wieder in Erinnerung rufen: Bis zum Jahr 2000 soll der Verkehr in der EG um 40 % zunehmen. Der internationale Straßengüterverkehr durch Deutschland wird bis zum Jahre 2010 um das Vierzehnfache und der Personenverkehr um das Achtzehnfache zunehmen, und der Straßengüterverkehr innerhalb Deutschlands wird um 100 % wachsen. Ich sage Ihnen: Ein solches Verkehrswachstum ist nicht mehr verkraftbar.
Statt daß der Verkehrsminister nun hergeht und alle Möglichkeiten zur Vermeidung weiterer Verkehrszuwächse ausschöpft, deutet der Verkehrsminister mit seinem der Planung zugrunde gelegten Szenario H allenfalls einen halben Schritt in diese Richtung an.
— Herr Magin, Sie müssen nicht „Ah" sagen. — Viel schlimmer ist, daß die dem Szenario H unterstellten Maßnahmen, wie z. B. Kostenerhöhung oder Geschwindigkeitsreduzierung — —
— Das ist unterstellt, das ist wunderbar. Aber haben Sie denn eben in dieser Rede auch nur irgendetwas über Umsetzungsinstrumente gehört? Das ist bis heute nirgends erkennbar.In der Begründung zum Bundesverkehrswegeplan wird weder ausgeführt, mit welchen Instrumenten die Bundesregierung diese Ziele erreichen will, noch gibt es einen konkreten Zeit- und Maßnahmenplan. Ich sage Ihnen: auch hier nur eine Seifenblase. Wie unter
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Klaus Daubertshäuserdiesen Umständen die von der Bundesregierung vollmundig verkündete CO2-Reduzierung um 25 bis 30 % erreicht werden soll, bleibt doch wirklich ein Rätsel. Er stellt sich hier als umweltfreundlicher Verkehrsminister hin und sagt, das sei sein Beitrag zur Reduzierung von CO2. Aber das, was er mit dem Bundesverkehrswegeplan vorlegt, ergibt ein Anwachsen der CO2- Emissionen um 50 bis 60 %.
Herr Kollege, nur eine kleine Anmerkung von hier aus. Es wäre vielleicht für das Protokoll einfacher, wenn Sie sagen würden, wen Sie mit „er" meinen.
Entschuldigung, ich meine den Verkehrsminister. Ich habe mich auf ihn bezogen, Herr Präsident. Ich dachte, das wäre klar. Ich wollte Zeit sparen. Ich hoffe, daß Sie mir wegen dieser Erklärung Zeit gutschreiben.Ich sage Ihnen: Dem Verkehrsminister fehlt der Mut, sich den verkehrs- und umweltpolitischen Herausforderungen zu stellen. Das Szenario, das wir hier gehört haben, ist weiße Salbe; mehr ist es nicht. Denn das Rezept lautet im Klartext, mit weiteren gigantischen Straßenbauplänen dem Verkehrswachstum hinterherzuhecheln. Dieses Rennen, meine Damen und Herren, ist bereits verloren, bevor es überhaupt gestartet wurde.
Angesichts der dramatischen Umweltsituation, insbesondere auf die CO2-Emissionen bezogen, und angesichts der bereits jetzt bestehenden Belastungen wichtiger Teile des Verkehrsnetzes, angesichts wachsender Verkehrssicherheitsprobleme und angesichts der zunehmenden Zerschneidung und Betonierung der Landschaft können die Verkehrsströme nicht durch vorrangigen Ausbau des Autobahn- und Straßennetzes bewältigt werden; das muß man endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Eine verantwortungsbewußte Verkehrspolitik muß sich endgültig von dem überkommenen Muster trennen, die prognostizierten Verkehrsströme als unveränderbares Schicksal zu betrachten und dementsprechend das Straßennetz zu erweitern.Es führt deshalb kein Weg daran vorbei: An die Stelle der Anpassung des Straßennetzes an prognostizierte Verkehrsströme müssen die Ziele der Verkehrsvermeidung, der Verkehrsbegrenzung und der Verkehrsverlagerung treten. Das, Herr Minister, wäre wirklich ein Umsteuern in der Verkehrspolitik gewesen, aber dazu haben Sie nichts gesagt.
Natürlich wissen wir, daß Verkehrszuwächse nicht von einem Tag auf den anderen einzudämmen sind. Aber man muß auch wissen, daß Verkehrspolitik eine Langfristveranstaltung ist. Das heißt: Das, was wir heute falsch machen oder heute unterlassen, werden unsere Kinder, unsere Enkel schmerzlich zu spüren bekommen.
— Herr Kollege Dr. Jobst, Sie müßten es eigentlich wissen: Verkehrsinfrastruktur ist in Beton gegossene Ordnungspolitik. Wir können dann gemeinsame Anstrengungen für die Bahn unternehmen, soviel wir wollen, diese Betonpolitik können wir dann auch nicht mehr korrigieren. Deshalb sage ich Ihnen: Das Ruder muß möglichst rasch herumgeworfen werden,
damit sich die langlebigen und schwerfälligen Verkehrsstrukturen wenigstens zukünftig in die richtige Richtung bewegen. Das ist doch möglich. Das hat auch die Energiepolitik gezeigt. Dort ist es gelungen, Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch voneinander zu trennen. Ebenso nötig brauchen wir eine Entkopplung von Verkehrswachstum und Wirtschaftswachstum, und das ist auch in dieser Fachpolitik möglich.
Von all diesen Überlegungen, die mittlerweile sowohl in der Verkehrswissenschaft als auch in der Bevölkerung breite Zustimmung finden, ist in dem Entwurf des Bundesverkehrswegeplans nichts zu entdecken. Ihr Plan, Herr Minister, ist im Kern nur ein Instrument zur Umsetzung von Verkehrswachstumsprognosen in Straßen. Damit wird gleichzeitig die Chance vertan, den Bundesverkehrswegeplan als wesentliches Instrument zum Aufbau eines integrierten Gesamtverkehrssystems zu nutzen.Sie wissen doch, daß das Unternehmen Verkehr nach wie vor weit davon entfernt ist, seine logistischen Fähigkeiten aufeinander abzustimmen und wirklich optimal zu nutzen. Auf der Straße, auf der Schiene und zu Wasser und in der Luft ist jeder Verkehrsteilnehmer heute noch weitgehend sein eigener Logistiker. Wenn in Zukunft die Kooperation der Verkehrsträger an die Stelle der heutigen Konfrontation treten soll, dann brauchen wir eben einen verkehrsträgerübergreifenden Ausbauplan, und dann muß die Schnittstellenproblematik im Vordergrund stehen; auch die ist in Ihrem Entwurf sträflichst vernachlässigt.Die beiden deutschen Bahnen haben Gott sei Dank gehandelt. Dort sind Infrastrukturinvestitionen in einer Größenordnung, Herr Kollege Kohn, von 4 Milliarden DM angemeldet. Eine verantwortungsbewußte Verkehrs- und Finanzpolitik muß dies möglichst schnell realisieren. Das setzt aber doch zwingend voraus, daß man den wichtigen Verkehrsträger Schiene und die Straße endlich gleichbehandelt. Der neue Bundesverkehrswegeplan enthält wieder die von allen hier immer wieder kritisierte rechtliche Ungleichbehandlung von Schiene und Straße. Sie müssen nicht mit dem Kopf schütteln, Herr Kollege Jobst. Die Ungleichbehandlung ist nicht aufgehoben, denn nur der vordringliche Bedarf im Fernstraßenteil des Bundesverkehrswegeplans soll Gesetzesrang haben, und die Schienenprojekte sollen, wenn es nach dem Bundesverkehrsminister geht, auch in Zukunft unverbindliche Absichtserklärungen bleiben. Ich sage Ihnen: Wenn das so bleibt, dann nützen alle Rechenkunststücke über den größeren Umfang der Schienenplanung gegenüber den Straßenbauprojekten nichts; dann ist und bleibt dieser Bundesverkehrswegeplan eine Mogelpackung. Wenn es dabei bleibt,
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Klaus Daubertshäuserdaß nur die Straßenbauprojekte vom Parlament mit Verbindlichkeit verabschiedet werden — und nur insoweit besteht ja auch ein entsprechender Finanzierungsauftrag —, dann bleibt es dabei, daß die Umsetzung und Finanzierung von Schienenprojekten auch in Zukunft weitgehend den deutschen Bahnen überlassen bleiben und deren Talfahrt in die Verschuldung anhält.Ich habe vom Verkehrsminister eben wieder gehört, daß er einen Vorrang für die Schiene gesetzt habe und er ein schienenfreundlicher Verkehrsminister sei. Wenn ich dann aber in den Haushaltsplan 1993 schaue, stelle ich fest: Dort sind 8,9 Milliarden DM für den Fernstraßenbau eingesetzt, während an Investitionszuschüssen für die Bahnen gerade einmal 4,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Das ist die Realität, meine Damen und Herren, und nicht das, was hier eben vorgezeichnet wurde.
Die Konsequenzen sind doch bekannt. Die Konsequenz ist, daß das Verkehrssystem der Straße konkurrenzlos und das der Schiene chancenlos geworden ist. Das wollen wir ändern.Wir haben z. B. im Frühjahr dieses Jahres unser Schienenwegeausbaugesetz hier eingebracht, weil wir diese Gleichbehandlung wollen. Wir freuen uns, daß die Koalition mit ihrem eigenen Schienenwegeausbau-Gesetzentwurf hier nachgezogen hat.
— Sie sagen „selbstverständlich". Wenn Sie in den Bundesverkehrswegeplan hineinsehen, Herr Gibtner, dann brauchen Sie nur die Seite 1 zu lesen. Dort steht, daß über ein Schienenwegeausbaugesetz erst im Rahmen der Bahnreform entschieden werden solle. Das ist mit uns nicht zu machen. Ein Schienenwegeausbaugesetz ist Infrastrukturvoraussetzung für die Gesundung der Bahn. Deshalb muß jetzt also über die Infrastruktur im Zusammenhang mit dem Bundesverkehrswegeplan entschieden werden.
Herr Kollege Daubertshäuser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krause?
Gern.
Verehrter Herr Kollege, könnten Sie bestätigen, daß die Unterlagen, die Sie und unser Haushaltsausschuß für das Haushaltsjahr vorliegen haben, davon ausgehen, daß wir für die Deutsche Bundesbahn Investitionen in Höhe von 2,434 Milliarden DM und für die Deutsche Reichsbahn von 5,793 Milliarden DM gemacht haben,
und warum nennen Sie nur eine Teilmenge dieser Investitionen, um etwas zu beweisen, was nicht wahr ist?
Herr Minister, ich will Sie gern aufklären. Sie haben in der Tat die Gesamtinvestitionssumme der Bahn genommen, und ich habe in der Tat die Investitionen für die Infrastrukturmaßnahmen der Straße und für die Infrastrukturmaßnahmen der Schiene verglichen. Sie können ja auch nicht — Sie haben es auch nicht getan — bei der Straße das hinzuzählen, was an Autos und Lkws über die Bundesfernstraßen läuft.
Sie können das rollende Gerät dort ja nicht hinzurechnen. Sie können nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Sie können nur die Infrastruktur Schiene mit der Infrastruktur Straße vergleichen, und da sind die Zahlen, die ich eben genannt habe, korrekt.
Eine zweite Frage.
Herr Kollege Daubertshäuser, könnten Sie bestätigen, daß es hier nicht um den Vergleich von unterschiedlichen Kernobstsorten geht, sondern um die realistischen Zahlen im Haushaltsplan, die ich in meiner Amtszeit umgedreht habe? Denn vorher waren die Investitionen für die Schiene immer wesentlich niedriger als die für die Bundesfernstraßen.
Herr Verkehrsminister Krause, ich will Ihnen gern zubilligen,
daß die Investitionen für die Schiene — —
— Entschuldigung, ich bestätige ihm, daß in seiner Amtszeit die Investitionen für die Schiene höhergesetzt wurden. Ich muß Ihnen aber gleichzeitig sagen, daß meine Fraktion in zehn Jahren Haushaltsplanung jedesmal Anträge gestellt hat, die weit über dies hinausgehen,
die aber von Ihren Parteifreunden im Verkehrsausschuß und im Haushaltsausschuß abgelehnt wurden.
Herr Kollege Daubertshäuser, jetzt möchte der Kollege Ekkehard Gries noch eine Frage stellen.
Aber die Zeit will ich noch haben.
Im Gegenteil, die bringen Ihnen ja alle Zeit.
Herr Kollege Daubertshäuser, wie verträgt sich denn Ihr glühendes Engagement für die Schiene — Vorrang der Schiene, Schnell-
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Ekkehard Griesschiene, Attraktivität der Schiene, wofür im übrigen auch wir eintreten — mit Ihrem Plädoyer von vorhin zur Ablehnung des Schienenstücks — nicht Straßenstücks — bei Stendal, was zweifellos zur Verhinderung der schnellen Realisierung der Schnellstrecke Hannover-Berlin führen würde?
Herr Kollege Gries, ich wundere mich sehr, daß Sie, der Sie auch ein Liberaler sind, diese Frage stellen. Vom Kollegen Feige und von mir ist ausdrücklich gesagt worden: Es geht hier nicht um eine verkehrliche Bewertung, es geht hier um einen verfassungsrechtlichen Akt. Ich sage noch einmal, daß das Parlament über die Maßnahmengesetze Aufgaben der Exekutive wahrnehmen soll, die von einem Abgeordneten und auch nicht von der Gesamtheit des Parlaments in der Tat nicht realisiert werden können. Heben Sie einmal den „Backstein" hoch, der uns als Unterlage für die eine Maßnahme zugegangen ist. Es wird von uns erwartet, daß wir als Parlamentarier hier grundstücksgenau Beschlüsse fassen. Dazu sage ich Ihnen: Das ist eine Pervertierung des Parlaments, und das ist der Grund, warum wir das abgelehnt haben.
Herr Kollege, Sie provozieren in ganz offensichtlich angenehmer Weise eine Reihe von Kollegen, die bereit sind, Ihre Redezeit zu verlängern. Jetzt ist es der Kollege Dirk Fischer, der noch gern eine Frage stellen würde.
Ich mache gerne eine Fragestunde.
Herr Kollege Daubertshäuser, wenn Sie diesen Vorgang als einen gesetzgeberischen Gewaltakt des Bundesgesetzgebers bezeichnen, wie können Sie sich dann erklären, daß im Bundesrat im ersten Durchgang bis auf die Länder Hessen und Niedersachsen alle anderen SPD- regierten Länder — auch das des SPD-Bundesvorsitzenden Engholm — zugestimmt haben und das Land Brandenburg, wo immerhin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Landesregierung mittragen, sich lediglich der Stimme enthalten hat?
Herr Kollege Fischer, dazu sage ich Ihnen: Aus anderer Leute Leder ist gut Riemen schneiden. Wir sind direkt betroffen, und wir haben als Parlamentarier dann letztlich das Gesetz zu vollziehen, wenn es auf uns zukommt. Der Bundesrat ist von der gesamten Handhabung eines entsprechenden Investitionsmaßnahmengesetzes weit weg. Dort sind nicht die Parlamentarier, sondern dort ist nur die Bürokratie betroffen. Ich sage Ihnen eins: Sie müßten alle als Parlamentarier großes Interesse daran haben, daß es zu diesem Verfahren nicht kommt. Wenn Sie ehrlich sind, werden Sie zugeben, daß Sie einen Großteil der Papiere, die uns zugehen, sowieso schon nicht lesen können. Ich möchte den Abgeordneten sehen, der 600 Seiten eines kleinen Investitionsmaßnahmenprogramms durchliest, vor Ort geht, alles
durcharbeitet und dann fachgerecht entscheiden kann. Weil dies so ist, liefert sich dieses Parlament anonymen Bürokratien aus und ist letztendlich willfährig. Weil es aber vor der Öffentlichkeit die politische Verantwortung tragen muß, sage ich: Das kann aus verfassungsrechtlichen und aus praktischen Gründen nicht gut ausgehen.
In der Geschäftsordnung steht zwar, daß der Redner darüber zu entscheiden hat, ob, welche und wie viele Zusatzfragen er zuläßt.
Mir macht das Spaß, Herr Präsident.
Es ist mir schon klar, daß Ihnen das Spaß macht. Es bringt Ihnen ja auch Redezeit. Aber irgendwann müssen wir auch mit der Debatte wieder ein Stückchen weiterkommen. Deshalb wäre meine Bitte, daß wir uns jetzt, wenn der Kollege Daubertshäuser zustimmt, auf eine letzte Frage beschränken. Bitte, Herr Fischer.
Herr Kollege Daubertshäuser, können Sie mir zustimmen, daß Sie eben zwar sehr viel gesagt haben, aber nicht meine Frage nach den Zustimmungsmotiven der SPD- regierten Länder beantwortet haben?
Denn alles, was Sie gesagt haben — stimmen Sie mir darin zu? —, ist doch im Grunde genommen eher ein Motiv für eine Ablehnung durch die SPD-Länder gewesen. Aber ich frage immer noch nach dem Motiv für die Zustimmung durch die SPD-Länder.
Herr Kollege Fischer, ich hatte gedacht, ich hätte Ihnen das erläutert. Herr Kollege Kohn hat eben durch einen Zwischenruf zur Kenntnis gebracht, daß er es verstanden hat: Weil wir nahe an dem Problem dran sind und wir damit behaftet sind und auf der anderen Seite die Bundesratsmitglieder weit weg sitzen.
— Nein, nein, Herr Kohn hat es richtig verstanden.
— Okay.
Bitte, lassen Sie jetzt den Redner fortfahren. Herr Gries, ich bitte um Ihr Verständnis.
Ekkehard Gries hätte ich gern noch gehört, Herr Präsident.
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Wenn das so ist: Bitte, Herr Gries.
Lieber Klaus Daubertshäuser, ich würde den Zwischenruf von Roland Kohn nicht so werten, wie das offenbar geschehen ist —
Wir lesen es im Protokoll nach!
—, weil das nicht so unbedingt schmeichelhaft war, da die Lander natürlich etwas mehr davon verstehen und weil sie die Problematik vielleicht ein bißchen schneller erkennen.
Herr Präsident, Entschuldigung, ich wollte fragen. Wenn das nach Ihrer Meinung mit den Maßnahmengesetzen so verfassungswidrig ist, daß nur SPD-Landesregierungen dem zustimmen können, nicht aber die SPD-Fraktion in diesem Hause, wie ist es denn dann mit dem Beschleunigungsgesetz, das der Minister angekündigt hat? Können wir denn davon ausgehen, daß der Pragmatismus und der Wunsch nach schnellen Verkehrsinfrastrukturverbesserungen gerade in den neuen Ländern bei der SPD so ausgeprägt sind, daß diesem Gesetz dann vielleicht nähergetreten werden kann?
Herr Kollege Gries, ich habe vor, dazu noch zwei, drei Sätze zu sagen. Bei allem, was bei der Beschleunigung der Entbürokratisierung dient, werden Sie unsere Unterstützung haben. Aber Sie werden unsere Unterstützung nicht bekommen, wenn es darum geht, zusätzlich anonyme, autoritäre Verhältnisse aufzubauen. Dabei ziehen wir nicht mit. Da ich das Beschleunigungsgesetz noch nicht kenne, bitte ich um Nachsicht, daß ich jetzt nicht sagen kann, ob es von uns positiv oder negativ bewertet wird. Es wird ja erst in der nächsten Woche im Kabinett behandelt, wie der Herr Minister eben angekündigt hat.Herr Präsident, ich bitte jetzt um Nachsicht.
Ich muß versuchen, meinen ursprünglichen Gedanken wiederzufinden. Ich hatte versucht, mich mit der Problematik der Infrastrukturplanung und dem notwendigen Schienenausbaugesetz auseinanderzusetzen, die in diesen Bereich hineingehören. Ich hatte begrüßt, daß die Koalition unserem Gesetzentwurf jetzt einen eigenen hinzugefügt hat.Ich sage Ihnen: Dieses Schienenwegeausbaugesetz und das Nichtvorhandensein im Bundesverkehrswegeplan ist nur ein Schwachpunkt in der Bundesverkehrswegeplanung. Ich habe eine ganze Reihe von anderen kritischen Punkten, die ich ansprechen muß. Es wird z. B. ein viel zu starkes Gewicht auf Straßengroßprojekte gelegt. Es ist so, daß neue Großprojekte neue Verkehrsströme erzeugen. Damit gibt es automatisch weiteres Verkehrswachstum. Ich beziehe diese Kritik vor allem auf die alten Bundesländer.
— Herr Kollege Jobst, mit dem Planentwurf ist dochgleichzeitig auch eine enorme Schieflage zu Lastender neuen Länder verbunden. Nur 35 % sollen dorteingesetzt werden. Dies wird der aktuellen Infrastruktursituation in Deutschland doch ganz einfach nicht gerecht. Das heißt, die Durchsetzung der im Osten dringend notwendigen Infrastrukturverbesserungen wird gefährdet, wenn gleichzeitig umfangreiche Neu- und Ausbauplanungen für das Fernstraßennetz in den alten Ländern vorgesehen sind. Ich sage Ihnen: Diese Schieflage müssen wir ebenfalls korrigieren.Ein weiterer Kritikpunkt: Das Fernstraßenausbaugesetz in der geltenden Fassung sieht einen fünfjährigen Planungszeitraum vor. Der Entwurf des Bundesverkehrsministers setzt dagegen einen Zeitraum bis zum Jahre 2010 für den vordringlichen Bedarf. Das heißt, die Verbindlichkeiten, die Prioritäten für diese einzelnen Projekte sind für diesen langen Zeitraum doch völlig undurchsichtig und auch unseriös, weil die Finanzierungschancen völlig im dunkeln bleiben.Auch wenn die Bundesregierung diesen Plan im Fünfjahresrhythmus überprüft, wird damit doch nur unterstrichen: Sie wollen die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Parlamente ausschalten und damit der Bürokratie einen Freibrief ausstellen. Die Reaktion des Parlamentes auf sich verändernde verkehrspolitische Situationen wird damit doch bis zum Jahre 2010 praktisch ausgeschlossen.Ich sage Ihnen: Vollends zur Luftblase wird dieser Bundesverkehrswegeplan, wenn Sie sich einmal den Finanzierungsbedarf ansehen. Darüber ist nichts gesagt worden.
500 Milliarden DM, davon allein 414 Milliarden DM Gesamtinvestitionsbedarf für den Verkehrswegebau inklusive der Substanzerhaltung und Erneuerung des bestehenden Netzes. Kein Wunder, daß der Bundesverkehrsminister dabei von erheblichen Finanzierungsengpässen spricht.Reden wir doch einmal Klartext: Das heißt auf gut deutsch, daß die Mehrzahl der im vordringlichen Bedarf genannten Projekte mangels eines seriösen Finanzierungskonzepts völlig in der Luft hängt. Statt eine finanzierbare Planung für einen überschaubaren Zeitraum vorzulegen, greift der Verkehrsminister nach einem Strohhalm — er hat es eben wieder getan —, und dieser Strohhalm heißt Privatfinanzierung von Verkehrswegen. Nennen wir auch dieses Kind beim richtigen Namen. Hier geht es doch lediglich um die Zwischenschaltung privater Kreditgeber, die den Steuerzahler teuer zu stehen kommen wird. Der Bundesregierung ist dabei doch selbst nicht wohl in der Haut. Im Kabinettsbeschluß vom Februar 1992 gesteht sie ein, daß die Privatfinanzierung nur in wenigen Ausnahmefällen ergänzend zur klassischen Haushaltsfinanzierung in Betracht komme.Ich bleibe deshalb dabei: Ohne ein seriöses Finanzierungskonzept für jeweils überschaubare Zeitsegmente von fünf Jahren bleibt dieser Bundesverkehrswegeplan ein weitgehend unverbindlicher Wunschzettel.Zur Planungsbeschleunigung wird meine Kollegin Dr. Wetzel sehr präzise unsere Vorstellungen darstellen. Wir haben ein demokratisches, ein unbürokratisches Gegenkonzept. Wir sind — ich sage es noch
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Klaus Daubertshäusereinmal — für eine Beschleunigung der Verfahren, aber ohne Einschränkung von Bürgerrechten.
Meine Damen und Herren, fassen wir alle Gesichtspunkte zum Bundesverkehrswegeplan zusammen, so sage ich: Es bleibt ein deprimierendes Gesamtbild. Herr Minister, Sie haben die große Chance verpaßt, mit dem ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan eine wirkliche Trendwende in der Verkehrspolitik einzuleiten.Wir Sozialdemokraten wollen, daß der erste gesamtdeutsche Bundesverkehrswegeplan zu einem überzeugenden Beleg für eine Reform der Verkehrspolitik an Haupt und Gliedern wird, d. h. dem Verkehrswegeplan muß das weitestmögliche Reduktionsszenario mit dem Ziel der Verkehrsvermeidung und der Verlagerung auf die umweltfreundlichen Verkehrsträger zugrunde gelegt werden. Sie müssen dieses Szenario mit einem konkreten Zeit- und Maßnahmenplan umsetzen.Die rechtliche und tatsächliche Benachteiligung der Schiene gegenüber der Straße muß endlich beendet werden. Auf die Realisierung von Großprojekten im Westen muß zugunsten lebenswichtiger Infrastrukturmaßnahmen in den neuen Ländern verzichtet werden. Dieser Verkehrswegeplan muß Grundlage für ein verkehrsträgerübergreifendes Gesamtverkehrskonzept werden. Das bedingt dann eben die Lösung der Schnittstellenproblematik, insbesondere für den kombinierten Ladungsverkehr.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist jetzt wirklich abgelaufen.
Ich weiß, Herr Präsident, aber ich komme bereits zu meinem Schlußsatz.
Das geht auf Kosten Ihrer Kollegen.
Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß meine Fraktion zur konstruktiven Zusammenarbeit mit den Koalitionsfraktionen bereit ist, um aus dem Luftschloß des Verkehrsministers einen realistischen, überschaubaren und tatsächlich umsetzbaren Plan zu machen.
Wenn wir unsere ökologische Lebensbasis zerstören, werden wir am Ende kein modernes Verkehrssystem und schon gar kein erweitertes brauchen. Hier steht auch die Glaubwürdigkeit der Politik auf dem Spiel.
Ich muß es noch einmal sagen, meine Damen und Herren: Abgesehen davon, daß — ich darf doch wohl sagen — die Freunde aus den Koalitionsfraktionen dem Kollegen Daubertshäuser 70 % zusätzliche Redezeit verschafft haben, bitte ich doch herzlich, wenn der Präsident sagt: „Die
Redezeit ist abgelaufen", nicht noch eine Minute dranzuhängen, sondern wirklich nur noch einen Satz.
Das Wort erteile ich jetzt unserem Kollegen Dr. Dionys Jobst.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen heute in einer wichtigen Stunde der Verkehrspolitik. Wir stehen vor großen Aufgaben und großen Herausforderungen.Herr Kollege Daubertshäuser, der Sie ja sonst ein sehr sachlicher und konstruktiver Kollege sind: Ihr Vorwurf, der Bundesverkehrsminister habe Seifenblasen geliefert, habe eine Mogelpackung vorgelegt, ist nicht nur ungerechtfertigt, sondern er ist deplaziert und qualifiziert Ihre Rede.Sie, Herr Kollege Daubertshäuser, führen heute einen Eiertanz auf, ein Doppelspiel der SPD. Wir erleben tagtäglich, daß Anträge aus SPD-regierten Bundesländern auf mehr Straßen im vordringlichen Bedarf — in Hessen machen es die Bürgermeister und Landräte — eingehen. Dies ist die Wirklichkeit.
Mit dem Bundesverkehrswegeplan, mit der Strukturreform der deutschen Bahnen — dazu gehört auch das Bundesschienenwegeausbaugesetz — sowie mit den neuen planungsrechtlichen Initiativen hat die Bundesregierung ein klares Konzept einer zukunftsorientierten Verkehrspolitik vorgelegt. Wir sind auf dem richtigen Kurs. Die CDU/CSU steht zu dem Konzept von Bundesverkehrsminister Professor Krause.Wir stoßen heute sicher an Grenzen in unserem Verkehrssystem, das heute schon überlastet ist. Aber der Verkehr und die Nachfrage nach Verkehrsleistungen werden weiter steigen. Mehr Wohlstand, mehr Freizeit — das wollen wir doch alle — bringen mehr Verkehr. Wir brauchen auch leistungsfähige Schienenstränge und Straßen, um Deutschland zusammenzuführen.Die Umlenkung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene ist unser Ziel. Allen Verkehr oder auch nur einen wesentlichen Teil von der Straße auf die Schiene zu bringen, bleibt aber eine Illusion. 10 % mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene würde 100 % mehr Verkehr auf der Schiene bedeuten. Wir brauchen deshalb in der Zukunft alle vier Verkehrsträger, und wir brauchen für alle vier Verkehrsträger eine optimale Verkehrsinfrastruktur.Die Hauptpriorität muß in der Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern liegen. Als zweiter Schwerpunkt gilt es, die OstWest-Magistralen zu schaffen. Als drittes kommt die Befriedigung des Nachholbedarfs im Westen hinzu. Hier gibt es neuen Bedarf durch die West-OstVerkehre, auch zur Tschechoslowakei.
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Dr. Dionys JobstMit dem ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan, den der Bundesverkehrsminister vorgelegt hat, wird eine Wende in der Verkehrspolitik herbeigeführt. Die Schiene erhält Vorrang. Es ist eine Entscheidung für die Umwelt.Mit dem neuen Bundesschienenwegeausbaugesetz, das sowohl CDU/CSU, F.D.P. wie SPD vorgelegt haben, wird die Bedeutung der Eisenbahn deutlich herausgestellt. Wir brauchen eine Bahn, die höhere Verkehrsleistungen erbringt, die aber auch den Haushalt nicht überfordert. Die Finanzsituation der Reichsbahn wie der Bundesbahn ist fatal. Die Bahn muß bezahlbar bleiben. Die Bahnreform, die ein Teil des Verkehrskonzeptes ist, ist ein Gebot der Stunde. Hier ist es wirklich höchste Eisenbahn. Wir brauchen eine moderne Bahn auch als umweltfreundlichen Verkehrsträger.Wir müssen alle Chancen der Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene nutzen. Grundvoraussetzung sind die Neubau- und die Ausbaustrecken. In den neuen Bundesländern hat die Reichsbahn schon heute eine ganz klare Präferenz: Die Reichsbahn ist heute die größte Baustelle in Europa.Aber, meine Damen und Herren, Pkw und Lkw sind auch in der Zukunft unverzichtbar. Das Auto wird weiterhin ein aktuelles Thema bleiben. Ich halte es deshalb für unverantwortlich, das Auto zu verteufeln. Leute, die das tun, nehmen die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis. Ich halte viel davon, den Bürgern den Umstieg vom Auto auf die Bahn attraktiv zu gestalten. Ich halte aber nichts davon, per Autotelefon Interviews zur Verteufelung des Autos zu geben.
Wir müssen klar sehen, daß die Bahn Strukturnachteile hat, die nicht oder nur mit einem verhältnismäßig hohen Kostenaufwand auszugleichen wären. Der Nachteil liegt bei kurzen Entfernungen und in den ländlichen Regionen. Wir können die Steuerschraube nicht grenzenlos drehen — wie manche meinen —, um das Autofahren unmöglich zu machen. Wenn wir bessere und leistungsfähige Straßen schaffen und Ortsumgehungen bauen, die unsere Bürger draußen wollen, dann ist es absurd, in diesem Haus heute von Zubetonieren und Betonpisten zu reden.Die meisten Autobahnen, Herr Kollege Daubertshäuser, wurden in der Zeit von 1970 bis 1980 gebaut. Sie wissen, daß der Leber-Plan damals vorsah, 20 000 km Autobahnen im alten Bundesgebiet zu bauen. Wir haben es mit durchgesetzt, daß dies auf 10 000 km in den alten Bundesländern reduziert wurde. Im Bedarfsplan ist jetzt vorgesehen, daß noch 2 400 km Autobahnen im gesamten Deutschland gebaut werden. Das ist die Wirklichkeit.
Die Neu- und Ausbaustrecken der Bahn, die neuen und besseren Straßen und die Ortsumgehungen, die im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen sind, wären schon heute dringend notwendig. Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Daubertshäuser. Unser Planungsrecht ist ein Bauverhinderungsrecht. Wir haben Planungszeiträume von 10, 15 Jahren und länger. Der erste Rammstoß für die Neubaustrecke der Bundesbahn ist im Jahre 1973 gemacht worden. 1991 konnte dann endlich eine kleine Teilstrecke in Betrieb genommen werden. Diese Verzögerungen sind nicht länger zu verantworten.Es gibt kein Land in Europa, wo es zu solchen Verzögerungen kommt. Wenn in Frankreich eine Straße dem Verkehr übergeben wird, findet in Deutschland gerade der 15. Erörterungstermin mit Bürgerinitiativen statt.
Wir brauchen ein neues Planungsrecht. Die Einbeziehung der Bürger in die Angelegenheiten, die sie betreffen, halte ich für richtig und für wichtig. Aber die Entscheidungen müssen einmal getroffen werden — nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip, sondern nach anderen Prinzipien. Die berechtigten Anliegen des Umweltschutzes müssen nicht über Jahre geprüft werden, sondern können auch in kürzerer Zeit festgestellt werden.Das Maßnahmengesetz, das heute schon eine große Rolle gespielt hat — die Eisenbahnumfahrung von Stendal , ist zwingend erforderlich. Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation: Wir brauchen die neuen und besseren Verkehrswege gerade der Schiene sehr dringend. Weil wir vor außergewöhnlichen Herausforderungen stehen, müssen wir handeln. Wir tun das auch; der Bundestag ist gefordert. Was wir von Ihnen, von den GRÜNEN, heute erleben, ist doch das alte Spiel.
Hier wird gefordert, mehr Verkehr auf die Schiene. Wenn es konkret wird, dann wird das alte Spiel getrieben, daß man diese Maßnahmen blockieren will. Mit uns, Herr Kollege Daubertshäuser, können Sie dies nicht machen.
Ich habe kein Verständnis für den Einwand, der Gesetzgeber dürfe sich mit einem solchen Gesetz nicht befassen, hier maße er sich Kompetenzen an, die er der Verwaltung überlassen sollte. In einer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie ist das Parlament das oberste und das wichtigste, unmittelbar vom Volk legitimierte Organ. Daß die rasche Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland für die zügige Entwicklung einer modernen Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern eine unverzichtbare Voraussetzung, eine wesentliche Aufgabe ist, wird wohl niemand bestreiten.Das Kernproblem, Herr Kollege Daubertshäuser, ist natürlich die Finanzierung all dieser Maßnahmen. Es wäre nicht richtig, wenn wir nicht darauf hinweisen würden, daß wir im Bundeshaushalt an Grenzen stoßen. Ich meine aber, Bundesverkehrsminister Krause ist mit der Heranziehung von Privatkapital auf dem richtigen Weg. Wir müssen erreichen, daß der verkehrspolitische Nutzen all der Projekte, die vorgesehen sind, früher zur Verfügung steht.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
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Ich meine auch, daß es auf Dauer nicht angeht, daß die Deutschen weiterhin die Zahlmeister für den ausländischen Verkehr in Deutschland sind. Wir müssen den ausländischen Verkehr zu seinen Wegekosten über die Straßenbenutzungsgebühr, aber auch über die Autobahngebühr heranziehen. Ich darf die älteren Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, daß ich schon Mitte der siebziger Jahre die Einführung der Autobahngebühr gefordert habe, um den ausländischen Verkehr zur Finanzierung der Kosten heranzuziehen. Heute ist man endlich so weit, daß man ernsthaft darüber debattiert und dies ins Kalkül zieht. Ich meine, das ist ein wichtiger Fortschritt.
Herr Kollege Jobst, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Die Weichen der Verkehrspolitik sind richtig gestellt. Das Verkehrskonzept von Herrn Bundesverkehrsminister Krause ist schlüssig. Wir geben ihm grünes Licht. Wir danken ihm für seinen Mut und für seine erfolgreiche Arbeit. Ich hoffe, lieber Herr Kollege Daubertshäuser, daß wir im Verkehrsausschuß bei der Beratung all dieser Maßnahmen trotz des Rituals, das Sie heute geliefert haben, eine einvernehmliche Lösung erzielen werden.
Der Kollege Jobst hat, was die Überziehung der Redezeit anbetrifft, den Kollegen Daubertshäuser locker geschlagen. Ich muß noch einmal an die Adresse aller Redner sagen: Wer länger redet als angemeldet, nimmt den folgenden Kollegen aus der eigenen Fraktion ein Stück von ihrer Redezeit weg.
