Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, sich zu erheben.
Im Wohngebiet von Amsterdam ist am Sonntag abend ein israelisches Frachtflugzeug abgestürzt. Neben der Besatzung des Flugzeuges kamen viele Einwohner der Wohnhäuser, über denen das Flugzeug abstürzte, ums Leben. Niemand, der die Bilder der brennenden und zerstörten Wohnhäuser gesehen hat, kann sich von dem Eindruck des nächtlichen Infernos freimachen. Nach bisher vorliegenden Meldungen muß mit mehr als 250 Toten gerechnet werden.Wir gedenken der Opfer und nehmen Anteil an dem Leid und der Trauer der von dem Unglück betroffenen Familien. Dem niederländischen und dem israelischen Volk sowie dem niederländischen Parlament und der israelischen Knesseth spreche ich im Namen des Deutschen Bundestages tiefempfundene Anteilnahme aus.Danke schön.Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich noch folgendes bekannt geben:Der Kollege Mischnick feierte am 29. September 1992 seinen 71. Geburtstag. Ich spreche ihm im Namen des Hauses nachträglich die herzlichsten Glückwünsche aus.
Für den verstorbenen Kollegen Dr. Kappes hat am 29. September 1992 die Abgeordnete Dr. Sissy Geiger die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Herzlich willkommen, liebe Frau Geiger! Ich wünsche uns eine gute Zusammenarbeit.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes — Drucksache 12/3356 —2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Humanitäre Soforthilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina gegen die Gefahren des kommenden Winters — Drucksache 12/3355 —3. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina — Drucksache 12/2939 —4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Voraussetzungen der Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugoslawien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina — Drucksache 12/2546 —5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Fördergesetzes — Drucksachen 12/3340,12/3357 —6. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung eines Volksentscheids über die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in einer Europäischen Union und die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages über eine Europäische Union — Drucksache 12/3353 —7. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Maastrichter Vertrag über die Europäische Union — Drucksache 12/3322 —8. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Wider den Rückfall in den Nationalismus — Für ein demokratisches Europa mit stabiler Währung — Drucksache 12/3366 —9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Werner Schulz , Dr. Wolfgang Ullmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stillstand führt zu Rückschritt — Hin zu einer demokratischen ökologischen und sozialen Union Europa — Drucksache 12/3367 —10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung eines Sonderausschusses zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union — Drucksache 12/3373 —11. Vereinbarte Debatte über Extremismus und Gewalt12. Aktuelle Stunde: Wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland/Praktiken der Treuhand am Beispiel der Vorgänge um die Märkische Faser AG in Premnitz
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9312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthVon der Frist für den Beginn der Beratung soll — soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist — abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 6 soll abgesetzt werden.Sind Sie mit den Änderungen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3i sowie die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf:3. Überweisungen im vereinfachten Verfahrena) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1993
— Drucksache 12/3331 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuß für Fremdenverkehr und TourismusI laushaltsausschußb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Verwaltung des ERPSondervermögcns— Drucksache 12/3332 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitI- Iaushaltsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistiken der öffentlichen Finanzen und des Personals im öffentlichen Dienst
— Drucksache 12/3256 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und Sozialordnungd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ermächtigung des Gouverneurs für die Bundesrepublik Deutschland in der Internationalen Finanz-Corporation zur Stimmabgabe für eine Änderung des Abkommens über die Internationale Finanz-Corporation
— Drucksache 12/3321 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschafte) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, Dr. Gisela Babel und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen— Drucksache 12/3017 —Überweisung svorschlag:Rechtsausschuß InnenausschußI laushaltsausschußf) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Gesetzen auf dem Gebiet des Rechts der Wirtschaft-- Drucksache 12/3320 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaftg) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Stachowa, Dr. Dietmar Keller und der Gruppe der PDS/Linke ListeErhalt kultureller Substanz im Zusammenhang mit der Verlagerung von Bundesbehörden in die neuen Bundesländer— Drucksache 12/3236 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschafth) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Olympischen Winterspielen— Drucksache 12/2387 —Überweisungsvorschlag:Sportausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheiti) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu Sellafield II, der THORPWiederaufbereitungsanlage für nukleare Brennstoffe in Sellafield im Vereinigten Königreich— Drucksache 12/3130 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes— Drucksache 12/3356 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
I laushaltsausschuß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9313
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDHumanitäre Soforthilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina gegen die Gefahren des kommenden Winters— Drucksache 12/3355 —Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuß HaushaltsausschußZP3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina— Drucksache 12/2939 —Überweisungsvorschl ag:Innenausschuß Auswärtiger AusschußZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDVoraussetzung der Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugoslawien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in Bosnien-Herzegowina— Drucksache 12/2546 —Überweisungsvorschlag: Auswärtiger AusschußEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. Juli 1990 zur Änderung des Abkommens vom 14. September 1955 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Erleichterungen der Grenzabfertigung im Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverkehr— Drucksache 12/2264 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/2862 —Berichterstattung:Abgeordneter Elmar Müller
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung adoptionsrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/2506 —Beschlußempfehlung und Bericht desRechtsausschusses
— Drucksache 12/3362 -Berichterstattung: AbgeordneteMargot von Renesse Heinrich Seesing
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Daubertshäuser, Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Generelle Sicherungspflicht für Kinder im Pkwzu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen , Dirk Fischer (Hamburg), Manfred Heise, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Friedrich, Ekkehard Gries, Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.Verbesserung des Schutzes von Kindern als Mitfahrer in Kraftfahrzeugen— Drucksachen 12/1978, 12/2252, 12/3233 —Berichterstattung:AbgeordneteWolfgang Börnsen Dr. Margrit Wetzeld) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Lennartz, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDVerbot des kommerziellen Walfangs aufrechterhalten— Drucksachen 12/2831, 12/3223 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Harry Carstensen
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Regelung des Besitzes von und des Handels mit Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten— Drucksachen 12/2257 Nr. 3.67, 12/2995 —Berichterstattung:AbgeordneteSimon Wittmann Ulrike MehlGerhart Rudolf Baumf) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
— Drucksache 12/2942 —g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses Sammelübersicht 69 zu Petitionen— Drucksache 12/3246 —
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9314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthh) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 70 zu Petitionen — Drucksache 12/3247i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 71 zu Petitionen — Drucksache 12/3288 —j) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 72 zu Petitionen — Drucksache 12/3289 —k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 73 zu Petitionen — Drucksache 12/3290 —Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 4 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zu dem Abkommen mit der Republik Österreich über Erleichterungen bei der Grenzabfertigung, Drucksache 12/2264. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2862, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4b: Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines Adoptionsrechtsänderungsgesetzes auf Drucksache 12/2506. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3362, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei zwei Enthaltungen in zweiter Beratung angenommen.Wir treten in diedritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu je einem Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Sicherung von Kindern in Kraftfahrzeugen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Ich komme jetzt zu Tagesordnungspunkt 4 d: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Verbot des kommerziellen Walfangs. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 4 e: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einem Vorschlag der EG zu Besitz von und Handel mit wildlebenden Tier- und Pflanzenarten. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und einer Gegenstimme angenommen.Tagesordnungspunkte 4 f bis 4 k: Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/2942, 12/3246, 12/3247, 12/3288 bis 12/3290. Das sind die Sammelübersrichten 67 und 69 bis 73. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. bei Gegenstimmen der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Fördergesetzes— Drucksachen 12/2694, 12/3340, 12/3357 —Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich, 332 Stimmen. Wer also den Einspruch zurückweisen will, muß mit Ja stimmen. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung.Ich eröffne die Abstimmung. — Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Ich gehe davon aus, daß alle Mitglieder ihre Stimme abgegeben haben und schließe die namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird später bekanntgegeben.* )Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie die Zusatzpunkte 6 bis 10 auf:5. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union— Drucksache 12/3334 —Überwei sung svorschlag:Sonderausschuß .,Europäische Union" Auswärtiger AusschußFinanzausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie und SeniorenAusschuß für VerkehrAusschuß für Post und Telekommunikation EG-Ausschuß*) Seite 9324 A
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9315
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthb) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum
— Drucksache 12/3202 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger Ausschuß RechtsausschußFinanzausschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Gesundheit Ausschuß für VerkehrAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Fremdenverkehr und Tourismus EG-AusschußHaushaltsausschußc) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Abkommens vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum
— Drucksache 12/3319 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Wirtschaft
Auswärtiger AusschußRechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutzund ReaktorsicherheitAusschuß für Bildung und WissenschaftEG-AusschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOd) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes— Drucksache 12/3338 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" RechtsausschußAuswärtiger AusschußEG-Ausschuße) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu der Mitteilung der Kommission „Von der Einheitlichen Europäischen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Ausreichende Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele"— Drucksache 12/3003 —Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
Auswärtiger AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für VerkehrAusschuß für Post und TelekommunikationAusschuß für Bildung und WissenschaftEG-AusschußHaushaltsausschußf) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zu den Folgen des in Dänemark durchgeführten Referendums über den Vertrag vom 7. Februar 1992— Drucksache 12/3004 —Überweisungsvorschlag:Sonderaussschuß „Europäische Union" Auswärtiger AusschußEG-Ausschußg) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zum Europäischen Rat von Lissabon— Drucksache 12/3129 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" Ausschuß für Wahlprüfung, Immunitätund Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschußh) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische ParlamentEntschließung zur sozialen Dimension des Binnenmarktes— Drucksache 12/3132 —Überweisung svorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendEG-AusschußZP6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung eines Volksentscheids über die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in einer Europäischen Union und die Rafizierung des Maastrichter Vertrages über eine Europäische Union
— Drucksache 12/3353 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" RechtsausschußAuswärtiger AusschußEG-AusschußZP7 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke ListeMaastrichter Vertrag über die Europäische Union— Drucksache 12/3322 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" Auswärtiger AusschußEG-Ausschuß •ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDWider den Rückfall in den Nationalismus — Für ein demokratisches Europa mit stabiler Währung— Drucksache 12/3366 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" Auswärtiger AusschußlnnenausschußFinanzausschußAusschuß für Wirtschaft
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9316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Umwelt, Naturschutzschutz und ReaktorsicherheitEG-AusschußZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Werner Schulz , Dr. Wolfgang Ullmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENStillstand führt zu Rückschritt — Hin zu einer demokratischen ökologischen und sozialen Union Europa— Drucksache 12/3367 —Überweisungsvorschlag:Sonderausschuß „Europäische Union" Auswärtiger AusschußFinanzausschußAusschuß für WirtschaftZP10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.Einsetzung eines Sonderausschusses zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union
— Drucksache 12/3373 —Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache sechs Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Europäische Gemeinschaft steht vor einer historischen Wegscheide. Nach 40 Jahren erfolgreicher europäischer Aufbauarbeit geht es nun darum, dem europäischen Gebäude ein Dach zu geben. Dieses Gebäude ist nicht nur Hoffnungsträger für die europäischen Partnerländer, die bereits vor den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa, aber besonders nach diesen Veränderungen vor seiner Tür Schlange standen bzw. stehen. Nein, weltweit wird die Gemeinschaft als Modell für Frieden, Stabilität und Wohlstand geachtet und beneidet. Hierauf können und sollten wir stolz sein!
Draußen versteht kaum einer,
daß die Europäische Gemeinschaft ausgerechnet jetzt, wo sie als Stabilitätsanker in stürmischer See mehr denn je gebraucht wird, von Selbstzweifeln befallen erscheint. Diese Gemeinschaft konnte so, wie sie heute steht, nicht mit Kleinmut, sondern nur mit Mut, Zuversicht und europäischem Selbstvertrauen geschaffen werden.
Jetzt, wo es um unsere Kraft geht, mit einem weiteren Schritt das so Erreichte zu stärken und zu sichern, tut not, sich daran zu erinnern. Wir dürfen jetzt unsere und die weltweit in die Gemeinschaft gesetzten Hoffnungen nicht enttäuschen.Gerade in einer Zeit, in der neue Beben die politische Landkarte unseres Kontinents weiter verändern, in der die Folgen dieser Beben längst noch nicht absehbar sind, darf die Gemeinschaft vor der Geschichte nicht versagen, sondern muß Geschlossenheit und innere Stärke zeigen.Was hat diese Gemeinschaft so erfolgreich gemacht? — Es ist die Zusammenlegung von Verantwortung, rechtliche Gleichstellung von großen und kleinen Staaten sowie Solidarität zwischen stärkeren und schwächeren.Ein föderaler Aufbau versöhnt die erzielte größere Gemeinsamkeit mit dem Wunsch nach Erhaltung der nationalen Identität. Dieses Konzept ist mit großem Erfolg an die Stelle der überkommenen engstirnigen nationalistischen Macht- und Interessenpolitik getreten. Die hierdurch in der Gemeinschaft erreichte Harmonie, die Stabilität und den Wohlstand halten wir inzwischen für eine absolute Selbstverständlichkeit.Aber nicht zuletzt die Ereignisse im Zusammenhang mit den Währungsturbulenzen der letzten Wochen haben gezeigt, wie notwendig eine weitere Stärkung des Zusammenhalts der Gemeinschaft ist, wenn wir das Erreichte sichern wollen. Wer bei einem Rückschritt mit am meisten zu verlieren hätte, das hat sich in den letzten Wochen gezeigt.Das Bewußtsein um die eigene Nationalität gewinnt nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa wieder stärkere Bedeutung. Nach dem Ende von Lagerzwang und ideologischer Verkrustung ist dies nichts Ungewöhnliches. Ein gesundes Nationalbewußtsein ist etwas Positives. Europäisches Bewußtsein muß auf dem tiefsitzenden Gefühl nationaler Identität aufbauen.
Etwas völlig anderes allerdings sind seine Auswüchse, sind Nationalismus, sind Fremdenhaß, die in verschiedenen Regionen unseres Kontinents — leider auch bei uns — im Augenblick wieder emporkommen. Im Südosten unseres Kontinents haben nationalistische Gewalt, Fremdenhaß und Menschenverachtung ein Ausmaß angenommen, das an eine unheilvolle Vergangenheit erinnert. Wenn wir in Deutschland — leider — mit ansehen müssen, wie zutiefst Verblendete in diesen Tagen mit Nazi-Emblemen auf unsere Straßen gehen und Ausländern gegenüber Haß und Gewalt zeigen, jüdische Gedenkstätten anzünden, dann wird uns bewußt, wie wichtig es für die Zukunft unseres Landes ist, diesem Übel des übersteigerten Nationalismus, des Fremdenhasses einen Riegel vorzuschieben.
Dies müssen wir jetzt mit Entschiedenheit tun, wenn unser Land nach innen und außen nicht weiter Schaden nehmen soll.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9317
Bundesminister Dr. Klaus KinkelDies europaweit zu tun ist eine Aufgabe, die von der Europäischen Gemeinschaft besser als von jeder anderen Institution bewältigt werden kann. Auch hierum geht es bei der Ratifizierung dieses Vertrages.In sechs Mitgliedstaaten ist der Ratifizierungsprozeß inzwischen so gut wie abgeschlossen. Der britische Premierminister Major hat angekündigt, daß er die angehaltene Ratifikationsvorlage bald wieder dem Parlament vorlegen wird. Auf dem Parteitag der Konservativen in Brighton hat er für seine Europapolitik Unterstützung bekommen. Frankreich — zusammen mit Deutschland von jeher Motor der europäischen Einigung hat, wenn auch mit knapper Mehrheit, ja gesagt. Mit Interesse sehen wir dem Weißbuch der dänischen Regierung entgegen, die hoffentlich den Weg für ein zweites Referendum ebnen kann. Weder die Regierung noch die oppositionellen Sozialdemokraten in Kopenhagen wollen von der europäischen Integration Abschied nehmen.In dieser Lage kommt nun Deutschland als erfolgreichstem und wirtschaftsstärkstem europäischen Land in der Mitte unseres Kontinents eine ganz besondere Verantwortung für den weiteren Weg der Gemeinschaft und damit auch Europas zu. Es ist nun an uns, durch unser Ja zu dem Vertrag von Maastricht auch für unsere noch zögernden Partner ein Signal des Vertrauens in eine gemeinsame europäische Zukunft zu setzen.
Dabei wollen wir — ich kann es immer nur wiederholen — kein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Wir wollen das Ziel der Europäischen Union gemeinsam zu zwölft erreichen, auch wenn einige dem Hauptfeld bisher noch leicht hinterherfahren.In der Europadebatte am 25. September hier im Bundestag haben sich alle Parteien — mit Ausnahme der PDS — für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages ausgesprochen. Diese Übereinstimmung der politischen Kräfte in Deutschland über diesen Vertrag war gerade vor dem Hintergrund der Währungsturbulenzen der letzten Wochen ein ganz wichtiger Vertrauensbeweis und eine gute Grundlage für die Fortsetzung unserer europäischen Einigungspolitik, zu der sich seit Gründung der Bundesrepublik alle Bundesregierungen bekannt haben.Vor diesem Schritt zur Ratifizierung besteht für uns nicht der geringste Anlaß zur Schönrednerei. Wir wollen etwas vollenden, was auf festen Füßen steht und was wir uns durchaus gut, ja sogar sehr gut überlegt haben. Dieser Vertrag kam — das wird leider sehr oft vergessen — auf Grund schwierigster, langwieriger Verhandlungen zustande. Jeder Teilnehmer kann sich in ihm wiederfinden;
jeder mußte aber auch Zugeständnisse machen.Auch wenn der Vertrag nicht alle unsere Wunsche — insbesondere hinsichtlich der Rechte des Europäischen Parlaments — erfüllt, so stellt er doch die bedeutendste Fortentwicklung der europäischen Integration seit Unterzeichnung der Römischen Verträge dar. Mit ihm wird die Europäische Union gegründet, aber nicht vollendet. Seine Weiterführung, seine Verbesserung auf der Revisionskonferenz 1996 ist im Vertrag selbst angelegt. Wer diesen Vertrag nun wieder aufschnüren wollte, setzte Erreichtes aufs Spiel.Dies wäre im übrigen auch eine große Zumutung für die Partner, die sich mit ihrem Ja bereits hinter diesen Vertrag gestellt haben, wie im übrigen auch für das Europäische Parlament, das den Vertrag ratifiziert hat.Dies war die einhellige Meinung des Außenministertreffens von Luxemburg: Neuverhandlungen gibt es nicht. Aber vom Tisch sind damit natürlich nicht die Ängste der Bevölkerung vor dem drohenden Verlust nationaler Identität, vor bürokratischem Wildwuchs, vor Zentralismus und manch anderem. Diese Befürchtungen, diese Unsicherheiten müssen wir auffangen und ausräumen. Europa kann nicht als Werk der Regierungen und der Brüsseler Beamten entstehen. Es kann nur aus dem Zutrauen seiner Bürger erwachsen. Um auf die offenen Fragen der Menschen eine Antwort zu finden, bedarf es — ich sage es nochmals — keiner Vertragsänderung, aber es bedarf Klarstellungen. Form und Inhalt dieser Klarstellungen muß die Sondertagung des Europäischen Rats in Birmingham aufzeigen. Das bereiten wir im Augenblick gemeinsam vor.Was hat der Vertrag für Europa gebracht?Erstens. Er vollzieht den Übergang von der Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Gestaltung dieser Politik wird in den Rahmen der gemeinsamen europäischen Organe eingebunden. Mit dem neuen Verfahren der Gemeinsamen Aktion wird europäisches Vorgehen für alle Partner verbindlicher gemacht. Die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen wird eröffnet. Damit ist der Einstieg in einen Prozeß geschaffen, an dessen Ende Europa in der Weltpolitik nicht nur mit einer Stimme sprechen, sondern auch als Einheit handeln wird. Die Gemeinschaft hat bereits mit dem vorhandenen Instrumentarium für eine europäische Außenpolitik Erhebliches geleistet.Im Zusammenhang mit den Ereignissen im früheren Jugoslawien ist die Gemeinschaft oft kritisiert worden. Aber haben sich die Eurokritiker einmal gefragt, welcher Zerreißprobe Europa aus Anlaß dieses Konflikts ausgesetzt gewesen wäre, wenn es die Gemeinschaft nicht gäbe?!
Richtig ist: Es muß mehr getan werden. Europa muß sein eigentliches Potential freisetzen. Es muß zu einer wirklichen und echten Schicksalsgemeinschaft werden. Nur dann kann es seiner globalen Mitverantwortung auch bei der Stabilisierung der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa nachkommen. Zur Schaffung einer solchen Gemeinschaft genügen aber eine Freihandelszone und die Koordinierung nationaler Außenpolitiken auf Dauer nicht. Hinzu kommen muß ein wirkliches gemeinsames außenpolitisches
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9318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Klaus KinkelHandeln, eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Verteidigung.
Auch dazu wird in den Verträgen die Grundlage geschaffen. Die Übernahme größerer Eigenverantwortung auch in diesem Bereich wird eben zu der Partnerschaft der Gleichen führen, die schon von John F. Kennedy gefordert wurde. Nicht nur die Europäische Union, auch das Atlantische Bündnis wird hierdurch gestärkt werden.Zweitens. Ein Kernstück des Vertrages ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Dazu wird Herr Kollege Waigel ausführlich Stellung nehmen. Wie in anderen Bereichen der Europäischen Gemeinschaft springen wir aber auch hier nicht einfach ins kalte Wasser. Die nationalen Währungen werden nur zusammengeführt, wenn strenge Stabilitätsvoraussetzungen gegeben sind; also kein Automatismus. Wir werden die D-Mark nicht einer schwächeren Eurowährung opfern.
Der notwendige Stabilisierungsdruck auf alle Mitgliedstaaten wird auch durch den festgelegten Zeitplan geschaffen; und gerade um diesen Druck aufrechtzuerhalten, müssen wir an diesem Fahrplan festhalten. Dabei sind für uns Wirtschafts-, Währungs-und politische Union untrennbar miteinander verbunden.
Bundestag und Bundesrat werden vor den vom Europäischen Rat zu treffenden Entscheidungen über den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, d. h. vor Schaffung der Europäischen Zentralbank und der gemeinsamen Währung, erneut befaßt werden. Ich sage erneut, weil darüber immer wieder Zweifel entstehen oder in der Öffentlichkeit anders darüber geredet wird: Keine Bundesregierung wird Entscheidungen von solcher Tragweite für unser Volk ohne Rückendeckung durch die parlamentarische Mehrheit treffen können.
Drittens. Der dritte große Bereich, der neu im Vertrag ist, ist die Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik. Seit der Öffnung der Binnengrenzen werden grenzüberschreitende Maßnahmen zur Bekämpfung der organisierten internationalen Kriminalität unausweichlich. Der Vertrag von Maastricht schafft die Grundlagen für europäische Lösungen in diesem Bereich wie auch für die Bewältigung der Zuwanderung, die, wie ich befürchte, trotz aller nationalen Bemühungen in den kommenden Jahren noch mehr als heute ganz oben auf der europäischen politischen Tagesordnung stehen wird. Denn nicht nur wir, ganz Westeuropa wird in Zukunft in noch weit größerem Maße als jetzt zum Magneten der weltweiten Wanderungsbewegungen und Flüchtlingsströme werden.Folgende Klarstellungen sind notwendig.Erstens. Die Europäische Union bedeutet nicht den Verlust der nationalen Identität. Sie wird kein Schmelztiegel werden, sondern ein Kraftquell Europas; sie wird die Vielfalt und den Reichtum seiner Kulturen bewahren. Am 25. September habe ich bereits gesagt, und ich möchte es noch einmal betonen: Ich persönlich bin wirklich überzeugt davon, daß unsere Bürger Europa wollen. Sie wollen auch die Europäische Union, wenn wir Franzosen Franzosen, Italiener Italiener und Deutsche Deutsche sein lassen.Ihr Bewußtsein, auch Bürger Europas zu sein, wird um so natürlicher wachsen. Dieses Nebeneinander tut einem gesunden Patriotismus keinerlei Abbruch, aber es verhindert, daß aus Patriotismus etwas Negatives wird, nämlich Nationalismus.
Zweitens. Das im Vertrag festgeschriebene Subsidiaritätsprinzip darf nicht bloßes Schlagwort bleiben. Es muß zur konkreten Leitlinie für alle Gemeinschaftsentscheidungen werden und als gerichtlich kontrollierbares Rechtsprinzip anerkannt werden. Die Gemeinschaft muß sich auf die Aufgaben konzentrieren, die auf europäischer Ebene gelöst werden müssen. Was auf nationaler Ebene, auf der Ebene der Länder, der Regionen, der Gemeinden ausreichend geregelt werden kann, muß auch dort verbleiben.Die deutsche Delegation hat ein Memorandum zur Frage der Subsidiarität vorgelegt. Zu unseren Vorschlägen gehört auch eine politische Vereinbarung und Erklärung zwischen EG-Kommission, Ministerrat und Europäischem Parlament zur Konkretisierung dieses Subsidiaritätsprinzips in der Praxis.
Herr Außenminister Kinkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin im Augenblick beim Einbringen des Vertrages. Ich bitte wirklich um Verständnis. Sonst wäre ich gern bereit.
Die Ausstattung der Gemeinschaft mit neuen Kompetenzen bedeutet keinen Zentralismus. Länderkompetenzen werden nicht ausgehöhlt. Die neuen Vorschriften wurden für die Tätigkeit der Union in den Bereichen Bildung, Kultur und Gesundheit auf ausdrücklichen Wunsch der Länder so ausgestattet, daß keine Rechtsharmonisierung auf Gemeinschaftsebene stattfinden kann.Drittens. Bürgernähe ist das im Vertrag von Maastricht verankerte föderale Grundprinzip. Es mit Leben zu erfüllen ist die Hauptaufgabe der Gemeinschaftspolitik in den vor uns liegenden Wochen und Monaten. Hierzu gehört auch größere Transparenz der Arbeit aller Organe. Die Bürger müssen wissen, wer
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkelwichtige politische Entscheidungen auf europäischer Ebene trifft und wie sie zustande kommen.
Der mit dem Vertrag von Maastricht neu geschaffene Regionalausschuß eröffnet Ländern, Städten und Gemeinden Anhörungsrechte bei Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union. Er trägt dazu bei, daß wir das Europa, das wir wollen, von unten nach oben aufbauen.Unseren Ländern werden mit der Ratifizierung größere Mitwirkungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene eröffnet. Dies darf aber weder zu einer Schwächung der Handlungsfähigkeit Deutschlands noch zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft führen. Auch der neue Europaartikel in unserem Grundgesetz muß schließlich so angewandt werden, daß das gesamtstaatliche Interesse gewahrt bleibt.
Viertens. Es muß verdeutlicht werden, daß die Europäische Union für jeden Bürger mehr Rechte und Lebenschancen bringt. Die Unionsbürgerschaft, die Niederlassungsfreiheit, das kommunale Wahlrecht und die noch stärkere Freizügigkeit sind Beispiele hierfür. Wir nehmen das Maß an wirtschaftlichen Zukunftschancen, an Freizügigkeit sowie sozialer und innerer Sicherheit, das wir heute erreicht haben, zu sehr — ich sage es noch einmal -- als pure Selbstverständlichkeit hin. Das haben wir jedoch großenteils unserer Einbindung in die Europäische Gemeinschaft zu verdanken. Man kann das nicht oft genug hervorheben.
Auch bei dem nun vor uns liegenden Integrationsschritt muß allen Bürgern klar werden: Wir tun ihn nicht, weil dies angeblich Technokraten in Brüssel so wollen, sondern weil durch ihn die Zukunft aller europäischen Bürger am besten gesichert ist.
Gerade uns Deutschen muß immer bewußt bleiben, wie stark wir schon bisher politisch und wirtschaftlich von der Gemeinschaft profitiert haben. Auch von dem ab 1. Januar nächsten Jahres existierenden europäischen Wirtschaftsraum vom Nordkap bis nach Sizilien werden wir Deutsche als größter Exporteur mit Abstand am meisten profitieren.
Fünftens. Das von den Bürgern direkt gewählte Europäische Parlament muß auf Dauer die Stellung erhalten, die für nationale Parlamente selbstverständlich ist. Auch die nationalen Parlamente müssen in europäischen Angelegenheiten mitwirken. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würden Rechte auf Europa übertragen, ohne daß zugleich die demokratische Kontrolle gewährleistet wäre.
Meine Damen und Herren, der Vertrag hat am 25. September beim ersten Durchgang im Bundesrat breite Zustimmung gefunden. Die Änderungsvorschläge des Bundesrates betreffen den Entwurf der Bundesregierung für ein Vertragsgesetz. Die Bundesregierung hat sich hierzu geäußert. Der Text liegt dem Deutschen Bundestag vor. Nunmehr müssen die Beratungen in den Ausschüssen dieses Hauses zügig aufgenommen werden, so daß der Abschluß der Ratifikation fristgerecht bis Ende dieses Jahres erfolgen kann. Bis dahin brauchen wir die Fortsetzung der intensiven Diskussion im Parlament und in der Öffentlichkeit.Die Verantwortung für die Ratifizierung des Vertrages und damit die Fortsetzung von 40 Jahren europäischer Erfolgsgeschichte liegt jedoch beim Parlament, bei den von den Bürgern gewählten Volksvertretungen. Einer zusätzlichen Volksabstimmung bedarf es nicht. Unser Grundgesetz hat sich — wie ich meine, aus wohlüberlegten Gründen — nun einmal für die repräsentative Demokratie entschieden. Dabei sollten wir verbleiben.
Die europäische Einigung hat stets auch unseren nationalen Interessen gedient. Sie hat uns den Weg geebnet zu gleichberechtigter Partnerschaft in der Welt. Vergessen wir nicht: Ohne sie wäre die deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.
Wir haben die Chance zu ihr bewußt und beherzt genutzt. Lassen Sie uns jetzt die Chance für die Europäische Union mit derselben Entschlossenheit ergreifen. Diese Chance wird nicht so schnell wiederkommen.Verzichten wir auch in Zukunft auf jeden Sonderweg. Lassen wir uns nicht von Zukunftsängsten oder falschen Sehnsüchten nach vergangenen Idyllen davon abhalten, auch und insbesondere das für unser Land Richtige zu tun.Willy Brandt hat bei der Konstituierung des neuen gesamtdeutschen Bundestages die Frage gestellt, ob wir eigentlich hinreichend wahrnehmen, wozu uns die Geschichte einlädt. Beweisen wir, daß wir dies tun; durch unser entschlossenes Signal für die Europäische Union.Ich danke Ihnen.
Als nächster spricht der Bundesminister der Finanzen, Dr. Waigel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Vertrag von Maastricht geht die Europäische Gemeinschaft einen entscheidenden Schritt in die Zukunft. Aus der früheren Wirtschaftsgemeinschaft wird in einem Quantensprung ein festes Bündnis neuer Qualität. Als Europäische Union können unsere Länder stark und geschlossen die Aufgaben der Zukunft in Angriff nehmen.
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9320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Theodor WaigelDer Vertrag von Maastricht ist eine freiwillige Übereinkunft souveräner europäischer Staaten. Er ist zugleich die Konsequenz aus den politischen und ökonomischen Entwicklungen von Gegenwart und Zukunft. Deutschland wird auch in Zukunft die größte Volkswirtschaft in Europa haben. Aber was bedeutet das in einer ständig weiter zusammenwachsenden Weltwirtschaft, in der andere große Wirtschaftsräume in Nordamerika und Ostasien den Vorsprung Westeuropas schnell einholen und sogar überholen können? Nur eines ist sicher: Uns Europäern wird von dort nichts geschenkt werden.Die Vertreter der deutschen Wirtschaft haben klar erkannt, welche Vorteile die Währungsunion uns allen bringen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang dem Gemeinschaftsausschuß der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft für sein klares Bekenntnis zur Europäischen Union danken, das er am Montag veröffentlicht hat.
Auch die deutschen Gewerkschaften haben sich im Grundsatz positiv geäußert. Das gleiche gilt für die Kirchen und für viele andere Institutionen.Die Deutsche Bundesbank hat ihre geldpolitische Kompetenz in die Vorbereitung des Maastrichter Vertrags eingebracht. In der Stellungnahme des Zentralbankrates vom Februar diesen Jahres heißt es:Die Empfehlungen der Bundesbank zu allen wichtigen fachlichen Fragen und Problemen sind von der Bundesregierung in die politischen Enscheidungen einbezogen worden. Sie haben sich in wichtigen Punkten im WWU-Vertrag niedergeschlagen.Die deutschen Bundesländer waren ebenfalls in die Vertragsverhandlungen einbezogen. Nicht zuletzt auf der Grundlage der breit angelegten Vorbereitung haben alle großen politischen Parteien dem Vertrag von Maastricht grundsätzlich zugestimmt.Mit dem Vertrag, meine Damen und Herren, festigen wir einen Wirtschaftsraum, der auf unserem Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft beruht. Durch ihre Zustimmung zu Maastricht übernehmen die europäischen Staaten de facto unsere wirtschafts-und währungspolitische Konzeption.
— Ich bedanke mich, Frau Kollegin. Ich freue mich auch einmal über Beifall von dieser Seite.
— Ich glaube, Sie werden noch viel Freude an meiner Rede heute haben.
— Lieber Peter Struck, die Bemerkung „ausnahmsweise" hätten Sie sich sparen können.
Offene Märkte, Selbstbestimmung für Arbeitnehmer, Betriebe und Selbständige, Stabilität der öffentlichen Finanzen und der Währungen werden durch den Vertrag von Maastricht für die Länder der Gemeinschaft verbindlich festgeschrieben.Wer zum Binnenmarkt ja sagt, aber zugleich die Währungsunion in Frage stellt, unterschätzt die möglichen Anfechtungen, denen auch der Binnenmarkt durch neue Abschottungstendenzen noch ausgesetzt ist. Binnenmarkt und Währungsunion sind zwei Elemente des von uns angestrebten Testgefügten Wirtschaftsraums. Erst mit der Währungsunion wird der gemeinsame Markt zu einem wirklichen Binnenmarkt, auf dem Preise verglichen werden können und langfristige Verträge nicht mit dem Wechselkursrisiko belastet sind.Eine weitere entscheidende Funktion der Währungsgemeinschaft ist die eines Stabilitätsankers für ganz Europa. Alle Länder werden durch das Ziel der Währungsunion in die Stabilitätspflicht genommen. Indem sich zwölf Länder und noch mehr darüber hinaus, die ja zur EG und damit auch später zur Währungsunion kommen wollen, auf diesen Weg der Stabilität machen — zum Teil schon gemacht haben —, erreichen wir das größte Stabilitätsprogramm und damit auch Wachstumsprogramm, das je in Europa in Gang gesetzt worden ist.
Die konkreten Vorteile dieser neuen Stufe des europäischen Einigungswerkes reichen weit über die Einsparung von Umtauschkosten hinaus. In einem gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum wird das, was früher Peripherie war, zur Brückenregion. Zwischen Baden und dem Elsaß oder zwischen Flandern und Nordfrankreich wird es künftig keine Einkaufs- und Arbeitsplatzgrenzen mehr geben. Bisher strukturschwache Gebiete in den Grenzräumen werden eine zunehmende wirtschaftliche Belebung erfahren.Mit der Währungsunion sichern und entfalten wir all die Entwicklungschancen, die uns Europa schon bisher gebracht hat: steigenden Wohlstand und die Sicherung von mehr als der Hälfte unserer Exportmärkte. Woher, meine Damen und Herren, wenn nicht aus zunehmender Integration der europäischen Volkswirtschaften, soll denn das Wachstum der kommenden Jahre kommen, daß wir für die Lösung unserer nationalen und internationalen Aufgaben so dringend brauchen? Zunehmende Zusammenarbeit bei der Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben, von der Bewahrung des Friedens über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bis zur Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität und auch das Asylproblem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedrüfen einer europäischen Lösung. Des weiteren haben wir dann unbegrenzte Reisemöglichkeiten, grenzüberschreitende Freundschaften und den ungehinderten Austausch der kulturellen Strömungen.In Deutschland sorgen sich viele Menschen um die Geldwertstabilität in der künftigen Wirtschafts- und Währungsunion. Diese Angst nehmen wir sehr ernst. Ich kann aber versichern: Wenn ich an der dauerhaft gesicherten Stabilität der künftigen europäischen Währung zweifeln würde, dann hätte ich meine
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Bundesminister Dr. Theodor WaigelUnterschrift unter das Vertragswerk nicht gegeben. Wenn es jemanden gibt, der sich wirklich um die Stabilität der D-Mark auch in den kommenden Jahrzehnten sorgt, dann ist es diese Bundesregierung. Wir brauchen keine D-Mark-Partei; wir sind die Partei der Stabilität und des gesicherten Geldwerts.
— Die langfristigen Zinsen sind bei uns niedriger als in vielen anderen Ländern — der Einwurf von Ihnen kommt völlig zu Recht —, und das ist ein Stück Vertrauen in unsere Stabilitäts- und unsere Finanzpolitik.
Die deutsche Währungsordnung hat sich als Konstruktionsprinzip der Währungsunion uneingeschränkt durchgesetzt. Unser deutscher Entwurf war Grundlage der Verhandlungen. Unsere Partner bei den Vertragsverhandlungen wußten: Bei den Stabilitätsanforderungen gab und gibt es mit uns keine Kompromisse. Die starke Deutsche Mark wird durch die Währungsunion nicht abgeschafft. Die Stabilität der zukünftigen europäischen Währung wird durch den Vertrag von Maastricht völkerrechtlich sogar noch besser abgesichert als die D-Mark durch die deutsche Geldverfassung. Mit der Währungsunion wird es keinen Währungsschnitt und keine Währungsreform geben. Zunächst können auch nach der unwiderruflichen Festlegung der Kurse die Deutsche Mark, der Gulden, der Franc und die anderen beteiligten Währungen noch eine Zeitlang nebeneinander bestehenbleiben.
Erst später, im nächsten Jahrtausend, erfolgt eine rein rechnerische Umstellung auf die künftige Euro-Währung, die den realen Wert, die Kaufkraft von Löhnen, Gehältern, Renten und Ersparnissen, völlig unverändert läßt. Auch wer heute langfristige DMark-Anleihen kauft, geht nicht das geringste Risiko ein; denn die Deutsche Mark wurde seit Beginn des EWS im Jahre 1979 nicht abgewertet.Namen sind nicht Schall und Rauch. Deshalb sollte auch in der Bezeichnung der späteren gemeinsamen Währung die Stabilitätstradition der D-Mark als EuroMark weiterleben.
Wir wollen schließlich die Stabilitätstradition des Standorts Frankfurt für die künftige europäische Währung bewahren.
Deshalb setzen wir uns mit ganzer Kraft für die Wahl Frankfurts als Sitz der Europäischen Zentralbank ein.
Den rechtlichen Rahmen für Stabilität haben wir mit dem Vertrag von Maastricht festgefügt. Wir haben die vollständige Unabhängigkeit der Europäischen Notenbank unmißverständlich vereinbart. Diese Vereinbarung läßt sich nicht uminterpretieren.
Der Europäische Zentralbankrat wird keine Versammlung von Technokraten, die Weisungen der politischen Ebene gehorcht. Die Mitglieder sind vielmehr völlig unabhängig und stehen allein im Dienste ihres gesetzlichen Auftrags, vor allem die Preisstabilität zu gewährleisten. Damit ist der Stabilitätsauftrag für die Europäische Zentralbank noch strenger formuliert als im Bundesbankgesetz.Mindestens ebenso wichtig wie die rechtlichen Vorkehrungen zur Stabilitätssicherung ist die gemeinsame Grundüberzeugung der Mitgliedsländer, durch dauerhafte Stabilität Wachstum und Beschäftigung am besten zu fördern. Deshalb sollen und dürfen der Währungsunion nur die Länder beitreten, die Stabilitätsbewußtsein konkret und nachprüfbar unter Beweis gestellt haben.
Die Abwertung und das vorübergehende Ausscheiden einiger Währungen aus dem EWS war nicht die Folge überhöhter deutscher Zinsen, die niedriger sind als fast überall in Europa. Europäische und internationale Konjunkturprobleme gehen nicht auf die Wiedervereinigung und ihre Finanzierung zurück.
Deutschland finanziert den überwiegenden Teil seiner Investitionen aus nationaler Ersparnis und im übrigen aus Nettoauslandsguthaben von nahezu 500 Milliarden DM. Im übrigen hat z. B. nach Untersuchungen der EG-Kommission der Wachstumsschub aus Deutschland unseren Nachbarn geholfen, die Wirtschaftsschwäche der Jahre 1990 und 1991 zu begrenzen.
Durch den deutschen Importsog war das Wachstum in den anderen EG-Mitgliedsländern in den Jahren 1990 und 1991 um jeweils rund 0,5 Prozentpunkte höher als ohne diesen Sondereffekt.Meine Damen und Herren, ich wiederhole hier, was ich z. B. in Washington, in Bath und auch an anderer Stelle gesagt habe: Kein Amerikaner, kein Engländer, kein Franzose und auch sonst niemand würde es sich nur eine Sekunde vorhalten lassen, wenn er zur Bewältigung einer Jahrhundertaufgabe, die weit über das nationale Interesse hinausgeht, für einige Jahre auf die Ersparnisse der eigenen Volkswirtschaft zurückgreift.
Alle Länder wissen jetzt, woran sie sind, und haben die konkrete Chance, in den kommenden Jahren die Stabilitätsziele des Vertrags von Maastricht zu erreichen. Durch den Vertrag von Maastricht wird das
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9322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Theodor Waigelweltweite Erfolgskonzept der Stabilitätspolitik in Buchstaben gegossen. Die meisten Länder in Europa haben sich dieses Konzept bereits zu eigen gemacht. Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland und Luxemburg weisen zur Zeit niedrigere Inflationsraten auf als Deutschland.Auch beim Abbau der öffentlichen Defizite und Schulden konnten bemerkenswerte Fortschritte erreicht werden. Wir haben hier gar keinen Anlaß zu Überheblichkeit; es gibt andere Völker, die neben uns zum Teil sogar erfolgreicher — hierbei muß man natürlich unsere Sonderanstrengung zur Finanzierung der deutschen Einheit berücksichtigen — diese Stabilitätsziele in den letzten Jahren mutig angegangen sind. Das ist ein gutes Signal für die Zukunft.
Der Vertrag öffnet das Tor zur Währungsunion ausdrücklich nur den Mitgliedstaaten, die zuvor ein Höchstmaß an wirtschaftlichem Gleichlauf, an Konvergenz der wirtschaftlichen Grunddaten erreicht haben. Diese Annäherung auf ein vorgegebenes Stabilitätsniveau wird an Hand von vertraglich festgelegten Konvergenzkriterien gemessen. Sie geben jedem Mitgliedstaat einen klaren Maßstab, an dem er seine Wirtschafts- und Finanzpolitik schon heute ausrichten kann und ausrichten muß, wenn er bis zum Ende dieses Jahrzehnts Mitglied der Wirtschafts- und Währungsunion werden will. Schon heute muß sich jeder in die notwendige Stabilitätspolitik einüben. Das gilt auch für uns. Darum müssen wir an den Daten und Linien des Haushalts 1993 und der mittelfristigen Finanzplanung festhalten.
Wer zunächst noch nicht zur Währungsunion stoßen kann, wird deswegen nicht diskriminiert. Ihm steht der Anschluß jederzeit offen, sobald er die Eingangsbedingungen erfüllt hat, die für alle gleich sind und gleich bleiben.Alle Verdächtigungen gegenüber diesen Konvergenz- und Disziplinkriterien sind unbegründet. Kein denkbarer politischer Kompromiß könnte ein statistisch eindeutig nachweisbares öffentliches Defizit von 4 % oder 5 % des Bruttosozialprodukts in die vom Vertrag geforderte maximale Neuverschuldung von 3 % umdeuten.Auch nach dem Eintritt in die Währungsunion enthält der Vertrag von Maastricht Spielregeln gegen einen möglichen Rückfall in frühere finanzpolitische Sünden; denn jeder, der von der vereinbarten Haushaltsdisziplin abweicht, muß sich einem mit fühlbaren Sanktionen ausgestatteten Verfahren unterwerfen, das erst mit der Rückkehr zu den vereinbarten Stabilitätskennziffern beendet würde.Ein späteres Ausbrechen aus der Stabilitätsgemeinschaft wäre für das betroffene Land aber nicht nur wegen der Sanktionen gefährlich; es entstünden auch ernsthafte Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft und damit für die Sicherheit der Arbeitsplätze. Auch würde es außerordentlich schwierig, öffentliche Defizite noch zu tragbaren Bedingungen auf den Kapitalmärkten zu decken.Durch den Vertrag von Maastricht ist auch keine europaweite Umverteilungsmaschinerie angelegt. Die notwendigen wirtschaftspolitischen Anpassungsprozesse lassen sich nur durch nationale Eigenanstrengungen, nicht durch gewaltige Finanztransfers bewirken.Der Weg zur Währungsunion ist durch den Vertrag von Maastricht klar gegliedert und vorgezeichnet. Zuerst kommt die zunehmende Annäherung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Daten, der sogenannte Konvergenzprozeß. Überwachung und Abstimmung nehmen laufend zu. Spätestens 1998 entscheiden wir über den Beginn und die Zusammensetzung der Währungsunion. Diese Entscheidung beruht auf einer objektiven Prüfung bei der Kommission. Währungsausschuß und Europäischer Rat entscheiden dann darüber, wer die Eintrittskriterien erfüllt.Aus dieser Terminsetzung erfolgt keine Automatik der Teilnahme. Der Vertragstext ist eindeutig. Die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion setzt die Erfüllung der Konvergenzkriterien voraus. Deutschland wird an keiner Währungsunion teilnehmen, bei der nicht jedes Mitgliedsland die Vertragsbestimmungen einhält.
Die Prüfung der Vertragserfüllung ist der entscheidende letzte Schritt vor dem Beginn der Wirtschafts-und Währungsunion. Deshalb werden sich — ich wiederhole das, was der Bundesaußenminister gesagt hat — auch Bundestag und Bundesrat mit dem Ergebnis dieser Prüfung befassen.
Dies ist keine zweite Ratifizierung und keine Optingout-Klausel. Aber die deutsche Regierung braucht vor einer solchen Entscheidung das Votum des Bundestags.
Die wirtschaftliche und politische Einigung Europas bringt den Menschen große Vorteile, aber sie verlangt ihnen auch sehr viel ab. Viele in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, befürchten eine Aushöhlung der nationalen Identität und eine Aufopferung nationaler Interessen auf dem Altar der europäischen Integration. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen diese Angst vor Europa zu nehmen.Die europäische Einigung darf nicht in Zentralismus und Bürokratismus ausarten, weil sie sonst die Zustimmung der Bürger verlöre. Das europäische Haus muß auf den Prinzipien des Föderalismus und der Subsidiarität aufgebaut werden.Die europäischen Institutionen dürfen nicht mehr Kompetenzen beanspruchen, als unbedingt notwendig ist.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9323
Bundesminister Dr. Theodor WaigelDort, wo in den letzten Jahren zentralistische Entwicklungen zu weit gegangen sind, müssen wir das Rad zurückdrehen.
Die europäische Einigung wird nicht zur Beschädigung und Aushöhlung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten führen. Das europäische Haus muß vielmehr Raum für Einheit in Vielfalt bieten. Die europäische Einigung wird nicht zur Beschneidung der Rechte unserer Bundesländer führen. Das gemeinsame Haus muß vielmehr für das Europa der Regionen Platz bieten. Die europäische Einigung wird nicht zu einem unkontrollierten Machtzuwachs der Exekutive führen. Das gemeinsame Haus muß vielmehr von einem starken Europäischen Parlament demokratisch legitimiert werden.
Die Diskussion nach Maastricht hat Probleme des europäischen Einigungswerks aufgedeckt und Befürchtungen der Menschen deutlich werden lassen. Dieser Prozeß der Klärung war notwendig.Die Franzosen haben mit ihrem knappen Ja zu Maastricht die Tür nach Europa aufgestoßen. In Deutschland wollen wir die jetzt beginnende Beratung des Ratifizierungsgesetzes nutzen, um umfassend über das vereinbarte Vertragswerk zu informieren, und damit Ablehnung überwinden.
— Es ist nie zu spät! — Für uns Deutsche wie für unsere Nachbarn liegt die Zukunft in Europa; denn die Alternative lautet: Zurück zur national-egoistischen Aufsplitterung Europas, zurück zu Koalitionen, wechselnden Partnerschaften und zur Instabilität. Wer den Vertrag ablehnt, wird auf den untauglichen Versuch beschränkt, mit den Antworten von gestern die Fragen von morgen zu beantworten.Wie wichtig der feste Zusammenhalt ist, haben schon die vergleichsweise geringen Erschütterungen durch die jüngsten Währungsturbulenzen gezeigt. Deshalb müssen wir gerade nach den Ereignissen der letzten Wochen fortfahren, die Verbindungen noch enger zu knüpfen und Europa zu einer handlungsfähigen, organischen Gemeinschaft zu verbinden.Wir haben am Ende des 20. Jahrhunderts die konkrete Chance, die Idee Europa zu verwirklichen. Schon Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" die Föderation der europäischen Staaten als Mittel der Friedenssicherung vorgeschlagen.Zwischen den Weltkriegen wurde der Gedanke unter anderem von Graf Coudenhove-Kalergi und seiner paneuropäischen Bewegung durch aufgewühlte Zeiten getragen.Nach der letzten Kriegskatastrophe rief Winston Churchill in seiner Züricher Rede am 19. September 1946 zu einer Neugründung der europäischen Familie auf.Jean Monnet, Alcide De Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer legten dann in den 50er Jahren das Fundament der heutigen Gemeinschaft.Walter Hallstein brachte die europäische Entwicklung 1962 mit seinem Aktionsprogramm für die zweite Stufe der Zollunion ebenso voran wie der frühere luxemburgische Ministerpräsident Pierre Werner, auf den der erste Entwurf einer Wirtschafts- und Währungsunion zurückzuführen ist.Die Idee Europa ist nicht die Angelegenheit einzelner Personen oder Parteien.
— Jetzt warten Sie doch einen Moment! Wenn Sie noch fünf Sekunden gewartet hätten, hätte ich ihn genannt. Ich sage es trotzdem,
aber im Zusammenhang.
— Ja, Sie haben mir wirklich die Pointe weggenommen. Aber Helmut Schmidt wird sich dennoch freuen. Er ist froh, wenn er erwähnt wird,
und er hat es verdient.
— Sie müssen es nicht; aber vielleicht werden es andere tun. Im übrigen glaube ich, daß Sie durchaus auch einmal später humorvoll über den einen oder anderen reden können. Sie sind ja einer der wenigen, die Witz verstehen.
Aber jetzt zurück zu Europa: Die Idee Europa ist nicht die Angelegenheit einzelner Personen oder Parteien. Sie hat Konrad Adenauer und Charles de Gaulle ebenso in ihren Bann gezogen wie Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing, François Mitterrand und Helmut Kohl.Wir dürfen das Tor zur europäischen Einheit nicht wieder zufallen lassen. Schon einmal — nach dem Ende des Ersten Weltkriegs — wurde die Chance für eine dauerhafte europäische Neuordnung auf der Grundlage von Frieden und Freiheit vergeben. Wehmütig erinnerte sich Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt von gestern":Jetzt war doch endlich Raum auf Erden für das lang versprochene Reich der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, jetzt oder nie die Stunde für das gemeinsame Europa, von dem wir geträumt. Eine andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung waren, sagten wir uns, es wird die unsere sein, die Welt, die wir erträumt, eine bessere, humanere Welt.
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9324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Bundesminister Dr. Theodor WaigelMeine Damen und Herren, mit der Welt von gestern kann nicht die Welt von morgen gestaltet werden. Und mit Europa dürfen wir nicht eine weitere Generation warten. Europa ist nicht die Aufgabe der Zukunft, sondern die Aufgabe der Gegenwart. Wir haben die Chance, den entscheidenden Schritt nach vorn zu gehen. Dazu sind wir fest entschlossen.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor wir in der Aussprache fortfahren, möchte ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zum Einspruch bekanntgeben.Abgegebene Stimmen: 580. Ungültige Stimmen: keine. Mit Ja haben gestimmt: 374, mit Nein: 191. Es gab 15 Enthaltungen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 578; davonja: 372nein: 191enthalten: 15JaCDU/CSUDr. Ackermann, Else Adam, UlrichDr. Altherr, Walter Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-GüntherDr. Bauer, WolfBaumeister, Brigitte Bayha, RichardBelle, MeinradDr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-DirkDr. Blank, Joseph-Theodor Blank, RenateDr. Blens, Heribert Bleser, PeterDr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, MariaBörnsen , Wolfgang Dr. Bötsch, WolfgangBohl, FriedrichBohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Brähmig, KlausBreuer, PaulBrudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler , Klaus Büttner (Schönebeck),HartmutBuwitt, DankwardCarstens , Manfred Carstensen (Nordstrand),Peter HarryDehnel, Wolfgang Dempwolf, GertrudDeres, KarlDeß, AlbertDiemers, Renate Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Echternach, Jürgen Ehlers, Wolfgang Ehrbar, UdoEichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eylmann, Horst Eymer, AnkeFalk, IlseDr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, JochenDr. Fell, KarlFischer , Dirk Erik Fischer (Unna), Leni Fockenberg, Winfried Francke (Hamburg), Klaus Frankenhauser, HerbertDr. Friedrich, Gerhard Fritz, Erich G.Fuchtel, Hans-Joachim Ganz , Johannes Geiger, MichaelaDr. Geiger , Sissy Geis, NorbertDr. Geißler, HeinerDr. von Geldern, Wolfgang Gerster , Johannes Gibtner, HorstGlos, MichaelGöttsching, Martin Götz, PeterDr. Götzer, Wolfgang Gres, JoachimGröbl, Wolfgang Grotz, Claus-PeterDr. Grünewald, Joachim Günther , Horst Frhr. von Hammerstein,Carl-DetlevHarries, KlausHaschke , GottfriedHaschke , Udo Hasselfeldt, Gerda Haungs, RainerHauser , OttoHauser , HansgeorgHedrich, Klaus-Jürgen Heise, ManfredDr. Hellwig, RenateDr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, ErnstHintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, JoachimDr. Hoffacker, Paul Hollerith, JosefDr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, SiegfriedHüppe, Hubert Jäger, ClausJaffke, Susanne Jagoda, Bernhard Dr. Jahn ,Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, KarinDr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, ReinerJung , Michael Junghanns, UlrichDr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, SteffenDr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, VolkerKeller, PeterKiechle, Ignaz Kittelmann, Peter Klein , Günter Klein (München), Hans Klinkert, UlrichKöhler ,Hans-UlrichDr. Köhler ,VolkmarDr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kossendey, ThomasKraus, RudolfDr. Krause , GüntherDr. Krause ,Rudolf KarlKrause , Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, PaulKrziskewitz, Reiner Eberhard Lamers, KarlDr. Lammert, NorbertLamp, Helmut Johannes Lattmann, HerbertDr. Laufs, Paul Laumann, Karl JosefLehne, Klaus-HeinerDr. Lehr, Ursula-MariaDr. Lieberoth, Immo Limbach, Editha Lintner, EduardDr. Lippold ,Klaus W.Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrur.Lohmann ,WolfgangLouven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, MichaelMaaß , Erich Männle, UrsulaMagin, TheoDr. Mahlo, DietrichMarienfeld, Claire Marschewski, Erwin Marten, GünterDr. Mayer , MartinMeckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf HorstDr. Merkel, Angela Dorothea Dr. Meseke, HeddaDr. Meyer zu Bentrup,ReinhardMichalk, MariaDr. Möller, Franz Molnar, ThomasMüller , Elmar Müller (Wadern),Hans-WernerMüller , Alfons Nelle, EngelbertDr. Neuling, Christian Neumann , Bernd Nitsch, JohannesNolte, ClaudiaDr. Olderog, Rolf Ost, FriedhelmOswald, EduardOtto , Norbert Dr. Päselt, GerhardDr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, UlrichPfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, AntonPfeiffer, AngelikaDr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Dr. Pohler, Hermann Priebus, RosemarieDr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Raidel, HansDr. Ramsauer, Peter Rau, RolfRauen, Peter Harald Rawe, WilhelmRegenspurger, Otto Reichenbach, Klaus Dr. Reinartz, Berthold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, NorbertDr. Riedl , Erich Riegert, KlausDr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode , Helmut Rönsch (Wiesbaden), HanneloreRomer, Franz-Xaver Dr. Rose, KlausRossmanith, Kurt J. Roth , Adolf Rother, HeinzDr. Ruck, Christian Rühe, VolkerDr. Rüttgers, Jürgen Sauer , Roland Schätzle, OrtrunDr. Schäuble, Wolfgang Scharrenbroich, Heribert Schartz , Günther Schemken, Heinz Scheu, GerhardSchmalz, UlrichSchmidbauer, Bernd Schmidt , ChristianDr. Schmidt , JoachimSchmidt , Andreas Schmidt (Spiesen), Trudi Schmitz (Baesweiler),Hans Peter
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9325
Präsidentin Dr. Rita Süssmuthvon Schmude, Michael Dr. Schneider , OscarDr. Schockenhoff, Andreas Graf von Schönburg-Glauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,Reinhard
Schulz , Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, StefanDr. Schwarz-Schilling, ChristianDr. Schwörer, Hermann Seehofer, HorstSeesing, HeinrichSeibel, WinfriedSeiters, RudolfSikora, JürgenSkowron, WernerDr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-DieterDr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, HansDr. Frhr. von Stetten,WolfgangStockhausen, KarlDr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, MichaelDr. Süssmuth, Rita Susset, EgonTillmann, Ferdinand Dr. Töpfer, KlausDr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, GunnarVerhülsdonk, Roswitha Vogel , Friedrich Vogt (Düren), WolfgangDr. Voigt ,Hans-PeterDr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, TheodorGraf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, JürgenDr. Warrikoff, Alexander Werner , Herbert Wetzel, KerstenWiechatzek, GabrieleDr. Wieczorek , BertramDr. Wilms, Dorothee Wilz, BerndWimmer , Willy Wissmann, Matthias Dr. Wittmann, FritzWittmann ,SimonWonneberger, Michael Wülfing, ElkeWürzbach, Peter Kurt Yzer, CorneliaZeitlmann, Wolfgang Zöller, WolfgangF.D.P.Albowitz, InaDr. Babel, Gisela Baum, Gerhart Rudolf Beckmann, KlausDr. Blunk, Michaela Bredehorn, Günther Cronenberg ,Dieter-JuliusEimer , Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, JörgDr. Feldmann, Olaf Friedhoff, Paul Friedrich, Horst Funke, RainerDr. Funke-Schmitt-Rink,MargretGallus, Georg Ganschow, Jörg Gries, Ekkehard Grüner, MartinGünther , Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hansen, DirkDr. Haussmann, Helmut Heinrich, UlrichDr. Hitschler, Walter Homburger, Birgit Dr. Hoth, SigridDr. Hoyer, Werner Irmer, UlrichKleinert , Detlef Kohn, RolandKoppelin, JürgenDr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Leutheusser-Schnarrenberger,SabineLüder, Wolfgang Lühr, UweDr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Möllemann, Jürgen W. Nolting, Günther FriedrichDr. Ortleb, Rainer Otto ,I lans-Joachim Paintner, Johann Peters, LisaDr. Pohl, EvaRichter , ManfredRind, Hermann Dr. Röhl, KlausSchäfer , Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt (Dresden), ArnoDr. Schmieder, JürgenDr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard Schuster, HansDr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, MaritaSeiler-Albring, UrsulaDr. Semper, SigridDr. Solms, Hermann OttoDr. Starnick, JürgenDr. von Teichman, Cornelia Thiele, Carl-LudwigDr. Thomae, Dieter Timm, JürgenTürk, JürgenWalz, IngridDr. Weng , WolfgangWolfgramm , TorstenWürfel, UtaZurheide, Burkhard Zywietz, WernerBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schulz , \\VerrierNeinSPDAdler, BrigitteBarbe, Angelika Bartsch, HolgerBecker , Helmuth Berger, HansBernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Blunck , Lieselott Bock, TheaDr. Böhme , Ulrich Börnsen (Ritterhude), Arne Dr. Brecht, Eberhard Büchner (Speyer), PeterDr. von Bülow, Andreas Bulmahn, Edelgard Burchardt, UrsulaBury, Hans Martin Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, PeterDr. Diederich , Nils Diller, Karl.Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, RudolfDuve, FreimutEbert, EikeDr. Eckardt, PeterDr. Ehmke , Horst Eich, LudwigDr. Elmer, Konrad Esters, HelmutEwen, CarlFerner, ElkeFischer , EvelinFormanski, Norbert Fuchs , Anke Fuchs (Verl), Katrin Fuhrmann, ArneGanseforth, Monika Gansel, NorbertDr. Gautier, Fritz Gleicke, IrisGraf, GiinterHabermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hasenfratz, KlausDr. Hauchler, Ingomar Hiller , Reinhold Hilsberg, StephanDr. Holtz, UweHorn, ErwinHuonker, Gunter Jäger, RenateJanz, IlseDr. Janzen, Ulrich Dr. Jens, UweJung , Volker Jungmann (Wittmoldt), Horst Kastner, SusanneKirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Klose, Hans-UlrichDr. sc. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz RudolfKolbe, ReginaKolbow, Walter Koltzsch, RolfKoschnick, Hans Kubatschka, Horst Kuessner, Hinrich Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Lambinus, UweLange, Brigittevon Larcher, Detlev Leidinger, RobertLennartz, KlausLohmann , Klaus Dr. Lucyga, Christine Maaß (Herne), Dieter Marx, DorleMascher, UlrikeMatschie, Christoph Dr. Matterne, Dietmar Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meckel, MarkusMehl, UlrikeMeißner, HerbertDr. Mertens , Franz-JosefMosdorf, SiegmarMüller , Michael Müller (Pleisweiler), Albrecht Müller (Schweinfurt), Rudolf Müller (Völklingen), Jutta Müller (Zittau), Christian Müntefering, Franz Neumann (Bramsche), Volker Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Niehuis, EdithDr. Niese, RolfNiggemeier, Horst Odendahl, DorisOstertag, AdolfDr. Otto, HelgaPaterna, PeterDr. Penner, Willfried Peter , Horst Dr. Pfaff, MartinDr. Pick, EckhartPor , JoachimPurps, RudolfReimann, Manfred Rennebach, Renate Roth, WolfgangScheffle) Siegfried Willy Schloten DieterSchluckebier, Günter Schmidbauer , HorstSchmidt , Ursula Schmidt (Nürnberg), Renate Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schmidt-Zadel, ReginaDr. Schmude, Jürgen Dr. Schnell, EmilDr. Schöfberger, Rudolf Schröter, GiselaSchröter, Karl-Heinz Schütz, DietmarSchulte , Brigitte Dr. Schuster, R. Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, RolfSeidenthal, BodoSeuster, LisaSielaff, HorstSimm, ErikaSinger, JohannesDr. Soell, HartmutDr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, WielandDr. Sperling, Dietrich Steen, Antje-Marie Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, LudwigDr. Struck, PeterTappe, JoachimTerborg, Margitta Dr. Thalheim, Gerald Titze, UtaToetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
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9326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthVerheugen, GünterDr. Vogel, Hans-Jochen Voigt , Karsten D. Wagner, Hans Georg Wallow, HansWaltemathe, Ernst Walter , RalfWartenberg , Gerd Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weiler, BarbaraWeis , Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Wernitz, AxelWester, Hildegard Westrich, LydiaDr. Wetzel, Margrit Weyel, GudrunDr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, DieterWimmer ,HermannWittich, BertholdWohlleben, Verena Ingeborg Wolf, HannaZapf, UtaPDS/Linke ListeBläss, PetraDr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, BarbaraLederer, AndreaFraktionslosDr. Briefs, Ulrich Henn, BerndLowack, OrtwinEnthaltenCDU/CSUDr. Jüttner, Egon SPDOostergetelo, Jan von Renesse, MargotPDS/Linke ListeDr. Fuchs, RuthDr. Gysi, GregorDr. Keller, DietmarPhilipp, IngeborgDr. Schumann , FritzStachowa, AngelaBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Feige, Klaus-Dieter Köppe, IngridPoppe, GerdSchenk, ChristinaDr. Ullmann, Wolfgang Weiß , KonradDamit ist der Antrag angenommen.Ich erteile der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist kein Zufall, daß wir an dem Tag, an dem wir über Maastricht diskutieren, auch über die Chancen Europas am Ende unseres Jahrhunderts sprechen.
Manche Bilder aber, die wir augenblicklich von der wechselseitigen Zerfleischung zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalität oder Volkszugehörigkeit in Mittel- und Osteuropa sehen, erinnern uns eher an den Beginn dieses Jahrhunderts. Das hat auch Herr Waigel erwähnt. Die Anschläge auf das Leben von Menschen anderer Nationalitäten heute in unserem Land erinnern uns an den schrecklichen Rückfall in die Barbarei in Deutschland, als Minderheiten in diesem Land zum Sündenbock gemacht wurden. Dies zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir heute stehen.
Bereits in den 20er Jahren — das ist schon gesagt worden — gab es nach den Verheerungen des Ersten Weltkrieges Überlegungen vieler engagierter Menschen, ein Europa zu schaffen, das die Nationalstaaten miteinander verflechten sollte, so daß niemals mehr Krieg zwischen ihnen möglich wäre.In der Geschichte hat sich die Idee der Vereinigten Staaten von Europa damals noch nicht durchgesetzt — mit schrecklichen Folgen. Den Nationalstaaten gelang es nicht, die wirtschaftliche Depression der 20er Jahre allein und jeweils für sich zu bekämpfen und das Aufkommen von Faschismus und Nationalsozialismus zu verhindern.Die Frauen und Männer des Widerstands gegen Faschismus und Nationalsozialismus kamen — manche völlig unabhängig voneinander — zu ähnlichen Schlußfolgerungen für ein neues Europa. Für sie, die — zum Teil in Konzentrationslagern und Gefängnissen — über ein neues Europa für unseren Kontinent nachdachten, lag das Verhängnis Europas in seinen unzulänglichen und veralteten Strukturen, in seiner Aufsplitterung in nationale souveräne Staaten und in den sich daraus ergebenden nationalistischen Auseinandersetzungen.Dem stellten sie ihre Vorstellungen von einer demokratischen, solidarischen und föderalen europäischen Ordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber. Dies gilt für die Menschen, die vom italienischen Faschismus auf die Insel Ventotene verbannt wurden. Dies gilt für Männer wie Carlo Mierendorff,. den Kreisauer Kreis und die Geschwister Scholl.Bei aller berechtigten Kritik an den Mängeln der bestehenden Europäischen Gemeinschaft frage ich alle Bürger und Bürgerinnen sowie uns in diesem Haus: Ist es nicht ungleich viel zivilisierter und menschlicher, daß die Europäer im Westen heute ihre Interessendifferenzen und wirtschaftlichen Probleme in Redeschlachten statt in den Schützengräben austragen?
Nach den demokratischen Revolutionen in Ost-und Mitteleuropa 1989 leuchtete die Chance auf, ein Gesamteuropa zu schaffen, in dem die Nationalstaaten, miteinander verflochten, nie mehr gegeneinander Krieg führen. Die Verheißung von 1989 der demokratischen Revolutionen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa waren die Freiheit und die Rückkehr Ost- und Mitteleuropas zu den Prinzipien der europäischen Aufklärung.Diese Prinzipien, das müssen wir heute mit Schmerzen jeden Tag aufs neue sehen, werden in Mittel-, Südost- und Osteuropa tausendfach gebrochen und mit Füßen getreten. Der versuchte Völkermord an den bosnischen Muslimen ist das bisher schauerlichste Beispiel dafür.Wir in Westeuropa und in Deutschland stehen vor der Frage: Konnten die Prinzipien der Aufklärung und unsere Überzeugungen von der Würde aller Menschen nur existieren , solange die Zuwanderung nach Westeuropa durch die Mauer und die Trennung Europas verhindert wurde? Oder schaffen wir es — ich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9327
Heidemarie Wieczorek-Zeulhoffe, wir schaffen es, liebe Kolleginnen und Kollegen —, diese Werte bei uns zu sichern und zu bewahren, so daß sie die Chance der allgemeinen Durchsetzung auch für den anderen Teil unseres Kontinents haben? Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Dafür müssen wir uns engagieren.
Die Verheißung von 1989 war die Freiheit. Zur Freiheit gehört aber zuallererst die Sicherung der Freiheit auch für Minderheiten. Wenn heute — ich stelle ausdrücklich einen Bezug zu der Diskussion her, die sich heute nachmittag über Rechtsextremismus und Gewalt anschließt — Minderheiten, Menschen anderer Nationalität in unserem Land wieder zu Sündenböcken gemacht werden, müssen wir sagen: Es ist die Lehre unserer Geschichte, daß Minderheiten in Deutschland niemals als Spielball zu politischer Mehrheitssicherung mißbraucht werden dürfen.
Wer hier lebt, dessen Würde und dessen Leben müssen mit der gleichen Inbrunst verteidigt werden, wie die eines jeden und einer jeden Deutschen auf unserem Boden.
An die Adresse des Bundeskanzlers und des Finanzministers Waigel, der vor mir gesprochen hat, muß ich sagen: Wer Menschen anderer Nationalität, die auf dem Boden der Bundesrepublik leben und die angegriffen werden, nicht in aller Entschiedenheit — beispielsweise indem man zu ihnen geht — beisteht, ist ein schlechter Europäer, auch wenn er tausendmal Konrad Adenauer zitiert.
Aus aktuellen Gründen sage ich weiter: Wer in diesem Land Molotowcocktails auf Menschen schmeißt, ist ein potentieller Mörder. Er muß wissen, daß er in dieser Gesellschaft geächtet wird.
Er darf nicht damit rechnen, daß ihm klammheimliche oder offene soziale Sympathie entgegengebracht wird. Das muß in einer solchen Debatte gesagt werden.
Ja, es gibt auch zwischen EG-Mitgliedstaaten untereinander den Rückfall in nationalistische Stereotype und Vorurteile. Ja, es gibt erneut Befürchtungen vor einem nationalistischen Deutschland in der Mitte Europas. Es gibt Befürchtungen vor der Dominanz des wirtschaftlich stärksten Partners in der Gemeinschaft. Manche Ereignisse der letzten Wochen und Monate haben vielen dieser Befürchtungen Vorschub geleistet: die Parolen „Ausländer raus" und „Deutschland den Deutschen" und der gefühllose Umgang dieser Regierung mit unserer Geschichte; Stichwort: Peenemünde.Aber ich betone auch— das, was der Finanzminister hier gesagt hat, war nicht ausreichend —: Es ist eine Tatsache, daß die deutsche Hochzinspolitik nicht nur die Menschen in unserem Lande belastet, sondern daß sie auch dazu führt, daß wirtschaftliche Schwierigkeiten bei unseren Nachbarn auftreten, und daß sie damit auch einen Sprengsatz für die europäische Einigung darstellt.In dieser Situation vermißt man wie in so vielen anderen Situationen ein klärendes, orientierendes Wort des Bundeskanzlers.
Ein Mann wie Helmut Schmidt hat die Deutschen daran erinnert, was in der augenblicklichen Situation zu sagen ist und was auch dazu führen würde, daß in diesen Fragen Klarheit herrscht.
— Es schmerzt, wenn man einen Mann zum Bundeskanzler hat, der nicht einmal in dieser Debatte das Wort ergreift.
Ich verstehe, daß sie so reagieren.
Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn man der Rednerin zuhörte.
Helmut Schmidt hat in dieser Diskussion gesagt, daß ein geeintes Europa die einzige Chance ist, um zu verhindern, daß es neue Hegemonien und Koalitionen gegen den Versuch solcher Hegemonien gebe.Ich zitiere:Schließlich ist weder die freiwillige Einbindung Deutschlands, das eine größere Zahl von Nachbarn als irgendein anderes europäisches Volk hat, noch die Vermeidung von zukünftig gegen Deutschland gerichteten Koalitionen etwas Ehrenrühriges — im Gegenteil: Beides ist vernünftig, beides liegt im langfristigen deutschen Interesse, beides liegt im wohlverstandenen Interesse der meisten unserer Nachbarn, von Frankreich bis Polen, und es liegt im Interesse des Friedens auf diesem kleinen Kontinent.Ich füge hinzu: Immer wenn Deutschland dies beherzigte, ging es Deutschland und unserem Konti-
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Heidemarie Wieczorek-Zeulnent Europa gut; immer wenn dies mißachtet wurde, ging es beiden schlecht.
Das muß in dieser Diskussion erwähnt werden, und daran muß erinnert werden.Maastricht zu ratifizieren liegt also im deutschen Interesse, aber auch im europäischen. In unserer Geschichte haben immer diejenigen unserem Land unermeßlichen Schaden zugefügt, die seine Einbindung leugneten oder sie gar zerstörten.
Warum ist aber, unabhängig davon, die Distanz zwischen Bürgern und Bürgerinnen in Europa und dem organisierten Europa in den letzten Jahren immer größer geworden? Liebe Kolleginnen und Kollegen, die frühe Phase der europäischen Einigung mit den Römischen Verträgen setzte eigentlich auf die Kooperation weniger Staatsmänner. Letztlich bezog sie aber Bürger und Bürgerinnen nicht ein. Das konnte nur so lange gut gehen, als es nicht um zentrale Fragen unserer Verfassung ging. Aber ein Vertragswerk wie Maastricht, das dramatische Rückwirkungen auf zentrale innenpolitische Fragen hat, kann nicht an Bürgern und Bürgerinnen vorbei ausgehandelt werden, ohne ihr Vertrauen zu verletzen.Der erste Akt einer notwendigen neuen Vertrauensbildung zwischen Regierungen und Bevölkerung muß also künftig ein neuer Stil bei der Ausarbeitung europäischer Regelungen und Verträge sein.
Ich rüge deshalb ausdrücklich, daß die Bundesregierung aus der Kritik an der Erarbeitung von Maastricht offensichtlich immer noch nichts gelernt hat. Wir hören seit dem Tag des französischen Referendums, daß es eine „Ergänzende Erklärung" der Regierungschefs auf dem Sondergipfel am 16. Oktober geben werde. Bis dahin ist es noch gut eine Woche.
— Gerade das ist die Geisteshaltung, die die Leute nicht mehr akzeptieren. Warten Sie einmal ab! Sie wollen vorher sehen, was dort behandelt wird; sie wollen es offengelegt wissen,
und sie wollen nicht anschließend von den Regierungen gnädig ihre Vorschläge serviert bekommen.
Sie wollen es vielmehr selber beurteilen können.Ich füge hinzu: Mein Verständnis als Parlamentarierin schließt ein, daß ich vorher im Deutschen Bundestag dazu ein Wort sagen will
und daß ich nicht auf das warten will, was die Bundesregierung anschließend aus solchen Gesprächen mit herausbringt.
Ich frage also die Bundesregierung: Wo sind Ihre Vorschläge für den Sondergipfel am 16. Oktober? Ich kenne das Memorandum. Das ist vom Wirtschaftsministerium, und dementsprechend ist es geraten. Das wird ja wohl nicht das politische Dokument dieser Bundesregierung für den 16. Oktober sein. Wo sind Ihre Vorschläge für die angemessene Repräsentation der fünf neuen Länder im Europäischen Parlament? Das muß jetzt geregelt werden. Wo sind die Vorschläge? Das werden die Bürger und Bürgerinnen wissen wollen.
Wenn die Regierungen erneut hinter verschlossenen Türen verhandeln, werden sie damit Unmut gegen die EG schüren, den sie eigentlich auf sich selbst ziehen müßten.Ich will an der Stelle eines anfügen: Ich höre das Zauberwort Subsidiarität. Das wird dann immer — ich kenne Europa lange genug, ich weiß, wovon die Rede ist — in die Diskussion eingebracht.
— Wenn nichts anderes mehr klar ist, dann wird auf solche Dinge zurückgegriffen.Ich sage: Das muß man sich sehr genau ansehen. Wir sind dafür, daß all das, was in der Gemeinde, im Land erledigt werden kann, dort erledigt wird. Aber ich warne auch vor einem: Bis Ende des Jahres sind alle legislativen Akte für den Binnenmarkt, also für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, beendet. Ich möchte nicht, daß, wenn es zu Rechtsakten der Gemeinschaft im Sinne des sozialen Europas oder des ökologischen Europas kommt, mir der Bundeskanzler oder andere kommen und sagen: Subsidiarität; jetzt hat die EG nichts mehr zu sagen,
Ja, davor warne ich. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, daß die Europäische Gemeinschaft bei Bürgern und Bürgerinnen dann Akzeptanz findet, wenn sie sich an ihrem sozialen und ökologischen Profil orientiert.
Es würde sie bei Bürgern und Bürgerinnen beliebt machen, wenn es gemeinsame Aktionen gäbe, z. B. die Flüsse und Seen Europas zu reinigen, dafür zu sorgen, daß wir eine Umwelt erleben, in der die Kinder unseres Kontinents in Zukunft sauberes Wasser und frische Luft vorfinden, und dafür zu sorgen, daß es Energiesparmaßnahmen in diesem Land gibt, die für Europa insgesamt gute Auswirkungen haben. Das
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Heidemarie Wieczorek-Zeulmuß ein Profil Europas ausmachen und nicht eher traditionalistische, konservative Ansätze, die sich zum Teil in den Gedanken zu Maastricht finden.
Ich sage bei allen kritischen Ansätzen: Die SPDBundestagsfraktion wird dem Vertrag von Maastricht zustimmen.
Sie sieht durchaus seine Mängel der Erarbeitung. Aber sie sieht auch seine Chancen, die ich zu Beginn angesprochen habe.
Ich sage an die Adresse derer, die sich zur Frage des Volksentscheids äußern: Wir setzen uns als SPD in den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskommission für die Aufnahme der Möglichkeit von Volksentscheiden und Referenden ein. Wenn dies akzeptiert würde, dann wäre Maastricht ein solcher Fall für eine Volksabstimmung oder einen Volksentscheid. Aber die Ehrlichkeit gebietet, zu sagen, daß die CDU/CSU und die F.D.P. diese Vorschläge scheuen wie der Teufel das Weihwasser und daher eine Verankerung von Referenden in der Verfassung keine Chance oder wenig Chancen haben wird. Das muß man korrekterweise an dieser Stelle sagen.
Ich befürchte, der I-linweis der Rednerin war nicht unberechtigt. Ich bitte Sie freundlicherweise, sich auch entsprechend zu verhalten, ohne daß ich Sie darauf aufmerksam machen muß.
Ich freue mich, daß Sie sich zur Ordnung gerufen haben, und setze fort.Die SPD-Bundestagsfraktion hat große Anstrengungen unternommen, um bei den Beratungen zu Maastricht und den Verfassungsänderungen, Mängel des Vertrags auszugleichen. Wir wollen z. B. ein Rechtsstellungsgesetz im Deutschen Bundestag aus Anlaß der Ratifizierungsberatungen verwirklichen, durch das die Bundesregierung verpflichtet wird, den Bundestag rechtzeitig über geplante EG-Gesetze zu informieren und in zentralen Fragen die Abstimmung des Deutschen Bundestags abzuwarten. Vor allem aber vertreten wir die Interessen der Bürger und Bürgerinnen und deren Sorge um die stabile Währung. Denn ihre Sorge um die Stabilität der Währung ist nicht unberechtigt,
auch wenn sie manchmal dubiose Auslegungen erfährt. Man wagt nicht leicht den Sprung ins Unbekannte, gerade in Fragen der Währung. Bei uns kommt nicht nur die Erfahrung mit zwei verheerenden Inflationen in diesem Jahrhundert hinzu, sondern auch folgender Aspekt: Zu lange hat die Bundesregierung uns vorgegaukelt, die deutsche Einigung werde aus der Portokasse bezahlt, als daß die Menschen den Verhandlungsergebnissen dieser Regierung noch blind vertrauen könnten.
Um es ganz klar zu sagen: Wenn wir vor dem Übergang in die Endstufe der Währungsunion eine erneute Entscheidung des Parlaments fordern, ist dies kein Währungschauvinismus. Wir stellen damit nicht die Ratifikation des Vertrages in Frage. Wir wollen vielmehr erreichen, daß die Stabilität der Währung gesichert ist. Ich denke, dies ist auch im Interesse aller Partnerstaaten.
Wir wissen uns dabei einig mit dem Beschluß des Bundesrats vom 25. September, auf den ich Ihr Augenmerk zu lenken versuche. Der Bundesrat hat einstimmig, also auch mit Zustimmung der CDUregierten Länder und des Landes Bayern, beschlossen:Die Bundesregierung bedarf für ihr Stimmverhalten bei Beschlüssen des Rates über den Übergang zur dritten Stufe der Währungsunion der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat.Wir wollen diese Festlegung im Ratifizierungsgesetz verankern oder in einer eigenen Resolution aussprechen, die am besten zwischen Bundestag und Bundesrat vereinbart wird. Diesen Parlamentsvorbehalt muß die Bundesregierung den EG-Partnern verbindlich mitteilen. Mit unverbindlichen Erklärungen — letzte Woche haben wir dazu einiges gehört — der Bundesregierung werden wir uns jedenfalls nicht zufriedengeben.
Wir werden einem Einstieg in die europäische Währung nur dann zustimmen, wenn sie genauso stabil ist wie die D-Mark.
Das heißt: Unser Parlamentsvorbehalt ist für alle Bürger und Bürgerinnen wichtig. Er ist eine Sperre, mit der die Aufweichung der harten D-Mark verhindert werden kann. Deshalb ist er notwendig.
Wir können aber mit all unseren Initiativen nicht die prinzipiellen Mängel ausgleichen, z. B. daß dem Europäischen Parlament im Vertrag nicht ausreichend Rechte gegeben worden sind. Deshalb fordern wir in unserem Antrag: Die vorgesehene Konferenz, die den Vertrag 1996 überprüfen soll, soll aus unserer Sicht um zwei Jahre auf 1994 vorgezogen werden. Dabei muß dann endlich erreicht werden, daß das Europäische Parlament künftig ein dem Ministerrat gleichberechtigtes Mitentscheidungsrecht bei der europäischen Gesetzgebung erhält. Wir wollen, daß in diesen Fragen das Europäische Parlament in der Tat auch die Entscheidungen über die europäische Gesetzgebung treffen kann.
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9330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Heidemarie Wieczorek-ZeulLiebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin gesagt: Es gibt alte Politikansätze. Zu den alten Politikansätzen rechne ich auch Gedankenspielereien über eine militärische Rolle für Europa. Für den Vertrag von Maastricht ist dies glücklicherweise abgewehrt worden. Wir sollten uns ihnen auch in Zukunft nicht zuwenden.Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich zur Verteidigungspolitik fest, daß der Vertrag von Maastricht die Zusammenarbeit auf rein zwischenstaatlicher Zusammenarbeit belassen hat. Für diesen Bereich gelten daher wie bisher uneingeschränkt die Bestimmungen des Grundgesetzes und die demokratische Kontrolle und Entscheidung durch den Deutschen Bundestag. Niemand kann sich also auf Maastricht berufen, wenn er die Bundeswehr weltweit einsetzen will. Wer dies dennoch tut,
versteckt seine eigenen innenpolitischen Ziele hinter der EG und schadet damit der Europäischen Gemeinschaft.Jenseits von Maastricht gilt: Wenn wir auf Dauer die europäische Zusammenarbeit sichern wollen, brauchen wir einen neuen Anfang unter Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen in einer offenen Diskussion darüber, welche politische Gestalt unser Kontinent annehmen soll. Wir brauchen eine Verfassung für Europa, die die Prinzipien garantiert, auf denen unser Gesellschaftssystem gründet, d. h. eine Verfassung, die ein bürgernahes, ein soziales, ein ökologisch gestaltetes Europa schafft, in dem die Mitwirkung der Regionen und Länder sichergestellt ist.Hierzu brauchen wir endlich auch eine europäische Verfassung gebende Versammlung, in der nationale und europäische Parlamentarier und Parlamentarierinnen und Menschen der unterschiedlichsten Lebenserfahrung einen Entwurf für dieses Europa ausarbeiten, einen Entwurf, der sich breiter öffentlicher Diskussion der europäischen Bürger und Bürgerinnen stellt und letztlich von den europäischen Völkern als ihre eigene Verfassung angenommen werden kann.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Dr. Rita Süssmuth.
Dr. Rita Süssmuth: : Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung über das Vertragswerk von Maastricht. Unsere Debatte findet in einer europapolitisch schwierigen, aber ganz wichtigen Zeit statt. Da gibt es Wetterleuchten über Europa, da gibt es Ängste und Widerstände. Aber ich stehe hier und sage für dieses Parlament und für unsere Fraktion: Was wir brauchen, ist Europabegeisterung, begleitet von nüchterner Analyse, sonst kann sie sich auch auf die Menschen nicht übertragen.
Gestern war in der „Neuen Zürcher" für die Schweizer zu lesen:
Was wir brauchen, ist emotionale Europafähigkeit, Entscheidung zum Risiko und nicht Warten, bis dieses Europa fertig ist.
Frau Wieczoroek-Zeul, ich glaube, daß die Gemeinsamkeiten viel größer sind, als Sie sie eben im Parlament vorgetragen haben. Denn ich muß Ihnen sagen: Wer ist denn wohl in diesem Parlament für Gewalt? Ich halte es für ganz wichtig — auch im europäischen Kontext —, daß wir endlich begreifen: Dies ist ein Bollwerk der europäischen Demokratien gegen Gewalt. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Sie gestatten eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Wiezorek-Zeul? — Bitte sehr.
Frau Kollegin Süssmuth, ich habe am Freitag letzter Woche mit Herrn Lummer, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, eine Diskussion im NDR geführt.
— Ich will das vorweg sagen. — Ich frage Sie, betrachten Sie es als Unterstützung von Gewalt, wenn Herr Lummer — bezogen auf die Bomben- und Molotowcocktailwürfe — da gesagt hat: Wissen Sie, in der Geschichte hat sich Gewalt immer durchgesetzt, sei es von Palästinensern, sei es an anderer Stelle. Betrachten Sie das als Sympathisieren mit Gewalt, oder wie würden Sie das bezeichnen?
Ich kenne die Aussage von Herrn Lummer nicht, aber dort, wo sich Gewalt durchgesetzt hat, hat sie immer zu Unrecht, Leid und Verzweiflung geführt.
Monnet hat uns vorausgesagt: Je näher dieses Europa kommt, desto größer werden die Widerstände, je mehr der Traum in Erfüllung geht, desto mehr besteht die Gefahr, daß er an Energie und Kraft verliert. Aber unsere Aufgabe ist es, diesen Traum nicht erschlaffen zu lassen, sondern zu sehen, daß Europa wichtiger ist denn je.
Wenn wir zurückblicken, aber auch wenn wir in die Zukunft blicken, müssen wir uns fragen: Wo stünden wir denn heute als Deutschland ohne den Zusammenschluß freier Völker in Europa?
Wer hat uns denn Vertrauen gegeben? Was wären wir ohne die deutsch-französische Aussöhnung,
ohne ein geeintes Deutschland mit der Verpflichtungfür ein geeintes Europa? Wollen wir denn jenen dieHoffnung nehmen, die sie in uns gesetzt haben, für die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9331
Dr. Rita Süssmuthsie jahrelang in den sozialistischen Ländern im Widerstand gelebt haben, um ein freies Europa zu schaffen? Dies könnten wir überhaupt nicht verantworten.
In der Zeit des Kalten Krieges, in der Zeit der Teilung Europas war es uns selbstverständlich, für Europa einzutreten. Ich verschweige nicht, daß es auch in den 60er und 80er Jahren Rückschläge in Europa, daß es Eurosklerose gegeben hat.Wer hat den europäischen Prozeß denn immer wieder vorangetrieben, z. B. mit der Einheitlichen Europäischen Akte? Das war eine Zeit der Eurosklerose. Ich denke, hier kann ich den Bundeskanzler nennen, der auch immer wieder dieses festgefahrene Schiff flottgemacht hat.
Angesichts der epochalen Wende, die das Jahr 1989 darstellt, brauchen wir Europa nicht nur dringlicher, sondern wir brauchen es auch schneller.
Minister Kinkel hat zu Recht gesagt, ohne Europa sähe es wahrscheinlich in der Jugoslawien-Frage noch schlechter aus. Aber meine Antwort ist: Für die Frage der Kriegsbeendigung und der Verhinderung weiterer Kriege — glauben wir nicht, daß wir in ein allgemeines Friedensstadium übergangen sind — ist der Zusammenschluß Europas eine ganz harte, unabwendbare und unverzichtbare Notwendigkeit.
Der Frieden, den wir für uns wollen, den wir über 40 Jahre gehabt haben, ist doch eine Verpflichtung für andere. Spüren wir denn nicht, wie dringlich mehr europäische Handlungsvollmachten sind? Wir sollten daher weniger denken: Was nützt und schadet es mir im nationalen Eigenverständnis? Dies ist nicht der Zeitpunkt für ein Verharren in Nationalitäten und Nationalismus, sondern für ein starkes, jeweils bestimmtes patriotisches, aber europäisches Handlungsverständnis, das es uns möglich macht, Probleme zu lösen.Wir sind nicht in der Lage, die Umweltprobleme, die Sozialprobleme, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme allein zu lösen, und schon gar nicht den Nord-Süd-Konflikt. Deswegen sage ich, auch mit Blick auf die Stabilisierung der Demokratie: Mehr Schutz der Minderheiten in Demokratien, Lösung des Problems der Weltflüchtlingsströme, — wenigstens schrittweise —, dies alles können wir nicht alleine, sondern nur gemeinsam bewältigen.
Bei der Frage, was wir verlieren, möchte ich nicht nur in Erinnerung rufen, was wir gewonnen haben, sondern auch die Frage stellen: Wer, wenn nicht die freien Völker auf der Grundlage von Demokratien, will sich zusammenschließen und gemeinsam entscheiden, statt jeder für sich allein?Wir haben längst unseren Einfluß in die anderen Nationen mit eingebracht, bestimmen dort mit, als daß wir sagen könnten: Wir geben etwas ab. Im Gegenteil: Ich glaube, daß uns gerade das, was jetzt in den kritischen Auseinandersetzungen mit dem sehr schwierigen Vertragswerk von Maastricht deutlich geworden ist, in Europa voranbringt, und zwar demokratisch, im föderativen Verständnis von Europa, in der Durchsetzung von Subsidiarität.Haben wir denn vergessen, wie es noch vor zwei oder drei Jahren war, als alle meinten, das sei eine deutsche Idee? Nur weil ihr den Föderalismus habt, wollte ihr ihn für uns auch als allein selig machende Methode. Heute verlangen ihn alle mehr denn je.Subsidiarität ist etwas, was nicht nur in Aussicht gestellt worden ist. Delors, der immer häufiger von der Vision Europa spricht, von der „aventure", sagt sehr klar: Wir brauchen die Klarstellung in bezug auf das, was Europa, was Brüssel wieder an die Einheiten abzugeben hat, die dafür zuständig sind.Ich denke, daß auch zu dem, was eben angesprochen worden ist — Klarstellung des Maastrichter Vertrags , bereits außerhalb und innerhalb des Parlaments auch heute morgen — klärende Worte gesagt worden sind.
Sie haben vorhin die Frage der 18 Abgeordneten angesprochen. Nach meinem Wissensstand sieht es anders aus, es sei denn, der Bundeskanzler würde das hier widerrufen.
Frau Abgeordnete Dr. Süssmuth, der Abgeordnete Helmut Kohl möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind.
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Kohl.
Frau Abgeordnete, würden Sie mir darin zustimmen, daß es eine gute Sache ist, daß sich die Bundesregierung in voller Übereinstimmung mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages auf Vorschlag des Europäischen Parlaments dafür einsetzen wird, daß die Kollegen aus den neuen Bundesländern nach der Neuwahl im nächsten Europäischen Parlament volles Stimmrecht haben werden, und daß wir eine große Chance haben, dies bei unseren europäischen Partnern auch durchzusetzen?
Darin kann ich Ihnen nur zustimmen.
Herr Abgeordneter Kohl, auch Sie sind gezwungen, die Formen einzuhalten.
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9332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Entschuldigung, Herr Präsident. Die Formen waren mir nicht ganz klar.
Sie alle wissen, daß es ein schwieriger Prozeß war, die Zulassung der Beobachter durchzusetzen, daß gerade unmittelbar nach Maastricht unentwegt über diesen Punkt verhandelt worden ist. Ich füge hinzu: Ich gehe davon aus, Herr Bundeskanzler,
— entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter —,
daß diese Frage für die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern ganz wichtig ist: denn sie wollen Europa im Europäischen Parlament vertreten.
Was uns überzeugt, sind die Ergebnisse; denn 1994 ist nicht mehr weit und die Mandatsaufstellung ebenfalls nicht.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf das verweisen, was ich zu dem Umgang mit den Ängsten der Menschen und über die emotionale Europafähigkeit der Menschen gesagt habe. Von Brüssel und Straßburg gehen Entscheidungsakte aus, die die Menschen bis in die kleinste Gemeinde bewegen. Ob es die Kriminalitätsbekämpfung, die Drogenbekämpfung als ein Teil der Kriminalitätsbekämpfung ist, ob es gemeinsame Beschlüsse in bezug auf Hilfen für die Fliehenden und den Erhalt der Rechte der politisch, rassisch, religiös Verfolgten sind, all dies sind wichtige Akte ebenso wie der gemeinsame Beschluß, daß wir Regelungszuständigkeiten, die wir auf Europa übertragen hatten, zurückgeben. Dies wird das Europa der Bürger aufbauen.
Denn es ist zu Recht gefragt worden: Haben wir das eigentlich schon, oder sind wir zwar fähig, die Produkte als europäisch zu bezeichnen, aber nicht fähig, das Europa der Bürger wirklich voranzutreiben? Deswegen kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß wir das kommunale Wahlrecht im Rahmen einer Europäischen Union brauchen und jetzt verankern müssen.
Freizügigkeit in bezug auf den Arbeitsplatz muß eine Selbstverständlichkeit sein. Aber wir haben all diese Freiheiten längst konsumiert und bewerten sie als Nichts, während wir uns jetzt nur noch fragen: Wovor muß ich mich schützen, nachdem ich alle Freiheiten habe?
Im übrigen gilt für das Europa der Bürger, der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie der Arbeitgeber, daß wir eines, was für Bonn gilt, auch auf Straßburg und Brüssel übertragen müssen: Den großen Herausforderungen unserer Zeit werden wir nur mit einem Menschenverständnis gerecht werden können, in dem zwei Vokabeln wieder maßgeblich sind: Kreativität und Verantwortung der Menschen.
Wenn wir meinen, dieses Europa sei zu bauen, indem ein allmächtiger Staat oder eine übermächtige Kommission und Bürokratie den Menschen die Verantwortung nimmt, erfahren wir, daß dies nicht Zustimmung, sondern mehr Verdruß und Ablehnung schafft. Ich finde, wir sollten gerade in diesem Prozeß wissen: Wer die Menschen falsch einschätzt, erleidet damit Schiffbruch. Geben wir uns nicht damit zufrieden, zu sagen: Das war ein sozialistisches Menschenbild. Laufen wir auch im Westen nicht Gefahr, die Eigenverantwortung und die Kreativität des Menschen nicht mit allen Kräften zu stärken. Dies brauchen wir im eigenen Land und in Europa.
Ich möchte im Rahmen meiner Rede noch einmal etwas sagen, was seit Jahren selbstverständlich sein müßte. Wir mögen uns seit 1957 und im Rahmen langwieriger Vertragsverhandlungen an das Europa der Regierungen gewöhnt haben. Aber diese Zeit ist vorüber. Es ist ganz deutlich, daß wir uns unverdrossen und unbeirrt auf allen Ebenen für das demokratische Europa einsetzen.
Dies bedeutet auch, daß wir die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament nicht gegeneinander ausspielen.Falsch wäre es, nun zu antworten: Das Europäische Parlament stärken wir in 40 Jahren, und bis dahin haben wir nur die nationalen Parlamente. Die nationalen Parlamente brauchen eine enge Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament. Sie haben ihren Einfluß auf die nationalen Regierungen auszuüben. Wir erwarten, wenn es um die Rechte und Zuständigkeiten der Länder geht, daß auch die Rechte des Deutschen Bundestages klar geregelt werden. Denn nur ein in Europafragen engagiertes Parlament kann auch engagiert und aktiv mitwirken.
Wenn wir in diesem Zusammenhang sehen, wie wichtig es den Bürgern ist, nicht aus der Ferne regiert zu werden, wie sie immer deutlicher machen, daß die überschaubaren Einheiten erhalten bleiben müssen, da sie sonst die großen nicht verkraften, dann ist es bei den Dingen, die nur im Großen geregelt werden können, noch wichtiger zu sehen, daß Menschen aus Gegenden, aus Regionen kommen, und es in diesen Gegenden einen bestimmten Menschenschlag, eine Landschaft, eigene Produkte und ein eigenes kulturelles Brauchtum gibt, die erhalten bleiben müssen. In diesem Europa müssen zugleich das Gemeinsame und, wenn wir von Identität sprechen, das Unverwechselbare unterstützt, erhalten und bekräftigt werden. Nur so wird Europa ein reiches Europa sein.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9333
Dr. Rita SüssmuthIch möchte auch noch einmal deutlich machen, daß wir aufhören sollten, mit dieser Wehleidigkeit und Verzagtheit an Europa heranzugehen und ständig unter den Menschen zu verbreiten — was sachlich nicht haltbar ist —, daß wir der Zahlmeister Europas sind,
daß wir die Milchkuh sind. Ich muß Ihnen sagen, es gilt an diesem Tag, auch bei allen harten Verhandlungen in Verbindung mit dem Maastrichter Vertrag, nicht zu vergessen: Bevor wir die staatliche Einheit vollzogen hatten, hat die Europäische Gemeinschaft — voran Delors — Vereinbarungen für die damalige DDR mit Übergangsregelungen getroffen, mit denen sie voll einbezogen wurde in die Gemeinschaft.Wir reden überhaupt nicht davon, welche Finanzmittel von der Europäischen Gemeinschaft in die neuen Länder fließen. Wir reden nicht davon, wieviel Geld wir allein über den Export zurückbekommen. Ich finde es wichtig, daß wir unter die Bevölkerung tragen, daß wir nicht der Zahlmeister sind,
sondern durchaus Partner und Gewinner, damit endlich dieses Bild aus der Welt kommt.
Ich möchte Ihnen abschließend sagen: Wir werden in anderen Zeiten leben. Wir brauchen ein Europa, das schneller Perspektiven entwickelt für diejenigen, die jetzt nicht dazugehören: nicht nur diejenigen, die kurz vor Aufnahmeverhandlungen stehen, sondern gerade auch die EFTA-Staaten und die Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas, die Hoffnungen auf uns setzen.
Wenn wir sagen, die Einbindung Deutschlands ist gut für Deutschland, sie ist gut für unsere Nachbarn, sie ist gut für Europa, dann möchte ich diesen Satz erweitern: Sie ist gut nicht nur für Westeuropa, sondern gerade auch für Osteuropa.
Kritiker haben recht, die uns mahnen: Das, was an Instrumentarium bis 1989 taugte, taugt vielleicht nur noch bedingt für die Jahre 1990, 1992 oder 1995. Wir müssen uns mehr einfallen lassen. Da bin ich wieder beim Wort Kreativität.Es stecken Risiken im Ja zu Europa. Politik hat den Auftrag, die Risiken, soweit sie überschaubar sind, abzusichern. Heute morgen ist genügend zur Währungsunion, zu Art. 109 gesagt worden.Ich denke, es ist unsere Aufgabe, das Wagnis auf uns zu nehmen und mit dem Ja zu Europa voranzugehen, nicht nur aus dem Kopf, sondern aus der tiefsten Überzeugung heraus, daß das der Demokratie, dem Frieden, dem freiheitlichen und mit mehr Wohlstand versehenen Zusammenleben der Völker dient. Dies ist ein Wechsel auf die Zukunft, den wir einzulösen haben. Ich möchte, daß wir daran begeistert und mit dem Herzen mitarbeiten.Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Fraktionsvorsitzende sind manchmal hilfreich, manchmal weniger hilfreich.
— Das gilt auch für Parteivorsitzende; da haben Sie völlig recht. — Mein Fraktionsvorsitzender hat mir auf den Weg gegeben: Sie werden gegenüber den Reden Ihrer beiden Vorrednerinnen abfallen; er kannte meinen Text. Der Finanzminister hat mir dasselbe gesagt, obwohl er meinen Text nicht kennt.
Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Aber es hat damit schon etwas auf sich.Deswegen lassen Sie mich, weil Sie einige skeptische Töne hören werden — wie im Dezember vorigen Jahres auch —, eins sagen: Die F.D.P., die F.D.P.Bundestagsfraktion stimmen dem Vertrag von Maastricht zu; ich selber stimme ihm aus voller Überzeugung zu. Mit ihm wird die europäische Integration wirtschaftlich und politisch weiter vorangebracht. Wir alle wissen, daß der Vertrag nicht vollkommen ist. Aber wir wissen auch, daß er insgesamt ein Fortschritt ist.Wissen das allerdings auch die Bürger in Europa und die Bürger in unserem Lande?
— Herr Schäuble, es mangelt eben an Information und Aufklärung. Darf ich daran erinnern, daß ich genau das am 13. Dezember 1991 von dieser Stelle gefordert habe und daß nichts geschehen ist?
Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, dem zuzustimmen, was Frau Süssmuth gesagt hat.
Ich habe kaum Schwierigkeiten, dem zuzustimmen, was Frau Wieczorek-Zeul gesagt hat.
— „Kaum" habe ich gesagt; Sie sollten die leichte Abstufung hören. — Nur, solche Bekenntnisse äußern
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9334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Otto Graf Lambsdorffwir schnell. Beantwortet das die Sorgen und die Fragen der Bürger draußen?
Ist das eine Antwort auf das Umfrageergebnis, das heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" genannt wird?Der Maastrichter Vertrag hat doch erhebliche Akzeptanzprobleme, die sich, wie ich meine, die Regierungen selber zuzuschreiben haben; nicht etwa nur die unsrige.
Es wurde über die Köpfe der Bürger hinweg gehandelt,— ich zitiere jetzt den „Kronenberger Kreis" —als hätte der Abschluß eines Regierungsabkommens über den Luftverkehr angestanden und nicht die kaum reversible Festlegung von Grundregeln für das wirtschaftliche Zusammenleben der Völker Europas.Das ist der Punkt: Der Vertrag löst eben bei den Bürgern nicht nur Freude und Zustimmung aus — das ist im Zusammenhang mit dem europäischen Gedanken völlig richtig formuliert worden; ich unterschreibe das alles —, sondern er löst Angst aus vor einer übermächtigen Brüsseler Bürokratie,
vor Zentralismus, vor Regelungswut, Angst vor dem Verlust der eigenen Währung und Stabilität.