Ich erteile der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser heroischen Rede komme ich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Neue Straßen braucht das Land" — unter diesem Motto dürfte der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes erarbeitet sein. Neu- und Ausbau von Straßen, Gestaltung der Verkehrssysteme, Ausschöpfung technischer Potentiale der Automobilhersteller, Einrichtung moderner Verkehrsleitsysteme usw. — nicht ein einziges Mal taucht der Begriff Verkehrsvermeidung auf.In diesen Kategorien wird eben nicht gedacht. Kein Wunder, sieht doch das Gesetz über den Ausbau der Bundesfernstraßen vor, daß das Bundesverkehrsministerium alle fünf Jahre prüft, ob der Bedarfsplan an die Verkehrsentwicklung angepaßt werden muß. Kapazitäten werden also dort geschaffen, wo gerade einmal Bedarf ist. Ein Gesamtkonzept fehlt. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wohin soll das noch führen?Sehen wir uns die Prognosen der Verkehrsentwicklung bis zum Jahr 2010 an, dann müssen einfach allewohlklingenden Erklärungen über eine CO2-Reduzierung wie eine Seifenblase platzen. Im übrigen wird von zahlreichen wissenschaftlichen Instituten dieses Ziel inzwischen als nicht mehr realisierbar erklärt. Folgende Prognosen werden gemacht: Der Pkw-Bestand steigt von 36,9 Millionen auf 45,5 Millionen Fahrzeuge. Der Güterfernverkehr auf der Straße steigt um über 95 %. Der Personenfernverkehr steigt um 30 bis 40 %. Der Luftverkehr wird um 150 % zunehmen.Die Vorstellung, daß sich das Straßenverkehrsaufkommen in Berlin verdoppeln wird, erweckt in mir, die in einer Randlage Berlins wohnt, ein kaltes Grauen. Von der ach so gesunden Berliner Luft darf dann jedenfalls nicht einmal mehr gesungen werden. Das ist der Verkehrsnotstand, Herr Minister Krause.Die Antwort der Bundesregierung auf diese Prognosen ist: immer mehr Straßen, Hochstraßen, Brücken, Tunnel usw. All das in Abwägung mit den Belangen der Umwelt?Auf eine Kleine Anfrage der PDS/Linke Liste zum Bau der A 26 bei Hamburg z. B. teilt die Bundesregierung ihre Einschätzung mit, daß es sich hierbei um einen „nicht ausgleichbaren Eingriff in die Natur" handelt, der aber dennoch dann zulässig sei, wenn die Maßnahme aus „überwiegenden Gründen des Gemeinwohls" notwendig sei. Worin besteht hier das Gemeinwohl? Wer entscheidet darüber, was das Gemeinwohl ist? Gehört eine gesunde Umwelt etwa nicht dazu?Es ist allerhöchste Eisenbahn, mit einem ökologisch und sozial vertretbaren integrierten Gesamtverkehrskonzept eine solche Wende in der Verkehrspolitik einzuleiten, für deren Wirkung unsere Kinder und Enkelkinder noch dankbar sein werden. Primat muß dabei die Verkehrsvermeidung haben. Erreichbar wäre sie durch eine konsequente Politik der kurzen Wege, die selbstverständlich eine adäquate Wirtschafts- , Raumordnungs- und Finanzpolitik voraussetzt. Städte dürfen nicht weiter entvölkert werden; sie müssen bewohnbar sein.Wir teilen die Sorge des DIHT, der zur Zeit in den neuen Bundesländern ein Zusammenbrechen innerstädtischer Handelsstrukturen durch den Aufbau riesiger Einkaufszentren an den Peripherien beobachtet. Die Folge ist auch mehr Verkehr.Zur Chefsache müßte die Entwicklung des ÖPNV erklärt werden. Die Frage ist allerdings: Bei dem Chef? Hier darf der Bund nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden. Wir sind zwar für eine Regionalisierung, aber nur bei ausreichender finanzieller Ausstattung der Kommunen.Eine besondere Förderung müßte dem nicht motorisierten Verkehr zukommen. Das Gegenteil aber ist der Fall. Bei Fußwegen wird ein leichtes Plus von 2 % prognostiziert; hingegen rechnet man beim Fahrradverkehr mit einem Rückgang um 16 %.Die in den Prognosen ausgewiesene dramatische Zunahme des Güterfernverkehrs auf der Straße sollte schon heute ein Achtungszeichen setzen und endlich verkehrspolitische Hebel in Bewegung setzen. Ein
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9782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Dr. Dagmar EnkelmannSchienenausbaugesetz z. B. ist dringend erforderlich.
Der von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Gesetzentwurf ist jedoch eher als schlechter Witz abzuhaken.Es geht doch nicht um technische oder organisatorische Probleme bei der Planung von Schienenwegen, sondern um Maßnahmen zur Verkehrsvermeidung, und die deutliche Förderung des Schienenverkehrs und die Schaffung von Voraussetzungen dafür, daß sich die Bahn tatsächlich zu einer Alternative zur Straße entwickeln kann. Im Güterfernverkehr bedeutet das den Ausbau des kombinierten Verkehrs. Hier haben wir es derzeit bekanntlich mit einer Stagnation zu tun. Erforderlich ist die Entwicklung einer entsprechenden Logistik sowie die Schaffung der notwendigen technischen und personellen Voraussetzungen. Von solchen Anstrengungen ist bislang aber nur wenig zu spüren.Im Gegenteil: Staatssekretär Gröbl beeilte sich, bei der Eröffnung der „Automechanika" in Frankfurt am Main den anwesenden Automobilherstellern zu versichern, daß er sich von „Verkehrsutopisten" nicht abhalten lasse, sein Konzept des Straßenausbaus durchzusetzen; es gebe „keine Trendwende gegen das Auto".Ein Eckpfeiler des integrierten Gesamtverkehrskonzepts ist die weitere Demokratisierung des Planungsrechts, d. h. die rechtzeitige Einbeziehung von Kommunalvertretungen, Umweltverbänden, Bürgerinitiativen in die Vorbereitung von Planungsentscheidungen. Genau das Gegenteil passiert — Herr Minister Krause hat schon angekündigt, was uns nächste Woche erwartet —: Gerade auf diesem Gebiet vollzieht sich ein drastischer Demokratieabbau, und — auch darauf möchte ich verweisen — die Bürger werden hier nach Strich und Faden belogen. Es wird gesagt: Mehr Straßen fördern die Konjunktur; mehr Straßen bringen Arbeitsplätze; Ortsumgehungen bewirken Entlastungen für andere Straßen. All das wird durch die Entwicklung in den alten Bundesländern und durch das, was wir in den neuen Bundesländern immer wieder erleben, gerade widerlegt.Ich möchte noch auf eines hinweisen: Mehr und mehr Bürgerinnen und Bürger sammeln gerade im Verkehrsbereich die Erfahrung: Sie können sich engagieren, Unterschriften zusammentragen, Briefe schreiben, Demos organisieren, aber entschieden wird letztlich ohne sie.Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt komme ich auf diesen Packen, auf die Drucksache 12/3477 auch noch einmal zurück: Fühlen Sie sich tatsächlich in der Lage, z. B. eine verantwortungsbewußte Entscheidung über die Südumfahrung in Stendal zu treffen, wie sie von uns verlangt wird? Sie wird nicht von irgendeiner Demokratie verlangt, sondern wir müssen darüber entscheiden.Kollege Gries, der Verweis auf den nationalen Notstand, in dem wir uns befinden, erschreckt mich eher, weil sich für mich dann einfach die Frage ergibt:Was ist angesichts dieses Hinweises noch alles von der Bundesregierung zu erwarten, wahrscheinlich nicht nur im Verkehrssektor?
— Ja, ich bin öfter bei den Bürgerinnen und Bürgern und spreche mit ihnen auch über Verkehrsthemen. Ich glaube, das, was bei dieser Gelegenheit diskutiert wird, ist etwas anderes als das, was im Bundestag diskutiert wird.
Fazit: Der Bundesverkehrswegeplan ist, wie zahlreiche Umweltverbände einschätzen, ein „Rückschritt in die verkehrspolitische Steinzeit". Er muß daher mit dem Auftrag an die Bundesregierung zurückgewiesen werden, ein neues, an den Erfordernissen von Wirtschaft, Ökonomie und Ökologie gleichermaßen orientiertes integriertes Gesamtverkehrskonzept vorzulegen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Kollegen Horst Friedrich das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes, des Investitionsmaßnahmengesetzes und dem Entwurf des Bundesschienenwegeausbaugesetzes beginnt ein neues Kapitel der bundesdeutschen Verkehrspolitik; denn hinter diesen schönen Titeln verbirgt sich nichts anderes als der Auf- und Ausbau einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur für ganz Deutschland. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf ist die Voraussetzung einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern. Wer diesen Weg nicht beschreiten will, der nimmt billigend in Kauf, daß der Bereich der ostdeutschen Bundesländer in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gebremst und behindert wird.Aber nicht nur die deutsche Einheit, sondern auch der beginnende gemeinsame europäische Markt und die Öffnung der Grenzen nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa erfordern neue Antworten.
Die Menschen erwarten von uns Hilfe und Unterstützung. Was als Lückenschlußprogramm im ehemaligen Zonenrandgebiet begann, was Sonderprogramme mit dem Ziel des Baus von Ortsumgehungen erforderlich machte, muß sich im Bereich der Straße jetzt in der Ausweisung neuer qualifizierter OstWest-Verbindungen fortsetzen.Ich füge hinzu: Straßenbau ist auch weiterhin unverzichtbar. Sicherlich rechtfertigt nicht alles den Bau jeder Straße auf jeder Trasse.
Die Auswirkungen der Planungen auf Mensch undNatur verdienen unsere volle Aufmerksamkeit. Eine
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9783
Horst FriedrichVerkehrspolitik, die zukunftsweisend sein will, kann sich nicht allein auf den Bau neuer Straßen beschränken. Das war immer die Auffassung der F.D.P.-Fraktion. Wir freuen uns, daß wir sagen können, der Bundesverkehrswegeplan spiegelt diese Haltung wider.
Wer sich die Zahlen der Investitionsplanung ansieht, muß erkennen, daß der Ausbau des Schienennetzes mit knapp 40 % oder rund 200 Milliarden DM den größten Anteil stellt. Aus der Sicht meiner Fraktion ergibt sich daraus die Konsequenz, daß der Schienenwegeausbau in Deutschland die gleiche Qualität der parlamentarischen Beratung wie die Straße erfahren muß.Der heute ebenfalls zur ersten Beratung anstehende Entwurf des Bundesschienenwegeausbaugesetzes der Koalitionsfraktionen ist aus unserer Sicht die konsequente Umsetzung unserer Vorstellung von einer angemessenen parlamentarischen Behandlung dieses Themas.
Dann kann man auch die entsprechenden Investitionsmittel in den Haushalt einstellen, weil dann nämlich eine andere Basis geschaffen worden ist.
Wer allerdings ja sagt zur Schiene, Herr Kollege Bindig, der muß ehrlicherweise auch etwas zu den entstehenden Konsequenzen sagen; denn mit der Forderung nach einer Verlagerung des Personen- und Frachtverkehrs von der Straße auf die Schiene kann man zwar trefflich hausieren gehen, aber die Verkehrsprobleme löst man dadurch leider nicht.Der Ausbau des Schienentransports bedeutet auch die Schaffung neuer Bahntrassen oder die verstärkte Nutzung bestehender Trassen.
Bei diesem Thema — das erfährt jeder, der sich damit befaßt — sind leider auch die Befürworter der Bahn auf einem Ohr taub. Es ist fast unverständlich, daß die Forderung erhoben wird, in den neuen Bundesländern möge für Schienenstrecken, auf denen wegen Nichtnutzung ein paar Birkenbäumchen stehen, ein neues Raumordnungs- oder Planfeststellungsverfahren eingeleitet werden. Das ist eine in der heutigen Zeit für mich unvorstellbare Forderung.
Wir sagen ja zur Schiene. Wir verschweigen nicht, daß dies insbesondere für die Streckenanwohner erhebliche Belastungen bedeuten kann. Aber ohne den Bau neuer Trassen ist die Bahn keine Alternative zur Straße. Dies gilt insbesondere für den Güterverkehr.
Ich will auf die Zahlen, die mehrfach genannt worden sind, nicht im Detail eingehen. Dazu wird der Kollege Kohn, der zum Thema Bahn sprechen wird, Stellung nehmen. Ich will allerdings eines nicht verschweigen — das habe ich auch schon gesagt —: Wirmüssen bei einer Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene, wenn die Strecken elektrifiziert sein sollen, unter Umständen auch einmal die Frage nach dem Energiebedarf stellen.
Damit wir uns recht verstehen: Mir geht es nicht darum, die Bahn zu diskreditieren, sondern mir geht es um eine ehrliche Bestandsaufnahme und um eine Abkehr von ideologisch gefärbten Träumereien. Man muß auch sehen, was der einzelne Verkehrsträger leisten kann. Unser Ja zur Bahn der Zukunft steht dabei vollkommen außer Frage.
Einen häufig vergessenen Verkehrsträger, nämlich die Binnenschiffahrt, gilt es bei dieser Gelegenheit wieder stärker in den Blickpunkt der Verkehrspolitik zu rücken. Hier liegen kurzfristig aktivierbare Reserven für den Güterverkehr. Aber auch die Binnenschiffahrt — das sei mir gestattet zu sagen — findet nicht im luftleeren Raum statt. Für eine leistungsfähige Binnenschiffahrt brauche ich entsprechend leistungsfähige Wasserstraßen. Diese bedeuten wiederum ökologische Beeinträchtigungen. Dennoch spreche ich mich an dieser Stelle ganz konsequent für die Verbesserung der Schiffahrt aus, d. h. für einen sinnvollen Einsatz von Binnenschiffahrt, von Küstenmotorschifffahrt und von Seeschiffahrt.Im Zusammenhang mit der Bundesverkehrswegeplanung erinnere ich als Berichterstatter an die Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs. Ohne einen funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr werden wir auch in Zukunft nicht in der Lage sein, bestimmte Herausforderungen zu bewältigen. Dazu bedarf es individueller Organisationsstrukturen, mit der Konsequenz, daß Planungskompetenz und Finanzen in den kommunalen Bereich gehören. Pauschale Lösungsversuche haben bislang in diesem Bereich wenig gebracht. Sie werden auch in Zukunft nicht viel bringen.Wer eine ausgewogene, eine leistungsfähige Verkehrspolitik möchte, muß leistungsfähige Planungsinstrumente schaffen.
Planungszeiträume von zehn, fünfzehn oder mehr Jahre für eine Bundesstraße waren schon in der Vergangenheit äußerst problematisch. In der Zukunft sind sie unerträglich. Deswegen muß man über neue Instrumente im Planungsrecht vorurteilsfrei diskutieren. Warum soll das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz befristet nur in den neuen Bundesländern gelten? Hat der Bürger in den alten Bundesländern keinen Anspruch auf eine zeitgerechte Lösung seiner Verkehrsprobleme? Ich meine: ja. Ich gehe davon aus, daß viele Bürger meiner Meinung sind.
Daher sollten wir an die Nutzung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in den alten Län-
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9784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Horst Friedrichdem herangehen. Das Investitionsmaßnahmengesetz bietet aus meiner Sicht ein geeignetes Mittel, um den Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur im Einzelfall zu unterstützen.Abschließend möchte ich die Einordnung der Verkehrspolitik zum besten geben, die mir in den letzten Tagen auf den Schreibtisch geflattert ist. Da stand zu lesen:Rollt der Verkehr, wächst auch die Wirtschaft. Verkehrsbetriebe, die funktionieren, verschlingen keine Subventionen. Die Aufgabenteilung zwischen Staat und privater Wirtschaft muß sich am Maßstab der Effizienz orientieren.Das sind wahrlich wegweisende Aussagen. Sie entstammen der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Sie sind in deren Info 5/92 nachzulesen.Wer diese Grundsätze auf die Dritte Welt übertragen möchte, sollte sie zunächst im eigenen Lande umsetzen. Ich kann für die F.D.P.-Bundestagsfraktion erklären, daß wir diese Inhalte beherzigen und in den vorliegenden Gesetzentwürfen einen guten Ansatz zur Verwirklichung dieses Zieles sehen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Dr. KlausDieter Feige, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gerade einmal 90 Minuten nimmt sich der Deutsche Bundestag, um in erster Lesung über die verkehrspolitische Weichenstellung in den kommenden zwanzig Jahren zu beraten. Nach dem Stündchen der Wahrheit auf dem Parteitag der CDU nun eineinhalb Stunden Debatte, in der erneut deutlich wird, wie weit sich diese Regierung von den Realitäten entfernt hat.Angesichts der Geschwindigkeit, mit der hier tausende bedruckte Seiten durchs Parlament gepeitscht werden sollen, werden die Zweifel an der Seriosität dieser Planungen immer größer. Angesichts der Sparappelle und der Ankündigung von Steuererhöhungen leistet sich dieses Parlament den Luxus, pro Minute 5 Milliarden DM zu verschleudern. Dabei geht es nicht nur um den Bundesverkehrswegeplan bzw. das Fernstraßenausbaugesetz, sondern es wird gleich noch das erste Maßnahmegesetz mitbehandelt. Hierbei geht es — Sie haben das meinem Geschäftsordnungsbeitrag von vorhin entnehmen können — um eine grobe Mitachtung bzw. um die Aufhebung der Gewaltenteilung in der Bundesrepublik. Um Herrn Fischers Worte zu gebrauchen — der jetzt nicht einmal mehr die Zeit hat, seinen Kollegen von der F.D.P. zu hören —: Die Enthaltung in Brandenburg geht eindeutig auf Kosten der liberalen Partei, nicht etwa auf die vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Was Sie hier vorhaben, Herr Bundesminister und meine Damen und Herren von der Bundesregierung, ist meiner Auffassung nach glatter Verfassungsbruch.Natürlich will auch ich den schnellen Aufschwung für die fünf neuen Länder. Auch wir handeln, aber wir lügen nicht.Nehmen wir einfach die nackten Tatsachen. Die Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre ist interfraktionell der Meinung — auch mit Ihren Stimmen —, daß die Verkehrsentwicklung in der Bundesrepublik, so weitergeführt wie bisher, uns global gesehen ins Desaster führt. Die Fachverbände, Umweltorganisationen und Wissenschaftler fordern übereinstimmend eine grundsätzliche Neuorientierung hin zu verkehrsvermeidenden Strategien. Angesichts der katastrophalen Situation der Wälder in unserem Land fordert der Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestages, Herr von Geldern, CDU, einen Runden Tisch zur Rettung der Wälder, und er hält — nachdem er diese Gesetzentwürfe gelesen hat — „eine generelle Umorientierung der Verkehrspolitik " für notwendig.Herr Krause, ich glaube, bei der Wahl zum Präsidium Ihrer Partei wird Ihnen die Stimme Ihres Ausschußvorsitzenden gefehlt haben, ebenso eine ganze Anzahl weiterer Stimmen. Ich denke einfach auch daran: Wer ist es denn, der hier in Bonn gegen den Ausbau der Bonner Straße mit Plakaten demonstriert? Es ist doch die Basis Ihrer Partei, die sich dort ausdrücklich gegen den Wahnwitz beim Ausbau von Verkehrswegen wendet.Ein sichtlich angeschlagener Bundesverkehrsminister präsentiert uns heute Vorschläge zum Fernstraßenausbau, die alles übertreffen, was diese Republik seit Beginn ihres Bestehens erlebt hat. Ich glaube, es ist gesagt worden, daß die meisten Autobahnen in den 70er und 80er Jahren gebaut worden sind. Auch früher wurden in diesem Land schon Autobahnen gebaut. Die Gigantomanie Ihres Vorhabens, Herr Minister, steht, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, verkehrspolitisch in der Kontinuität der Straßenbaupolitik im Hitler-Deutschland der 30er Jahre. So lange wird hier schon falsche Verkehrspolitik gemacht. Die Kontinuität besteht nicht nur darin, daß ein Großteil Ihrer Vorhaben auf Planungen der 30er Jahre basiert, sondern weil das gleiche dümmliche Argument von der Schaffung von Arbeitsplätzen, von der Schaffung von Wirtschaftsaufschwung durch Straßenbau ins Feld geführt wird. Warum haben Sie dann nicht, z. B. gleich als erste Maßnahme, die Planung für die Autobahn A 20 direkt an ein Unternehmen in den neuen Ländern gegeben? Dieser Bundesregierung, insbesondere ihren Ministern Krause und Möllemann, fällt angesichts der Herausforderung des laufenden Jahrhunderts nichts Besseres ein als ein wirtschafts- und verkehrspolitischer Salto mortale rückwärts. Das manifestiert sich dann in lustvollen Betonorgien, die mit glänzenden Augen als Voraussetzung für den Aufschwung Ost angepriesen werden.Meine Damen und Herren, über die Steuerlüge der Bundesregierung ist eine ganze Menge gesagt worden. Ich möchte in diese Kerbe nicht weiter hineinhauen. Aber ich glaube, daß es jetzt im Verkehrsbereich zu einer Aufschwung-Ost-Lüge gekommen ist
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Dr. Klaus-Dieter Feigeund daß diese konsequent über das hinwegtäuschen soll, was Sie dort für die Wirtschaft als Lobby machen wollen.
Oder nehmen Sie das Argument mit der Stadt Wismar. Herr Krause, Sie bringen es selbst. Sie wissen ganz genau, daß in Wismar lediglich 5 % bis maximal 10 % Durchgangsverkehr ist. Die ganzen Verkehrsprobleme beruhen auf innerstädtischem Verkehr. Genauso ist es in Rostock. Die Autobahn — so z. B. die A 20 gebaut wird — wird in dieser Hinsicht fast nichts bringen. Die Forderungen werden dann die gleichen sein. Diese Argumente ziehen nicht mehr.Man muß sich einmal vorstellen, meine Damen und Herren, daß angesichts der knappen Haushaltsmittel rund zwei Drittel für Verkehrsprojekte in den westlichen Bundesländern vorgesehen sind, und das alles unter dem Schlagwort „Aufschwung Ost" . Lassen Sie sich gesagt sein: Die Menschen in den neuen Bundesländern haben Ihr neues Lügengebilde längst durchschaut. Die Front der Autobahnbefürworter in Mecklenburg-Vorpommern bröckelt deutlich und sicher ab. Die Quittung dafür, Herr Krause, haben Sie auf Ihrem Parteitag schon bekommen.Eines allerdings muß man konstatieren: Mit Ihrem Vorhaben werden Sie binnen weniger Jahre mehr Natur zerstören, als in vierzig Jahren sozialistischer Planwirtschaft möglich war. Das zeigt sich bereits jetzt deutlich. Haben Sie einmal in das vorgelegte Maßnahmengesetz geschaut?
Wissen Sie überhaupt etwas mit den Begriffen Ortolan oder Wiesenweihe anzufangen, die in der Roten Liste stehen? Wenn wir hier über Naturschutz diskutieren, sollten wir uns sachgerecht darüber auseinandersetzen.
Es ist beschämend, was Sie in dieser Hinsicht hier veranstalten.
Wenn Sie das nicht glauben, meine Damen und Herren, nehmen Sie sich die Drucksache einmal vor.Es ist schon bezeichnend und ein Gradmesser für die Leistungsfähigkeit westdeutscher Ingenieurbüros, wenn es denen gelingt, die Vegetationsaufnahme binnen fünfzehn Tagen durchzuführen. Aber wir alle sollen nun letztendlich entscheiden, was in einer Region wie Stendal wirklich gebaut werden soll,Gebiete, die die meisten von Ihnen noch nicht einmal besucht haben.
Der Bundesverkehrswegeplan ist von einem integrierten Verkehrsgesamtkonzept sehr weit entfernt. Nach wie vor wird jeder Verkehrsträger für sich ausgebaut. Insbesondere bleibt unberücksichtigt, daß der Aus- und Neubau von Straßen parallel zu vorhandenen Bahnlinien der Eisenbahn ihre wirtschaftliche Grundlage entzieht. Der Bundesverkehrswegeplan ist gegen jede verkehrspolitische Vernunft aufgestellt worden. In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Redezeit kann ich gar nicht auf alle Probleme und Details eingehen, die damit zusammenhängen. Ich glaube, im Grundsatz ist es so, daß der Bundesverkehrswegeplan auch durch Änderungsanträge nicht mehr repariert werden kann.Ich habe am vergangenen Wochenende bei einer Veranstaltung erlebt, daß Vertreter der wenigen Planungsbüros, die beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern an der Vorbereitung des A-20-Projekts beteiligt sind, fassungslos vor der Darstellung der vorgesehenen Trassenkanäle gestanden haben. Sie waren deshalb fassungslos, weil diese absolut nichts mit den von diesen Büros durchgeführten Untersuchungen zu tun haben. Sie mußten erkennen, daß Trassen oder zumindest Korridore in Bereichen vorgeschlagen werden, in denen noch nicht einmal Erhebungen über das dort vorhandene natürliche Inventar angestellt worden sind. Glauben Sie mir bitte: Das ist nichts weiter als der Versuch, längst bestehende und fertige Projekte durch sogenannte Naturschutzvorhaben nachträglich zu kaschieren.Alles zusammengenommen: Es reicht nicht allein eine grüne Krawatte. Nicht alle Straßenbaupläne führen in die Zukunft, auch nicht alle intelligenten Verkehrsführungskonzepte. Wir haben erst dann eine Chance, unseren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Zukunft anzubieten, wenn wir begreifen, daß Freiheit auch Verzicht um der Vernunft willen heißen kann.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Feige, es gab hier oben aus akustischen Gründen ein bißchen Verwirrung. Ich will nur an einem Punkt nachfragen — die anderen Dinge können wir im Protokoll nachlesen —: Haben Sie in irgendeinem Zusammenhang gesagt „pro Minute 5 Milliarden"?
— Das heißt, in zehn Stunden das gesamte Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland?
— Bitte.
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9786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Im Gesamthaushalt haben wir die Summe von 500 Milliarden DM. Wir haben eine Debattenzeit von 90 Minuten. Dementsprechend verdiskutieren wir in jeder Minute rund 5 Milliarden DM. Allein bei meiner kurzen Erklärung eben machte das die Summe von rund 200 Millionen DM aus.
Ich erteile der Kollegin Renate Blank das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Herausforderung für die heutige Verkehrspolitik lautet, durch Sicherung der Mobilität die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu stärken und der heutigen Generation ebenso wie den künftigen Generationen eine intakte Umwelt zu erhalten. Der heute dem Bundestag vorgelegte erste gesamtdeutsche Bundesverkehrswegeplan setzt diese Vorgaben klar um. Verkehr und Mobilität sind etwas grundsätzlich Positives.
Ein guter Gradmesser für das Wachstum von Industrie, Handwerk und Handel sowie für den Wohlstand der Bürger ist die wachsende Nachfrage nach Verkehrsleistungen. Der Verkehrssektor ist deshalb einer der zentralen Leistungsbereiche unserer Wirtschaft.Verkehr ist Voraussetzung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Aktivitäten. Das neue Element im Bundesverkehrswegeplan, nämlich die Koordinierung aller Verkehrszweige, ist ein entscheidender Beitrag zu einem leistungsfähigen Verbund aller Verkehrsträger. Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik werden die umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene und Wasser deutlich Priorität haben.Es ist leicht, in Sonntagsreden zu fordern, daß der Güterverkehr sofort von der Straße auf die Schiene verlagert werden soll, obwohl die Bahn längst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und ihrer Kapazität gestoßen ist.Die Bahnstrukturreform wird sicher auch dazu beitragen, daß mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden kann. Mit der bisherigen Bahn ist ein moderner Verkehr allerdings einfach nicht wirtschaftlich zu betreiben. Die Bahn im Wettbewerb ist notwendig für die Zukunft der Schiene.Neben dem Ausbau des Schienennetzes sind aber weiterhin Straßenausbau und -neubau erforderlich. Es wird regelmäßig verschwiegen, daß der deutsche Güterverkehr zu mehr als zwei Dritteln aus Straßengüternahverkehr besteht, der nicht verlagerbar ist, sondern höchstens besser koordiniert werden kann.
Wer das Auto verteufelt, muß wissen, daß er damit die Wirtschaft ruiniert. Wie anders ist die Aussage der SPD zu verstehen, daß unser Straßen- und Autobahnnetz seine Funktionsfähigkeit einzubüßen droht und Wirtschaftsverbände hierin bereits eine Gefährdung des Produktionsstandorts Deutschland sehen? DieseAussage Ihrer finanzpolitischen Sprecherin ist sehr wahr.Damit es nicht soweit kommt, ist weiterhin Straßenbau notwendig, u. a. auch deswegen, weil sich die Verkehrspolitik bisher an der Arbeitsgesellschaft orientiert hat, während an die Freizeitkultur kaum gedacht wurde. Nurmehr jeder vierte Autokilometer wird heute für Berufszwecke zurückgelegt. Für unsere Bevölkerung ist das Auto ein Freizeit- und Urlaubsmobil geworden. Jährlich finden in Deutschland ca. 1 Milliarde Tagesausflüge statt.
In einer zukunftsorientierten Verkehrspolitik muß deshalb auch die Koordination von Wohnen, Arbeiten, Konsum und Lebensgenuß Beachtung finden. Wir realisieren mit dem vordringlichen Bedarf, daß das Bundesautobahnnetz auf eine Länge von rund 13 300 km, davon ca. 2 900 km in den neuen Bundesländern, anwachsen wird — weit entfernt von den verkehrspolitischen Zielen des Verkehrsministers Leber, der in einer sehr bemerkenswerten Broschüre ausgeführt hat, daß 85 % der Bevölkerung unseres Landes nur noch in maximal 10 km Entfernung zur nächsten Autobahnauffahrt wohnen werden.Bis zum Jahre 2010 sollen 5 400 km Bundesstraßen — davon 1 500 km in den neuen Ländern — ausgebaut und neu gebaut werden. Darin sind allein 4 700 km Ortsumgehungen enthalten. Herr Kollege Feige hat Wismar angesprochen. Täglich fahren 40 000 Autos durch Wismar. Diese Ortsumgehungen dienen der Verkehrssicherheit in den Dörfern, Städten und Gemeinden. Viele Verkehrsunfälle können durch sie vermieden werden. Ortsumgehungen dienen nicht der Erzeugung von mehr Verkehr, sondern dem Schutz und der Sicherheit der Bürger. Dies ist für mich Menschenschutz und aktiver Umweltschutz.
Die SPD fährt zunehmend die Doppelstrategie, daß ihre Abgeordneten im Wahlkreis Straßen fordern, und diese dann in Bonn publikumswirksam ablehnen — wahrlich kein Beitrag zu einer glaubwürdigen Verkehrspolitik!
Es kann auch nicht hingenommen werden, wenn einzelne Verkehrsträger bewußt gegeneinander ausgespielt werden. Wie eine Untersuchung der Universität Karlsruhe zeigt, ist eine profitable Bahn auf die Straße als Zubringer angewiesen. Daraus folgt: Straße und Schiene sind ebensowenig Konkurrenten wie im übrigen Bahn und Binnenschiffahrt. Wir brauchen kein Konkurrenzdenken, sondern eine volkswirtschaftlich sinnvolle Arbeitsteilung und Vernetzung der Verkehrsträger, damit die arteigenen Vorteile aller Verkehrsträger optimal genutzt werden können.Es freut mich ganz besonders, daß die SPD ihre Verweigerungshaltung zum Rhein-Main-Donau-Kanal —„ Dümmstes Bauwerk seit dem Turmbau zu Babel" — aufgegeben hat und mit ins Boot gestiegen ist. Beim weiteren Donauausbau, dem Projekt 17
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9787
Renate BlankDeutsche Einheit und dem Elbeausbau wird sich dann ja zeigen, welche Bedeutung die SPD der ökologischen Binnenschiffahrt zumißt.Das zentrale Anliegen der Verkehrspolitik, nämlich die Förderung des kombinierten Verkehrs zwischen Straße, Bahn und Schiff, liegt auch dem Verkehrswegeplan für das größer gewordene Deutschland zugrunde. Der kombinierte Verkehr erhält gerade durch die Bündelungs- und Verteilfunktion eines Güterverkehrszentrums eine noch bessere Ausgangsbasis. Der Ausgestaltung der Schnittstellen sowie der verkehrsträgerübergreifenden Anwendung der Informationstechnologie kommt deshalb eine entscheidende Bedeutung zu. Die Logistik der Unternehmen ist gefordert, die sich hier bietenden Chancen unter Einsatz modernster Technik noch stärker als bisher zu nutzen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verkehrsprobleme sind nicht durch Technikfeindlichkeit oder eine sture Verweigerungshaltung zu lösen, sondern ausschließlich durch ein neues Verkehrsmanagement. Vergessen wir nicht, daß Verkehrspolitik, Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik in einem engen Zusammenhang stehen! Kollege Daubertshäuser, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik sind absolut nicht voneinander zu trennen.
Damit unsere Zukunft nicht auf der Strecke bleibt, unterstützt die CDU/CSU-Fraktion den vorgelegten Bedarfsplan.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Margrit Wetzel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das hier vorliegende Maßnahmengesetz — ich halte die Drucksache einmal hoch, damit es die Besucher sehen können — erdrückt nicht nur durch Umfang und Gewicht, sondern es bedrückt auch, und zwar in erheblichem Maße; nicht wegen des Zieles, so schnell wie möglich die Hochgeschwindigkeitsstrecke der Eisenbahn zwischen Berlin und Hannover zu realisieren, denn in dieser Zielsetzung sind sich alle einig, die betroffen sind, quer durch die Kommunen, durch die Länder, durch die Parteien. Es gibt keinerlei Widerstand gegen dieses Ziel.
— Das wollen wir gleich einmal sehen, Herr Fischer.
Der Gesetzentwurf trifft auf unseren Widerstand, weil er ein einziger Beleg dafür ist, daß demokratische Grundrechte, die sich die Bürgerinnen und Bürger im Osten von der Freiheit einer rechtsstaatlichen Verfassung erhofft hatten, auf der Strecke bleiben — und dies gründlich. Dieser Gesetzentwurf nimmt — das ist äußerst perfide daran
— das ist äußerst perfide, wenn Sie das verstehen
— eine alte DDR-Planung mit einer Trassenführung
auf, die in jenem System natürlich nicht in Frage gestellt werden konnte. Die Blockparteien lassen grüßen!
Was passiert jetzt? — Das Parlament wird als Planfeststellungsbehörde mißbraucht, — —
Frau Dr. Wetzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jobst?
Frau Kollegin Dr. Wetzel, Sie haben hier von Grundrechten gesprochen. Sprechen Sie den Bürgern in den neuen Bundesländern das Recht ab, besser zu leben, mehr Wirtschaftswachstum zu haben?
Herr Dr. Jobst, ich würde meine zusätzliche Redezeit natürlich ausgesprochen gern nutzen, Ihre Frage zu beantworten. Ich tue das aber nicht, sondern verweise Sie darauf, daß ich im Verlauf meiner Rede genau auf diesen Punkt eingehe. Sie haben uns heute in den Wortbeiträgen so oft unterstellt, daß wir Verkehr und Wirtschaftswachstum nicht vernünftig miteinander in Einklang bringen könnten.
Ich möchte Ihnen gern ein bißchen zeigen, welche Fehler die Regierung gerade mit diesem speziellen Gesetzentwurf macht,
möchte aber dem nicht vorgreifen. Einverstanden?
— Danke.
Das Parlament wird als Planfeststellungsbehörde mißbraucht,
weil man sich über konkrete Forderungen nach Untersuchung alternativer Trassenverläufe hinwegsetzen will, weil, wie es im Gesetzentwurf dazu heißt — der Minister nickt; vielen Dank, Herr Krause —,
... in besonders starkem Maße öffentliche und private Belange mit der Folge berührt sind, daß ein entsprechend höherer Zeitbedarf für die Durchführung von Planfeststellungsverfahren mit Sicherheit zu erwarten ist.
— Nein, das ist kein Grund zum Lachen; nun hören Sie doch bitte auf!
Verehrte Frau Kollegin, der Abgeordnete Krause möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Auf die freue ich mich besonders, Herr Präsident.
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9788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Könnten Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß Sie sich geirrt haben? Ich habe nicht genickt.
Herr Krause, entweder sind Sie eingenickt,
oder Sie haben möglicherweise mir zugenickt und vielleicht nicht richtig zugehört. In jedem Falle habe ich deutlich gesehen, daß Sie genickt haben. Ich habe es wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Herr Kollege Krause, bevor Sie, wenn die Kollegin Wetzel das gestattet, eine weitere Zwischenfrage stellen, möchte ich dies gern zu folgender Bemerkung nutzen, Frau Kollegin: Es ist für den Präsidenten immer sehr schwierig — weil er keine Ordnungsgewalt über die Regierungsbank hat —, wenn die Abgeordneten, die gerade am Rednerpult sind, auch noch die Mitglieder der Regierung zu irgendwelchen Gesten oder Zurufen provozieren. Ich nutze jetzt nur diesen Vorgang, um das einmal grundsätzlich loszuwerden.
Bitte, Herr Kollege Krause.
Würden wir darin übereinstimmen, daß das Wort „nicken" im Deutschen mit mehreren Inhalten besetzt ist, daß ich zwar eingenickt bin, aber Ihnen natürlich nicht zugenickt habe?
Denn es ist ja klar, daß man bei dem Beitrag einnicken kann.
Ich habe die letzte Bemerkung akustisch nicht verstanden. Insofern mögen Sie mir verzeihen, daß ich nicht darauf eingehe.
Ich kann es im Protokoll nachlesen; das ist kein Problem. Ich mache es dann wie die Regierung: Ich stelle Ihnen die Antwort auf Ihre letzte Bemerkung, die ich leider akustisch nicht verstanden habe, schriftlich zu. Einverstanden?
Worum geht es hier eigentlich wirklich? Die geplante Hochgeschwindigkeitstrasse verläuft nahezu vollständig auf der vorhandenen Bahntrasse, nur an einem einzigen Punkt nicht: in Stendal. Die Stadt Stendal hat die ernsthafte Untersuchung verschiedener Streckenvarianten, Trassenführungen und Bauausführungen, die Prüfung der Durchfahrung des bestehenden Hauptbahnhofs, einer Tunnellösung und die Prüfung der baulichen und betrieblichen Auswirkungen der Verknüpfung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs mit dem normalen Bahnverkehr vergeblich verlangt. Diese Bahnstrecke ist eine Investition für die nächsten 100 Jahre. Sie wird eine zentraleRolle im internationalen Ost-West-Verkehr spielen. Die Stadt und die Altmark erwarten von der Einbindung in die Hochgeschwindigkeitsstrecke neue Möglichkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung — ich bitte Sie, hier jetzt wirklich zuzuhören — und fürchten, daß die geplante Umfahrung zu einem Hemmnis für den wirtschaftlichen Aufschwung wird, daß sie die Angleichung der Lebensbedingungen der Bürgerinnen und der Bürger in der Altmark, Herr Minister, nicht fördert, sondern hindert. Die Stadt Stendal wird in ihren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt — zugunsten einer höheren Standortattraktivität, zugunsten angeblich erhöhter Investitionsbereitschaft im Großraum Berlin. Das ist das ausdrücklich erklärte Ziel in der Gesetzesbegründung dieses Maßnahmengesetzes.