— Haben Sie gerufen, „weil sie ihn kennen" oder „weil sie ihn nicht kennen"?
— Wenn wir es dabei belassen, den Vertrag nur durch den „Spiegel" verbreiten zu lassen, anstatt das selber zu tun, ist das ein bißchen wenig. Dann kann man den Vertrag auch nicht kennen.
Diese Besorgnisse sind ja auch der wesentliche Hintergrund für die Ablehnung durch die Dänen und für den knappen Ausgang des Referendums in Frankreich, auch für die größer werdende Zurückhaltung in Großbritannien oder die Vorbehalte, die bei uns deutlich werden.Diese Sorgen wurden durch die jüngsten Turbulenzen im Europäischen Währungssystem noch verstärkt. Es wurde allen irgendwie deutlich, daß der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion ein Risiko ist und daß mit Währungsfragen nicht zu spaßen ist. Es hilft nicht die Erkenntnis, daß nicht das EWS und seine Mechanismen versagt haben — das haben sie nämlich nicht getan —, sondern daß es am politischen Willen, die Regeln zu akzeptieren und anzuwenden, gemangelt hat.
Die Folgen sind bekannt. Sie zeigen, wie desintegrierend eine Entwicklung ist, die nicht auf soliden ökonomischen Fundamenten steht, sondern die politischem Wunschdenken entspricht.Lira und Pfund haben den Wechselkursmechanismus verlassen. Irland, Portugal und Spanien sahen sich gezwungen, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen. Meine Damen und Herren, wir sind hinter die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, die wir 1990 schon erreicht hatten, zurückgefallen und reden heute über die zweite und dritte. Eine ermutigende Entwicklung ist das nicht. Nach meiner persönlichen Meinung ist der Zeitplan der Währungsunion heute sichtbar nicht mehr einzuhalten.Dennoch muß es uns klar sein, um was es in dieser Stunde geht. Europa steht vor einer historischen Wegscheide. Es gibt keine andere Möglichkeit als den Kurs der europäischen Integration. Gerade die Deutschen — darauf lege ich besonderen Wert, weil es um unsere, oder, ich sage genauer, um meine Zustimmung geht; das ist der Hauptpunkt , die im Zuge der deutschen Einheit versprochen haben, das erweiterte und auf Sicht gesehen größere und stärkere Deutschland nach Europa einzubringen, müssen jetzt zu dieser Zusage stehen. Wir haben überhaupt keine Option, etwas anderes zu sagen.
Nur ein noch engerer Zusammenschluß der europäischen Völker vermag den Nationalismus, der sich in der Vergangenheit so verhängnisvoll ausgewirkt hat — so hatte ich es mir in meinem Text aufgeschrieben; aber er tut es in der Gegenwart, wenn man nach Jugoslawien sieht, genauso —, überwinden. Nur gemeinsam kann Europa die großen ökonomischen und politischen Herausforderungen der Zukunft bestehen. Deshalb ist im übrigen der Weg eines isolierten Vorgehens einiger mit Sicherheit ein Irrweg.Der Maastrichter Vertrag ist ein Versprechen; Wirklichkeit ist er noch nicht. Mit Recht hat der Bundesfinanzminister gesagt, es wurde eine Währungs- und Finanzverfassung niedergeschrieben, die auch aus deutscher Sicht Anerkennung finden muß: die Unabhängigkeit der zu schaffenden Europäischen Zentralbank, die Verpflichtung zur strikten Haushaltsdisziplin, die relativ strikten Kriterien — absolute wären mir lieber gewesen — für Zinsen, Preise und Wechselkurse, der Einstieg in die Politische Union und einiges andere mehr. Aber dieser Stabilitätspakt von Maastricht muß ja erst noch ausgefüllt werden, und es gibt einige kritische Punkte, über die man nicht zur Tagesordnung hinweggehen kann.Die F.D.P. weiß — das haben wir hier schon im Dezember 1991 gesagt—, ein Nachverhandeln dieses Vertrages kann es nicht geben; der Außenminister hat recht. Aber es werden weitere Regierungskonferen-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9335
Dr. Otto Graf Lambsdorffzen mit weiteren Beitrittsrunden folgen. Diese geben Gelegenheit für Nachbesserungen.
Unabhängigkeit ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß eine Notenbank wirksame Stabilitätspolitik betreiben kann. Das haben wir gelernt, das haben wir begriffen, das ist in Deutschland weitgehend akzeptiert. Andernorts fehlt es dafür manchmal an Verständnis. Hat sich die Bundesregierung eigentlich darum bemüht, die Soll-Vorschrift von Maastricht in die Tat umzusetzen, daß andere ihre Notenbanken schon jetzt unabhängig machen? Könnten wir einmal darüber nachdenken, ob es nach den Erfahrungen der letzten Woche nicht zweckmäßig wäre, die Wechselkurspolitik den Notenbanken zu übergeben, um sie aus dem politischen Gezerre der Regierungen herauszuholen? Für das unterschiedliche Verständnis sind die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten vom 3. September 1992 bezeichnend. Er hat gesagt, daß die Geldpolitik lediglich ausführendes Mittel der Wirtschaftspolitik sei, über die der Europäische Rat, nicht die Europäische Zentralbank zu entscheiden habe.
— Das ist richtig, aber ich bin auch schon gelegentlich darauf angesprochen worden, und ich erlaube mir, dies auch hier zu tun. Im übrigen geht es gar nicht um meine Meinung zu diesem Thema; die ist bekannt. Ich hatte die Bundesregierung um eine Beurteilung dieser Äußerung gebeten und habe vom Bundesminister der Finanzen eine höchst lapidare Antwort bekommen. Unter Hinweis auf den einschlägigen Artikel im Vertrag heißt es schlicht — ich zitiere —:Der Bundesminister der Finanzen hat sich darum bemüht, Klarheit über mögliche Auffassungsunterschiede in dieser Frage zu gewinnen.
Herr Waigel, auf dem EG-Forum der Verbände der Deutschen Wirtschaft vor wenigen Tagen auf dem Petersberg — das ist ohnehin ein Ort der Erleuchtung, wie man immer wieder feststellt —
waren Sie viel klarer und gaben eine durchaus befriedigende Antwort. Es gelte der Vertrag, haben Sie gesagt, und daran ändere auch die Äußerung eines Staatspräsidenten nichts.
Ob das Parlament das so hinnehmen will, ist seine Sache.Meine Damen und Herren, auch eine unabhängige Notenbank handelt nicht im politikfreien Raum. Das wissen wir. Ihre Entscheidungen werden mit davon geprägt, inwieweit sie die Unterstützung der Gesellschaft und der Bevölkerung hat. Auf europäischer Ebene gibt es ohne Zweifel Fortschritte im Stabilitätsbewußtsein. Werden sie aber zum Zeitpunkt X, vor allem auch in der dritten Stufe, ausreichen? Noch jedenfalls ist das Stabilitätsbewußtsein unterschiedlich ausgeprägt, wie die Entwicklungen zeigen, die zu den EWS-Turbulenzen geführt haben.Zur Unabhängigkeit der Notenbanken gehört auch, daß sie sich von außen vor wirtschaftlichen Störungen schützen können. Die Kompetenz über das Wechselkursregime der Europäischen Währungsunion liegt aber nicht in den Händen der Europäischen Zentralbank, sondern in den Händen des Europäischen Rates. Es ist zwar richtig, daß im Vertrag vorgesehen ist, daß Wechselkursentscheidungen mit dem Ziel der Preisstabilität vereinbar sein müssen. Was aber geschieht, wenn der Rat und die Zentralbank unterschiedlicher Meinung sind? Wird dann die Unabhängigkeit durch den Wechselkurs ausgehebelt? Am Beispiel der jüngsten Währungsturbulenzen haben wir einen guten Anschauungsunterricht nehmen können, was eine Notenbank erleidet, wenn sie sich in der Wechselkursfalle befindet. Genau das war hier bei uns der Fall.
— Nein, verehrte Frau Hellwig, das ist die große Frage: Was ist nun wichtiger, die Verteidigung des Wechselkurses nach außen oder die Verteidigung der inneren Stabilität? Nach unserem Bundesbankgesetz und nach unserem Stabilitätsverständnis muß die innere Stabilität Vorrang auch vor der Wechselkursstabilität haben.
Das ist die Frage, um die es in den letzten Wochen gegangen ist.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Hellwig? Bitte!
Graf Lambsdorff, können Sie mit mir darin übereinstimmen, daß insbesondere das britische Pfund und die Lira deswegen in die Wechselkursfalle geraten sind, weil England und Italien im Verhältnis zum künstlich festgehaltenen Wechselkurs im Währungssystem nicht die ausreichende Stabilitätspolitik durchgeführt hatten und weil die Währungen schwächer waren, als es sich durch den Schein des Festhaltens am Wechselkurs dargestellt hat? Meinen Sie also nicht auch, daß diese Länder selber schuld sind?
Frau Kollegin, offen gestanden, kann ich gar nicht sehen, warum meine Ausführungen Ihnen Anlaß zu dieser Frage gegeben haben. Ich bin natürlich dieser Meinung. Sie ist vollständig richtig. Das ist absolut klar!
Können Sie dann mit mir auch darin übereinstimmen, daß der Europäi-
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9336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Renate Hellwigschen Zentralbank, wenn sie eine solide Stabilitätspolitik betreibt, gar nicht viel passieren kann?
Nein, das stimmt nicht, denn die Europäische Zentralbank hat überhaupt keine Wechselkursprobleme mehr nach innen. Dann haben wir ja eine einheitliche Währung. Dann haben wir ganz andere Probleme, aber keine Wechselkursprobleme. Die Wechselkursproblematik, die wir in der letzten Woche erlebt haben und die sich im EWS stellt, die sich bei der einheitlichen europäischen Währung am Ende nicht mehr stellt — ich komme auf das Thema noch zu sprechen —, bereitet jeder Notenbank erhebliche Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der inneren Instabilität.
Die einzige Kritik, die ich an der Bundesbank zu üben habe, betrifft ihre Argumentation. Die Hochzinspolitik ist von der Bundesbank damit begründet worden, daß man die Geldmenge unter Kontrolle bringen will. Die hohen Zinsen förderten aber die Interventionen im EWS und dabei die Schaffung von mehr Geld. Damit widersprach sich dies,
und damit war das Argument, hohe Zinsen dienten der Kontrolle der Geldmenge, verbraucht und nicht zutreffend.
Das ist eben die Wechselkursfalle, in der man in einem System fester Wechselkurse hängt.
Meine Damen und Herren, was machen wir eigentlich, wenn die relativ strikten Kriterien des Vertrages nur von wenigen erreicht werden? Ist eine Wirtschafts- und Währungsunion z. B. ohne Italien überhaupt denkbar? Italien war immer ein besonders zuverlässiger Partner in der EG und in der NATO; denken Sie nur an den NATO-Doppelbeschluß. Dabei hat Italien immerhin die größte europäische kommunistische Partei im Parlament. Herr Glotz, ich weiß, dieser Teil gefällt Ihnen nicht so gut, aber ich darf ihn trotzdem erwähnen.
Entsteht hier nicht — ob Sie nun Italien oder ein anderes Land nehmen — ein erheblicher politischer Druck, den Ermessensspielraum bei der Festlegung der Kriterien, den der Vertrag ja auch zuläßt, zu überziehen? Was tun wir eigentlich, Herr Bundesfinanzminister, wenn ein der Wirtschafts- und Währungsunionen angehörendes Land diese Kriterien wieder verläßt? Der Vertrag sieht für diesen Fall einen völlig unzulänglichen und nicht durchsetzbaren Sanktionsmechanismus vor.
Ein Urteil darüber, ob sich ein Land für die Wirtschaftsunion — —
— Frau Wieczorek, ich habe eingangs gesagt, ich erlaube mir, hier einige Fragen zu stellen. Dieselbe Diskussion lief nämlich schon im Dezember, und am nächsten Tag schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", ich hätte geredet wie der Vorsitzende einer Oppositionspartei,
weil Sie alle, meine Damen und Herren, so vorbehaltlos und freudig zugestimmt haben.
— Liebe Frau Matthäus-Maier, Ihre Kollegen sind hinterher zu mir gekommen und haben mir gesagt, wir hätten wohl kritischer fragen sollen. Dabei spreche ich gar nicht von Ablehnung. Ich sage noch einmal: Zustimmung! Aber ich darf doch ein paar Fragen stellen.
Kollege Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Graf Lambsdorff, darf ich Sie fragen, welche Partei im Deutschen Bundestag seit den Maastricht-Beschlüssen z. B. den Automatismus, der dort niedergelegt ist, kritisiert und gefordert hat, daß es den nicht geben darf, und auch heute noch fordert, daß vor dem Eintritt in die dritte Stufe Bundestag und Bundesrat — so unser Antrag, der dazu vorliegt — entscheiden, ob die Konvergenzkritierien eingehalten worden sind? War das nicht die Opposition, und ist es nicht so, daß die Regierung heute Gott sei Dank darauf einschwenkt?
Erstens: Wir brauchen uns um das Erstgeburtsrecht nicht zu streiten. Das kann man alles im Protokoll nachlesen.Zweitens halte ich es nicht für besonders weise, bereits in der ersten Lesung Anträge vorzulegen.
Das sollte man besser erst nach den Verhandlungen in den Ausschüssen in der zweiten und dritten Lesung tun.Drittens werden Sie nachher hören, was ich zum Thema der „Befassung" durch den Bundestag zu sagen habe. Ich komme darauf zurück.An der Urteilsfindung, meine Damen und Herren, ob sich ein Land für die Wirtschafts- und Währungsunion qualifiziert hat, sind mehrere Institutionen beteiligt, nicht zuletzt der Europäische Rat in der Zusammensetzung der Regierungschefs. Die meisten Instanzen sind mit Politikern besetzt. Es ist schwer vorstellbar, daß dabei ein Ermessensspielraum nicht
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Dr. Otto Graf Lambsdorffausgenutzt wird. Angesichts dieser Gefahr ist um so mehr zu betonen, daß die Auswahl der Teilnehmer an der Währungsunion nun wirklich allein nach ökonomischen Kriterien entschieden werden muß. Politische Kompromisse in dieser Frage sind ein Sprengsatz für den Integrationsprozeß insgesamt. Das kann nicht gutgehen.Diese Gefahren sind in der Währungsunion noch größer als in einem Währungssystem mit anpassungsfähigen Wechselkursen. Denn in der Wirtschafts- und Währungsunion, Frau Kollegin Hellwig, wird es keine Wechselkurskorrektur mehr geben. Dann werden sich die Anpassungen einen realwirtschaftlichen Weg suchen, dann werden sich volkswirtschaftliche Spannungen ausbreiten in Form von Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, an Beschäftigung und Produktion, vor allem bei den Schwächeren. Dann besteht kein Ausweg darin, den Kohäsionsfonds zu aktivieren. Der Bundesfinanzminister hat mit Recht gesagt, daß der Transfer nicht dazu dienen darf, Instabilität und laxes Verhalten anderer zu unterstützen. Nur, ich sage Ihnen — das wissen Sie auch sehr genau, und auch einige Bekundungen aus südeuropäischen Ländern in den letzten Wochen an meine Adresse haben mir das deutlich gemacht —: Das sehen viele unserer Partner in Südeuropa gänzlich anders, als Sie es sehen, Herr Waigel.Kompensation wirtschaftspolitischer Unsolidität durch Transfers: Das kann nicht die Basis für eine künftige Währungsunion sein. Übrigens, wenn das so laufen sollte, dann wird sich der deutsche Steuerzahler von seiner Begeisterung für Europa teilweise schnell verabschieden.
Ökonomische Solidität ist deshalb unabdingbar für ein Gelingen der Währungsunion.Meine Damen und Herren, im neuen Vertrag ist die marktwirtschaftliche Ordnung verankert. Aber gleichzeitig wurde in den Vertrag ein Abschnitt eingeführt, der der Gemeinschaft industriepolitische Kompetenzen überträgt. Jeder, der die europäische Diskussion kennt, weiß, daß hier versucht wurde, ein Einfallstor für interventionistische Industriepolitik einzubauen. Deswegen fordere ich die Bundesregierung nachdrücklich auf, in Brüssel dafür Sorge zu tragen, daß dieses Tor nicht geöffnet wird.Der Weg nach Europa zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union darf nicht gegen die Bürger, sondern muß mit ihnen gegangen werden. Deswegen ist Behutsamkeit gefordert. Wenn sich zeigt, daß die Völker Europas überfordert werden, dann muß man darauf Rücksicht nehmen. Nicht zeitlich eingebaute Automatismen dürfen den Fortschritt bestimmen, sondern die Erfüllung solider ökonomischer Kriterien und der Grad der erreichten Politischen Union müssen es tun.Wenn wir die Zustimmung der Bürger in Europa für das Vertragswerk erlangen wollen, bedarf es — ich habe das schon gesagt — einer viel breiter angelegten Aufklärungskampagne. Es muß wesentlich mehr getan werden als bisher. Wir müssen die Menschen durch Worte und Taten davon überzeugen, daß das Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion ein umfassendes finanz- und währungspolitisches Programm ist, das darauf zielt, in Europa einen großen einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum zu schaffen, dessen Kennzeichen monetäre Stabilität und finanzpolitische Solidität sind. Wir müssen garantieren, daß die Kriterien nicht aufgeweicht oder manipuliert werden.Angesichts der politischen Bedeutung, die dem Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion zukommt Frau Matthäus-Maier, jetzt trage ich die Position vor, nach der Sie mich gefragt haben —, fordert die F.D.P., daß die Bundesregierung vor ihrer Zustimmung im Europäischen Rat die Zustimmung des Bundestages zum Vorliegen der Kriterien einholt.
Das Stichwort „Der Bundestag möge sich befassen" gehört genau in das Kapitel „mangelnde Klarheit", das die Leute draußen uns übelnehmen.
Das Wort „befassen" sollte nun endlich gestrichen werden. Entweder haben wir etwas zu sagen, oder wir haben gar nichts zu sagen. Womit sollen wir uns „befassen"? Dann können wir auch Kaffeetrinken gehen.
— Ich bin ja gerade dabei, wie Sie hören. Ich habe es auch schon getan.Im übrigen — das will ich nun auch sagen — hat der Bundesaußenminister hier sehr klar gesagt, er könne sich überhaupt nicht vorstellen, daß eine Regierung der letzten Stufe zustimme, wenn sie im Parlament keine Mehrheit dafür habe.
Das ist völlig richtig. Aber es gibt natürlich einen Punkt, den man in Sachen Zustimmungspflicht ohne Vertragsverletzung — wir wollen ja hier nicht von vornherein eine Vertragsverletzung fordern — noch einmal betonen kann: Das ist die Frage, ob die Regierung im Europäischen Rat den dort gefundenen Kriterien zustimmt oder nicht. Insofern haben wir eine Möglichkeit, der Regierung, die dann im Amt ist, zu sagen: Du darfst es oder du darfst es nicht. Hier, meine ich, bedarf es eines Beschlusses des Bundestages, nicht nur einer Befassung desselben.
Im übrigen, ich finde das Wort „Befassung" weder in der Verfassung noch in der Geschäftsordnung des Bundestages.Wir müssen auch beweisen, daß Europa für eine offene marktwirtschaftliche Ordnung steht, nicht für Protektionismus oder dirigistische interventionisti-
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9338 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Otto Graf Lambsdorffsche Industriepolitik. Wir müssen unter Beweis stellen, daß das im Vertrag festgehaltene Subsidiaritätsprinzip nicht nur eine Worthülse ist, sondern tatsächlich genutzt wird, um die Einheit in Vielfalt und Individualität zu verwirklichen.Ich sage hier noch einmal — das weiß die Bundesregierung ja auch —: Das ist überhaupt kein Vorwurf an die Adresse vieler unserer Partner. Sie wissen doch gar nicht, was Subsidiarität ist. Sie kennen es aus ihrem eigenen Denken nicht und wissen überhaupt nicht, wie man mit einem solchen Instrument umgeht. Das ist ihnen völlig fremd. Ihnen das beizubringen und ihnen Klarheit darüber zu verschaffen, ohne daß der Eindruck entsteht, am deutschen Wesen solle die Welt genesen, ist noch eine mühevolle Aufgabe.
Denken Sie allein an die Bemühungen in England vor zehn, zwanzig Jahren, ein Weniger an Zentralisierung zu erreichen. Das alles ist schiefgegangen. In Frankreich ist deswegen Herr de Gaulle zurückgetreten. „Subsidiarität" ist dort kein lebendiger Begriff!Um die Einheit in Vielfalt und Individualität zu verwirklichen, werden wir dieses Prinzip auch in Art. 23 unserer Verfassung verankern. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß die Entscheidungsprozesse aller Gemeinschaftsorgane transparenter werden und daß die Gemeinschaft ihr Demokratiedefizit abbaut. Dafür muß zum einen das Europäische Parlament, dessen Rechte im Maastrichter Vertrag nur marginal ausgebaut wurden, gestärkt werden. Dafür müssen zum anderen auch die Rechte des Deutschen Bundestages, an Entscheidungen in Europa mitzuwirken, gestärkt werden.
Wir möchten, daß die Bundesregierung den Deutschen Bundestag früher und umfassender als bisher an Entscheidungen beteiligt.
Wir möchten, daß die Bundesregierung die Auffassung des Bundestages ihren Verhandlungen zugrunde legt. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages in europäischen Angelegenheiten sollen, wie gleichzeitig auch die Rechte des Bundesrates, im Grundgesetz festgeschrieben und institutionell verankert werden.
In Birmingham, Herr Bundeskanzler, besteht die Chance, ein positives Signal für ein Europa der Bürger zu setzen. Wir wissen, daß Sie sich darum bemühen werden, diese Chance zu nutzen. Sie muß ja auch genutzt werden. Aus London und Brüssel höre ich, daß für Birmingham die Tendenz bestehen soll — ich sage es ganz vorsichtig —, die intergouvernementale Seite in der EG weiter zu stärken.
Deshalb frage ich die Bundesregierung, ob diese Überlegungen zutreffen.
Das würde bedeuten, daß alle beteiligten Parlamente in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten nicht gestärkt, sondern geschwächt würden.
Ich nehme mit Befriedigung den Zwischenruf des Herrn Bundeskanzlers von der Regierungsbank zur Kenntnis: Das stimmt nicht.
— Danke. Es ist gut, das zu hören.
Es ist ja gut, wenn man Mißverständnisse, die auf Grund von Gerüchten entstanden sind, schnell ausräumen kann. Wenn der Chef der deutschen Regierung das bestätigt, dann finde ich das hervorragend.
— Eben. Ich sage: Wir debattieren nun schon über die kritischen Aspekte. Darum bemühe ich mich.
Ich will hier am Ende ja nicht als Europamuffel dastehen, denn das bin ich nicht. Aber ich will ein Europa, das auch funktionieren kann, und ein Europa, über das die Bürger am Ende sagen: So kann es laufen; wir haben Vertrauen; wir behalten vernünftiges Geld, und hier können wir vernünftig arbeiten.
Es nützt uns doch nichts, Europa mit Feiertagsreden zu gestalten.Mit allgemein gehaltenen Beruhigungsreden kann man das Mißtrauen in der europäischen Bevölkerung nicht überwinden.
Hier bedarf es nicht nur der Worte, sondern auch der Taten. Es bestehen unzweifelhaft Risiken. Diese Risiken können und müssen durch europäisches politisches Handeln überwunden werden.Ich sage noch einmal: Die europäische Integration bietet eine außerordentlich positive Perspektive. Wir müssen diesen Weg weitergehen, und wir werden diesen Weg weitergehen. Aber wir haben für die Perspektive und für die Erreichung des Ziels noch eine ganze Menge zu arbeiten und zu leisten.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Zwischenrufe von der Regierungsbank sind natürlich unzulässig, aber dieser war vielleicht wichtig und nützt dem Fortgang der Debatte.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9339
Vizepräsident Helmuth BeckerJetzt hat unser Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit der Herstellung der deutschen Einheit gibt es in der Bundesrepublik Deutschland, gesamtgesellschaftlich gesehen, einen Rechtsruck. Dieser Rechtsruck zeigt sich auf verschiedenen Gebieten und wird durch die permanente Annährung von Positionen in den großen Parteien nach rechts hin nur besonders deutlich zum Ausdruck gebracht.Wenn ich von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung spreche, dann meine ich damit nicht nur den immer schlimmer um sich greifenden Rassismus, den immer gefährlicher werdenden Fremdenhaß und den ernstzunehmenden Antisemitismus. Ich meine damit auch nicht nur, daß rechtsextremistische Parteien immer stärker gewählt und schrittweise salonfähig gemacht werden. Es geht mir mehr darum, welche gesellschaftlichen Stimmungen existieren, die zu wesentlichen politischen Veränderungen führen.Worüber wurde eigentlich in den letzten beiden Jahren und in den letzten Monaten diskutiert und gestritten? Es geht zum einen um die Aufarbeitung der Geschichte der DDR, die aber nicht differenziert und in ihren historischen Zusammenhängen erfolgt, sondern u. a. dem Zweck dient, die Geschichte zwischen 1933 und 1945 vergessen zu machen; zumindest durch einige, nicht durch alle. Zum anderen geht es darum, daß die Situation im Osten Deutschlands dazu mißbraucht wird, die Bereitschaft der Menschen zu Sozial-, Rechts- und Demokratieabbau zu entwikkeln. Hier sei nur an die Kürzung von Mitteln im Sozialbereich, die Deregulierung zur Einschränkung von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten, das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz und die geplante Justizreform erinnert.Gegenwärtig gibt es eine lebendige Diskussion, wie man polizeistaatliche Methoden erweitern kann, und zwar unter dem Vorwand der Bekämpfung organisierter Kriminalität. Das Stichwort „großer Lauschangriff" ist bekannt.Der Rechtsruck kommt selbstverständlich auch in der immer wieder neu geschürten Asyldebatte zum Ausdruck, die die Angst vor Fremden und den Nationalismus befördert. In diese Bereiche gehört auch alles hinein, was mit deutscher Großmachtpolitik zu tun hat, denn auch das fördert Nationalismus. Das Grundgesetz soll geändert werden, um internationale Einsätze der deutschen Bundeswehr zu ermöglichen, und der Bundesaußenminister schlägt offiziell vor, daß Deutschland endlich ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UN wird.Besonders bedenklich an diesem Prozeß ist, daß die Verschiebungen in der Politik nach rechts in allen bedeutenden Parteien, d. h. in der CSU, in der CDU, in der F.D.P. und in der SPD, zum Teil sogar bei den GRÜNEN/BÜNDNIS 90, stattfindet. Wenn man sich allein die Entwicklung in der Asylfrage ansieht, wird deutlich, daß die CDU längst Positionen eingenommen hat, die früher nicht einmal von den Republikanern vertreten wurden,
und daß sich die SPD-Führung auf CDU-Positionen hin entwickelt. Besonders empfindlich scheint die SPD in solchen Fragen zu sein, die einen nationalistischen Aspekt haben. Offensichtlich aus der Furcht heraus, erneut als vaterlandslose Gesellinnen und Gesellen gelten zu können, bemühen sich prominente Mitglieder der SPD, in der Asylfrage, in der Frage des Einsatzes der Bundeswehr und in anderen Fragen den Nachweis anzutreten, daß ihnen niemand mangelndes Nationalbewußtsein vorwerfen kann. Die Frage ist aber, was für diese Nation wirklich gut und was für sie eher schlecht ist.
Worin besteht nun der Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht? Die breite Übereinstimmung hinsichtlich dieses Vertrages in diesem Haus, also wiederum zwischen CSU, CDU, F.D.P. und SPD, hängt meines Erachtens damit zusammen, daß es unter anderem auch um eine Frage des Nationalismus geht, denn der Maastrichter Vertrag ermöglicht eine Vorherrschaftsrolle Deutschlands in Europa. Da will eben keine dieser Parteien in der Befürwortung zurückstehen. Genau das macht mir und vielen anderen Sorge. Daß die Republikaner und andere überhaupt gegen eine europäische Integration sind, weil sie trotz einer Vorherrschaftsrolle immer noch Einbußen der Souveränität Deutschlands befürchten, macht den Vertrag für mich nicht zustimmungsfähiger.Unsere Kritik am Vertrag von Maastricht besteht u. a. genau darin, daß eine Vorherrschaftsrolle damit ermöglicht wird. Wie Deutschland inzwischen bereit ist, diese Rolle zu spielen, zeigt der Umgang mit Großbritannien in den letzten Wochen, ein Umgang, der noch vor drei Jahren undenkbar gewesen wäre. Nur aus dieser Tatsache heraus, nämlich der geplanten Herrschaft Deutschlands in Europa, läßt sich die breite Übereinstimmung in diesem Bundestag erklären.Aus der gleichen Tatsache heraus läßt sich erklären, weshalb die Meinung bei Politikerinnen und Politikern unterschiedlichster Couleur und in der Bevölkerung überhaupt bei den anderen EG-Mitgliedsländern so geteilt ist. Es muß doch wenigstens stutzig machen, weshalb zum Vertrag von Maastricht so unterschiedliche Auffassungen in Frankreich, in Dänemark, in Großbritannien und in anderen Ländern existieren und nur in diesem Haus eine so breite Übereinstimmung herrscht. Eine andere als die von mir gefundene Erklärung könnte nämlich nur darin bestehen, daß unterstellt wird, daß in diesem Hause sehr viel mehr bewußte Europäerinnen und Europäer vertreten sind als in den Parlamenten und in der Bevölkerung der anderen EG-Staaten. Aber für eine solche anmaßende Einschätzung besteht meines Erachtens kein Grund.Meine Gruppe hat einen Gesetzentwurf zur Durchführung eines Volksentscheids eingebracht. Hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit stützen wir uns dabei u. a. auf den von vielen seriösen Juristen erarbeiteten Alternativkommentar zum Grundgesetz, der ausdrücklich folgendes bestätigt:Nach Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 wird die Staatsgewalt vom Volke außer in Wahlen auch in
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Dr. Gregor GysiAbstimmungen ausgeübt. Das Grundgesetz sieht eine Volksbefragung und einen Volksentscheid nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes nach den Artikeln 29 und 118 vor. Daraus wird teilweise gefolgert, daß Volksbefragungen und Volksentscheide im übrigen unzulässig seien. Diese Ansicht ist mit dem demokratischen Prinzip nicht vereinbar. Das Grundgesetz hat sich zwar grundsätzlich für die repräsentative Demokratie entschieden. Daß diese Entscheidung nicht als generelle Ablehnung plebiszitärer Elemente gemeint ist, zeigt die ausdrückliche Zulassung von Volksbefragung und Volksentscheid bei Neugliederung des Bundesgebiets. Nirgendwo ist im Grundgesetz ein ausdrückliches Verbot plebiszitärer Elemente in sonstigen Fällen ausgesprochen. Auch ein stillschweigendes Verbot dieses Inhalts läßt sich aus dem Grundgesetz nicht herleiten.Das heißt, daß auch schon jetzt nach Art. 20 des Grundgesetzes ein Volksentscheid möglich ist. Wenn Sie diesbezüglich anderer Auffassung sind, ist es Ihnen unbenommen, eine Verfassungsänderung zu beschließen.Auf jeden Fall sollte der Volksentscheid durchgeführt werden, damit die Bevölkerung dieses Landes in dieser Frage nicht über weniger Rechte verfügt als die Bevölkerung Dänemarks und Frankreichs. Die erste Frage, die unserer Bevölkerung gestellt werden sollte, bezieht sich darauf, ob die Bürgerinnen und Bürger dafür oder dagegen sind, daß die Bundesrepublik Deutschland Mitglied der Europäischen Union wird. Dies ist eine grundsätzliche Veränderung der Verfaßtheit der Bundesrepublik Deutschland. Darüber muß das Volk entscheiden dürfen. Ich kenne keine Fraktion und keine Gruppe in diesem Haus, die diese Frage nicht bejahen würde. Ich gehe deshalb davon aus, daß eine breite Zustimmung der Bevölkerung zu erreichen wäre.Das wäre für die künftige Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland von ausschlaggebender Bedeutung. Zugleich wäre dies ein wichtiges Zeichen, um sich von rechtsextremistischen Parteien abzusetzen, die selbstverständlich dazu aufrufen würden, diese Frage mit Nein zu beantworten, wobei die Liste der vielen Persönlichkeiten, die hier vom Bundesfinanzminister genannt wurden, die schon für die europäische Einigung waren, der Vollständigkeit halber von mir ergänzt werden muß: Lenin hat die Vereinigten Staaten von Europa gefordert, man höre und staune!
— Daß Ihnen das nicht bekannt ist, ist mir auch klar, aber ich wollte es einfach der Vollständigkeit halber erwähnen.Aber auch für Befürworter der europäischen Idee muß es möglich sein, den Weg zur Europäischen Union, der im Vertrag von Maastricht vorgezeichnet ist, zu verneinen, ohne die Europäische Union selbst abzulehnen.Deshalb sollte sich die zweite Frage eines Volksentscheids mit der Zustimmung bzw. Ablehnung des Maastrichter Vertrages beschäftigen, und wer will, daß die Europäische Union eine Union wirklich gleichberechtigter Staaten, Nationen und Regionen wird, die jede Vorherrschaft ausschließt, der müßte zu Maastricht eigentlich nein sagen.Der Vertrag von Maastricht hat noch weitere entscheidende Mängel. Unser Nein möchte ich deshalb zusammenfassend wie folgt begründen, unabhängig davon, daß er selbstverständlich auch positive Elemente enthält:Erstens. Wie bei der deutschen Vereinigung soll nach diesem Vertrag am Beginn die Währungsunion stehen, während an eine wirkliche Wirtschaftsunion zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht zu denken ist, geschweige denn an eine soziale Union, die sogar ausgeklammert wurde. Damit ist aber, wie bei der deutschen Vereinigung, zwingend verbunden, daß der Abstand zwischen reicheren und ärmeren Regionen weiter wächst und eine wirkliche Wirtschaftsunion nicht kommen wird. Über diese Währungsunion werden Betriebe aus ärmeren Regionen kaputtgewirtschaftet, bevor es eine Chance zur Sanierung und zur Strukturpolitik geben wird. Die neuen Bundesländer werden noch härter betroffen, und der europäische Agrarmarkt wird weiter abgebaut.Zweitens. Die abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik bereitet uns größte Sorgen. Aus dem Vertrag ergibt sich nämlich, daß die Westeuropäische Union als militärischer Arm dieser Europäischen Union fungieren soll. Das wird ein Militärbündnis ohne USA und Kanada sein. Es soll neben der NATO existieren und eine europäische Eingreiftruppe ermöglichen. Bisher konnte mir noch niemand erklären, wozu die Europäische Union einer eigenen Streitmacht neben der NATO bedarf, unabhängig davon, daß ich schon letztere für überflüssig halte.
Aber weshalb wird diesbezüglich Unabhängigkeit von den USA und Kanada angestrebt?
Welchen Einsatz sollen diese Truppen im Unterschied zu NATO-Truppen erleben? An welche neuen möglichen Gegnerschaften wird hier gedacht? Der Vertrag informiert darüber nicht, und, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, insofern meine ich auch nicht, daß im Vertrag kein militärisches Bündnis vorgesehen ist. Es ist nach meinem Verständnis ein europäisches militärisches Bündnis vorgesehen.
Drittens. Geplant ist eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik, die auf eine Abschottung gegenüber Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt hinausläuft. Diese Abschottungspolitik führt nicht zur Lösung der Migrationsprobleme und der Konflikte in Osteuropa.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte.
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Herr Kollege Gysi, ist Ihnen klar, daß Sie mit Ihrer Argumentation, die rechtlich nicht begründet ist, denjenigen das Stichwort liefern, die eben die Europäische Gemeinschaft dafür nutzen wollen? Es muß darauf hingewiesen werden, daß das, was als Erklärung der WEU-Staaten im Anhang steht, von uns materiell nicht mitratifiziert wird.
Aber die Absicht ist doch im Vertrag schon eindeutig zum Ausdruck gebracht. Das ist doch dann nur noch eine Frage der Entwicklung. Um die Sorgen geht es mir. Ich habe auch nur auf Gefahren hingewiesen, die damit verbunden sind. Sie wird man doch artikulieren dürfen, denke ich.Ich habe also darauf hingewiesen, daß diese Abschottungspolitik meines Erachtens nicht zur Lösung der Migrationsprobleme und der osteuropäischen Konflikte beitragen wird, sondern schrittweise zu deren Unlösbarkeit, bis die Zivilisation insgesamt gefährdet ist, ganz abgesehen davon, daß Europa mehr als die EG ist.Außerdem enthält der Vertrag nichts, aber auch gar nichts zur Veränderung der Weltwirtschaftsordnung in eine Richtung, die Fluchtursachen auch nur einschränken würde. Auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben und sich dann von ihr abschotten ist gleichermaßen inhuman, amoralisch und letztlich auch für uns selbst existenzbedrohend.
Viertens. Eine gemeinsame Polizeipolitik in der Europäischen Union ist nicht etwa darauf gerichtet, die Rechtsstaatlichkeit zu erhöhen und Bürgerrechte zu entfalten, sondern unter dem Vorwand der gemeinsamen Kriminalitätsbekämpfung polizeistaatliche Methoden innerhalb der Europäischen Union durchzusetzen, Datenschutz zu verletzen, wobei jeder Nationalstaat dann die Möglichkeit hat, sich immer auf Brüssel herauszureden. Das gefährdet Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger und stellt zugleich einen Mißbrauch der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten dar.Fünftens. Durch den Vertrag von Maastricht geben die Nationalstaaten Kompetenzen an den Europäischen Rat und die EG-Kommission in Brüssel ab. Es handelt sich hierbei um Kompetenzen, die bisher bei den nationalen Parlamenten lagen. Ich habe nichts gegen eine Übertragung von Parlamentskompetenzen auf die europäische Ebene, wenn das Europäische Parlament zuständig wird. Ich habe aber etwas dagegen, wenn Kompetenzen von den Parlamenten auf die Exekutive von Brüssel verlagert werden. Dies ist eindeutig ein undemokratischer Akt.Wer sich die Bestimmungen des Vertrages zum Europäischen Parlament durchliest, wird dabei immer wieder die gleichen Formulierungen finden. So heißt es z. B. im Titel V Art. J 7:Das Europäische Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat richten. Einmal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik durch.Das heißt ja wohl im Klartext: Das Europäische Parlament hat nicht zu entscheiden; es darf fragen, empfehlen und sich aussprechen. Letzteres ist psychotherapeutisch sicherlich wichtig und wird wohl deshalb auch auf einmal im Jahr beschränkt, aber von einer wirklichen Parlamentstätigkeit weit entfernt.Faktisch wird das Europäische Parlament zu einem Beratungsorgan der Exekutive. Das ist aber eine völlige Verkehrung des demokratischen Verhältnisses zwischen Legislative und Exekutive, die hier im Vertrag festgelegt wird. Und das gilt nicht nur für das von mir zitierte Beispiel der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern ebenso in anderen Bereichen, wo sich analog e Formulierungen wiederfinden.Gleichermaßen kritisieren wir den vereinbarten Zentralismus, statt den Regionen und Kommunen mehr Verantwortung zu übertragen.Sechstens. Vor allem kritisieren wir natürlich auch, daß eine Sozialunion nicht verabredet wurde. Das bedeutet faktisch, daß der Druck auf die Staaten mit relativ hohem sozialen Standard zunehmen wird, Sozialabbau zu betreiben. Ich höre jetzt schon alle Argumente, die nach der Ratifizierung des Vertrages umgehen werden. Man wird erklären, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht zu halten sei, wenn die sozialen und demokratischen Standards nicht reduziert werden, einfach weil die Produkte zu teuer und international nicht mehr absetzbar sein würden; die Folge wäre Arbeitslosigkeit, so daß jede und jeder, der Arbeitslosigkeit verhindern will, einem sozialen und einem Demokratieabbau zustimmen müsse. Und an diesem Argument wäre ja dann auch etwas dran. Aber die Grundlage für dieses Argument wird u. a. mit diesem Vertrag geschaffen. Wäre die Sozialunion vereinbart worden, dann könnte ein umgekehrter Druck entstehen, nämlich dergestalt, daß sich die Standards im sozialen Bereich ebenso wie im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erhöhen.Besonders betroffen werden wieder einmal die Frauen sein, die von Arbeitsplatzabbau und Sozialabbau immer zuerst betroffen sind.Ähnliches gilt zur Ökologie, wo ebenfalls ein Druck nach unten statt nach oben durch den Vertrag organisiert worden ist.Gegen viele dieser Argumente wird das allgemeine Subsidiaritätsprinzip angeführt. Aber wer sich den Art. 3 b im Titel II durchliest, kann sich zumindest als Jurist nur wundern. Wörtlich heißt es hier:In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.So verschwommene Formulierungen kenne ich eigentlich nur aus dem Paragraphen des DDR-Strafgesetzbuches zur Asozialität, mit dem man auch alles oder nichts anfangen konnte. Im Prinzip wird hier die Tür dafür geöffnet, daß die Exekutive der Europäischen Union alles an sich heranziehen kann. Denn
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Dr. Gregor Gysiwelche nationalstaatliche Maßnahme kann es noch geben, die keine Wirkungen auf Gemeinschaftsebene erreicht?Ich komme zum Schluß: Aus all diesen Gründen muß es auch für jemanden, der die Europäische Union befürwortet, möglich sein, zu diesem Vertrag nein zu sagen. Dies sollten wir nicht allein im Parlament entscheiden. Hier geht es um Rechte aller Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Sie müssen deshalb beteiligt werden. Sagen Sie deshalb ja zum beantragten Volksentscheid, reden Sie mit dem Volk, vertrauen Sie ihm doch einfach einmal.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will die von Herrn Waigel aufgeführte und von Herrn Gysi so unpassend ergänzte europäische Ahnenreihe nicht fortsetzen, aber mir erscheint die heutige Diskussion eher wie die absurde Szene eines BuñuelFilmes. Wir reden über ein Vertragswerk, mit dem die Mehrzahl dieses Hauses unzufrieden ist und das dennoch von einer Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiedet werden wird.
Im Gegensatz zum schönen Slogan „Europa wird eins" spaltet der Vertrag, Herr Kittelmann, die Europäer über Landesgrenzen hinweg in pro und contra Maastricht. Wie es aussieht, wird die Ratifizierung mit Ach und Krach gelingen. Der Vertrag, dem weniger als die Hälfte der Bürger des halben Europas zustimmen würde — in Frankreich waren es immerhin, wenn Sie die Stimmenthaltungen mitrechnen, nur 36 % —, wird vermutlich in Kraft treten,
doch über eines sollten wir uns im klaren sein — hören Sie doch bitte erst einmal zu! —: Dies kann und darf nicht so weitergehen, wenn der europäische Gedanke nicht auf der Strecke bleiben soll. Das Haus Europa darf nicht Vorwände mit Hintertüren verbinden, eine dauerhafte Bausubstanz läßt sich nicht aus zwölfseitigen Formelkompromissen mischen.An diesem Vertrag und an seinem Zustandekommen gibt es vieles auszusetzen, allem voran das Verfahren. In Regierungskonferenzen ohne Beteiligung des Bundestages, ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments Verträge auszuhandeln, die dann nur noch komplett akzeptiert oder verworfen werden können, ist der denkbar undemokratischste Weg nach Europa.
Wir kennen diese Praxis. Dem deutschen Einigungsvertrag, dessen Fehler, Mängel und schwindende Akzeptanz jetzt ins Auge fallen, lag ein ähnliches Strickmuster zugrunde. Künftig müssen nach meiner Überzeugung weitere Veränderungen der europäischen Verträge in einem echten Zusammenwirken von Rat und Parlament ausgearbeitet werden. Wäre ein solches Verfahren angewandt worden, sähe der Vertragsentwurf mit Sicherheit anders aus. Und hätten Sie die gleiche Energie in die Werbung für ein vereintes Europa investiert, die gleiche Kraft wie für die demagogische Vernebelung der derzeitigen Asyldebatte aufgebracht, brauchte sich niemand in Deutschland vor einer Volksabstimmung zu fürchten!Meine Damen und Herren, bei der Einschätzung des Maastrichter Vertrages kann man mit guten Argumenten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Fest steht allerdings, daß es zur europäischen Integration keine Alternative gibt und daß die europäische Einigung ganz Europa umfassen muß. Im Hinblick auf diese gesamteuropäische Perspektive muß die Gemeinschaft gleichzeitig weiterentwickelt und für die Länder Mittel- und Osteuropas sowie die heutigen EFTA-Länder offengehalten werden.
Die Gemeinschaft darf nicht bei dem Ergebnis von Maastricht stehenbleiben. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, die Initiative zu ergreifen, die Europäische Gemeinschaft zu einer wirklichen demokratischen, sozialen und ökologischen Union weiterzuentwickeln und dazu die für 1996 vorgesehene Regierungskonferenz so weit vorzuverlegen, daß sie die Ratifizierung entsprechender Verträge noch vor den Europawahlen 1994 ermöglicht.
Ich will einige unserer Haupteinwände benennen: Die angestrebte Politische Union, notwendiges Pendant zur Wirtschafts- und Währungsunion, ist über die allerersten Schritte nicht hinausgekommen, hat noch keine klaren Konturen. Hier bedarf es dringend der Weiterentwicklung. Ganz wesentliche Bereiche, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik, stehen im Grunde neben den Gemeinschaftsinstitutionen.Besonders schmerzlich ist, daß mit der notwendigen Verlagerung von Aufgaben auf die europäische Ebene das demokratische Defizit verstärkt wird. Maastricht bringt trotz einiger Erweiterungen der Befugnisse des Europäischen Parlaments insgesamt gesehen eine weitere Aushöhlung des Parlamentarismus in der Gemeinschaft. Es stärkt die nationalen Regierungen gegenüber den Parlamenten.Die vorgezogene Regierungskonferenz muß hier wesentliche Verbesserungen bringen. Wir brauchen eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Parlaments für alle Politikbereiche der Gemeinschaft. Das Parlament muß in allen die Gemeinschaft betreffenden Fragen mit entscheiden und auch bei der Weiterentwicklung der Verträge ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wie auch die Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik sind in die Strukturen der Gemeinschaft voll einzubeziehen.
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Werner Schulz
Wir werden, Herr Bundeskanzler, sehr aufmerksam verfolgen, welche Signale in der kommenden Woche aus Birmingham zu hören sind. Wenn sich dort Fortschritte für ein demokratisches Europa abzeichnen, wird dies sicher zu einer größeren Zustimmung auch für den Maastrichter Vertrag beitragen.Die vereinbarte Währungsunion steht auf schwachen Beinen. Der Erdrutsch der Währungen im Europäischen Währungssystem hat es deutlich gemacht. Es braucht viel mehr als die Verabschiedung dürftiger Absichtserklärungen, um zu einer gemeinsamen Währung zu kommen. Die EG-Staaten sind viel weiter davon entfernt, als es uns der flotte Zeitplan für die Währungsunion weismachen will.Wir Deutschen haben die Erfahrung gemacht, welche Auswirkungen eine übereilte Währungsunion haben kann, und wir spüren sie noch immer. Wir sollten das nicht vergessen, wenn wir über Europa reden. Die vielbeschworene Konvergenz der Volkswirtschaften in der Gemeinschaft
ist keineswegs soweit fortgeschritten, daß zur Einführung einer gemeinsamen Währung nur noch eine fröhliche Krönungszeremonie vonnöten wäre. Daran ändert auch nichts der vorgesehene Kompensationsfonds. Kommt die Währungsunion zu schnell, so sind zwei gleichermaßen unerfreuliche Szenarien denkbar.Einmal die kleine Währungsunion. In diesem Fall würde nur ein exklusiver Kreis von EG-Mitgliedstaaten die Eingangskriterien erfüllen und also Zugang zur Währungsunion bekommen. Die Dominanz von D-Mark und Bundesbank würde abgelöst durch die Dominanz des Währungsklubs der reichen Staaten in Europa. Wie wir von Herrn Kinkel gehört haben, will dies keiner.Aber auch das zweite Szenario kann niemanden begeistern. Danach würde die Währungsunion entgegen den ökonomischen Kriterien aus politischen Gründen möglichst weit gefaßt, mit dem Ergebnis, daß die Disparitäten und in der Folge die wirtschaftliche Destabilisierung innerhalb der Währungsunion die wirtschaftlichen Kräfte der Gemeinschaft auf lange Sicht hin absorbieren würden. Die EG wäre mit sich selbst beschäftigt. Für die. Heranführung der mittel-und osteuropäischen Volkswirtschaften an die EG bliebe dann so wenig Kraft wie für den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit und die Öffnung des europäischen Marktes für die Produkte aus der ZweiDrittel-Welt.
Dieses Szenario entspricht auch den Befürchtungen all derer in Deutschland, die mit dem Ende der D-Mark auch das Ende der Währungsstabilität heraufziehen sehen.Angesichts der mit der Währungsunion verbundenen, heute zum Teil noch unwägbaren Risiken darf der Bundestag jetzt keinen Blankoscheck ausstellen. Er muß sich vielmehr die Zustimmung zum endgültigen Eintritt in die Währungsunion ausdrücklich vorbehalten.
Das Europäische Währungssystem muß modifiziert werden, nicht, weil es den großen Währungskrach mit der Folge von Abwertungen und vorläufigem Austritt von Pfund und Lira gab, sondern weil es ihn erst so spät gab und weil er so krisenhaft und chaotisch vor sich ging.Die Hüter der Europäischen Währungen wurden bis auf die Knochen blamiert. Die Glaubwürdigkeit europäischer Währungszusammenarbeit wurde schwer beschädigt. Denn das EWS hat jahrelang Illusionen über den wahren Zustand der Währungen und Volkswirtschaften genährt und eine Scheinstabilität in Europa vorgetäuscht. Diese Art von Stabilität ist die denkbar schlechteste Voraussetzung für die Währungsunion. Wir brauchen deshalb Mechanismen im EWS, die Wechsélkursanpassungen, wenn sie tatsächlich und auf Dauer erforderlich sind, auch wirklich herbeiführen, solange nicht endgültig feste Wechselkurse vereinbart sind.Nun hat der Verzicht Großbritanniens auf die geforderte Reform des EWS — Premierminister John Major hat die Finanzminister gar nicht erst zum Sondergipfel eingeladen — ja etwas Wirbel erzeugt. Das war doch wohl etwas voreilig.Als weitere Voraussetzung für die Währungsunion ist ein schnellerer Einstieg in die gemeinsame Wirtschaftspolitik erforderlich. Auch hierfür müssen die notwendigen institutionellen Regelungen getroffen werden. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik ohne ausreichende Exekutivbefugnisse der Gemeinschaft wird nicht weit kommen.Meine Damen und Herren, alle reden plötzlich von der Stärkung demokratischer Strukturen, der Stärkung der Regionen, der Subsidiarität, als müßten sie in lauten Selbstgesprächen die Gedanken der GRÜNEN aus den 80er Jahren rekapitulieren. Doch wie auch immer, wir stimmen offenbar darin überein, daß der Maastrichter Vertrag Verbesserungen und Nachbesserungen benötigt, die auf der, wie angesprochen, vorzuziehenden Regierungskonferenz vereinbart werden müssen.Der neue Regionalausschuß muß wirkliche Kompetenzen erhalten. Gerade die Vertreter der Regionen sollten die Möglichkeit haben, über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu wachen und dafür zu sorgen, daß die Aufgabenteilung innerhalb der EG dem ökologischen Entwicklungsleitbild entspricht. Auf dieses ökologische Leitbild muß sich die gesamte Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft orientieren. Der Verzicht auf die Ideologie des grenzenlosen Wachstums bedeutet dabei keineswegs den Verzicht auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Im Gegenteil, die dauerhafte Erhaltung dieser Leistungsfähigkeit setzt den ökologischen Strukturwandel, die radikale Senkung des Umweltverbrauchs geradezu voraus. Nur eine ökologische Wirtschaftspolitik wird sich als zukunftstauglich erweisen.