Herr Minister, liebe Kolleginnen und Kollegen, glauben sie wirklich daran, daß die Investitionsbereitschaft im Großraum Berlin durch die Südumfahrung Stendals steigt? Ist das nicht vielmehr eine Frage von Grundstückspreisen, von Eigentumsverhältnissen oder auch des geplanten Umzugs des Parlaments in die Bundeshauptstadt?Wer also mit der Behauptung, Investitionsentscheidungen fördern zu wollen — und das tut die Regierung —, wesentliche Bestandteile unserer Rechtsordnung außer Kraft setzt, der muß sich fragen lassen, was er eigentlich im Schilde führt. Geht es in Wahrheit nicht doch darum, demokratische Rechte bewußt und gezielt abzubauen und dafür fast beliebige Platzhalter zu mißbrauchen? Von dieser Art Einzelgesetz stehen uns nämlich nicht 17, wie hier behauptet wurde — es sind 17 Einzelprojekte —, sondern Dutzende, vielleicht Hunderte ins Haus. Damit lähmt die Regierung die Arbeitsfähigkeit der Abgeordneten. Wir sollen einen vermeintlichen Zeitgewinn einbringen, aber in Wirklichkeit tragen wir Teile unserer demokratischen Rechtsordnung zu Grabe und bewirken de facto mit großer Sicherheit eine erhebliche Verzögerung der Maßnahme, wenn wir auch nur annähernd ernsthaft versuchen wollen, mit diesem Gesetzentwurf sachgerecht umzugehen.Die Rechtswirksamkeit unserer Entscheidung als Parlament entspricht dem Beschluß einer Planfeststellungsbehörde. Wir entscheiden über Trassenverläufe, bautechnische Details, über die Abwägung privater und öffentlicher Belange, über alle endgültigen Festlegungen eines Verkehrsweges. Wir entscheiden über die Details des Schallschutzes, die Versorgungsleitungen, die Regelquerschnitte der Bahn, die Lage- und Höhenpläne und die Einzelbauwerke. Wir prüfen — und zwar verantwortlich — die Grunderwerbspläne und die Ergebnisse der landesplanerischen Begleitplanung.Das alles tun wir vielleicht nur auf der Grundlage eines Erläuterungsberichtes, der uns von vornherein suggeriert, wir hätten geprüft und abgewogen — ohne Kenntnis der Raumordnungsunterlagen, ohne Kenntnis der Umweltverträglichkeitsstudien, die jeweils einen ähnlichen Umfang wie das vorliegende Gesetzeswerk haben, ohne Ortskenntnis, ohne die technischen und verwaltungsrechtlichen Voraussetzungen zu kennen, d. h.: einfach so aus dem hohlen Bauch.
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Dr. Margrit WetzelVermutlich erfolgt die sogenannte Abwägung qua Abstimmung und Mehrheitsentscheidung. Ich frage mich, ob Sie das unter Bürgernähe und Demokratie verstehen.
Kollegin Wetzel, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gries gestatten?
Wenn sie mir nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Sie wird nie auf die Redezeit angerechnet, auch diesmal nicht. — Herr Kollege Gries.
Frau Kollegin Wetzel, ist Ihnen bekannt, daß alles das, was Sie jetzt aufgezählt haben, dem normalen Gang eines Planfeststellungsverfahrens entspricht, in dem von Beamten — von der lokalen bis zur ministeriellen Ebene — geprüft und dann von ihnen entschieden wird, daß sich alles das bei dem Maßnahmegesetz in der gleichen Weise vollzieht, mit dem einen Unterschied, daß am Ende dieses administrativen Prozesses nicht allein die Verwaltungsentscheidung, sondern zusätzlich noch die Parlamentsentscheidung steht? Würden Sie mir zugeben, daß das eher eine qualitative Verbesserung als eine Verschlechterung ist?
Nein, Herr Gries, das würde ich Ihnen nicht zugeben. Sie haben natürlich recht mit der Schilderung des Ablaufs. Aber bei einem normalen Verfahrensgang ist in dem planungsrechtlichen Verfahrensablauf immer auch eine parlamentarische Kontrolle eingebaut. Das heißt: Die Kommunalparlamente, die Länderparlamente werden beteiligt; alle möglichen Kontrollen sind vorhanden.
— Ich habe auch schon einige Planungsverfahren mitgemacht, Herr Gries, und als Kommunalpolitikerin dazu Stellung genommen; ich weiß, wie das läuft. Genau diese ganzen Kontrollinstanzen fallen jetzt weg, die Beteiligung und die Mitwirkungsmöglichkeiten.
— Ich reiche leider nicht, Herr Fischer. Denn Sie haben die Mehrheit; das ist das Problem. Es wäre ja schön, wenn ich die Entscheidung allein treffen könnte; nur, es ist leider nicht so. Tatsache ist, daß wir als Parlament — Herr Gries, das wissen Sie ganz genau, Sie lügen sich jetzt in die eigene Tasche — diese Regelungen, die uns hier fertig auf dem Silbertablett serviert werden, nur noch absegnen sollen und damit die Verantwortung für das übernehmen, was niemand auf dem parlamentarischen Weg wirklich geprüft hat. Das ist der eigentliche Punkt.
Und diese Abwägung sollen wir auch noch gerichtsfest vornehmen. Ich habe zwar viel Vertrauen in dieses Parlament, aber wenig Vertrauen in die entsprechende Sachkenntnis der einzelnen Abgeordneten.
Ich sage dazu gleich noch etwas.
Kollegin Wetzel, der Kollege Gries hat offensichtlich das dringende Bedürfnis nach einer weiteren Zwischenfrage. Ich habe das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, daß diese Fragen kurz zu stellen sind, damit auch kurze Antworten möglich sind.
Ich habe nur die Frage an Frau Kollegin Wetzel, ob sie mir einen einzigen Fall aus irgendeinem Bundesland — Sie kommen aus Hamburg; da mag das anders sein — nennen kann, in dem eine parlamentarische Kontrolle der Planfeststellungsentscheidung der Verwaltung stattgefunden hat.
Das ist natürlich eine geschickte Frage, Herr Gries.
— Moment, Sie lachen viel zu früh. Das zeigt, daß Sie keine Ahnung haben.
Sie, Herr Gries, haben eben gefragt, ob mir ein Fall bekannt sei, wo es beim Planfeststellungsbeschluß so ist. Hier geht es um das gesamte Verfahren. Wir haben beim Investitionsmaßnahmegesetz ein absolut verkürztes Verfahren. Sie wissen genau — ich nehme als Beispiel einen Fall aus Niedersachsen, die A 26, bei dem ich konkret betroffen war; diese Planung habe ich exakt verfolgt, Stellungnahmen selber abgegeben —, daß im Zuge eines ordnungsgemäßen Verfahrens die demokratischen Mitwirkungsrechte der Parlamente gegeben sind.
Wenn Sie es jetzt auf den Planfeststellungsbeschluß reduzieren, dann ist das einfach unzulässig.
Dieser Gesetzentwurf ist meines Erachtens ein Stück aus dem Tollhaus. Wie soll es denn nun weitergehen, Herr Minister? — Ich würde Sie bitten, zuzuhören; denn ich wäre schrecklich froh, wenn Sie mir darauf eine Antwort gäben.Wie soll es mit dem angeblichen Zeitgewinn weitergehen? Wird nun das ganze Parlament zur Ortsbesichtigung nach Stendal fahren? Wird eine Anhörung der Planungsgesellschaft, der betroffenen Gemeinden, der Umweltverbände oder der einwendenden Bürger
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Dr. Margrit Wetzelhier im Plenum erfolgen? Wie haben wir uns das vorzustellen? Oder sollen die Ausschüsse für Recht, Verkehr, Umwelt und Raumordnung vielleicht gemeinsam einige Tagungswochen in Stendal abhalten? Das wäre vielleicht noch eine Idee, damit umzugehen.Ich denke, ein Hinweis muß unbedingt noch kommen: Ich frage mich, ob die mangelnde Seriosität dieses ganzen Unterfangens nicht auch schon daran zu erkennen ist, daß bei den Überweisungsvorschlägen an die Ausschüsse offensichtlich übersehen wurde, den Ausschuß für Landwirtschaft und, was viel schlimmer ist, den Ausschuß für Wirtschaft zu beteiligen. Sie haben die Wirtschaft heute so oft im Munde geführt und nicht einmal bemerkt, daß es hier um die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern geht, eine Überweisung an den Ausschuß für Wirtschaft aber nicht vorgesehen ist. Das finde ich schon ein bißchen eigentümlich.Nun zu dem, was Herr Daubertshäuser versprochen hat, einige Ausführungen darüber, wie wir uns eine zügige Realisierung nicht nur dieser Eisenbahnstrecke, sondern aller wichtigen Verkehrsprojekte — vorstellen: Wir wollen eine Verfahrensbeschleunigung, die dem Ziel dient, die mit einem Verkehrsprojekt verbundenen Probleme schnell und rechtzeitig zu erkennen, statt sie zu ignorieren. Transparenz der Planung und demokratische Mitwirkung der Öffentlichkeit, umfassende und frühzeitige Prüfung von Umweltverträglichkeit, aber auch der realistischen Entwicklungschancen der Wirtschaft — das wurde hier nämlich übersehen — sind demokratisch gewachsene Errungenschaften, deren Preisgabe eindeutig die Akzeptanz und auch die Qualität der Planung gefährdet. Das sieht man an diesem Fall.Sie haben alle unsere konkreten Vorschläge zur Beschleunigung der Verkehrswegeplanung bereits beim Beschleunigungsgesetz außer acht gelassen. Heute beklagen Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf, daß es noch keine Erfahrungen über die Beschleunigungswirkung Ihres Gesetzes gibt. Sie klagen über die mangelnde personelle Ausstattung der Länder, die Sie selbst zu verantworten haben, weil Sie unsere entsprechenden Forderungen abgelehnt haben. Sie klagen, daß Zeit verlorengeht, weil Sie keine Fristen für die Erarbeitung von Planfeststellungsbeschlüssen gesetzt haben.Wir haben Ihnen Planungsbeschleunigung für das ganze Deutschland — vielleicht können Sie sich an die Drucksache erinnern — vorgeschlagen: durch geregelte, frühzeitige Einbindung aller Betroffenen, durch strenge Fristsetzung, durch verbessertes Projektmanagement, durch die Verringerung der Anforderungen an Detailgenauigkeit bei den Voruntersuchungen und im Raumordnungsverfahren, durch Entgegenkommen auch beim Grunderwerb und vor allem auch durch zeitliche Straffung bei den Gerichtsverfahren. Darüber hinaus haben wir Ihnen eine breite, überparteiliche Unterstützung für zügige Planung zugesagt, die Mitwirkung eröffnet, statt sie zu unterbinden.Deshalb, Herr Minister, es nützt nichts: Je mehr dieser Gesetzespakete Sie uns vorlegen, desto stärker spannen Sie sich selbst die Fußangeln, über die Sie fallen werden. Wachen Sie auf! Ziehen Sie IhrenGesetzentwurf zurück, Herr Krause — er scheint noch immer zu nicken —, bevor noch mehr Zeit verlorengeht! Greifen Sie unsere Beschleunigungsvorschläge auf, und lassen Sie uns die wirklich wichtigen Verkehrsprojekte, die wir nicht in Frage stellen, in einem breiten, überparteilichen Konsens schnell realisieren. Das heißt: Schlafen Sie nicht; wagen Sie endlich ein bißchen mehr Demokratie!
Als nächster hat der Kollege Roland Kohn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem meine Vorrednerin die Nickproblematik in den Mittelpunkt dieser Debatte gestellt hat,
möchte ich hier für meine Fraktion festhalten: Wir Liberalen stimmen der Südumfahrung Stendals zu, nicht weil wir Gesetzentwürfe der Bundesregierung grundsätzlich abnicken, sondern weil wir unserer Verantwortung gegenüber Ostdeutschland für die Herstellung gleicher Lebensbedingungen konkret gerecht werden wollen.
Lassen Sie mich hier vier Fragen diskutieren.
Erste Frage: Welches Ziel verfolgt die F.D.P. in der Verkehrspolitik?
Im Interesse der Umwelt wollen wir mit marktwirtschaftlichen Mitteln erreichen, daß alle Verkehrträger miteinander vernetzt werden und auf Grund ihrer systemspezifischen Stärken und gleicher Wettbewerbsbedingungen ihren Anteil am Verkehrsmarkt selbst erarbeiten und erreichen können.
Klar ist dabei, daß Mobilität von Personen und Gütern immer mehr ein knappes Gut in unserer Wirtschaft sein wird.Zweite Frage: Welche Rolle kommt bei der Verfolgung dieses Ziels dem Schienenverkehr zu? Die Schiene ist ebenso wie die Wasserstraße ein eher umweltfreundlicher Verkehrsträger. Deshalb will die F.D.P., daß der Anteil des Schienenverkehrs am gesamten Verkehrsaufkommen der Zukunft nicht weiter dramatisch zurückfällt wie in der Vergangenheit, sondern im Gegenteil durch attraktive Verkehrsangebote gesteigert werden kann.Dritte Frage: Welche Vision haben wir von der Bahn der Zukunft? Die F.D.P. will, daß die Behörde Bahn zu einem modernen Verkehrsdienstleistungsunternehmen fortentwickelt wird, das auf Grund attraktiver und wettbewerbsfähiger Angebote seinen Platz im Verkehrsmarkt behaupten kann. Dazu wollen wir die Trennung von Fahrweg und Betrieb: der Fahrweg privatrechtlich organisiert im Bundesbesitz als Auf-
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Roland Kohngabe staatlicher Daseins- und Zukunftsvorsorge, der Betrieb in getrennten Aktiengesellschaften für Güterund Personenverkehr und in einer Übergangszeit im Bundesbesitz.Weiter wollen wir die Öffnung des Fahrwegs für Dritte, die Regionalisierung des Nahverkehrs, ohne uns dabei aus unserer finanziellen Verantwortung herausstehlen zu wollen.
Wir wollen auch die schrittweise Beseitigung aller Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn.Vierte Frage: Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Bundesschienenwegeausbaugesetz zu? — Ein langes und schreckliches Wort für eine richtige und gute Sache. Mit diesem Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, wird endlich eine alte Forderung der liberalen Verkehrspolitiker erfüllt, nämlich die rechtliche Gleichstellung von Straße und Schiene.Der vorliegende Entwurf des ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplans stärkt massiv den Schienenverkehr, für den wir höhere Investitionen als für die Straße vorgesehen haben. Durch Einsatz moderner Technik — Stichwort: intelligente Bahn — und durch Neu- und Ausbau müssen die Schienenkapazitäten in ganz Deutschland schnell vergrößert werden. Wir wollen die Vorteile einer gesetzlichen Bedarfsfeststellung bei der Planung nutzen und uns als nationales Parlament zu unserer gesamtstaatlichen Verantwortung für den überregionalen Schienenverkehr in Deutschland bekennen. — Erfreulicherweise gibt es in dieser Zielrichtung auch Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten.Fazit der Liberalen: Wer die rechtliche Gleichbehandlung von Straße und Schiene und die Stärkung des Parlaments gegenüber der Exekutive will, muß mithelfen, daß das von den Koalitionsfraktionen vorgelegte Schienenausbaugesetz schnell in Kraft treten kann. Deshalb mein Appell: Stellen wir jetzt die Weichen; und ich füge gerade am heutigen Tage hinzu: aus dem Wasserwerk in eine noch bessere Zukunft!
Nun für die Zukunft von Stendal der Kollege Reinhard Weis.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie können jetzt die Meinung der Bürger aus den neuen Bundesländern vor Ort zu diesem Projekt erfahren.
— Nein, nicht nur der SPD-Angehörigen und -Sympathisanten.Nachdem meine Kollegen Daubertshäuser und Wetzel bereits eingehend zu den vielschichtigen und grundsätzlichen Problemen des Bundesverkehrswegeplanes Stellung genommen haben und dabei auch auf das uns vorliegende erste Investitionsmaßnahmengesetz zur Südumfahrung Stendals eingegangensind, erlauben Sie mir, aus der unmittelbaren Ortskenntnis heraus auf die Problematik dieses Gesetzes noch einmal gezielt einzugehen.Zunächst darf ich Ihnen sagen: Wir begrüßen die geplante Hochgeschwindigkeitsstrecke HannoverStendal-Berlin und den damit verbundenen Ausbau der vorhandenen Stammstrecke ausdrücklich. Diese Bahnlinie wird die Verbindung zwischen Berlin und dem Raum Hannover sowie den Industriezentren Nordrhein-Westfalens erheblich verkürzen und dem Verkehrsträger Bahn wichtige Vorteile bringen. Gleichzeitig kann die Verbindung erheblich zur Strukturverbesserung im Norden von Sachsen-Anhalt beitragen, vorausgesetzt, sie wird durchgehend entlang der bisherigen Streckenführung realisiert.Der uns vorliegende Gesetzentwurf entspricht dem nicht, weil er gerade am historischen Bahnknotenpunkt Stendal einen Bogen um die Stadt macht. Er ist auch keineswegs auf Grund einer ausgiebigen Abwägung der verschiedenen Varianten zustande gekommen. Eine Südumfahrung Stendals entspräche vielmehr der zu DDR-Zeiten aufgestellten Prämisse von Transitverbindungen, die isoliert und ohne Nutzen für das Umland sind.Die geplante Südumfahrung legt sich wie ein Korsett um meine Heimatstadt. Die Trassenführung zerschneidete das Mittelzentrum Stendal-Tangermünde, blockiert große Flächen, verbraucht viel Landschaft und hindert damit die strukturelle Entwicklung der Region erheblich mit nicht zu unterschätzenden mittelbaren Folgekosten.Die Behauptung im landespflegerischen Begleitplan des Gesetzeswerkes, nachzulesen auf Seite 383, wonach der Eisenbahnknotenpunkt Stendal durch das geplante Vorhaben verbessert wird, ist schlichtweg falsch. Die Stadt — und das sind die Bürger aus den neuen Bundesländern, denen Sie hier kritiklose Akzeptanz des Gesetzeswerkes nachgeredet haben — hat deshalb gegen das Ergebnis eines bereits durchgeführten Raumordnungsverfahrens, das keinen ehrlichen Variantenvergleich enthielt, geklagt. Sie bevorzugt eindeutig eine entlang der bisherigen Streckenführung liegende Tunnelquerung des Bahnhofs Stendal, was auch jüngst erst durch das Votum aller Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung erneut gefordert wurde.Durch eine abzusehende Verlagerung des Güterumschlags nach Magdeburg-Rothensee und Wustermarkt die neuen Güterverteilzentren, werden auf dem Bahnhofsgelände Stendal zudem Flächen frei, so daß auch eine ebenerdige Durchfahrt zu prüfen wäre. Dies wäre die preiswerteste Lösung, die sich auch am schnellsten realisieren ließe. Beide Varianten wurden nicht vorurteilsfrei untersucht.Es geht aber nicht nur um die Trassenführung selbst. Wie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg liegt Stendal am Kreuzungspunkt der kürzesten Bahnverbindungen von Leipzig über Magdeburg nach Rostock, von Hannover nach Berlin und von Berlin nach Bremen bzw. Hamburg. Ein von Stendal geforderter Systemhalt ist deshalb naheliegend und sinnvoll. Dazu aber brauchen wir keine Südumfahrung.
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Reinhard Weis
Sie ist überflüssig, weil sie den Systemhalt verhindert.Doch ist es überhaupt sinnvoll, mit einem Maßnahmengesetz hier in Bonn die Trassenführung per Gesetz festlegen zu wollen? Die Frage ist schon mehrfach gestellt worden. Ist das nicht Bürgerferne? Sind da nicht Fehler geradezu vorprogrammiert? Ich kann sie Ihnen nennen.Wer von Ihnen hat beispielsweise auf Grund seiner Ortskenntnis bereits feststellen können, daß in allen dem Gesetzentwurf beigefügten Plänen ein in der Nähe der Trasse liegender Neubaustadtteil, in dem fast 10 000 Menschen leben, gar nicht verzeichnet ist? Wer von Ihnen kennt das Umweltgutachten zum Raumordnungsverfahren, in dem die Südumfahrung wegen des Landschaftsverbrauchs als sehr bedenklich abgelehnt wird? Wer von Ihnen ahnt den Flächenverbrauch für notwendige Streckenverknüpfungen, die überhaupt nicht Bestandteil des vorgelegten Gesetzes sind?Ich erlaube mir hier festzustellen, daß es für jeden von Ihnen unmöglich ist, überhaupt zu erfassen, was die beabsichtigte Südumfahrung Stendals für die Entwicklung dieser Stadt bedeutet. Für die Ausschußberatung empfehle ich Ihnen deshalb, das vorliegende Maßnahmengesetz abzulehnen. Das Neubauvorhaben der Schnellbahn Hannover-Berlin würde dadurch übrigens in keiner Weise behindert. Eine Aufnahme des ICE-Verkehrs 1997 kann auch ohne Südumfahrung Stendals erfolgen, weil im Abschnitt Stendal eine Verknüpfung der Stamm- mit der Neubaustrecke vorgesehen ist und keine Lücke bleibt. Im Gegenteil, es bestünde die Möglichkeit, eine von DDR-Altlasten freie, bedarfsgerechte Lösung gemeinsam mit den Menschen vor Ort zu finden. Das wäre ein äußerst konkretes Beispiel für die immer wieder geforderte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Kollege Horst Gibtner zu uns.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht allzuoft, daß sich der Deutsche Bundestag mit verkehrspolitischen Themen im Plenum befaßt. Aber es ist in dieser Legislaturperiode schon die dritte Plenarsitzung zu diesem Thema. Das zeigt: Verkehrspolitik wird zunehmend zu einem Bereich von außergewöhnlicher Bedeutung. Denn Fortbewegung ist für uns alle, auch für den Kollegen Dr. Feige, zu einem Bestandteil nicht nur der Lebensqualität, sondern des Lebens schlechthin geworden.Andererseits können wir, das stimmt, ein ungebremstes Mobilitätswachstum nicht weiter hinnehmen. Auch wenn es nahezu der Quadratur des Kreises gleicht: Die Mobilitätsinteressen müssen mit den Umweltinteressen und den finanziellen Möglichkeiten in Einklang gebracht werden.Meine Damen und Herren, dies alles ist Gegenstand der Verkehrspolitik. Niemand würde sich doch zu derBehauptung aufschwingen, daß die deutsche und die europäische Verkehrspolitik schon alle ihre Hausaufgaben erledigt hätten. Aber diese Regierungskoalition und diese Bundesregierung arbeiten zielstrebig an der Realisierung eines Gesamtverkehrskonzepts,
nicht aber an der Realisierung eines Gesamtverkehrsverhinderungskonzepts, wie uns einige Kolleginnen und Kollegen von dieser Seite heute schon mehrfach einreden wollten.Es ist eine unzutreffende Unterstellung zu sagen, der Bundesverkehrswegeplan sei die einzige Leistung der gegenwärtigen Verkehrspolitik. Zu trifft, daß er ihr unverzichtbarer Bestandteil ist.Was uns BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/ Linke Liste heute wieder an weltfremder Ideologie vorgetragen haben, ist kaum noch zu überbieten. Wie können Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ernstgenommen werden, die dem Deutschen Bundestag Anträge vorlegen, auf den Ausbau des Verkehrswegenetzes zu verzichten! Zu allem Überfluß stammen diese Menschen aus den neuen Bundesländern, wo es wahrhaftig keine intakte Infrastruktur gibt.Was soll die heute von der SPD wieder vorgetragene Polemik gegen einen ausgewogenen Ausbau der Straßen angesichts von Staus und Unfallschwerpunkten in West und Ost? Gerade im Straßennetz kündigt sich der Verkehrsinfarkt heute schon am deutlichsten an. Ich kann mir nicht vorstellen, wie mir irgend jemand in diesem Hause erklären will, daß der Verkehrsinfarkt besonders umweltfreundlich sei und die Lebensqualität erhöhen würde.Es ist ferner eine vordergründige Falschaussage, daß der Ausbau von Schienenwegen im Ansatz des Bundesverkehrswegeplanes ungenügend berücksichtigt sei. Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Gesetzesinitiativen Schienenwegeausbaugesetz und Investitionsmaßnahmengesetz Südumfahrung Stendal. Dabei wird sich nämlich erweisen, meine Damen und Herren von der Opposition, ob Ihnen der zügige Ausbau des Schienennetzes wirklich am Herzen liegt.
— Natürlich habe ich zugehört. Und ich will Ihnen sagen: Ich bin der Überzeugung, daß der Entwurf des neuen Bundesverkehrswegeplans nahezu der Goldene Schnitt der Verkehrswegeplanung ist,
und zwar aus folgendem Grunde. Die Verkehrsträger sind in einem angemessenen Verhältnis zueinander berücksichtigt, und es ist eine bedarfsgerechte Aufteilung der Projekte auf die einzelnen Regionen unseres Landes vorgenommen worden. Dabei sind die neuen Bundesländer mit 30 % des Gesamtumfangs gebührend, ja, hervorragend berücksichtigt. Noch mehr kann man nämlich an Planungsarbeiten und Baustellen kaum noch verkraften.
Was wir bewältigen müssen, meine Damen und Herren, darf nicht auf die lange Bank geschoben
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Horst Gibtnerwerden und nicht auf der Verwaltungsbank steckenbleiben. Deswegen haben wir das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz verabschiedet, das sich nun zu bewähren beginnt. Auf Dauer zwingen uns die langen Verfahren auch zu einer Veränderung des Planungsrechts westdeutscher Prägung hin zu beschleunigten Verfahren. Ich freue mich, daß wengistens in dieser Beziehung die SPD in der gleichen Richtung denkt.Eine noch intensivere Möglichkeit zur Beschleunigung ist nach unserer Auffassung der Weg über Investitionsmaßnahmengesetze, ein Weg für Ausnahmefälle.Mit dem Entwurf für die Eisenbahnsüdumfahrung Stendal haben wir nun ein erstes solches Projekt vorliegen. Lieber Herr Weis, ich kenne das Altmarkstädtschen Stendal auch sehr gut. Ich weiß, daß die Südumfahrung Stendal nur für die Hochgeschwindigkeitszüge vorgesehen ist, die — nach den Projektunterlagen — nicht in Stendal halten werden. Und Sie müßten doch ganz genau wissen, daß die Verknüpfung der Sternstrecke mit der Hochgeschwindigkeitsstrecke gewährleistet ist und jederzeit die Möglichkeit besteht, Züge auch des gehobenen Verkehrs in Stendal halten zu lassen. Die Untertunnelung des Bahnhofs Stendal, die mit einer teilweisen Untertunnelung der ganzen Stadt Stendal verbunden ist, ist ökologisch völlig unverträglich und ökonomisch nicht zu rechtfertigen.Ich möchte es aber ansonsten ablehnen, hier im Plenum die Sacharbeit zu machen; denn wir haben hier die erste Lesung und werden die Gesetzentwürfe in die Ausschüsse verweisen. Dort werden wir uns intensiv mit ihnen beschäftigen.Der Bundesrat hatte gegen dieses Investitionsmaßnahmegesetz im wesentlichen nur Datenschutzbedenken, aber keine inhaltlichen Einwände. Nachdem nun durch eine andere Verfahrensweise die Datenschutzbedenken ausgeräumt sind, bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken mehr gegen die Möglichkeit solcher Gesetze. Im Gegensatz zur Bundesratsmehrheit stellt sich die Bundestagsopposition hier offensichtlich ins Abseits. Sie befindet sich wohl im Schwitzkasten des Umweltministers Joschka Fischer aus Hessen.Ich weiß, daß die Beschäftigung mit diesem Gesetz ein gesetzgeberischer Kraftakt werden wird, aber wir von der Regierungskoalition scheuen uns nicht vor Arbeit und scheuen uns nicht vor Verantwortung. Was wir Beamten in lokalen Genehmigungsbehörden zumuten, das werden wir uns doch wohl auch selber zutrauen.
Meine Damen und Herren, Voraussetzung für die zügige Verabschiedung eines solchen Gesetzes ist natürlich eine gute Vorarbeit der Planungsbehörden. Ich gehe davon aus, daß diese vorliegt. Wir werden uns davon überzeugen. Ich rufe alle Fraktionen und Gruppen des Deutschen Bundestages zu konstruktiver Mitarbeit auf. Wir, meine Damen und Herren, lassen uns keinesfalls davon abbringen, die Verkehrsinfrastruktur in den östlichen Bundesländern zügigaufzubauen und in den westlichen Ländern zu ergänzen. Dies ist und bleibt Bestandteil unseres Gesamtverkehrskonzepts. Jeglichem Gesamtverkehrsverhinderungskonzept werden wir uns widersetzen.
Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesem Tagesordnungspunkt nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 4 sowie zu den Zusatzpunkten 1 und 2 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es damit Einverständnis?
die Zeit!)
— Ich nehme dies als Meinungsäußerung und nicht als Widerspruch. — Die Überweisung ist damit so erfolgt.
Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung über das Zentrale Informationssystem auf Drucksache 12/3251 soll zusätzlich dem Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Besteht auch damit Einverständnis? — Auch dies ist mit einer kleinen Enthaltung und Nichtmeinungskundgebung so beschlossen.
Ich rufe damit den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Reiner Krziskewitz, Udo Haschke , Josef Hollerith, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhard Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Detlev Kleinert (Hannover), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bekämpfung der „Regierungs- und Vereinigungskriminalität"
zu dem Antrag der Abgeordneten Gerd Wartenberg , Angelika Barbe, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bekämpfung der „Regierungs- und Vereinigungskriminalität"
— Drucksachen 12/1811, 12/1306, 12/3549 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Werner H. Skowron Gerd Wartenberg
Wolfgang Lüder
Dazu haben wir im Ältestenrat vereinbart eine Aussprache von einer halben Stunde vorzusehen. Besteht damit Einverständnis? — Auch dies ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe als ersten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt den Kollegen Erwin Marschewski auf.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen" — wäre auch nur dieser
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9794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Erwin MarschewskiEindruck gerechtfertigt, müßten wir uns allergrößte Sorgen machen, ob wir die Regierungskriminalität der ehemaligen DDR mit der gebotenen Stringenz verfolgen. Es darf nicht sein, meine Damen und Herren, daß allein den Mauerschützen der Prozeß gemacht wird, während sich frühere Repräsentanten von Staats- und Parteispitze der DDR telegener Publicity erfreuen. Das wollen wir nicht, meine Damen und Herren!
Deswegen erwartet die ehemalige DDR-Bevölkerung, daß erlittenes Unrecht vollständig aufgearbeitet wird, und dies zu Recht; denn es handelt sich um sehr schwere Delikte, um Tötungen und Verletzungen an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze, um Gewalttätigkeiten des Ministeriums für Staatssicherheit, um Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung durch Stasi und Justiz, ja, um die Unterstützung in-und ausländischer Terroristen. Ähnliches Gewicht haben die Straftaten im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Ich nenne nur zwei: Parteivermögensdelikte und Transferrubel-Betrügereien.Meine Damen und Herren, bei diesen Vermögensdelikten geht es darum, insgesamt Beträge von 15 Milliarden DM zu beleuchten. Das ist der Problembereich.Ich darf in diesem Zusammenhang klarstellen: Zweifellos ist die Bewältigung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität eine nationale Aufgabe. Deswegen hat die SPD zunächst einmal den Antrag gestellt, diese Aufgabe auf das Bundeskriminalamt zu übertragen. Aber Sie wissen natürlich, meine Damen und Herren, daß die Rechtslage anders ist, daß Berlin zur Verfolgung der Taten verpflichtet ist. Der Bund kann daher nur Hilfe leisten, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD.Ich muß sagen, dieser Verpflichtung ist die Bundesregierung in jeder Hinsicht nachgekommen. Sie wissen, daß die Innenministerkonferenz beschlossen hat, eine Zentrale Ermittlungsstelle zur Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität einzurichten. Hieran beteiligt sich der Bund, wie ich meine, großzügig durch Personal- und Sachhilfe. Ich selbst, Herr Kollege Wartenberg, habe mich im Sommer dieses Jahres über die Arbeitssituation dieser Zentralstelle in Berlin informiert. Ich habe dort ein außergewöhnliches Engagement der Polizeibeamten feststellen können. Lassen Sie mich hierfür in diesem Hohen Hause ganz besonders herzlichen Dank sagen.
Dank gebührt aber auch der Bundesregierung, insbesondere dem Herrn Minister Friedrich Bohl, der sich dieser Problematik sehr intensiv angenommen hat.
Meine Damen und Herren, der Bund hat 40 Beamte nach Berlin entsandt. Wenn Sie überlegen, daß wirbeim BKA maximal 1 700 Beamte zur Verfügung haben, und wenn Sie überlegen, daß ungefähr 25 000 Beamte bei den Ländern beschäftigt sind, dann ist dies eine gute Leistung.Ich habe in Berlin erfahren, daß die Verteilung der ZERV auf sieben Stellen in Berlin sicherlich nicht von Vorteil ist. Ich begrüße es, daß wir es fertiggebracht haben, eine Zentralstelle einzurichten, und zwar im Flughafenkomplex in Tempelhof.Nach diesem Dank an die Bundesregierung ein Wort an die Bundesländer. Sicherlich haben fast alle Länder die versprochenen Beamten nach Berlin entsandt, auch Niedersachsen, wenn auch erst im Laufe dieses Monats, also mit erheblicher Verspätung. Zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang jedoch das Bundesland Bremen. Bis heute, meine Damen und Herren, ist noch kein Bremer Beamter in Berlin eingetroffen. Ich darf das hier sagen und auch ansprechen, meine Damen und Herren. Das gilt es zu kritisieren.Darüber hinaus, Herr Kollege Graf, müssen die Bundesländer ihre finanziellen Verpflichtungen für die ZERV noch aufbringen. Es geht darum, daß die Länder 50 % der Kosten für die ZERV tragen werden. Ich appelliere noch einmal vor allen Dingen an die Finanzminister der Länder. Es geht nicht an, daß die Finanzminister die Beschlüsse der Innenminister nicht erfüllen. Daher mein Appell an die Länder, nun wirklich die Verpflichtungen für die ZERV zu erfüllen, meine Damen und Herren!
— Der Bund hat seine Verpflichtungen in jeder Hinsicht erfüllt. Ich weiß, daß wir eine gewisse Zeit gebraucht haben. Aber, meine Damen und Herren, jetzt sind wir so weit, da wirklich voll einzusteigen. Ich meine, daß sich wie der Bund auch die Länder daran beteiligen sollten; denn die Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Hieran haben alle mitzuwirken. Die Strafverfolgung von Mauermorden, von Waffenhandel, von Zwangsadoptionen und anderen Unrechtstaten des DDR-Regimes muß unverzüglich eingeleitet und vorangetrieben werden. Es gilt, das von der Diktatur verübte Unrecht zu klären und aufzuarbeiten, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern, soweit dies überhaupt möglich ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.Es geht aber auch darum — ich sage dies ganz bewußt —, sich bildende Strukturen organisierter Kriminalität in den Anfängen zu stören; denn Vereinigungskriminalität ist auch Gegenwartskriminalität, die wir bekämpfen müssen.Beides sollte daher unser Ziel sein: auf der einen Seite die Vergangenheit zu bewerten und auf der anderen Seite die Probleme der Zukunft in den Griff zu bekommen.Ich darf mich bei allen Kollegen des Innenausschusses herzlich bedanken, die mit dafür Sorge getragen haben, daß wir dieses Problem, wie ich meine, einigermaßen gut in den Griff bekommen haben. Herzlichen Dank.
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Erwin MarschewskiDie Unionsfraktionen stimmen selbstverständlich der gemeinsamen Entschließung zu.
Als nächster hat der Kollege Günter Graf das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Marschewski, es wäre nicht nötig gewesen, auf das Land Bremen zu verweisen. Wir haben uns in langwierigen Beratungen verständigt und heute hier einen gemeinsamen Entschließungsantrag eingebracht. Darauf sollten wir uns beschränken.Wenn Sie Bremen in ein negatives Licht bringen — ich will dazu weiter nichts sagen —, dann möchte ich positiv herausstellen, daß die Länder Niedersachsen und Hessen zu den ersten gehörten — BadenWürttemberg und Bayern folgten —, die diejenigen, die abgeordnet werden sollten, tatsächlich entsandt haben. Das will ich als Positives von Ländern mit rot- grüner-Koalition darstellen. Ihre Äußerungen dazu wären nicht nötig gewesen.Lassen Sie mich ganz kurz auf die Ausgangssituation zu sprechen kommen: Entsprechend dem Einigungsvertrag wurde seinerzeit die Bekämpfung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität dem Land Berlin übertragen. Alle Beteiligten waren sich vom ersten Tag an klar darüber, daß das Land Berlin überfordert ist, wenn es diesen Komplex allein bewältigen soll.Die Innenpolitiker aller Fraktionen waren sich einig, daß die Bekämpfung dieser Kriminalität, was die personelle und die materielle Ausstattung angeht, vordringlich bedient werden muß.Die Innenministerkonferenz am 3. Mai 1991 hat den Sachverhalt genauso beurteilt und einen Beschluß gefaßt, das Land Berlin personell und auch materiell bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu unterstützen.Obwohl die seinerzeit gemachten Zusagen — darauf habe ich soeben schon hingewiesen — anfangs nur sehr schleppend erfüllt wurden, kann heute festgestellt werden, daß mittlerweile die Zusagen sowohl vom Bund als auch von den Ländern weitestgehend erfüllt sind.Ich will mit aller Klarheit auch sagen, daß es jetzt notwendig ist — insoweit stimme ich dem Kollegen Marschewski zu und erweitere ich seinen Appell an die Länder, aber auch an den Bund —, das, was noch aussteht, zügig zu erfüllen. Nur durch ein derartiges Handeln kann weiterer Schaden von der Bundesrepublik Deutschland abgewendet werden.Vor diesem Hintergrund — darauf hat Herr Marschewski hingewiesen — hatte die SPD-Bundestagsfraktion seinerzeit einen Antrag mit dem Ziel eingebracht, die Zuständigkeit gemäß § 5 des BKA-Gesetzes auf das BKA zu übertragen. Wir sind zwar nach wie vor der Auffassung, dies wäre eine bessere Lösung gewesen, zumal da die Maßnahme zeitlich begrenzt gewesen wäre; aber wir haben davon Abstand genommen. Die Anträge der Koalitionsparteien undauch der SPD sind erledigt. Deshalb gibt es heute den gemeinsamen Entschließungsantrag hier.Ziel unseres Antrags war es, eine nachdrückliche und effektive Verfolgung der sogenannten Regierungs- und Vereinigungskriminalität sicherzustellen, zum einen, um die Schuldigen einer entsprechenden Bestrafung zuzuführen, zum anderen, um über diese Art der Aufarbeitung der DDR-Geschichte letztlich dem Rechtsfrieden in unserer Republik zu dienen.Darüber hinaus geht es allerdings um ganz gewaltige Schadenssummen, Milliardenbeträge, die z. B. durch Transferrubelbetrügereien oder durch Betrugskriminalität im Zusammenhang mit der Treuhand oder auch im Zusammenhang mit der Währungsunion entstanden sind.Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, daß viele Verfahren wegen mangelnder personeller Ausstattung stillgelegt wurden. Darüber, was Stillegung in diesem Zusammenhang bedeutet, brauche ich hier wohl nichts weiter auszuführen.Ich meine — ich habe das eingangs gesagt —, daß es uns in vielfältigen Beratungen gelungen ist, die notwendigen Voraussetzungen für eine effektive Strafverfolgung zu schaffen. Soweit Bund und Länder — man kann es, glaube ich, nicht oft genug wiederholen — in Teilbereichen abgesprochene Leistungen nicht erbracht haben, möchte ich dies von dieser Stelle aus für die SPD-Fraktion noch einmal nachdrücklich anmahnen.Der Innenausschuß hat sich bei seinen Beratungen in den vergangenen Monaten darauf konzentriert, alles zu tun, um die Arbeitsfähigkeit der im Februar 1992 geschaffenen Zentralen Erfassungsstelle für die Bekämpfung der Regierungskriminalität sicherzustellen, und zwar bezogen auf die personelle, die sachliche und auch die räumliche Ausstattung.Die zur Finanzierung der Zentralen Erfassungsstelle von der Innenministerkonferenz zur Jahresmitte getroffene Vereinbarung begrüßt die SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Nach dieser Vereinbarung wird die Zentrale Erfassungsstelle wie folgt finanziert: 5 % tragen die neuen Bundesländer, 47,5 % werden durch die alten Bundesländer aufgebracht und 47,5 % durch das Land Berlin. Der Bund beteiligt sich an dem vom Land Berlin zu erbringenden Anteil mit 25 %. Das ergibt für das Jahr 1992/93 einen Fixbetrag von ca. 3 Millionen DM. Dieselbe Quote soll für die Jahre ab 1994 gelten.Erwähnen möchte ich an dieser Stelle noch, daß der Bundesminister der Justiz juristische Bedenken gegen Mitfinanzierung durch den Bund erhoben hat. Der Bundesminister der Justiz hat dargestellt, daß es sich hier unter dem Gesichtspunkt der verbotenen Mischverwaltung gemäß Art. 104a des Grundgesetzes bei strenger Betrachtungsweise finanzverfassungsrechtlich um unsicheres Terrain handelt. Diese Bedenken soll — so das BMJ — auch das Bundesfinanzministerium vertreten haben.Ich glaube, wir waren gut beraten, als wir uns im Ausschuß gemeinsam auf den Standpunkt stellten, daß diese Rechtsauffassung des BMJ wegen der Besonderheit des Einigungsprozesses zurücktreten
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Günter Grafmuß. Wir haben darauf hingewiesen, daß dies — wäre man dem gefolgt — eine Quasi-Amnestie der Verbrecher zur Folge gehabt hätte. Dies kann sicherlich keiner in diesem Hohen Hause wollen.Lassen Sie mich abschließend darauf hinweisen, daß der Innenausschuß in seiner Sitzung am 23. September 1992 mit Befriedigung zur Kenntnis genommen hat, daß von den 210 von der Innenministerkonferenz zugesagten Kriminalbeamten — der Bund wird sich mit 40 Kriminalbeamten beteiligen — ein großer Teil abgeordnet worden ist. Der Ausschuß hat in der besagten Sitzung an Bund und Länder, soweit sie ihre Quote noch nicht erfüllt haben, noch einmal appelliert, dies aus den bereits dargestellten Gründen bald nachzuholen. Diesen Appell möchte ich von dieser Stelle aus aufs neue nachhaltig unterstreichen.Der Ausschuß hat es auch positiv aufgenommen, daß die von ihm energisch geforderten Bemühungen des Bundesfinanzministers und des Senators für Inneres des Landes Berlin dazu geführt haben, daß für die Zentrale Erfassungsstelle mit dem Flughafengebäude Tempelhof nun ein ausreichend großes und zentral gelegenes Dienstgebäude zur Verfügung steht.Ich kann heute für die SPD-Fraktion erfreut feststellen, daß auch die Unterbringung der Beamten, für die wir uns, aber auch der gesamte Ausschuß vehement eingesetzt haben, mittlerweile auf einem guten Weg ist.Ich denke allerdings — das will ich kritisch anmerken —, wir könnten heute schon ein Stück weiter sein, hätte es nicht die Rangeleien zwischen Bundesverteidigungsminister, Finanzminister, Bundesvermögensstelle und dergleichen gegeben.Lassen Sie mich abschließend in aller Deutlichkeit meinen an Bund und Länder gerichteten Appell wiederholen, die jetzt abgeschlossenen Vereinbarungen über die Zusammenarbeit und die finanzielle Unterstützung des Landes Berlin bei der Verfolgung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität bis zu ihrer Erledigung aufrechtzuerhalten.Im übrigen möchte ich mich bei allen bedanken, die in den vergangenen Wochen und Monaten in sehr sachlicher und, wie ich denke, auch guter Atmosphäre dazu beigetragen haben, nun endgültig eine vernünftige Lösung dieses Themas zu finden.Ich bedanke mich.
Nun spricht der Kollege Wolfgang Lüder.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Friedlichkeit dieser Debatte entspricht eigentlich nicht dem, was nach unseren Erfahrungen mit diesem Thema den Verwaltungen zu sagen notwendig gewesen wäre.Die Sprache des Antrags ist sehr zurückhaltend. Sie wird — das sage ich als Mitverfasser des Antrags — der schlimmen Verwaltungsrealität, die wir bei der Beratung dieses Themas erleben mußten, nicht gerecht.
Die Bekämpfung der Vereinigungs- und Regierungskriminalität wurde von allen Seiten dieses Hauses — das wird heute aus der Debatte wieder deutlich — als vorrangige, wichtige und zentrale Aufgabe angesehen. Wir waren und sind uns über die Fraktionsgrenzen hinweg einig, daß diese Aufgabe nicht in den alten Strukturen des traditionellen Bund-LänderVerständnisses gelöst werden kann. Wir waren und sind uns einig, daß ein Verweis auf die Zuständigkeit des Landes Berlin zwar juristisch korrekt, aber politisch unzureichend ist. Ich kann an das anknüpfen, was Herr Marschewski dazu gesagt hat.In zahlreichen Sitzungen mußte sich der Innenausschuß mit der quälenden Inkompetenz mancher Verwaltungsstellen beschäftigen. Da ging es um die Bereitstellung von Mitarbeitern der Kriminalpolizeien aus Bund und Ländern — mühselig und tröpfchenweise. Als seien die Verwaltungen daran interessiert — dies sage ich mit Überlegung —, die Bekämpfung von Regierungskriminalität zu verhindern, erfüllten die Länder, anfangs auch Teile des Bundes, die selber eingegangenen Verpflichtungen zur Bereitstellung von Polizeibeamten widerwillig und zögernd. Bei der Bereitstellung von Staatsanwälten aus den Ländern war es nur wenig besser.Nahezu skandalös wurde es, als sich die beteiligten Behörden außerstande sahen, Räume in der Bundeshauptstadt zur Verfügung zu stellen, obwohl doch jedermann weiß, daß in Berlin an vorhandenen Regierungsgebäuden kein Mangel herrscht.Ich werde nicht vergessen, wie der Berliner Innensenator, der mir den Eindruck eines gehobenen Sachbearbeiters, aber nicht den einer politischen Führungskraft vermittelte, mit dem Leiter der zuständigen Abteilung des Bundesfinanzministeriums während einer Sitzung des Innenausschusses erstmals Visitenkarten austauschte, damit beide endlich miteinander telefonisch Kontakt aufnehmen konnten. Das war die Realität.
— Kommt gleich.Ich habe im Innenausschuß Ministerialdirektor Hubrich gedankt. Ich tue es auch hier, weil hier ein Beamter, ein politischer Beamter, politisches Fingerspitzengefühl für die Lösung eines Sachproblems bewiesen hat. Er hat sich dafür eingesetzt, daß hier eine Lösung zustande kam. So erst wurde es möglich, daß die Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft im Verwaltungstrakt des Flughafens Tempelhof aufgenommen werden konnte; zunächst noch eingeengt, aber wenn die US-Dienststellen, wie angekündigt, vorzeitig räumen werden, wird ausreichend Platz sein. So etwas ist selten in unserem Land. Deswegen sollte es hier festgehalten werden. Ich hoffe, daß der Nachfolger von Herrn Hubrich diese Qualität behalten wird.Zu den Denkwürdigkeiten gehört auch, daß verfassungsrechtliche Zweifel im Hause Justiz aufkamen, ob der Bund wirklich helfen könne. Die Bekämpfung der Regierungskriminalität und der Vereinigungskri-
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Wolfgang Lüderminalität ist eine überdimensionale Aufgabe, die auf die Polizei und die Justiz Berlins aus der Wiedervereinigung zugekommen ist. Das Land Berlin ist zuständig, weil die Stadt auch Regierungshauptstadt für das Ost-Berliner Regime war. Aber der Umfang dieser Aufgabe geht über Landesdimensionen hinaus. In diesem Zusammenhang fragte man sich, ob es verfassungsrechtlich möglich ist, daß der Bund hier ein paar Mark zugeben darf. Das sind unvergeßliche Momente, wie politische Themen von der Verwaltung totgekriegt wurden.
Es gibt weitere Probleme. Ich hoffe aber, daß wir uns damit nicht noch einmal im Innenausschuß beschäftigen müssen. Deswegen sage ich es hier.Ich höre, daß es bei dieser Dienststelle noch schlicht technische Probleme gibt. Zum Teil muß noch die Hälfte des Tages damit verbracht werden, Telefonverbindungen zum und vom Ostteil Berlins zustande zu bekommen. Es muß doch, verdammt noch mal, möglich sein, daß man im Rahmen eines zivilisierten Industriestaats Telefoneinrichtungen für solche Dienststellen zur Verfügung stellt,
damit dort keine Arbeit vergeudet wird.
Ich höre zweitens, daß es Verunsicherung bei den Mitarbeitern gibt, weil sie nicht sicher sind, daß sie zu den Gehalts- und den Zulagebedingungen, zu denen sie überwiegend aus Westdeutschland gerufen worden sind, bleiben können. Ich hoffe — ich habe es vorbesprochen —, Herr Staatssekretär, Sie können mir bestätigen, daß die Konditionen, zu denen die Mitarbeiter gerufen worden sind, bleiben; denn wenn die schon diese verdammt harte Arbeit machen — weit über die 38,5-Stunden-Woche hinaus —, oft mit viel Engagement, dann sollten wir zu ihnen stehen, ihre Arbeitsbedingungen erleichtern und sicher davon ausgehen können, daß das Gehalt so, wie es ausgerechnet war, als sie kamen, dauerhaft bleiben kann. In diesem Sinne hoffe ich, daß wir uns nicht allzu oft mehr im Innenausschuß mit diesem Thema befassen müssen.
Nun hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde der Beschlußempfehlung nicht zustimmen, weil ich die Politik der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR- Vergangenheit mittels einer zentral gesteuerten Flut von Ermittlungsverfahren und Prozessen grundsätzlich für falsch und verhängnisvoll halte. Die Forderung nach einer wirksameren Bekämpfung der Regierungskriminalität hat einen falschen Ansatz. Sie verlangt institutionelle Lösungen für eine mißliche, eine unmoralische Sache. So immerhin Rudolf Augstein im „Spiegel" vom 26. Oktober.Bei der Regierungs- und Vereinigungskriminalität geht es nur teilweise um die in dem Antrag angeführten und auch nach dem Recht der DDR zu ahndenden Delikte wie Untreue, Unterschlagung und Betrug. Selbstverständlich muß — darüber sind wir uns sicher alle einig — kriminelle Bereicherung durch Seilschaften aus Ost und West im Zuge der Vereinigung aufgeklärt werden. Aber es geht hier eben in großem Umfang — Herr Kittlaus, der Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle, hat das in der „Zeit" vom 23. Februar 1992 offen ausgesprochen — um angebliche Funktionärskriminalität, um den Kommandeur der Grenztruppen, den regionalen SED-Mann oder Polizeioffizier, den Bürgermeister.In der Anhörung der Enquete-Kommission am 29. September wurde auf folgendes ausdrücklich hingewiesen: Man werde jetzt, nachdem man sich mit den Tötungen an der Mauer beschäftigt habe, diejenigen Grenzsoldaten zur Rechenschaft ziehen, die jemanden dadurch genötigt hätten, daß sie ihm nicht erlaubt hätten, die Grenze zu übertreten.Wenn die Verjährungsfrage so behandelt wird, wie es hier beabsichtigt ist, dann wird sich das alles auf die Zeit von 1949 bis 1990 beziehen. Das bedeutet Hunderttausende von Ermittlungsverfahren und unzählige Prozesse. Herr Kittlaus rechnet jetzt schon mit einer Arbeit bis zum Jahr 2000 für seine 488 Beamten.Es ist nach meiner Auffassung bei aller Notwendigkeit, begangenes Unrecht zu bestrafen, an der Zeit, daß der Bundestag dem drohenden Rechtskrieg gegen Hunderttausende Einhalt gebietet. Der Apparat der Ermittlungsstelle wird immer mehr aufgebläht. Immer größere Summen von Bund und Ländern sollen bereitgestellt werden.Im Unterschied zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs, die sich in den Nürnberger Prinzipien ein Recht schufen, um ihre Feinde im Gefolge der militärischen Kapitulation zu bestrafen, hatte die alte Bundesrepublik mit der DDR einen völkerrechtlichen Vertrag als Einigungsvertrag abgeschlossen. In ihm war in keiner Weise vereinbart worden, daß Bürger der DDR nach vollzogener Vereinigung wegen eines Verhaltens, das den Gesetzen der DDR entsprach, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.
In einem Artikel in der „Frankfurter Rundschau" vom 26. Oktober hatten Michael Schumann und ich die These postuliert: Zur juristischen Bewertung des Realsozialismus taugen nur die früher dort geltenden Gesetze.Als angeblich entgegengesetzte Position wird heute in der „Frankfurter Rundschau" ein Artikel von KarlWilhelm Fricke veröffentlicht. Er stellt die These auf: Die Strafjustiz in der DDR war dem SED-Parteiapparat untergeordnet. Vieles, was er darlegt, ist richtig; es ist zum Teil erschreckend. Aber auch wenn alles richtig wäre, gilt: Es ist keine Antwort auf die Frage nach dem Maßstab. Es geht hier — wie oft in der DDR — um folgendes: Der juristischen, rechtsstaatlichen Argumentation wird eine politische entgegengesetzt.
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Dr. Uwe-Jens HeuerDas hat auch heute Herr Marschewski getan, er hat dafür ein hervorragendes Beispiel geliefert. Sie wissen doch genau wie ich, daß Herr Schaefgen, der Leiter der Arbeitsgruppe in Berlin, der Meinung ist: Die Mauerschützen müssen als unmittelbare Täter verurteilt werden, damit dann Honecker verurteilt werden kann.Der Einsatz des Strafrechts bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte ist sicher in bestimmten Fällen zwingend notwendig. Ich unterstütze das. Aber die hier übertragene Aufgabe, die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern von einst durch das Strafgericht vollenden zu lassen, bedeutet nicht Rechtsfrieden, sondern Rechtskrieg und schafft nach meiner Ansicht weit mehr Probleme, als sie löst. Ich bitte, auf diesem Wege einzuhalten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den sicher in höchstem Maß berechtigten kritischen Bemerkungen von Herrn Lüder kann ich mich nun auf den angenehmeren Teil der Aufgabe konzentrieren und all den Kolleginnen und Kollegen danken, die diese Beschlußempfehlung ausgearbeitet haben. Ich nenne stellvertretend für die anderen die Herren Bernrath, Skowron, Wartenberg und Lüder. Es sind in diesem Fall wirklich nur Herren.
Sie haben eine Beschlußempfehlung erarbeitet, die dem unbefriedigenden Zustand der beiden voneinander dissentierenden Vorlagen 12/1811 und 12/1306 ein Ende setzt, und zwar durch einen gerade in diesem Moment bedeutsamen politischen Konsens. Während gegen die anstehenden Verfahren im Bereich der Staats- und Regierungskriminalität in der Öffentlichkeit und soeben auch hier im Parlament eine Fülle von Verdächtigungen erhoben wird, ist es ja um so wichtiger, daß der Deutsche Bundestag einhellig hinter der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität und der Justiz des Landes Berlin steht, die eine in ihrem Umfang und Inhalt unvergleichbare Arbeit zu leisten haben.
Einen Schritt von besonderer Bedeutung sehe ich in der Errichtung der Zentralen Erfassungsstelle zur Bekämpfung der Regierungskriminalität im Februar dieses Jahres. Diese Institution signalisiert, daß die Justiz unseres Landes nicht willens ist, vergangenes Unrecht der politischen und gesellschaftlichen Verdrängung anheimzugeben.
Besonders bemerkenswert, aber auch signifikant für die besondere Situation der Ostländer erscheint mir das erwähnte Finanzierungsmodell: 47,5 % Land Berlin, 47 % Westländer, 5 % Ostländer. Dabei gibt es
einen 25%igen Bundeszuschuß für Berlin wegen der extremen Einzelbelastung dieses Landes.
Zu der vom Bundesministerium der Justiz gestellten Frage nach der Verfassungsbedenklichkeit einer solchen Mischfinanzierung möchte ich ins Feld führen, daß diese Unterstützung für Berlin durch den Bund mich jedenfalls mehr an Art. 107 Abs. 2 Satz 3 unseres Grundgesetzes erinnert, wonach Bundeszuschüsse für Länder in Form von Ergänzungszuweisungen in solchen Lagen gewährt werden können.
Sie mögen aus diesen meinen kurzen Bemerkungen ersehen, daß ich für die Annahme der Beschlußempfehlung plädiere.
Danke.
Der Herr Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren Dr. Horst Waffenschmidt hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nehme auf die bevorstehenden wichtigen Ereignisse Rücksicht; aber ich denke, die Bundesregierung sollte zu diesem sehr wichtigen Thema einige kurze Sätze beitragen.Es geht um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats. Ich will für die Bundesregierung sagen: Es ist eine wichtige Tatsache, daß wir hier einen breiten Konsens der demokratischen Parteien haben, diese Arbeit, die ja keine leichte Arbeit ist, zu unterstützen. Ich bedanke mich dafür. Ich denke, es ist eine Ermutigung für die Männer und Frauen, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen.Herr Kollege Heuer, eines will ich zu Ihren Bemerkungen sagen: Es ist nirgendwo vereinbart worden, daß im Hinblick auf diese schweren Kriminalitätsfälle der Rechtsstaat eine Pause macht. Verbrechen müssen verfolgt werden.
Darüber sollte es in diesem Hause keinen Zweifel geben.Es ist hier mit Recht gesagt worden, daß der Bund seine Zusagen eingehalten hat. 40 Ermittlungskräfte wurden zur Verfügung gestellt.Ich will aber bewußt darüber hinaus etwas sagen, weil es hier zur Sprache kam. Der Bund hat seine grundsätzliche Bereitschaft zur Leistung einer Hilfe gegeben, die über die Personal- und Sachmittelhilfe hinausgeht, die bisher schon gegeben wurde.Auf Bundesseite — das darf ich dem Hohen Hause berichten — sind jetzt die Vorbereitungen zum Abschluß einer Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und dem Bund abgeschlossen; auch die Verhandlungen zwischen den beteiligten Ressorts sind insoweit abgeschlossen, so daß Berlin, vorbehaltlich der entsprechenden Absicherung durch den Haushaltsgesetzgeber, ein entsprechendes Angebot des Bundes unterbreitet werden kann, wie es ja auch hier breite Zustimmung findet. Für einen Übergangszeit-
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Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidtrauen soll das Land Berlin für diese wichtige Aufgabe im kommenden Jahr einen Bundeszuschuß von 3 Millionen DM erhalten. Für die darauffolgenden Jahre ist in Aussicht genommen, daß sich der Bund mit 25 % an den Gesamtkosten der Zentralen Ermittlungsstelle beteiligen soll.Hier ist also ein klares Angebot des Bundes, und ich möchte hier, wie das mehrere Redner auch getan haben, nun doch der Erwartung Ausdruck geben, daß sich die alten Bundesländer an der Hilfe für Berlin, die notwendig ist, gleichgewichtig und solidarisch in der Tat beteiligen. Das müssen wir hier noch einmal klar einfordern. Denn wenn wir mit Recht von einer gesamtstaatlich bedeutsamen Aufgabe reden, dann sind eben alle gefordert. Hier sind noch einige Außenstände seitens der alten Bundesländer. Es ist notwendig, daß das jetzt schnell in die Reihe kommt und insofern Klarheit geschaffen wird. Das muß heute hier eingefordert werden.Wir wollen hier auch feststellen: Strafverfolgung ist grundsätzlich Länderangelegenheit; nur wegen der besonderen Bedeutung hat sich der Bund in dieser Weise engagiert und wird das auch weiter tun.Herr Kollege Lüder, ich habe mich noch einmal zu der speziellen Frage erkundigt, die Sie im Hinblick auf finanzielle Ausstattung der Beamten gestellt haben, die einen schweren Dienst tun. Nach meinem Wissen ist wirklich keine Schlechterstellung an irgendeiner Stelle vorgesehen. Sie haben mich vor wenigen Minuten mit der Frage befaßt. Ich sage das jetzt so nach bestem Wissen und Gewissen. Ich gehe der Sache noch einmal nach. Aber mir ist nichts bekannt, was auf eine Schlechterstellung hindeuten könnte. Ich bin auch der Meinung, hier sind wir besonders in die Pflicht genommen, den Leuten zu helfen, die sich dieser schwierigen Aufgabe widmen.
Ich werde mich auch dafür einsetzen, daß das in entsprechender Weise läuft. Wir haben auch keine Schwierigkeiten. Die Länder sehen das genauso.Die unbedingt notwendige Aufarbeitung dieser Regierungs- und Vereinigungskriminalität muß zügig vorangetrieben werden, damit das Vertrauen der Bürger in unseren Rechtsstaat keinen Schaden nimmt. Darum ist es wichtig, daß nun Bund und Länder gemeinsam dieses Ziel verfolgen. Das Notwendige muß realisiert werden, und ich denke, wenn die Arbeit so durchgeführt wird, wie hier eine breite demokratische Übereinstimmung war, dann wird sich der Rechtsstaat unserer Bundesrepublik Deutschland als glaubwürdig erweisen.Herzlichen Dank.
Es liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3549 unter Nr. 1 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist bei Gegenstimmen der
PDS/Linke Liste diese Beschlußempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Innenausschuß, die Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 12/1811 und 12/1306 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist dies bei wenigen Enthaltungen einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Peter Büchner , Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mitbestimmungsrechte der Zivilbeschäftigten
bei den Alliierten Stationierungsstreitkräften
— Drucksache 12/2138 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß
Verteidigungsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit September 1991 verhandelt die Bundesregierung unter Beteiligung der Bundesländer auf Beamtenebene über die Änderung des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut.Die etwa 100 000 Zivilbeschäftigten bei den westalliierten Stationierungsstreitkräften werden entsprechend den Entscheidungen der Entsendestaaten über den Abbau von Truppenstationierungen um mehr als 70 000 reduziert.Damit gehen bis zum Abschluß dieses Prozesses drei Viertel der in diesem Bereich bestehenden Arbeitsplätze verloren. Die ÖTV vermutet den Arbeitsplatzabbau für dieses Jahr bei rund 20 000, bis Ende 1993 bei rund 35 000 Personen.Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Kanada können sich dabei auf Rechtsgrundlagen berufen, die im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut von 1959 nur sehr eingeschränkte Mitwirkungsmöglichkeiten der Interessenvertretungen der Beschäftigten vorsehen.Auf dieser Rechtsgrundlage können die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer weder einen Sozialplan durchsetzen noch Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte in Anspruch nehmen, wie sie für viele westdeutsche Arbeitnehmer, beispielsweise für die Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr, seit Jahr und Tag Gültigkeit haben. In vielen Bereichen reduziert sich die Mitwirkung der Interessenvertreter auf ein Gnadenrecht, das ihnen von militärischen Befehlsha-
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Gerd Andresbern durch Befehl oder Anerkennung gewährt wird. Demgegenüber gilt seit Oktober 1990 für die Zivilbeschäftigten bei den Stationierungsstreitkräften der ehemaligen Sowjetarmee das Betriebsverfassungsgesetz.Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion verfolgt die Absicht, die Bundesregierung darauf zu verpflichten, Art. 56 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut neu zu fassen. Danach sollten wie bei den ehemaligen sowjetischen Stationierungsstreitkräften die Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes mit allen darin enthaltenen Beteiligungsrechten uneingeschränkt gelten.Wir halten es für unerträglich, daß eine in der Zwischenzeit in allen Bereichen souveräne Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage dieser Vereinbarung zuläßt, daß für einen großen Teil von Arbeitnehmern innerstaatliches Recht faktisch nicht angewendet werden kann.
Wir wissen, daß sowohl das Auswärtige Amt wie auch die Länder und der Bundesarbeitsminister in den Verhandlungen versucht haben, die rechtliche Gleichstellung der Zivilbeschäftigten mit vergleichbaren deutschen Arbeitnehmern zu erreichen, was bedeutet, daß zumindest das Bundespersonalvertretungsgesetz angewendet werden müßte.Unsere Auffassung war von Anfang an, über die Anwendung des Betriebsverfassungsgesetzes die Möglichkeiten der Betriebsvertretungen im Hinblick auf den im Zusammenhang mit der Truppenreduzierung erfolgenden Personalabbau deutlich zu erweitern. Wir wissen, daß das schwierig ist. Wir wären in der gegenwärtigen Situation auch damit zufrieden, zumindest die Regelungen des Bundespersonalvertretungsgesetzes uneingeschränkt angewendet zu wissen.Wir wissen auch, daß die Verhandlungen schwierig sind und daß es Fortschritte gegeben hat. So wurde die Geltung des deutschen Arbeitsschutzrechtes ausdrücklich in Art. 56 Abs. 1a des Zusatzabkommens aufgenommen.Bei den Mitbestimmungsrechten der Betriebsvertretungen bei den alliierten Stationierungsstreitkräften tritt man nach unseren Informationen aber nach wie vor in wichtigen Punkten auf der Stelle. Wir haben gegenwärtig den Eindruck, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß der bisher erreichte Verhandlungsstand für die vom Truppenabbau betroffenen Arbeitnehmer nach wie vor unzumutbare Regelungen enthält.
Darüber hinaus scheint es so zu sein, daß die entsendenden Staaten durch unakzeptable Vorschläge die Verhandlungen in die Länge ziehen wollen oder aber von der Bundesrepublik oder von der Bundesregierung in Teilbereichen einen weiteren Verzicht auf Souveränitätsrechte erwarten.
Die Länder haben bereits im Jahr 1990 in der Bundesratsdrucksache 681/90 verlangt, das ,,Mitwirkungsrecht der Betriebsvertretungen deutscher Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften in ein Mitbestimmungsrecht umzuwandeln".Unserer Auffassung nach muß die Bundesregierung nach wie vor auf folgenden Positionen bestehen:Erstens. Die vollständigen Mitbestimmungsrechte müssen mindestens als die des Bundespersonalvertretungsgesetzes durchgesetzt werden.
Zweitens. Diese Mitbestimmungsregelungen müssen auch dann angewandt werden, wenn die zu regelnden Angelegenheiten in einem Tarifvertrag oder in einem Spezialabkommen über einen Sozialplan bereits geregelt sind.Drittens. Es darf keine Einschränkung von Sozialplanregelungen beispielsweise unter dem Vorbehalt verfügbarer Mittel geben.Dieser Antrag, über den wir heute in erster Lesung beraten, wird federführend an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung überwiesen. Wir erhoffen uns von ihm die notwendige parlamentarische Beteiligung und den notwendigen Druck, um im Interesse von Tausenden von Beschäftigten bei den alliierten Streitkräften tätig werden zu können. Wir setzen dabei auch auf die konstruktive Rolle, die der Bundesarbeitsminister in den bisherigen Verhandlungsrunden gemeinsam mit den Ländern wahrgenommen hat.Dabei möchte ich allerdings auf einen Vorgang in der letzten Sitzungswoche zurückkommen, als die SPD-Bundestagsfraktion im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung durch eine geringfügige Änderung des AFG erreichen wollte, daß die Beschäftigten bei den Stationierungstruppen, die unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht sind, so angesehen bzw. so behandelt werden, als wäre ihre Kündigung schon ausgesprochen.Obwohl örtliche Koalitionsabgeordnete in Rheinland-Pfalz, in Hessen, in Bayern, in Niedersachsen oder in Nordrhein-Westfalen den Eindruck erwecken, sie würden alles tun, um den von der Truppenreduzierung betroffenen Zivilbeschäftigten zu helfen, waren die Koalitionsabgeordneten im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — und ich sage dazu: leider — nicht bereit, unserem Antrag zuzustimmen.
Wir hatten beantragt, die Formulierung aufzunehmen — und ich zitiere sie hier ganz absichtlich wörtlich —: Beschäftigte bei den Stationierungsstreitkräften, die ihre Truppen erheblich reduzieren, sind ebenfalls als unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht anzusehen und deshalb so zu behandeln, als wäre eine Kündigung bereits ausgesprochen.Ich könnte hier viele Beispiele nennen, meine sehr verehrten Damen und Herren, etwa das eines großen
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Gerd AndresReparaturwerks in Wetter, das gegenwärtig noch 1 250 Beschäftigte hat, wo völlig klar ist: Am 31. September 1993 wird faktisch zugemacht. Den letzten Beschäftigten gibt es am 31. März 1994. Es gibt keine Sozialplanregelungen, und es gibt rechtlich momentan nicht die Möglichkeit, die betroffenen Arbeitnehmer beispielsweise in vorbeugende Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit aufzunehmen.
Mit unserem Antrag haben wir beispielsweise auch einem Anliegen entsprochen, das der Oberbürgermeister der Stadt Kaiserslauten an den Bundeskanzler gerichtet hatte und das einem einstimmigen Ratsbeschluß von Kaiserslautern vom 13. Juli 1992 entsprach.Die gesetzestreue Anwendung des Arbeitsförderungsgesetzes durch die Arbeitsverwaltung verhindert gegenwärtig, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß absehbar arbeitslos werdende Zivilbeschäftigte bei den Stationierungsstreitkräften in entsprechende Maßnahmen des AFG aufgenommen werden. Auch wenn klar ist, daß der Standort, der Reparaturbetrieb, die Zulieferfirma oder ähnliche Einrichtung der alliierten Stationierungsstreitkräfte zum festgelegten Stichtag stillgelegt werden, ist eine entsprechende Förderung durch die Bundesanstalt erst dann möglich, wenn die betroffenen Arbeitnehmer faktisch arbeitslos sind. Jede Form der Vorsorge wird damit unmöglich.Wir finden, daß dieser Zustand unhaltbar ist und daß er geändert werden muß. Wir sagen hier, daß wir die Absicht haben, mit unserem Antrag im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, aber auch im Innenausschuß und im außenpolitischen Ausschuß, die ja mitberatend sind, darauf hinzuwirken, daß die nötige Begleitmusik bei der Veränderung des NATO-Truppenstatuts vorgenommen wird. Wir wissen, daß das ein ganz schwieriges Geschäft ist. Man muß sich nur einmal angucken, wie dieses Truppenstatut zustande gekommen ist, wie lange dort verhandelt werden mußte und wie viele Jahre es gedauert hatte, bis alle beteiligten Staaten es dann ratifiziert hatten. Also wissen wir auch, wie schwierig das ganze Geschäft ist.Ich denke nur, es ist völlig unannehmbar, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß man mit der maßgeblichen Veränderung dieses Statutes so lange wartet, bis alle Personalanpassungsmaßnahmen abgeschlossen sind. Dann brauchen wir das Statut in diesen Positionen nicht zu verändern.
Deswegen fordere ich alle beteiligten Fraktionen ganz herzlich zur Mithilfe im Sinne der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf.Herzlichen Dank.
Nun erteile ich dem Kollegen Peter Keller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick möchte man dem Antrag der SPD wirklich mit vollem Herzen zustimmen.
Ich will das auch begründen: Wer wollte nicht allen Arbeitnehmern, die in Deutschland tätig sind, die gleichen Mitbestimmungsrechte, egal ob der Arbeitgeber ein deutscher oder ein ausländischer ist, geben?Nur, so redlich das Ziel ist, so dürfen wir dabei doch nicht die Realitäten aus den Augen verlieren. Es werden in dem Antrag mehr Mitbestimmungsrechte gefordert, als sie für vergleichbare Zivilbeschäftigte bei der Bundeswehr gelten. Es wird nämlich die Geltung des Betriebsverfassungsgesetzes gefordert. Damit wird der Bundesregierung ein solches Verhandlungsergebnis abverlangt, und die Meßlatte wird so hoch gelegt, daß ein Scheitern leicht möglich erscheint.Die Frage ist: Was ist zur Problemlösung bisher geschehen? Seit September vorigen Jahres verhandelt die Bundesregierung mit den Regierungen der im Alt-Bundesgebiet stationierten Streitkräfte. Diese Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Ich meine, wir sollten als Ziel sehen, daß der Deutsche Bundestag seine Position nutzt und daß wir gemeinsam — darauf lege ich Wert: gemeinsam — unsere Überzeugung kundtun, daß den zivilen Arbeitnehmern bei den NATO-Streitkräften die üblicherweise in Deutschland geltenden Mitbestimmungsrechte nicht länger vorenthalten werden dürfen.
Lassen Sie uns deshalb den deutschen Verhandlungsführern durch einen gemeinsamen Standpunkt den Rücken stärken. Hierzu sieht meine Fraktion in dem heutigen Entschließungsantrag der Opposition einen ganz positiven Ansatz.Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem Monat blicken wir auf das 40jährige Bestehen unseres Betriebsverfassungsgesetzes zurück. Wir können mit Stolz behaupten, damit in Deutschland die betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer in vorbildlicher Weise geschaffen zu haben. Wenn es in Deutschland immer noch mitbestimmungsfreie Zonen gibt, müssen wir politisch dagegen angehen. Dies gilt auch für die Stationierungsstreitkräfte. Wir wissen, derzeit sind die Truppenreduzierungen bereits in vollem Gang. Dadurch müssen viele deutsche Zivilbeschäftigte um ihren Arbeitsplatz bangen. Manche werden ihn leider auch endgültig verlieren. Hier, so meine ich, tritt die Mitbestimmung als Instrument des sozialen Ausgleichs in den Vordergrund. Der gleichberechtigte Einfluß von Mitarbeitervertretern wäre jetzt zur Aufstellung von Sozialplänen ganz dringend erforderlich. Bislang beschränken sich die Einflußmöglichkeiten leider auf Mitwirkungsrechte. Diese müßten dringend in ein Mitbestimmungsrecht der Betriebsvertretungen bei den alliierten Streitkräften umgewandelt werden. Damit darf nicht gewartet werden, bis die Truppenreduzierungen abgeschlossen sind.
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9802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Peter KellerBei den ehemals sowjetischen Streitkräften sieht die Lage leider nicht günstiger aus. Hier wird gerichtlich darum gestritten, ob die bereits gegründeten Betriebsräte eine rechtsgültige Grundlage haben. Art. 21 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen UdSSR bestimmt insofern, daß die Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmer dem deutschen Arbeitsrecht unterliegen. Dies soll nach erstinstanzlicher Auffassung jedoch nur das Individualrecht, nicht das Kollektivrecht, also nicht die Betriebsverfassung, betreffen. Es bleibt abzuwarten und zu hoffen, daß die oberen Rechtsinstanzen anders entscheiden werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, zurück zum Antrag der SPD. Die CDU/CSU-Fraktion hält es nicht für richtig, bei der anzustrebenden Erweiterung der Mitbestimmungsrechte für die zivilen Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften das Betriebsverfassungsgesetz zugrunde zu legen. Uns erscheint es logischer, hier die für die Bundeswehr maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen heranzuziehen; denn für die Interessenvertretung der Arbeitnehmer bei der Bundeswehr gilt nun einmal das Bundespersonalvertretungsgesetz. Deshalb hat die Bundesregierung aus unserer Sicht zu Recht ihre Verhandlungsposition auf die arbeitsrechtliche Gleichstellung der zivilen Arbeitnehmer bei den Alliierten mit den entsprechenden Arbeitnehmern bei der Bundeswehr begründet. Dies betrifft das gesamte Arbeitsrecht einschließlich der Mitbestimmung. Diese Position deckt sich auch — das ist für uns wichtig — mit den ensprechenden Entschließungen des Bundesrates. Dieser hat sich bereits im Dezember 1990 und im vergangenen Jahr dafür eingesetzt, daß die Betriebsvertretungen bei den Alliierten wie die entsprechenden Interessenvertretungen der Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr behandelt werden.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle wollen gemeinsam mehr Mitbestimmungsrechte für die Zivilbeschäftigten bei den alliierten Stationierungsstreitkräften. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam mit Blick auf das realistisch Machbare die arbeits- und mitbestimmungsrechtliche Gleichstellung mit den entsprechenden Arbeitnehmern bei der Bundeswehr einfordern. Wenn wir zu hoch einsteigen, werden wir das Ziel womöglich nicht erreichen können. Deshalb wollen wir der Bundesregierung für die weiteren Verhandlungen durch diese Debatte den Rücken stärken und ihr für den bisherigen Einsatz für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei den alliierten Streitkräften danken.