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9344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Werner Schulz
Eine ganz zentrale Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die ökologische Steuerrefom, die auf europäischer Ebene stattfinden muß. Denn in mehr oder minder großem Umfang sind alle Länder der Gemeinschaft darauf angewiesen, den Wandel zu ökologischem Wirtschaften im europäischen Zusammenhang einzuleiten. Nicht minder wichtig ist die konsequente Ausrichtung der Strukturfonds und des Gemeinschaftshaushaltes in diesem Sinne.Es gibt eine Reihe weiterer Kritikpunkte zum Maastrichter Vertrag, auf die ich hier nicht eingehen kann. Doch bei aller mehr als berechtigter Kritik: Wer das Ergebnis der Maastrichter Regierungskonferenz insgesamt verwerfen will, muß sich gründlich überlegen, welche Folgen ein Scheitern des Ratifizierungsprozesses haben könnte.
Es ist schon erstaunlich, wie manchen, die vor zwei Jahren noch beteuert hatten, die Einheit Deutschlands sei nur zu verantworten als Teil eines vereinten Europa, jetzt immer neue Einwände und Bedingungen für die europäische Einigung einfallen.In der heutigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation in Europa ist die EG als Stabilitätsfaktor unverzichtbar. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob sie diese Funktion nach einem Scheitern des Vertrages noch wahrnehmen könnte. Viel wahrscheinlicher wäre, daß eine längere Phase der Desintegration und der Renaissance nationalstaatlicher Politik vor einem neuen Anlauf zur Europäischen Union stünden.
Vermutlich könnten die Einzelstaaten auch kaum anders als zu versuchen, allein zurechtzukommen.Der Ablehnung dieses Vertrages würde auf dem Fuße die Infragestellung der bisherigen Integrationsergebnisse, vor allem was die Sozial- und Umweltpolitik angeht, folgen. Die politische Botschaft wäre: Wenn nicht miteinander, dann jeder für sich. Den überall in Europa wiedererstarkten Tendenzen zu Nationalismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit würde dies zusätzlichen Auftrieb geben. Allein der Gedanke, daß diese fürchterliche Handlungsunfähigkeit der EG, die momentan den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien nährt, sich ausbreiten könnte, sollte der Vernunft zum Durchbruch verhelfen.Westdeutschland hat nach 1949 seinen Platz in der Reihe der westeuropäischen Demokratien gefunden. Die Einbettung in die Europäische Gemeinschaft ist zum entscheidenden Mittel geworden, gemeinsame Politik von Nachbarstaaten über nationalstaatlichen Egoismus zu stellen. Diese westeuropäische Entwicklung war für uns in der DDR immer ein Bild der Verständigung und der Zusammenarbeit, das angesichts der verdrängten Gefühle unterhalb der verordneten Freundschaft der RGW-Staaten unsere Sympathie fand.Wir sind jetzt selbst Teil dieser Gemeinschaft und haben zugleich dazu beigetragen, daß diese Gemeinschaft verunsichert und vor neuen Herausforderungen steht. Der Zusammenbruch Osteuropas stellt die EG und vor allem die Bundesrepublik Deutschland vor neue, sehr unerwartete Aufgaben. Der unhinterfragte, fast natürliche Zusammenhang von Demokratie und Wohlstand ist erschüttert. So angenehm Wohlstand auch ist, in den nächsten Jahren werden wir uns darauf einstellen müssen, daß dieser Wohlstand nicht einfach so weiter steigen wird.Nicht die Verteilung von ohnehin unsicheren Zuwachsraten ist das Problem, sondern die mangelnde Bereitschaft zur Umverteilung der vorhandenen Substanz. Diese Teilungskrise, dieser Schwund an Solidarität ist kein hausgemacht deutsches Problem. Allerdings ist die Bundesrepublik Deutschland zuallererst mit der Frage konfrontiert, wieviel ihr Demokratie, Menschenrechte und Toleranz bedeuten, auch wenn der Wohlstand geringer, die politischen Aufgaben schwieriger und die gewohnte Ordnung brüchiger werden.In dieser Situation des europäischen Umbruchs geht es vor allem darum, daß wir den Weg der Integration fortsetzen und nicht den Sirenentönen des nationalstaatlichen Alleingangs hinterherlaufen.
Meine Damen und Herren, gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung erteile ich unserem Kollegen Peter Conradi das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Ich bitte um Nachsicht, Herr Außenminister, daß ich Sie vorhin bei Ihrer Vorlesung gestört habe. Ich hatte einen Augenblick vergessen, daß Sie kein Parlamentarier sind. Meine Frage wäre gewesen: Worauf gründen Sie eigentlich Ihre Hoffnung, daß Sie all das, was Sie an Sicherung und Ausgestaltung der Subsidiarität, der Transparenz, der Demokratie im Vertrag nicht verankert haben, jetzt nachträglich in Birmingham in Zusatzerklärungen durchsetzen werden?
Herr Minister, bitte sehr, Sie dürfen erwidern. Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wollte zunächst sagen, daß ich vorher ohne Unterbrechung vortragen wollte — vorlesen wollte, wenn Sie wollen —, weil es ja immerhin um die Einbringung der Maastrichter Verträge ging. Ich glaube, Sie haben das auch verstanden. Ich wollte nicht der Frage ausweichen.Meine Antwort auf Ihre Frage lautet: Ja, ich bin zuversichtlich, daß wir in Birmingham ohne Vertragsänderung mindestens in einer noch festzulegenden Form die Unzufriedenheiten und Unsicherheiten, die nicht nur in der Bundesrepublik am Maastrichter Vertragswerk aufgekommen sind, sammeln, bündeln und mindestens im Hinblick auf Edinburgh so zusammenfassen können, daß eine gewisse Zufriedenheit entsteht. Ich will nicht sagen, daß das voll und total
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9345
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelgelingt. Aber wenn ich mir die Vorbereitungsarbeiten ansehe — heute morgen habe ich ja nur angedeutet, daß wir in intensiven Vorbereitungsarbeiten sind —, dann bin ich zuversichtlich. Gerade am Montag haben wir in Luxemburg unter den Zwölfen sehr gute Fortschritte erzielt. Ich kann die Einzelheiten selbstverständlich hier nicht vortragen. Aber ich habe das Gefühl, daß wir entweder in einer Entschließung, in einem Protokoll oder einer Erklärung formal materiell-inhaltlich das auffangen können, was an Kritik da ist — ohne Vertragsänderung. Da bin ich zuversichtlich.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Renate Hellwig das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundestag debattierte erst vor kurzem, am Freitag, dem 25. September, aus Anlaß des französischen Referendums zu den Maastrichter Verträgen. Ich muß Ihnen gestehen: Ich empfand an diesem Freitag eine fast unerträgliche Spannung zwischen den kritischen Gesprächen zu Europa, die ich jedes Wochenende in meinem Wahlkreis führen muß, und dem tapferen Bekenntnis fast aller Kolleginnen und Kollegen hier im Bundestag zur Europäischen Union. Also nahm ich meine Kolumne in der „Heilbronner Stimme" zum Anlaß, die Bürger zu fragen, warum sie denn binnen drei Jahren so europamüde, ja fast europafeindlich geworden seien. Aus den Meinungsumfragen ergibt sich das ja. Diejenigen, die sich die Mühe gemacht haben, mir zu antworten, waren unisono kritisch, zum Teil sogar sehr kritisch. Typisch ist folgendes Zitat:Europa war einst ein Zauberwort, das begeisterte. Doch es ist nicht falsch zu sagen, daß der Moloch Europa seine Freunde verschlungen hat und das innere Mitgehen mit begeisterten Europaanhängern in Mißtrauen umgeschlagen ist.Immer wieder taucht in den Briefen und Telefonaten der Vorwurf auf, wir sollten uns, statt unsere Energie für Europa zu verschwenden, ganz auf die internen Probleme Deutschlands konzentrieren. Das ist tatsächlich die Meinung im Volk, meine Damen und I lerren, und wir sollten sie nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern wir sollten sie bitter ernst nehmen.
Ich sehe im Wiederaufflammen des Nationalen, gepaart mit antieuropäischen Ressentiments, eine äußerst gefährliche Verengung der Solidaritätsbereitschaft der Menschen, nicht nur bei uns in Deutschland, sondern, die Signale zeigen das, auch in England und in Frankreich.Ich muß gestehen: Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß dieser Flächenbrand des kleinräumigen ethnischen, nationalen Egoismus, der nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches emotional, ja kriegerisch dort aufleuchtet, mit dieser Geschwindigkeit auch Westeuropa erfassen würde. Gelingt es uns, den verantwortlichen Politikern, unserem Volk bewußt zu machen, wie gefährlich dieser Rückfall in alte Ressentiments ist, wie gefährlich er gerade für uns Deutsche ist, die wir mit der Wiedervereinigung die größte Mittelmacht in Europa sind und deswegen unweigerlich die größte Verantwortung für den Frieden und die Völkerverständigung tragen?Noch ehe wir Deutsche es selbst begreifen, welche Macht und Verantwortung uns mit dem 3. Oktober 1990 zugewachsen ist, greift bei unseren Nachbarn schon das Unbehagen um sich: Was werden sie tun, die Deutschen, wirtschaftlich mächtig und größtes Land in der Europäischen Gemeinschaft? Wie werden sie diesmal ihre Rolle als Zentralmacht ausfüllen? Sind sind tatsächlich bereit, in einer echten europäischen Union sich selbst zu bändigen, oder war der europäische Gedanke nur so lange attraktiv, solange er auf Grund der Spaltung in Bundesrepublik und DDR ein Ersatz für ein gestörtes Nationalbewußtsein war?Derzeit interessiert den normalen Deutschen die Meinung der Nachbarn denkbar wenig. Er erwartet von uns Bonner Politikern, daß wir uns ganz auf die gegenwärtigen innerdeutschen Probleme konzentrieren, die ihn vor allem beschweren: die Armutswanderung von Ost nach West, die wir nicht so schnell stoppen, wie er es gern hätte, und je nach Standort in Deutschland-Ost oder Deutschland-West das Ungenügen der Sanierungsleistung für die neuen Bundesländer oder die zu hohen Kosten für eben diese Sanierungsleistung. Europa gilt in diesem Zusammenhang allenfalls als zusätzliche Beschwer, nicht als Helfer für diese Problemlösungen. Das heißt: Die europäische Dimension auch dieser beiden nationalen Probleme wird bei uns schlicht und ergreifend übersehen.Meine Damen und Herren, machen wir uns keine Illusionen: Uns steht im Zuge der Ratifizierung und nach ihr, uns allen, die wir hier sind und dafür sind, noch ein gerüttelt Maß an Überzeugungsarbeit vor Ort bevor.
Denn wir sind uns, glaube ich, alle einig: Wir wollen und können und dürfen kein Europa gegen unser Volk schaffen, sondern wir brauchen die Zustimmung, wir brauchen das Engagement.
Ich will gleich zum wichtigsten Punkt kommen. Wir deutsche Politiker, haben uns gerade mit Nachdruck — die Bundesregierung übrigens begleitet vom Europaausschuß in ständigen Sitzungen und mit seiner vollen Unterstützung — für eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik eingesetzt.
Und wenn immer so viel vom Subsidiaritätsprinzip gesprochen wird: Hier wollen wir keine Subsidiarität, hier wollen wir, daß nicht die Nationalstaaten, sondern daß insbesondere Europa verantwortlich ist, im Interesse von uns allen, um die Spannungen besser aushalten zu können.Lassen Sie uns auch auf den zweiten Kritikpunkt eingehen, der von den Bürgern immer wieder genannt wird, nämlich die Frage: Wie ist es mit dem demokratischen Europa, mit dem demokratischen Parlament,
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9346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Renate Hellwigmit dem demokratisch gewählten Europäischen Parlament? Ich glaube, wir Deutsche brauchen uns da über alle Parteien hinweg keinen Vorwurf zu machen. Wir sind Werber für mehr Macht für das Europäische Parlament. Wen wir hier noch überzeugen müssen, das sind insbesondere unsere Nachbarn in England und in Frankreich, die sich die Illusion machen, sie könnten mit ihren nationalen Parlamenten den Ministerrat kontrollieren. Auch ich bin sehr dafür, und ich hoffe, daß die Bundesregierung ein Einsehen hat, daß es nicht nur interessant und wichtig ist, dem Bundesrat bei ihrem Verhalten am Ministerratstisch mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben, sondern daß es genauso wichtig ist, die Rückkoppelung auch hier im nationalen Parlament zu nehmen.
Ich stelle den Beifall des ganzen Hauses fest und hoffe, daß er bei der Bundesregierung angekommen ist.
Die Kernigkeit, die Sie hier bewiesen haben, beweisen Sie bitte auch, wenn es darum geht, die notwendigen Verfassungsänderungen einstimmig durchzuführen. Wir müssen ganz klar die Mitwirkungsmöglichkeiten des deutschen Parlaments beim Verhalten der Bundesregierung am Ministerratstisch regeln.Aber den Ministerrat insgesamt — das halte ich ausdrücklich fest — wird immer nur das Europäische Parlament als der Counterpart kontrollieren können. Das kann ein nationales Parlament nicht ersetzen.
Lassen Sie mich noch kurz zu dem Punkt kommen, der bei der Angst vor Europa im Moment die Herzen am meisten bewegt. Unmittelbar nach Maastricht hat die „Bild"-Zeitung ein großes Unheil angerichtet,
indem sie geschrieben hat, wir müßten angeblich die D-Mark opfern. So ein Unsinn! Wir werden jetzt viel Zeit brauchen, um dies wieder auszuräumen.
An Herrn Lambsdorff und die Vertreter der SPD gerichtet, möchte ich ausdrücklich feststellen, daß wir in einem ganz entscheidenden Punkt übereinstimmen. Im Maastrichter Vertrag ist ganz klar und eindeutig geregelt, daß eine gemeinsame Währungsunion voraussetzt, daß es genügend Mitglieder gibt, die die absolut strengen Kriterien, was Verschuldung im eigenen Haus anbelangt, was die Solidität der eigenen Haushaltspolitik anbelangt und was den freiwilligen Gleichschritt mit den stabilsten Währungen anbelangt, erfüllen. Nur solche Länder werden gemeinsam die Währungsunion bilden.
Natürlich wird die Frage, ob eine solche Währungsunion stattfindet, ob ein Land die Kriterien für den Eintritt erfüllt, nicht allein die Bundesregierung entscheiden. Sie wird vielmehr in dieser entscheidendenFrage sowohl beim Bundesrat als auch beim Bundestag Rückkoppelung nehmen.
Nur wenn wir die Meinung der Bundesregierung teilen, wird es zu einem Eintritt der Bundesrepublik in die Wirtschafts- und Währungsunion kommen.
Aber wir dürfen gegenüber unseren Nachbarn nicht den Eindruck erwecken, daß wir so wie die Engländer, die selbst bei Erfüllung der Kriterien entscheiden wollen, ob sie nicht doch lieber draußen bleiben, taktieren wollen. Das dürfen wir in unser aller Interesse nicht tun.
Frau Kollegin Dr. Hellwig, gestatten sie eine Zwischenfrage des Kollegen Graf Lambsdorff?
Bitte sehr, wenn es nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Frau Kollegin, darf ich darauf aufmerksam machen, daß Ihre letztere Vermutung völlig. unbegründet ist. Niemand von uns hat das gesagt.
Ich möchte aber fragen, was an Stelle des Wortes „befassen" nun das Wort „Rückkoppelung" bedeuten soll? Wollen wir eine Entscheidung des Bundestages oder irgend etwas anderes?
Der Bundestag entscheidet über die Feststellung, ob die Kriterien erfüllt sind, mit.
Die entscheidende Frage für mich ist aber, ob der Bürger dem Eintritt in die Europäische Union zustimmt. Hüten wir uns gerade beim Thema Maastricht davor, ein Raumschiff Bonn zu werden. Koppeln wir zurück zu den Bürgern! Machen wir dies in den nächsten Wochen und Monaten zu unserer Hauptaufgabe. Begreift das deutsche Volk, daß es sich mit der Verengung auf die rein nationale Sicht wie schon zweimal in diesem Jahrhundert ins Unglück stürzt? Gelingt es uns, diejenigen, die im Moment als nationalistische Verführer durch unser Volk laufen, wieder auszuhebeln?
Gelingt es uns, die Überzeugung dafür zu gewinnen, daß es besser für uns ist, fest in eine Europäische Union eingebunden zu sein? Das dient unserer gemeinsamen Sicherheit. Das ist Friedensarbeit in der solidesten Bedeutung des Wortes. Wohlstandsarbeit kommt immer nach der Friedensarbeit. Wenn Friedensarbeit kaputtgeht, ist der Wohlstand auch sehr schnell dahin. Jugoslawien sollte dafür ein warnendes Beispiel bleiben. Halten wir zusammen! Wir West-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9347
Dr. Renate Hellwigeuropäer werden auch Osteuropa aus seinem Nationalismus- und Sozialismusschlamm nur gemeinsam heraushebeln, aber nicht, wenn wir zerfallen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, noch einmal zur Klarstellung: Weder die Zeit einer Zwischenfrage noch die Antwort darauf werden auf die Redezeiten angerechnet.
Nunmehr erteile ich unserem Kollegen Günter Verheugen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich den Auftrag meiner Fraktion erfülle und etwas zu den Verfassungsfragen sage, die mit dem Unionsvertrag zusammenhängen, möchte ich Graf Lambsdorff eine kleine Freude machen.Graf Lambsdorff, was Sie heute hier gemacht haben, war sehr bemerkenswert. Sie haben mit ernstzunehmenden Argumenten diesen Vertrag so richtig auseinandergenommen, aber gleichzeitig den Außenminister gestützt, der ihn ausgehandelt hat, und gleichzeitig die Regierung getragen, die den Vertrag unterzeichnet hat. Ich möchte nicht, daß der Eindruck entsteht, hier gebe es eine Partei, die beides tut, nämlich für und gegen den Vertrag sein. Sie werden sich entscheiden müssen.
Es geht nicht an, daß der Außenminister wegen der Europafans dafür ist, während der Parteivorsitzende wegen derjenigen, die die D-Mark behalten wollen, dagegen ist. Das schadet unserem gemeinsamen Vorhaben. Ihr klares Ja zum Vertrag habe ich wohl gehört, aber Ihre Rede hätte im Grunde genommen mit dem Satz enden müssen: Und darum lehne ich den Vertrag ab.
Ich möchte zwei Dinge aus der Rede von Otto Graf Lambsdorff festhalten. Zunächst will ich ansprechen, was er zur Beteiligung des Parlaments vor dem Übergang in die dritte Stufe der Währungsunion gesagt hat. Sie wissen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion diesen Vorbehalt bereits in der Verfassungskommission eingebracht hat und ihre Zustimmung zu den Verfassungsänderungen, ohne die der Vertrag nicht zustande kommt, davon abhängig gemacht hat, daß es so gemacht wird, wie Sie gesagt haben. Dem hat sich in der Verfassungskommission mit derselben Formulierung der Freistaat Bayern angeschlossen.
Da waren es schon zwei: die SPD und der Freistaat Bayern. Das ist schon ziemlich stark. Inzwischen haben sich dem der gesamte Bundesrat und heute auch die F.D.P. angeschlossen. Die Bundesregierung sollte dies wohl beachten. Zwei Bundestagsfraktionenund der ganze Bundesrat verlangen hier übereinstimmend, daß der Bundestag entscheidet, ob die Konvergenzkriterien erfüllt sind.
„Entscheiden", Frau Kollegin Hellwig, heißt, daß dies die Bundesregierung in ihrem Verhalten in Brüssel bindet, sonst bedeutet das Wort „entscheiden" gar nichts. Dies wird noch eine große Rolle spielen.Zweitens. Nach dem, was Graf Lambsdorff und Frau Hellwig gesagt haben, werden wir uns über die Mitwirkungsrechte des Parlaments sehr schnell einigen können. Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen, die diese Sache behandeln, auch entsprechend informiert würden. Dann können wir das bei unserem morgigen Treffen schon zu Ende bringen, damit dem Bundestag auch diese Verfassungsänderung termingerecht vorgelegt werden kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vertrag über die Europäische Union hat eine ganze Reihe von sehr weitreichenden verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Fragen aufgeworfen, die in der Gemeinsamen Verfassungskommission, soweit es möglich ist, gelöst worden sind. Die Verfassungskommission, deren Nutzen gelegentlich in Zweifel gezogen wurde, hat etwas zustande gebracht, was die Regierung, die das allein mit den Ländern machen wollte, nicht zustande gebracht hat.
Die Regierung hatte wohl gedacht, daß die Zweidrittelmehrheit im Bundestag eine reine Formalität wäre. Das ist sie nämlich nicht.
— Es ist aber so gelaufen. Die Regierung hat nur mit den Ländern gesprochen, nicht mit dem Bundestag. Dann haben wir das in die Hand genommen und die Sache geregelt. So war das.
Die Beratungen in der Verfassungskommission waren von dem Willen getragen, eine saubere verfassungsmäßige Grundlage für die Ratifizierung zu schaffen.
— Es hat keinen Zweck, Herr Kittelmann. Ich möchte meine Gedanken im Zusammenhang zu Ende führen können; Herr Kollege Conradi hat ja eben ein neues Verfahren vorgeführt, wie man trotzdem Fragen stellen kann.
Es ging auch darum, einen grundgesetzlich verankerten Rahmen für künftige Entwicklungen zu schaffen und Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu korrigieren.
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9348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Günter VerheugenDas Paket von Verfassungsänderungen, das uns vorliegt und das noch nicht einmal vollständig ist, weil noch einige hinzukommen, bedeutet eine einschneidende Veränderung unseres Verfassungsgefüges und ganz gewiß eine der wichtigsten Änderungen seit 1949. Die entscheidende Neuerung ist der eigene Europa-Artikel, nämlich der Art. 23. Der Standort ist bewußt gewählt. Der mit dem Einigungsvertrag hinfällig gewordene Art. 23 war der Einheits-Artikel. Wenn wir den frei gewordenen Platz jetzt mit einem Europa-Artikel füllen, dann zeigt schon diese Standortbestimmung, was wir gemeinsam als die nächste große Aufgabe des deutschen Volkes begreifen,
nämlich nach der Einheit Deutschlands die Einheit Europas.Wir alle haben ja gedacht, daß die Einheit unseres Vaterlandes erst in einem vereinten Europa erreicht werden kann. Es ist anders gekommen. Die nationale Einheit kam vor der europäischen. Darum ist es notwendig, unseren Willen zu Europa als Staatsziel im Grundgesetz festzuschreiben.
Es ist ein deutliches Signal, von dem wir hoffen, daß es in Europa, bei unseren Nachbarn, und auch auf der anderen Seite des Atlantiks nicht übersehen wird.In einer Zeit, in der nicht nur der Gedanke des Nationalstaates eine überraschende Renaissance erlebt, sondern blanker, unverhüllter Nationalismus in Europa wieder um sich greift, sagt der deutsche Verfassungsgeber: Wir wollen nicht zurück in nationalstaatlichen Egoismus und gar in nationalistischen Überschwang, sondern wir wollen unseren Platz in einer möglichst engen Vereinigung der Völker Europas finden.Dies ist auch eine Antwort auf die Frage, was wir Deutsche nach der Einheit mit dem Gewinn der vollen Souveränität wirklich anfangen wollen. Wir wollen sie nicht im Bewußtsein wirklicher oder vermeintlicher Stärke für eigensüchtige Interessen einsetzen, sondern sie auf eine höhere, übernationale Ebene heben. Wir wollen nicht als Muskelprotz über die Bühne der Weltpolitik stampfen, sondern unsere Zukunft in der Gemeinschaft mit unseren Nachbarn gestalten.
Nach den Erfahrungen, die wir in Europa gemacht haben, kann der Nationalstaat — noch viel weniger der ordinäre Nationalismus — nicht mehr als die einzige Form der Selbstverwirklichung der Völker betrachtet werden.
Der Nationalismus jedenfalls ist eine Krankheit, eine Geißel der Völker.Die europäische Perspektive war im Grundgesetz bisher nur in der Präambel verankert. Sie wird jetzt deutlicher und für uns alle verpflichtend. Das neue Staatsziel verpflichtet uns auf die Europäische Union. Zugleich wird geregelt, daß auf diese Union Hoheitsrechte übertragen werden können. Damit wird eine verfassungsrechtliche Zweideutigkeit geklärt. Die bisherige Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten war ja der Art. 24 Abs. 1, in dem nur von zwischenstaatlichen Einrichtungen die Rede ist.Man kann darüber streiten, wann die EG aufgehört hat, eine bloße zwischenstaatliche Einrichtung zu sein. Aber man kann wohl nicht darüber streiten, daß die im Vertrag von Maastricht begründete Europäische Union mehr ist.Die Vertragsstaaten wollten — so lautet der Text — eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer enger werdenden Union der Völker Europas. Diese Union ist noch kein Staat. Aber sie nimmt Aufgaben wahr, die anderswo von Nationalstaaten erfüllt werden. Sie ist also mehr als eine zwischenstaatliche Einrichtung. Sie hat eigene Rechtsetzungsbefugnisse. Sie setzt Recht, das bei uns unmittelbar gilt. Sie hat damit Funktionen, die bei uns nach der Verfassungsordnung nur dem Souverän, nur dem Deutschen Bundestag selber, zustehen.Mit der in dem neuen Art. 23 vorgenommenen Klarstellung bewegen wir uns auf verfassungsrechtlich sicherem Boden. Zugleich wird die Entwicklung in die Zukunft hinein geöffnet. Das Grundgesetz wird es uns dann erlauben, eines Tages einen europäischen Bundesstaat zu begründen.Die vielleicht noch wichtigere Neuerung in Art. 23 ist eine Struktursicherungsklausel. Sie besagt, daß wir nicht irgendein Europa wollen, sondern ein demokratisches, ein rechtsstaatliches, ein soziales, ein föderatives und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtetes Europa.Ich denke, daß das bisher schon Verfassungsrecht ist, wie es sich durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 ergibt. Aber die Verfassungswirklichkeit war anders. Die bis jetzt geübte Praxis der Hoheitsübertragungen durch einfaches Gesetz hat dazu geführt, daß zugleich mit den Kompetenzen auch Teile des unantastbaren Kernbereichs des Grundgesetzes auf eine Ebene entschwunden sind, auf der — um das wenigste zu nennen — weder das Demokratiegebot noch das Föderalismusgebot ausreichend beachtet werden.
Die europäische Gesetzgebung ist nicht Sache des Europäischen Parlaments, sondern immer noch Sache des hinter verschlossenen Türen tagenden Ministerrats. Je mehr Kompetenzen dieses Europa erhält, ohne daß gleichzeitig die Parlamentsrechte ausgeweitet werden, um so größer wird der demokratiefreie Raum.An dieser Stelle liegt ein entscheidender Mangel des Vertrages von Maastricht. Ich muß hier sagen: Nur mit äußerster Mühe ließe sich die Auffassung konstruieren, daß der Maastrichter Vertrag den Bedingungen des neuen Art. 23 entspricht.
— Das ist doch bekannt. — Das Dilemma besteht darin, daß wir einen bereits abgeschlossenen Vertrag nicht gut an den Bedingungen eines noch zu schaffenden Grundgesetzartikels messen können.In diesem Fall müssen wir uns also — das allerdings zum letztenmal — auf die einschlägige Rechtspre-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9349
Günter Verheugenchung des Bundesverfassungsgerichts, die sogenannte Solange-Rechtsprechung, stützen. Es hat ja keinen Sinn, um unangenehme Tatbestände herumzureden. Weder der alte noch der neue Verfassungstext erhebt den Vertrag von Maastricht über den fundamentalen Einwand der Verletzung des Demokratiegebots.
Verfassungsrechtliche Grundlage der Ratifizierung ist daher nicht der Text des Grundgesetzes,
sondern die bereits erwähnte Hilfestellung des Verfassungsgerichts. Wem das zuwenig ist — ich kann jeden gut verstehen, der so empfindet —, dem muß ich sagen, daß es keine praktikable Möglichkeit gibt, das eingetretene Demokratiedefizit rückwirkend zu heilen. Das gilt auch für den Vertrag von Maastricht. Die Struktursicherungsklausel entfaltet ihre Wirkung erst in die Zukunft hinein.Da die Problematik so wichtig und hier übrigens noch nie behandelt worden ist, will ich zumindest noch erwähnen, was wir erwogen und schließlich verworfen haben: Man könnte ja theoretisch Abhilfe schaffen, indem man im Grundgesetz eine Frist setzt, bis zu der die Europäische Union den Bedingungen der Struktursicherungsklausel entsprechen muß. Was aber tun wir, wenn, wie jedenfalls nicht auszuschließen ist, diese Frist ohne den erwünschten Fortschritt verstreicht? Von Verfassungswegen müßten wir dann aus der Europäischen Union ausscheiden, aber das ist kein gangbarer Weg. Deshalb sage ich: Es gibt keine praktikable Lösung.Aber jede künftige Bundesregierung, die über die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu verhandeln hat, unterliegt stärkeren verfassungsrechtlichen Zwängen als alle bisherigen Bundesregierungen. Herr Bundeskanzler, ich halte das nicht für einen Nachteil. Ich sehe darin auch keine Schwächung der Verhandlungsposition künftiger Regierungen. Ihnen, Herr Bundeskanzler, braucht man ja keine taktischen Ratschläge zu erteilen. Verstehen Sie das bitte auch nicht so.
Sie wissen ja, wie der Rückbezug auf die Verfassungslage zu Flause Verhandlungspositionen europäischer Regierungen auch stärken kann.
Was wir hier machen wollen, ist also wirklich nicht als etwas zu verstehen, was unsere Verhandlungsposition beim weiteren Einigungsprozeß schwächen soll; vielmehr wird es, richtig eingesetzt, eine Stärkung unserer deutschen Position sein.
Es gab für uns keinen anderen Weg, als Sicherungen für die Zukunft einzubauen. Man könnte einwenden, daß diese Sicherungen die weitere Integration erschweren. Man könnte sogar fragen: Wollen die Deutschen jetzt den anderen Europäern vorschreiben, daß sie nur nach der deutschen Fasson selig werden dürfen?Ich halte diese Sorge für unberechtigt. Der Standard, den wir für die Europäische Union festschreiben wollen, ist der Standard aller ihrer Mitgliedsländer. Das gilt vielleicht mit der Ausnahme des Sozialstaatsgebots, soweit Großbritannien betroffen ist. Die in ganz Europa angebrochene Diskussion über die Zukunft des europäischen Einigungsprozesses zeigt ja ganz deutlich, daß die Völker Europas keine europäische Superstruktur wollen, die das in den einzelnen Staaten erreichte Maß an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterminierte.Daher ist es von unserem Verfassungsverständnis her ganz unumgänglich, daß sich Europa daranmacht, sich eine Verfassung zu geben.
Das ist nicht nur eine politische Forderung meiner Fraktion, sondern es ist auch eine verfassungsrechtliche Forderung; denn die Struktursicherung ist nur eine Hilfskonstruktion. Besser ist es allemal, wenn weitere Integrationsschritte auf der Grundlage einer europäischen Verfassung erfolgen.
Herr Kollege Verheugen, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?
Bitte schön.
— Herr Kollege Kittelmann, der Gedanke war gerade abgeschlossen.
Bitte sehr.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege, daß ich Sie unterbreche. — Verkennen Sie nicht, daß hinter dem, was Sie zu Recht beklagen, nicht irgendeine falsche Auffassung in diesem Hause, sondern die Tatsache steht, daß in Europa gerade zu diesem Punkt essentiell unterschiedliche Auffassungen bestehen und daß das einzige, worauf man sich in Maastricht einigen konnte ist, daß eben diese Frage offenbleibt?
Das verkenne ich überhaupt nicht. Deshalb habe ich ja gesagt: Die Struktursicherungsklausel, auf die wir uns gemeinsam, mit Zustimmung auch Ihrer Fraktion, bereits verständigt haben, wirkt in die Zukunft hinein. Aber das bedeutet in der Tat, daß ein zweiter Vertrag von Maastricht — das ist jedenfalls meine Rechtsauffassung bzw. mein Verfassungsverständnis —, wenn wir das am Ende in dieser Form beschließen sollten, von einer künftigen Bundesregierung nicht unterschrieben werden dürfte. Das bedeutet es in der Tat.
Meine Damen und Herren, künftige Hoheitsübertragungen, die das Grundgesetz berühren, bedürfen einer Zweidrittelmehrheit. Das ist die weitere wichtige Bestimmung im neuen Art. 23. Das ist deshalb so sehr wichtig, weil wir bisher den Zustand haben, daß Hoheitsübertragungen nach Europa Auswirkungen
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9350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Günter Verheugenauf das Grundgesetz haben, ohne daß sie im Grundgesetz erkennbar sind. Wir haben also eine Überlagerung des Grundgesetzes durch europäisches Recht.Auch der neue Art. 23 enthält eine Freistellung vom Textänderungsgebot. Das ist sehr unbefriedigend; denn wir wollen ja eine Verfassung haben, die jeder . lesen kann und in der wirklich alles steht, was Verfassungsrecht ist. Es geht aber nicht, weil sich einfach nicht präzise vorhersagen läßt, wie nach erfolgter Hoheitsübertragung die Anwendung der europäischen Kompetenz auf das Grundgesetz rückwirkt.
Deshalb ist das mit der Freistellung vom Textänderungsgebot notwendig gewesen.Aber ich möchte hier sehr deutlich als gemeinsames Verständnis auch aller Berichterstatter der Verfassungskommission klarstellen, daß sich diese Freistellung nur auf solche Fälle erstrecken kann, in denen sich die Auswirkung auf das Grundgesetz unmittelbar nicht erschließt. Wo sie sich unmittelbar erschließt, muß selbstverständlich der Text geändert werden. Darum ändern wir auch Art. 28 und Art. 88 im Text.
Die Verfassungsdurchbrechung, die bisher durch einfaches Gesetz möglich war, wird künftig nur mit einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat möglich sein. Ich halte das für einen wichtigen Fortschritt.Erstjetzt — mit voller Absicht erst jetzt — komme ich zu der Frage, die bisher die öffentliche Diskussion beschäftigt hat, nämlich zur Frage der Mitwirkung der Länder an der europäischen Einigung. Dies stand im Vordergrund des Interesses, weil die Länder ihre Zustimmung zu dem Vertragswerk von einer befriedigenden Regelung ihrer Mitwirkungsrechte abhängig gemacht hatten.Die ursprünglichen Länderforderungen hatten zu der Sorge Anlaß gegeben, die Länder wollten für sich eine eigene europapolitische Kompetenz begründen und damit die einheitliche Vertretung der deutschen Interessen auf europäischer Ebene erschweren.Der jetzt erreichte Kompromiß gibt zu solcher Sorge keinen Anlaß mehr. Vielmehr ist es so, daß sich die neuen Bestimmungen aus dem Föderalismusgebot des Grundgesetzes zwingend ergeben.Ich kenne die Sorgen der fraktionsübergreifenden Gewerkschaft Außenpolitik, der ich selber angehöre, ja gut. Deshalb muß ich meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen hier sagen, daß die Bewahrung unseres föderalistischen Staatsaufbaus nicht nur Sache der Länder oder des Bundesrats ist; auch der Deutsche Bundestag ist verpflichtet,
diesen Grundgedanken der staatlichen Ordnung wie seinen Augapfel zu hüten. Wir haben dafür zu sorgen, daß dieser Staat föderalistisch bleibt.
Es kann nicht sein, daß auf dem Wege von Hoheitsübertragungen nach Europa die Eigenstaatlichkeit der Bundesländer verschwindet. Anders als der Bund verlieren die Länder ja nicht nur Kompetenzen; sie verlieren auch die Gestaltungsmöglichkeit der übertragenen Kompetenzen, die der Bund ja durch sein Mitwirkungsrecht als Mitgliedstaat der Europäischen Union in Brüssel behält.Wir haben uns darum für eine Lösung entschieden, die den Ländern je nach dem Grad ihrer Betroffenheit sich steigernde Mitwirkungsrechte einräumt.
Dies ist kein Freibrief für die Durchsetzung isolierter Länderinteressen. — Lieber Peter Conradi, den Zwischenruf mit den Landesregierungen habe ich wohl gehört. Ich wünschte mir, daß unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen die Diskussion, die wir heute hier führen, auch führten und ihren Landesregierungen einmal klarmachten, daß es so nicht weitergehen kann, daß sie nämlich diese Politik betreiben, ohne daß die Länderparlamente einbezogen sind.
Das können wir ihnen aber schlecht vorschreiben, Peter; gesagt haben wir es ihnen aber.Ich möchte sagen, daß der kooperative Föderalismus eine neue Chance bekommt, sich zu bewähren. Die neuen Bestimmungen sind kein Freibrief für die Durchsetzung isolierter Länderinteressen. Wir wissen: Es lohnt sich, Föderalismus auch in Europa zu bewahren. Wir werden klug genug sein, keine Entwicklung eintreten zu lassen, in der die deutschen Europainteressen atomisiert werden. 17 deutsche Stimmen in Brüssel wären nicht stärker, sondern schwächer als eine deutsche Stimme.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die neuen Bundesratsrechte führen zu einem neuen Problem. Wenn diese Rechte im Grundgesetz festgeschrieben werden, ist zu fragen: Was ist dann mit den Rechten des Bundestags?
Wir sind in einer vergleichbaren Situation. Der Bundestag hat im Zuge der europäischen Einigung schwere Kompetenzverluste erlitten,
wissentlich und willentlich. Auf der Gewinnerseitesteht immer nur die Regierung, der die dem Bundes-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9351
Günter Verheugentag verlorengegangenen Kompetenzen in Brüssel zugewachsen sind.
— Das gilt für die Vorgänger von Herrn Bundeskanzler Kohl auch.Das wäre leicht hinnehmbar, wenn die Rechte des Europäischen Parlaments gewachsen wären. Aber da das nicht der Fall ist, haben wir eine bedrohliche Schlagseite, weil eben legislative Befugnisse auf die Exekutive übergegangen sind.
Es ist unsere Sache, die Balance wiederherzustellen.Wenn der Bundestag seinen Einfluß in der praktischen Europapolitik durchsetzen will, kann er das. Grundlinien zwischen den Fraktionen zeichnen sich ab. Ich gehe davon aus, daß wir diese Bundestagsrechte im Grundgesetz verankern werden.
Wir brauchen das nicht so ausführlich zu tun, wie das bei den Länderrechten der Fall ist, weil wir nicht so abstufen müssen; aber die Rechte müssen so formuliert sein, daß die Entscheidungsprozesse in Brüssel von uns auch tatsächlich beeinflußt werden können.
Der jetzige Zustand, daß wir Brüsseler Entscheidungen praktisch nur post festum noch zur Kenntnis nehmen dürfen, ist einer Volksvertretung, die diesen Namen verdient, unwürdig.
Ich freue mich über Ihren Beifall, aber ich muß mich jetzt an die Parlamentsmehrheit wenden, weil zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit ja manchmal ein kleiner Unterschied besteht. — Ob das, was wir da machen wollen, eine Wirksamkeit entfaltet, meine Damen und Herren, hängt vom Willen der Parlamentsmehrheit ab. Wenn Sie die Kontrollrechte und Mitwirkungsrechte, die wir einführen wollen, nicht annehmen, wenn Sie sie nicht ausüben, dann nützt es nichts. Dazu muß das Parlament insgesamt entschlossen sein. Ich bitte Sie darum, rufe Sie dazu auf, mit uns gemeinsam diese Rechte, die wir uns geben wollen, auch wirklich auszuüben.
— Bitte schön.
Frau Kollegin Dr. Hellwig, eine Zwischenfrage. Bitte!
Herr Kollege Verheugen, können Sie meine Meinung teilen, daß mehr Mitwirkungsrechte des Bundesrats — auf deutsch: einer Fülle von Landesbeamten — allein noch keine Garantie dafür sind, daß europäische Regelungen in Zukunft weniger kompliziert sind als heute?
Ich kann dem unbedingt zustimmen, Frau Kollegin, und genau aus diesem Grunde bin ich dafür, daß wir uns in Zukunft stärker einmischen.
Meine Damen und Herren, ich will nur noch auf den Art. 28 und das Kommunalwahlrecht für Ausländer hinweisen und hier an die Adresse der Union sagen, daß sie mit dieser Minimalposition vermutlich nicht durchkommen wird. Auf Dauer hält sich das nicht.
Zum Art. 88 — Bundesbank — ist bereits gesprochen worden. Hierzu nur noch ein Hinweis: Wir können natürlich nicht akzeptieren, daß diese Verfassungsänderung in Kraft tritt, solange wir nicht wissen, ob der Maastricht-Vertrag wirklich in Kraft tritt. Wenn er obsolet werden sollte, dann kann diese Grundgesetzbestimmung nicht in Kraft treten. Wir werden keine Verfassungslage schaffen, bei der im Falle des Scheiterns des Unionsvertrages irgendwann später die Befugnisse der Bundesbank durch einfachgesetzliche Regelung doch auf eine europäische Zentralbank übertragen werden können.
Keine Verfassungsänderung auf Vorrat! Das werden wir in den Ausschußberatungen regeln müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe versucht, aufzuzeigen, daß der Unionsvertrag eine Gelegenheit bietet, eine ganze Reihe verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Fragen von wirklich großer Tragweite zu diskutieren. Mit den neuen Bestimmungen machen wir uns voll und ganz europafähig. Einen Idealzustand erreichen wir nicht. Wir tun das Mögliche und das Nötige, und ich finde es gut, daß wir nach außen und nach innen dokumentieren, daß wir das gemeinsam tun wollen.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Fortgang der Debatte noch eine kurze Anmerkung. Es folgen jetzt noch vier kurze Reden von Mitgliedern des Bundestags. Es ist keinesfalls so, daß der Bundesrat nicht zu Wort kommt. Er wird sich anschließend in einer hier in diesem I lause vereinbarten Runde dazu melden.
Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Helmut Haussmann.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für die Freien Demokraten sagen, daß ich mich in der europapolitischen Überzeugung, die Herr Kinkel und Herr Waigel hier geäußert haben, sehr gut wiedergefunden habe.
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9352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Helmut HaussmannIch will auch sagen, daß die F.D.P. auf ihrem Bundesparteitag in Bremen ein ganz klares Bekenntnis zu den Maastrichter Verträgen abgegeben hat. Ich will heute sagen, daß diese Maastrichter Verträge aus meiner Sicht ökonomisch für uns die wichtigste Reform nach Einführung der Sozialen Marktwirtschaft sind.
Deshalb sollten wir heute nicht die Bedenken überbetonen, sondern wir sollten vor der Bevölkerung werben und deutlich machen, was für diese großartige Chance für uns in Europa spricht, meine Damen und Herren.
Lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Wir haben derzeit nicht das Recht, uns in Europa als Stabilitätsapostel aufzuspielen. Nur zwei Regierungen erfüllen im Moment die Kriterien. Die Bundesrepublik liegt im Mittelfeld. Jeder Kollege ist zunächst an der Heimatfront gefordert, die Stabilitätsvoraussetzungen zu schaffen, damit wir überhaupt in den Club der Stabilitätsländer kommen.
Lassen Sie mich zweitens sagen: Die Sozialdemokraten sind die schlechtesten Ratgeber in Sachen Stabilität. Man muß sich nur die Länderhaushalte im Saarland, in Nordrhein-Westfalen oder sonstwo anschauen.
Insofern bedürfen wir keinerlei Ratschläge von seiten der Sozialdemokraten.
Meine Damen und Herren, ich habe manchmal den Eindruck, manche Deutschen versagen vor ihrer Verantwortung. Ich erinnere mich an meine Zeit als Wirtschaftsminister und an die leidenschaftliche Diskussion innerhalb der Koalition, mit den Sozialdemokraten, innerhalb des Bundeskabinetts, in Gesprächen mit der Deutschen Bundesbank. Ich will offen sagen: Viele von uns hätten nicht gedacht, daß die von den Deutschen entwickelten Stabilitätskriterien von elf anderen Ländern unterschrieben werden.
Jetzt sind sie unterschrieben, und jetzt haben die Deutschen Angst vor der eigenen Courage.
Das ist nicht in Ordnung.Drittens will ich sagen: Wir sind nicht für eine Automatik, was die dritte Stufe angeht, aber wir sind auch ganz klar gegen eine erneute politische Bewertung, wie das die Sozialdemokraten formuliert haben. Wir sind gegen einen Ausstieg im Sinne des Opting-out, und wir sind auch gegen eine zweite Ratifizierung.
Die Länder bereiten sich heute unter Vertrauen auf die Deutschen auf die Stabilitätsgemeinschaft vor. Deshalb können die Deutschen sich nicht am Ende diesen Ausweg offenlassen.
Jedem Bürger ist auch klar: Entweder gibt es bis dahin im Herzen Europas eine stabile D-Mark und damit auch die Voraussetzungen für den Zwang zur Stabilität im Kern Europas, oder es gibt eine inflationierte D-Mark, aber dann gibt es auch eine inflationierte europäische Währung.
— Meine Damen und Herren, die mittelfristige Finanzplanung stellt eindeutig die Weichen, daß wir 1996 die Stabilitätskriterien in der Tat erfüllen.Insofern sage ich: „Befassung" bedeutet aus Sicht der F.D.P. Mitentscheidung des Parlaments darüber, daß die von uns ernstgenommenen Kriterien erfüllt sind. Jede Regierung wäre verrückt, die sich anders als der Bundestag oder der Bundesrat verhalten würde.
Das bedeutet auch, daß diese klaren Stabilitätskriterien politisch keinen Interpretationsspielraum bieten. Ich wünsche mir — das setze ich hinzu, und dann stimme ich aus Überzeugung zu —, daß die Europäische Währungsbank in Frankfurt am Main sein wird, dort, wo die Stabilität zu Hause ist, dort, wo die Bürger Vertrauen haben. Ich finde, die Sozialdemokraten haben bei dieser Frage einen Nachholbedarf. Während sich Frau Wieczorek aus dem hessischen Bereich für Frankfurt am Main einsetzt, setzt sich Frau Matthäus-Maier für Deutschland ein. Wir werden den Kampf um den Sitz verlieren, wenn wir zwei Standorte anbieten. Bonn hat leider nicht die Voraussetzungen für eine Europäische Zentralbank. Insofern müssen wir uns auf Frankfurt am Main eindeutig konzentrieren.
Meine Damen und Herren, ich will wirtschaftshistorisch an die Erfolgsgeschichte des europäischen Binnenmarkts erinnern. Das bedeutet auch für die Wirtschafts- und Währungsunion: Man muß zunächst eine Vision entwickeln, und man muß diese Vision mit einem konkreten Zeitpunkt verbinden und sich daran halten.
Man muß auch ganz klar den nationalistischen Populisten und den Provinzlern mutig entgegentreten. Daran mangelt es heute nicht nur in der Politik, sondern auch bei den Unternehmern, bei der Wissenschaft und bei den Publizisten.
Nur zu gern greifen Landespolitiker in Bayern undanderswo, Euro-Bürokraten, die früher in Brüssel
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9353
Dr. Helmut Haussmannlange arbeiten konnten, Wirtschaftsjournalisten von angesehenen Zeitungen und deutsch-nationale Publizisten in wichtigen Organen in Hamburg die vorhandenen Ängste auf und verstärken sie damit, anstatt sie in der Tat auszuräumen.Es ist ganz einfach, heute gegen Europa zu argumentieren. Die Menschen in unserem Lande sind wegen der vielen Anpassungen durch die deutsche Einheit und die Wirtschafts- und Währungsunion in Deutschland überfordert. Ihnen muß klarwerden, daß das alles nur Sinn macht — Frau Hellwig, es ist so, wie Sie es gesagt haben —, wenn wir letztlich das Ganze nach Europa einbringen.
Meine Damen und Herren, wir werden in Japan nur ernstgenommen — das sage ich auch immer meinem Freund und Kollegen Graf Lambsdorff, der gerne in Washington und in Tokio große Reden zur Weltwirtschaft hält —, wenn dort nicht zwölf Nationalstaaten mit zwölf nationalen Währungen sprechen, sondern wenn dort eine Europäische Gemeinschaft spricht.
Zum Binnenmarkt wäre es nie gekommen, wenn sich die Bedenkenträger durchgesetzt hätten,
wenn man mit tausend Vorbehalten gearbeitet und wenn man ständig zeitliche Verschiebungen angekündigt hätte.Nehmen wir also den europäischen Geist auf, und stimmen wir diesen Maastrichter Verträgen zu!