Nun spricht die Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Wir sind froh darüber, daß auf Grund der gewandelten sicherheitspolitischen Situation in Deutschland stationierte Truppen unserer NATO-Verbündeten in beträchtlichem Ausmaß verringert werden. Andererseits benötigen wir zur Aufrechterhaltung der Stabilität in Europa bei uns auch weiterhin Kontingente von Verbündeten. Das war bisher im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut geregelt. Hieran gab es sicher mancherlei zu beanstanden, was sich aus der besonderen Situation Deutschlands ergab. Nach Herstellung der Einheit hat die Bundesregierung seit September letzten Jahres Verhandlungen über Veränderungen zum Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut geführt, die zu wesentlichen Verbesserungen führen werden. Die Verhandlungen haben zum Ziel, die geänderte Situation nach Erlangung der vollen Souveränität auch vertraglich zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig dem Geist partnerschaftlicher Zusammenarbeit bei der Entsendung verbündeter Truppen nach Deutschland zu entsprechen.Der SPD-Vorschlag zur Neufassung des Art. 56 Abs. 6 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut verkennt völlig die internationalen Regeln des Völkerrechts, die Streitkräften einen Sonderstatus einräumen. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für Streitkräfte bei uns, sondern auch für die Bundeswehr, wenn sie im Ausland stationiert ist.Organisation und Struktur von Streitkräften ist eine innere Angelegenheit des Entsenderstaats. Jeder deutsche Arbeitnehmer und jede deutsche Arbeitnehmerin, der oder die sich als ziviler Mitarbeiter oder zivile Mitarbeiterin um eine Anstellung bei Stationierungsstreitkräften bewirbt, weiß um die Sondersituation und muß sie bei seiner Arbeitsplatzentscheidung berücksichtigen. Begründet wird der Antrag der Fraktion der SPD mit dem Hinweis auf eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ich muß die Kolleginnen und Kollegen von der SPD fragen, was sie mit dem Antrag wirklich bezwecken wollen.
Sie wissen doch, daß die Verringerung der alliierten Streitkräfte in unserem Lande schon zahlreiche Probleme im Bereich der Beschäftigung in den verschiedenen Standorten für deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ergibt. Wenn Sie nun obendrein die Anwendung von Rechtsprinzipien, die der souveränen Organisationsgewalt der Streitkräfte des jeweiligen Landes unterliegen, verändern wollen, müssen Sie sich im klaren darüber sein, daß dies dann noch zu einer weiteren Reduzierung, d. h. Entlassung deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei diesen Streitkräften führen wird.
— Die F.D.P. ist eben anderer Meinung.Ich verkenne überhaupt nicht, daß es hier eine Überschneidung bzw. Unverträglichkeit von deutschem Recht mit internationalem Recht gibt. Wichtig ist, daß deutsches und internationales Recht durch eine sachgerechte Interessenwahrung unserer Bundesregierung sinnvoll in Übereinstimmung gebracht werden. Hieran und an der sachgerechten Verhandlungsführung unseres Bundesaußenministers hege ich keinen Zweifel.Bislang gilt für zivile Mitarbeiter der alliierten Streitkräfte der Tarifvertrag zur sozialen Sicherung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9803
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rinkder Arbeitnehmer. Dazu ist zu sagen, daß erst vor wenigen Wochen, am 11. Oktober, das Betriebsverfassungsgesetz und damit die gesetzlich festgeschriebene Mitbestimmung 40 Jahre alt geworden ist. Der Antrag der SPD zur Einführung des deutschen Mitbestimmungsrechts bei den alliierten Streitkräften geht aber weit über das hinaus, was wir von einer verantwortungsbewußten Regierung fordern. So ist die Verminderung der alliierten Streitkräfte nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in ganz Europa ein Ergebnis der politischen und militärischen Entspannung. Diese hat in fast allen Lebensbereichen zu einer Umbruchsituation geführt, die auch die Zivilbeschäftigten bei den alliierten Streitkräften zu spüren bekommen. Eine Verhandlungsposition, die bei den alliierten Streitkräften nach jahrzehntelanger Präsenz angesichts dramatischer Verringerung der Truppenstärke die Einführung des deutschen Mitbestimmungsrechts einfordert, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.Hier sind die Gewerkschaften in der Pflicht. Sie müssen sich bei den alliierten Streitkräften um sozialverträgliche Lösungen bemühen. Man kann es sich jedenfalls nicht so leicht machen wie die ÖTV, die einfach einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst fordert.Wir müssen uns vor Augen halten, um welchen Personenkreis es sich hier konkret handelt, nämlich im wesentlichen nicht um ungelernte Hilfskräfte, sondern um qualifiziertes und spezialisiertes Personal aus dem technischen Bereich, das relativ leicht einen neuen Arbeitsplatz finden kann. Wie Sie wissen, befinden sich die Standorte z. B. in Wiesbaden im Einzugsbereich von Ballungszentren, und dort werden die Beschäftigten auch Arbeitsplätze finden. Anders ist es in strukturschwachen Gebieten wie in Rheinland-Pfalz.Fazit: Die Rüstungskonversion ist eine große und gewaltige Aufgabe für uns und unsere Bündnispartner und bedeutet die Umstellung von militärischer auf zivile Nutzung oder Produktion. Man kann, um es abschließend noch einmal auf den Punkt zu bringen, nicht Entspannung und Abrüstung wollen und die damit verbundenen Folgen ablehnen — nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß".Die F.D.P. kann daher der SPD nicht folgen.
Nun spricht als letzter der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube schon, daß es richtig ist, was der Sprecher der Unionsfraktion, der Kollege Peter Keller, sagte: daß das Anliegen unterstützungswürdig ist. Ich möchte auch klar sagen, daß wir nicht erst seit der Wiedervereinigung Deutschlands, also nach Erlangung der vollen Souveränität, der Auffassung sind, daß die Zivilbeschäftigten bei den alliierten Streitkräften die gleichen Mitbestimmungsrechte haben sollten wie
die Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr. Dieses Ziel ist also unbedingt zu verfolgen.
Erst recht in der jetzigen Phase, wo so viele amerikanische Soldaten zurückgezogen werden, bewährt sich eigentlich das Instrument der Mitbestimmung. Es nimmt soziale Ängste, und deswegen ist es dringend erforderlich. Ich appelliere an die Bundesregierung, daß das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut geändert wird und daß auch hier deutlich wird, daß Deutschland seine volle Souveränität zurückerlangt hat. Das muß aus prinzipiellen Gründen geschehen, aber auch, um vielen Zivilbeschäftigten bei den amerikanischen Streitkräften ihre Sorgen zu nehmen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2138 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie auch diesmal wieder damit einverstanden? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Entlassung des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Erich Riedl
— Drucksache 12/2629 —
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Als erste spricht die Kollegin Andrea Lederer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Staatssekretär Riedl muß gehen, und zwar bald. Folgende Äußerung veranlaßte uns zu dem Antrag, Staatssekretär Riedl zu entlassen. Ich zitiere:Die Lage ist chaotisch und aussichtslos. Der Münchner Süden muß ab sofort zur asylantenfreien Zone erklärt werden.So Staatssekretär Riedl am 30. März 1992 in München. Wie die Umsetzung solcher Forderungen aussieht, haben wir in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gesehen, und wer das für den feinen Münchner Süden fordert, weiß, wovon er spricht.
Aber die Rücktrittsforderung der Kollegin Dorle Marx von der SPD blieb ungehört. Die Bundesregierung verharmloste erwartungsgemäß die Angelegenheit, indem sie eine Kleine Anfrage meiner Kollegin Ulla Jelpke beantwortete.Die Debatte über den heutigen Entlassungsantrag mußten wir jetzt erzwingen, obwohl in der Zwischenzeit die absolute Disqualifzierung dieses Staatssekretärs wohl mehr als erwiesen ist. Denn rund ein halbes Jahr nach der skandalösen Äußerung von München wird in der deutschen Öffentlichkeit publik, daß derselbe Parlamentarische Staatssekretär dabei ist,
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9804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Andrea Ledererzum 3. Oktober 1992 nicht nur für die deutsche Einheit, sondern auch noch für den ersten Start der V 2 vor fünfzig Jahren ausgerechnet in Peenemünde eine große Feier zu organisieren.
Daß es dazu nicht kam, lag einzig und allein daran, daß sich im Ausland helle Empörung Bahn brach, und das mit Recht. Ich war zu dem Zeitpunkt in Großbritannien und hätte gern Herrn Riedl seine Ausführungen dort wiederholen gehört. Ich hätte vor allem gern erlebt, wie die Briten darauf reagierten.Die Rechtfertigungsversuche in der Folgezeit machten die Sache nicht nur noch schlimmer, sondern zeigten auch, daß er nicht bereit und willens ist, auch nur im Ansatz den politischen Fehler einzugestehen, die Denkweise, die dahintersteht, in Frage zu stellen, geschweige denn sich zu entschuldigen. Von „absurder hysterischer Reaktion" sprach er angesichts des Protestes im Ausland und von „abstrusen Diskussionen".Damit aber nicht genug, und da schließt sich auch der Kreis zu seinen Äußerungen von München. Am 2. Oktober spricht Herr Riedl anläßlich eines Festaktes zum 3. Oktober in Stralsund von den guten Eigenschaften des deutschen Volkes, vor denen das Ausland Angst haben soll, und nennt die berühmten Sekundärtugenden Fleiß und Ordnungsliebe. Nun, Angst gibt es in der Tat mehr als genug in diesem Land, und zwar bei Ausländern, und auch im Ausland, aber nicht vor Fleiß und Ordnungsliebe, sondern vor rassistischen Übergriffen und wachsendem Rechtsextremismus.Die Bundesregierung meint, es sei mit der Aufkündigung der Schirmherrschaft über die geplante V2-Feier in letzter Sekunde getan. Ich frage die Bundesregierung Warum haben Sie nichts unternommen, als ich Sie bereits im Juni 1992 mit einer Kleinen Anfrage auf das fatale Vorhaben von Herrn Staatssekretär Riedl hinwies? Warum sind Sie damals nicht hellhörig geworden? Hätten Sie ausnahmsweise einmal auf die PDS/Linke Liste gehört, wären nicht nur die für meinen Geschmack noch zurückhaltenden Reaktionen im Ausland unterblieben, sondern es hätte sich nicht noch ein weiteres Beispiel an die vielen anderen in dieser Zeit gereiht,
Beispiel für den Fakt, daß rassistische Forderungen auf höchster politischer Ebene salonfähig gemacht werden, Beispiel für den blinden Schlußstrich unter die Geschichte des deutschen Faschismus und Beispiel auch für die Großmannssucht blauäugiger blonder Germanen.Der Mann muß gehen, und zwar sofort,
nicht erst in zwei Monaten durch eine kleine Umgruppierung der Parlamentarischen Staatssekretäre und auch nicht erst, wenn ein passender Posten bei der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie gefunden ist, sondern sofort und klipp und klar mit seinem politischen Fehlverhalten begründet. Es reicht nicht aus, inder Fragestunde Fragen zu stellen und darauf ausweichende Antworten zu erhalten. Hier sind ein deutliches Wort und eine klare Entscheidung fällig, und zwar im Sinne unseres Antrags. Ich bitte um Zustimmung.
Als nächster hat der Kollege Dr. Wolfgang Bötsch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, eine Problematik, die man für behandelnswert hält, zu behandeln. Es gibt die sachliche Methode, so wie wir vor einiger Zeit, an einem Donnerstag in der letzten Sitzungswoche, über die Problematik des Mißbrauchs unseres Grundrechts auf Asyl diskutiert haben. Wir haben als Koalition unsere Vorstellungen über die notwendigen gesetzlichen Änderungen
zur Bekämpfung des Mißbrauchs des Grundrechts auf Asyl auf den Tisch gelegt. Und es gibt natürlich die zweite Möglichkeit: Scheingefechte zu führen. Der vorliegende Antrag von Frau Jelpke und der PDS/ Linke Liste auf Entlassung von Herrn Kollegen Riedl ist ein solches Scheingefecht, nicht mehr und nicht weniger,
und es bringt uns keinen Schritt auf dem Weg weiter, den Mißbrauch unseres Asylrechts einzudämmen.
— Ich habe schon die richtige Rede, Herr Kollege; da können Sie sicher sein.Ich weise die in dem Antrag zum Ausdruck gekommene Verknüpfung der Äußerungen des Kollegen Riedl mit Vollzugsmeldungen — wie Sie zu schreiben beliebten —, mit Nazi-Gauleitern und ähnlichem als eine böswillige und beleidigende Unterstellung strengstens zurück.
Meine Damen und Herren von der PDS, die Sie jetzt lächeln:
Es steht Ihnen als Vertreter einer Partei, die zu DDR-Zeiten kommunistische Diktaturen in aller Welt unterstützt hat, wirklich nicht zu, solche Vergleiche überhaupt zu ziehen.
Als die SED mit den Erben Ho Chi Minhs ein Bruderverhältnis pflegte, da haben wir im freien Teil Deutschlands vietnamesische Flüchtlinge aufgenommen. Das ist der Sachverhalt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9805
Dr. Wolfgang BötschUnd Sie sind nicht bereit, mit tragfähigen Änderungen des Asylrechts dem Mißbrauch zu begegnen; denn Sie haben ja vor zwei Wochen gegen unsere Entschließung gestimmt.
Ich finde diesen Vorwurf ungeheuerlich. Das sage ich in aller Klarheit.
So sollten wir im Deutschen Bundestag nicht miteinander umgehen. Sie wissen ganz genau, daß es Herrn Kollegen Riedl nicht darum geht, der Fremdenfeindlichkeit Vorschub zu leisten, sondern darum, deutlich zu machen, daß die Belastung durch die Menschen, die das Asylrecht mißbräuchlich in Anspruch nehmen, bis an die Grenze des Erträglichen gestiegen ist und daß deshalb Handlungsbedarf besteht. Das ist der Sachverhalt, um den es geht!
Herr Staatssekretär Riedl hat die in Frage stehende Äußerung im Rahmen einer politischen Diskussion um die dringend erforderliche Änderung des Grundrechts auf Asyl gemacht. Wieso er deshalb als Parlamentarischer Staatssekretär entlassen werden soll, ist Ihr Geheimnis und wird es wohl auch bleiben.
Erich Riedl ist seit 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages und hat sich in dieser Zeit als Demokrat ausgewiesen. Das unterscheidet ihn von Ihnen, meine Damen und Herren.
Deshalb wird die CDU/CSU Ihrem Antrag die Zustimmung versagen.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin Ulrike Mascher das Wort.
Frau Präsidentin, sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich denke, es geht jetzt nicht um ein Nachholen oder um eine Fortsetzung der Debatte über die Frage, wie wir mit dem Asylrecht umgehen,
sondern es geht darum, wie lange ein Mitglied der Bundesregierung das Ansehen der Bundesrepublik weiter schädigen darf.
Daß ein Politiker, der einen renommierten Fußballclub finanziell abwirtschaftet, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium bleiben kann, mag zwar die Glaubwürdigkeit der Politik schmälern, aber muß wohl hingenommen werden — bei einer Regierung, bei der Sitzfleisch zur höchsten Politikertugend gehört.
Auch die Forderung nach der asylantenfreien Zone — und hier wird es wohl ernster —,
die im Ausland fatale Assoziationen an die Siegesmeldungen im Dritten Reich, daß Städte judenfrei seien, ausgelöst hat, hat leider den Bundeskanzler nicht veranlaßt, durch die Entlassung von Staatssekretär Riedl Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden.
Aber wer zu spät kommt mit der Entlassung von Staatssekretär Riedl, muß damit leben, daß Staatssekretär Riedl weiterhin wie ein Elefant im Porzellanladen
mit der Feier in Peenemünde das Ansehen der Bundesrepublik schädigt.
Ich denke, diese fortgesetzte Kette von politischen Peinlichkeiten hat inzwischen wohl auch die Unionsfraktionen erreicht. Ich werte das, was Herr Bötsch hier gesagt hat, als das Pfeifen im dunklen Wald.Wir unterstützen diesen Antrag, daß Herr Staatssekretär Riedl sofort entlassen werden soll.
Das soll nicht erst bei der allfälligen Regierungsumbildung geschehen, wo das sowieso auf der Tagesordnung steht. Wir fürchten, daß Herr Staatssekretär Riedl weiterhin, wie er das schon mit der geplanten Feier in Peenemünde gezeigt hat, das Ansehen der Bundesrepublik schädigen wird.
Eine richtige Forderung wird nicht dadurch falsch,
daß man sich möglicherweise in einer Gesellschaft befindet, die man sich nicht unbedingt ausgesucht hat.
Wir halten diese Forderung für richtig. Wir haben in einer Aktuellen Stunde diese Forderung auch unabhängig von der PDS schon gestellt. Ich würde mich freuen, wenn ihr möglichst rasch nachgekommen würde.Danke.
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9806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen dann zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste, Drucksache 12/2629? —
Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist damit mit deutlicher Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf.
— Ich darf um etwas Ruhe bitten! — Wunderbar.
— Mit dieser Ruhe ist auch der Kollege Rixe gemeint.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Vosen, Volker Jung , Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Revidiertes Energieforschungsprogramm der Bundesregierung
— Drucksache 12/2216 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Forschung, Technologie
und Technikfolgenabschätzung Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt, Josef Vosen, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschung und technologische Entwicklung für eine zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft
— Drucksache 12/2817
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Forschung, Technologie
und Technikfolgenabsätzung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache über beide Anträge eine Stunde vorgesehen.
Dürfte ich jetzt einmal bitten, daß die Herrschaften, die den weiteren Beratungen nicht folgen wollen, den Raum verlassen. Ansonsten bitte ich darum, Platz zu nehmen, damit wir in Ruhe weiter debattieren können,
und dies auch in dem entsprechenden Tempo zu tun.
— Ich bedanke mich ganz herzlich. — Sehr gut, Kollege Klein.
Ich darf Sie noch einmal fragen, ob Sie mit der vereinbarten Redezeit von einer Stunde einverstanden sind. — Das scheint der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem dem Kollegen Holger Bartsch das Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will niemanden entlassen.
Ich schaue zur Regierungsbank — der Herr Minister ist nicht da. Ich werde trotzdem meine Eröffnung nicht weglassen. Bevor ich zum eigentlichen Punkt meiner Rede komme, wollte ich — —
— Tut mir leid. Mein Name ist Holger Bartsch.
Der Kollege heißt Holger Bartsch.
Das ist vielleicht nicht die faire Art, aber es macht nichts. Ich stelle mich gerne vor: Bartsch. Sie können im Handbuch nachschauen. Ich hoffe, das geht jetzt nicht von der Redezeit ab.
— Kann ich jetzt fortfahren?
Darf ich bitten, daß Sie Ihre Auseinandersetzungen nicht mit dieser Lautstärke im Parlament führen, sondern daß der Kollege Bartsch jetzt die Gelegenheit erhält, zu den Tagesordnungspunkten 8 a und 8 b zu reden. Wenn Sie andere Auseinandersetzungen haben, bitte ich Sie, die draußen zu führen. — Ich bedanke mich.
Der Kollege Bartsch hat hiermit das Wort.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.Ich wollte eigentlich zu Beginn meiner Rede dem Herrn Forschungsminister zur Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit dem Stern des Verdienstordens meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen; jedenfalls habe ich das gestern in der Illustrierten „Stern" gelesen. Ich gehe wohl recht in der Annahme, daß das stimmt. Ich wollte daran anknüpfen, daß er natürlich zu dem Tagesordnungspunkt, zu dem wir hier heute sprechen, nach unserer Auffassung diese Auszeichnung sicher nicht verdient hat.Meine Damen und Herren, wir beraten heute hier über einen Antrag meiner Fraktion zum revidierten Energieforschungsprogramm der Bundesregierung leider relativ spät nach Antragseinbringung, wie so vieles zuvor. Die von der Bundesregierung mit beachtenswerter Beharrlichkeit bisher unterschätzten Kosten der deutschen Einheit sowie die stetige Reduzierung des Forschungshaushalts verzehren leider die zur Realisierung der Forderungen unseres Antrags
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9807
Holger Bartscherforderlichen Mittel. Wir müssen dies zur Kenntnis nehmen, auch wenn uns das sehr wehtut.Wir kritisieren seit langem die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Forschungsministers in Sachen seines Haushalts, aber wir können und wollen uns natürlich nicht damit abfinden, daß das so ist.Wir müssen feststellen, daß die vom Forschungsminister und vom Forschungsministerium in den schönen Hochglanzbroschüren so oft beschworene Zukunftsorientierung im Bereich der Energieforschung vor allem nur auf dem Papier existiert. Um es klar und deutlich zu sagen: Im Bereich der Energieforschung präsentiert sich das BMFT heute im wesentlichen als Altlastenverwalter. Es wird also mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft geschaut.
Wir fordern in unserem Antrag vom März 1992 ein zukunftsorientiertes Forschungsprogramm für den Zeitraum bis zum Jahre 2000, welches die nichtnukleare Energieforschung mit den Schwerpunkten Energieeinsparung und rationelle Energienutzung, Supraleitung, Transport und Speicherung, Kohleforschung, insbesondere die umweltfreundliche Verstromung, Solarenergie, solarer Wasserstoff und sonstige alternative und regenerative Energiequellen durch entsprechende Umschichtungen im Haushalt ausweiten sollte und welches im nuklearen Bereich nur noch auf die Sicherheitsforschung und die Forschung zur sicheren Endlagerung beschränkt ist.Wir fordern in unserem Antrag weiter, daß die mit der Energieforschung befaßten Forschungseinrichtungen der neuen Lander, von denen es ja leider so gut wie keine mehr gibt, in diese Neuausrichtung der Energieforschung einzubeziehen sind und daß die Bundesregierung in ernsthafte Verhandlungen mit der Stromwirtschaft eintritt mit dem Ziel, gemeinsam substantielle Energieforschungskapazitäten bei der Stromwirtschaft oder Dritten aufzubauen bzw. zu finanzieren. Wir fordern jedenfalls, daß die Stromwirtschaft mindestens 50 % der Reaktorforschung selbst zu tragen hat.Wir fordern schließlich von der Bundesregierung, daß sie einen Maßnahmenkatalog vorlegt für flächendeckende Einführung von Energiesparmaßnahmen durch steuerliche Anreize und Investitionszulagen, dessen Finanzierung durch eine Energiepreisanhebung sicherzustellen ist. Die Bundesregierung hat diesem Programm, das zu einem Umsteuern in der Energiepolitik geführt hätte, nichts Analoges entgegen gesetzt. Die Chance, mit der deutschen Einheit deutliche Zeichen zur ökologischen Modernisierung der Energieversorgung im Osten zu setzen, wurde leider vertan.
Gestatten Sie mir hier an dieser Stelle auch aus aktuellem Anlaß zu diesem Thema noch ein paar kurze Bemerkungen. Die Energieversorgungsstrukturen in der ehemaligen DDR wurden durch die unseligen Stromverträge zementiert. Es wurde ein Investitionshindernis allererster Güte aufgebaut. Es wurde damit letzten Endes die Privatisierung derostdeutschen Braunkohleabbaufirmen erheblich verzögert.Es ist jetzt nur zu hoffen, daß die Bundesregierung den Vergleichsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts in der mündlichen Verhandlung am 27. Oktober in Stendal aufgreift, ein Vorschlag, der nach meiner Auffassung deutlich macht, daß das Bundesverfassungsgericht damit den Anspruch der Kommunen, über ihre Energieversorgung selbst zu entscheiden, im Kern bestätigt hat. Es wäre damit auch der Weg frei für Sanierungsinvestitionen im Fernwärmebereich.Ich kann in der Energieforschungspolitik kaum eine Schwerpunktsetzung für die neuen Bundesländer erkennen. Ich will dazu nur einige Zahlen nennen. Im Bereich der erneuerbaren Energien beträgt der Anteil der Projektförderung in den neuen Bundesländern im Haushalt 1992 mit 12,9 Millionen DM ganze 0,14 % des Forschungshaushaltes. Bei den fossilen Energieträgern sind es mit 39 Millionen DM auch nicht viel mehr, nämlich rund 0,43 %. Wenn ich hinzunehme, daß sich der Anteil der nichtnuklearen Energieforschung von 1982 bis 1992 von 10,1 auf 4,5 % systematisch verringert hat, so kann man sich ausmalen, daß auch für die Zukunft hier nicht viel zu erwarten ist.Es ist dabei zu beachten, daß es in den neuen Bundesländern, wie schon eingangs erwähnt, keine nennenswerten Kapazitäten der Energieforschung mehr gibt, was auch nicht gerade dafür spricht, daß die Bundesregierung der Energieforschung in den neuen Bundesländern einen besonders hohen Stellenwert beimißt. Selbst ein so sinnvolles Projekt wie die Geothermie kommt nicht voran oder droht still und langsam zu scheitern.Was wir in den neuen Bundesländern dringend brauchen, ist eine anwendungsnahe Energieforschung zur Modernisierung der Versorgungsstrukturen. Das beginnt bei Umsetzungschancen für Energieeinspeisung im Industrie- und Gebäudesektor, geht über die Forderung nach erneuerbaren Energietechniken — Erdwärme, Windkraft und Solarenergie — und endet bei modernen Braunkohleverwendungsmöglichkeiten inklusive modernster Kraftwerkstechnologien.Wir brauchen gerade auf dem Gebiet der Energieforschung den Know-how-Transfer und die intensive wissenschaftliche Diskussion zwischen Ost und West, um einen echten Durchbruch bei der ökologischen Erneuerung der ostdeutschen Energieversorgung zu erreichen. Daß dabei auch die Braunkohle ihren Platz haben muß und wird, steht ohne Zweifel. Gerade hier setzt unser Antrag deutliche Zeichen hin zur modernen, umweltfreundlichen Nutzung. Damit würde z. B. der Einsatz der heimischen Braunkohle auch in dezentralen Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung deutlich gefordert.Ich kann nur an das BMFT, an den Minister, an die Bundesregierung und an die sie tragende Koalition appellieren, mit uns gemeinsam die dafür erforderlichen Schritte herbeizuführen. Sonst werden wir auf lange Sicht keine moderne, zukunftsorientierte Energieversorgung im Osten haben.
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9808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Holger Bartsch Herzlichen Dank.
Als nächster hat der Kollege Heinrich Seesing das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Energieforschung soll helfen, die Energieversorgung auch in der Zukunft zu sichern. Deswegen ist es unklug, sich nur um schon vorhandene Energien zu kümmern und auch in der Forschung nur einen Zeitraum von wenigen Jahren vorausschauend zu überblicken. Energieforschung muß in ihren Zielsetzungen den Menschen in ihren unterschiedlichen Lebensräumen gerecht werden und sich auf die Energietechniken von morgen beziehen.Es kann nun nicht meine Aufgabe sein, ein umfassendes Energieforschungsprogramm in wenigen Minuten zu entwickeln. Das kann unter Umständen in den Ausschußberatungen geschehen. Die CDU/CSU- Bundestagsfraktion wird sich in einem Expertengespräch in den nächsten Tagen dazu weitere Grundlagen verschaffen. Aber einige Anmerkungen sind doch schon heute möglich.Erstens. Es gehört zu den Aufgaben der Politik, auch für das kommende Jahrhundert und für alle Menschen Energie bereitzustellen; denn Energie gehört zum Leben wie Nahrung, Wasser und Kleidung. Millionen von Menschen sind weltweit unterwegs, um einen Platz zu finden, an dem diese Grundbedürfnisse erfüllt werden. Hinzu kommt, daß die Weltbevölkerung täglich um 200 000 Menschen wächst.Die SPD-Bundestagsfraktion hat ihren Antrag „Revidiertes Energieforschungsprogramm der Bundesregierung" am 11. März 1992 im Bundestag eingebracht. Heute gibt es 46 400 000 Menschen mehr auf der Erde. Auch sie brauchen Energie; denn Hunger und Not in aller Welt werden nicht ohne die Bereitstellung von Energie bekämpft werden können. Deswegen ist es nach meiner Auffassung nicht mehr statthaft, bestimmte Energietechniken aus ideologischen Gründen von einer zukünftigen Nutzung auszuschließen. Es ist auch nicht statthaft, schon eingeleitete Entwicklungen mitleidig zu belächeln, weil sie nicht in die heutigen Strukturen der Energieversorgung hineinpassen.Zweitens. Als Dreh- und Angelpunkt unserer Umwelt- und unserer Energiepolitik wird zur Zeit der Schutz der Erdatmosphäre angesehen. Was den Schadstoffausstoß bei Schwefeldioxid und bei Stickoxiden angeht, so ist uns schon in den vergangenen Jahren eine großartige Reduktion gelungen.
Nun haben wir uns zum Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß bis zum Jahre 2005 um mindestens 25 % nach dem Stand von 1987 zu senken. Das bedeutet:Erstens. Energiesparen muß in einer Form betrieben werden, die zu solchen Reaktionen der Bevölkerung führen wird, daß diese den Abgeordneten nicht immer zu heller Freude Anlaß geben.Zweitens. Erneuerbare Energien müssen so eingesetzt werden, daß auch die letzten technischen Möglichkeiten genutzt werden.Drittens. Fossile Energieträger dürfen nur noch eingeschränkt, mit ständig sinkendem Anteil oder bei besonders hohen Wirkungsgraden verwandt werden.Viertens. Kernenergie muß nicht nur weiter genutzt werden, sondern ihr Anteil an der Energieversorgung wird beträchtlich gesteigert werden müssen.
Drittens. Daraus ist zu schließen, daß sich die Energieforschung zunächst folgenden Problemstellungen zuwenden muß:Erstens. Das Prinzip „Rationelle Energieverwendung" ist nicht eine Frage der erneuerbaren Energien, sondern eine Forderung, die mit allen Energieformen in Verbindung zu bringen ist. Ich weiß nicht, ob die Möglichkeiten schon voll ausgenutzt sind. So frage ich mich, ob nicht für die Entwicklung langfristig sinnvoller Fernwärmesysteme neue Ideen gefunden werden müssen, um z. B. den hohen Kapitalbedarf zu mildern. Eine Zukunftsoption ist die Entwicklung von Wasserstofftechniken, wobei die drastische Reduzierung der Umwandlungskosten ein Hauptziel sein muß.Zweitens. Auch im Bereich der erneuerbaren Energien brauchen wir in der Forschung nicht mehr bei den Dingen anzusetzen, die schon im Markt sind. Aber Fragen wie die Herstellung kostengünstiger Siliziumzellen mit hohen Wirkungsgraden in der Solartechnik, die Nutzung der Geothermie oder der Anbau und die Verwertung von Energiepflanzen sind nur drei der vielen Felder, in denen noch gearbeitet werden muß.Drittens. Ich habe mir schon einmal die Frage gestellt, ob wir im Bereich der fossilen Energieträger überhaupt noch Forschungsbedarf haben. Da wir aber noch auf lange Zeit Kohlen verbrennen werden, um z. B. Strom herzustellen, ist es wohl doch notwendig, alle technischen Möglichkeiten zu nutzen. Dabei denke ich u. a. an Konzepte zur optimalen Kombination von Dampf- und Gasturbinen. Auch die Kohleveredlung sollte weiter erforscht werden, um Optionen für die Zukunft zu haben. Ich meine auch, daß der Transport von gasförmigen, flüssigen und festen Stoffen in einer Pipeline über große Entfernungen ein nicht uninteressantes Entwicklungsfeld darstellt.Viertens. Für den Ausbau der Kernenergie erwarte ich allerdings Konzepte, die eine neue Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger hervorrufen können. Dazu gehört die Entwicklung einer katastrophenfreien Kerntechnik.
— Nun hören Sie doch erst einmal zu.Neue Sicherheitsqualität bedeutet, daß für die Außenwelt bei allen Störfällen, unabhängig von ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit, Schäden nicht auftreten können. Das ist durch bauliche Sicherheiten für Leichtwasserreaktoren und durch die Entwicklung eines neuen Kugelbettreaktors möglich. Wissen-
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Heinrich Seesingschaft, Forschung und Energie sind aufgefordert, sich dieser Aufgabe zu stellen — die SPD auch.
Viertens. Nun ist mit dieser kurzen Übersicht die Frage Energieforschung noch nicht einmal annähernd dargestellt. Ich könnte mir auch vorstellen, daß wir einmal unter ganz anderen Gesichtspunkten an eine künftige Energieversorgung und damit auch an die notwendige Forschung herangehen. Dazu einige Punkte zum Nachdenken.Erstens. Wie soll die Energieversorgung des ländlichen Raumes in der Zukunft aussehen? Was spricht dagegen, die Raumheizung durch Sonnenenergie zu sichern? Da nach wie vor jedes Haus mit elektrischem Strom zu versorgen ist: Wieso schafft man nicht für den Restbedarf neue Stromheizungssysteme?
Zweitens. Für die Mittel- und Kleinstädte im ländlichen Raum kann eine zentrale Wärmeversorgung bedeutsam sein. Als Energieträger stelle ich mir z. B. Energiepflanzen vor, die im Umland gewachsen sind und in modernsten Anlagen verbrannt werden.Drittens. Für den Moloch Großstadt bieten sich Kugelbettreaktoren zur Wärme- und Stromversorgung an. Kein Haus ohne Fernwärme und Warmwasserversorgung — das wäre ein gutes Ergebnis einer rationalen Energieverwendung. Ich habe gelesen, daß auch Kollege Vosen in dieser Richtung schon einmal laut gedacht hat.Das waren nur ein paar Gedanken. Meine Damen und Herren, mehr konnte es nicht sein. Im Ausschuß können wir, wenn wir wollen, noch mehr darüber reden.Danke.
Ich freue mich, auf der Zuschauertribüne unseren ehemaligen Kollegen und ehemaligen Präsidenten des Bundestages, Richard Stücklen, begrüßen zu können, der sich offensichtlich das Vergnügen gönnt, dieser Debatte zu folgen.
Nun hat der Kollege Jürgen Timm das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist, glaube ich, unbestritten, daß die Menschen seit Menschengedenken Löcher in die Erde graben, Wasser und Luft abpumpen, um daraus Rohstoffe zur Erzeugung der Produkte ihres täglichen Bedarfs herzustellen. Sind diese Produkte oder Rohstoffe dann verbraucht oder umgewandelt oder abgenutzt, dann fangen wir an, damit Berge in die Landschaft zu bauen. Das tun wir in hohem Maße seit mehr als einem Jahrhundert ohne Rücksicht auf die Gefährlichkeit für die Umgebung.Ich denke, erst die nicht mehr zu übersehenden Schäden haben dazu geführt, daß ein Umdenkeneingesetzt hat. Dabei müßte doch eigentlich jeder Verstand ausreichen, die Tragweite des eigenen Handelns zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Aber weit gefehlt! Wir brauchen Gesetze, wir brauchen Verordnungen, wir brauchen Pläne, wir brauchen sogar Strafen, um uns selber in die Pflicht gegenüber unserer Umwelt zu nehmen. Offensichtlich ist unser Verhalten ein genetisches Problem.
— Vielleicht sollte sich die Forschung einmal damit befassen. — Bequemlichkeit ist leicht anerzogen, aber ich meine, unser Denken sollte darüber stehen.Überhaupt ist beim Umgang mit all unseren Ressourcen mehr Offenheit in der Diskussion gefragt. Es kann einfach nicht angehen, daß je nach ideologischer Herkunft einmal nur die eine Seite eines Problems, ein anderes Mal die andere Seite allein betrachtet wird, womit man in aller Regel versucht, die Naturgesetze aus den Angeln zu heben, Materie verschwinden oder plötzlich wieder auftauchen läßt, je nach dem, wie man gerade argumentiert oder was man gerade diskutiert. In Wirklichkeit gehen wir am ganzheitlichen Denken, am ganzheitlichen Analysieren und Handeln vorbei.Als Beispiel dafür will ich auf das eingehen, was in den beiden Anträgen zu finden ist. Zur Rückführung aufgebrauchter Stoffe z. B. gehört doch auch die Kenntnis, daß Stoffumwandlungen nicht rückgängig gemacht werden können. Das heißt, daß neue Verfahren und Prozesse erforderlich sind, um die Stoffe in einen neuen nutzbaren Zustand zu versetzen oder sie für eine Endlagerung so aufzubereiten, daß sie keinen Schaden anrichten können. Es ist deshalb richtig, daß man sich solcher prozeßnachgeschalteter Verfahren bedient. Es ist nicht falsch, wie es in einem Ihrer Anträge steht.Da uns die Materie in jedem Fall erhalten bleibt, muß auch die Rückführung von Reststoffen in ehemalige Lagerstätten oder die thermische Behandlung möglich sein. Es ist auch nicht richtig, daß die Müllverbrennung allein die einzige kontinuierlich entwikkelte Abfallbehandlungsmethode ist.
- Das hätten Sie aus Ihrem Antrag gleich herausstreichen sollen; das wäre gut gewesen.Ich halte es auch für falsch, nur von einer Wegwerfwirtschaft zu sprechen. Ich denke, daß unsere bequeme Gesellschaft ihren Anteil an dieser Entwicklung hat und ihn auch mittragen muß.In Ihrem Antrag steht, wir sollen uns bemühen, nicht mehr Rohstoffe und Energien zu verbrauchen, als sich in angemessener Zeit regenerieren können. Das hört sich gut und einfach an. Es vermittelt uns den Eindruck, als wäre das tatsächlich möglich. Ich frage: Ist es das überhaupt? Ich habe da meine ernsten Bedenken.Die Hauptenergieträger, die wir heute weltweit verwenden, sind regenerativen Ursprungs: Kohle, Öl, Gas. Sie sind durch Solarenergie vor vielen Millionen Jahren in einem Zeitraum von Millionen von Jahren
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Jürgen Timmentstanden. Wir verbrauchen sie heute so rapide, daß ihre Endlichkeit wie ein reales Gespenst vor uns steht. In einem Jahr werden so viel Kohle, Öl und Gas verbraucht, wie in ein paar Millionen Jahren entstanden sind.Was ist also mit dem Zeitfaktor? Wie soll die diffuse Sonnenenergie, die ja die Quelle für 99,5 % aller Energiearten ist, so gerafft, d. h. so konzentriert werden, daß Millionen von Jahren zur Regeneration von Energieträgern übersprungen werden können?Was ist mit der Bevölkerungsdichte? Diese Frage ist hier schon angesprochen worden. Die Antragsteller weisen zu Recht darauf hin, daß unsere frühen Vorfahren sich noch im Einklang mit Naturkreisläufen befanden. Aber kann die heutige Erdbevölkerung diesen Zustand überhaupt wieder erreichen? Wir wissen doch, daß gerade in den bevölkerungsreichen Ländern schon seit vielen Jahren die nachwachsenden Rohstoffe zunehmend so stark ausgebeutet werden, daß keine Chance des ausreichenden Nachwachsens mehr besteht.
Da paßt ein revidiertes Energieforschungsprogramm, das seinen Schwerpunkt im Ausstieg aus der Kernenergie — ob man sie nun leiden kann oder nicht —, ja sogar im Ausstieg aus der Kernenergieforschung haben soll, überhaupt nicht in die Landschaft.Die Probleme der Energieversorgung sind so gewaltig, daß sich niemand erlauben kann, einer Energieform zu entsagen, die sich immerhin in vielen Jahren bewährt hat und die erkennbar noch lange Zeit ihre Rolle spielen wird.
Zur Zeit werden 90 Kernkraftwerke auf der Welt gebaut. Wir müssen allerdings Entscheidungen treffen, ob die herkömmliche Kernenergietechnik zukünftig noch weiter angewendet werden kann, denn irgendwann in den nächsten zehn Jahren oder danach muß es für viele der heutigen Altanlagen Ersatz geben. Wie soll er aussehen? Angesichts des unvermeidlichen weltweiten Energiemehrbedarfs müssen fossile Energieträger ja eigentlich ausscheiden. Großtechnische Anlagen für regenerative Energieträger, Wasserkraft einmal ausgenommen, insbesondere solartechnische Anlagen, werden frühestens zwischen 30 und 50 Jahren zur Verfügung stehen. Eine kurzfristige ausreichende Substitution der fossilen Energieträger ist zur Zeit also nur mit der Kernenergie erreichbar.
— Dann müssen Sie den Leuten erklären, welches Kraftwerk Sie durch welche Form ersetzen wollen.
— Ja, sicher, die Bequemlichkeit unserer Gesellschaft habe ich ja schon angesprochen. Wir bauen Kohlekraftwerke oder nutzen Öl oder Gas.Ich meine, daß die Politik sicherstellen muß, daß in den nächsten zehn Jahren und darüber hinaus alte Kernenergieanlagen durch auf dem neuesten technologischen Stand stehende Anlagen ersetzt werden können. Wir brauchen in dieser Frage einen Konsens. Wir dürfen den Kopf nicht in den Sand stecken.Forschung und Entwicklung müssen sich auch darauf einstellen können. Es ist völlig richtig, daß keine Probleme der Nachsorge, der Gefährlichkeit von Verfahren und der Abfallentsorgung ungelöst bleiben dürfen. Auch hierzu muß die Forschung ihren Beitrag leisten. Nur, niemand darf glauben, bestimmte Energiearten brächten keine Probleme für die Umwelt mit sich. Das trifft nicht einmal für die regenerativen Energieformen zu.Es ist auch ganz sicher richtig, daß wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, Energie- und Rohstoffressourcen, schonend, umweltfreundlich und sparsam zu erschließen. Das sind wir schon allein unseren nachfolgenden Generationen schuldig.
— Deshalb, sehr geehrter Kollege Vosen, bin ich ganz nachdrücklich der Meinung, daß wir, wenn wir denn schon über einen Ausstieg aus einem Verfahren der Energietechnik reden, überhaupt erst einmal über die Endlichkeit der herkömmlichen regenerativen Energieformen, nämlich Kohle, 01 und Gas, nachdenken müssen.Wir stimmen in vielen der in Ihren Anträgen enthaltenen Ansätze überein. Möglicherweise werden wir hinsichtlich einiger Ansätze sogar Gemeinsamkeiten herausstellen und vielleicht sogar zu gemeinsamen Beschlüssen kommen. Aber ein Versprechen kann ich Ihnen schon geben: Wir werden keine realitätsfernen Entschlüsse fassen.Vielen Dank.
Als nächste spricht die Abgeordnete Ingeborg Philipp.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Vor 20 Jahren wurden die Spaltreaktoren in Verbindung mit Schnellen Brütern als eine unerschöpfliche saubere Energiequelle dargestellt. In der Fusionstechnik ist derselbe Machbarkeitswahn zu erkennen, der auch bei der Energieerzeugung aus Atomspaltung in die Sackgasse geführt hat. Wir hängen einem nicht hinterfragten Forschrittsglauben an. Das geht schief.Die Fusionstechnik ist als Energieerzeugungstechnologie, die als Ersatz für fossile Brennstoffe dienen soll, ungeeignet. Realistische Einschätzungen für die Entwicklung einer in der Energieversorgung einsatzfähigen Fusionstechnologie gehen von einem Zeithorizont von ca. 50 Jahren und mehr für Forschung und Entwicklung aus. Das ist Zeit, die dem Weltklima fehlt.Hinzu kommt: Kapital und Arbeitskraft, die für die Fusionstechnologie eingesetzt werden, fehlen für dringend notwendige Investitionen in eine Effizienzsteigerung der Energienutzung, Energieeinsparung und die Nutzung regenerativer Energiequellen zur Reduzierung der CO2-Emissionen.
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Ingeborg PhilippHier müßte ein an den Bedürfnissen der Menschheit ausgerichtetes Energieforschungsprogramm ansetzen. Wir brauchen heute Forschung über die Effizienzsteigerung bei der Nutzung fossiler Energieträger, eine Verbesserung der Leittechnik, der Abwärmenutzung, der Energieeinsparung und der Nutzung erneuerbarer Energieträger. Nur so kann der Klimaveränderung durch den vom Menschen verursachten Treibhauseffekt begegnet werden, nicht jedoch mit teuren und gefährlichen Elfenbeintürmen mit Namen Kernfusion und Atomenergie. Wir brauchen abproduktarme Technologien der Energieerzeugung, die sich in den Kreislauf der Natur einordnen lassen. Technologien mit hohem Gefährdungsgrad für die Menschen und die Umwelt sind steinzeitlich, auch dann, wenn die Ausrüstungen High-Tech-Standard aufweisen. Die genialste Lösung ist nicht die komplizierteste, sondern die einfachste, unter der Voraussetzung, daß alle Technikfolgen komplex betrachtet werden.Nun einige Gedanken zur Abfallwirtschaft. Eine ökologische Abfallwirtschaft, die zukunftsverträglich ist, bedingt eine Chemiewende, denn trotz Gefahrstoffverordnung und anderer staatlicher Maßnahmen ist die chemische Industrie immer noch eine der gefährlichsten Risikoindustrien insgesamt. Die Industrie hat uns in der Vergangenheit chemische Zeitbomben in den Boden gesetzt. Doch nach wie vor spielt die Produktion nicht naturverträglicher halogenierter Kohlenwasserstoffe eine große Rolle, werden Jahr für Jahr hundert neue Stoffe in Umlauf gebraucht, deren Wirkung kaum erforscht ist. Mit dem Umstieg auf harte Gen- und Biotechnologien sucht die chemische Industrie einen Ausweg, der zu noch schlimmeren Risiken und Problemen führt, da die Wirkung gentechnisch manipulierter Organismen auf andere Ökosysteme unkalkulierbar ist.Wir brauchen eine sanfte Chemie. Wir wissen, daß die nötigen Konzepte für den Umstieg erst in einigen wenigen Bereichen entwickelt sind, etwa bei Naturfarben, Nahrungsmitteln, Medikamenten, Kosmetika und Kleidung. Die nötige Chemiewende muß daher in einem ersten Schritt durch politische Vorgaben wie Gebote, Verbote, Steuern und Abgaben einen Ausstieg aus der besonders gefährlichen Produktion fördern, während gleichzeitig Mittel und Institutionen geschaffen werden müssen, die eine Neukonzeption der Chemiepolitik, eine durchgreifende Technologiebewertung und Produktlinienanalyse und eine ausreichende ökologische Produktkontrolle ermöglichen.Konkret fordern wir eine Ergänzung des Gefahrenabwehrprinzips im Chemikaliengesetz durch ein Umweltvorsorgeprinzip, das ein Verbot umweltgefährdender Stoffe erleichtert, möglichst noch bevor sie auf den Markt gelangen und letztlich zu giftigem Haus- und Sondermüll werden. Wir werden den Antrag der SPD weiter unterstützen.
Als nächste spricht die Abgeordnete Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Zeiten leiden wir alle — die einen vielleicht mehr, dieanderen weniger — unter dem Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzverlust von Politik. Hinter diesem vielzitierten Phänomen steht die Einschätzung vieler Bürgerinnen und Bürger, Politik könne die Probleme nicht mehr bewältigen, und sie habe keine Konzepte dafür.Im wahrsten Sinne des Wortes hautnah betroffen sind die Menschen von vielen ungelösten Umweltproblemen. Schadstoffbedingte Allergien, belastete Nahrungsmittel, verseuchte Schulen und Sportplätze, Beinahe-Katastrophen wie die in Lengerich oder jetzt in der Spielwarenfabrik in Datteln und die ständig schleichende Vergiftung beeinträchtigen spürbar die Lebensqualität aller. Alltäglich beweist es sich neu, daß das alte Technik- und Fortschrittsmodell der Industriegesellschaft nicht mehr trägt. Offenkundig wird auch, daß die bisherige umweltpolitische Begrenzungsstrategie, nämlich das Setzen auf Endof-Pipe-Technologien allein, lieber Kollege Timm, nur zur Verlagerung und nicht zur endgültigen Lösung der Probleme geführt hat.
Wenn wir die Zukunftsfähigkeit der Industriegesellschaft ernsthaft sichern wollen — ich denke, auf der semantischen Ebene sind wir gar nicht so weit auseinander —, müssen wir eines tun: Wir müssen sehen, daß wir sie ökologisch erneuern. Die Verschwendungswirtschaft muß von einer Wirtschaftsweise abgelöst werden, die sich an den natürlichen Kreisläufen orientiert.Tatsächlich aber wächst die Müllawine allein in den alten Bundesländern jährlich um 250 Millionen Tonnen. Kommunen, denen schon heute die Abfallberge bis zum Halse stehen, erfahren tagtäglich, daß damit ihre Standortqualität nicht unwesentlich beeinträchtigt wird.Man macht es sich aber zu einfach, wenn man den Schwarzen Peter für den Entsorgungszustand den Kommunen zuschiebt. Zwar sind sie entsorgungspflichtig; doch als schwaches Glied am Ende einer Kette haben sie nur wenig Einfluß auf eine konsequente Abfallvermeidung. Noch schwächer sind die Verbraucher, die sich redlich bemühen, lieber Kollege Timm. Hier ist es mit der Bequemlichkeit gar nicht so toll. Es gibt mittlerweile viele Familien, die zu Hause vier Mülleimer haben und diverse Abfallcontainer bestücken. Sie erwarten von der Politik zu Recht, daß ihre vielen privaten Initiativen zur Müllvermeidung und -verwertung wirksam unterstützt werden.
Das Abfallproblem läßt sich nicht nur als die Achillesferse des Industriesystems werten. Es kann auch, wenn man es richtig angeht, ein Hebel zur sinnvollen und notwendigen Veränderung sein. Weder die ausgefeilteste Behandlungstechnik noch ein gigantisches, von den Verbrauchern finanziertes Verwertungssystem wie das DSD führen aus der Sackgasse. Echte Wiederverwertung und umweltfreundliche Entsorgung sind erst die zweiten und dritten Stufen der Problemlösung. Die erste, meine Damen und Herren,
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Ursula Burchardtliegt an der Quelle der Abfallmengen und Stoffströme, nämlich in der Produktion. An dieser Erkenntnis führt leider kein Weg vorbei.
Erforderlich sind die Verringerung des Stoffeinsatzes und der Stoffvielfalt, die recyclinggerechte und entsorgungsfreundliche Gestaltung von Produkten
— über Instrumente können wir gerne reden; Sie finden in unserem Antrag, daß wir genau auf die marktwirtschaftlichen Instrumente setzen; ich empfehle, ihn bis zum Ende zu lesen —, der Ersatz umweltgefährdender Produkte und Einsatzstoffe sowie die Veränderung der Produktionsverfahren. Das schrieb bereits vor zwei Jahren der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten zur Abfallwirtschaft der Bundesregierung ins Pflichtenheft.Für die Gestaltung der Zukunft sind Forschung und technologische Entwicklung die erste Eingriffsebene. Deswegen muß gerade hier die Weichenstellung in Richtung ökologische Erneuerung und Wirtschaftsweise erfolgen. Wenn man sich die jetzige Forschungs- und Technologiepolitik ansieht, ist von der notwendigen Strategie einer ganzheitlichen Umweltvorsorge leider nicht viel zu erkennen. So sind Fragen der Abfallminimierung und -entsorgung noch immer nicht durchgängig in den Forschungsprogrammen verankert. Der Schutz der Umwelt wird in wenigen Referaten gleichsam wie in Reservaten innerhalb des Ministeriums geparkt. Man könnte schon fast sagen, es herrscht das Motto: Artenschutz für den Umweltschutz. Den wachsenden Anforderungen wird mit zahlreichen kleinen Förderschwerpunkten begegnet, was zu der Situation führt, daß man schon fast einen Kompaß braucht, um durch den Förderdschungel hindurchzufinden. Doch eine Vielzahl von kleinen Maßnahmen ergibt noch kein schlüssiges Gesamtkonzept. Wenn man sich die derzeitige FuT-Politik ansieht, dann entdeckt man eine ganze Reihe von Widersprüchen und vor allen Dingen die fehlende Prioritätensetzung. Ich will dazu drei Beispiele nennen. Ansonsten könnte es ein abendfüllendes Programm sein.Erstens Beispiel: Von 100 DM des Forschungshaushalts stehen nicht einmal 7,50 DM für die Umweltforschung zur Verfügung. Die Mittel für Umweltschutztechnologien, zu denen auch Abfall- und Recyclingtechnologien gehören, sind im Haushaltsentwurf der Bundesregierung dramatisch zusammengestrichen worden. Die mittelfristige Finanzplanung signalisiert einen weiteren Rückgang.Zweites Beispiel. Im Förderkonzept Abfallwirtschaft wird betont, daß für die Entwicklung neuer Werkstoffe und Produkte Umweltverträglichkeitsanalysen durchgeführt werden müssen. Im Materialforschungsprogramm und in der Förderpraxis ist das unbekannt.Beispiel Nummer 3. Unter den möglichen Techniken zur Abfallbehandlung wurde einseitig die Verbrennung gefördert. Das, lieber Kollege Timm, läßt sich aus den Zahlen des Hauses Riesenhuber belegen.Alternative Verfahren wurden mehr als stiefmütterlich behandelt. Deshalb bietet die thermische Behandlung heute tatsächlich größere Sicherheit bei der Ablagerung des Restmülls als andere Verfahren.
— Ich halte es nie mit Ideologie in diesem Zusammenhang. Ich bin immer für vernünftige Sachlösungen, lieber Kollege Maaß. — Die Mengenprobleme — darüber müssen sich alle im klaren sein — kann die Verbrennung aber nicht lösen. Sie kann sie nur aufschieben. Ressourcenschonung findet nicht statt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Schließen der Lücke zwischen programmatischen Erklärungen und forschungspolitischer Wirklichkeit ist mehr als überfällig. Es ist nicht nur deshalb überfällig, weil es um den Schutz der Gesundheit von Mensch und Umwelt geht, sondern es ist auch überfällig, weil es um die Frage des Industriestandorts Bundesrepublik geht. Der ansonsten immer vielbemühte Blick auf Japan zeigt hier, daß wir auch bei der Entwicklung ökologisch fortschrittlicher Technologien ins Hintertreffen zu geraten drohen. Von daher sehe ich in dieser entscheidenden Zukunftsfrage wirklich keinen Platz für Ideologienstreitigkeiten oder kleinkarierten Parteienstreit.
— Den würde ich Ihnen auch gar nicht anbieten.Was fehlt, ist ein Gesamtkonzept über den Beitrag von Forschung und technologischer Entwicklung für eine wirklich zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft. Der Antrag meiner Fraktion markiert die Eckpunkte für ein solches Konzept, die ich noch einmal zusammenfassend nenne für den Fall, daß es vielleicht doch den einen oder anderen Kollegen bei der CDU/CSU gibt, der den Antrag nicht gelesen hat.Erstens. Dringender Handlungsbedarf besteht bei der Verbesserung der wirkungsanalytischen, statistischen und methodischen Grundlagen. Noch immer ist unser Wissen über Stoffströme und die Wirkungen anthropogen erzeugter Stoffe viel zu gering. Um Ökobilanzen oder vergleichbare Instrumente für eine vorsorgende Politik einsetzen zu können, bedarf es ihrer systematischen Förderung und Weiterentwicklung. Das haben die jüngsten Anhörungen der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" eindeutig belegt.Zweitens. Wir müssen unsere technologische Kompetenz erhöhen. Dies bestätigt auch die Kommission Grundlagenforschung beim Bundesminister für Forschung und Technologie. Notwendig ist die gezielte Förderung abfallrelevanter Technologien. Dies muß von den Werkstoffen über die Produkte bis zu ökologisch sinnvollen Recyclingtechnologien und Behandlungstechnologien reichen. Ein kurzfristig aufgelegtes Förderprogramm unter dem Titel „Produktionsintegrierter Umweltschutz und clean technologies" wäre, glaube ich, ein erster Schritt in die richtige Richtung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9813
Ursula BurchardtDrittens. Umweltverträglichkeit und Abfallvermeidung müssen als überprüfbare Ziele in die Forschungsprogramme integriert werden; denn ansonsten werden Forschung und Entwicklung von heute mitverantwortlich für die Probleme von morgen und übermorgen.Viertens. Die Finanzierung der Vorsorgeforschung muß stimmen und dauerhaft abgesichert sein. Ansonsten verkommt die schöne Programmatik, unter die wir uns alle stellen können, zur Sprechblase.Fünftens. Nur ein abgestimmtes Vorgehen von Forschungs-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik kann die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige und zukunftsverträgliche Entwicklung der Industriegesellschaft setzen. Wie auch in anderen ökologisch relevanten Bereichen zeigt sich in diesem Fall: Ein flotter Töpfer im Bundeskabinett macht wahrlich noch keinen ökologischen Frühling. Dazu müssen alle an einem Strang ziehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, weder Besserwisserei noch das Schwarze-Peter-Spiel sind geeignet, das Vertrauen in die Politik wiederherzustellen. Gefordert sind klare Orientierungen und konsequentes Handeln. In diesem Sinne verstehen wir unsere Initiative als einen Beitrag zur doppelten Problemlösung. Ich sehe an sich überhaupt keinen Grund, warum Sie unserem Antrag nicht begeistert zustimmen sollten.
Ich gebe jetzt das Wort an die Abgeordnete Bärbel Sothmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Grundlage einer umweltverträglichen integrativen Abfallwirtschaft ist das Prinzip „Vermeidung geht vor Verwertung, Verwertung geht vor Entsorgung" . Dieses Prinzip hat die Bundesregierung 1986 in der vierten Novelle zum Abfallgesetz festgelegt. Nach einem vorläufigen Entwurf des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit für die fünfte Novelle zum Abfallgesetz sollen Rückstände zukünftig grundsätzlich als Sekundärrohstoffe verwertet und erst dann, wenn dies nicht möglich ist, als Abfall schadlos beseitigt werden.
Mit dem 1989 eingerichteten Förderkonzept Abfallwirtschaft forciert der Bundesminister für Forschung und Technologie die Entwicklung moderner Produktionstechnologien, die eine umfassende Abfallvermeidung und den weitestgehenden Einsatz von Sekundärrohstoffen zum Ziel haben. Ausgehend von einer vernetzten Umweltbetrachtung erarbeitet der Bundesminister für Forschung und Technologie zur Zeit eine zukunftsweisende Gesamtumweltforschungs- und -technologiestrategie. So sollen weiterer Forschungsbedarf aufgezeigt und ganzheitliche Problemlösungen angeboten werden. Die Entwicklung einer modernen kreislauforientierten Abfallwirtschaft ist dabei ein zentrales Anliegen.
Diese Stratgegie des Bundesministers für Forschung und Technologie wird voraussichtlich Anfang
1993 vorliegen. Unsere Fraktion wird die Ergebnisse entsprechend hinterfragen.
Frau Präsidentin; meine Damen und Herren; Sie sehen: Mit der Forderung nach Entwicklung eines Gesamtkonzepts für eine Kreislaufwirtschaft in Ihrem Antrag rennen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, in vieler Hinsicht offene Türen ein. Natürlich bringt die heutige Situation in der Abfallwirtschaft auch nach Überzeugung der CDU/CSU-Fraktion und der Bundesregierung zusätzlichen Handlungs- und Forschungsbedarf mit sich; denn weder das Mengen- noch das Stoffproblem sind bis jetzt befriedigend gelöst.
In den alten Bundesländern produzieren wir jährlich einen Riesenmüllberg von 20 km Höhe auf einer Fläche von der Größe eines Fußballfeldes. Nach wie vor treten für Mensch und Umwelt gefährliche Stoffe wie Dioxin und FCKW im Produktionsprozeß auf.
Ich kritisiere nicht die Problemanalyse von Ihnen; ich halte jedoch den Lösungsansatz der SPD für falsch.
Die SPD will den direkten Eingriff des Staates in die Produktion. Dies bedeutet ökologische Planwirtschaft. Die machen wir nicht mit. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, Produkte zu gestalten und Konzepte — ich zitiere — für eine umweltgerechte Demontage- und Wiederverwertungswirtschaft und für die dazugehörigen Logistiksysteme zu entwikkeln.
Frau Sothmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Burchardt?
Nein, die gestatte ich nicht; ich habe zuviel vorzutragen.Dies ist übrigens auch nach dem Verursacherprinzip Aufgabe der Wirtschaft. Aufgabe des Staates ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung entlassen. Ich erinnere hier an die Verpackungsverordnung. Hohe Umweltschutzanforderungen, insbesondere an die Entsorgung, geben auch ökonomische Anreize zur Vermeidung und Verwertung und damit zur schonenden Nutzung begrenzter Ressourcen. Die staatliche Förderung von Forschung und Entwicklung soll die Wirtschaft zusätzlich bei der Entwicklung von neuen technologischen Konzepten für eine zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft unterstützen.Die Forschungsförderung der Bundesregierung soll insbesondere zu einer stärkeren Vernetzung der Umwelttechnik mit den Ergebnissen der toxikologischen und ökologischen Forschung führen. Natürlich müssen auch Methoden zur Bewertung der Umweltverträglichkeit von Produktionsprozessen entwickelt werden, soweit diese fehlen. Schon früher hat der Bundesminister für Forschung und Technologie nur solche Forschungs- und Entwicklungsvorhaben ge-
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Bärbel Sothmannfördert, die nicht nur in einem Bereich, sondern insgesamt umweltverträglich waren.Als Beispiel für diese ganzheitliche Betrachtung möchte ich die Forschungsförderung des Bundesministers für Forschung und Technologie bezüglich der Zerstörung der Ozonschicht nennen. Zum einen wurden die Erkenntnisse um Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge verbessert, die mit dazu beigetragen haben, das Montrealer Protokoll zu verschärfen und weltweit einen früheren Ausstieg aus der FCKW- Produktion durchzusetzen.Zum anderen wurde es durch das Programm des Bundesministers für Forschung und Technologie zur Entwicklung von FCKW-Substituten ermöglicht, Vermeidungs- und Kreislaufstrategien in die Tat umzusetzen.Das hohe Niveau der Forschungsförderung und die abfallpolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung wurden von der SPD, wie mir scheint, nicht ausreichend zur Kenntnis genommen. Die in dem SPD- Antrag formulierten Vorwürfe gegen die Bundesregierung, mit ihrer gegenwärtigen Umwelt- und Abfallpolitik den brennendsten Problemen hinterherzuhinken, sind deshalb unhaltbar.
Zur Durchsetzung des vollen Potentials der Abfallreduktion ist vor allem eines vonnöten: ein Umdenken in der Wirtschaft und beim Verbraucher. Bereits bei der Entwicklung eines Produkts sind die Vermeidung, Verwertung und Entsorgung zu bedenken. Dies bedingt auch eine Veränderung der Lebens- und Konsumgewohnheiten. Bestehende Widersprüche zwischen Bewußtsein und Verhalten aller Beteiligten müssen aufgelöst werden.Ordnungspolitische Maßnahmen und staatliche Förderung von Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen, wie sie die Bundesregierung mit ihrem abfallpolitischen Konzept bisher verfolgt hat, können dabei helfen.Die Fortentwicklung der Rahmenbedingungen für einen schnelleren Technologietransfer der Forschungsergebnisse in die Unternehmen ist wünschenswert. Aber massiver staatlicher Dirigismus, wie ihn die SPD hier anstrebt,
kann nur kontraproduktiv wirken, Herr Kollege Vosen. Er schadet unserer Marktwirtschaft, insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen, baut Verantwortungsbewußtsein ab und hemmt umweltfreundliche Produktinnovationen. Das kann doch nicht in Ihrem Sinne sein.
— Nein, ich rede nicht gegen ein Phantom; ich weiß sehr wohl, wovon ich rede. — Die Forderungen der SPD nach mehr Staat in der Abfallwirtschaft, meine Damen und Herren, werden deshalb von uns zurückgewiesen. Die Devise muß lauten: mehr Verantwortung von Industrie und Verbrauchern für eine zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft.
Als nächster spricht der Kollege Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Doch, da habe ich überhaupt keine Probleme. Ob Sie das mir gegenüber nach meiner Rede noch mit einem freundlichen Blick sagen, werden wir am Schlußbeifall merken.Als Mitglied des Umweltausschusses habe ich den vorliegenden Antrag zur Abfallforschung als eine Art Trojanisches Pferd angesehen: Auf den ersten Blick ist er ein Geschenk für uns Umweltpolitiker und auch für die Forschungspolitiker, weil es mehr Geld für diesen Schwerpunkt geben soll. Aber bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Antrag jedoch als das, was er tatsächlich ist: ein wenig gut gemeinter Angriff auf Prinzipien der Wirtschafts- und Umweltpolitik in der Bundesrepublik und eine vollständige, umfassende Fehleinschätzung der Leistung in der Abfallwirtschaftspolitik der Vergangenheit.
Der Antrag will den Eindruck erwecken, meine sehr verehrten Damen und Herren, als habe die Unionsfraktion die Zeichen der Zeit im Bereich des Abfalls nicht erkannt.
Das Gegenteil ist richtig.
Bereits auf der Basis des geltenden Rechts hat die Bundesregierung auf Initiative unserer Fraktion eine Vielzahl von Maßnahmen auf den Weg gebracht, die uns dem Ziel des Antrags betreffend „zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft" in den letzten Jahren schon ein deutliches Stück nähergebracht haben.Die Bundesregierung bereitet, wie auch die Fraktion der SPD weiß, zur Zeit einen Gesetzentwurf zur grundlegenden Überarbeitung des Abfallgesetzes vor, der die Rahmenbedingungen für die produzierende Wirtschaft zur Erreichung dieses Zieles neu definieren und in vielen Bereichen präziser beschreiben wird.Kaum ein Land erfaßt so entschlossen wie die Bundesrepublik Stoffströme, z. B. Verpackungen, und führt sie einer Wiederverwertung zu. Kaum ein Land hat eine so hochentwickelte, wettbewerbsfähige Umwelttechnologie für die Abfallbehandlung wie die Bundesrepublik. Dies ist im wesentlichen auf die Forschungsleistung und die Marktnähe unserer Wirtschaft zurückzuführen.
Kaum ein Land hat eine so sichere Deponietechnikwie die Bundesrepublik. Das erleben wir in den
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Steffen KampeterWahlkreisen, auch wenn wir in diesem Bereich hohe Standards bei den Kreisen finanzieren müssen. Und überhaupt kein Land auf der Erde hat einen national und international so anerkannten Minister für Umweltfragen, wie die Bundesrepublik ihn mit Klaus Töpfer hat.
— Bitte sehr.
Herr Kollege, da Sie jetzt die Superlative aufgeführt haben: Wie erklären Sie sich den Superlativ, daß die Bundesrepublik der größte Müllexporteur ist?
Wir haben in der Vergangenheit versucht, insbesondere mit Sozialdemokraten vor Ort, in vielen Regionen Deponiestandorte auszuweisen. Wenn es in bestimmten Regionen und bei bestimmten Abfallarten, beispielsweise beim Sonderabfall, Probleme mit der Entsorgungsinfrastruktur gibt, dann gehen wir doch bitte einmal gemeinsam zu Ihren Kommunalparlamentariern und fragen sie, ob sie bereit sind, gemeinsam mit uns beiden für den Bau einer Abfalldeponie oder einer Sonderabfallverbrennungsanlage nach der neuesten BImSchG-Verordnung einzutreten.
Dann werden Sie eine der Hauptursachen für die Probleme in Teilbereichen kennenlernen, nämlich die Verweigerungshaltung der Sozialdemokraten vor Ort,
die in Bonn sagen: Ihr tut in der Abfallpolitik zu wenig, die aber zu Hause jede Deponie und jede Müllverbrennungsanlage verhindern.
Deswegen haben wir in Teilbereichen dieser Republik, beispielsweise im Süden, aber auch in meiner Heimatregion,
teilweise einen Entsorgungsnotstand, insbesondere bei Sonderabfällen. Das ist Tatsache. Es gibt da keinerlei Grund für hämisches Lachen bei der Opposition.
Auf dem Gebiet der Abfallwirtschaft wird gerade in den Bereichen, in denen der Antrag der Fraktion der SPD weitergehende Forschungen fordert, bereits seit Jahren geforscht. Neben den Bemühungen des BMFT und des BMU im Umweltforschungsplan erinnere ich z. B. an das Sondergutachten Abfallwirtschaft des Sachverständigenrats für Umweltfragen, das wir hier im Deutschen Bundestag vor geraumer Zeit debattiert haben. Es bildet die zentrale wissenschaftlicheGrundlage für die Fortentwicklung des abfallrechtlichen Instrumentariums in der Bundesrepublik.Dabei wird im Mittelpunkt stehen, daß die Verantwortung des einzelnen und der Gesellschaft auch in der Abfallwirtschaft stärker eingefordert wird. So wird auch für die Abfallwirtschaft das Verursacherprinzip Grundlage dafür sein, die Kosten des Abfalls verursachergerecht zuzurechnen. Erfolgt dies nicht — bleibt die Abfallproduktion also zu billig —, wird die abfallintensive Produktion begünstigt, und die Unternehmen produzieren zuviel Abfall. Von schlanker, abfallarmer Produktion kann nicht mehr die Rede sein.Es kann allerdings nicht Aufgabe der Umweltpolitik der Unionsfraktion sein, über das Instrument Abfallforschung eine dirigistische Ressourcenpolitik zu betreiben. Der Geist des SPD-Antrags entspricht nur unzureichend einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. In seinen politischen Werturteilen verläßt er sich leider nicht auf den Markt als das zentrale Entdeckungsverfahren für eine wirksame, abfallarme Produktions- und Umwelttechnologie, und er schränkt durch die politische Vorgabe bestimmter Techniken die Dispositionsfreiheit von Unternehmen unverhältnismäßig ein.Umweltpolitik in der Marktwirtschaft hat die Aufgabe, die ökologischen Rahmenbedingungen für eine umweltverträgliche Produktion, für umweltverträgliche Produkte — natürlich auch unter den Gesichtspunkten der Abfallwirtschaft — zu setzen. Dies wird nach meiner festen Überzeugung jedoch weniger durch den Ausbau einer dirigistischen Forschung als vielmehr durch verläßliche Rahmenbedingungen für den Markt mit ökologisch ehrlichen Preisen erreicht.Was Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, fehlt, ist eine klare, ordnungspolitisch saubere Grundorientierung. Sie sprechen sich für den gezielten Ausbau von Forschungskapazitäten zur Entwicklung von Produktionsverfahren aus und verlassen damit deutlich den Bereich der wirtschaftspolitisch legitimierbaren Grundlagenforschung.Dies ist schon vom Denkansatz her falsch. Prozeßintegrierter Umweltschutz muß dort erforscht und erprobt werden, wo das größte Know-how auf diesem Gebiet verfügbar ist: einzig und allein in den Unternehmen. Für uns Umweltpolitiker wie auch für die Forschungspolitiker bleibt die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften so zu gestalten, daß eine möglichst weitgehende Harmonisierung der Interessen der Wirtschaft mit denen der Umweltpolitik herbeigeführt wird. Dann wird das Selbstinteresse der Industrie dazu führen, daß unsere vorgegebenen ökologischen Standards mit minimalem Einsatz volkswirtschaftlicher Ressourcen eingehalten werden. Was wir brauchen, ist ein klares Bekenntnis zur Ordnungspolitik, ohne Wenn und Aber. Dies kann ich aber weder dem Buchstaben noch dem Geist Ihres Antrags noch den Ausführungen von Frau Burchardt entnehmen.
Aber ich will eines nicht verschweigen: Es gibt in dem Antrag auch Punkte, die für einen Umweltpoliti-
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Steffen Kampeterker durchaus einen gewissen Charme haben. Das betrifft natürlich insbesondere die in dem Antrag enthaltene Forderung, die Forschungsmittel zu erhöhen.Ich unterstütze selbstverständlich auch den Ausbau der stoffökologischen Forschung. Dies wird u. a. von einer Enquete-Kommission unseres Parlaments — Frau Burchardt, Sie sind Mitglied dieser Kommission, und der Stellvertretende Vorsitzende dieser Enquete-Kommission ist ebenfalls anwesend — vorbereitet.Natürlich brauchen wir Öko-Bilanzen, jedoch nicht als Ersatz für politische Entscheidungen, sondern als Hilfe für dieselben. Wir brauchen eine ständige Verbesserung der Produktionsverfahren zur Ausschöpfung des Potentials für Ressourcenschonung und des Potentials zur Vermeidung von Umweltbelastungen.Ob wir ein Datensystem für die Möglichkeiten einer recyclinggerechten Produktgestaltung brauchen, wage ich allerdings zu bezweifeln; denn Produktgestaltung ist Aufgabe der Unternehmen.Lassen Sie mich abschließend feststellen: Die Regierungskoalition hat wichtige Weichenstellungen für eine zukunftsverträgliche Abfallwirtschaft in einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft gestellt. Wir werden weiter entschlossen geeignete Maßnahmen in Forschung und Politik für eine „Mülldiät", für eine weitere Abfallvermeidung, für eine schlankere abfallärmere Produktion treffen. Eine ideologiegeleitete und gegen Grundüberzeugungen unserer Marktwirtschaft gerichtete Forschungspolitik gehört jedoch nicht dazu.Herzlichen Dank.
Als letzter in dieser Aussprache nimmt der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grundlage dieser Debatte sind zwei Anträge der SPD-Opposition. Der erste betrifft die Forschung für eine zukunftsträchtige Abfallwirtschaft. Hierzu ist von den beiden Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten Sothmann und Kampeter aus meiner Sicht Ausreichendes gesagt worden
mit dem Ergebnis — das kann man so sagen —: Sie laufen zum einen mit Ihrem Antrag der Entwicklung nach, und dort, wo Sie etwas Neues sagen, führt es ins Abseits. Deshalb, meine ich, ist dieser Antrag überflüssig.
Ich komme zu dem zweiten Antrag, der die Forschungspolitik im Bereich Energie betrifft. Grundlage für diesen Antrag ist Ihr erster Punkt, in dem Siefeststellen, daß die Politik der Bundesregierung im Hinblick auf Vermeidung von Energieverschwendung, im Hinblick auf Klimaschutz und im Hinblick auf Energieeinsparung nichts vorzuweisen hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß, z. B. im Bereich der rationellen Energieverwendung einschließlich erneuerbarer Energien, die Bundesrepublik Deutschland mit einem Ausgabevolumen von über 300 Millionen DM in diesem Jahr Spitzenreiter aller Länder ist. Wir geben nicht nur relativ — bezogen auf unser Wirtschaftswachstum —, sondern auch absolut die höchste Summe für den Bereich rationelle Energieverwendung und erneuerbare Energie aus.