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
— Sie werden sich wundern. Zitat:Europa kann nur entstehen, wenn es nicht nur in Verträgen, sondern auch in den Herzen seiner Bürger verankert ist. Daher müssen wir unsere Gemeinschaft den Bürgern nahebringen.So beginnt das Geleitwort von Außenminister Kinkel in einer kleinen Broschüre „Fragen und Antworten zum Vertrag von Maastricht" .Jetzt kommt das ganz andere, Herr Kittelmann: Ich kann ihm ausnahmsweise einmal zustimmen. Überhaupt hätte ich eigentlich große Lust, heute hier einmal eine äußerst versöhnliche Rede zu halten. Das Problem ist nur, daß die Bundesregierung es einfach so ungemein schwermacht, z. B. so etwas wie einen europäischen Traum überhaupt im Ansatz zu entwikkein, obgleich das vielleicht genau die Voraussetzung wäre, um tatsächlich Europa in den Herzen zu verankern. Statt dessen gibt es eine ganze Menge Herzschmerz, wenn man an das Europa à la Maastricht denkt.Wir sind, was unser Gesetzentwurf für einen Volksentscheid beweist, sehr dafür, die Europäische Gemeinschaft den Bürgern nahezubringen. Dazu ist viel Aufklärung nötig, möglichst auch von solch unabhängigen Institutionen, die frei von Verhandlungsdruck einen nüchternen Blick auf den Vertrag werfen können. Ein solch nüchterner Blick fehlt allerdings auffällig, wenn man dann in dieser eingangs erwähnten kleinen Broschüre weiterblättert.Ich komme zu einem ganz bestimmten Aspekt des Vertrages, nämlich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Da wird als wesentliche Neuerung die Verfahrensform der gemeinsamen Aktion erwähnt, die in Bereichen durchgeführt werden soll, in denen wichtige Interessen der Mitgliedstaaten bestehen. Dann geht es drei Zeilen unten so weiter:Damit kann die Union in der Welt eine Rolle übernehmen, die ihrem politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gewicht entspricht. Sie wird besser in der Lage sein, Krisen vorbeugend zu begegnen, aktiv auf Ereignisse in der Welt Einfluß zu nehmen und sich nicht auf Reaktionen zu beschränken.Einmal abgesehen davon, daß eine ehrliche Erläuterung darin bestünde, klipp und klar zu sagen, welche Rolle das denn sein soll, und zwar nicht durch wohlklingende Sprechblasen, würde ich gerne einmal ganz konkret wissen, was das „moralische Gewicht Europas" ganz genau ist, welcher Einfluß diesem entspricht, Einfluß auf was, Einfluß mit welchen Mitteln? Wie sieht es bisher mit der Moral gegenüber der sogenannten Dritten Welt aus, und ist das Verhältnis zur sogenannten Dritten Welt das künftige Kriterium für das moralische Gewicht Europas?Ich komme noch auf eine andere Bemerkung — ich konnte leider die Debatte heute morgen nicht verfolgen, weil ich in einem Ausschuß war —, nämlich auf die These, der Vertrag von Maastricht verhindere den Aufbau einer europäischen Streitmacht. Genau das stimmt nicht. Es stimmt zwar, daß in diesem Vertrag noch nicht allzuviel Konkretes steht, dennoch ist es nur die halbe Wahrheit.Im Rahmen der WEU nämlich, die ja integraler Bestandteil der Europäischen Union sein soll, ist schon viel mehr beschlossen worden. Dies freilich unter dem Vorbehalt der jeweiligen Verfassung. Hierzulande unterliegt diese Verfassung aber einer intensiven Bearbeitung, damit eben auch militärisch künftig mehr möglich ist.Also müßte ein wirkliches Nahebringen bedeuten, das, was in dem Vertrag von Maastricht steht, auch unter Berücksichtigung der nationalen gesetzlichen Veränderungen zu erläutern. Erst dann können nämlich die Bürgerinnen und Bürger genau wissen, ob der Vertrag tatsächlich den Grundstein zu sozialer Sicherheit, zu friedlicher Entwicklung, zu einem Europa der Völkerverständigung und des wirtschaftlichen Aus-
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Andrea Lederergleichs legt, um nur einmal einige Eckpfeiler meiner Europaträume zu nennen.Ich habe leider nur eine sehr kurze Redezeit. Ich möchte aber noch über folgendes informieren: Ich habe in der letzten Zeit an vielen europapolitischen Diskussionen im Ausland teilgenommen. Aus diesem Grund wundert es mich, daß gestern gemeldet wurde, daß sich Bundesaußenminister Kinkel in Moskau überrascht gezeigt habe, daß Hauptthema seiner Gespräche die rassistischen und rechtsextremistischen Ausschreitungen in der Bundesrepublik Deutschland waren. Mich wundert, daß ihn dies wundert.Ich werde im Ausland ununterbrochen darauf angesprochen; dies vor allem deshalb, weil sich die Bundesrepublik Deutschland als eine Art Modellmotor für die europäische Entwicklung darstellt, aber auf der anderen Seite in diesem Bereich Zustände bestehen, die absolut nur — auch was den gesamten europäischen Prozeß anbelangt — Bedenken auslösen können.Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel: Das Abkommen mit Rumänien zur Abschiebung von Roma und Sinti, die hier auf schärfste Weise diesen Übergriffen und Angriffen ausgesetzt sind und die in Rumänien Pogromen ausgesetzt sind, ist ein Beispiel dafür, wie es nicht sein darf. Leider legt der Vertrag von Maastricht, in dem auch noch lobend erwähnt wird, daß er in seinen innenpolitischen Regelungen über das Schengener Abkommen hinausgeht, genau den Grundstein für alles andere als für eine Völkerverständigung. Er legt den Grundstein für eine Festung Europa.All das müßte Gegenstand einer großangelegten Aufklärungskampagne sein. All das müßte denen Gelegenheit geben, die tatsächlich im Kontext darüber aufklären wollen. Deshalb bitte ich erneut darum, tatsächlich auf die Frage einzugehen, inwieweit die Absicht besteht, auch die deutsche Bevölkerung zu diesen Angelegenheiten zu fragen. Dabei weise ich noch einmal darauf hin: Uns geht es darum, für eine europäische Union zu werben, die den von mir genannten Eckpfeilern einigermaßen entspricht bzw. die den Grundstein für eine solche Entwicklung legt. Uns geht es aber auch darum, eine Mitentscheidung über die Frage des Wie herbeizuführen, d. h. eine vertragliche Regelung, die nicht kontraproduktiv wäre im Sinne eines tatsächlich demokratischen und sozial gerechteren Europas, das vor allem auch den Ausgleich mit dem Rest der Welt sucht.Danke.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wo es um die Demokratisierung Europas einschließlich Osteuropas geht und um die Europäisierung der Demokratie bis nach Osteuropa, dort führt kein Weg an Maastricht vorbei. Hierin besteht eine offenkundige Analogie zum deutschen Vereinigungsprozeß: Wer nach dem 9. November 1989 noch über Ja oder Nein zur Einheit debattierte, der redete wirklich vom Wetter, als alle Welt von Deutschland redete. Das darf im Blick auf Maastricht nicht erneut passieren. Aber eben deswegen gilt es, entschlossen über Maastricht hinaus zu denken und dann über Maastricht hinauszugehen. Ist doch der Text von Maastricht weiter nichts als ein Aufgabenkatalog, zu dem die Lösungsvarianten erst noch gefunden werden müssen. Dennoch enthält dieser äußerst vorläufige Text drei Grundentscheidungen von kategorialer Bedeutung: die für eine Europäische Union, für eine Währungsunion als entscheidenden Schritt zur politischen Union und für eine Verfassung, in der alle Entscheidungen, wie der Text sagt, in größtmöglicher Nähe zum Bürger getroffen werden müssen.Die Union der Völker Europas — sie ist das Programm, zu dem es keine Alternative gibt; es sei denn die Panikmache des Nationalismus, die terroristischen Drohgebärden eines Wahnwitzes, der uns antreibt, im Kreis herumzulaufen wie jene Unsäglichen, die unlängst auf der Wilsdruffer Straße in Dresden den Hitlergruß wiederbelebten, wenige Meter von den Trümmern der Frauenkirche entfernt, den schaurigen Überbleibseln des gleichen Wahnes zwei Generationen früher, der nicht nur dieses Denkmal Europas an der Elbe in ein Flammenmeer verwandelt hat.Wir taumeln zurück in die ewige Wiederkehr des gleichen Wahnes, wenn wir jetzt nicht die gemeinsame politische Anstrengung unternehmen, uns daran zu erinnern, daß Europa nicht ein Kontinent, sondern immer ein Konzept gewesen ist, aus Völkerwanderungen und Völkerkriegen zu einer Friedensverfassung zu finden.Darum hat Europa immer eine Verfassung gehabt; zuerst die des vorchristlichen Imperium Romanum, die am Limes endete, dann die des christlichen Römischen Reiches, die Europa vom alten und vom neuen Rom aus in eine westliche und eine östliche Hälfte teilte, indem sie alle vorhandenen Heere einer gemeinsamen kaiserlichen Befehlsgewalt unterstellte.Als es diese Befehlsgewalt seit dem 17. Jahrhunderts nach dem Ende des 30jährigen Krieges nicht mehr gab, entstand jenes System der großen Mächte, die zwar gegeneinander Kriege führten, diese Kriege aber gleichzeitig begrenzen konnten, indem sie sich der allseits anerkannten Autorität des europäischen Völkerrechts unterstellten.Erst als die von Österreich und Deutschland entfesselten Weltkriege 1 und 2 dieses System und sein internationales Recht für immer liquidierten, entstand jenes Interregnum, jene Verfassungslosigkeit, die, durch die abermalige Zweiteilung Europas in die beiden Systemhemisphären verdeckt, so uns heute in ein weit gefährlicheres Völker- und Kulturchaos zu stürzen droht, als es die spätantike und frühmittelalterliche Völkerwanderung auch in ihren düstersten Abschnitten je gewesen ist.Kein Zweifel — Maastricht ist der Kern einer neuen Friedensverfassung Europas, und es ist dies, gerade weil dieser Kern sich aus wirtschaftlichen Einheiten,
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Dr. Wolfgang Ullmannder Montanunion und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, entwickelt hat. Wer das als ökonomischen Materialismus denunzieren möchte, der sei daran erinnert, daß die deutsche Einheit unter dem gleichen Druck entstanden ist, jenem Druck, der, von der Atlantikküste bis Moskau wirksam, 1989 schließlich ein Ende des anachronistischen Versuchs erzwang, in Mittel- und Osteueropa eine Exklave veralteter Wirtschaftsstrukturen mit immer realitätsferneren Maßnahmen am Leben zu erhalten.Seit Tschernobyl wissen wir, daß es auf unserem Planeten nur eine einzige Ökonomie gibt, weil unser Leben auf einer einzigen Physik und einer einzigen Chemie beruht. Wer das nicht wahrhaben will, wird eine Politik betreiben, die zu nichts anderem fähig ist, als diese eine gemeinsame Physik und Chemie der gemeinsamen Grundlage unseres Leben durch immer neue Tschernobyls zu verwüsten.Das sei zuallererst denen ins Stammbuch geschrieben, die mit ihren Faseleien vom „Esperantogeld" und ihren Stammtischphantasien über die Errichtung eines neuen Limes mittels der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl deutlich zu erkennen geben, wes Geistes Kind sie sind. Unlängst hat mir ein Taxifahrer den Sinngehalt des Satzes „Deutschland den Deutschen" mit Beispielen aus der Hundezucht erläutert. Dahin muß es kommen, wenn eine regierende Partei der Bundesrepublik Deutschland eine Debatte über die laut Grundgesetz unveräußerlichen Menschenrechte entfesselt, deren Niveau und Tendenzen von der gesamten internationalen Öffentlichkeit mit wachsendem Befremden verfolgt werden.Nichts charakterisiert die in dieser unverantwortlichen Debatte grassierende politische Dummheit mehr als jene Rede vom „Esperantogeld", als ob die globale Kommunikation, auf der unser gesellschaftlicher Alltag beruht, Esperanto und nicht vielmehr die Präzisionssprache der modernen Mathematik wäre, auf der sowohl das Funktionieren der Computer wie die exponiertesten Diskurse heutiger Grundlangenforschung beruhen.Weil bestimmte Dichter und Denker des heutigen Deutschlands sich kein anderes nationales Identitätssymbol mehr vorstellen können als das liebe Geld, sind sie nicht in der Lage, sich klarzumachen, daß die Währungsreform von 1948 nur der halbe Schritt in eine europäische Friedenswirtschaft war. Auch durch die Einbeziehung der östlichen Länder Deutschlands am 1. Juli 1990 ist aus diesem halben Schritt noch kein ganzer geworden.Erst der Grenzübergang zur einheitlichen europäischen Währung, auf den wir zugehen wollen, wird endlich der ganze Schritt sein, der die Zeit der nationalen Kriegs- und Planwirtschaften für immer verabschiedet und das Fundament für eine europäische Friedensökonomie vollendet.
Allein auf diesem Fundament werden wir die Standfestigkeit erlangen, die es erlaubt, die Sozialpolitik der Europäischen Union aus dem Zusatzprotokoll vonMaastricht in den Kernbereich gemeinsamen europäischen Handelns zu verlegen,
damit Arbeitsmarkt, Wohnungsbau und Städteplanung aus ihrer barbarischen Chaotik zu einer humanen Form der lokalen und kommunalen Selbstorganisation übergehen können.Das freilich setzt voraus, daß das Konzept der Regionen im Maastrichter Vertrag soweit konkretisiert wird, daß nicht nur Stimmenzahl und Verhältnis im Regionalausschuß festliegen, sondern auch dessen Beziehung zu den großen Nationalstaaten im Westen und im Osten Europas, zum Föderalismus der deutschen Länder — Herr Verheugen hat darüber gesprochen —, aber auch zur gesamteuropäischen Ebene, sowie das Verhältnis der Ebene und ihre Kompetenzen klar sind.Der Begriff der Subsidiarität wird sich dabei als ein untaugliches Instrument zur Abwehr der vielerorts gefürchteten Bürokratisierung und Hierachisierung Europas erweisen. Hier gilt es, in Kraft zu setzen, was die Maastrichter Urkunde über die Europäische Union als eine Verfassung sagt, die zu dem Zweck errichtet wird, daß alle politischen Entscheidungen so bürgernah wie möglich getroffen werden. Hier erwarten wir alles vom Europäischen Parlament,
das baldmöglichst die allein ihm zustehende Initiative dazu ergreifen sollte, eine Verfassung zu erarbeiten, deren Aufgabe nicht mehr die der Staatsorganisation, sondern der Kern der Verbindung von Menschen- und Bürgerrechten mit einer Sozialcharta ist, die den Selbstorganisationsmöglichkeiten unserer Gesellschaft entspricht.Eine solche Verfassung würde für immer sicherstellen, daß die Europäische Union eine politische Union nicht von Staaten, sondern von Völkern und damit eine neue Stufe der Demokratie ist.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Christian Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Friedrich Dürrenmatt hat einmal geschrieben: „Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn ihre schlechtestmögliche Wendung bedacht ist." Die Neinsager zur Europäischen Union haben in diesem Sinne die Geschichte nicht zu Ende gedacht. Die schlechtestmögliche Wendung für uns alle in Europa wäre die Ablehnung von Maastricht und ihre Folgen.Dabei versuchen manche, dies mit einer ziemlich nichtssagenden Floskel zu übergehen: Für Europa seien sie schon, sagen sie, aber nicht für das Europa von Maastricht. Was soll das heißen? — Für mich klingt das ein wenig wie ein politisches Radio Eriwan:
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Christian Schmidt
„Im Prinzip ja; wenn es dann an die Details geht, wollen wir nichts mehr davon wissen." Die Details werden aber immer den eigentlichen Charakter einer Gemeinschaft ausmachen — wie in einer Ehe: Im Alltag muß sich die Liebe bewähren. Deswegen kann man sich auch nicht bei jedem kleinen Detail, das nicht ganz nach des eigenen Geistes Strickmuster ist, aus dem Staube machen.Dies gilt um so mehr für das Zusammenleben von Staaten. Was bedeutete denn ein Nein? Unsere wirtschaftliche Entwicklung erhielte einen ziemlichen Schlag, der Weg zu einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, in der die Union gemeinsam handelt, müßte für dieses Jahrtausend und weit darüber hinaus ein Traum bleiben. Die Geschehnisse, die wir in Jugoslawien beklagen, könnten von uns in keiner Weise beeinflußt werden.Es wäre nicht in erster Linie eine Niederlage der Regierungen oder der Politiker. Politiker müssen mit Niederlagen leben;
das ist das Spiel der Demokratie. Vielmehr wäre es die Niederlage der gemeinsamen europäischen Zukunft, die uns geschmerzt hätte.
Wer sagt, Europa könne diesen Stillstand verkraften, und irgendwie würde es schon weiter gehen, wenn man Maastricht ablehne, spricht ohne geschichtliche und politische Grundlage. Europa wäre dabei — wie es Professor Walter von der Deutschen Bank formuliert hat —, seine historische Chance auf Integration, auf dauerhafte Überwindung von nationalen Gegensätzen ebenso zu verspielen wie seine Anziehungskraft für das im Aufbruch befindliche Zentral- und Osteuropa und seine Rolle als dritter Pfeiler der Triade USA, Japan und Europa wegzuwerfen.
Noch ein Wort zur Frage eines möglichen Referendums bei uns. Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, daß die gegenwärtig leider — trotz der Verfassungsdiskussion — etwas in den Hintergrund geratenen Lehren der Weimarer Zeit auch für uns heute noch deutlich genug sein sollten, mit kurzfristigen Experimenten sehr vorsichtig zu sein.Denjenigen, die uns vorwerfen, wir hätten Angst vor dem Ergebnis einer Volksabstimmung, sage ich: Ich könnte mir eine ganze Reihe von Volksabstimmungen vorstellen, bei denen ich mir sicher wäre, die Unterstützung der Bevölkerung schneller als in diesem Deutschen Bundestag zu erhalten. Ich denke nur daran, was zum Thema des Art. 16 GG bei einer Volksabstimmung zu debattieren wäre. Darum geht es aber nicht.Wenn es darum gehen sollte, eine Entscheidung für oder gegen Europa festzulegen, so empfehle ich zuerst die Lektüre der Präambel des Grundgesetzes, in der schon seit 1949 die Grundentscheidung für das vereinte Europa getroffen ist. Maastricht ist nichts anderes als eine Ausformung der Grundentscheidung für das vereinigte Europa.Was führt aber zu der großen Zurückhaltung, zu dem, was wir in Bonn technokratisch mit „Maastricht" bezeichnen? Kaum einer hat den Vertrag wirklich gelesen, außer denen, die das tun müssen. Zugegebenermaßen ist er auch nicht sehr lesegängig formuliert. Es kommt aber darauf an, daß die großen Linien noch einmal nachgezeichnet werden und daß wir auch unsere Versäumnisse in der politischen Diskussion einräumen.Wir haben versäumt, immerwährend zu wiederholen, daß wir als Deutsche den europäischen Zusammenschluß brauchen, um die Kräfte zu sammeln, die wir für die Erhaltung des Wohlstandes in Westeuropa und für die Sanierung Osteuropas dringend brauchen. Dies ist in dieser Debatte erfreulicherweise mehrfach angesprochen worden.Dagegen haben wir Mißverständnisse entstehen lassen. Leider hat das Wort von der „Unwiderruflichkeit" bei vielen unserer Bürger einen falschen, gefährlichen Klang erhalten. Das Wort wird so verstanden, als ob wir hilf- und steuerlos den übrigen Staaten Europas ausgeliefert seien und gemeinsam — ohne ins Steuerrad greifen zu können — auf das Jahr 1996, auf 1998 oder auf andere Daten zusteuerten. Ich meine, wir sollten deswegen in diesem Zusammenhang das Wort „unwiderruflich" nicht mehr gebrauchen; denn unwiderruflich ist an der Wirtschafts- und Währungsunion nur der Stabilitätsgrundsatz. Und der trägt uns zu ihrer Durchführung.Der Bundeskanzler hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Rückübertragung von Kompetenzen — von Europa weg hin zum Nationalstaat und Bundesland — zu befördern. Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe; denn die Verordnungswut, die angeprangert wird, ist Tatsache. Sie muß bekämpft werden, aber übrigens nicht nur in Brüssel, sondern auch bei uns. Wer weiß denn schon, daß die vielzitierte „Richtlinie über die Größe von Traktorensitzen", mit der die EG-Kommission bzw. deren Beamte gerne zum Gespött gemacht werden, auf einer deutschen Vorschrift beruht!
Ich habe noch keinen gehört, der sich gegen DINNormen gewendet hat; denn wir wissen, welchen Segen DIN-Normen für eine exportorientierte Wirtschaft darstellen. Deswegen müssen wir sine ira et studio überprüfen, ob wir — erstens — alle Vorschriften brauchen und — zweitens — was passiert, wenn wir die Vorschrift abschaffen. Solch eine „Durchforstungskommission", die ihre Arbeit sehr bald aufnehmen muß
und nicht nur aus Brüsseler Beamten bestehen darf,
muß dann die Spreu vom Weizen trennen.
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Christian Schmidt
Was sind unsere Grundsätze für Europa? Erstens wollen wir Stabilität in Europa. Nur daran ist die Wirtschafts- und Währungsunion zu messen. Sie wird oberste Richtschnur sein. Sie wird auch bei unserer Überprüfung 1996, ob Europa reif ist für den Eintritt in die dritte Stufe, Richtschnur sein. Dann muß sich auch der Bundestag noch einmal mit dieser Frage auseinandersetzen und sich an der Beurteilung der Stabilitätskriterien beteiligen.Ich sage es noch einmal klar: Wir wollen kein „Opting-out", wir wollen uns an dieser Entscheidung beteiligen. Wir wollen die Bundesregierung aber auch in ihrer Position im Europäischen Rat 1996 stärken; denn wir haben doch eigentlich nur die Befürchtung, daß die Stabilitätskriterien in irgendeiner Form aufgeweicht werden könnten und daß die, die 1996 politisch und wirtschaftlich in die zweite Liga Europas gehen müßten, doch versuchen wollten, oben zu bleiben. Hier bei der strikten Anwendung der Stabilitätskriterien — auch bezogen auf unser eigenes Land —, müssen wir der Bundesregierung den Rücken stärken. Darum geht es bei der Beteiligung des Bundestages und des Bundesrates 1996.
Zweitens. Föderalismus und Subsidiarität verhindern, daß alles in Brüssel geregelt wird. Allerdings ist die Ankündigung von Kommissionspräsident Delors, der sich hierzu sehr erfreulich geäußert hat, noch nicht so recht mit Konkretem „übergekommen".
Ich fordere ihn auf, darauf hinzuwirken, daß wir in der Ausgestaltung des Prinzips der Subsidiarität, wie es in Art. 3 b des Maastrichter Vertrages angelegt ist, vorankommen. Ich bin überzeugt, daß Art. 3 b und die Begründungspflicht für zukünftige Richtlinien — unter vorhergehender Beteiligung nicht nur der Brüsseler Kommission, sondern auch des Europäischen Parlaments und nationaler Parlamente — das Subsidiaritätsprinzip gerichtsfest machen. Im übrigen sollte über das Klagerecht der Regionen in den sie betreffenden Angelegenheiten nachgedacht und seine Verwirklichung in Angriff genommen werden. Dazu wird Herr Staatsminister Goppel mit Sicherheit noch ausführlich Stellung nehmen.
Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Conradi?
Bitte sehr.
Herr Kollege, Ihre Kritik daran, die EG habe in Brüssel zuviel geregelt, veranlaßt mich zu der Frage: Können Sie dem Haus eine EG-Richtlinie nennen, die ohne Mitwirkung eines Ministers der Bundesregierung im Ministerrat zustande gekommen ist?
An der Verabschiedung einer Verordnung der Kommission sind die Minister der Bundesregierung nicht beteiligt. Aber Sie haben völlig recht: Richtlinien sind unter
Beteiligung aller Mitgliedstaaten verabschiedet worden.
— Wenn Sie meiner Rede genau zugehört haben — davon gehe ich aus, Herr Conradi —, dann haben Sie sicherlich vernommen, daß ich mich in dieser Frage auch an unsere nationale Adresse gewendet habe. Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß wir auch bei uns „schlanker" werden müssen.
— Nein, es ist einfach wichtig, das Gewicht in Europa einzubringen, das notwendig ist. Da müssen Sie sehr genau unterscheiden.
Drittens und zu guter Letzt geht es um die Vision Europa, um Frieden und Freiheit — die Politische Union. Deutsche Außenpolitik hat jetzt andere Grundlagen als 1989. Aber diese Erkenntnis führt uns auch 40 Jahre nach Adenauer, Schuman und de Gaspari zum gleichen Ergebnis, wie es Franz Josef Strauß 1983 fast visionär formuliert hat
— weil er auch konkret und nicht nur in Visionen gedacht und Politik betrieben hat —:
Wenn ich sage, bis zum Jahr 2000, ja, da wird mancher von uns nicht mehr da sein und mancher nicht mehr auf der Bühne stehen, da mag niemand sagen: Ja, das ist ein weiter Zeitraum. Wer erlebt hat, wie diese Europaidee, von brennender Begeisterung getragen, in Fackelzügen in allen deutschen Städten gewissermaßen zur Warnung und Mahnung nach dem Zweiten Weltkrieg zum Fanal gemacht, in der Zwischenzeit erlahmt und erkaltet, in den Institutionen verkrampft und verkrustet, in den Resolutionen bis zur Unkenntlichkeit deformiert ist, der wird nicht der Übertreibung bezichtigt werden, wenn er das Ziel setzt, daß man wenigstens bis zum Jahr 2000 wieder so weit ist, daß wir dem Ziel eines Staatenbundes vielleicht ganz nahegekommen sind . . .
Ich stelle fest, daß wir bereits im Jahre 1992 wieder so weit sind, und hoffe, daß der Deutsche Bundestag in seiner Ratifizierungsdebatte in den nächsten Wochen deutlich machen wird, daß das deutsche Interesse in einem gemeinsamen europäischen Interesse, in eimem vernünftig geeinten Europa am besten aufgehoben ist. Maastricht zeichnet — trotz kleiner Schönheitsfehler — die große Linie vor, und ein Ja zu Maastricht ist ein Ja zu unserer Zukunft.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Minister für Bundesangelegenheiten und Europa des Landes Rheinland-Pfalz, Florian Gerster, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Länder bejahen den europäischen Einigungsprozeß und begrüßen den Vertrag von Maastricht, den Ver-
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Staatsminister Florian Gerster
trag zur Europäischen Union. Es ist kein Widerspruch zu dieser Grundzustimmung, daß der Bundesrat in seiner Ratifizierungsdebatte vor wenigen Wochen festgestellt hat, daß das Verhandlungsergebnis in wichtigen Fragen hinter den Vorstellungen des Bundesrates zurückbleibt und daß zentrale Herausforderungen ohne ausreichende Antwort geblieben sind.Dazu gehören nach Meinung des Bundesrates die Stärkung des Europäischen Parlaments, die Ausgestaltung der demokratischen Strukturen der Gemeinschaft insgesamt, die soziale Dimension, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Vergemeinschaftung von Asylpolitik und innerer Sicherheit. Auf diesen wichtigen Feldern sollten wir die Revision des Vertrages, wenn sie ansteht — also 1996 oder früher —, sehr ernsthaft in Angriff nehmen.In einem weiteren Punkt laufen die Interessen nach meinem Eindruck zusammen: Der Bundesrat unterstützt in vollem Umfang den Parlamentsvorbehalt, den der Deutsche Bundestag angemeldet hat. Auch wir schließen uns dieser notwendigen Absicherung der entsprechenden Voraussetzungen der Wirtschafts- und Währungsunion an und denken, daß dies in einem schlüssigen, gemeinsamen Verfahren auf den Weg gebracht werden muß.Im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses ist es notwendig und unbestritten, daß die nationalen Mitgliedstaaten Souveränitätsrechte an die Gemeinschaft abgeben. Dies bedeutet aber nicht, daß damit die jeweils höhere Ebene automatisch die bessere Problemlöserin ist. Deswegen sollten wir die Kritik an einem europäischen Zentralismus ernst nehmen und sie dorthin verlagern, wo es einen Wildwuchs gegeben hat. Auf der anderen Seite denke ich, daß sich Bundestag und Bundesrat gemeinsam wehren sollten gegen die Fundamentalkritik an Maastricht, wie sie auch von Angehörigen der politischen Klasse — ich sage es jetzt mit einem modischen Begriff — geäußert worden ist.
Wir sollten uns auch gegen falsche Schuldzuweisungen wehren, z. B. was die Regelungswut angeht. Der Kollege Conradi hat zu Recht darauf hingewiesen, daß an dieser Regelungswut der Eurokratie die nationalen Regierungen oft beteiligt waren, nicht zuletzt — wie man hört — die deutsche Bundesregierung.
Der Grundsatz der Subsidiarität muß das Strukturprinzip der Europäischen Gemeinschaft sein. In seiner konkreten Ausformung ist der Grundsatz der Subsidiarität in Deutschland die föderale Ordnung. Ich möchte aber ausdrücklich ergänzen: Zu diesem Grundsatz gehört auch die kommunale Selbstverwaltung als die vierte Stufe, von Europa aus gesehen. Es gehört bei uns die Aufgabenverteilung zwischen Gesellschaft und Staat dazu, z. B. in wichtigen Bereichen des Kultur- und Sozialwesens, des Sports und anderen wichtigen Lebensbereichen der Bürger. Auch hier wollen wir Staatlichkeit, ganz egal welcher Ebene, nicht verstärken, sondern, im Gegenteil, gesellschaftliches Engagement verstärken. Auch das ist eine Umsetzung des Grundprinzips der Subsidiarität, der Nachrangigkeit der jeweils höheren staatlichen Ebene.Wir halten es — auch aus diesem zwingend abzuleitenden Prinzip der Subsidiarität — für erforderlich, daß die subnationale Ebene — in Deutschland sind das die Länder mit Staatscharakter — einen eigenen europarechtlichen Status hat. Ich denke, daß wir, wenn wir dieses Prinzip wirklich mit Leben erfüllen, die Akzeptanzkrise der Europäischen Gemeinschaft beantworten können; denn je größer die neue politische Einheit ist — im Falle der Europäischen Gemeinschaft sind es derzeit 340 Millionen Menschen —, desto mehr muß die vertraute nähere Umgebung auch in ihrer politischen Dimension — d. h. bei uns konkret: das Land oder gar die Gemeinde mit ihrer kommunalen Selbstverwaltung — eine identitätsstiftende Ebene sein, nicht aber eine, die aus der Ferne dirigiert wird und nur noch Vorgegebenes vollzieht.
Wir, also Länder und Regionen, müssen im Alltag der Gemeinschaft die neu geschaffenen Initiativ- und Mitspracherechte ausfüllen und ergänzen. — Da kann ich auch an den Vorredner, den Abgeordneten Schmidt, anknüpfen. — Dort, wo Abwehrrechte gegen europäische Rechtsakte noch nicht ausgefüllt sind, läßt sich dieses Defizit zu einem späteren Zeitpunkt ausgleichen.Zu einem erheblichen Teil sind die Forderungen der Länder und des Bundesrates berücksichtigt worden. Das liegt auch daran, daß die Länder an den Regierungskonferenzen beteiligt waren, daß sie diese begleitet haben und daß sich die Bundesregierung dagegen nicht gewehrt hat. Nun, wo es um eine neue Qualität der Europäischen Union geht, müssen wir über die Länderbeteiligung neu nachdenken und sie vor allen Dingen innerstaatlich ergänzen. Für die Länder darf ich sagen, daß wir mit den Instrumenten, die geschaffen worden sind, verantwortungsvoll und effektiv umgehen werden.Der Regionalausschuß wird seine Rechte, die sicherlich begrenzt sind, so ausschöpfen, daß sich die Beteiligung der Regionen auf europäischer Ebene in der täglichen Politik der Europäischen Gemeinschaft widerspiegelt und das ergänzt, was z. B. an Mitwirkung durch das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente bereits vorhanden ist oder sogar noch ausgebaut werden sollte.Lassen Sie mich in wenigen Worten auf die Geschichte des Länderbeteiligungsverfahrens eingehen, die auf das Jahr 1951 zurückgeht. Bei dem Gesetzgebungsverfahren zur Montan-Union und im Jahre 1957 beim EWG- und beim EURATOM-Vertrag ist bereits die Verpflichtung der Bundesregierung verankert worden, die Länder zu unterrichten.Die nächste Stufe der Länderbeteiligung war das Jahr 1979. Damals haben sich der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Ministerpräsident Franz-Josef Strauß, verständigt, daß die Länder in EG-Angelegenheiten innerstaatlich in einem qualitativ neuen Beteiligungsverfahren zu beteiligen sind und daß die Bundesregierung von der Stellungnahme der Länder in den Fragen, für die sie
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Staatsminister Florian Gerster
zuständig sind, nur dann abweichen darf, wenn es aus außen- und integrationspolitischen Gründen geboten ist.Das war also eine weitere wesentliche Stufe, die schließlich in die Einheitliche Europäische Akte von 1987 gemündet hat, wonach der Bund verpflichtet ist, die Stellungnahme der Länder dort zu berücksichtigen, wo sie im innerstaatlichen Verhältnis zuständig sind, und sie an EG-Verhandlungen durch Bundesratsbeauftragte zu beteiligen.Maastricht ist nun der entscheidende nächste Schritt. Ich denke, unabhängig davon, ob der Art. 23 des Grundgesetzes durch die deutsche Einheit obsolet geworden ist oder nicht, ist es mehr als eine sinnhafte Zufälligkeit, daß wir nun den ursprünglich für die deutsche Einheit vorgesehenen Artikel dafür verwenden können, die Europäische Gemeinschaft von unten nach oben zu formen.
Wir freuen uns über den Verhandlungsstand der Gemeinsamen Verfassungskommission zu Art. 23 des Grundgesetzes, der für uns befriedigend ist, auch wenn er bisher nicht von allen auf der Bundestagsseite mit großer Begeisterung mitgetragen wird.
Ich möchte allen Zentralisten, die es in allen Fraktionen gibt, sagen: Den Ländern geht es nicht darum, die Kompetenz des Bundes auszuhöhlen. Es geht uns auch nicht um einen Staatenbund, wie das sehr prominente Vertreter dieses Staates gesagt haben. Vielmehr geht es uns darum, daß wir dort beteiligt werden, wo die ureigensten Rechte der Länder betroffen sind und durch die Europäische Union eingeschränkt werden. Da wollen wir bei der Kompetenzverlagerung, aber auch bei den nachwirkenden europäischen Entscheidungen beteiligt werden. Dies ist eine zwingende Folge der Bundesstaatlichkeit, die von allen Seiten im Prinzip befürwortet werden sollte.Art. 23 des Grundgesetzes ist für uns eine unabdingbare Voraussetzung für die Ratifizierung. Da möchte ich alle, die noch ein bißchen taktische Überlegungen anstellen, für die nächsten Wochen und Monate bitten, diese zurückzustellen. Für uns besteht ein zwingender Zusammenhang, den wir auch nicht auflösen lassen werden.Meine Damen und Herren, alle drei Gesetzesvorhaben, die jetzt anstehen und die heute im Deutschen Bundestag im Ratifizierungsprozeß zum erstenmal behandelt werden, sind untrennbar miteinander verbunden. Ich denke, durch die Art der Behandlung dieser Vorlagen in den beiden Bundesorganen der Gesetzgebung — Bundestag und Bundesrat — können wir an einer ganz entscheidenden Weichenstellung unseres Staates bis hin zur Europäischen Union beweisen, daß der deutsche Föderalismus und die parlamentarische Demokratie lebensfähig und gestaltungsfähig sind. Auch dies kann die Akzeptanzkrise in Richtung Europa begrenzen, wenn wir deutlich machen können, daß diejenigen, die handeln müssen, dies dort, wo es notwendig ist, gemeinsam tun.Ich bitte Sie alle, den Begriff „Europa der Regionen", der als Programmsatz unumstritten ist, mit Leben zu erfüllen. Ich bitte den Deutschen Bundestag, die Länder und den Bundesrat darin zu unterstützen.Ich möchte auch betonen, daß der Föderalismus in Deutschland eine Erfolgsgeschichte ist. Auch die Länderbeteiligung an europäischen Angelegenheiten in den letzten Jahren ist eine solche Erfolgsgeschichte, die — bei aller Bescheidenheit — auch so etwas wie ein Exportmodell für andere europäische Länder sein könnte. Die Länderbeteiligung macht im Grunde genommen die Qualitätsveränderung der Europäischen Gemeinschaft deutlich. Sie wird eben immer mehr zu einer Angelegenheit der europäischen Innenpolitik. Sie ist nicht mehr in erster Linie oder ausschließlich eine Angelegenheit der Außenpolitik und damit ausschließlich der bundesstaatlichen Ebene vorbehalten.Ich möchte aber abschließend — auch um Überspitzungen auf beiden Seiten, die es in den letzten Monaten gegeben hat, zu relativieren — sehr deutlich sagen: Wir im Bundesrat, wir die Vertreter der Länder in diesem Prozeß, haben großes Verständnis für jene Sorgen der Parlamentarier, also der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die wegen des Mangels an demokratischer Kontrolle im Europäischen Parlament und durch das Europäische Parlament, aber auch hinsichtlich des Bundestages und der Landtage bestehen.
Hier muß auf allen Ebenen nachgebessert werden.
Die Regionalisierung und Demokratisierung Europas gehören zusammen. Beide sind gleichwertige und hochrangige Ziele, über die wir uns im Prinzip auch einig sind.
Nun hat das Wort der Minister für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herr Herbert Helmrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Aufnahme des Europaartikels 23 und mit den Verhandlungen, die dazu geführt haben, ist der Weg für die Ratifizierung in der Bundesrepublik frei. Ich will mich deshalb damit heute nicht mehr befassen, sondern mit einigen Elementen des Maastricht-Vertrages, die das Akzeptanzproblem behandeln.Der Akzeptanzschock, den die Abstimmungen von Dänemark und Frankreich und Meinungsumfragen ausgelöst haben, sitzt uns allen noch in den Knochen. Die Gründe sind überwiegend sicherlich Unkenntnis, mangelnde Information, mangelnde Transparenz der Entscheidungen und das schon viel beklagte Demokratiedefizit. Aber gerade auch darüber ist in Maastricht verhandelt worden. Und deshalb ist in der Schlußakte, in den Erklärungen dazu, einiges zu
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9360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Minister Herbert Helmrich
lesen, und zwar zunächst, daß der Kommission empfohlen wird, 1993 Maßnahmen vorzuschlagen, die Informationen auch für die Bürger verbessern können. Damit soll die Transparenz der Entscheidungen verbessert und das Vertrauen in die Organe — so heißt es im Text — erhöht werden. Der Außenminister sagte, das Zutrauen der Bürger müsse gestärkt werden.Aber darüber hinaus sind weitere Elemente , die das Akzeptanzproblem einer Lösung näherbringen können, behandelt. Ich nenne fünf weitere Elemente ganz unterschiedlicher Art, die aber in ihrem Zusammenwirken hilfreich sein werden.Das erste Element, das ich nenne und das hier schon mehrfach genannt worden ist, ist die Subsidiarität in Art. 3 b. Es muß gelingen, zentralistische Fehlentwicklungen, die deutlich sichtbar sind, zurückzunehmen und ihnen gegenzusteuern. Die höhere Ebene soll nur dann tätig werden dürfen, wenn dies unabwendbar notwendig ist. Es wird Aufgabe von Bund und Ländern sein, das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeitszuweisung zu begreifen. Erst dann wird der vereinbarte Text das hergeben, was alle sich von der Subsidiarität erhoffen.Die Konferenz der Europaminister der Länder weist diesem Prinzip besondere Bedeutung zu. Die Länder werden im Rahmen des neuen Art. 23 des Grundgesetzes gemeinsam mit dem Bund über die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wachen.Das zweite Element ist die Stärkung des Europäischen Parlaments. Hierzu ist schon viel gesagt worden; ich kann mir alles Weitere sparen. Nur eines soll deutlich werden: Die Anzahl der Parlamentarier wird selbst dann, wenn das Parlament die vollen Rechte eines sonstigen Parlaments hat, so gering sein, daß sie —je nach Gegend — ein bis zwei Millionen Bürger, im Durchschnitt 700 000 Bürger repräsentieren. Wir können von diesen Parlamentariern einen Informationsfluß „bis nach unten" kaum erwarten. Die Mechanismen der aus dem vorigen Jahrhundert weiterentwikkelten Honoratiorendemokratie, von der wir heute noch zehren, bedürfen einer Weiterentwicklung.Deshalb nenne ich drei weitere Elemente des Vertrages.Das dritte Element des Vertrages, der Regionalausschuß gem. Artikel 198a, ist vorhin schon erörtert worden. Die Konferenz der Europaminister ist sich darüber einig, daß dieses Instrument von den Ländern besonders genutzt werden wird. Wir haben bereits den Entwurf einer Geschäftsordnung für. diesen Regionalausschuß in die Beratung eingebracht.
— Darüber kann man reden, Herr Conradi, aber der Anfang der Diskussion darüber ist zumindest gemacht.Ich komme zu den beiden letzten Elementen, über die kaum gesprochen wird, wahrscheinlich, weil sie manchem sehr phantastisch anmuten. Aber sie sind im Vertrag vorgeschlagen, und zwar in den Erklärungen in der Schlußakte unter III, Ziffer 13: „Erklärung zur Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union". Hier wird als erstes eine verstärkte Unterrichtung angesprochen, die auch im Grundgesetz für den Deutschen Bundestag festgehalten werden soll. Als zweites heißt es weiter:Nach Ansicht der Konferenz ist es ferner wichtig, daß die Kontakte zwischen den einzelstaatlichen Parlamenten und dem Europäischen Parlament insbesondere dadurch verstärkt werden, daß hierfür geeignete gegenseitige Erleichterungen und regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Abgeordneten, die an den gleichen Fragen interessiert sind, vorgesehen werden.Früher, ehe das Europäische Parlament direkt gewählt wurde, hatten wir eine Koppelung durch die Doppelmitgliedschaft. Sie war ein Mechanismus, der den Kontakt zwischen dem nationalen Parlament und dem Europäischen Parlament stärkte. Die Aufgaben waren zu groß. Mit der Direktwahl fiel die Doppelmitgliedschaft weg. Ich glaube aber, daß wir im Endergebnis zumindest partiell — wie der Vertrag es vorschlägt — wieder zu gemeinsamen Sitzungen kommen müssen. Wir müssen Europa in die nationalen Parlamente holen. Es reicht nicht, auf unseren Stühlen sitzenzubleiben und im Parlament Europa zu fordern und an Europa Forderungen zu stellen. Europa wird uns nicht auf dem silbernen Tablett gereicht werden.Es wird zu einem verstärkten Reiseparlamentarismus kommen müssen. Wie wir gesehen haben, reicht es nicht mehr, daß 12 Fachbeamte mit der Kommission über Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Europäischen Parlaments entscheiden. Es sind die Parlamente der einzelnen Mitgliedsnationen gefragt. Die Parlamente müssen selbst an die Informations-, Beratungs- und Entscheidungsfront. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber ich glaube — damit setze ich noch einen drauf, Herr Conradi; ich sehe Ihr Kopfschütteln —, hier werden die Länder in der Bundesrepublik wegen unserer föderalen Struktur ebenfalls eine Beteiligung reklamieren müssen.
— Deshalb habe ich gesagt, daß das, was im Vertrag vorgesehen ist, phantastisch klingt.Aber das nächste ist noch erstaunlicher. Nennen Sie mir die Mechanismen — Sie haben es vorhin von diesem Podium aus von den Rednern gefordert —, die die Akzeptanz erhöhen werden. Hierzu ist der Konferenz in Maastricht etwas Erstaunliches eingefallen.Die Konferenz— die Maastricht-Konferenz —ersucht das Europäische Parlament und die einzelstaatlichen Parlamente, erforderlichenfalls als Konferenz der Parlamente zusammenzutreten.Das sind dann mehrere tausend Parlamentarier.
— Ich meine auch, daß man Zwischenlösungen finden kann. Ich erwähne für die Historiker oder die historisch Interessierten unter Ihnen, daß die Institutionen im früheren Reich, im Mittelalter auch einen immensen Abstimmungs- und Kooperationsbedarf hatten.Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9361Minister Herbert Heimrich
Der Reichstag von 1418 hat in Konstanz etwa 20 000 Menschen zusammengeführt. Meine Damen und Herren, ob einem das paßt oder nicht: Es erscheint zweifelhaft, daß wir Akzeptanz und Information „bis hinunter zu den Bürgern" auf allen Ebenen erreichen.
Und ich habe nichts anderes getan, als die Mechanismen zu zitieren, die der Vertrag anspricht.Meine Damen und Herren, das Europa der Bürokraten und Technokraten, das 30 Jahre lang Hervorragendes erzeugt hat, scheint jetzt an seine demokratischen Grenzen zu stoßen. Dieses bisherige Europa muß in der Europaunion durch das Europa der demokratisch gewählten Repräsentanten ergänzt werden. Wir sollten diesen Weg, den der Maastricht-Vertrag weist, gehen. Weil er noch kein Trampelpfad ist, können wir auch sagen: Diesen Weg sollten wir riskieren. Ich bin der festen Überzeugung, daß es sich lohnt.Vielen Dank!
Jetzt spricht der Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Freistaates Bayern, Herr Dr. Thomas Goppel, zu uns.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der Diskussion am heutigen Vormittag sehr aufmerksam gefolgt. Ich habe dabei einige Übereinstimmungen und neue Akzente entdeckt, die mir wichtig genug erscheinen, um sie in der Zukunft weiterzuentwickeln.Der Kollege Haussmann hat vom kooperativen Föderalismus gesprochen, ein Begriff, der sicher demnächst die Zeitungen füllen wird, aber hoffentlich auch Eingang in unsere Geschäftsordnungen finden und den Umgang miteinander prägen wird, Herr Kollege Conradi, auch wenn wir uns auf Reisen irgendwo in der Welt begegnen.Dann gibt es die Feststellung der Frau Kollegin Süssmuth, die von dem Endzeitpunkt des Regierungshandelns und von der Verpflichtung, die Parlamente in der Zukunft stärker zu beteiligen, gesprochen hat. Ich glaube, daß es auch deshalb ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist, die Parlamente insgesamt in der Zukunft frühzeitiger an der Diskussion über Fortentwicklungen zu beteiligen, weil sie auf Grund ihrer größeren Besetzung am ehesten in der Lage sind, die kritische Diskussion in der Bevölkerung aufzunehmen und umzusetzen und sie nicht — wie wir bei der Europadiskussion sehr wohl gemeinsam festhalten müssen — über längere Zeit unberücksichtigt zu lassen.Eines steht fest: Bis zum 10. Dezember 1991 war die Ware Europa als Thema nicht an den Mann zu bringen, abgesehen von der anfänglichen Europabegeisterung nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst nach dem 10. Dezember 1991 und den kritischen Einwendungen einiger unserer Kollegen aus allen politischen Lagern ist es dazu gekommen, daß wir insgesamt eineAufmerksamkeit vorfinden, für die wir letztendlich dankbar sind, weil uns diese Diskussion in den nächsten 20, 30 Jahren begleiten wird.Wenn ich höre, „ja zu Europa und nein zu Maastricht", dann kommt mir das so vor, als ob jemand erklären würde: Ich bin für die Fortbewegung, aber ich sage nein zu jedem Gerät, das mir dabei hilft. Das ist die Entscheidung, die hier getroffen wird. Für die Fortbewegung sind wir alle. Es ist Unfug, das zu bestreiten. Die wesentliche Frage ist: Wie komme ich weiter? Welches Vehikel ich nehme, ist. streckenbedingt. Streckenbedingt heißt, daß die Entwicklung in den nächsten Jahren offenbleiben wird.Man kann zwar darüber streiten, ob es sinnvoll war, im Rahmen der Interpretation zu sagen: Durch die Bedingungen der Währungsunion haben wir unumkehrbare Vorgaben, und bezüglich der Politischen Union haben wir alles offengelassen. Aber ich persönlich bin der Meinung, eine Zielvorgabe, die am Ende bindend ist, strukturiert den Weg. Im Gegensatz zu meiner Überzeugung von vor zehn Monaten bin ich jetzt der Ansicht, daß es richtig war, in der Politischen Union nichts festzulegen und letztlich alles offenzulassen.Herr Bundesaußenminister, ich glaube, es ist ganz bedeutsam, daß Sie und die Kollegen aus den Ministerräten, auch die Ländervertreter, in den nächsten fünf Jahren viel Gestaltungsraum bei dem vorfinden, was die Politische Union am Ende ausmacht.Es gibt eigentlich vier Bestandteile des Vertrages. Das ist zum einen die Zeitschiene, die mit der Demokratisierung gekoppelt ist. Ich warne auch den Bundestag davor, dem Europäischen Parlament Kompetenzen dort zuzugestehen, wo im Augenblick alle Aufgaben noch beim nationalen Parlament oder bei den Länderparlamenten liegen.
Es macht keinen Sinn, zu beklagen, daß wir bei einer Fülle von Themen unnötigerweise Kompetenzen nach Brüssel gegeben haben. Es macht keinen Sinn, in der öffentlichen Diskussion alle diejenigen, die kritisieren, was falsch ist, ständig an der Krawatte zu packen, vorzuführen und zu sagen: Ihr seid auf dem falschen Dampfer, wir wollen etwas ganz anderes, und gleichzeitig in derselben Debatte zu erklären, das alles — die Bananenverordnung, die Regelungen zu den Traktorsitzen und zu den Karamellbonbons; ob sie nun alle gelten oder nicht, ist völlig gleichgültig — müsse in die Zuständigkeit des Europäischen Parlaments gegeben werden. Alle diese Verordnungen haben dort eigentlich nie etwas zu suchen gehabt, Herr Kollege Conradi. Wenn das in der Zukunft anders werden soll, muß ich einfordern, daß die Kompetenz zurückkommt, und gleichzeitig festschreiben: Sie bleibt parlamentarisch bei mir und hat nirgendwo anders etwas verloren.
— Herr Conradi, das habe ich nie bestritten. Nur, dieTatsache, daß wir gemeinsam feststellen, daß wirselbst Fehler gemacht haben, hindert uns doch nicht,
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Staatsminister Dr. Thomas Goppelklüger zu werden. Diesen Satz von Adenauer sollten wir gemeinsam berücksichtigen. Sie haben ihn heute schon ein paarmal zurückgewiesen und gesagt: Adenauer muß nicht herangezogen werden. Aber an dieser Stelle wäre es prima, wenn wir beide sagten: Klüger zu werden, darf man nie gehindert sein. Denn das würde uns sonst von der Mehrzahl negativ quittiert werden.
— Nein, ich bin nicht gegen die gemeinsame Handelspolitik, aber ich bin dagegen, daß wir hier gegenüber der Bevölkerung jede einzelne Kleinigkeit kritisieren und anschließend erklären: Das ist aber ein Fehler von Europa. Wenn wir seine Zuständigkeit nicht wollen, holen wir die Kompetenzen zurück. Aber wenn wir uns einig sind, daß wir das wollen, bitte hin damit!
Aber dann darf man die Kritik nicht so weiterführen wie jetzt. Im Moment sitze ich jeden Abend mit Ihnen im Publikum, und das Publikum erklärt mir am laufenden Band: Was soll ich mit dem Goppel diskutieren? Er hat unnötigerweise alles weggegeben. Wenn wir nicht gemeinschaftlich begründen können, warum etwas in Europa geregelt werden muß, dann will ich es wiederhaben, egal, auf welcher Ebene.
Ich meine, als zweites sollten wir gemeinsam dem Bundestag helfen, seine unnötig weggebenen Kompetenzen bei sich zu bewahren, zu gestalten und gleichzeitig das, was bis auf die Länder durchgreift, so zu ordnen, daß wir im Innenverhältnis mit den Themen zurechtkommen.
Dazu möchte ich ausdrücklich sagen: Ich bin für den Art. 23 dankbar, weil er dafür sorgt, daß wir, Länder und Bund, endlich ein Innenverhältnis zueinander bekommen, und daß es aufhört, sich immer nur gegenseitig zu beäugen, wer wem was nimmt. Vielmehr sollte man wissen, wohin etwas gehört, und dabei eine offensive Diskussion im Sinne des Haussmannschen kooperativen Föderalismus führen.Ich habe gesagt, neben der Zeitschiene gibt es drei andere Bestandteile des Vertrages: Es gibt den Währungsschwur wie bei Tell den Rütli-Schwur, der — wenn Sie die Geschichte weiterverfolgen — am Ende offenbleibt und nicht endgültig ausgeformt wird. Ich sage dazu immer: Die Währungsunion ist zwar ausformuliert, aber ob sie am Ende noch zusätzlich weiteren Bedingungen unterliegt — das muß keine Korrektur sein —, sollten wir in Ruhe an Hand der politischen Entwicklungen der Gemeinschaft bereden. Wir wissen doch noch nicht, ob die Bedingungen, die zu unserer Deutschen Mark in ihrer heutigen Qualität geführt haben, in Europa politisch dublierbar sind, ob da eine Dublette möglich ist. Wenn die politischen Verhältnisse nicht hergestellt werden können, wenn sie besser oder schlechter werden, wird die Währungsunion mehr Stabilität im Kreuz brauchen.An dieser Stelle ist das eine vom anderen abhängig. So wird es möglich sein, daß wir 1997 oder 1999 unter Umständen ganz andere Konditionen haben.Herr Bundesfinanzminister, ich habe heute früh ganz aufmerksam gehört, daß Sie gesagt haben, am Ende sollte so etwas wie eine Euro-Mark stehen. Ich finde, so etwas kann den Bürger beruhigen, weil er merkt: Von der nationalen Identität soll nichts flöten gehen. Es war ganz wichtig, daß man das draußen in 30 Millionen Haushalten hören konnte.Weiterhin haben wir in den nächsten Jahren in der Fortentwicklung dieser Thematik neben der EuroMark noch die Diskussion darüber, wie wir in die nächsten Jahre hinein unsere gestalterischen Möglichkeiten bis hin zum Parlamentsvorbehalt nutzen.