Frau Burchardt, Sie haben gesagt, 7 % des Gesamthaushalts würden für Umweltforschung ausgegeben. Das sei zu wenig. Nun kann man sich immer mehr wünschen. Aber auch in diesem Zusammenhang weise ich auf die kürzlich veröffentlichte Studie der OECD hin, in der es heißt: Bezogen auf die Umweltforschung ist die Bundesrepublik mit Abstand Spitzenreiter im internationalen Vergleich. Spitzenreiter ist immer etwas Positives. Das sollte man nicht kritisieren, sondern loben, wie ich finde.
Den nächsten Punkt behandele ich ganz kurz. Der Kollege Bartsch hat beklagt, daß wir uns im Rahmen unserer Energieforschung in keiner Weise auf die neuen Bundesländer eingestellt haben. Das ist falsch. Richtig ist, daß wir deshalb unser Energieforschungsprogramm, das erst etwa zweieinhalb Jahre alt ist, nicht völlig umschreiben. In den neuen Bundesländern spielen die Themen selbstverständlich eine besondere Rolle, bei denen gute Chancen vorhanden sind, etwas zu machen, z. B. im Hinblick auf rationelle Energieverwendung, Gebäudeheizung, Geothermik, Wirkungsgraderhöhung bei der Nutzung von Braunkohle. Das sind besondere Projekte, die wir gerade in den neuen Bundesländern fördern und fördern wollen. Insofern ist es nicht zutreffend — was Sie sagen —, daß die neuen Bundesländer keine Rolle spielen.Dritter Punkt: Kernenergie. Das ist überhaupt das einzige in dem Antrag, worüber man diskutieren muß, weil alle anderen Dinge nicht neu sind. Hier ist Ihr Vorschlag, daß wir aus der Kernenergie aussteigen. Hierzu möchte ich noch einmal erläuternd sagen: Wir geben, was den Forschungsteil angeht, im Hinblick auf die Kernenergie
nur noch Geld aus für Reaktorsicherheitsforschung. Wer im Hinblick auf die Dinge, die wir erleben, der Meinung ist, wir sollten da weniger ausgeben, ist nicht glaubwürdig im Hinblick auf das, was die Sicherheit der Menschen ausmacht.
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Part. Staatssekretär Bernd NeumannMeine Damen und Herren, wenn Sie — einige von Ihnen haben etwas mit der Umweltpolitik zu tun — nun noch in diesem Antrag erklären, wir könnten die Umweltprobleme dadurch lösen, daß wir aus der Kernenergie aussteigen, betreiben Sie Volksverdummung. Das ist wirklich abenteuerlich.
Ohne den Einsatz der umweltfreundlichen Kernenergie können Sie alle Ziele, die wir gemeinsam im Hinblick auf die Reduzierung von CO2 verfolgen, wirklich vergessen.Der Verweis auf die unsicheren Kernkraftwerke in den GUS-Staaten und in den osteuropäischen Ländern kann ja nicht dazu führen, daß wir deshalb aussteigen. Es wäre genau das gleiche, wenn wir in Zukunft auf das Auto in Westdeutschland verzichten würden, weil es den Wartburg gab und gibt und er umweltfeindlich war und ist. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Damit wir die GUS-Staaten in den Stand versetzen können, umweltfreundliche Energie zu produzieren, müssen wir ihnen helfen, die Kernkraftwerke so sicher zu machen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb kann man nicht weniger für Sicherheitsforschung ausgeben, sondern möglicherweise noch mehr.
Meine Damen und Herren, Sie sollten sich auch einmal mehr mit Zukunftsenergien beschäftigen, z. B. mit der Fusionsforschung. Da werden wir demnächst die Nadelprobe machen. Das ist eine Option, von der wir nicht wissen, was dabei herauskommt, die aber eine Option darstellt und der sich die Forschung widmen muß. Sie müssen sich entscheiden, ob Sie gemeinsam mit uns bereit sind, das Projekt ITER, das große Chancen für Investitionen in Deutschland, möglicherweise in den neuen Bundesländern, bietet — eine Größenordnung von etwa 1 Milliarde DM —, mitzutragen oder ob Sie nach wie vor bei Ihrer Ausstiegsphilosophie bleiben nach dem Motto: Immer kritisieren, aber keine Verantwortung tragen.Ich fasse zusammen und komme zum Schluß. Was den Antrag Energieforschung betrifft, gibt es keine Veranlassung, unser im Jahre 1990 als Rahmenprogramm vorgesehenes Energieforschungsprogramm ad acta zu legen. Es ist ein Rahmenprogramm. Das wird durch die einzelnen Konzepte dann präzisiert. Da können Sie mitwirken. Weil dies so ist, sollten Sie den Antrag, den Sie gestellt haben, durchaus politisch weiter vertreten; denn bis auf die Frage der Kernenergie, wo Sie irren, enthält er schon alles das, was wir ohnehin machen. Wenn dies so ist, stellt man keinen Antrag, sondern man unterstützt diejenigen, die vernünftig und erfolgreich regieren.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2216 und 12/2817 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor.
Sind Sie damit einverstanden? —Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Verlängerung des Abschiebestopps für Kurdinnen und Kurden
zu dem Antrag der Abgeordneten Uta Zapf, Hermann Bachmeier, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verlängerung des befristeten Abschiebestopps für Kurden und Kurdinnen
— Drucksachen 12/3215, 12/3435; 12/3568 —
Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann
Dr. Burkhard Hirsch
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute morgen hat der Innenausschuß mit Mehrheit eine Empfehlung an den Innenminister Seiters verabschiedet, in dem einem befristeten Abschiebestopp für Kurden und Kurdinnen, die aus den Krisengebieten kommen und die sich nicht strafbar gemacht haben, zugestimmt wird. Hintergrund dieses Beschlusses ist die Annahme, daß Kurden und Kurdinnen im Westen der Türkei ohne Verfolgung und Repressalien leben können.Ich habe bereits in der Debatte vor zwei Wochen deutlich gemacht, daß die türkische Regierung auch im Westen der Türkei türkische Oppositionelle ver- folgt. Die Beispiele der jüngsten Massaker gegen die türkische Linke zeigen, daß nicht einmal mehr Gefangene gemacht werden, sondern diese sogar liquidiert wurden. Wer den Kurdengebieten von Istanbul und Ankara Besuche abstattet, kann sich dort überzeugen, daß immer wieder Kurden verschleppt und tot aufgefunden werden und daß eine repressive Politik gegen das kurdische Volk auch im Westen der Türkei an der Tagesordnung ist.Weitere Beispiele zeigen, daß das angestrebte Verbot der HEP und der kurdenfreundlichen Zeitung „Gündem", aber auch die geforderten Todesurteile gegen die Abgeordneten der HEP in der Westtürkei stattfinden.Das Verwaltungsgericht Mannheim befaßte sich jüngst mit einer Klage eines als Asylbewerber abgelehnten Kurden. Es befaßte sich intensiver mit der Situation in der Türkei und in Kurdistan als dieses Hohe Haus während der gesamten bisherigen Legislaturperiode. Es kam zu dem Ergebnis, daß es Gruppenverfolgung gibt, daß Kurden also allein auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit in den Notstandsprovinzen verfolgt werden und daß pauschal von einer inner-
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Ulla Jelpkestaatlichen Fluchtalternative nicht die Rede sein kann.Das Gericht kam außerdem zu dem Ergebnis, daß die Einsätze der türkischen Armee und der Sicherheitskräfte nicht als im Sinne des Asylrechts berechtigte Abwehrmaßnahmen gegen Terrorismus angesehen werden können, sondern als bloßer Gegenterror, mit dem auch die unmittelbar nicht beteiligte Bevölkerung unter den Druck brutaler Gewalt gesetzt wird.Die Türkei gehört meines Erachtens auf die Liste der Verfolgerländer — das habe ich auch vor zwei Wochen schon ausgeführt —, und deshalb greift die heutige Empfehlung an den Bundesinnenminister zu kurz.Hinzu kommt, daß mit den immer wieder bewiesenen Einsätzen deutscher Waffen in der Türkei/Kurdistan, aber inzwischen auch im Irak die Bundesregierung wider besseres Wissen faktisch zum Komplizen am Völkermord gegen die Kurden wird und nicht zuletzt Mitverursacher von Fluchtbewegungen in diesen Regionen wird. Wie wenig ernst die Bundesregierung diese Vorwürfe nimmt, zeigt die Debatte von vor zwei Wochen. Kein Minister und kein Staatssekretär hat es für nötig gehalten, das Wort zu ergreifen. Aber 24 Stunden nach der Debatte konnten wir über die Medien hören, welche umfangreichen Waffenlieferungen der Bundesregierung an die Türkei erneut anstehen. Das Dementi der Bundesregierung war leise und bezog sich genaugenommen nur auf einzelne militärische Gerätschaften.Die „FAZ" wußte in dieser Woche, am 26. Oktober 1992, zu berichten, daß mit dem unmittelbar bevorstehenden Besuch des Verteidigungsministers Rühe in Ankara auch die ersten Phantom-Flugzeuge von insgesamt 46 versprochenen eintreffen werden. Über weitere umfangreiche Waffenlieferungen werden in der „FAZ" ebenfalls detaillierte Angaben gemacht. Das Versprechen des Verteidigungsministers Rühe, die Militärhilfe für die Türkei erheblich einzuschränken, soll nun erst ab 1995 umgesetzt werden.Nicht nur dieses Parlament, sondern auch die Öffentlichkeit wird zynisch betrogen, wenn es darum geht, die Mitverantwortung seitens der Bundesregierung zu kaschieren. Ich halte das Ganze für einen Skandal.Zum Schluß noch einige Worte an die SPD-Fraktion. Sie scheint an diesem Punkt offensichtlich so zerrissen zu sein wie in anderen Fragen auch. Ihre Anträge zum Abschiebestopp waren durchaus zustimmungsfähig, aber die Politik in den von Sozialdemokraten regierten Ländern erfüllt in vorauseilendem Gehorsam die Vorgaben des Innenministers. In Hamburg und in Bremen werden seit Wochen Kurdinnen und Kurden bereits schneller abgeschoben als in CDU-regierten Ländern. Das ist nun einmal ein Fakt. Nicht einmal der Spielraum der Ausreisefrist von drei Monaten wurde genutzt. Nur der hessische Innenminister hat die Ausländerämter angewiesen, jeden Einzelfall zu prüfen.Ich bitte Sie, diese Politik zu beenden. Abschiebung bedeutet indirekt oder direkt Auslieferung an die türkische Polizei.Danke.
Als nächste spricht die Kollegin Erika Steinbach-Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über den Sachverhalt, ob Menschen, Kurden, die zur Zeit in unserem Lande leben, nicht asylberechtigt sind und auch sonst keine Berechtigung haben, sich in unserem Lande aufzuhalten, noch eine geraume Zeit weiter in der Bundesrepublik bleiben dürfen oder nicht.
Wir haben dieses Thema am vergangenen Freitag schon einmal kurz erörtert. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß wir vom Grundsatz her eine Verlängerung des Bleiberechts nicht befürworten. Wir glauben vor dem Hintergrund, daß in der Türkei z. B. 12 Millionen Kurden leben, davon mehr als die Hälfte nicht in rein kurdischen Siedlungsgebieten — was auch für das Gebiet zutrifft, in dem zur Zeit militärische Auseinandersetzungen bürgerkriegsähnlicher Art stattfinden —, daß die Ausreise dieser Kurden gerechtfertigt ist.
Man muß davon ausgehen, daß in aller Regel ein erfolgloser Asylantrag zugrunde gelegen hat. Daß dieser Asylantrag nicht zum Erfolg geführt hat, macht deutlich, daß eine individuelle, ganz persönliche Gefährdung des einzelnen nicht vorliegt.
Mit freundlicher Rücksichtnahme auf unseren Koalitionspartner haben wir die Sache noch einmal überdacht. Wir haben uns entschlossen, für die Kurden, die nachweisbar aus Gebieten kommen, in denen bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen stattfinden, noch einmal einen befristeten Abschiebestopp zu befürworten, wenn sie sich keiner kriminellen Vergehen, z. B. Rauschgiftdelikte, schuldig gemacht haben. Die Entscheidung fällt der Innenminister. Die Abschiebefrist ist im Grunde genommen längst abgelaufen. Am 1. Oktober war die Frist für den vorangegangenen Abschiebestopp vorbei.
Der Grund für den letzten Abschiebestopp war seinerzeit der Golfkrieg, war die Situation, daß Kurden zu Tausenden aus dem Irak in die Türkei geflüchtet sind. Wir wollten in dieser bedrängten Situation — auch für die Türkei als Staat — keine zusätzliche Verschärfung. Deshalb befürworten wir die Ausnahmeregelung, für die Kurden, die aus dem Revier kommen, in dem jetzt kriegsähnliche Zustände herrschen, in dem Sicherheit jetzt nicht vorhanden ist, noch einmal kurzfristig einen Abschiebestopp mitzutragen.
Als nächste nimmt das Wort die Abgeordnete Uta Zapf.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Bis zum 30. September dieses Jahres galt ein Abschiebestopp für Kurden und Kurdinnen. Ein solcher Abschiebestopp ist damit begründet, daß bei Abschiebung der abgelehnten Asylbewerber diesen Gefahr für Leib und Leben
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Uta Zapfdroht. Für Kurden und Kurdinnen aus der Türkei wurde ein solcher Abschiebestopp erlassen, nachdem im Frühjahr dieses Jahres beim Newroz-Fest das türkische Militär ein Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet hatte. Insofern, Frau Steinbach-Hermann, irren Sie sich in bezug auf den Anlaß, der zu diesem Abschiebestopp geführt hat. Damals schlugen die Wellen der Empörung mit Recht hoch, nicht zuletzt, weil nachweislich auch Waffen aus deutschen Lieferungen gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt worden waren.Ich bin ausgesprochen froh, daß der Innenausschuß bei seinen heutigen Beratungen der Position gefolgt ist, die Burkhard Hirsch in seinem Redebeitrag am 16. Oktober 1992 formuliert hat, wenngleich ich mir nicht die Einschränkung auf die südostanatolischen Gebiete gewünscht hätte. Insofern hat sich die CDU/ CSU ein Stück weit bewegt, aber — wie wir aus dem Redebeitrag von Frau Steinbach-Hermann soeben entnehmen konnten — doch offensichtlich nur widerwillig und mit Rücksicht auf den Koalitionspartner.Eine Verweigerung, den Abschiebestopp zu verlängern, wäre nur auf der Grundlage einer Analyse der Situation gerechtfertigt gewesen, die zu dem Ergebnis gekommen wäre, daß eine eindeutige Verbesserung der Lage eingetreten ist. Nun keime ich die Analyse des Innenministers nicht, die er z. B. seiner Ablehnung des Gesuches von Hessen zugrunde gelegt hat. Wenn ich aber auf Grund meiner eigenen Informationsmöglichkeiten eine Analyse erstelle, sieht sie offensichtlich ganz anders aus als die des Innenministers und, wie wir eben gehört haben, auch die der CDU/CSU. Aber vielleicht analysiert der Herr Innenminister immer noch; denn ich habe ihm am 18. September 1992 einen Brief geschrieben, den er bis heute nicht beantwortet hat und den zu beantworten er auch auf Nachfrage bis heute nicht in der Lage war.Im März 1992 bat der damalige Außenminister Genscher die Europäische Gemeinschaft, einen gemeinsamen Protest bei der türkischen Regierung gegen die militärischen Aktionen gegen die kurdische Zivilbevölkerung zu unternehmen und die türkische Regierung aufzufordern, die Menschenrechte und die Minderheitenrechte zu respektieren. Seitdem hat sich die Lage in den südostanatolischen Gebieten der Türkei in keiner Weise verbessert. Im Gegenteil: Sie ist dramatisch eskaliert. Es herrscht Bürgerkrieg. Ministerpräsident Demirel hat Anfang Oktober mit der Verhängung des Kriegsrechts gedroht.Im August griffen türkische Sicherheitskräfte die Stadt Sirnak an, alle Häuser und Geschäfte sind zerstört. 25 000 Menschen sind aus dieser Stadt geflohen, vertrieben von ihrer eigenen Regierung. Begründet wird dies mit der notwendigen Bekämpfung des Terrorismus der PKK. Niemand wird diesen Terrorismus beschönigen wollen, niemand der Regierung das Recht absprechen, ihn mit angemessenen Mitteln zu bekämpfen. Die türkische Armee und die Sicherheitskräfte aber wenden unterschiedslos militärische Gewalt gegen die gesamte Zivilbevölkerung der Region an. Alle Kurden stehen unter dem Verdacht des Separatismus oder des Sympathisantentums mit der PKK, nur weil sie Kurden sind.Ich bitte den Innenminister und den Außenminister, doch einmal die zahlreichen Berichte von Delegationen von Parlamentariern zu lesen, die vor Ort recherchiert haben. Lord Avebury, der Vorsitzende der Menschenrechtsgruppe im britischen Parlament, hat zwei Berichte abgegeben, im April und im September dieses Jahres. Er kommt zu denselben Ergebnissen wie die Christlich Demokratische Internationale, die in ihrem Menschenrechtsbericht vom Mai 1992 feststellte: Es gibt in der Türkei Verfolgung der kurdischen Bevölkerung durch die Armee und durch die Sicherheitskräfte.Unbewaffnete Demonstranten werden erschossen, Journalisten auf offener Straße ermordet. Obwohl die Täter bekannt sind, enden die Ermittlungen ergebnislos. Politiker werden ermordet, wie der HEP-Vorsitzende Vedat Aydin, der aus seiner Wohnung verschleppt und einige Tage später tot mit Folterspuren auf einer abgelegenen Landstraße aufgefunden wurde. Die Ermittlungen verlaufen im Sande. Menschen verschwinden, werden verhaftet, gefoltert — alles nur deshalb, weil sich diese Menschen für mehr Autonomie und Selbstbestimmung für Kurden einsetzen.Tausende von türkischen Kurden sind Flüchtlinge in ihrem eigenen Land geworden. Sie sind aus ihren Dörfern vertrieben worden, die von der türkischen Armee verwüstet wurden. Der Bericht der Christlich Demokratischen Internationalen spricht von 50 000 vertriebenen Dorfbewohnern, die in Zelten und Unterständen hausen, weil ihre Dörfer zerstört sind. Anfang Januar 1991 sprach ein Bericht einer belgischen Parlamentarierdelegation von einer „Politik der Vertreibung und der verbrannten Erde". Meine Damen und Herren, dies alles müssen wir doch einmal zur Kenntnis nehmen.Frau Steinbach-Hermann hat in ihrem Redebeitrag am 16. Oktober 1992 einen Abschiebestopp dann gerechtfertigt, wenn in diesen Gebieten militärische Auseinandersetzungen stattfinden. Dann könne man aus humanitären Gründen niemandem zumuten, dorthin zurückzukehren. Dies allerdings gelte für das ganze Land. Frau Steinbach-Hermann, Sie haben das Argument, daß es eine innerstaatliche Fluchtalternative gebe, jetzt wieder angeführt. Ein solches Argument verkennt, wie tiefgreifend das Kurdenproblem mittlerweise die gesamte türkische Gesellschaft ergriffen hat.Geprägt von der Ideologie Atatürks von der „untrennbaren Einheit des türkischen Volkes" , konnte bis vor einigen Jahren nur von „Bergtürken" gesprochen werden. Es gab keine Kurden. Die permanente Repression gegen eine ethnische Gruppe und die Verweigerung jeglicher kultureller Rechte — bis April 1991 war sogar die Sprache verboten — und das Rede- und Denkverbot über die Gewährung völkerrechtlich verbriefter Minderheitenrechte führten zum Kampf der Kurden.Von der PKK wird er mit der Waffe in der Hand ausgetragen. Die Eskalation dieses Konfliktes aber ist der Weigerung der türkischen Regierung zu danken, eine politische Lösung des Problems zu suchen. Sie will auch den letzten Gedanken an Separatismus mit militärischen Mitteln ersticken.
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9820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Uta ZapfDiese Auseinandersetzungen lassen auch den westlichen Teil der Türkei nicht unberührt. Terroranschläge werden bis in die westlichen Metropolen der Türkei getragen. Die Bevölkerung der Westtürkei reagiert darauf mehr und mehr mit Aggression gegen Kurden, die ja auch in großer Anzahl in diesen Gebieten der Türkei leben. Kurden sind in der Türkei eine mißachtete Minderheit. Eine sogenannte inländische Fluchtalternative existiert also nicht.Ich bedauere deshalb, daß der Innenausschuß den Ausweisestopp nur auf jene Kurden beziehen will, die aus dem Südosten kommen. Die Bundesregierung und auch wir als Parlamentarier und Parlamentarierinnen sind aufgefordert, uns der Entschließung des Europäischen Parlamentes vom 17. September 1992 anzuschließen und eine politische Lösung des Kurdenproblems zu suchen. Ich schlage vor, daß die Bundesrepublik die Initiative ergreift, um — wie im März von dem damaligen Außenminister Genscher angeregt — eine Kurdenkonferenz im Rahmen der KSZE abzuhalten.
Nicht nur in der Türkei leben Kurden, denen seit Jahrzehnten das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten wird. Im Iran und in Syrien werden Kurden verfolgt und unterdrückt. Im Irak können wir das einmalige und spannende Experiment verfolgen, wie in der alliierten Schutzzone eine demokratisch gewählte kurdische Regierung um das Überleben ihres Volkes kämpft.Ich freue mich, daß heute bei dieser Debatte auf der Tribüne eine Abordnung dieser irakischen-kurdischen Regierung unter der Leitung des Parlamentspräsidenten Jawhar Salim sitzt, die zur Zeit die Bundesrepublik und Europa bereist, um Hilfe und Unterstützung zu finden.Meine Damen und Herren, die Kurdenfrage muß politisch, demokratisch und friedlich gelöst werden, soll nicht eine ganze Region in Blut und Tränen versinken.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin nicht in der Lage, in fünf Minuten eine generelle Türkeioder Kurdendebatte zu führen. Das ist dem Sachverhalt wohl nicht angemessen. Aber ich finde es nicht richtig, daß unsere Kollegin Jelpke nun wirklich in ununterbrochener Entschlossenheit versucht, die Türkei generell auf eine Anklagebank zu setzen. Das ist der Bedeutung der Türkei, ihrer Rolle und auch unserer Verpflichtung nicht angemessen, Frau Kollegin, dafür zu sorgen, daß die Türkei den Weg nach Europa findet, um sie nicht weiter aus Europa wegzutreiben.
Die Entscheidung zur Verlängerung des Abschiebestopps, über die wir reden, hat der Innenminister zu treffen. Wir hoffen, daß er sich dabei an der Empfehlung orientiert, die wir im Innenausschuß mit breiter Mehrheit gefunden haben.Wir reden über das Schicksal von Menschen, die als Asylbewerber abgelehnt worden sind, die also keine individuelle Verfolgung nachweisen können. Man kann nicht bestreiten, daß in weiten Teilen der Türkei Kurden vollkommen integriert in der Bevölkerung leben, ohne persönliche Schwierigkeiten zu haben. Ich muß jetzt nicht erwähnen, daß der Oberbürgermeister von Istanbul ein Kurde ist, daß der Außenminister ein Kurde ist, daß es 22 kurdische Abgeordnete gibt — was ich übrigens gar nicht beklage, sondern begrüße —, wobei ich ebenso wenig wie Sie weiß, ob die Kurden in der Frage des kurdischen Stammgebietes eine richtige Autonomiepolitik betreiben. Dort machen sie auch nach meiner Überzeugung erhebliche Fehler.Aber das ist nicht das Thema, sondern der Punkt ist, daß in der Tat in weiten Teilen der Türkei, nämlich außerhalb des Bürgerkriegsgebietes, außerhalb des kurdischen Stammgebietes viele Kurden vollkommen integriert in der türkischen Bevölkerung leben und daß sie darum in unserem Asylrecht nicht anders behandelt werden können als andere Türken, die, wenn sie abgelehnt worden sind, in ihr Land zurückkehren müssen.Die Frage ist aber, wie wir mit den Kurden zu verfahren haben, die aus dem Bürgerkriegsgebiet kommen. Da muß man einräumen, daß der Ausgangspunkt für den nun auslaufenden Abschiebestopp die Tatsache ist, daß es dort einen Bürgerkrieg, bürgerkriegsähnliche Zustände gibt — im ersten Halbjahr 1992 550 Tote —, natürlich auch mit der Tötung von Personen, die mit den politischen Auseinandersetzungen überhaupt nichts zu tun haben, oder mit der Tötung von mißliebigen Journalisten oder örtlichen Politikern, wie Sie das dargestellt haben.Darum sagen wir: Es ist nicht richtig und nicht angemessen, Kurden, die aus diesem Bürgerkriegsgebiet kommen, in einer Zeit dorthin zurückzuschicken, in der sich die Verhältnisse nicht gebessert haben, sondern gleichgeblieben, wenn nicht schlechter geworden sind. Das ist der Punkt, weshalb wir dem Innenminister empfehlen, für Kurden, die aus diesem Gebiet kommen, für einen befristeten Zeitraum den Abschiebestopp zu verlängern, ausgenommen allerdings diejenigen, die Straftaten begehen, insbesondere den Versuch unternehmen, durch Rauschgifthandel die Tätigkeit der PKK zu finanzieren. Sie gibt es in einem großen Umfang.
Das kann nicht akzeptiert werden. Wer das tut, muß wissen, daß er unser Land zu verlassen hat. Er kann sich weder auf das Asylrecht noch auf humanitäre Grundsätze berufen, die er selber ja durch seine Tätigkeit hier verletzt.Ich bedanke mich bei den Kollegen der CDU/CSU, daß sie dieser Linie gefolgt sind. Ich freue mich, daß wir nun fast am Ende unserer Tätigkeit im Wasser-
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Dr. Burkhard Hirschwerk eine Entscheidung treffen, die humanitären Charakter hat.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch im Frühjahr beschwor die türkische Regierung ihre Bereitschaft zum Dialog mit den Kurden. Aber seit den Ereignissen um das kurdische Neujahrsfest bestimmte längst wieder Militär und Ausnahmerecht das Verhältnis der Türkei zu ihrer größten Minderheit. Es ist eben eine Sache, demokratische Rechte in Gesetzestexten zu formulieren, eine andere, diese auch durchzusetzen.
Inzwischen sind die Auseinandersetzungen eskaliert und haben zum offenen Krieg zwischen dem türkischen Staat und der PKK geführt. Längst wird dieser Krieg in die unter alliierter Kontrolle stehende kurdische Sicherheitszone im Nachbarland Irak getragen. Gezwungenermaßen — die Türkei ist ihr einziger Zugang zur Außenwelt — kooperieren die irakisch-kurdischen Peschmergas mit der türkischen Armee im Kampf gegen die PKK.
In diese außerordentlich komplizierte Situation hat die Bundesregierung innerhalb des letzten Jahres mehrfach aktiv eingegriffen, einmal mit einem Lieferstopp für ehemalige NVA-Waffen, zwei Monate später mit der Ankündigung der Wiederaufnahme derartiger Lieferungen, nun mit der bevorstehenden Übergabe von leicht zu Kampfbombern umzurüstenden Phantom-Jets.
Der beharrlich wiederholten Forderung der deutschen Seite, deutsche Waffen nur im Rahmen des NATO-Vertrages zu verwenden, kann in Ankara jederzeit problemlos zugestimmt werden. Dort weiß man ebenso wie die wichtigsten westlichen Verbündeten längst, daß die Verwendung deutscher Waffen gegen die PKK-Terroristen keineswegs im Widerspruch zum beschlossenen neuen strategischen Konzept der NATO steht, das den Kampf — ich zitiere —„gegen Terror und Sabotage aus welcher Richtung auch immer" ausdrücklich zuläßt. Ein Mißbrauch der Waffen kann also nur dadurch verhindert werden, indem man keine Waffen mehr liefert.
Die Bundesregierung hat öffentlich mehrfach die Priorität der Menschenrechte betont, aber sie hat diese Aussage in bezug auf die außerordentlich schwierige Menschenrechtssituation in der Türkei zunehmend relativiert. Es scheint sich mittlerweile bei den westlichen Regierungen der Konsens zu entwikkeln, daß eine vermeintlich positive Rolle der Türkei in Zentralasien wichtiger ist als das Schicksal des um seine Selbstbestimmungsrechte betrogenen kurdischen Volkes.
Die Aufkündigung eines Abschiebestopps für Flüchtlinge aus den Staaten, in denen Kurden leben und überall als Volksgruppen verfolgt werden, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach unverantwortbar. Seit Jahren sind ungezählte Menschen in allen Herkunftsstaaten der Kurden immer wieder zwischen die Fronten von staatlichem Terror und dem Terror des jeweiligen Widerstandes geraten.
Diesen vom Terror betroffenen Menschen muß unsere Unterstützung und unsere ganze Fürsorge gelten. Eine Nichtverlängerung des Abschiebestopps wäre vor allem bei den Herrschenden in der Türkei als falsches Signal verstanden worden.
Die vom Innenausschuß formulierte, sich nur auf die Krisenregionen beziehende Einschränkung befriedigt uns nicht. Wir werden dennoch der Beschlußempfehlung zustimmen.
Als letzter spricht in dieser Runde zum Tagesordnungspunkt 9 der Parlamentarische Staatssekretär Horst Waffenschmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung möchte ich zu diesem Fragenkomplex drei kurze Feststellungen treffen.Erstens. In diesem Jahr haben mehrere Bundesländes einen befristeten Abschiebestopp für türkische Kurden erlassen. Von diesen Ländern haben aber nur drei den Bundesminister des Innern gebeten, sein erforderliches Einvernehmen nach § 54 des Ausländergesetzes zur Verlängerung des Abschiebestopps über sechs Monate hinaus zu erteilen.Da ein bundeseinheitliches Vorgehen, ein bundeseinheitlicher Abschiebestopp, damit nicht gegeben war, hat der Bundesminister des Innern insoweit sein Einvernehmen nicht erteilt. Wie Sie wissen, müssen der Bundesminister des Innern und die Gesamtheit der Länder auf ein einheitliches gesamtstaatliches Vorgehen achten.Zweitens. Ein bundesweites Einvernehmen über einen Abschiebestopp wurde deshalb bisher nicht erzielt, weil nach mehrheitlicher Auffassung nicht davon ausgegangen wird, daß jeder türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, nur weil er dieser Volksgruppe angehört, in der Türkei einer erheblichen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit ausgesetzt ist. Davon wurde schon in der Debatte sehr sachgerecht gesprochen.In der Türkei leben heute rund 12 Millionen Kurden. Etwa die Hälfte davon lebt außerhalb des engeren kurdischen Siedlungsgebietes, vorwiegend in der Westtürkei. Die Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und den kurdischen Separatistenbewegungen sind auf einen Teil des kurdischen Siedlungsgebietes beschränkt.Es muß zu diesem ganzen Fragenkomplex auch festgestellt werden, daß im Rahmen der Einzelfallprüfung gewährleistet ist, daß bei bestehender Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit nach den allgemeinen ausländer- und asylrechtlichen Bestimmungen gefährdete Kurden vor einer Abschiebung ausreichend geschützt sind.
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9822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Horst WaffenschmidtDrittens. Wenn der Deutsche Bundestg nun auf Grund der Empfehlungen des Innenausschusses wegen der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei einen zeitlich befristeten Abschiebestopp für diejenigen Kurden befürwortet, die aus dem betreffenden Teil des kurdischen Siedlungsgebietes in das Bundesgebiet kommen, so wird der Bundesminister des Innern die Erörterung mit den Ländern umgehend wieder aufnehmen.Wir werden uns im Bundesministerium des Innern darum bemühen, eine bundeseinheitliche und praktikable, zeitlich befristete Regelung auf der Grundlage dieses Beschlusses zu erreichen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch?
Ja, bitte schön, Herr Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär Waffenschmidt, wir sind uns doch wohl darin einig, daß die gesetzliche Regelung des Ausländergesetzes zwar eine bundeseinheitliche Regelung anstrebt, sie aber keinesfalls voraussetzt?
Herr Kollege Hirsch, ich darf darauf hinweisen, daß wir als Bundesregierung uns mit allen Ländern darüber einig sind, daß alle Anstrengungen unternommen werden müssen, ein gesamtstaatlich zu verantwortendes einheitliches Vorgehen zu erreichen. Darum wollen wir uns bemühen. Dies sagte ich gerade.
Ich denke, wir sollten diese Gespräche sofort aufnehmen. Entscheidend wird sein, daß wir die von mir erläuterte Bundeseinheitlichkeit erzielen; denn sie wird auch im Gesamtrahmen unserer Bemühungen im Asylbereich notwendig sein. Ich will das ausdrücklich betonen. Wir brauchen die enge Zusammenarbeit und soweit wie möglich die Herstellung eines Einvernehmens von Bund und Ländern. Dafür wird die Bundesregierung eintreten.
Ich denke, wir sollten uns gemeinsam mit den Ländern darum bemühen, eine sachgerechte Regelung des Asylrechts zu finden, die auch den dringend notwendigen hier angesprochenen humanitären Bemühungen gerecht wird.
Insoweit sage ich Ihnen zu, daß die Bundesregierung durch den Bundesminister des Innern die Kontakte mit den Ländern wieder aufnehmen wird, um ein einheitliches gesamtstaatlich verantwortliches Vorgehen zu erreichen,
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3568, den Antrag der Fraktion der SPD in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS angenommen.
Unter Nummer 2 seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Innenausschuß, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3215 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! Enthaltungen? — Dann ist auch diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zollrechtsänderungsgesetzes
— Drucksache 12/3436 —Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen an das Gemeinschaftsrecht sowie zur Änderung anderer Gesetze
— Drucksache 12/3432 —
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr EG-Ausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Poß, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirksame Investitionszulage für die neuen Bundesländer
— Drucksache 12/3531 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
Nach der Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Wolfgang Schulhoff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst die Regieführung des Ältestenrates und des Präsidiums ausdrücklich dafür loben, daß es gelungen ist, im Hinblick auf die bevorstehende Feier zum Abschlußthema unserer Tätigkeit in diesem Parlamentsgebäude unter anderem die Bier-, Sekt-, Wein- und Kaffeesteuer als flüssigen Übergang zu den kommenden Ereignissen zu finden.
Und dazu kommt natürlich auch der Tabak.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9823
Wolfgang SchulhoffAber, meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst die Theorie und dann die Praxis. Im Zuge der Beratungen über die Maastrichter Verträge wurde intensiv über den bisherigen Integrationsprozeß und dessen Auswirkungen gesprochen. Allgemeiner Tenor war, daß in der Vergangenheit offensichtlich zuviel harmonisiert wurde. Sie kennen all die Beispiele von der EG-Gurke über den Apfel bis hin zum Rasenmähermotor. Dabei tritt oft das Positive in den Hintergrund.Wen auch immer die Schuld trifft sollte jetzt nicht erörtert werden. Es ist auch müßig. Wichtig ist jedenfalls, daß wir erkannt haben, zukünftig so wenig wie nötig zu regeln und vielleicht dort zu reparieren, wo zuviel des Guten getan wurde.Es gibt aber Bereiche, wo eine Harmonisierung unumgänglich ist, wie hier der Komplex der Verbrauchsteuern im Binnenmarkt zeigt. Wenn die Grenzen und damit die Grenzkontrollen fallen — und dies wird natürlich am 1. Januar 1993 der Fall sein —, werden Verbrauchsteuern für den innergemeinschaftlichen Verkehr an den Binnengrenzen nicht mehr erhoben. Es muß also, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, eine Annäherung der Steuerstrukturen und vor allem der Steuersätze erfolgen, wie es ja schon bei der Mehrwertsteuer geschehen ist.Auch gilt bei den Verbrauchsteuern künftig im nichtkommerziellen innergemeinschaftlichen Reiseverkehr das Ursprungslandprinzip, während im innergemeinschaftlichen Handel weiter das Bestimmungslandprinzip gilt.Angesichts nach wie vor unterschiedlicher Steuersätze in den einzelnen Ländern bestehen hier Möglichkeiten zu Mißbräuchen. Zwar wird der Zoll als zuständige Finanzverwaltung präventiv tätig und versucht so die Einhaltung der Verfahrensvorschriften zur Abgabepflicht und damit auch die Steuererhebungen sicherzustellen, aber das kann keine Lösung auf Dauer sein.Hier zeigt sich deutlich, wie wichtig es ist, nicht nur Mindeststeuersätze wie hier zu vereinbaren, sondern Steuersätze in gleicher Höhe festzusetzen. Hier muß noch weiter harmonisiert werden. Nur eine Angleichung auch der Höhe beseitigt Wettbewerbsverzerrungen, schafft Marktgerechtigkeit und entlastet uns letztlich auch von überflüssiger Bürokratie.Beispielhaft sei hier nur genannt — wir haben es heute bei der Anhörung ja hören können —, daß wir zwei Mark für den Sekt, für den Schaumwein nehmen, die Franzosen fünf Pfennig. Vielleicht ist deshalb der Champagnerfluß etwas geringer geworden.
— Aber, Herr Kollege, auf Bier komme ich gleich. Da ich meinen hochverehrten Kollegen Grünewald, der nach mir sprechen will, inhaltlich weder übertreffen kann noch will, möchte ich nur noch zwei Punkte hier erwähnen und mich darauf auch beschränken.Als Düsseldorfer Abgeordneter, der aus einer Stadt kommt, die wegen ihres Altbiers und ihrer Vielzahl von Hausbrauereien weltberühmt ist
— zum Glück ist kein Kölner hier im Hause —,
sage ich: Von detaillierten Zahlen über den überdurchschnittlichen Altbiergenuß der Düsseldorfer; gemessen am EG-Durchschnitt, sollten Sie hier heute abend in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit verschont bleiben, Und man hat mir auch gesagt, er wäre in dieser Woche noch leicht gestiegen. Ich weiß nicht, woher das kommt; vielleicht war der CDU-Parteitag der Anlaß.Als Kind dieser Stadt darf ich ausdrücklich dem bayerischen Finanzminister danken. Ihm ist es gelungen, die Staffelung der Biersteuer gegen Widerstände in anderen Mitgliedstaaten durchzusetzen.Sehen Sie, lieber Herr Stücklen, auf die Bayern ist in wichtigen Fragen immer Verlaß.