Herr Goppel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waigel?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.
Herr Abgeordneter.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich die Euro-Mark für Deutschland gut fände, aber selbstverständlich auch das Euro-Pfund für Großbritannien, den Euro-Franc für Frankreich oder den Euro-Gulden für Holland, um hier Mißverständnisse auszuräumen, die bei unseren europäischen Partnern und Freunden vielleicht entstehen könnten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Waigel, selbstverständlich kann die Formulierung, die gewählt worden ist, auch die Jahre des Übergangs betreffen, in denen wir zueinander finden. Wesentlich ist, daß der deutsche Bürger nicht das Gefühl haben muß, daß er innerhalb von wenigen Monaten seine ganze Hosentaschenidentität — so nenne ich sie einmal, weil sie mir nicht reicht — aufgeben muß; es müßte etwas mehr dazukommen.
— Gnädige Frau, wenn Sie nicht auch dauernd Hosen an hätten, wie ich es beobachtet habe, würde ich das nicht für möglich halten. Dann ist die Gleichberechtigung ja gewahrt.
Herr Staatsminister, Herr Abgeordneter Waigel hat den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Würden Sie ihm diese ebenfalls gewähren?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Abgeordneter Waigel darf immer fragen.
Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich damit nicht eine Diskussion über Hosentaschenmentalität entfalten wollte, sondern nur vielleicht mißverständliche Besorgnisse auf Grund meiner Bemerkung ausräumen wollte, und daß ich insofern Ihre Rede mißbraucht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9363
Dr. Theodor Waigelhabe, um dies in diesem Parlament noch einmal darzustellen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diese Frage bedarf wohl keiner Beantwortung. Insoweit bitte ich Sie, sich wieder hinzusetzen.
Die Frage war deshalb nach unserer Geschäftsordnung eigentlich auch nicht zulässig. Sie dürfen fortfahren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber das wird ja nicht auf meine Zeit angerechnet, Frau Präsidentin.
— Ich bin bis jetzt noch nie, wenn ich hier gewesen bin, gleich wieder fortgegangen; das werden Sie schon festgestellt haben.
Darf ich zum Ende kommen, weil auch die Zeit um ist. Wir haben vier Positionen, die wir in den nächsten Jahren gemeinsam berücksichtigen müssen. Das ist zum einen die Angst um das Geld, die unsere Bürger haben. Da hilft das, was wir eben gemeinsam, Herr Bundesfinanzminister, kurz interpretiert haben.
Da gibt es die Angst um die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Ich bin dankbar, Herr Bundesaußenminister, für die Festlegungen, die Sie bei den Diskussionen der letzten Wochen auch in der Türkei getroffen haben. Sie haben den Menschen klargemacht, wann jemand in die Europäische Gemeinschaft hineinkommen kann und daß es im Hintergrund schon so etwas wie eine europäische Verfassung gibt, selbst wenn wir sie nicht formuliert haben. Da übrigens beginnt für mich überhaupt erst die Diskussion, ob es neue Identitäten gibt oder nicht. Zuvor ist gemeinschaftlich anzuerkennen, daß wir gemeinsame Ziele in Europa haben.
Zum dritten gibt es die Angst um die Souveränität. Da haben Subsidiarität und der Regionalausschuß eine ganze Menge bewirkt. Der Dank richtet sich an die Länder und speziell auch ein bißchen an das eigene Haus, daß wir in einer Zeit nicht nachgegeben haben, in der die Mehrzahl auch von Ihrer Seite gesagt hat: Das können wir vergessen; das kommt sicher nicht in Frage. Es hat weniger Monate bedurft, das durchzusetzen, und ich bin glücklich darüber.
Schließlich gibt es die Angst vor der Überfremdung. Sie spielt eine Rolle auch bei der Frage, wie wir auf Europa zugehen. Wir müssen die kritischen Fragen unserer Tage, wie die Frage nach der Asyl- und Einwanderungspolitik, unseren Bürgern in der Weise nahebringen, daß es leichter ist, innerhalb Europas mit einem Problem fertig zu werden, als wenn wir allein gelassen sind. Wenn wir an dieser Stelle mit einem neuen Ansatz vielleicht auch gemeinsam rascher zu Lösungen kommen können, dann hätte Europa seinen Dienst allerbestens getan.
Nun erteile ich das Wort dem Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Sachsen-Anhalt, Herrn HansJürgen Kaesler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Beratung geht uns Länder ganz besonders an. In der am 16. Juli dieses Jahres beschlossenen Verfassung meines Landes heißt es:Sachsen-Anhalt ist Teil der europäischen Völkergemeinschaft.Mit der Wiedervereinigung sind wir in den fünf neuen Bundesländern sofort in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eingeliedert worden. Unsere feste Einbettung in die EG ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß das Werk — das sage ich mit großem Nachdruck — der inneren Einheit Deutschlands gelingt. Wir brauchen Europa. Unsere Bürger müssen den Nutzen Europas in ihrem täglichen Leben spüren. Sie müssen am europäischen Einigungsprozeß durch Information und Mitsprache beteiligt werden. Daran hat es zweifellos im vergangenen Jahr gefehlt. Aus dieser Einsicht müssen wir lernen.Der Maastrichter Vertrag ist ein komplizierter Interessenausgleich zwischen 12 Staaten; er enthält bemerkenswerte Fortschritte, sicherlich aber auch Mängel und Lücken. So hätten wir uns mehr demokratische Kontrolle gewünscht. Die Bundesregierung hat sich in diesem Sinne für mehr Befugnisse des Europäischen Parlaments eingesetzt; doch die überwiegende Mehrheit der 12 hat sich dem bisher leider noch verschlossen. Mein Land stimmt gleichwohl dem Vertrag insgesamt zu, weil damit die Integration Europas auf wichtigen Gebieten vorankommt.Einige neue Institutionen wie beispielsweise die geplante Unionsbürgerschaft, der Ausschuß der Regionen und der Bürgerbeauftragte stellen erste bedeutsame Schritte in Richtung auf ein bürgernahes Europa dar. Das Subsidiaritätsprinzip, über das hier schon viel gesprochen worden ist, ist zudem der entscheidende Einstieg in ein Europa, das sich weg von Zentralismus und Bürokratie zur „Basis" der Bürger und der Regionen hinwendet.Nun bedarf dieser Grundsatz der konkreten Ausfüllung; daran werden wir uns aktiv beteiligen. Mein Land kann dem Maastrichter Vertrag auch deshalb zustimmen, weil der neue Europa-Artikel 23 die Mitwirkung der Länder im Grundgesetz verankert. Dieses Recht auf Mitwirkung werden die Länder in vollem Bewußtsein ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung aktiv ausüben.Meine Damen und Herren, Sie können sich darauf verlassen: Wir sind für einen vorwärtsgewandten, kooperativen Föderalismus und werden danach auch in Sachen Europa handeln. Wir unterstützen alle Initiativen für die schnelle Ratifizierung des Maastrichter Vertrages.Dabei kann — wie schon oft in der Vergangenheit — die deutsch-französische Zusammenarbeit der Motor sein. Doch die deutsch-französische Freundschaft ist auch in diesem Fall, so hat es Präsident Pompidou einmal ausgedrückt, „ exemplaire ", nicht „exclusive". Wir wollen die Völker aller Mitgliedstaaten in die
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9364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Minister Hans-Jürgen Kaesler Fortentwicklung der Gemeinschaft einbeziehen. Nur ein Europa, das sich auf die breite Zustimmung der Menschen in allen 12 EG-Staaten stützt, wird auf Dauer Bestand haben.Die Bürger meines Landes bekennen sich eindeutig zum gemeinsamen Europa. Sie haben vielfach davon profitiert. Ich erinnere an den Strukturfonds. Mein Land hat nennenswerte Finanzhilfen daraus bekommen, und wir erwarten für die Zukunft erhebliche Steigerungen. Für die Einordnung der neuen Länder in die höchste Förderkategorie der sogenannten Ziel1-Gebiete sind wir dankbar. Wir wollen eine Gleichbehandlung mit den anderen weniger entwickelten Regionen Europas, nicht mehr, aber auch nicht weniger.Wir brauchen die Solidarität aus Brüssel ebenso wie die vom Bund, aber auch Ihre Solidarität, meine Damen und Herren.Die bevorstehende Vollendung des Binnenmarktes, mehr aber noch die kommende Wirtschafts- und Währungsunion setzen unsere Wirtschaft dem europaweiten Wettbewerb weitgehend ungeschützt aus. Länder wie Spanien und Portugal konnten sich beinahe acht Jahre lang auf den Binnenmarkt vorbereiten; wir in den neuen Ländern haben dagegen kaum zwei Jahre dafür Zeit gehabt.Meine Damen und Herren! Jacques Delors hat sich im Juni 1991 bei elnem Besuch in Bitterfeld unmittelbar von der schwierigen Lage unseres Landes überzeugt. Wir vertrauen darauf, daß auch in Zukunft die EG-Zentrale nicht fern von uns entscheidet, sondern im ständigen, offenen Dialog mit uns die Belange unserer Bürger voll berücksichtigt.Heute sagen wir ja zu Maastricht und zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum. Maastricht ist ein Meilenstein im Einigungsprozeß Europas, aber gewiß nicht sein Abschluß. Maastricht ist aber auch die Perspektive und Hoffnung für unsere osteuropäischen Nachbarn, die wir nicht enttäuschen dürfen. Die neuen Bundesländer haben in dem komplizierten Prozeß der Einbeziehung Osteuropas in die europäische Einigung eine Brückenfunktion. Dazu brauchen wir auch Maastricht.Die für 1996 festgelegte Revisionskonferenz wird eine Leistungsbilanz ziehen und die dann nötigen Nachbesserungen im Sinne eines bürgernahen, demokratischen Europas beschließen.Sachsen-Anhalt wird den Weg zur Politischen Union Schritt für Schritt begleiten, als engagierter Sachwalter der berechtigten Interessen unserer Bürger. Denn Europa wird nur dann eine Zukunft haben, wenn unsere Bürger erkennen: Europa, das sind wir selbst.Ich danke Ihnen.
Nun hat der Abgeordnete Wolfgang Roth das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Ihnen — jedenfalls denjenigen, die für Maastricht sind — ist es genauso wie mir ergangen: Der Sonntag der Entscheidung in Frankreich ist mir tief in die Glieder gefahren, als ich das Ergebnis hörte, wenn ich bedenke, mit wie wenigen Stimmen eine historische Entscheidung so oder so gefällt worden ist. Nach diesem Ereignis sollte man im deutschen Parlament zumindest danach fragen: Was hat dazu geführt, daß eine derartige Unlust, ein derartiger Widerstand und eine derartige Abneigung gegen das EG-Europa inzwischen entstanden sind? Welches sind die Ursachen? Ist es wirklich das eine oder andere im Maastrichter Vertrag? Sind es Fehler? Natürlich gibt es Schwächen, Unzulänglichkeiten; es gibt sogar Widersprüche, auch in der Frage der Währungsunion. Es gibt auch Auslassungen in diesem Vertrag.Bei alledem muß man aber natürlich bekennen, daß der Vertrag ein Kompromiß zwischen 12 Staaten ist. Wenn man genau bewertet, was nach vorn gegangen ist, ist der Vertrag ein großer Fortschritt. So jedenfalls empfinde ich das.
Wenn ich das aber gesagt habe, bin ich um so selbstkritischer in der Frage, warum ich das den Bürgerinnen und Bürgern und unseren Wählern gar nicht verdeutlichen kann. Wo ist eigentlich der Engpaß, der in der Kommunikation zwischen uns und unseren Wählerinnen und Wählern in der Europafrage besteht?Herr Goppel hat gerade das Thema „Währungsunion und Hosentaschenmentalität" angesprochen. Das mag eine Rolle spielen. Es gibt Leute, die sagen, die Deutschen lieben die Mark mehr als ihre Frau.
Daran ist manchmal auch etwas. Das kann aber doch nicht die Sache sein. Wir alle in der Bundesrepublik Deutschland wissen, daß die Integration der Gemeinschaft und der gemeinsame Markt ein unglaublicher wirtschafticher Erfolg gewesen sind. Ich möchte die Frage stellen: Was wäre 1973/74 und 1980/81 in Europa passiert, als die beiden tiefgreifenden Ölpreiskrisen und weltweiten Wirtschaftskrisen stattfanden, wenn wir Europäer nicht zusammen gehandelt hätten, sondern eine „beggar my neighbour"-Politik, ein Berauben des Nachbarn betrieben hätten, wie wir es in der Weimarer Republik hatten? Wer ein bißchen nachdenkt, wer historische Kenntnisse hat, weiß, welche ungeheure historische Bedeutung diese Europäische Gemeinschaft gehabt hat, um tiefe Wirtschaftskrisen abzuhalten.
Hier bleibt wieder die Frage: Warum vermitteln wir diesen großen Erfolg von Europa überhaupt nicht mehr? Warum können Demagogen, über die Herr Goppel natürlich nicht reden wollte, wie Herr Gau-
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Wolfgang Rothweiler mit diesem blöden Begriff „Esperantogeld" soviel Stimmung erzeugen?
— Das ist wirklich schlimm. Abgesehen davon hatte Esperanto eine grandiose Utopie, egal, ob das so richtig war. Nationale Sprachen sind sicherlich besser als Esperanto. Daß es aber so gelingt, einen historischen Prozeß so leicht zu diffamieren, ist doch eine Frage.Dasselbe gilt auch bezogen auf unser deutschdeutsches Thema. So wird inzwischen behauptet, man könne die neue Bundesrepublik Deutschland, also die fünf neuen Länder im Osten in die alten Länder im Westen, ohne Europa und die Belastungen aus Europa besser integrieren. Dabei ist das Wort vom „Zahlmeister Europas" immer sehr nahe.Meine Damen und Herren! Wenn wir nicht die Hilfe unserer westlichen Partner und auch die großen Märkte mit 320 Millionen Menschen in Europa haben, dann schaffen wir die Aufgabe, den Osten zu integrieren, viel schwerer und zäher, als das jetzt der Fall ist.
Unsereiner wird leicht abgehakt unter dem Thema: Das sind die ökonomischen Technokraten, für die Wirtschaftswachstum, Produktivität und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft die absolute Priorität haben. Das ist bei mir überhaupt nicht der Fall. Auch beim Thema Ökologie ist das wirklich eine Überlebensfrage.Wer kann Antworten auf die dramatischen ökologischen Fragen finden, ohne daß sich die großen westeuropäischen Industrienationen zäh, aber doch allmählich verkoppeln?
Vor zehn, fünfzehn Jahren hat ein französischer Parlamentarier, wenn wir über Ökologie geredet haben, nur Bahnhof oder Vorortbahnhof verstanden. Wir mußten sie mühsam überzeugen, daß das eine Aufgabe der Zukunft ist. Ich habe — angeregt durch meinen Kollegen Gautier, d. h. auf einen gewissen Druck dieses Kollegen hin; er hält es ja nun wirklich mit dem Lesen — das neue Papier der Europäischen Gemeinschaft zur Umweltfrage gelesen. Ich kann nur sagen: vorzüglich! Das ist ein Dokument, das in die Zukunft weist; es ist ein Dokument, das auch hilfreich für unsere Diskussion ist. Da reden die Leute, übrigens gerade Ökogruppen bei uns, so, als sei der Hauptfeind Europas, was die Ökologie anbetrifft, die Europäische Gemeinschaft. Das ist blanker Unfug. Die EG ist unsere einzige Chance, die Probleme zu bewältigen.
Es bleiben dann immer noch die Fragen, die ich am Anfang gestellt habe: Warum geht es im Bewußtsein der Menschen nicht vorwärts? Insofern sehe ich eben ein gewaltiges Defizit, Herr Abgeordneter Conradi. Ich kenne Ihre Meinung zu Europa. Das gewaltige Defizit ist die mangelnde Öffentlichkeit und die fehlende Verfassung. Das, was Herr Goppel angesprochen hat, ist doch richtig. Da mischen sich plötzlich Bürokraten in geheimen Dienstbesprechungen über zwei, drei Jahre in ein Thema ein, das wir im Grunde gut national lösen können oder das wir sogar den Bundesländern überlassen können.Typisch ist ja die Frage der Medienpolitik. In Brüssel wird eine Medien-Richtlinie vorbereitet, und wir in Deutschland dürfen — vielleicht zum Leidwesen vieler Bundespolitiker, nicht zu meinem — den Ländern in der Medienfrage nicht hineinreden. Ich halte das für eine gute Entscheidung. Ich halte es auch für gut, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland eine Schulpolitik mit Wettbewerbselementen zwischen Ländern haben.
Auf diese Weise herrscht in unserem Bildungswesen nicht die Stagnation vor, die anderswo zu verzeichnen ist, beispielsweise in den USA. Aber all dies verlangt im Grunde doch nach einer Verfassung in Europa.
Maastricht ist keine Verfassung. Maastricht ist ein Kompromiß von 12 Staaten.
Insofern wird der gesamte europäische Entscheidungsprozeß den Bürgerinnen und Bürgern gar nicht mehr verständlich; sie können das gar nicht mehr einsehen.Deshalb sollte im Bundestag, glaube ich, über die engeren ökonomischen, währungspolitischen Fragen hinaus noch ein Wort zu der Zeit nach Maastricht gesagt werden. Meines Erachtens brauchen wir eine verfassunggebende Versammlung in Europa,
bei dem das Europäische Parlament oder die direkt gewählten Europa-Abgeordneten einen Anteil und die nationalen Parlamente den anderen Anteil stellen. Das wäre ein Prozeß, der allmählich wieder zu mehr Transparenz, zu mehr Beteiligung und auch zu Auseinandersetzungen quer durch alle Gruppen, Parteien und Nationen führen könnte.Es ist ja so: Wenn man bei den Debatten in den Fraktionen des Europa-Parlaments zuhört, dann merkt man sehr, sehr schnell, daß die Renationalisierung — von der Banane bis zur Norm für irgendein Hausgerät — schnell vonstatten geht. Das ist ja auch voll verständlich. Eine verfassunggebende Versammlung könnte da Abhilfe schaffen.Meine abschließenden Bemerkungen beziehen sich auf das Thema Währungsunion. Ich weiß ja, wer verhandelt hat. Der Herr Bundesfinanzminister hat verhandelt, der Herr Pöhl hat damals verhandelt, und
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Wolfgang Rothder Bundeswirtschaftsminister und der Bundeskanzler haben verhandelt. Ich stehe hier nicht an, zu sagen, daß ich diesen Teil des Maastrichter Vertrages für einen großen Erfolg halte.
Ich hätte vor zwei Jahren nicht zu hoffen gewagt, daß wir eine unabhängige, autonome europäische Notenbank bekommen würden. Das hätte ich nicht erwartet. Das ist ein großer Erfolg. Ich danke auch dem früheren Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Karl Otto Pöhl, daß er in dieser Frage hart geblieben ist. Wir wissen ja auch, daß da ein Tauziehen stattgefunden hat, und zwar auf der europäischen Ebene. Das war ein großer Fortschritt.Aber ich muß sagen: Mit einem anderen Element des Maastrichter Vertrages bin ich überhaupt nicht einverstanden. Ich bin nicht damit einverstanden, daß wir als Bundesparlament oder die Europa-Parlamentarier — egal, ob die in Straßburg oder die in den Hauptstädten — überhaupt nicht an der Beantwortung der Frage beteiligt werden sollen, ob jetzt die Stabilität erreicht ist, die die Menschen mit Blick auf die Währungsunion erwarten. Wir können doch keinen Automatismus hinnehmen. Darm wird uminterpretiert. Ich kann mir schon vorstellen, wie eine Regierung — ich will das Land nicht nennen — auf sein Statistisches Amt einwirkt, damit die Zahlen auch stimmen. Stichwort: Euro-Statistik. Ich will das Land nicht nennen. Aber ich kann mir das gut vorstellen.
Das heißt: Wenn die D-Mark abgeschafft wird, schlägt die Stunde des Parlaments.
Ich sage: Wir können das so nennen, wie der Herr Bundesfinanzminister es genannt hat. Ich bin sehr dafür. Eine Identifikation mit dem Begriff hat seine Bedeutung. Wenn die Deutschen die gemeinsame Währung Euro-Mark und die anderen sie Euro-Franken nennen, dann ist das in Ordnung. Nur, in Wahrheit ist es natürlich eine Währung.Wenn diese einheitliche Währung da ist, brauchen wir nicht nur formale Entscheidungskriterien, sondern wir brauchen zu diesem Zeitpunkt auch das Vertrauen der Menschen. Die Währungsreform 1948 hat gezeigt, daß Währungen vom Vertrauen der Menschen leben. Genau an dieser Stelle weist der Vertrag eine Schwäche auf. Hier sollten wir kraftvoll und selbstbewußt nachbessern.
Meine Damen und Herren, ich habe eine letzte Bitte in Richtung Regierung, aber sie richtet sich eigentlich an alle Betroffenen. Es herrscht ja eine eigenartige Mentalität in nationalen Regierungen und Parlamenten vor. Wenn irgend etwas nicht ganz so hinhaut, wie man es ursprünglich vorhatte, schauen sehr viele nach Brüssel und gucken, ob sie nicht ein Alibi oder eine Ausrede finden können, warum die Bürokraten in Brüssel schuld sind.
Das ist unaufrichtig. Ich meine — das ist die Antwort auf meine Frage, warum die Stimmung so schlecht ist, obgleich die Lage weit besser ist —, wir selbst haben mit Sprüchen wie „Zahlmeister Europas" und „Eurokraten" mitgeholfen — egal wer; ich kenne viele —, daß dieser Euromuff entstanden ist. Ich bin der Auffassung, das muß aufhören.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Hans Stercken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Vertrag über die Europäische Union wird der mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft eingeleitete Prozeß der Integration auf eine neue Stufe gehoben. So nimmt es die Präambel des Vertrages für sich in Anspruch.Die Grundlage des Vertrages sind die Römischen Verträge vom 25. März 1957, an deren Zielsetzung ich heute erinnern möchte. Wir alle haben — so habe ich es bisher empfunden — einen speziellen Beitrag in diese Debatte eingebracht. Ich finde, daß sich auf Grund dieser Originalität und teilweise auch Kreativität eine gute Arbeit in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages anschließen kann.
Eine Erinnerung an die Zielsetzung der Römischen Verträge scheint mir auch deshalb dringend erforderlich, weil die Wahrung von Interessen und die strittige Erörterung von Sachfragen immer mehr den Blick dafür verstellen, daß bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bereits die Erwartung im Vordergrund stand, ein gemeinsamer Erfolg auf ökonomischem Gebiet würde eine schnellere Entfaltung gemeinsamer politischer Interessen erleichtern.Von wirtschaftlicher Integration also erwartete man eine wesentliche Erleichterung bei der Harmonisierung gemeinsamer politischer Interessen.Man sprach in der Präambel des Vertrages davon, daß der Zusammenschluß Frieden und Freiheit wahre und festige und daß er eine Aufforderung an die anderen Völker Europas war, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekannten, sich diesen Bestrebungen anzuschließen. Das stammt aus der Präambel der Römischen Verträge. So also war bereits die Vision von Europa.Nach 35 Jahren sind wir dabei, etwas zu vollziehen, was wir längst beschlossen hatten. Die europäische Öffentlichkeit hatte dies damals mit Enthusiasmus aufgenommen: Endlich war ein Weg gewiesen, die j ahrhundertelangen europäischen Bruderkriege durch ein neues Konzept transnationaler Politik abzulösen. So haben wir das damals empfunden, weil uns noch die erlebte Erinnerung an einen unmenschlichen Krieg gefangenhielt und weil wir daher die neue Politik europäischer Zusammenarbeit als eine Erlösung empfunden haben.Ich mache mir heute Sorgen, der Geschichtsunterricht an vielen deutschen Schulen könnte unsere
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Dr. Hans SterckenJugend nicht so problembewußt gemacht haben, daß sie diese neue Politik als etwas Außergewöhnliches empfindet. Für mich bleibt dies ein einmaliger historischer Wandel, der morgen nicht daran scheitern darf, daß seine Bedeutung heute nicht mehr erkannt wird. •Diese Überlegungen legen es nahe, den Prozeß nicht weiter hinauszuzögern, bis sein historischer Ursprung nicht mehr erfaßt und nur noch nach pragmatischen Rezepturen verfahren wird. Auch diese Überlegung gibt Anlaß, den Zeitplan von Maastricht strikt einzuhalten.Mit der Zeit also könnte vergessen werden, welche Ziele wir einst mit dem Abschluß der Römischen Verträge verbunden haben. Von der immer wieder beschworenen Wertegemeinschaft war in der kritischen Debatte über den Vertrag am 7. Februar dieses Jahres wenig zu hören. Im Vordergrund standen rein merkantile Indikationen, die mit den ethischen Zielen nichts mehr zu tun hatten, die selbst einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zugrunde liegen.Das gemeinsame wirtschaftliche Handeln hatte besonders den sozialen Frieden der Mitgliedsländer fördern sollen. Als wesentliches Ziel bezeichnete man die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen der Völker. Es ist also alles gar nicht so wahnsinnig neu, was wir heute anmahnen. Eine neue Solidarität sollte sich durch einen Finanzausgleich zwischen den Ländern entwickeln. Einen vergleichbaren Grundsatz der weltweiten Solidarität führte man in bezug auf die überseeischen Länder ein. Selbst der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft gab diesem neuen Solidaritätsgefühl Ausdruck und wollte Sicherheit schaffen, um Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Völker auszuschließen.Es wäre verhängnisvoll, wenn das Gefühl für die historische und ethische Grundlage der Europapolitik verlorenginge. Dies war einmal das Kernstück, und das muß so bleiben, denn der freie Handel soll die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen stärken, nicht allein seinen Wohlstand.
Nur diese Perspektive gibt uns auch das Recht, von einer Wertegemeinschaft zu sprechen, die wir heute um so stärker beleben sollten, als der dialektische Materialismus kläglich gescheitert ist, weil sich diese Ideologie eben nicht auf solche Wertvorstellungen gründete. Das Bewußtsein dieser ethischen Perspektiven der Europäischen Gemeinschaft ist von Erörterungen verdrängt worden, die eher politischen Manipulationen als einer sachlichen Erläuterung dienten.Der Zorn französischer Bauern über den Vertrag von Maastricht war wirklich schwer zu verstehen, denn das Wort Landwirtschaft kommt im Vertrag überhaupt nicht vor. Das hatte die Funktionäre nicht daran gehindert, die Bürger zu entmündigen. Dänemark rettet die D-Mark, schrieb eine deutsche Boulevardzeitung. Natürlich weiß der Redakteur — ich sage dies als Journalist —, daß das nicht stimmt. Aber es regt die Leute so herrlich auf. Auch Politik ist ebenUnterhaltung geworden. Das ist, meine ich, kein Meisterstück journalistischer Verantwortung!
Wie erfreulich ist demgegenüber die Entscheidung unserer Schweizer Nachbarn für den Alpentransit — ein gutes Omen übrigens für den baldigen Entscheid über den EWR-Beitritt. Die kostenträchtige Entscheidung der Eidgenossen für alle europäischen Nachbarn, von der Millionen in Nord und Süd Gebrauch machen werden, konnte man allenfalls in den vermischten Nachrichten deutscher Gazetten lesen. Wir sollten, meine ich, den Schweizern für diese europäische Entscheidung danken. Das EWR-Ausführungsgesetz verdient unsere Zustimmung.
Ein Wort zu den teilweise vermeidbaren Auseinandersetzungen mit unseren britischen Freunden. Die Politik ist viel zu ernst, als daß man sie aufgeregten Karikaturisten überlassen darf. Hier ist nicht Politik beschrieben, sondern Politik gemacht worden. Dafür wählen die Völker, wenn ich es richtig sehe, Parlamente und Regierungen, und die haben die Absicht, diese Turbulenzen möglichst schnell zu überwinden, damit Großbritannien ein willkommenes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft bleibt. So sehr seine Traditionen auch nachwirken, glaube ich doch an eine weitere Zuwendung zum europäischen Kontinent, wenn wir diesen Prozeß verständnisvoll erleichtern. Das setzt allerdings voraus, daß auch auf dem Kontinent an einer überzeugenden transatlantischen Politik festgehalten wird, die die Grundlage unserer Sicherheit bleibt.Ich empfehle eine beherzte Zustimmung zu den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfen, die wir nun zügig in den Ausschüssen beraten wollen. Heute sollte aber schon von dieser Debatte ein Signal ausgehen, daß wir an unserer grundsätzlichen Haltung keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese Debatte, meine ich, hat das geleistet. Die große Mehrheit des Deutschen Bundestages hätte gerne einem Vertragswerk zugestimmt, das vielen weitergehenden deutschen Wünschen Rechnung getragen hätte. Sie wird dies auch weiter einfordern. Aber sie wird dem Vertrag zustimmen, weil sie sein Ziel billigt.
Nun hat die Kollegin Dr. Cornelia von Teichman das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch nie war es so wichtig wie heute, daß der Deutsche Bundestag in großer Einmütigkeit der demokratischen Parteien sein unbeirrtes Festhalten an der Idee der europäischen Einigung bekundet. Wichtig ist dies nach innen und nach außen. Nach außen: Selten stand Deutschland seit dem Ende des Nazi-Regimes so im Zentrum internationalen Argwohns und internationaler Kritik wie in diesen Wochen. Dazu haben die verbrecherischen Ausschreitungen gegen Ausländer ebenso bei-
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Dr. Cornelia von Teichmangetragen wie die von vielen als unzureichend empfundene Reaktion der Polizei und — lassen Sie uns das selbstkritisch feststellen — auch der Politik auf diese Ausschreitungen. Mancherlei Ungeschicklichkeiten zwischen Frankfurt am Main und Peenemünde haben ebenfalls dazu beigetragen.In dieser Situation gilt es ein Zeichen zu setzen. Das vereinte Deutschland ist nicht nationalistisch; es ist europabezogen. Die deutsche Einheit ist Teil der europäischen Einheit. Deutschland will nichts anderes sein als ein gleichberechtigtes Mitglied dieser Gemeinschaft und einer zukünftigen Europäischen Union.Deutschland ist bereit, Souveränitätsrechte auf diese Gemeinschaft, diese Union, zu übertragen, so wie unser Grundgesetz dies seit eh und je vorsieht. Deutschland hält unverbrüchlich an dem Gedanken der europäischen Integration fest.Es gibt keinen besseren Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage, als unser klares und unzweideutiges Ja zum Vertragswerk von Maastricht.
Dieses Vertragswerk hat seine Unvollkommenheiten; daran kann es gar keinen Zweifel geben. Wie sollte es auch anders sein bei einem Vertrag, der die Interessen von zwölf Staaten ausgleichen soll, zwischen Potsdam und Porto, zwischen Catania und Cork. Aber alle diese Unvollkommenheiten wiegen gering gegenüber dem Fortschritt, den Maastricht bringt, beispielsweise bei der Wirtschafts- und Währungsunion, bei dem Ansatz einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik, beim europäischen Kommunalwahlrecht und beim Einstieg in die gemeinsame Innen- und Rechtspolitik — ich nenne hier nur Europol.Hinzu kommt die politische Signalwirkung, die von einem klaren Votum für Maastricht ausgehen wird, und dieses ist angesichts der Zweifel einiger Nachbarn um so wichtiger.Signalwirkung ist aber auch nach innen erforderlich. In manchen deutschen Medien scheint es modern geworden zu sein, Europamüdigkeit zu propagieren. Da sind dann auch immer schnell die Umfrageergebnisse zur Hand, die das angeblich untermauern. Nur, leider erfährt man selten, wie viele Menschen überhaupt befragt wurden, wie sie ausgewählt wurden und — das ist ganz entscheidend — wie die Frage lautete.Ich glaube nicht an diese grundsätzliche Europamüdigkeit, und ich finde es, gelinde gesagt, fragwürdig, wenn Politiker sofort versuchen, ein solches scheinbares Lüftchen in ihre Segel zu leiten, und dafür in hemmungslosen Populismus verfallen. Populismus gehört auch zum Thema Politikverdrossenheit, und wer sich als Politiker so opportunistisch verhält, der verspielt noch den Rest an Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit in der Politik bedeutet auch, an einem als richtig erkannten Ziel festzuhalten, auch wenn einem der Wind ins Gesicht bläst.
Das gilt in der Europapolitik genauso, wie es früher schon einmal in der Nachrüstungsdebatte galt.Lassen Sie uns also gemeinsam dieses Zeichen für Europa setzen! Lassen Sie uns den Bürgern sagen: Dieses Europa ist keine bürokratische Veranstaltung zur Verschwendung von Steuergeldern. Dieses Europa bringt ganz konkrete Fortschritte und Vorteile für jeden von uns. Nationale und regionale Eigenheiten sollen mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips erhalten bleiben.Sicher, dieses Europa ist noch nicht perfekt. Da gibt es noch viel zu tun. Aber das Vertragswerk von Maastricht ist ein erheblicher Forschritt auf dem Weg hin zu einer Europäischen Union. Wir brauchen diesen Fortschritt, um auch den jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, die auf unser Modell ihre Hoffnungen setzen, eine konkrete und zuverlässige europäische Perspektive bieten zu können.
Dies erreichen wir nicht, indem wir uns in den Euro-Schmollwinkel zurückziehen.Lassen Sie uns alle hier heute erwähnten Unvollkommenheiten anpacken: bei der nächsten Regierungskonferenz, die ja als Teil von Maastricht schon vereinbart ist, und natürlich auch in der politischen Diskussion davor! Vielleicht gelingt es ja den Regierungen, diese Konferenz vorzuziehen. Lassen Sie uns heute also einen wichtigen Schritt zur Einheit Europas gehen! Lassen Sie uns deutlich machen: Das Vertragswerk von Maastricht ist ein ganz wichtiger Meilenstein dahin!Danke schön.
Es spricht Frau Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Maastricht, so nicht!" —dies sagt die PDS/Linke Liste auch und vor allem, weil die soziale Dimension des finanztechnischen und wirtschaftspolitischen Unternehmens Europäischer Binnenmarkt bislang völlig unzureichend entwickelt wurde.
— Hören Sie doch bitte erst einmal zu, was ich zu sagen habe!„Maastricht, so nicht!" — dies sagen wir auch und vor allem, weil es wieder einmal die Frauen sind, auf deren Rücken ein Umwälzungsprozeß ausgetragen werden soll. Wie immer, wenn es um große Politik geht, drohen sie auf der Strecke zu bleiben.
Ein Blick auf das Maastrichter Vertragswerk und die Namen der Unterzeichner bestätigt dies. Frauen kommen nicht bzw. nur am Rand vor. 180 Millionen Frauen aber stellen in den EG-Ländern eine Mehrheit dar, eine allerdings nach wie vor diskriminierte.Trotz aller gutgemeinten, meist aber unverbindlichen Resolutionen und Aktionsprogramme haben sie noch immer nicht die gleichen Chancen und Rechte
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Petra Blässwie Männer. In der Erwerbs- wie in der Familiensphäre sind Frauen mit Mechanismen der Benachteiligung konfrontiert, in denen unternehmerische Interessen und patriarchalische Strukturen zusammenwirken. Das äußert sich in der existierenden geschlechtlichen Arbeitsteilung, die zur mangelnden Repräsentanz von Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt hat, in der Fortdauer der Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt, in der durchgängigen Entgeltdiskriminierung, die den meisten Frauen keine vom Mann unabhängige Existenz gestattet, in der Nichtanerkennung von Kindererziehung und Pflegeleistungen, in strukturellen und personalen Gewaltverhältnissen und in der systematischen Diskriminierung in der Sozialpolitik.
— Ich spreche zu Maastricht! Dann hören Sie bitte erst einmal zu, Herr Kittelmann!
In seinem Bericht über den Binnenmarkt 1992 und seine Auswirkungen für die Frauen in der EG verweist der Ausschuß für die Rechte der Frau darauf, welche speziellen benachteiligenden Folgen die Freizügigkeit für Personen, Waren, Kapital und Dienstleistungen für Frauen haben werde. Die spürbarsten Veränderungen werden im Bereich des Einkommens und der Existenzsicherung durch die mögliche und erforderliche Mobilität, in der Entwicklung der Infrastruktur und Kommunikation sowie im Bereich der Verbraucherinnen gesehen.Die Aktionsprogramme der EG konnten dieser sich abzeichnenden Entwicklung bisher nur Einzelmaßnahmen, befristete Kampagnen und symbolische Good-will-Aktivitäten entgegensetzen. Von einer sytematischen und kontinuierlichen Aktivität der Entscheidungsorgane der EG zugunsten von benachteiligten Frauen, geschweige denn von einer Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation kann keine Rede sein. Es bleibt zu befürchten, daß die von der EG verabschiedeten Richtlinien und Aktionsprogramme den Frauen eine Verbesserung lediglich vorspiegeln, aber einer faktischen Verschlechterung ihrer Lebenssituation nichts entgegenhalten können.
— Ich würde gern eine erfolgreichere Bilanz ziehen.
— Hören Sie doch bitte zu, Herr Kittelmann, oder verlassen Sie den Saal, wenn Sie nicht zuhören können!
Ein neuerliches trauriges Beispiel dafür ist die betonte Absicht der Maastrichter Vertragsparteien, nicht die Anwendung des irischen Abtreibungsverbots berühren zu wollen.
— Also so lustig finde ich das wirklich nicht! —
ungeachtet der beiden Entschließungen des Europäischen Parlaments zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.Von einer doppelten Stagnation auf frauenpolitischer Ebene spricht der Ausschuß für die Rechte der Frau des Europäischen Parlaments. Ich zitiere:Einerseits sind die Mitgliedstaaten noch im Rückstand hinsichtlich der tatsächlichen Anwendung der existierenden Richtlinien, andererseits legt der Rat keine Eile bei der Annahme noch vorliegender Richtlinienentwürfe an den Tag.Weiter wird ausgeführt:Die gegenwärtige Lage zeigt den Rückstand der Frauen gegenüber den Männern auf dem Arbeitsmarkt. Hat sich dieser Rückstand bis zum 1. 1. 93 nicht verringert, so werden die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten des Europäischen Binnenmarktes die Ungleichheiten und die negativen Faktoren zu Lasten der Frauen noch vergrößern.Susanne Schunter-Kleemann bringt es in ihrem Buch „EG-Binnenmarkt — Euro-Patriarchat oder Aufbruch der Frauen?" auf den Punkt:Zu befürchten ist, daß das Versprechen von großen Marktfreiheiten für die Frauen Europas zu neuen Unfreiheiten geraten könnte. Statt Freizügigkeit könnte es zur Zurückdrängung an Heim und Herd und verstärkter Ausnutzung ihrer Gebärfähigkeit kommen.
Das Gros der Frauen wird sich europaweit im Dienstleistungssektor wiederfinden. Allerdings wird das weibliche Geschlecht weniger die Freiheit haben, die Dienste in Anspruch zu nehmen, als die Freiheit, rund um die Uhr und unterbezahlt zu Diensten zu stehen.
Unsere Hauptkritik an den Maastrichter Beschlüssen besteht darin, daß die Sozialpolitik dabei unter die Räder kommt. Das Binnenmarktprojekt ist nach seinen bisherigen Zielvorgaben in seiner Gesamtheit als Deregulierungskonzept zugunsten des Kapitals angelegt. Bis heute ist die EG als Wirtschafts-, aber nicht als Solidargemeinschaft konzipiert. Daran wird sich wenig ändern, wenn die Sozialpolitik nicht über den Status eines Anhangprotokolls hinauskommt und sozialpolitische Verabredungen Appelle bleiben, denen jede Rechtsverbindlichkeit fehlt. Diese Konstellation fördert eine Entwicklung, wonach sich die soziale und ökonomische Kluft zwischen reichen und ärmeren Ländern der Region weiter vertieft und die in den
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Petra BlässRegional- und Sozialfonds angelegte Ausgleichsfunktion weiterhin versagt.Zu befürchten ist eine Angleichung der sozialen Standards auf dem absolut niedrigsten Niveau. Beschlüsse, die in den letzten Monaten in diesem Haus von der Mehrheit gefaßt worden sind, signalisieren, daß die Bundesregierung genau auf diesem Kurs segelt. Sie hat die volle Absicht, unter der Flagge des EG-Binnenmarkts störenden Ballast über Bord zu werfen. Es wird bedenkenlos abgetakelt, ausgemustert und Seemannsgarn gesponnen, um im Bild zu bleiben.
Typisch dafür ist die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen. Statt sich auf EG-Ebene für eine frauenfreundliche und vor allem gesundheitsfördernde Regelung einzusetzen, hat die Bundesregierung nach unten angepaßt und dieses Schutzrecht liquidiert. Die Aushöhlung des Kündigungsschutzrechts zunächst für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer ist ein weiteres Signal. Die Möllemannschen Deregulierungsabsichten und die Blümsche Arbeitszeitordnung liegen ebenso im Trend wie die im Umwelt-Ost-Programm der 10. AFG-Novelle angelegte Aushöhlung der Tarifautonomie.
— Ich habe noch etwas Redezeit! Sie können noch zuhören!Die an sich positiv zu bewertende Sozialcharta für die EG bleibt Makulatur, wenn noch vor Eintritt in den Binnenmarkt die sozialen Errungenschaften empfindlich zurückgestuft werden, dies immer wieder mit der Begründung, daß Sozialpolitik ein nationaler Kostenfaktor ist, der die internationale Konkurrenz- und Wettbewerbssituation beeinträchtigt und deshalb zu minimieren ist.Mit Maastricht jedenfalls wird kein Schritt dazu getan, den sozialpolitischen Anforderungen von heute und den Herausforderungen von morgen gerecht zu werden.
— Ich habe Maastricht gelesen und mit sehr vielen Expertinnen und Experten gesprochen. Ich war des öfteren auch schon in Brüssel.Im Gegenteil, das Schicksal der Sozialcharta und der Ausstieg Großbritanniens aus einer möglichen Sozialunion lassen für die Sozialpolitik im Binnenmarkt Schlimmeres befürchten. Angesichts der wachsenden Aushöhlung der klassischen sozialen Schutzsysteme ist es für die betroffenen Menschen in den Mitgliedstaaten notwendig, daß ein gemeinschaftliches Ziel sozialer Grundversorgung verbindlich festgelegt und mit ihr ein Solidarvertrag als Komplettierung von Währungs- und Wirtschaftsunion begründet wird.Für Unternehmer und Konzerne haben nationale Grenzen in den letzten Jahren mehr und mehr an Bedeutung verloren. Die Verwirklichung des EGBinnenmarkts wird das verstärken. Während die Unternehmer ihren hohen Organisationsgrad und die daraus erwachsenden strategischen Vorteile nutzen, um Arbeitsplatzangst und Konkurrenz unter den Belegschaften zu schüren, verfügen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften immer noch nicht über funktionierende Möglichkeiten, ihre Interessen auf europäischer Ebene wirksam zu vertreten.
Der Aufbau einer internationalen gewerkschaftlichen Gegenmacht gestaltet sich äußerst zäh. Der Entwurf einer Richtlinie „Europäische Betriebsräte" ist absolut unbefriedigend. Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte fehlen völlig. Es sind lediglich eingeschränkte Informations- und Konsultationsrechte vorgesehen.Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer umfassenderen Demokratisierung betrieblicher und wirtschaftlicher Strukturen. Dazu gehören: Ausbau und Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Aufsichtsgremien der Unternehmen, gesetzliche Rahmenregelung für eine europäische Tarifpolitik, Garantie der Tarifautonomie und länderübergreifende Streikmöglichkeiten, Beteiligung von Interessenvertretungen der Beschäftigten und Gewerkschaften an der Vergabe und Kontrolle der öffentlichen Mittel aus dem EG-Fonds und an der konzeptionellen Ausgestaltung einer europäischen Strukturpolitik.Nur so ist es zu gewährleisten, daß nicht nur die Industrielobby vom Binnenmarkt profitiert, sondern dieser auch eine soziale Dimension erhält.Herr Kittelmann, ich bedanke mich ausdrücklich für Ihre Geduld.
Nun hat der Kollege Gerd Poppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich am Anfang zu sagen: Ich bin für die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf gesamteuropäische Einrichtungen, für die Durchlässigkeit von Grenzen für gemeinsame Regelungen zum Umweltschutz und zur sozialen Absicherung, für ein gemeinsames Auftreten der Europäer nach außen. Ich bin für eine europäische Verfassung und für die demokratische Kontrolle der ausführenden Apparate. Kurzum: Ich bin für die Europäische Union.Aber: Kann nicht mit Recht gefragt werden, was solche Sätze aussagen? Klingen sie nicht phrasenhaft und reichlich banal? Das fällt mir gerade bei vielen Formulierungen des Maastrichter Vertrags zur politischen Union auf: ihre Unverbindlichkeit und Banalität. Nur handelt es sich dabei eben nicht nur um so hingesagte Sätze, sondern um einen Vertrag von größter Bedeutung, auf den sich die Unterzeichner-
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Gerd Poppestaaten wie auch die betroffenen Menschen berufen wollen.Dafür genügen die glatten Sätze nicht. Sie sind sogar gefährlich, denn sie eröffnen beliebige Spielräume für Interpretationen. Dafür gibt es genug Beispiele.Wenn ich meine eingangs formulierten Sätze ernst nehme, muß ich von dem Vertrag, der sie erfüllen soll, entschieden verbindlichere Aussagen verlangen. Die Weichenstellung des Maastrichter Vertrags zur Währungsunion ist so viel deutlicher und präziser, daß die Formeln zur demokratischen, sozialen und ökologischen Ausgestaltung fast nur als schmückendes Beiwerk zum eigentlichen Kern der Währungsunion erscheinen.Es ist zu befürchten, daß auch diese wohl nicht wie geplant praktizierbar sein wird. Wer wird denn übrigbleiben, wenn schon der reiche Kern der EG seiner stabilitätspolitischen Ziele nicht mehr gewiß ist? Wie würde sich eine solch fragile Stabilität auf diejenigen auswirken, die ohnehin Schwierigkeiten haben, den vereinbarten Kriterien zu entsprechen? Mein Kollege Werner Schulz hat auf die möglichen Szenarien bereits hingewiesen. Sie beziehen sich auf die heutigen EG-Staaten. Um vieles mehr werden sie aber auf die potentiellen Partner in Osteuropa zutreffen.Von denen soll im folgenden die Rede sein. Die sollen ja eines Tages hinzukommen; das muß wieder einmal in Erinnerung gerufen werden. Es ist auffällig, daß diese Staaten im Vertrag kaum vorkommen und auch in der heutigen Debatte nahezu vollständig ignoriert wurden. Es war heute mehr vom Sitz der Zentralbank als von der einen Hälfte Europas die Rede.Statt dessen wird heute von der Europäischen Union als dem sogenannten Stabilitätsanker gegenüber den Unsicherheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gesprochen. Die Abwehrhaltung ist nicht zu verkennen. Ein weiteres Mal haben wir die Gleichsetzung von Westeuropa mit Europa zu beklagen, wie schon damals, als wir selber noch zum Osten gehörten und als im Westen der Name Deutschland fast immer nur für die damalige Bundesrepublik verwendet wurde.
— Auch von Ihnen. Herr Kittelmann, das war der allgemeine Sprachgebrauch. Der war oberflächlich, und es wurde fast nie gesagt, was denn wirklich unter diesem Begriff zu verstehen ist.
Mittlerweile ist jedenfalls Deutschland, ist die Bundesrepublik größer geworden, und jeder weiß oder ahnt wenigstens, daß auch Europa größer ist als die EG.Welchen Wert die Währungsstabilität auch immer haben mag: Wer ihr den Vorrang einräumt, nimmt billigend in Kauf, daß die Schwelle zum Eintritt in das europäische Haus für viele zu hoch wird. Wer das nicht will und zugleich die fatalen Begleitumstände einer überhasteten Währungsunion zu vermeiden sucht, steht vor der Notwendigkeit einer grundlegendenReform der EG-Strukturen. Und diese wird durch den Maastrichter Vertrag eben nicht bewirkt.Der frühere Europaabgeordnete von Nostitz hat das Problem wie folgt beschrieben:All die scheinbar guten Gründe gegen die Erweiterung sind nur für die zwingend, die von der EG jetzt profitieren und eine Reform verhindern wollen. Es erweist sich aber, daß die überfällige Reform und die Erweiterung der EG die beiden Seiten ein und derselben Medaille sind.Nicht ein Konzept der mehreren Geschwindigkeiten, sondern ein Konzept der abgestuften Integration bietet Aussicht, den neuen Bedingungen in Europa gerecht zu werden, ohne manche Staaten auszuschließen. Die unbestreitbar erheblichen Unterschiede sind nur durch schnelle Eröffnung einer gesamteuropäischen Perspektive abzubauen, nicht durch die Abschottung eines in sich selbst instabilen Währungsklubs der Reichen.Schonjetzt könnte einiges auf der politischen Ebene für die Öffnung getan werden. Was spricht denn z. B. gegen einen Beobachterstatus für Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn im Europäischen Parlament? Was spricht dagegen, sie schnell in die Europäische Politische Zusammenarbeit einzubeziehen?Zum Abschluß zwei Anmerkungen zum Mangel an Akzeptanz, der ja immer wieder beklagt wird. Ich denke, er ist nur durch den öffentlichen Diskurs überwindbar. Ich habe vor zwei Wochen von dieser Stelle aus für eine Verlangsamung der Ratifizierung, für eine Atempause plädiert, nicht um den Vertrag zu Fall zu bringen, sondern urn über Chancen und Probleme der Europäischen Einheit eine breite öffentliche Debatte zu führen, an deren Ende dann ein Volksentscheid stehen sollte. Diese Forderung nach einem Volksentscheid wird von uns nicht mit dem Wunsch eines Nein zu Maastricht, sondern mit dem Wunsch verbunden, eben diese ausführliche Debatte zu führen. Demokratie beinhaltet auch das Recht auf Information über die möglichen Folgen derart weitreichender Entscheidungen.Der Bundeskanzler hat sich vor wenigen Wochen an die französische Öffentlichkeit gewandt. Wie wäre es denn — mit diesem Vorschlag möchte ich schließen —, wenn er jetzt die hierzulande notwendige Diskussion mit einem öffentlichen Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern sowie mit Experten, Befürwortern und Kritikern des Maastrichter Vertrages, im deutschen Fernsehen einleitete?Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Kollege Michael Stübgen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst feststellen, daß ich über diese große, konstruktive und ehrliche europapolitische Debatte heute in diesem Hause ausgesprochen erfreut bin.In Richtung der PDS möchte ich feststellen, daß wir uns wohl eher darüber Gedanken machen müßten,
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Michael Stübgenwas an Maastricht falsch ist, wenn Sie zustimmen würden, als daß es uns belastet, daß Sie es ablehnen. Sie sind in Ihren Grundhaltungen und -überzeugungen so weit von den Grundüberzeugungen der demokratischen Parteien entfernt, daß Sie uns eher in der Richtigkeit unseres Weges bestärken, wenn Sie hier platt wie alles, was wir machen — ablehnen und nicht zustimmen.
Als drittes möchte ich einleitend feststellen: Wenn man in einer solchen großen, konstruktiven Debatte, in der alle Redner von Anfang an die. Sachthemen behandelt haben, zu einem relativ späten Zeitpunkt redet, wie ich das jetzt tue, dann braucht man den Mut zur Wiederholung. Sie werden an meiner kurzen Rede, die ich jetzt halte, sehen, daß ich diesen Mut durchaus habe.Es hat sich heute gezeigt, daß über die Parteigrenzen hinweg Einigkeit in mindestens zwei Punkten hinsichtlich Europa und der sozusagen in erster Beratung angelaufenen Ratifizierung der Maastrichter Verträge besteht. Zum einen ist dies die Einsicht, daß diese Verträge eine notwendige und eine gute Grundlage darstellen, um den europäischen Einigungsprozeß weiterzuführen und zu lenken, und zum anderen, daß es bisher nicht ausreichend gelungen ist — das muß eben auch gesagt werden —, den Bürgern die Notwendigkeit und die Vorteile des Maastrichter Prozesses nahezubringen.Ich sage ganz bewußt „Maastrichter Prozeß". Denn der Maastrichter Prozeß ist viel mehr als allein dieser Vertrag. Im Maastrichter Prozeß auf der Grundlage dieses Vertrages befindet sich Europa, die EG-Staaten, vor einem qualitativen Sprung von einer Wirtschaftsgemeinschaft mit demokratischen Trostpflästerchen zu einer Völkergemeinschaft mit bundesstaatlichem Charakter, die den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte verpflichtet ist.Wenn man sich einerseits die heutige weltpolitische Situation und die bedrohlichen und beängstigenden Entwicklungen in vielen Teilen dieser Welt anschaut und andererseits sieht, daß sich politisch stabile demokratische Staaten auf dem Wege befinden, eine Politische Union zu schaffen, dann braucht man eigentlich keine Begründung mehr dafür zu liefern, warum das für die gesamte Weltpolitik und auch für eine stabile Entwicklung in der Welt wichtig und notwendig ist.Es ist also — das hat sich aber eben auch gezeigt — unsere vordringliche Aufgabe, Europapolitik, die schließlich die Lebensgestaltung eines jeden einzelnen Bürgers betrifft, für diesen durchschaubar zu machen, um ihm die Möglichkeiten der Mitgestaltung zu eröffnen. Eine solche wesentliche Mitgestaltungsmöglichkeit ist die Beteiligung an den Wahlen zu den nationalen Parlamenten und zum Europaparlament. Hier muß ich feststellen, daß natürlich bei einer Wahlbeteiligung zwischen 60 und 70 % z. B. für das Europaparlament die Bürger ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten nicht ausreichend wahrnehmen.Es muß aber auch auf etwas anderes hingewiesen werden, woran nicht die Bürger schuld sind — vielmehr sind wir dafür zuständig —: Es muß sichergestellt sein, daß diese demokratisch gewählten Parlamente genügend Einfluß und Kontrollbefugnisse haben. Notwendig erscheint also im Blick auf die künftige Europapolitik eine Abkehr von den bisher praktizierten Gepflogenheiten der klassischen Außenpolitik in Gestalt von Verhandlungen und Absprachen hinter verschlossenen Türen. Die so erzielten Ergebnisse, Richtlinien und Vorschriften leisten der so oft festgestellten Europamüdigkeit und Angst vor einer angeblich übermächtigen Brüsseler Regelungswut und bürgerfernen Bürokratie Vorschub. In einer funktionierenden Demokratie müssen die Strukturen der Gesetzgebung transparent und natürlich demokratisch sein.Im Hinblick auf das Europaparlament sind Fortschritte zur Stärkung seiner Befugnisse in den Verträgen von Maastricht sichtbar. In dem Verfahren der Kooperation hat das Europäische Parlament zukünftig größeren Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung von Entscheidungen — das geht aus Art. 189c des EG-Vertrages hervor —, und nach Art. 189b des EG-Vertrages wird das neue Verfahren der Kodezision eingeführt, durch das das Europäische Parlament zukünftig das Recht hat, durch Ablehnung der Ratsposition die Verabschiedung eines Rechtsaktes zu verhindern.Für die 1996 geplante Revisionskonferenz ist vorgesehen, dieses Verfahren auf weitere Bereiche — bisher Binnenmarkt, Gesundheitswesen, Bildung und Kultur, transeuropäische Netze, Forschung etc. — auszudehnen, was auch unbedingt notwendig ist, obwohl gerade diese wichtige Kompetenzerweiterung auch die Gefahr birgt, daß das Europäische Parlament in strittigen Fällen lediglich als Neinsager dasteht. Dennoch halte ich die Einrichtung dieses Verfahrens für eine Voraussetzung für eine Erweiterung der Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlamentes.Revisionsbedürftig — davon ist heute schon ausgiebig gesprochen worden — ist auch der derzeitige Status der 18 Beobachter im Europäischen Parlament aus den neuen Bundesländern. Für mich war am Anfang der heutigen Debatte wichtig, daß nach der Frage des Abgeordneten Dr. Helmut Kohl doch sichergestellt zu sein scheint, daß sich der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl für die Anerkennung dieser 18 Beobachter als ordentliche Mitglieder des Europäischen Parlamentes intensiv einsetzen wird. Die Möglichkeiten bieten Birmingham in der nächsten Woche oder die Gipfelkonferenz in Edinburgh Ende dieses Jahres.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Europaparlament erfährt durch die Maastrichter Verträge eine Stärkung. Wie aber sieht es mit den Befugnissen des deutschen Parlamentes, des Bundestages, aus? Im Gegensatz zu anderen EG-Staaten, z. B. Dänemark und Großbritannien, und zum Bundesrat existiert im Bundestag erst seit einem Jahr ein EG-Ausschuß. Aus meiner Erfahrung als Mitglied dieses Ausschusses sehe ich es aber als notwendig an, daß innerhalb der Organisationsstruktur des Deutschen
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Michael StübgenBundestages ein Ausschuß für Europaangelegenheiten eingerichtet wird.
Dieser — er könnte vielleicht Unions-Ausschuß heißen — könnte durch koordinative federführende Bearbeitung und Kontrolle europäischer Entscheidungsabläufe eine ausreichende Unterrichtung und Einbindung des deutschen Parlamentes bei der europäischen Gesetzgebung gewährleisten, wie es der Bundesrat beispielsweise schon seit mehreren Jahren erfolgreich praktiziert.Selbstverständlich bliebe dabei dieser Ausschuß auf die unterstützende Mitarbeit der jeweiligen Fachausschüsse angewiesen. Die Mitglieder dieses Ausschusses sollten vom Bundestag beauftragte Verhandlungspartner gegenüber der Bundesregierung sein. Zwischen Parlament, Fachausschüssen und Unions-Ausschuß müßten ein ständiger Dialog und eine ständige Zusammenarbeit stattfinden. Selbstverständlich wäre der Ausschuß dem Parlament gegenüber, aus dem er ja hervorgeht, rechenschaftspflichtig. Er müßte ihm in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten.Dieser Ausschuß — das ist wichtig — müßte allerdings von der Bundesregierung über bevorstehende Beschlüsse auf Europaebene rechtzeitig und umfassend informiert werden, damit er die Möglichkeit hat, eine fundierte Stellungnahme abzugeben, welche die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen zu berücksichtigen hat. Ein Abweichen sollte nur bei gewichtigen außen- und integrationspolitischen Gründen möglich sein.Die Zuständigkeiten und Arbeitsmöglichkeiten der Fachausschüsse für EG-Vorlagen würden auf ihren Gebieten nicht geschmälert. Im Gegenteil: Sie würden vom Unions-Ausschuß politisch gestützt und koordiniert. Der Unions-Ausschuß wäre demnach eine Art Clearing-Stelle des Parlaments für Europaangelegenheiten.Die Einrichtung dieses Unions-Ausschusses erfordert eine Ergänzung der Grundgesetzartikel 23 und 45. Ich halte die verfassungsrechtliche Verankerung eines solchen Ausschusses für Europaangelegenheiten für zwingend notwendig. Dies kann nur im Zusammenhang mit der Ratifikation der Maastrichter Verträge geschehen.Die maßgebliche Mitbestimmung und Kontrolle durch die gewählten Parlamente ist der beste Weg fort von der Geheimdiplomatie, die vor allen Dingen dem Bürger nicht gefällt und die der Bürger langfristig nicht bereit sein wird mitzutragen. Hin zu mehr Demokratie und mehr Transparenz in der Europapolitik! Ich gehe davon aus, daß diese größere Transparenz und mehr Demokratie von den Bürgern begrüßt und unterstützt werden wird.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat der Kollege Fritz Gautier das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute insofern eine bemerkenswerte Debatte, als quer durch die großen Fraktionen die Mehrheit für die Ratifizierung von Maastricht ist. Ich selber auch. Interessant war aber das, was uns heute morgen die F.D.P. geboten hat. Außenminister Kinkel und Kollege Haussmann haben in zwei bemerkenswerten Reden erklärt, warum man Maastricht ratifizieren müßte, und der Fraktionsvorsitzende hat erklärt, eigentlich sei das alles Unsinn, eigentlich dürfte man das gar nicht ratifizieren.
So steht es auch in den Pressemeldungen der „dpa" von heute nachmittag: „Auch nach Ansicht des F.D.P.-Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff ist der Zeitplan der spätestens für 1999 vorgesehenen Währungsunion nicht mehr einzuhalten. "
Ich frage ihn, warum er dem Vertrag zustimmen will, wenn er jetzt schon weiß, daß der Zeitplan nicht einzuhalten ist. Wir haben doch noch sieben Jahre Zeit. Hätten wir uns vor sieben Jahren, 1985, genauso verhalten wie heute Herr Lambsdorff, hätten wir den Binnenmarkt wahrscheinlich immer noch nicht.
Denn es war 1985, als wir die Beschlüsse über einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt gefaßt haben. Heute, nach sieben Jahren, können wir feststellen, daß er ein Erfolg ist, und zwar nicht nur hinsichtlich des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigungspolitik, sondern auch technologisch, auch unter Umweltgesichtspunkten.
Natürlich ist nicht alles gut gelaufen. Aber da stellt sich die berühmte Frage, ob ein Glas halbvoll oder halbleer ist. Ich persönlich bin eher Optimist und betrachte ein Glas lieber als halbvoll. Andere scheinen es mehr als halbleer zu betrachten. Der Binnenmarkt war auch unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes ein Erfolg. Ich denke nur an die Produkthaftung, an das Reiserecht usw., wo wir entscheidende Fortschritte erzielt haben.
Herr Kollege Gautier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Ja.
Verehrter, lieber Kollege Gautier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Graf Lambsdorff heute früh den Versuch gemacht hat, einige der auch öffentlich diskutierten Punkte anzusprechen, aber in seiner Quintessenz und seinem Eröffnungsstatement keinen Zweifel daran gelassen hat, daß die F.D.P.-Fraktion diesem Vertrag selbstverständlich zustimmen wird? Er hat das Motto „Mut statt
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Ulrich IrmerMißmut" sozusagen abgewandelt in „Durch Mißmut zum Mut" .
Lieber Kollege Uli Irmer, bei dieser Sprachverdrehung bin ich nicht mehr in der Lage, Ihre Aussage inhaltlich nachzuvollziehen. Ich empfehle Ihnen, die Rede Ihres Kollegen Haussmann nachzulesen, der relativ eindeutig auf die Mäkeleien Ihres Kollegen und Parteivorsitzenden Otto Graf Lambsdorff eingegangen ist.
Die Sozialdemokraten haben schon vor vielen Jahren gesagt, daß zum Gemeinsamen Markt auf die Dauer auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik gehört. Dies steht in vielen sozialdemokratischen Programmen, nicht zuletzt auch in unserem Europawahlprogramm von 1987. Die gemeinsame Wirtschafts- und Währungspolitik kann man nicht allein der Bundesbank überlassen. Im Augenblick ist es de facto die Bundesbank, die die Finanzpolitik in Europa bestimmt. Dies ist weder für die anderen politisch noch ist es für uns als bundesrepublikanische Bürgerinnen und Bürger akzeptabel, die Bundesbank in eine Rolle hineinzudrängen, die sie letztendlich selber nicht erfüllen kann. Für eine größere Rolle der D-Mark als Weltreservewährung ist so nicht der Platz. Wir brauchen eine verstärkte Währungsinstitution und eine einheitliche Währung, um tatsächlich die Funktionen einer Weltreservewährung mit entwickeln zu können.Die Turbulenzen im Europäischen Währungssystem sind mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen, daß wir die Wechselkurse nicht rechtzeitig angepaßt haben. Des weiteren hat die Bundesbank — wie es ihre Aufgabe ist — eine sehr egoistische deutsche Politik gemacht, die zu sehr hohen Zinsen und zu weiteren Spannungen im Europäischen Währungssystem führt. Für uns beinhaltet seit 1979 das Europäische Währungssystem nicht nur eine Koordinierung der Währungspolitiken der Mitgliedstaaten, sondern auch eine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. In Maastricht sind die Grundlagen dafür ,geschaffen worden, daß eine Parallelität von Wirtschafts- und Währungspolitik angestrebt wird. Dies ist eigentlich — mein Kollege Roth hat das vorhin deutlich gesagt — der am besten formulierte Teil der Maastrichter Verträge. Die Vorschriften über die gemeinsame Wirtschaftspolitik, die Vorschriften über die gemeinsame Währungspolitik und das Statut der zukünftigen Europäischen Zentralbank sind für mich die wichtigsten Punkte der Maastrichter Verträge.In den Maastrichter Verträgen heißt es: „Die Mitgliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und koordinieren sie im Rat nach der Maßgabe der entsprechenden Artikel. " Daran müssen wir uns natürlich auch in unserer eigenen Politik halten.In der „Süddeutschen Zeitung" von heute steht, daß der für Finanzfragen zuständige EG-Kommissar auch die Bundesrepublik ermahnt habe, über die Finanzierung der Lasten der deutschen Einheit Klarheit zu schaffen. Das war schon interessant; denn hier bestehen erhebliche Unklarheiten. Diese Mahnung durch Henning Christophersen richtet sich an die Bundesrepublik Deutschland. Er hat gleichzeitig auch Italien, Großbritannien und Spanien genannt. Das heißt, wir müssen auch uns kritisch fragen, ob wir die Stabilitätskriterien rechtzeitig erfüllen können.Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Bundestagsvorbehalt, den wir auch in unsere Entschließung hineingeschrieben haben. Heute morgen hat die F.D.P. gesagt, sie würde dem zustimmen. Auch die Regierungsseite geht mittlerweile in diese Richtung. Wir wollen, daß der Bundestag 1998 beschließt, ob die Kriterien für wirtschaftliche Kohärenz innerhalb der Europäischen Gemeinschaft erfüllt sind und ob man den Übergang in die dritte Stufe wagen kann. Dieser Beschluß soll aus prinzipiellen Gründen vom Bundestag gefaßt werden. Das kann aus unserer Sicht nicht heißen, daß dann, wenn die Kriterien objektiv erfüllt sind, der Bundestag nein sagt. Bei einer objektiven Erfüllung der Kriterien für wirtschaftliche Kohärenz in Europa — also die Frage der Verschuldung der einzelnen Mitgliedstaaten und der Inflationsraten — müssen wir dann auch zustimmen und nicht ein britisches Opting-out wählen. Das wollte ich noch einmal klarstellen.
Ich habe dies jetzt gesagt, weil wir davon ausgehen, daß wir 1998 an der Regierung sind.
Wir haben ja auch Erfahrung mit Regieren. Ich will also prophylaktisch für eine zukünftige Sozialdemokratische Regierung feststellen, daß die Entscheidung des Bundestages in Brüssel zwingend vertreten werden muß.Zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union gehören auch andere Politiken. Die Gemeinschaft darf nicht zu einer Freihandelszone verkommen.
Darauf hat die Sozialdemokratie immer Wert gelegt. Wenn die Europäische Gemeinschaft nicht zu einer Freihandelszone verkommen will, benötigen wir auch andere Politiken. Auf die Umweltpolitik wird mein Kollege Dietmar Schütz eingehen. Verbraucherpolitik, Forschungspolitik und Handelspolitik spielen eine Rolle, aber auch — was heute morgen schon kritisiert wurde —, eine gemeinsame Industriepolitik. Herr Lambsdorff hat gesagt, das sei etwas, was des Teufels sei. Aber was geschieht denn in Deutschland in vielen Bereichen anderes als Industriepolitik? Nehmen wir den Airbus. Ist das keine Industriepolitik? Die Werften, der Stahlbereich, der Schiffbau usw. — das ist Industriepolitik.
Die Förderung von bestimmten High-tech-Bereichendurch das BMFT ist nichts anderes als koordinierteIndustriepolitik für Siemens, Philips usw. Die Frage ist
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Dr. Fritz Gautieralso nicht, ob wir Industriepolitik machen, sondern die Frage ist, ob wir der Industriepolitik vernünftigerweise nicht eine europäische Komponente geben sollten. Dafür spreche ich mich aus.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch auf zwei Punkte eingehen, die häufig etwas mißverständlich formuliert werden. Es wird oft so schön gesagt, daß wir in Europa auch eine Sozialpolitik benötigen. Ich bin dafür. Zur Symmetrie in Europa gehört auch ein soziales Fundament. Dieses soziale Fundament ist leider in Maastricht nicht ausreichend gelungen, weil die Briten nicht mitmachen wollten. Das ist bedauerlich, aber auch in Großbritannien gibt es bald wieder Wahlen. Die Labour Party hat gesagt, daß sie mitmachen wolle und diesen Bereich sofort wieder ändern würde.
Selbst wenn wir aber nur zu elft in diesem Bereich weiterarbeiten, gibt es hier doch einige positive Aspekte. Ein Aspekt, den ich ganz besonders herausheben möchte, ist die vertragliche Festlegung, daß die Sozialpartner auf europäischer Ebene Rahmentarifverträge abschließen können. Ich halte dies für einen sehr großen Fortschritt. Das hat es in der Geschichte der Gemeinschaft noch nie gegeben.Aus diesem Grunde begrüße ich auch ganz ausdrücklich, was der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer heute zur Ratifizierungsdebatte gesagt hat: Die Ratifizierung des Vertrages zur Europäischen Union sei im Interesse der deutschen Arbeitnehmer. Punkt, ende der Durchsage. Auch ich glaube, daß wir hier etwas eröffnet haben, wo wir Sozialpolitik zum Thema machen können, und zwar mit einer vernünftigen Aufgabenaufteilung zwischen den Sozialpartnern, d. h. einer vernünftigen Aufteilung zwischen dem, was die Sozialpartner selber regeln können und was sie auch selber regeln sollen, und dem, was wir gesetzlich regeln müssen.Meine Damen und Herren, da ich nicht zu denjenigen gehöre, die hier zu lesen versuchen, sondern zu reden, bin ich wieder etwas über meine Zeit hinausgekommen. Ich wollte noch ein paar andere Punkte ansprechen; aber jetzt ist meine Redezeit abgelaufen. Ich bedanke mich ganz herzlich.
Nun spricht der Kollege Wilfried Seibel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Wiedervereinigung Deutschlands und der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums haben die europäische Landkarte verändert. Die Menschen, ihre Gemeinschaften und die Staaten auf diesem Kontinent sind für ihr Miteinander auf eine neue, ich denke, auf eine grundlegend neue Basis gestellt. Das ist eine Übergangssituation mit Unsicherheiten, mit Zwängen zur Anpassung und natürlich auch mit Ängsten. Niemand, aber auch wirklich niemand sollte in einer solchen Situation behaupten, den einzig richtigen Weg in die Zukunft weisen zu können. Beides, dieZwänge und die logischerweise unbestimmten Richtungsanzeigen aus politischen Führungen überall in der Welt, beunruhigen die Bürger.Die Wanderung ganzer Völkerstämme und ein barbarischer Krieg in Europa verstärken die Sorgen der Menschen. In bewegten Zeiten ist man bekanntlich gut beraten, sich auf das zu besinnen, was sich in der Vergangenheit bewährt hat.Bewährt hat sich die Europäische Gemeinschaft in der Welt. Es scheint vergessen zu sein, was die EG positiv bewirkt hat. An dieser Stelle möchte ich dem Kollegen Roth von der SPD, der dies auch in seinem Beitrag in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht hat, ausdrücklich danken.Als vor Jahren die lateinamerikanischen Schulden das gesamte internationale Geld- und Kreditwesen zusammenbrechen zu lassen drohten, war es nicht zuletzt die EG, die einen maßgeblichen Anteil an der Überwindung der schwierigen Situation und der Sanierung hatte. Noch vor zehn Jahren gehörten die Veränderungen europäischer Wechselkurse ebenso zu den täglichen Nachrichten wie die Wetteransage. Genauso bewegt wie die Wechselkurse waren auch die Kursnotierungen und die Wechsel der Regierungen. Hier hat das EWS nicht nur zur Beruhigung beigetragen, sondern es hat durch seine Funktion überhaupt erst die Grundlage für eine Phase der wirtschaftlichen Stabilität und Prosperität geschaffen.
Weitere Leistungen der EG wären leicht aufzulisten, etwa die Ausweitung des Osthandels, die Handelsabkommen mit Drittländern und vieles andere mehr.
Wir alle reden zuwenig über das Positive der europäischen Integration. Diese Zusammenarbeit hat eine Gemeinschaft von 360 Millionen Menschen hervorgebracht, die ein Miteinander in Freiheit und Demokratie, in freien Marktwirtschaften mit Freizügigkeit von Menschen und Waren regelt. Dies ist ohne Beispiel, wenn man sich darauf besinnt, was in Europa überwunden wurde an Kleinstaaterei, an Krieg und Feindschaft.Die Europäische Gemeinschaft versammelt Mitgliedstaaten mit Marktwirtschaften von hohem Ausrüstungsstand, von großer Fähigkeit zur Anpassung an den konkreten Bedarf und von hohem innovativen Standard. Diese große wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist der Schlüssel für die Bewältigung der Zukunftsaufgaben nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt.
Viele Vorredner haben deutlich gemacht, wo die globalen, die europäischen und die nationalen Herausforderungen liegen. Europa muß und kann seinen Beitrag dazu leisten, wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft.
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Wilfried SeibelGerade wir als Politiker sind aufgefordert, dazu beizutragen, daß die Heuchelei an Stammtischen und in Schlagzeilen beendet wird.
Journalisten — das sage ich, ohne daß ich diese beschimpfen will — erachten es als Mindeststandard ihres Daseins, ihre Phasen der Entspannung in der Toskana, an der Riviera oder an der Algarve zu verbringen. Kaum zurückgekehrt, traktieren sie dann zu oft ihre Leser oder Zuschauer mit Endzeitpessimismus über Europa.
Da arbeiten sehr viele Arbeitnehmer im Vertrieb oder in der Transportabteilung ihrer Firma; sie verkaufen und sie versenden 60 % der wirtschaftlichen Leistung unseres Landes in alle Welt und räsonieren beim Bier am Feierabend über das Elend, das Europa ihnen bringe.Es gibt auch zu viele Kollegen in der Politik, die für schwieriger gewordene Zeiten und zunehmende internationale Verpflichtungen die Schuld des bürokratischen Molochs Europa beschwören, weil sie zu träge sind, die Realität differenziert zu würdigen und daran zu arbeiten. Wir merken: Die einfachen Antworten sind allemal leichter.
In den letzten Wochen haben wir leider Anschauungsunterricht darüber erhalten, was geschieht, wenn die einheitliche, entschlossene Politik Europas international in Zweifel gerät. Wer es immer noch nicht begriffen hat oder es immer noch nicht wahrhaben will, dem sei empfohlen, das Geschehen in all seinen Turbulenzen und in all seinen Facetten in aller Ruhe nachzuvollziehen. Es ist ein Lehrstück für deutsche und europäische Politik. Wir können alle nur gemeinsam hoffen, daß die Lernfähigkeit und die Einsicht der Politiker und der Menschen in die Wirtschaftsbeziehungen dazu führt, daß uns ähnliches nicht in kürzeren Zeitabständen erneut widerfährt.Die Tatsache, daß das Referendum in Frankreich hinsichtlich seines Ausganges nicht mehr sicher zu prognostizieren war und daß immer neue Meinungsumfragen und neue Nervositäten und Schlagzeilen in Deutschland es unsicher erschienen ließen, ob es denn mit der Ratifizierung der Maastrichter Verträge vorwärtsgehe, waren die Einladung dazu, daß unverzüglich spekulative Bewegungen in erheblichem Ausmaß am internationalen Geldmarkt vorgekommen sind.So ist von vielen internationalen Finanzplätzen und aus vielen Ländern mit hoher Geschwindigkeit Liquidität abgezogen worden, die in Deutschland plaziert worden ist, um so Abwertungs- oder Aufwertungsdruck für die Gewinnabsicht der Spekulanten zu erzeugen. Das Europäische Währungssystem geriet in Bedrängnis, aber es hat den Herausforderungen standgehalten.An dieser Stelle möchte ich ein herzliches Dankeschön dem Finanzminister, der gerade im Plenarsaal ist, sagen.
Ich konnte das als Mitglied der Delegation des Deutschen Bundestages bei der IWF-Tagung in Washington selbst verfolgen. Es war ein nervenaufreibender Tag, an dem Sie, Herr Minister, alle anderen Termine abgesagt haben und mit Ihren Beamten und dem Vertreter der Deutschen Bundesbank diesem ganz konkret erlebbaren massiven Druck in dieser Konsequenz standgehalten haben.
Ich bin der festen Überzeugung, daß sich das EWS gerade auch dadurch, daß sich zwei Währungen kurzzeitig aus dem Verbund entfernt haben und es in aller Ruhe dem Markt überlassen, die Kurse neu festzulegen, bewährt hat. Ich bin im übrigen fest davon überzeugt, daß beide Währungen alsbald in den Verbund zurückkehren werden.Die jetzt anstehende Beratung und Ratifizierungsdebatte über die Maastrichter Verträge im Deutschen Bundestag ist eine gute Gelegenheit, sich gerade unter den letzten aktuellen Eindrücken europäischer Wirtschafts- und Währungspolitik intensiv, engagiert und sachlich mit jeder einzelnen Bestimmung des Vertrages auseinanderzusetzen.Daß es zu Klarstellungen, zu Erläuterungen und zu einem Dialog mit den Bürgern über diesen Vertrag kommen muß, ist nahezu von allen Seiten, auch von den Vorrednern, ausgeführt worden. Es ist unerläßlich, Unklarheiten zu beseitigen und Präzisierungen dort anzubringen, wo die exentiellen Grundlagen für Wirtschaft und Währungen betroffen sind.Ich will das einmal in einem nicht ganz ernstgemeinten Bild ausdrücken: Die vereinbarte Wirtschafts- und Währungsunion ist eine Badewanne mit 50 Grad warmem Wasser. Wer mehr Wasser in die Wanne schütten möchte, um einzusteigen, darf dafür nicht 90 Grad oder nur 30 Grad warmes Wasser nehmen, um dann zu argumentieren, daß 40 Grad statt 50 Grad doch auch noch eine ganz angenehme Temperatur sei.
Nein, 50 Grad müssen 50 Grad bleiben.
Gefordert ist die Erfüllung der Konvergenzkriterien des Vertrages; nicht gefordert ist ein politischer Mittelwert, um alle zu beruhigen oder — um im Bild zu bleiben — um alle lauwarm zu baden. Dies von hier aus zu fordern, ist keine Attitüde deutscher Großmannssucht, sondern ist das notwendige und wichtige Bekenntnis zu den bisherigen Leistungen der EG.Gleichzeitig muß die Debatte, die wir heute beginnen und die uns in den nächsten drei Monaten begleiten wird, deutlich machen, daß das Ziel richtig ist, das mit den Maastrichter Verträgen angestebt wird. Nur eine einheitliche europäische Wirtschaft, nur ein stabilitätsorientierter europäischer Währungsverbund und eine hohe Übereinstimmung europäischer Außen- und Sicherheitspolitik können der Garant dafür sein, die Probleme Europas und manches andere Problem in der Welt lösen oder mildern zu helfen.
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Wilfried SeibelIn ganz besonderer Weise haben wir die Verpflichtung, den Staaten Mittel- und Osteuropas zu helfen.
Der dort begonnene demokratische Aufbau die ernsthaft betriebene Ausrichtung auf Marktwirtschaft brauchen die Hilfe der westeuropäischen Staaten. Nur die EG steht als Garant dafür, daß diese Staaten den Beitritt zur Gemeinschaft schaffen können. Wie viele Hoffnungen in den osteuropäischen Ländern auf uns gesetzt werden, ist jedem von uns hinreichend geläufig. Wir dürfen und wollen diese Hoffnungen nicht enttäuschen.Die im Vertrag festgeschriebenen Stabilitätskriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion sind deshalb eng und strikt anzulegen. Der Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion kann nur auf der Basis der erwiesenen Stabilität bei erwiesener dauerhafter Haushaltssolidität der beteiligten Länder erfolgen.Die künftige europäische Währung muß so stabil sein und bleiben wie die Deutsche Mark. Es kann nur eine wirtschafts- und finanzpolitische Konvergenz und keine politische Konvergenz geben.Unauflösbar gehört dazu eine politisch unabhängige und selbständige Europäische Zentralbank, wie wir es von der Deutschen Bundesbank kennen.
Eine Europäische Zentralbank kann nicht der verlängerte Arm einer wie auch immer gearteten Mehrheitspolitik sein.Vor dem Übergang von der zweiten in die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist eine erneute politische Bewertung der Entscheidungsgrundlagen und der eingetretenen Realitäten durch Bundestag und Bundesrat erforderlich. Wir sollten fordern, denke ich, daß uns Gelegenheit zur Diskussion und Beschlußfassung dazu gegeben wird.Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Stabilität der Währungen sind unauflösbar mit der Fähigkeit zur Bewältigung der schweren Herausforderungen der Zukunft verbunden. Gerade weil dies so ist, wird von uns gefordert, auf diesem Wege entschlossen und unbeirrt das Ziel einer europäischen Integration zu verfolgen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hätte mich jemand vor der politischen Wende in der ehemaligen DDR gefragt „Als was für einen Bürger fühlst du dich?", so hätte ich spontan geantwortet: erstens als Sachse — man kann es nicht verschweigen —, zweitens als Europäer und drittens, ja, auch alsDeutscher. Von der DDR wäre da keine Rede gewesen.Ich bin ehrlich: Ich würde diese Frage heute sicherlich anders beantworten.
Aber ich weiß: Viele Bürger der ehemaligen DDR haben damals ähnlich gedacht wie ich.So war es folgerichtig, daß im Herbst 1989 nicht wenige Demonstranten die blaue Europafahne bei sich trugen. Angesichts geschlossener Grenzen und begrenzter Reisemöglichkeiten in die sogenannten befreundeten sozialistischen Länder übte die Europäische Gemeinschaft auf uns in der DDR eine ungeheure Faszination aus. Es war ein erhebendes Gefühl, sich auf einem Campingplatz in Ungarn für 14 Tage als europäischer Bürger zu fühlen. Ich habe fast Hemmungen, an dieser Stelle über unsere damalige naive Sicht der Welt zu sprechen, die natürlich zwangsläufig das Ergebnis des Eingesperrt-Seins war.Um so schneller mußte ich hier in Bonn begreifen, daß es wohl ein Unterschied ist, ob europäische Bürger gemeinsam Urlaub machen oder ob sie sich beispielsweise über die Milchmarktordnung einig werden müssen. An diesem Gegensatz wird aber die Aufgabe der gegenwärtigen Europapolitik sichtbar, nämlich die Gemeinschaft politisch, wirtschaftlich und rechtlich so zu gestalten, daß sie dem Lebensgefühl und dem Gemeinschaftsbewußtsein der Bürger entspricht.Dies gilt um so mehr für die Neubürger in der Gemeinschaft aus der ehemaligen DDR. Wie soll dort angesichts der gegenwärtigen Situation, die von Arbeitslosigkeit und ungewissen Zukunftsaussichten geprägt ist, Europabegeisterung aufkommen? Wer um seinen Arbeitsplatz bangt oder sich als Existenzgründer um die Zukunft seiner Firma ängstigt, wird jeden Konkurrenten fürchten. Freizügigkeit wird unter diesen Umständen nicht nur als Chance, sondern auch als Bedrohung empfunden.Wo es — wie in den Ländern Osteuropas und der ehemaligen DDR — zu einem Umbruch des gesamten Wertegefüges im Bewußtsein der Menschen gekommen ist, gewinnt plötzlich Nationalismus eine Chance. Wo nichts mehr gilt, was den jungen Leuten gerade noch als absolute Wahrheit verkündet wurde, finden Demagogen leicht Gehör. Da bleibt für den Gedanken eines Europabürgerbewußtseins in den Köpfen der Menschen wenig Platz, vor allem wenn es kaum erfahrbar ist, sondern nur rational begründet wird.
Wo — wie gegenwärtig in der ehemaligen DDR — inzwischen auch der letzte begriffen haben muß, wie hoch der Preis für die D-Mark eigentlich ist, gewinnt Geld einen hohen Stellenwert. Es ist unter diesen Bedingungen mehr als nur ein Zahlungsmittel. Die Einführung einer gemeinsamen Währung in Europa
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Dr. Gerald Thalheimist unter diesen Voraussetzungen nicht leicht zu vermitteln.Ich bin mir nicht sicher, ob mit dieser Beschreibung der gegenwärtigen Bewußtseinslage in Ostdeutschland die rechtsextremen Ausschreitungen der letzten Zeit ausreichend erklärt werden könnten; zu entschuldigen sind sie jedenfalls nicht.
Wo ausländerfeindliche Aktionen die Diskussion um eine Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft begleiten, da stimmt etwas nicht. Wenn wir als Politiker dem nicht energischer entgegentreten, verspielen wir ein Stück Zukunft. Wie sollen wir Ausländer für Investitionen in den neuen Ländern gewinnen, wenn sie den Eindruck gewinnen müssen, dort nicht gern gesehen zu werden?
Die notwendige Bewußtseinsänderung erreichen wir aber nicht, solange die Auswirkungen der Europäischen Gemeinschaft für die Menschen nicht positiv erfahrbar werden. Beispiele dafür gibt es durchaus. Ich denke nicht nur an die Reisemöglichkeiten im gemeinsamen Europa, sondern auch an die Wirtschaftsförderung und den Europäischen Sozialfonds. Ich begrüße es deshalb in diesem Zusammenhang, daß die neuen Bundesländer Zielgebiet 1 in der Wirtschaftsförderung werden.Die Grenzregionen in Sachsen, Brandenburg und Vorpommern haben nur dann eine Chance, wenn es gelingt, die wirtschaftlichen Verbindungen zur Tschechoslowakei und zu Polen zu reaktivieren und zu vertiefen. Die Gemeinschaft muß dafür die Voraussetzungen schaffen.Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit gibt es zu einer europäischen Einigung keine Alternative. Der Vertrag von Maastricht ist ein wichtiger Schritt dorthin, auch wenn er in vielen Punkten Kompromisse enthält. Denjenigen, die eine Neuverhandlung dieses Vertrages fordern, möchte ich die Frage stellen, ob sie sich auch eine Diskussion um die Neuverhandlung des Einigungsvertrags vorstellen könnten.
Wenn ich mir die Diskussion im Vorfeld des Abkommens von Maastricht und die Zeit seitdem vergegenwärtige, so drängen sich mir viele Parallelen zur Entwicklung im geeinten Deutschland auf. Ich bin mir bewußt, daß Vergleiche in diesem Bereich hinken; dennoch will ich versuchen, mich dem Thema vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Bürger der ehemaligen DDR anzunähern.Ich bin der Überzeugung, daß der Wirtschafts- und Währungsunion, also der Einführung der D-Mark in der ehemaligen DDR, eine Schlüsselbedeutung im Zusammenhang mit der deutschen Einigung zukam. Das wird heute oft negiert und vergessen. Dabei denke ich sowohl an die positiven als auch an die negativen Momente, die sich daraus für die Effizienz der Wirtschaft ergaben. War nicht der 1. Juli 1990 der wirkliche Tag der deutschen Einheit, und war nicht das, was daraus folgte, die logische Konsequenz aus dieser Entscheidung?Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist für mich auch das Ziel einer gemeinsamen europäischen Währung folgerichtig. Ich gehe davon aus, daß von einer gemeinsamen Währung Impulse für eine weitere europäische Einigung ausgehen würden und eine engere Abstimmung der Wirtschafts- und Finanzpolitik die zwangsläufige Folge wäre.Aber auch diese Entscheidung ist nur sinnvoll, wenn sie von der überwiegenden Mehrheit der Bürger Europas mitgetragen wird. Das ist nur möglich, wenn die Bürger ein Gefühl der Sicherheit im Hinblick auf die weitere wirtschaftliche und finanzpolitische Entwicklung haben.Es ist richtig, daß mit dem Vertrag von Maastricht hohe Anforderungen an diejenigen gestellt werden, die der Währungsunion beitreten wollen. Abzulehnen ist dagegen der Automatismus für den Beitritt zur Währungsunion. Aus Gründen der Akzeptanz in der Bevölkerung ist es einfach notwendig, über dieses Problem noch einmal öffentlich zu diskutieren und die letzte Entscheidung dem Parlament vorzubehalten.Weitere Parallelen zur deutschen Einheit sind leicht herzustellen. Die Menschen in den neuen Ländern wurden mit der Einheit von heute auf morgen mit einem völlig neuen Rechtssystem konfrontiert. Ich will an dieser Stelle nicht werten, ob das in jedem Fall notwendig oder nützlich war. Tatsache ist, daß dies mit erheblichen Eingriffen in den Alltag eines jeden einzelnen verbunden war. Um wieviel schwieriger ist es, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft Akzeptanz für Regelungen zu erreichen, deren Sinn von vornherein in Zweifel gezogen wird und die oftmals nicht nachvollziehbar sind.Die Lösung dieses Mißstandes soll jetzt durch mehr Subsidiarität erreicht werden. Nach meiner Meinung wird viel zu abstrakt von diesem Prinzip gesprochen. Auch das erinnert mich an jüngste Erfahrungen. So sprachen gleich nach der Wende alle von der Marktwirtschaft wie von einer Zauberformel; von ihren Konsequenzen sprach keiner.Deshalb möchte ich bemerken: Wer von Subsidiarität spricht, der muß auch von den Folgen sprechen. Subsidiarität bedeutet den Verzicht auf eine hohe Regelungsdichte, also weg von einheitlichen Regelungen auf fast allen Gebieten innerhalb der Gemeinschaft. Das bedeutet eine Entwicklung hin zu mehr Wettbewerb, und zwar zu einem Wettbewerb nicht nur der Produkte, sondern auch der Rechtssysteme.Wenn ich die Diskussion zu diesem Thema verfolge, bin ich mir nicht klar darüber, ob dieser Zusammenhang allen bewußt ist. Ich bin für eine solche Lösung; denn nur in einem solchen Wettbewerbsmodell können die Regionen ihre Chance finden.Umgekehrt muß aber die Frage erlaubt sein, die heute an dieser Stelle von der Kollegin Hellwig und dem Kollegen Roth gestellt worden ist, wieviel Subsidiarität z. B. im Umweltrecht, in der Sicherheitspolitik und in bezug auf die sozialen Belange innerhalb der Gemeinschaft zu tolerieren ist. In welchem Umfang ist eine Harmonisierung der umweltrechtlichen und
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Dr. Gerald Thalheimsozialen Bestimmungen notwendig, und in welchem Bereich sind Differenzierungen hinnehmbar?Der Vertrag über die Union bleibt Stückwerk, wenn auf diese Frage keine klare Antwort gefunden wird. Ich füge hinzu: Diese Antwort kann nicht der jeweiligen Kräftekonstellation im Ministerrat überlassen werden. Deshalb muß die Diskussion auch nach der Ratifizierung des Vertrages von Maastricht weitergehen. Ich kann mir eine endgültige Regelung nur im Rahmen einer europäischen Verfassung vorstellen, in der klar geregelt ist, für was die Gemeinschaft zuständig ist und für was nicht. Eine europaweite Diskussion über eine solche Verfassung wäre ein wesentlicher Beitrag, die Akzeptanz für die politische Union zu erhöhen und im Bewußtsein des einzelnen Bürgers zu verankern.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertrag von Maastricht ist ein Kompromiß. Ich sage das an die Adresse all derer, die mit vorworfsvoller Stimme der Bundesregierung vorwerfen, das hätte sie nicht durchgesetzt und jenes hätte sie Nicht durchgesetzt:
Wenn in einem solchen Vertrag eine Partei, sei es Deutschland oder ein anderes Land, alles mit erpresserischen Methoden durchsetzen könnte, dann wäre es ein Diktat. Das wäre das Schlechteste, was wir von einem solchen Vertrag erwarten könnten.
Bei einem Kompromiß ist eine Gesamtbewertung notwendig. Wir haben die Wirtschafts- und Währungsunion; das heißt, das deutsche Stabilitätssystem wird auf Europa übertragen. Mit denjenigen europäischen Ländern, die stabilitätsbewußt wirtschaften, werden wir zum Ende dieses Jahrtausends eine Währungsgemeinschaft bilden.Der Vertrag von Maastricht enthält verbindliche Willenserklärungen über die zukünftige europäische Politik in wichtigen Bereichen, z. B. im Bereich der Sicherheitspolitik. Er enthält die Übertragung neuer Zuständigkeiten — das weckt nicht überall Begeisterung —, und er enthält etwas ganz Wichtiges, nämlich eine Generalklausel zur Zuständigkeit, die die Rechte der Mitgliedstaaten sichert und die letztlich die Vielfalt Europas in der Subsidiarität sichert.In der Gesamtbewertung kann man sagen: Der Vertrag von Maastricht bringt für alle Europäer und auch für uns Deutsche Vorteile. Gegenwärtig ist allerdings die Gefühlslage vieler Europäer anders; es ist eine Gefühlslage der Angst. Wir müssen diese Ängste ernst nehmen, wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, und es muß unser Ziel sein, diese Ängste abzubauen.Es gibt auch Ängste, die im Zusammenhang mit Maastricht geäußert werden, die ursächlich mit diesem Vertrag überhaupt nichts zu tun haben. Ich nenne als Beispiel die Ängste der Bauern. Sie hatten für ihre Erzeugnisse den gemeinsamen Markt bereits mit den Römischen Verträgen. Der Binnenmarkt bringt ihnen auf der Kostenseite Wettbewerbsgleichheit. Nun erfüllen die Verträge von Maastricht eine alte Forderung der Agrarpolitiker; sie bringen nämlich die gemeinsame Währung.Die schlimme Lage unserer Bauern und die Krise in der Landwirtschaft hängen mit anderen Dingen zusammen, nämlich mit der Überschwemmung der Märkte durch die wachsende Produktivität, mit der Arbeitsproduktivität, die letztlich zur Freisetzung von Arbeitskräften führt. Es ist wirklich zu fragen, ob die nationalen Regierungen diese dramatische Entwicklung hätten besser bewältigen können. Jedenfalls kann man sagen: Der Vertrag von Maastricht verbessert die Instrumente, um auch die agrarpolitischen Probleme lösen zu können.Ich halte es für sehr gefährlich und für unverantwortlich, wenn man Stimmungen und Ängste dazu mißbraucht, um aus rein vordergründigen Motiven Stimmung gegen Europa zu machen.
Ängste müssen wir ernst nehmen, aber wir müssen auf das Ziel schauen. Das ist im persönlichen Leben so, das ist im geschäftlichen Leben so, und das ist auch im politischen Leben so.
Wenn ich ein Unternehmen gründe und immer nur schaue, was alles passieren könnte, dann werde ich nie zu einem Erfolg kommen. Auch in Europa müssen wir nach vorn und auf das Ziel schauen. Dann werden wir es erreichen!Es ist wahr, daß wir die europäischen Entscheidungsprozesse durchsichtiger und durchschaubarer machen müssen und daß wir die Zuständigkeiten auch sachgerechter abgrenzen müssen, aber der Vertrag von Maastricht leistet dazu schon einen Beitrag. Auch das müssen wir einmal sagen. Die Demokratie wird dadurch gestärkt, daß das Europäische Parlament in der Gesetzgebung und in der Kontrolle der Kommission mehr Rechte hat.
Ich sage nicht, daß das genug ist. Es kommt noch einiges dazu: Das Europäische Parlament muß ein uneingeschränktes Initiativrecht bekommen. Ich meine, auch der Rat muß ein uneingeschränktes Initiativrecht bekommen, denn wir werden mit der Vollendung des Binnenmarkts in eine Phase kommen, wo es nicht nur darum geht, neue Richtlinien und Verordnungen zu erlassen, sondern auch darum, bestehende zu verändern. Auf diesem Gebiet muß der Rat schneller und wirksamer handeln können.Ich meine, wir müssen auch sehr gründlich darüber nachdenken — ich sage das gerade auch an die Adresse der SPD —, ob wir immer nur mehr Rechte für das Europäische Parlament fordern sollten. Rat und Europäisches Parlament haben unterschiedliche Auf-
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Dr. Martin Mayer
gaben. Deshalb können sie auch nicht völlig gleichartig behandelt werden.
— Sie können gleichwertig behandelt werden, aber nicht gleichartig. Ich meine, daß dies auch eine ganz wichtige Sache ist.
Der Europäische Rat wird nämlich von seinem Selbstverständnis her mehr die Interessen der Mitgliedstaaten wahrnehmen, während sich das Europäische Parlament von seiner Tendenz her mehr für Gesamteuropa verantwortlich zeigt. Damit der Europäische Rat in Zukunft auch mehr die Interessen der Mitgliedstaaten wahrnehmen kann, muß ihn der Deutsche Bundestag in Zukunft kritischer als bisher begleiten. Die Ratifizierung von Maastricht ist eine große Chance, um dieses kritische Begleiten durch den Deutschen Bundestag zu verstärken.
Der Deutsche Bundestag muß im Interesse der Vielfalt Europas mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, welche Richtlinien und Verordnungen im Ministerrat behandelt werden, und er muß dafür kämpfen, daß in Europa nur das geregelt wird, was eben in Europa zwingend geregelt werden muß.
Wenn wir dann im Bundestag über die einzelnen Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, die im Ministerrat verabschiedet werden, aktuelle und sicher oft auch kontroverse Debatten führen werden, dann wird letztlich auch der Bürger mehr Anteil an dem nehmen, was in Europa geschieht. Auch deshalb muß über das, was im Ministerrat entschieden wird, im Deutschen Bundestag debattiert werden.
Ich füge hinzu: Der Deutsche Bundestag kann in der Frage der Begleitung nicht schlechter gestellt sein als der Bundesrat.
— Ja, man sieht leider keinen mehr.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Europa muß verläßlich bleiben und stärker werden. Nur ein einiges Europa kann sich gegenüber den großen Wirtschaftszentren auf der Welt behaupten.Wer denn sonst als dieses einige Europa soll denn den Nachbarn im Osten und im Süden Europas helfen? Wer Gelegenheit hat, in Osteuropa mit Bürgern, mit Politikern oder mit Wirtschaftsvertretern zu reden, der wird feststellen, welch große Hoffnungen diese Völker auf Europa setzen. Ich meine, das müßte für uns eine Verpflichtung sein.Europa kann die Herausforderungen im eigenen Haus, in der Nachbarschaft und weltweit nur erfüllen, wenn es Schwächen abbaut und Stärken ausbaut. Die Schwächen sind: Zerstrittenheit und Nationalismus. Die Stärken sind: der Wille zur Gestaltung und die Gemeinsamkeit in der Vielfalt.Konrad Adenauer hat einmal gesagt: Europa, das ist wie ein Baum, der wächst, der eine Schicht nach der anderen ansetzt. Ich füge hinzu: Der Vertrag von Maastricht wird dem gerecht.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dietmar Schütz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verfolgt man die öffentliche Diskussion über den Vertrag von Maastricht, so fällt auf, daß das Thema „europäische Umweltpolitik", gemessen an den Fragen der Währungsunion und der politischen Union, nur sehr marginal behandelt wird.
In einer Zeit, in der immer mehr Menschen besorgt über die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen sind, scheint die Umwelt zumindest in der Europadebatte zu einer Quantité négligeable geworden zu sein. Zwar hat Wolfgang Roth an dieser Bewertung vorhin schon gekratzt, aber wir haben gleichwohl darüber noch nicht diskutiert.Diese Einschätzung überrascht um so mehr, als in zahlreichen aktuellen Umfrageergebnissen zu den uns bewegenden Politikfeldern die Umwelt trotz einsetzender Rezession zusammen mit der Arbeitsplatzsicherheit immer noch an der Spitze steht. Diese offensichtliche Diskrepanz findet ihre Erklärung möglicherweise darin, daß die Konstruktion des Maastrichter Vertrages nach wie vor von einem tradierten Politikverständnis ausgeht.Wie vor 35 Jahren bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge bildet auch im Maastrichter Vertrag die Ökonomie das eigentliche Fundament einer europäischen Union, ergänzt um die klassischen Politikfelder der Außen- und Sicherheitspolitik.Eine Umweltunion gehört leider nicht zu den Vertragszielen, obwohl gerade die Ökologie ihrem Wesen nach auf eine möglichst enge internationale Zusammenarbeit angewiesen ist.
Zwar gehört die Umweltpolitik bereits seit Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte vor fünf Jahren zu den Politikfeldern der Gemeinschaft, aber schon die bisherige Numerierung der Art. 130r bis 130t zeigt, daß dem Wirtschaftsbaum in dem Vertrag von 1986 ein ökologischer Ast aufgepfropft wurde, ohne daß zumindest damals die weiteren Politikbereiche unter ökologischem Aspekt integrativ vernetzt worden wären.Der Vertrag über die Europäische Union liefert jetzt einen Einstieg in diese notwendige Vernetzung. Reicht das aus? Können wir aus ökologischer Sicht den
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Dietmar SchützVerhandlungen zustimmen? Können wir mit den Ergebnissen von Maastricht zufrieden sein?Um die Antwort vorwegzunehmen: Ich glaube, daß der Vertrag über die Europäische Union trotz des Fehlens einer Umweltunion einen Fortschritt auf dem Weg zu einer besseren europäischen Umweltpolitik darstellt. Zufrieden sein können wir aber noch nicht.
Der Vertrag von Maastricht unternimmt den Versuch, die notwendigen ökologischen Rückkopplungen zumindest teilweise herzustellen. So wird eine der Primäraufgaben der Gemeinschaft eine ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens zu erreichen, auch am Kriterium des umweltverträglichen Wachstums gemessen. Zu den Tätigkeiten der Gemeinschaft wird jetzt in Art. 3 neben vielen anderen Dingen auch die Förderung einer Politik der Umwelt als Zielvorstellung vorgegeben.Schließlich wird durch Maastricht neben dem europäischen Regionalfonds und der Effektuierung des Strukturfonds auch ein Kohäsionsfonds geschaffen, der zu Vorhaben in den Bereichen Umwelt und transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur finanzielle Beiträge leisten soll.Sieht man also die Bestrebungen seit der Ratifizierung der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem Vertrag von Maastricht zusammen, so hat der Umweltschutz ohne Zweifel Fortschritte gemacht. Die Tatsache allerdings, daß so wichtige Bereiche wie der gesamte Naturschutz und der Grundsatz des nachhaltigen Wachstums.— sustainable development — für den Umweltbereich lediglich in Zusatzerklärungen nachgetragen wurden, zeigt den Stellenwert, den die Ökologie in den Vertragsverhandlungen gehabt hat.