Dies ist nicht nur ein wichtiges Instrument zur Stärkung des Mittelstandes, sondern zeigt, wie es gelingen kann, besondere nationale, ja sogar regionale Besonderheiten und Eigenheiten zu respektieren.
Herr Schulhoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?
Bitte.
Herr Kollege, wissen Sie, daß Sie damit eigentlich in Bayern eine Revolution verhindert haben? Denn in Bayern sind nur wegen Bierpreisen Revolutionen ausgebrochen.
Das weiß ich. Ich sagte ja: In wichtigen Fragen ist auf die Bayern immer Verlaß.Wir wollen ja ein Europa der Vielfalt, und gerade diese Vielfalt bedarf unseres besonderen Schutzes.Gleichzeitig sei aber auch darauf hingewiesen, daß die Biersteuer auf keinen Fall erhöht werden darf. Sie ist ja leider etwas erhöht worden, damit die Konkurrenz zum Wein nicht zu groß und zu unerträglich wird. Das Maß ist hier voll.
— Da kann ich Sie beruhigen, es wird keine Weinsteuer geben. Ich hoffe, daß der Staatssekretär das gleich bestätigen wird.Der zweite und letzte Punkt ist die Praktikabilität der Regelungen. Die betroffenen Unternehmen haben schon in der Anhörung zum Umsatzsteuerbinnenmarktgesetz deutlich gemacht — und dies hat sich auch in der heutigen Anhörung zum Verbrauchsteuerbinnenmarktgesetz gezeigt —, daß die Umsetzung der Bestimmungen kaum praktikabel ist.
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9824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Wolfgang SchulhoffWie immer steckt auch hier der Teufel im Detail, insbesondere, wenn es sich wie hier um Steuerpolitik handelt. Das haben wir oft leidvoll erfahren müssen. Deshalb sind noch viele einzelne Punkte im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu klären, damit auch die Wirtschaft Klarheit hat und sich niemand um den Standort Deutschland und damit um Arbeitsplätze ängstigen muß.Was wir jetzt brauchen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Maßnahmen, die keine Angst erzeugen, sondern Hoffnung machen und neues Vertrauen in den europäischen Integrationsprozeß begründen.Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Detlev von Larcher.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Da ich hier oben stehe, erfaßt mich ein Gefühl für diesen geschichtlichen Augenblick,
bin ich doch der letzte Sozialdemokrat, der in diesem Wasserwerk eine Parlamentsrede hält.
Ich erschauere vor der Möglichkeit, ein kleines Zipfelchen von jenem Mantel der Geschichte zu ergreifen, der unseren Kanzler Tag und Nacht umweht.
Aber im Ernst: Ich freue mich, daß eine Fügung des Ältestenrates mir die Möglichkeit gibt, mich so persönlich von unserem Wasserwerk zu verabschieden. Es hat uns gute Dienste geleistet. Und ich sage dies, auch wenn ich in diesem Parlament von der Dauer der Zugehörigkeit her zu den Youngstern zähle.
Meine Damen und Herren, wir beraten heute in verbundener Debatte das Zollrechtsänderungsgesetz, die Harmonisierung von Verbrauchsteuern und unseren Antrag zur Investitionszulage.Zum Zollrechtsänderungsgesetz will ich nur sagen: Wir Sozialdemokraten sehen da keine Probleme, wir können diesem Gesetzentwurf so zustimmen.Was die Steuerharmonisierung anlangt, hat mein Vorredner schon einiges gesagt. Die Spielräume, die uns die EG-Richtlinien lassen, sind gering. In der heutigen Anhörung im Finanzausschuß hat sich natürlich gezeigt, daß allen Interessenten, allen, die es betrifft, daran gelegen war, möglichst wenig Steuern zu zahlen. Das ist verständlich.
— Keine neue Erkenntnis, das ist richtig.
Es gibt in diesem Gesetz doch einiges, was wir im Ausschuß noch gründlich beraten müssen,
etwa, ob die Bundesregierung tatsächlich heimliche Steuererhöhungen plant, indem sie bei der Kaffeesteuer von der Rohstoffbesteuerung zur Feinkaffeebesteuerung übergeht.
— Dazu könnte ich eine Menge sagen.In Detailfragen, wie gesagt, müssen wir beraten. Hier haben wir die alte Erfahrung gemacht, daß alles das, was von Europa kommt, für uns sehr wenig Spielräume läßt.Wir haben heute in der Anhörung einen großen Teil der Zeit darauf verwandt, uns — natürlich berechtigte — Interessen von Erzeugern, von Händlern anzuhören. Es geht um relativ kleine Beträge und um relativ wenige Arbeitsplätze. Ich habe mir bei dieser Anhörung überlegt: Was muß eigentlich in den Köpfen von ostdeutschen Abgeordneten vorgehen, wenn wir auf diesen Teil der Anhörung soviel Zeit und Aufwand verwenden, wo es doch eigentlich um eine viel, viel größere Aufgabe geht, nämlich um die Förderung in den neuen Ländern und den Aufbau Ost?Damit bin ich bei der Investitionszulage. Die Investitionszulage ist heute in der Anhörung als ein sehr wichtiges, als das wichtige Instrument für den Aufbau Ost, für die neuen Bundesländer bezeichnet worden. Diese Meinung haben sowohl der DIHT, die Institute und die Wirtschaftsverbände vertreten. Besonders wichtig ist die Investitionszulage für kleine und mittlere Unternehmen, die kein Eigenkapital haben. Weil sie kein Eigenkapital haben, haben sie Schwierigkeiten, Kredite zu besorgen. Das heißt: Eine wirksame Investitionshilfe ist ein ganz wichtiges Mittel zur Eigenkapitalbildung.Im Gegensatz dazu ist es für die von mir angesprochenen Unternehmen unsinnig, auf Abschreibungen zu hoffen; denn wo keine Gewinne sind und es nichts zu versteuern gibt, kann auch nichts abgeschrieben werden. Deswegen werden wir dafür plädieren, die Sonder-AfA zurückzuführen.Für die Investitionszuschüsse gilt in bezug auf diese Unternehmen, daß sie zu unsicher sind, daß sie kein effektives Mittel sind, denn die Unternehmen haben keinen Rechtsanspruch. Die Antragstellung und das Genehmigungsverfahren sind sehr umständlich. Aus diesem Grunde fordern wir Sozialdemokraten eine Erhöhung der Investitionszulage auf mindestens 20%.
— Das wollen wir hoffen. Die von der Bundesregierung vorgeschlagenen 8 % und ab dem nächsten Jahr 5 % sind erstens zu wenig, und zweitens ist die vorgesehene Dauer viel zu kurz.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9825
Detlev von LarcherWir müssen, wie gesagt, eine wirksame Investitionszulage für eine viel längere Zeit haben.
— Ja, ich komme auch noch auf diese Frage.Außerdem gehen wir davon aus, daß die Investitionszulage konzentriert eingesetzt werden muß.
Auch dazu haben wir heute im Ausschuß bei der Anhörung etwas zu hören bekommen. Ich sage nur als Stichwort: Bundesbank oder DIHT, wenngleich sich die Herren natürlich mit praktischen Vorschlägen dort sehr zurückgehalten haben. Aber Sie haben dem Grundsatz zugestimmt.Handel und Dienstleistungen sind in den neuen Bundesländern inzwischen einigermaßen auf die Beine gekommen. Es zeigt sich z. B., wenn man durch die neuen Bundesländer fährt, daß wir auf den meisten Marktplätzen mehrere Bankfilialen und Versicherungsagenturen finden.
Ich denke, dieser Wirtschaftszweig bedarf keiner weiteren Förderung. Deswegen sagen wir: Wir wollen das auf den Bereich konzentrieren, der fehlt, auf den produktiven Bereich, und da insbesondere auf Industrie und Gewerbe, auf kleine und mittlere Unternehmen, auf Handwerksbetriebe und auf die Neugründung für Ortsansässige.Die Förderung nach dem Gießkannenprinzip muß aufhören,
weil sie zu zu vielen Mitnahmeeffekten — übrigens auch sehr ärgerlichen Mitnahmeeffekten — führt. Ich erinnere nur an die Lastwagen, die dort zugelassen sind und im Westen fahren.
Im übrigen gibt es in den neuen Bundesländern ein geflügeltes Wort.
Wenn sie sich darüber unterhalten, was Marktwirtschaft bedeutet, dann sagen sie: Bei uns der Markt, im Westen die Wirtschaft. So kann das nicht weitergehen.
Nun bin ich bei den Mehrkosten. Wir schätzen, daß unser Antrag, wenn dem so entsprochen wird, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir die SonderAfA zurückführen wollen, etwa 3 bis 4 Milliarden DM pro Jahr an Mehrkosten verursacht.
Wenn man die Investitionszuschüsse, über die ich ja etwas gesagt habe, kürzt, dann werden die Mehrkosten noch geringer. Aber ich frage Sie: Sind das nicht sinnvoll angewandte Mittel, wenn wir dadurch Arbeitsplätze schaffen, wenn wir dadurch neue Betriebe schaffen, wenn wir dadurch Klein- und Mittelbetriebe fördern und wenn schließlich und endlich dadurch der Aufbau Ost vorankommt?
Unsere Meinung ist, daß dies unabdingbar erforderlich ist. Ich erinnere daran, daß die Ostabgeordneten der CDU ihrem Bundeskanzler dieses schon seit langer Zeit vorgehalten und gefordert haben.
Ich möchte Sie bitten, bei dieser Forderung zu bleiben, die Westkollegen zu überzeugen. Insgesamt bitte ich dieses Hohe Haus,
unserem Antrag im Interesse eines wirksamen Aufbaus Ost zuzustimmen.Ich danke Ihnen, und meinem Nachredner schenke ich eine Minute Redezeit.
Als nächster Redner hat nun der Abgeordnete Gerhard Schüßler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Entwurf des Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetzes werden EG-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt. Das ist die entscheidende Grundlage dafür, daß wir auf Grenzkontrollen ab 1. Januar kommenden Jahres verzichten können. Ich denke, das ist eine positive Nachricht, über die wir uns gemeinsam freuen können.Auch für die Zollverwaltung ergibt sich aus der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes als eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist, auch eine veränderte Aufgabenstellung. Im Zusammenhang damit steht der Erlaß des Zollkodexes der Gemeinschaft, der als unmittelbar geltendes Recht die Gesamtheit des Zollrechts regelt. Er räumt den Mitgliedsstaaten im übrigen im Zusammenhang mit der Durchführung des Zollrechts eigene Zuständigkeiten ein.Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, waren Kontrollmöglichkeiten bisher auf den grenznahen Raum beschränkt. Sie werden nun auch außerhalb der Zollgrenzbereiche möglich sein. Auf diese Weise wird die Zollverwaltung auch weiterhin Mißbräuche bei der Einbringung verbotener Waren wirksam bekämpfen können. An dieser Stelle sind ja viele Befürchtungen laut geworden.Das Verbrauchsteuerrecht wird in der Europäischen Gemeinschaft auf Tabak, Mineralöl und Alkoholge-
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Gerhard Schüßlertränke konzentriert. Nationale Verbrauchsteuer bleibt lediglich die Kaffeesteuer. Die Steuern auf Schmierstoffe, Zigarettenpapier und Kau- und Schnupftabak werden abgeschafft. Das dient insbesondere, wie Sie wissen, dem Erhalt von Arbeitsplätzen und auch der Wettbewerbsfähigkeit. Es besteht auch noch Beratungsbedarf bei der zukünftigen Besteuerung von Steckzigaretten und den Schmierstofflagerbeständen zum 31. Dezember dieses Jahres. Mit der Verabschiedung des Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetzes haben wir bereits Verbrauchsteuern auf Leuchtmittel, Salz, Zucker und Tee abgeschafft.Dieses Gesetz sieht außerdem vor, daß die Investitionszulage von 8 % für die neuen Bundesländer verlängert wird. Zudem wird für Investitionen, die ab Mitte 1994 begonnen und bis Ende 1996 abgeschlossen werden, eine Investitionszulage von 5 % gewährt.Meine Damen und Herren, den hierzu vorliegenden Antrag der SPD lehnt die F.D.P. in dieser Form ab.
— Jetzt hören Sie zu. Die Verlängerung der Investitionszulage erhöht grundsätzlich die Berechenbarkeit wirtschaftlicher Fördermaßnahmen, verbessert gleichzeitig die Liquidität und berücksichtigt die schmale Eigenkapitalbasis von Unternehmen.Herr Kollege Larcher, man kann es ja durchaus als wünschenswert bezeichnen, eine Aufstockung der Investitionszulage auf 20 % zu beschließen. Sie wissen aber natürlich ganz genau, daß das so nicht machbar ist. Selbst wenn man eine solche Aufstokkung auf den gewerblich-industriellen und handwerklichen Bereich sowie auf Neugründungen von Ortsansässigen beschränkt, wie Sie es fordern, meine Damen und Herren von der SPD, so ergibt sich im Gegensatz zu der von Ihnen genannten Zahl nach Auskunft des Finanzministeriums ein neuer zusätzlicher Finanzbedarf von mindestens 20 Milliarden DM für die Jahre 1993 bis 1996.
Dafür haben Sie natürlich — wie könnte es anders sein — üblicherweise keinen Deckungsvorschlag.Zum gleichen Zeitpunkt, da Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher Wolfgang Roth auf Grunddes negativen Konjunkturverlaufs ein Loch von 20 Milliarden DM auf der Einnahmenseite des Staates prophezeit und gleichzeitig eine Vielzahl von in der Tat vorhandenen Haushaltsrisiken beklagt,
stellen Sie einen Antrag mit der Folge einer Ausgabenerhöhung von mindestens 20 Milliarden DM
ohne jedweden Deckungsvorschlag. Das reiht sichnahtlos in die Vielzahl Ihrer ausgabenwirksamenAnträge ein, die, hätten Sie die Chance einer parlamentarischen Mehrheit, nun in der Tat die Staatsfinanzen ruinieren würden.
Noch schlimmer ist, daß Sie mit dererlei Anträgen, von denen Sie genau wissen, daß sie so nicht erfüllbar sind, die Menschen in den neuen Bundesländern immer wieder aufs neue enttäuschen.
Für Existenzgründer aus den neuen Ländern muß auch aus unserer Sicht zielgerichtet etwas getan werden. Dabei ist eine Ausweitung der Investitionszulage eine wirksame Möglichkeit, aber nicht die einzige.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?
Bitte schön.
Herr Kollege, wie sehen Sie dann die Forderungen der ostdeutschen Kollegen von der CDU, wenn doch das, was ich beantragt habe, so unsinnig ist? Warum verlangen sie das ebenfalls?
Herr Kollege Larcher, wir haben doch heute morgen in der Anhörung des Finanzausschusses unsere Position sehr eindeutig bestätigt bekommen, und sie wird auch Gegenstand der weiteren Beratung sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren: Dabei ist eine Ausweitung der Investitionszulage eine wirksame Möglichkeit, aber nicht die einzige. Auf jeden Fall sollten es aber insbesondere aus Haushaltsgründen zielgerichtete Hilfen für mittelständische Existenzgründer sein.
Unsere Position ist, wie ich gerade betont habe, heute morgen in der Anhörung des Finanzausschusses sehr eindeutig bestätigt worden. Ich denke, wir werden bei den weiteren Beratungen genau in diesem Sinne verfahren.
Vielen Dank.
Als nächstes spricht die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die allgemeine Heiterkeit im Saal ist ansprechend. Ich kann sie allerdings nicht ganz teilen. Mir wären statt eines neuen Plenar-
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Dr. Barbara Höllsaals wirkliche Ansätze zu einer neuen Politik lieber.
Aber nach der Debatte heute, ob das Verkehr oder der Parlamentarische Staatssekretär ist, habe ich da leider relativ wenig Hoffnung, beginnend mit der nächsten Sitzungswoche.Gestatten Sie mir, daß ich mich in den mir zur Verfügung stehenden drei Minuten auf den Antrag der SPD beschränke.Die SPD-Fraktion beantragt anläßlich der im Gesetzespaket der Bundesregierung enthaltenen Änderung des Investitionszulagengesetzes, die Investitionszulage für die neuen Bundesländer anzuheben und zu verlängern. Offenbar können allerdings auch die Sozialdemokraten nicht begreifen, warum Unternehmer in Ostdeutschland so wenig investieren. Das Ifo-Institut rechnet für 1992 mit Investitionen der westdeutschen Unternehmen, einschließlich der Post, in Höhe von 43,5 Milliarden DM. Im vergangenen Jahr erreichten die Bruttoinvestitionen je Einwohner in den neuen Ländern knapp die Hälfte der westdeutschen Quote. Für dieses Jahr hat das Frühjahrsgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute ein Verhältnis von 100 zu 58 bis 63 % prognostiziert.Wer — wie die SPD — das Hohelied des Kapitalismus singt
und ausbleibende Investitionen der Kapitalisten beklagt, verhält sich zu diesem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bestenfalls wie eine Änderungsschneiderei und ist entweder unwissend oder naiv.Das dem Kapitalismus immanente Konkurrenzprinzip zwingt nun einmal jeden Unternehmer — bei Strafe seines Unterganges —, Profit zu machen. Der über die Konkurrenz vermittelte Zwang zur Vermehrung des abstrakten Reichtums als solchem läßt die Arbeitskraft, Produktionsmittel und die Ressourcen als zu minimierende Kostenfaktoren erscheinen.
Obwohl in den neuen Bundesländern 1991 —
— Wenn Sie es nicht verstehen, ist das Ihr Problem, nicht meines!
Obwohl in den neuen Bundesländern 1991 die Bruttolohn- und -gehaltssumme je Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin — —
Sie haben hier vorwiegend das Wort, sonst haben wir keine Anlässe zur Reaktion.
Obwohl in den neuen Bundesländern 1991 die Bruttolohn- und -gehaltssumme je Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin nur bei 44,6 % des westdeutschen Niveaus in der Gesamtwirtschaft lag, konnte der Preis der Ware Arbeitskraft z. B. in Polen oder in der CSFR noch unterboten werden. Zudem kann der ostdeutsche Markt ohne Schwierigkeiten mit Waren und Dienstleistungen aus Westdeutschland versorgt werden. Westdeutsche Unternehmen engagieren sich in Ostdeutschland überwiegend dann, wenn es gilt, die ihnen von dort drohende Konkurrenz auszuschalten, und die Treuhand hilft. Das, was als Investitionsschwäche bezeichnet und beklagt wird, ist systemimmanent.
Statt weiterhin — wie von der SPD vorgeschlagen — zu versuchen, von der Angebotsseite her die Investitionsbereitschaft der Unternehmer zu erhöhen, und statt darauf zu verzichten, öffentliche Finanzhilfen in regionalpolitische Programme einzubinden, sollte endlich begonnen werden, an die schnell mobilisierbaren Mittel des Geldvermögens der westdeutschen Unternehmen heranzukommen, die laut Angaben der Bundesbank über 600 Milliarden DM betragen.
Die SPD tut so, als hätte es in der alten Bundesrepublik Diskussionen über den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft nie gegeben und als könnte der ökonomische Aufbau in den neuen Bundesländern mit dem Instrumentarium geleistet werden, das auch vergiftetes Wasser, vergiftete Böden und sterbende Wälder produziert hat.
Ich vermisse in dem Antrag der SPD Elemente einer alternativen Wirtschaftspolitik; denn theoretisch könnte noch die letzte Giftmühle Anspruch auf diese Investitionszulage erheben.
Im Gegensatz zur SPD sagen wir, woher das Geld genommen werden soll. Die PDS/Linke Liste befürwortet nachhaltig die Erhebung einer Investitionshilfeabgabe von westdeutschen Unternehmen in Höhe von 1,5 % ihrer Bruttowertschöpfung. Wir bejahen die Lenkungsfunktion einer solchen Abgabe und sehen in ihr eine Möglichkeit, die Gewinner und Profiteure der Einheit zur Kasse zu bitten.
Um Bundesregierung, Koalition und SPD die Gelegenheit zu geben, noch etwas zu lernen, stimmen wir den Überweisungsvorschlägen zu.
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben noch zwei Redner. Ich freue mich, daß Sie schon so zahlreich da sind. Diese beiden hören wir noch an.
Als erster hat Herr Abgeordneter Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir drei ganz kurze Bemerkungen zum Entwurf des Zollrechtsänderungsgesetzes. Sie mögen
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9828 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Dr. Wolfgang Ullmannsignalisieren, in welcher Richtung ich mich in der Ausschußarbeit zu engagieren gedenke.Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Form des Gesetzes. Auch dieser Entwurf huldigt der beim letzten Juristentag in Hannover beklagten Mode der Artikelgesetze. Es heißt die Asymmetrie doch ziemlich weit treiben, wenn ein Artikel aus 32 Paragraphen, die beiden anderen aus je einem bestehen. Steckt im Hintergrund nicht doch ein schwerwiegendes Sachproblem? Wir entwerfen ein Zollrechtsänderungsgesetz, wo wir angesichts der voranschreitenden europäischen Integration doch wohl ein ganz neues Zollrecht bräuchten.Die zweite Bemerkung bezieht sich auf zwei materiellrechtliche Regelungen. Ist es wohlgetan, laut § 2 und § 29, dem Ministerium der Finanzen so weitgehende Verordnungsvollmachten einzuräumen, daß die parlamentarische Kontrolle einerseits institutionell einmal mehr ins Hintertreffen gerät und illegitimen Interessen eine willkommene Tarnung von Legalität angeboten wird? Und ist es im Interesse des Zolls, seine Verantwortlichkeiten denen des Bundesgrenzschutzes so weit anzunähern, wie es in den §§ 10 und 14 angedeutet ist?Die dritte Bemerkung bezieht sich auf die europäische Perspektive. Meines Erachtens stehen wir vor einer schwerwiegenden Alternative: Wollen wir eine immer dichtere Vernetzung anonymer Sicherheitssysteme ähnlich dem, das der Maastrichter Vertrag skizziert, oder wollen wir mehr gesellschaftliche und politische Transparenz in überschaubaren Regionen anstreben, eine Transparenz, die gegen die Ausbildung parasitärer Bürokratien und mafioser Geheimorganisationen resistent ist? Es sollte eine der Ausschußaufgaben werden, den Gesetzentwurf an diesem Kriterium zu messen.Ich danke Ihnen.
Als letzter Redner hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit Ihrer Einigung über die Harmonisierung der Verbrauchsteuern haben die Finanzminister erst in der vergangenen Woche am Montag die Tür zum Binnenmarkt nun endgültig und unwiderruflich aufgestoßen. Wir stehen unmittelbar vor dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten.
Mit dem Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz soll im wesentlichen eine EG-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Die Besteuerung beschränkt sich in der EG zukünftig auf Bier, andere alkoholische Getränke, Mineralöl und Tabakwaren. Als reine nationale, aber nicht harmonisierte Steuer verbleibt nur die Kaffeesteuer. Die Steuern auf Schmierstoffe, Zigarettenpapier, Kau- und Schnupftabak werden ebenso abgeschafft wie schon im EG-
Binnenmarktgesetz auf Zucker, Salz, Tee und Leuchtmittel.
Da die deutschen Steuersätze grundsätzlich über den von der EG vereinbarten — —
Jetzt sollten wir noch für einen Augenblick den Geräuschpegel zurücknehmen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin!
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hornhues?
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, entschuldigen Sie bitte, aber ich habe wegen des Geräuschpegels leider nicht verstanden: Soll die Tabaksteuer erhöht oder gesenkt werden?
Auf die Tabaksteuer komme ich noch.
Da die deutschen Steuersätze grundsätzlich über den von der EG vereinbarten Mindestsätze liegen, können, abgesehen von der Biersteuer, die derzeit geltenden Steuersätze beibehalten werden. Auch bei Bier sind, soweit es den Ausstoß der großen Brauereien betrifft, allenfalls kleine Korrekturen erforderlich, 1,25 DM pro Flasche Bier.
— Ich weiß, daß es kolossal schwierig ist, vor einem solchen Abend über die Biersteuer reden zu müssen. — Andererseits gibt es bei anderen Bierarten Entlastungen, insbesondere bei den leichten Bieren und bei jenen Bieren, die völlig alkoholfrei sind.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Feilcke?
Aber bitte sehr.
Herr Staatssekretär, könnten Sie in Anbetracht der Bedeutung dieses Themas bitte präzisieren: Geht es um Drittel- oder um Halbliterflaschen Bier?
Um die normale Halbliter-Bierflasche; vielleicht hat dies der Aufklärung gedient.Wegen der unterschiedlichen Bedeutung der Verbrauchsteuern für die Haushalte der Mitgliedstaaten — darauf hat Kollege Schulhoff dankenswerterweise
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9829
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldschon hingewiesen — konnte eine völlige Harmonisierung leider nicht erreicht werden.
— Ja, der fröhliche Rheinländer Schulhoff.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Kubatschka?
Bitte sehr.
Herr Kollege, um die Volksseele zu beruhigen, frage ich: Haben Sie gesagt, 1,25 DM pro Flasche Bier?
Nein.
— 1,25 Pfennig!
Ich danke Ihnen für diese aufklärende Frage ganz besonders herzlich. Ich hätte mich heute abend nirgendwo mehr sehen lassen können. 1,25 Pfennig pro Halbliterflasche.
— Liebe Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen doch, wie gerne ich auch selber Bier trinke.
Bei einigen Steueraufsichtsmaßnahmen müssen wir natürlich bleiben. Das gilt insbesondere mit Sicht auf die Heizöllieferungen, die wir aus Belgien und Luxemburg nach Deutschland zu besorgen haben. Das wird nicht ohne Zollaufsichtsmaßnahmen gehen.
Lassen Sie mich nur stichwortartig noch erwähnen: Bei der Weinsteuer haben wir uns durchgesetzt, sie wird nicht notwendig werden.
— Sehen Sie, so schön ist das. — Die ermäßigte und pauschale Besteuerung der sogenannten Abfindungsbrenner — auch ein ganz wichtiges Thema — wird uns erhalten bleiben. Eine frohe Botschaft für unsere Arbeitnehmer in der Tabak- und Brauereiwirtschaft: Sie werden ihre Deputate auch zukünftig steuerfrei erhalten dürfen.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf enthaltene Neufassung der Vorschriften über die Kaffeesteuer ist erforderlich, weil sie künftig die einzige nationale Verbrauchsteuer ist. Sie stellt mit immerhin 2 Milliarden DM Gesamtaufkommen eine ganz bedeutende Einnahmeposition für uns dar. Hier sind keine Veränderungen vorgesehen. Die entkoffeinierten Kaffees bleiben allerdings steuerfrei.
Umgehungen durch den gewerblichen Handel gerade bei der Kaffeesteuer müssen wir durch die Steueraufsicht begegnen, aber sie sind mit Sicht auf die Verbrauchsgewohnheiten gerade bei Kaffee nicht sonderlich zu befürchten.
Nun noch einige Worte zur Tabaksteuer; es wurde ja schon hinterfragt. Von Juli bis September diesen Jahres wurden 7 % Fabrikzigaretten weniger verkauft als im gleichen Zeitraum 1991, so weit so gut.
Bei vorproduzierten Steckzigaretten stieg der Absatz in diesem Zeitraum dagegen um 28,5 % an. Dieses veränderte Verbraucherverhalten ist fast ausschließlich darauf zurückzuführen, daß die Steckzigaretten in Deutschland als Feinschnitt behandelt werden und deshalb gegenüber der Fabrikzigarette ca. 10 Pfennig pro Stück billiger sind. Das bedeutet für uns für 1992 einen Steuerausfall in der Größenordnung von 800 Millionen DM. Da viele große Zigarettenhersteller angekündigt haben, auf die Steckzigaretten überzugehen, ist das ein Steuerausfall mit steigender Tendenz, so daß die Bundesregierung nicht die Absicht hat, die ihr von der EG eingeräumte Verlängerungsfrist voll auszuschöpfen.
Herr Staatssekretär, es gibt eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hornhues.
Bitte, Frau Präsidentin!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Staatssekretär, entschuldigen Sie bitte, aber plant die Bundesregierung, gegen diese Entwicklung, den Einnahmeausfall, etwas zu unternehmen?
Ja. Die Bundesregierung wird den Vorstellungen der EG, daß die Steckzigaretten Zigaretten und nicht Feinschnitt sind,
folgen und möchte diese Zigaretten nach einer gewissen Übergangszeit zur Amortisation der dafür vorgenommenen Investitionen in der Besteuerung wie Fabrikzigaretten behandeln.
Der Gesetzentwurf sieht weiterhin die schon mehrfach angesprochene Verlängerung bei der Investitionszulage vor. Ich kann es mir hier ersparen, aber, Herr Kollege von Larcher, lassen Sie mich soviel sagen: Die Bundesregierung ist im weiteren Gesetzgebungsverfahren für weitere Überlegungen offen, aber — das betone ich — im Rahmen unserer Konsolidierungslinie, keine Ausgaben um mehr als 2,5 % zu erhöhen.Ein kurzes Wort noch zum Zollrecht. Herr Kollege Ullmann, es ist nicht so, wie Sie annehmen. Wir haben durch den vereinbarten Zollkodex in der EG zukünftig ein gemeinschaftliches Zollrecht in der EG. Den Mitgliedstaaten verbleiben nur noch ganz geringe Regelungsbefugnisse, die sie auch in Zukunft ausüben werden.
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9830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldMit Nachdruck möchte ich auf die vorgesehene Änderung der Anhalte- und Prüfungsrechte der Zollverwaltung hinweisen. Diese bisher auf den sogenannten Zollgrenzbezirk beschränkten Rechte dürfen künftig bei tatsächlichen Anhaltspunkten für vorschriftswidriges Mitführen von Waren auch außerhalb des grenznahen Bereichs ausgeübt werden. Das wird die Bundesregierung durch eine notwendige Verstärkung des Zollfahndungsdienstes und der sonstigen Kontrollen erreichen, um den besorgniserregend anwachsenden Schmuggel von Waffen, Drogen und Zigaretten wirksam bekämpfen zu können.Allerdings hat diese Veränderung eine ganz gewichtige Auswirkung auch auf die personellen und organisatorischen Voraussetzungen beim Zoll. Ab 1. Januar werden wir über 100 Straßen- und Eisenbahnzollämter sowie die Zollkommissariate auflösen. Der Binnenmarkt hat somit unmittelbare erste Auswirkungen auf viele Kollegen in der Zollverwaltung. Wir haben ein ganzes Maßnahmenbündel geschnürt, um die Kollegen in der Zollverwaltung möglichst sozialverträglich behandeln zu können. Aber lassen Sie mich sagen: Es wird unabdingbar notwendig sein, daß wir den einen oder anderen Kollegen bei der Zollverwaltung auch gegen seinen Willen werden umsetzen müssen. Für diese schwierige Operation erbitte ich ganz ausdrücklich Ihre Hilfe und Ihre Unterstützung.Meine Damen und Herren, da ich bei großer fröhlicher Unruhe — das sei ausdrücklich attestiert — als letzter Redner hier von diesem Podium im altvertrauten Wasserwerk reden durfte, danke ich Ihnen — ich räume ein: ein wenig wehmütig — ganz besonders herzlich für Ihre Aufmerksamkeit, für jene Aufmerksamkeit, die vor diesem Podium so oft von uns allen und auch von unseren Vorgängern erfordert worden ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt geht es um den weniger sozialverträglichen Teil, nicht um die Versetzung, sondern um den Umzug.Ich freue mich, daß so viele, die in den letzten Jahren mit diesem Wasserwerk offenbar vertraut geworden sind, an diesem letzten Abend hierher gekommen sind.Als ich heute nachmittag noch einmal drüben im neuen Plenarsaal war, wurde mir bewußt, in welchem historischen Bauwerk wir hier sind.
— Aber, Herr Bötsch, es ist Ihnen doch wichtig, zu wissen, daß dieses Gebäude aus dem Jahre 1875 stammt, daß es Tradition hat und wir es trotzdem liebgewonnen haben, aber jetzt verlassen.
Ich glaube, es hat auch noch andere Gründe, wenn wir uns heute abend hier verabschieden
— vom Reichstag reden wir erst morgen — und uns noch einmal folgendes vor Augen führen. Hier waren wir jetzt etwas mehr als sechs Jahre, vom 9. September 1986 an. Wir haben hier in ganz wichtigen Jahren Politik gemacht, debattiert, diskutiert, gestritten, aber auch im Konsens gehandelt. Es hat Sternstunden gegeben und auch grauen Parlamentsalltag.Ich erinnere noch einmal daran: Wir haben hier in insgesamt 364 Plenarsitzungen unter dem alten Kran des Architekten Eberhard Schulz getagt, in manchen Situationen dichtgedrängt gehockt; die Ausgänge waren verstopft. Aber wir haben, wenn wir in das Wasserwerk zurückkamen, immer wieder gesagt: Es ist doch ein guter Tagungsort.
Allein an Anfragen haben wir hier 2 000 an der Zahl gestellt. 32 654mal haben wir die Bundesregierung schriftlich und mündlich befragt
und ebenso oft Antworten bekommen,
manchmal knochentrocken und manchmal mit Wassern gewaschen.Legislative im Wasserwerk, das bedeutet die Beschlußfassung über 565 Gesetze — wasserdichte und auch solche, die verwässert wurden.Parlament im Wasserwerk: Der Versuch hat sich gelohnt. In dem Raum, von dem respektlos und sachlich immer vom Ersatzplenarsaal die Rede war, fand kein Politik-Ersatz statt, sondern, so denke ich, politisches Handeln, das unser Land verändert hat. Ich erinnere daran, daß in jener bewegenden Nachtsitzung des 9. November 1989 die Nachricht von der Maueröffnung in Berlin eintraf,
bei der dann die Abgeordneten spontan das Lied der Deutschen sangen. Wir ahnten an jenem Abend damals nicht, welche Veränderungen vor uns lagen und liegen könnten.Wenige Wochen später haben wir dann hier den Zehn-Punkte-Plan beraten und beschlossen. Hier haben wir die Wirtschafts- und Währungsunion verabschiedet, dann den Einigungsvertrag.Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir in diesem Wasserwerk noch enger zusammengerückt: mit den Abgeordneten aus den jungen Bundesländern. Ich denke, auch diejenigen, die erst seit kurzer Zeit hier im Wasserwerk mit uns getagt haben, sind uns gerade wegen der räumlichen Enge ein großes Stück nähergekommen.
Unser Vizepräsident Helmuth Becker hat wahrscheinlich mit Recht seiner Vorahnung Ausdruck
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 115. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 29. Oktober 1992 9831
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthgegeben, daß Wehmut kommen wird und daß wir sagen werden: Es war doch so behaglich im Wasserwerk.Wir nehmen nicht leichten Herzens Abschied. Im übrigen ist die Nachfrage nach dem Wasserwerksraum, der uns ja nicht verlorengeht, sehr groß. Es wird noch ein heftiges Gerangel geben, wer hier welche Veranstaltungen und Anhörungen durchführt.Aber eins ist sicher: Auch im neuen Plenarsaal bleiben wir mit dem Wasser verbunden,
wenn sich nämlich unser Blick weiter unmittelbar auf den Rhein richtet. Es hat hier manchen Sturm im Wasserwerk gegeben, aber auch manchen Sturm im Wasserglas.Ich erinnere auch daran, daß der Rhein gelegentlich Umwege durch dieses Haus genommen hat; so hoch war das Haus nun wiederum nicht.In diesen Tagen nannte eine Tageszeitung unseren Umzug in den neuen Plenarsaal einen Wechsel vom Wasserwerk ins Aquarium.
Wir können uns, was das Bild in bezug auf die Transparenz von Aquarien betrifft, damit abfinden; allerdings möchten wir weder mit Zierfischen noch mit Raubfischen verwechselt werden.Ob hier im Wasserwerk oder im neuen Plenarsaal oder an der Spree: Wir liegen immer am und nicht auf dem Wasser. Dies verbindet uns dann vielleicht mit dem House of Parliaments an der Themse wie mit der Assemblée Nationale an der Seine. Wer am und nicht auf dem Wasser baut, wird vielleicht eher davor bewahrt, vorzeitig baden zu gehen. Bisher sind wir immer davor bewahrt worden.Ich weiß nicht, ob heute abend der alte rheinische Wunsch in Erfüllung geht, daß das Wasser des Rheins gold'ner Wein wird. Ich lade Sie dennoch — wie es sich im Wasserwerk gehört — zum feuchtfröhlichen Abschied ein, der in Kürze mit den kabarettistischen Aufführungen der „Wasserwerker" beginnen wird.Ich möchte zum Abschluß zum einen allen danken und einen letzten parlamentarischen Akt vornehmen, der sich an die letzte Debatte anschließt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 12/3436, 12/3432 und 12/3531 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3531 soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? —
— Nein? Dann werde ich trotzdem feststellen, daß Sie es heute abend so beschlossen haben.Ich schließe mit diesem letzten parlamentarischen Akt die Sitzung und danke allen, die hier im Wasserwerk politisch gewirkt haben, allerdings auch unseren Schriftführern, unseren Stenographen, den Saaldienern,
die Kameraleute und die Journalisten nicht zu vergessen.
Denn Sie wissen: Löbe ist es als Präsident einmal so ergangen, daß er, als er die Presse ausschloß, feststellte: Ohne Öffenlichkeit findet keine Politik statt.Ich denke, daß sich die Regierung immer gut von uns behandelt fühlte.
Und nun zum feuchtfröhlichen Abschied!Morgen sehen wir uns wieder. Ich lade diejenigen, die möchten, zum ökumenischen Gottesdienst um 7.45 Uhr ein, dann zur Schlüsselübergabe um 8.45 Uhr, und anschließend zur Einweihung des neuen Plenarsaals.Danke schön.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. November 1992, 13 Uhr ein.Die Sitzung ist geschlossen.