Solange eine gleichgewichtige und gleichrangige Behandlung der Umweltpolitik in der Europäischen Union noch nicht erreicht ist, wird dieser Politikbereich auf der Agenda bleiben müssen. Maastricht war noch nicht der Abschluß hin zu einer gleichgewichtigen Behandlung der Ökologie.
Auch künftig wird die wirtschaftliche Harmonisierung der Gemeinschaft vor einem integrativen europäischen Umweltschutz rangieren.Ist es dann, so frage ich erneut, zu verantworten, daß wir — immer unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes — für eine Ratifizierung eintreten? Unabhängig davon, daß die Frage der Ratifizierung eines solch umfassenden Vertragswerks nicht derart eindimensional auf ein Politikfeld bezogen werden darf, ist die Frage dahin gehend zu ändern, ob wir in Zukunft umweltpolitische Vorreiterfunktion in Industrie und Landwirtschaft wahrnehmen können oder ob dies in Zukunft durch den Maastrichter Vertrag „wegharmonisiert" wird.
Herr Abgeordneter Schütz, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Müller zu beantworten?
Ja.
Lieber Herr Kollege Schütz, Sie wissen doch genau wie ich, daß die Taten der Kommission, aber auch des Rates — ich denke in diesem Zusammenhang etwa an die Verträge mit der Schweiz und mit Österreich sowie an den diesbezüglich ausgeübten Druck — gerade die Verkehrspolitik der Europäischen Gemeinschaft unter Umweltgesichtspunkten als sehr fragwürdig erscheinen lassen.
Meine Frage: Wieso ist der Vertrag von Maastricht für Sie eine Hoffnung, daß sich das verbessert bzw. zum Guten ändert? Handelt es sich nicht eher um eine Bestätigung dieses Kurses, der zumindest bis jetzt ökologischen Gesichtspunkten entgegenläuft?
Herr Kollege Müller, die Untaten, die auf diesem europäischen Feld begangen worden sind, sehe ich genauso wie Sie. Die Frage, die ich untersucht habe, ist aber doch, ob wir Weiterentwicklungen in dem Vertragswerk feststellen können. Solche Weiterentwicklungen sind eindeutig feststellbar. Dies ergibt sich aus der Einheitlichen Europäischen Akte durch den Zusatz des Kapitels Umwelt.
In dem Vertrag von Maastricht ist — ich habe das soeben ausgeführt — von „integrativen Gedanken" und „Vernetzung" die Rede. Wir müssen darauf achten, daß dementsprechend verfahren wird. Ich werde in meiner Rede darauf noch näher eingehen. Wir müssen darauf achten, daß das, was wir als Option — ich sehe das als eine Option — haben, auch in die Tat umgesetzt wird.
— Wir werden über Subsidiarität und Harmonisierung noch reden müssen. Die Frage wird sein, wie wir damit umgehen. Ich glaube, es gibt eine Option. Die Umweltverbände, die diesbezüglich sehr kritisch sind, müssen die Diskussion begleiten und ihre Kritik aufrechterhalten. Dies alles muß immer vor dem Hintergrund folgender Fragen gesehen werden: Wie geschieht das eigentlich? Wie wird das in der Praxis gemacht?Ich fragte vorhin, ob eine Ratifizierung zu verantworten ist. Das betrifft ebenfalls das, was Sie, Herr Müller, gesagt haben. Wir haben leider nach dem bis jetzt geltenden Recht erlebt, daß sich der Europäische Gerichtshof z. B. bei der Frage der Verringerung und späteren Unterbringung der Abfälle der TitandioxidIndustrie auf Grund stärkerer Umweltnormen für die Harmonisierung und somit gegen den stärkeren Umweltschutz in den Gerichtsverhandlungen ausgesprochen hat. Der jetzt zur Entscheidung stehende Maastrichter Vertrag hat in dem Konfliktfeld zwischen Harmonisierungsdruck und Umwelterfordernissen die Schutzklausel für die Umwelt erhöht. Allerdings ist das Verfahren in bezug auf die Durchsetzung sehr kompliziert. Ich hoffe, daß dieser Schutzwall ausreicht, um unsere Probleme, die auch Sie, Herr
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Dietmar SchützMüller, angesprochen haben, in den Griff zu bekommen.Der alte Konflikt — Harmonisierung und Umwelterfordernisse — sowie die Teilantwort im neuen Vertrag machen deutlich, daß es sehr darauf ankommt, wie die Kommission und wie die Bürokratie in Zukunft derartige Konflikte lösen werden. Es bleibt weiter zu prüfen, ob die notwendige Integration der ökologischen Erfordernisse in die verschiedenen Politikbereiche — insbesondere in den der Wirtschaft — gelingt.Das jetzt noch stärker verankerte Subsidiaritätsprinzip kann darüber hinaus helfen, eine etwaige umweltpolitische Avantgardeposition, die wir teilweise eingenommen haben, innerhalb der Gemeinschaft abzusichern. Unter dem Schild der Subsidiarität besteht für die Bundesrepublik prinzipiell die Möglichkeit, ihre hohen Standards abzusichern und sogar auszubauen.Allerdings kann unter dem gleichen Schild auch die Arrieregarde — um im Bild zu bleiben — Substandards im Umweltbereich aufrechterhalten, um im internationalen Wettbewerb billiger zu produzieren und um durch Umweltdumping einen vermeintlichen Standortvorteil bei den Produktionsbedingungen zu erlangen. Es wird also auch beim Subsidiaritätsprinzip wesentlich darauf ankommen, wie die konkrete Ausgestaltung vorgenommen wird, um sowohl der Vorhut als auch der Nachhut die Möglichkeit zu geben, wieder zum Troß zu kommen. Denn auch wenn wir voranschreiten und keiner mehr nachkommt, ist das eine gefährliche Situation.Der von mir anfangs begrüßte Kohäsionsfonds für den Bereich Umwelt und transeuropäische Verkehrsnetze ist ein weiterer Prüfstein für das Gelingen der ökologischen Öffnung bei der Entwicklung europäischer Regionen. Der Kohäsionsfonds darf weder Alibi für möglicherweise umweltbeeinträchtigende Maßnahmen sein, die aus Regionalfonds oder Strukturfonds finanziert wurden und werden, noch darf er selbst umweltbeeinträchtigende Maßnahmen fördern, was bei den transeuropäischen Verkehrsnetzen — ich sage das ausdrücklich, Herr Müller — nicht ausgeschlossen ist.Die Erfahrungen mit den Projekten, z. B. im Naturschutzgebiet Coto Donana in Südwestspanien, wo EG-geförderte Landwirtschaftsprojekte dem Naturpark riesige Wassermengen entzogen, oder die Umleitung des griechischen Flusses Acheloos mit den massiven Umweltauswirkungen zeigen, daß die Vergabe und Verwendung von Mitteln aus den Strukturfonds ökologisch blind erfolgte. Diese durch zahllos weitere Beispiele belegbaren Fehlhandlungen müssen nicht zwangsläufig auf der Gesetzeskonstruktion beruhen. Der Fehler liegt wahrscheinlich weniger im System als mehr in der Bürokratie und in der Abstimmung der Bürokratien untereinander. Deswegen sollten wir darauf dringen, daß nach der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages mit seinem zweifellos vorhandenen Ansatz zu integrativem Umweltschutz dies auch tatsächlich praktiziert und durchgesetzt wird. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Raumes in Europa darf der ökologischen Rücksichtnahme nicht vorgehen.Meine Damen und Herren, Umweltpolitik hat in der geschichtlichen Entwicklung des Politikbereiches — wenn wir bei der Umweltpolitik in Europa schon von Geschichte reden dürfen — immer etwas mit der Entwicklung von Bürgerrechten, nämlich dem Informationszugang von Bürgern und der Teilhabe von Bürgern zu tun. Ich will an dieser Stelle nicht mehr auf die wichtigen Fragen des Parlamentszugangs und der Kontrolle des Parlaments reden, sondern ich will auf die Forderungen eingehen, die wir nach der Ausgestaltung der Informationszugangsrechte und der Partizipationsrechte der europäischen Bürger erheben.Die EG-Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt ist erfreulicherweise in Kraft. Insofern hat die Europäische Gemeinschaft ihre Hausarbeiten gemacht. Auf nationaler Ebene tun wir uns sehr schwer, hier zu folgen. Dies Voranschreiten der Europäischen Gemeinschaft auf dem Feld der Umwelt vor den sich sonst so vorbildlich apostrophierenden Deutschen ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir im Umweltkonvoi nicht immer ziehen, sondern manchmal auch gezogen werden. Es gibt auch andere Beispiele, an denen wir das belegen könnten, z. B. die Richtlinie über die Umweltverträglichkeit und andere.Ich will noch auf die Beteiligungsrechte der EGBürger eingehen. Das Einspruchs- und Beteiligungsrecht über die Grenzen hinweg in Verwaltungs- und Justizverfahren muß überall gewährleistet sein. Der mündige EG-Bürger muß auch gegenüber der europäischen Politik und der europäischen Bürokratie, insbesondere auf dem Felde der Umwelt, mitsprechen dürfen. Er darf nicht durch die Grenzen aufgehalten werden. Er muß vom Elsaß bis Baden und von Baden bis zum Elsaß in umweltpolitischen Ansiedlungen mitreden können.
Bisher waren die Damen und Herren der europäischen Bürokratie sehr weit weg vom Bürger — so weit, daß sie ihn gar nicht kannten. Dies muß sich ändern. Auch die europäische Bürokratie muß den Bürger kennen- und schätzenlernen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Der Vertrag von Maastricht hat zwar noch nicht den notwendigen Durchbruch zu einer Umweltunion eröffnet; er bietet aber insbesondere in den Art. 2 und 3 Perspektiven für eine wesentlich verbesserte europäische Umweltpolitik. Die Selbstverpflichtung, bei der Erzielung von wirf schaftlichem Wachstum auf dessen Umweltverträglichkeit zu achten, und die erstmalige explizite Nennung der Umweltpolitik als Tätigkeitsfeld der Gemeinschaft sind Optionen — mehr noch nicht —, auf denen aufgebaut werden muß.Naturzerstörung und Umweltzerstörung kennen keine Grenzen. Eine europäische Umweltpolitik sollte dem in nichts nachstehen; auch sie darf keine Grenzen kennen.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Schockenhoff das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskussion über den Vertrag von Maastricht beschäftigt die Menschen in Deutschland. Eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern hat die Vereinbarung von Maastricht abgelehnt. Wenn man allerdings nachfragt, dann sind sie sich zwar in der Ablehnung einig, zeigen aber keine Perspektive für die weitere Entwicklung auf.
Diese europäische Perspektive aufzuzeigen, muß der Kern unserer heutigen Debatte sein.
— „Es sind 60 von 400 Nationalökonomen", sagt mir gerade mein Freund Heiner Geißler. Aber ich glaube, die anderen 340 verstehen von der Sache auch etwas.
Manche stellen der europäischen Perspektive den Nationalstaat entgegen, den sie erhalten sollen. Aber der Nationalstaat besteht so, wie das diese Leute glauben, seit langem nicht mehr. Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft haben bereits viele Zuständigkeiten an die Gemeinschaft abgetreten. Die Menschen in diesen Ländern haben von der europäischen Integration profitiert.Wir sollten uns auch einmal bewußt machen, daß die trennenden Grenzen, wie sie vor allem die älteren Generationen kennen, doch eine sehr neue Sache sind. Der Wiener Jude und Schriftsteller Stefan Zweig beklagt 1941 aus dem brasilianischen Exil, wie sich die europäischen Nationen voneinander abgeschottet haben. Er berichtet in seinem Buch „Die Welt von gestern — Erinnerungen eines Europäers", wie er vor dem Ersten Weltkrieg ohne jegliches Personaldokument quer durch Europa gereist ist. Daraus wird deutlich, daß wir mit der Öffnung der Grenzen in Europa nichts völlig Neues schaffen, sondern geschichtliche Fehlentwicklungen beseitigen.
Die Weiterentwicklung der Europäischen Union braucht klare Ziele. Maastricht ist ein Etappenziel —ein Etappenziel, das die meisten noch vor wenigen Jahren für unerreichbar gehalten haben und für das manche, weil es so fern schien, in der Vergangenheit kaum Verständnis aufbrachten und jetzt dafür kaum Interesse zeigen.Natürlich erfüllt der Vertrag von Maastricht nicht alle Wünsche. Aber Maastricht ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat. Bei den Verhandlungen ist die Bundesregierung an die Grenzen des jetzt politisch Machbaren gegangen. Das haben nicht zuletzt die Volksabstimmungen in Dänemark und Frankreich gezeigt.Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Debatte um die 1986 vereinbarte Einheitliche Europäische Akte. Auch sie hat zunächst keine Begeisterung hervorgerufen.
Sie wurde nicht in allen Mitgliedstaaten rechtzeitig ratifiziert. Das Gespenst der „Eurosklerose" ging um. Heute sind wir auf der Zielgeraden des großen Binnenmarktes 1993. Allem miesmacherischen Gerede zum Trotz: In den letzten Monaten und Jahren ist die europäische Integration entscheidend vorangekommen.
Das war gut für die Menschen in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Aber hier dürfen wir nicht stehenbleiben. Wenn manche in der Öffentlichkeit Skepsis gegenüber der Wirtschafts- und Währungsunion und gegen die politische Union verbreiten, dann sind wir als Politiker gefordert. Wir müssen jetzt für mehr Verständnis sorgen. Wir müssen dieses unbekannte Europa, das viele Bürger mit Bürokratismus verbinden, verständlich machen. Es muß Schluß damit sein, positive Ergebnisse europäischer Politik zu nationalisieren und im Gegenzug negative Ereignisse zu europäisieren.
Gerade für Deutschland ist die ökonomische Integration Europas von besonderer Bedeutung. Schließlich exportiert die Bundesrepublik mehr als 30 % ihrer Waren und Dienstleistungen und 60 % dieser Exportgeschäfte werden mit EG-Partnerländer abgewickelt. Hier waren die Wachstumsraten während der vergangenen Jahre enorm. Der Export in die EG-Länder stieg zwischen 1981 und 1991 um mehr als 80 %. In der Bundesrepublik hängen 8 bis 9 Millionen Arbeitsplätze unmittelbar vom Export ab. Damit hängen etwa 5 Millionen Arbeitsplätze an den Exporten in andere EG-Länder.Die Verwirklichung des Binnenmarktes 1993 und die geplante Währungsunion vertiefen die ökonomische Integration. Der volkswirtschaftliche Nutzen ist enorm. Der Cecchini-Bericht erwartet durch die Verwirklichung des Binnenmarktes ein zusätzliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 4 % bis 7 %. Der Wegfall der Zölle wird den Anteil des Handels innerhalb der Gemeinschaft weiter erhöhen. Der größte Teil der ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland kommt aus den Ländern der Europäischen Gemeinschaft.
Dies ist insbesondere für den Aufbau der neuen Bundesländer von entscheidender Bedeutung.
Beim Erwerb von Unternehmen der Treuhandanstalt sind die europäischen Investoren führend.Von den Vorteilen des europäischen Binnenmarktprogrammes profitieren alle Bevölkerungsgruppen. Die Preise geben auf Grund des zunehmenden Wettbewerbs nach. Der Wegfall von Personen- und Zoll-
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Dr. Andreas Schockenhoffkontrollen ermöglicht eine mengen- und wertmäßig unbegrenzte Einfuhr von Waren aus anderen EGLändern. Eine einheitliche europäische Währung bringt Kostenvorteile bei Auslandsreisen. Die Wachstumseffekte des Binnenmarktes schaffen eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze. Die Anerkennung der nationalen Berufs- und Hochschulabschlüsse ermöglicht vor allem den jungen Menschen eine noch nie dagewesene Chance, überall in Europa die freie Wahl des Arbeitsplatzes zu haben.
Die Unternehmen profitieren durch ein sinkendes Preisniveau für Vorleistungen und den Wegfall von Grenzformalitäten. Die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EG erlaubt es, Standortvorteile zu nutzen und neue Märkte zu erschließen. Die europaweite Ausschreibung öffentlicher Aufträge ermöglicht deutschen Unternehmen, ohne Benachteiligung in den Nachbarländern tätig zu werden.Europäische Gemeinschaftsprojekte wie der Airbus oder die Ariane überfordern die Leistungskraft der einzelnen Nationen und wurden deshalb erst durch die ökonomische Integration Europas möglich.
Sie haben zu mehr Wettbewerb auf den Weltmärkten geführt.Diese Vorteile der Europäischen Union müssen die Menschen kennen. Wir brauchen jetzt eine ,,Gemeinschaftsinitiative Europa" in ganz Deutschland.Graf Lambsdorff hat heute morgen beklagt, Europa sei zu lange totgeschwiegen worden. Er ist Parteivorsitzender. Bei dieser „Gemeinschaftsinitiative Europa" sind insbesondere die Parteien gefordert.
Mit ihrem Organisationsgrad bis in die kleinste Gemeinde können sie wesentlich mehr zur Information der Bürger beitragen als alle Ministerien zusammen.
Zu Herrn Gysi muß ich sagen: Es ist schon ein Treppenwitz, wenn ausgerechnet die Partei eine Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht fordert, deren Vorgänger in der DDR bis vor wenigen Jahren die Menschen geknebelt und mundtot gemacht hat.Was spricht gegen eine Volksentscheidung? Erstens können wir nicht permanent die Effizienz unserer parlamentarischen Demokratie betonen, uns dann aber aus der Verantwortung stehlen, wenn grundlegende Entscheidungen für die Zukunft unseres Landes gefordert sind.
Gerade jetzt muß das Parlament seine Handlungsfähigkeit beweisen.Zweitens brauchen wir in Deutschland Informationen über die Europäische Union und nicht den polemischen Streit. Die Volksabstimmung würde politischen Rattenfängern eine Bühne bieten.
Drittens sollten wir nicht einerseits die weitverbreitete Politikverdrossenheit beklagen, andererseits aber mehr über Verfahren als über Inhalte streiten.Mit der für 1996 geplanten nächsten Regierungskonferenz müssen insbesondere die Rechte des Parlaments gestärkt werden.
Mit dem Vertrag von Maastricht wurden kleine, aber entscheidende Schritte der Demokratisierung verwirklicht. Mit der nächsten Regierungskonferenz muß ein großer Sprung zum demokratischen Europa mit einem starken Parlament erreicht werden.Lassen Sie mich drei zentrale Elemente einer Verfassung der Europäischen Union anführen.Erstens brauchen wir eine föderative Gliederung. Die erste Stufe dieser Gliederung sind die Länder und Regionen, die zweite Stufe sind die Mitgliedstaaten, die dritte Stufe die Europäische Union. In dieser föderativen Struktur haben wir schon heute grenzübergreifende Regionen in Europa wie etwa den Bodenseeraum oder den Oberrhein mit der badischen und elsässischen Seite. Es sind vor allem diese Grenzregionen, die Europa weitergebracht haben.
Bei dem französischen Referendum haben die Menschen, die Europa tagtäglich erleben, für Europa gestimmt und damit die Zustimmung für diese weitere Entwicklung in Europa gesichert.
Zweitens müssen wir in diesem dreistufigen Aufbau die Kompetenzen klar zwischen Ländern, Mitgliedstaaten und der Union verteilen. Wir brauchen keine Europäische Gemeinschaft, die alles regelt. Was wir aber genauso wenig brauchen, ist eine permanente, nicht immer von Sachverstand geprägte Polemik gegen Europa. Mancher, der die Regelungswut beklagt, fordert selbst, wo es ihm gerade paßt, einheitliche europäische Regelungen.
Herr Dr. Schockenhoff, auch auf die Gefahr hin, daß Sie mich der Regelungswut bezichtigen: Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Ende kämen.
Ich komme zum Schluß: Man kann sich sicherlich streiten, ob in Brüssel festgelegt werden muß, wie groß ein Bodenseeapfel ist. Wir dürfen uns aber nicht dauernd um Lappalien streiten, sondern sollten die großen Aufgaben sehen.Die Europäische Union ist auf einem guten Weg; Maastricht ist eine wichtige Etappe. Wir werden
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Dr. Andreas Schockenhoffweiter an der Europäischen Union bauen. Es macht Spaß, daran mitzuarbeiten.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Peter Conradi das Wort.
Es ist schön, Herr Präsident, meine Damen und Herren, daß nach 23 Befürwortern des Maastricht-Vertrags aus den drei Fraktionen — ich sehe jetzt mal von der PDS ab — hier auch ein Abgeordneter reden darf, der dem Vertrag skeptisch gegenübersteht. So habe ich mir eine lebhafte parlamentarische Debatte vorgestellt.
Ich spreche nicht für meine Fraktion, aber doch für einige aus meiner Fraktion. Ich spreche für die Menschen, die gegenüber dem Vertrag Zweifel und Ängste haben. Ich halte es für falsch, diese Menschen in eine rechtsextreme Ecke zu schieben, sie zu denunzieren, so wie das einige Europaabgeordnete tun.
Das ist menschlich niederträchtig und politisch falsch.
Wenn in der Öffentlichkeit, nicht nur in Deutschland, in wenigen Jahren ein tiefer Meinungsumschwung gegenüber der EG eintritt, dann hat das etwas mit den konkreten Erfahrungen der Menschen zu tun, den Erfahrungen mit einer anonymen, fernen, unkontrollierten Bürokratie, die in die letzten Lebensbereiche hineinregiert, und den Erfahrungen mit einem schwachen, selbstbezogenen, volksfernen Europäischen Parlament.
Machen wir uns doch nichts vor: Wenn bei uns eine Volksabstimmung stattfände — ich bin froh, daß dies nicht so ist —, dann könnten auch die drei Fraktionen dieses Hauses nicht viel mehr als 51 % der Bürger für den Maastrichter Vertrag mobilisieren. — Der Abstimmungssieg in Frankreich muß uns nachdenklich machen; mit 51 % kann man zwar eine Regierung bilden, aber für die politische Union Europas ist das zu wenig. Wenn diese Union von fast der Hälfte der Menschen in Frankreich, in Deutschland, in England und in Dänemark abgelehnt wird, dann ist sie nicht lebensfähig.
Jetzt, nach dem Abstimmungssieg in Frankreich, beklagt der Bundeskanzler die Bürgerferne, jetzt mahnt er die Subsidiarität an, jetzt klagt er über die Regelungswut. Wer hat denn den Vertrag beschlossen? Der Bundeskanzler! Wer hat denn die ganzen Richtlinien der EG beschlossen, wenn nicht seine Minister? Wer hat denn das, was der Bundestag in all den Jahren gesagt hat, herablassend beiseite gewischt, wenn nicht diese Regierung? Wer hat denn versäumt, die europäische Gesetzgebung der Bevölkerung transparenter und verständlicher zu machen, wenn nicht Sie? Der Versuch, die politische Einigung Europas den Völkern von oben her zu verordnen, ist gescheitert. Daran werden auch die zaghaften Versuche der Nachbesserung nichts ändern.
Nun sagen mir einige meiner Freunde: Peter, du hast ja recht, der Vertrag ist furchtbar. Eigentlich ist er schon seit der Abstimmung in Dänemark tot. Halt den Mund und stimm zu, die Engländer werden diesen Vertrag schon zum Scheitern bringen!
Ich halte das für eine unehrliche Haltung. So kann der Bundestag mit seiner Verfassung, so können wir mit unseren Rechten und Pflichten, auch mit den Rechten der Länder und Gemeinden nicht umgehen.
Meine Bedenken richten sich auf zwei Punkte:
Zum einen ist dies das Demokratiedefizit; das ist für mich keine Nebensächlichkeit. Stellen Sie sich bitte vor, in Deutschland würden die Gesetze nicht vom Bundestag, sondern vom Bundesrat, also von einer Versammlung von Landesministern, verabschiedet. Diese sind ihren Parlamenten über ihr Verhalten im Bundesrat, also von einer Versammlung von Landesministern, verabschiedet. Diese sind ihren Parlamenten über ihr Verhalten im Bundesrat nicht rechenschaftspflichtig. Sie könnten geheim beraten, so daß nachher niemand wüßte, welcher Minister im Bundesrat so oder anders abgestimmt hat und die Gesetze würden von einer freischwebenden Bürokratie vorbereitet, die von einer Heerschar von Lobbyisten beraten wird. Abenteuerlich ist diese Vorstellung. Aber so werden in Europa seit Jahren Gesetze gemacht. Und das wird durch den Vertrag nicht geändert, sondern festgeschrieben. — Herr Kollege!
Herr Kollege Marten, bitte.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Landesparlamente sehr ausführlich, ja mehr als die Hälfte ihrer Zeit, mit Bundesangelegenheiten befassen?
Ich habe die Debatten in einigen Landtagen verfolgt, und ich stelle fest, daß die Landesminister im Bundesrat manchmal ganz anders abstimmen, als sie vorher in den Parlamenten geredet haben. Die Parlamente können sie auch nicht zwingen, anders abzustimmen, weil die Stimmen des Landes nur einheitlich abgegeben werden können.Ich habe große Zweifel, ob der Art. 79 Abs. 3 unseres Grundgesetzes, der durch den neuen Art. 23 ja verstärkt werden soll, es dem Bundestag erlaubt, einen großen Teil der Gesetzgebung des Bundes und der Länder Institutionen zu übertragen, die den Forderungen unserer Verfassung nach Volksherrschaft, nach Gewaltenteilung, nach Öffentlichkeit, nach Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung, nach Selbstverwaltung der Gemeinden und Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung nicht entsprechen.Sind Sie sicher, daß das Bundesverfassungsgericht das alles mitmachen wird? Ich nicht. Ob die „SolangeRechtsprechung" so noch lange weitergeht, werden wir in Karlsruhe erfahren.Auch die Forderung nach Subsidiarität ist für mich keine Nebensächlichkeit. Subsidiarität ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie: Je weiter die Entscheidungsebene von den Menschen, die sie betrifft, ent-
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Peter Conradifernt ist, um so weniger haben sie mitzureden, um so geringer sind deren Möglichkeiten der Kontrolle.Ich finde, daß der Bundestag oft Dinge entscheidet, die besser bei den Ländern und Gemeinden entschieden werden könnten. Aber beim Bundestag, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weiß der Wähler, wer für oder gegen das Kindergeld ist, wer für oder gegen die Mehrwertsteuererhöhung ist, wer für oder gegen die Pflegeversicherung ist.Wer ist denn in Europa verantwortlich? Wer war im Ministerrat, wer war in der Kommission, wer war im Europäischen Parlament für oder gegen die Freigabe des Energiemarktes? Wer war für oder gegen die Liberalisierung des Schwerlastverkehrs auf unseren Straßen? Von der Bananenrichtlinie will ich hier gar nicht reden!Wenn die Bürger bei uns mit ihrer Stadtregierung, mit ihrer Landesregierung oder mit ihrer Bundesregierung nicht zufrieden sind, so wählen sie sie bei der nächsten Wahl eben ab. Wen sollen sie in Europa abwählen? Im Europäischen Parlament sind doch alle nur für Europa. Das hat der trostlose und inhaltlose Europawahlkampf 1989 gezeigt. Und die Wähler haben das begriffen. Sie haben sich in großer Zahl an dieser Wahl gar nicht erst beteiligt.
— Herr Kollege Geißler, bitte versuchen Sie doch mal, im letzten europäischen Wahlkampf festzustellen, um was die Parteien gestritten haben. Da war fast kein Unterschied feststellbar. Das war doch der langweiligste Wahlkampf, den wir in Jahren erlebt haben, und die Wähler haben das auch so gesehen.
Die Übertragung weiterer Politikbereiche an die EG führt zur Erosion der politischen Verantwortung. Und weil niemand mehr weiß, wer für die Gesetze der EG verantwortlich ist, werden Politik- und Parteiverdrossenheit zunehmen.Der Maastrichter Vertrag, so wird uns gesagt, sichere die Subsidiarität. Das ist natürlich Unsinn. Nach dem Vertrag entscheiden die EG-Institutionen, was sie besser als sie nationalen Parlamente regeln können. Wer ihre Regelungssucht kennt, der weiß, daß sie alles glauben besser regeln zu können. Das ist der Traum aller Bürokraten: Gesetze machen, regieren ohne Parlament, ohne Wahlen, unabsetzbar, unkontrollierbar und bestens bezahlt. In Osteuropa ist ein derartiges System gerade zusammengebrochen.Nur wenn das Subsidiaritätsprinzip verbindlich ausformuliert und gesichert wird, hat die politische Union Europas eine Chance. Ohne eine europäische Verfassung, die festlegt, in welchen Schranken die EG tätig werden darf, werden wir die grenzenlose Bürokratenherrschaft der EG nicht eindämmen.
Herr Abgeordneter Conradi, der Abgeordnete Irmer möchte daraufhin gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. — Fällt Ihnen nicht auf, daß all das, was Sie jetzt sagen, zwar richtig sein mag, sich aber genau nicht gegen Maastricht richtet, weil Maastricht genau den Versuch macht, zumindest ansatzweise die Dinge, die Sie hier anprangern, zu korrigieren?
Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß in Maastricht zum erstenmal überhaupt das Prinzip der Subsidiarität verankert wird und daß zweitens hier zum erstenmal die regionale Ebene vertragsmäßig eingeführt wird, daß also all das, was Sie mit Recht beklagen, in Maastricht gerade korrigiert werden soll?
Herr Kollege, ich sehe einige zaghafte Versuche, das zu korrigieren. Aber Sie werden doch nicht bestreiten, daß die Subsidiarität im Maastricht-Vertrag nicht ausgeformt ist, weil die europäischen Institutionen selbst entscheiden, was sie besser regeln können als die nationalen Parlamente. Als Beamter der württembergischen Finanzverwaltung habe ich doch von meinem Oberamtsrat gelernt: Die höhere Ebene hat immer die höhere Einsicht. So wird es auch hier sein. Das heißt, die höhere Ebene — Europa — wird für sich immer in Anspruch nehmen, alles besser zu wissen als die niedrigere Ebene der Nationalstaaten. Aus Regierungsabsprachen und Bürokratenvereinbarungen wie im' Maastricht-Vertrag wird kein lebenskräftiges Europa entstehen. Ich will die politische Union Europas. Aber die Vereinigten Staaten von Europa werden nur zustande kommen, wenn sie von den Völkern Europas gewollt und getragen werden. Das aber leistet der Vertrag von Maastricht nicht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Peter Kittelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß die heutige Debatte gezeigt hat, wie differenziert man schwierige Sachverhalte beurteilen kann. Alles, was der Maastrichter Vertrag bringt oder was er nicht bringt, steht im wesentlichen für uns, für die deutschen Parlamentarier auf dem Prüfstand. Wenn der Maastrichter Vertrag nicht ratifiziert werden sollte, was bleibt dann als Alternative? Eine der Alternativen hat Herr Conradi eben aufgeführt, nämlich verneinen, negieren, keine Alternative bieten, Verunsicherung in die Bevölkerung hereintragen und Emotionen schüren.
Herr Conradi, die Frage, ob es sich lohnt, auf Ihren Beitrag einzugehen oder nicht, ist schon deshalb beantwortet, weil der Beitrag nun einmal hier gemacht worden ist. Ich hoffe, daß die Sozialdemokraten, die den Mut haben, einen Abweichler heute hier zu Wort kommen zu lassen, aufpassen, daß dieser Abweichler nicht Eier legt und sich vermehrt.
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Peter KittelmannMeine Damen und Herren, zu dem was Herr Conradi hier als Konflikt im Hinblick auf Maastricht formuliert hat, läßt sich nicht Stellung beziehen. Das, was er beklagt, was in Europa zur Zeit nicht vorhanden ist, wollen wir größtenteils ja gerade durch den Maastricht-Vertrag ändern. Das heißt, Herr Conradi, was Sie versucht haben hier als Angst vor Europa zu definieren, wird mit der Maastricht-Diktion beantwortet. Sie ist die Antwort auf die Ängste und Sorgen. Durch die Maastrichter Verträge soll Europa transparenter werden. Und vor allen Dingen: Durch den Vertrag wird ein wesentlicher positiver Einschnitt zu mehr politischer Verantwortung auch des Europäischen Paralmentes gemacht. Das Europäische Parlament, von dem wir alle wissen, daß es bisher zu wenig politische Verantwortung trägt, wird noch längere Zeit warten müssen, weil nicht die Deutschen, sondern andere dies verhindern.Zur Volksabstimmung in Frankreich haben Sie einiges gesagt. Die Volksabstimmung in Dänemark haben Sie nicht erwähnt. Das eine war ein bißchen zu wenig Schnaps. Das andere war eine gerade rechtzeitige knappe Mehrheit. Sie wissen doch inzwischen genau, warum die Franzosen nur mit dieser knappen Mehrheit Maastricht zugestimmt haben: weil sich nämlich die Rechtsradikalen und die Linksradikalen verbunden haben und in Frankreich eine Emotionsschlacht stattfinden ließen, die mit Maastricht absolut nichts zu tun hatte.
Vor allen Dingen die Bauern, die in Frankreich die größten Subventionen erhalten, haben gegen die EG gestimmt, ohne zu wissen, daß sie, wenn die EG wegfällt, keine Subventionen mehr kriegen und erst recht vor der Pleite stehen.
Herr Abgeordneter Kittelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber gerne, vor allem wenn sie vom nachdenklichen Herrn Müller kommt.
Ich will es versuchen, Herr Kittelmann.
Herr Kittelmann, würden Sie mir zugestehen, daß in dieser Frage von beiden Seiten mit Emotionen gearbeitet wird, die jenseits dessen liegen, was sachlich gerechtfertigt ist? Würden Sie dies besonders im Hinblick auf eine Schlagzeile in der Zeitung der Europa-Union zugestehen, die — wenn ich mich recht erinnere — heißt: Wer gegen Maastricht ist, ist für Sarajevo?
Diese Schlagzeile gibt in der Verkürzung nicht das wieder, was man sagen wollte. Aber Schlagzeilen bergen immer diese Gefahr in sich. Man muß den Artikel dazu lesen. Aber lassen Sie mich, gerade weil Sie Sarajevo ansprechen, antworten — diese Gefahr liegt auch im Vortrag von Herrn Conradi —: Herr Conradi, die Menschen, die sich in Ost- und Mitteleuropa befreit haben, wollen nicht solche Verhältnisse, wie wir sie jetzt in Jugoslawien vorfinden, sondern sie wollen die friedlichen Verhältnisse, die wir mit Hilfe der Vereinigung Europas beispielhaft für das ganze kommende Europa in Westeuropa erreicht haben.
Ich kann es noch schärfer formulieren: Wer sich heute der politischen Einigung Europas — der Maastrichter Vertrag ist ein weiterer, nicht der endgültige, Schritt in Richtung auf das vereinigte Europa — verweigert, muß damit rechnen, daß die Zukunft Europas mehr in die Richtung des Dreißigjährigen Krieges geht als in die Richtung eines menschlichen, friedlichen Miteinanders.
Das, was wir im Moment in Teilen Europas ganz in der Nähe erleben, nämlich im ehemaligen Jugoslawien, muß uns alle zum Nachdenken darüber zwingen, wie wir diesen Menschen Perspektiven bieten können.
Deshalb werden wir bei Maastricht nicht nur an die Vereinigung des westlichen Europa denken, sondern wir müssen über Maastricht hinaus daran denken, daß wir den Menschen, den Völkern in Osteuropa nicht deshalb dabei geholfen haben, sich zu befreien, um sie jetzt alleinzulassen.
Meine Damen und Herren, die Debatte hat eine erfreuliche Übereinstimmung zwischen den politischen Parteien gezeigt. Ich lasse die Kommunisten außen vor, weil ich den Eindruck habe, daß sie teilweise noch mit der Diktion vergangener Zeiten, ohne Kenntnis des Inhalts des Vertrages, glauben, Wähler täuschen und gewinnen zu können. Wir tragen gemeinsam eine schwere Verantwortung, weil noch immer ein großes Leck zwischen dem Bewußtsein der Bevölkerung über das, was Europa bringt, und unserer Diskussion besteht.Deshalb freue ich mich, daß sich das Bundespresseamt entschieden hat — ich würde etwas kritisch hinzufügen: endlich —, eine öffentliche Überzeugungskampagne „Was bedeutet Europa positiv für uns " in den nächsten Monaten durchzuführen. Ich bitte das Bundespresseamt, ich bitte die Bundesregierung, diese öffentliche Kampagne nicht auf Zeitungsartikel oder Illustriertenbeiträge zu beschränken, sondern überzeugende Argumente dort zu veröffentlichen, wo die Menschen auch Zeit haben, sie zu lesen: auf den Bahnhöfen, in den Zügen, in den Postämtern, überall dort, wo Menschen die Argumente wahrnehmen, die nicht zufällig eine teure Anzeige in einer Zeitung lesen. Wenn es uns Politikern nicht gelingt, zu erreichen, daß die Menschen mehr Kenntnisse über das erlangen, was wir gemeinsam in Europa vorhaben, werden wir zwar den Maastrichter Vertrag ratifizieren, aber zwischen unserem politischen Wollen und den Sorgen der Bevölkerung wird weiterhin eine große Differenz bestehen.Frau Wieczorek-Zeul hat in ihrer Rede ein wenig den Beweis dafür geliefert, wie man zwar gemeinsam von etwas überzeugt sein kann, dann aber glaubt, dies aus Profilneurose gegensätzlich diskutieren zu müs-
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Peter Kittelmannsen. Dies ist kein beispielhafter Beitrag. Beispielhafte Beiträge sind die Ausführungen der übrigen Redner, die um die schwere Aufgabe wissen, die Bevölkerung zu überzeugen. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten häufig Gelegenheit haben, die Öffentlichkeitsarbeit zu verstärken, Überzeugungsarbeit zu leisten. Aber dann sollten wir uns über wesentliche Dinge streiten und nicht darüber, worin wir uns schon einig sind.Schönen Dank.
Ich erteile nun Herrn Abgeordneten Professor Dr. Soell das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier nicht für die Fraktion, sondern füge einige persönliche Bemerkungen an, die sich vor allen Dingen auf den Titel V des Maastrichter Vertragswerkes und auf die Erklärung der neun WEU-Mitglieder vom Dezember 1991 beziehen. Dort soll der Kern einer gemeinsamen Sicherheitsidentität der Europäischen Union durch die Westeuropäische Union geschaffen werden und zugleich ein europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz gebildet werden. Dies ist eine Absichtserklärung, die nicht den Rang und schon gar nicht die Präzision der Teile des Maastrichter Vertrags hat, die sich mit der Währungsunion befassen.
— Es ist ein merkwürdiger Vorgang, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, in der bundesdeutschen und europäischen Öffentlichkeit. In der letzten erregten Diskussion über Maastricht wurde kaum ernsthaft diskutiert, daß auf der einen Seite die Deutschen die Entscheidungskompetenz über die Staatsfinanzen, über die Währung und über die Außenwirtschaft auf Brüssel übertragen haben und auf der anderen Seite das zweite zentrale Element europäischer Staatsbildung über Jahrhunderte hinweg, nämlich die äußere Sicherheit, nicht integriert ist. Das erste Element hat die Bundesregierung weggegeben, wobei ich ihr konzediere — auch unter Berücksichtigung dessen, was angesichts der deutschen Vereinigung zu leisten war —, daß ich dafür Verständnis habe. Aber sie hat in dem anderen Bereich dafür nichts bekommen.Wir wissen, daß andere sehr viel intensiver auf ihrer national-staatlichen Souveränität beharren. Wir haben dafür nur Absichtserklärungen bekommen. Ich weiß, daß in allen Fraktionen die Probleme der Außen- und Sicherheitspolitik gerade in bezug auf die europäische Integration diskutiert werden. In meiner Fraktion werden sie sicher sehr viel intensiver und streitiger diskutiert als in den Koalitionsfraktionen. Dies muß man konzedieren. Wenn sich meine Fraktion über diesen Punkt schon eine Meinung gebildet hätte, hätte sie dies zu einem der zentralen Punkte der Auseinandersetzung mit den Koalitionsfraktionen und der Regierung über Maastricht machen können, ähnlich wie die Probleme der Sozial- und der Umweltunion. Aber es ist noch nicht soweit. Ich verstehe zumTeil die Bedenken vor dem Hintergrund bestimmter Situationen, daß sich Bündnisse in einer schwierigen Phase der Umorientierung befinden, daß es Konfliktszenarien nach dem Muster des Golfkrieges gibt, daß einseitige Interessenwahrnehmungen durch Großmächte nicht verhindert werden. Dies verstehe ich.Wenn man wöchentlich mit der Situation in Westeuropa zu tun hat, weiß man, daß nicht die Intervention, sondern die Nichtintervention der Alltag ist, die kollektive Furcht vor Interventionen selbst angesichts solcher Vorgänge, solchen Völkermords — wie es viele von dieser Seite ausgedrückt haben — wie im ehemaligen Jugoslawien. Es ist wirklich zu fragen — dies fragen sich auch viele Bürgerinnen und Bürger —, weshalb es auf der einen Seite möglich ist, daß die Staaten der Westeuropäischen Union nach wie vor 2,1 Millionen Soldaten unterhalten und 230 Milliarden DM im Jahr für Rüstung und Verteidigung ausgeben, und auf der anderen Seite das, was bitter notwendig wäre und was mit sehr viel weniger Aufwand möglich wäre, nämlich die UN-Resolution zu unterstützen, um bestimmte humanitäre Maßnahmen abzusichern, um — wie es im Irak möglich war — Flugverbotszonen und viele andere Dinge durchzusetzen, nicht zu leisten ist.Hier verzweifeln viele Menschen zu Recht an Europa. Deshalb müssen wir gerade auf diesem Gebiet unsere Anstrengungen fortsetzen. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Art. 223 der Römischen Verträge sollte nach dem Willen der Kommission — hier muß man sie loben — verändert, sogar gestrichen werden, weil er noch den nationalen Vorbehalt bei Fragen des Rüstungsexports beinhaltete. Hierbei hat es gar keinen Fortschritt gegeben. Wenn wir in Entschließungen der Vereinten Nationen Waffenembargos fordern, die Europäische Gemeinschaft selbst aber ihre Aufgaben nicht erfüllt hat, bestimmte Voraussetzungen nicht geschaffen hat, müssen wir auch die Bürgerinnen und Bürger verstehen, daß sie der Auffassung sind, daß die Europäische Gemeinschaft auf diesem sensitiven Gebiet — die Bilder von Opfern flimmern jeden Tag über die Mattscheiben — ihre Aufgaben nicht erfüllt hat.Die Hindernisse für eine Sicherheitsunion bei unseren Nachbarn sind mir bekannt. Soweit es die Vorbehalte auf parlamentarischer Ebene bei unseren Kolleginnen und Kollegen in den nationalen Parlamenten betrifft, etwa im britischen Unterhaus, in der französischen Nationalversammlung, aber auch im niederländischen, belgischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Parlament, habe ich sogar Verständnis dafür. Sie wollen nicht auf ihre nationalen Kontroll- und Initiativrechte verzichten, solange nicht klar ist, wohin die Reise geht.Deshalb wollen sie an der Westeuropäischen Union und ihrer Parlamentarischen Versammlung festhalten, und zwar über das Jahr 1998 hinaus. Ich selber bin etwas anderer Ansicht und hänge nicht an dem Vorzeichen Westeuropäische Union.Nur sage ich gerade vor dem Hintergrund der Subsidiaritätsdebatte, daß wir in diesem Berich institutionelle Vorkehrungen brauchen. Subsidiarität ist nur eine politisch-moralische, keine justitiable Norm,
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Dr. Hartmut Soelljedenfalls nicht bisher. Das heißt, sie muß sowohl durch eine konkrete europäische Verfassung mit klarer Kompetenzabgrenzung etwa nach dem Muster eines Bundestaates unterfüttert werden als auch institutionell durch einen Senat, eine zweite Kammer. Der Ministerrat jedenfalls ist diese zweite Kammer nicht. Es muß ein Senat sein, in dem die nationalen Parlamente mit vertreten sind und sich prioritär dem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik widmen.Die WEU-Versammlung versteht sich ein Stück weit als Brücke im Bereich der Sicherheit zu einer so ergänzten europäischen Verfassung.Zum Schluß möchte ich auf ein Problem zu sprechen kommen, das künftig noch eine bedeutendere Rolle spielen wird. Henry Kissinger hat sich neulich ironisch dazu geäußert, daß all die vielen Kürzel, z. B. EG, EU — Europäische Union —, WEU — Westeuropäische Union— usw., einzelnen Ländern häufig dazu dienen, jeweils ihre politischen Interessen und Steckenpferde durchzusetzen.Andere außerhalb Westeuropas bedienen sich natürlich ebenfalls dieser Mittel, teilweise unsere Nachbarn, teilweise die Japaner, teilweise auch die Vereinigten Staaten. Gerade bei den letzteren wird deutlich, daß sie ihre Politiken in den einzelnen Feldern jeweils auf die wichtigsten Verbündeten ausrichten. Wenn sie z. B. im Bereich der Sicherheit ihre Interessen durchsetzen wollen, setzen sie auf die Briten und auf die Niederländer. Wenn sie bestimmte Interessen im Bereich der GATT-Verhandlungen durchsetzen wollen, setzen sie auf die Deutschen. Wenn sie bestimmte Interessen im Bereich der Kultur durchsetzen wollen, setzen sie eher auf die Franzosen. Wenn es in der „chasse gardée" der Franzosen in Afrika drunter und drüber geht, dann setzen sie natürlich auf die Zusammenarbeit mit Frankreich.So etwas zu tun ist legitim. Nur bedeutet dies auch künftig, wenn sich die Europäer auf diesem sensiblen Feld in den nächsten Jahren nicht zusammenschließen, daß diese Politik weitergetrieben wird und daß der Zerfaserungsprozeß in diesem Bereich weitergeht. Angesichts der unübersehbaren Tendenzen — bei uns wie anderswo — zur Renationalisierung kann ich davor nur warnen. Es wird schrecklich enden, und es wird auch vor dem Hintergrund der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien eher noch schwieriger werden, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die von den Menschen auch akzeptiert wird. — Das wollte ich hier noch anmerken. Ich bin grundsätzlich für Maastricht, aber dies ist ein ganz gravierender Mangel, der hier vermerkt werden muß.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ulrich Irmer das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute auf unserer Tagesordnung auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Grundgesetzes. Es ist vorgeschlagen worden, in Art. 23 des Grundgesetzes die Art festzulegen, wie Bundestag und Bundesrat in Zukunft an den europäischen Dingen mitwirken sollen.Ich sage Ihnen aber eines und wende mich dabei an die Bundesregierung: So, wie Sie das vorgeschlagen haben, wird der Deutsche Bundestag das nicht verabschieden können. Vielmehr müssen wir in den Ausschüssen erhebliche Korrekturen vornehmen.Es heißt zwar im Abs. 2 dieses Vorschlags, in Angelegenheiten der Europäischen Union wirkten der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit, dann folgt aber in den weiteren Absätzen eine ausführliche Schilderung dessen, wie der Bundesrat seine Rechte wahrnehmen darf; aber vom Bundestag ist nicht mehr die Rede. Dies ist für den Deutschen Bundestag von seinem Selbstverständnis her schlicht nicht akzeptabel.
Wenn wir schon mit Recht sagen, der Bundesrat muß für Rechte, die er im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozeß verliert, eine Kompensation erhalten, dann müssen wir genauso sagen, auch wir müssen für die Rechte, die wir verlieren, eine Kompensation erhalten. Nun muß ich dazusagen: Das ist nicht eine Folge von Maastricht — da bitte ich Herrn Conradi, besonders aufmerksam zuzuhören —, sondern das ist der lamentable Zustand, in dem sich die Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft überhaupt befindet.Wir sollten uns auch nicht der Illusion hingeben, daß wir das durch den Versuch ändern könnten, als nationale Parlamente das wiederzuholen, was wir schon einmal aufgegeben haben. Die Lösung kann nur darin liegen, daß das Europäische Parlament auf die Dauer zu einem Vollparlament ausgebaut wird. Ich sehe aber überhaupt nicht ein, daß wir, bis das der Fall sein wird, dem Bundesrat exzessive Mitwirkungsmöglichkeiten im Grundgesetz einräumen, selber aber über unsere Rechte stillschweigen.
Deshalb muß dieser Entwurf in den Ausschußberatungen dahingehend geändert werden, daß der Deutsche Bundestag in gleicher Weise mitwirken kann. Dieses mag der Bundesregierung unbequem sein. Ich biete da einen Kompromiß an: Ich bin gerne damit einverstanden, daß wir auf eine maßgebliche Mitwirkung des Deutschen Bundestages verzichten, wenn Sie sich dazu durchringen können, im Falle des Bundesrates nicht anders zu verfahren.Das hat nichts mit der Exekutivbefugnis der Bundesregierung zu tun, weil wir uns hier im Bereich der europäischen Gesetzgebung bewegen. Deshalb soll niemand sagen, das sei eine Einschränkung der Exekutivbefugnis, wenn wir als Parlament sagen: Wir wollen da entscheidend mitreden. Bitte, überlegen Sie das noch einmal ganz genau. Ich glaube, die Bundesregierung ist in diesem Punkt vor den Begehrlichkeiten der Bundesländer vorzeitig eingeknickt.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einen Aspekt kurz eingehen: Die Verträge von Maastricht befürworten wir aus politischen Gründen. Wir
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Ulrich Irmersollten hier über den Tellerrand von Westeuropa hinausschauen.
Wir müssen uns der Herausforderung stellen, daß wir östlich von uns junge Demokratien haben, die wir bisher — ich sage das ganz hart — im Stich gelassen haben und für die wir außer Verbalbekundungen nichts unternommen haben.
Wir müssen hier wesentlich mehr tun, und wir müssen auch einmal ganz konkret handeln. Schauen Sie sich einmal die armen Ungarn an. Sie können kaum mehr aufrecht gehen, weil auf ihren Schultern die ganzen Dankesbezeugungen liegen, die wir ihnen seit Jahren abstatten. Aber konkret haben wir nichts getan.
Wir müssen die Märkte öffnen. Die Assoziierungsverträge sind in dieser Hinsicht völlig unzureichend. Wir müssen aber als zweites noch etwas anderes tun: Wir haben seinerzeit die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Spanien, Portugal und Griechenland nur aus politischen, nicht aus wirtschaftlichen Gründen vorgenommen. Wir sind jetzt in einer vergleichbaren Situation. Wenn wir verhüten wollen, daß die Länder im Osten Europas wieder ins Chaos oder in undemokratische Zustände zurückfallen, dann müssen wir mehr tun als das, wozu wir bisher bereit gewesen sind.
Ich frage einmal ganz konkret: Warum laden wir eigentlich nicht Ungarn, Polen oder auch die Tschechoslowakei — ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß es vielleicht auch dort noch eine gedeihliche Entwicklung gibt — ein, sich an der Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu beteiligen? Warum sitzen sie nicht mit am Tisch der Minister? Warum haben sie keine Gastdelegationen im Europäischen Parlament? Warum öffnen wir, Hartmut Soell, nicht die Westeuropäische Union oder auch die NATO in viel stärkerem Maße als bisher für diese Länder?
Wir haben viel geredet, liebe Kollegen. Die Worte waren alle gut, und sie sind in Ungarn wohl vernommen worden. Es ist jetzt an der Zeit, daß wir den Worten Taten folgen lassen. Wir werden von der F.D.P.-Fraktion aus in den nächsten Tagen konkrete Vorschläge auf den Tisch legen. Wir bitten dann um Zustimmung aller Fraktionen dieses Parlamentes.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es knirscht sehr deutlich im europäischen Gebälk. Eine Ursache sind die Maastrichter Verträge. Sie sind ein Schlag ins Gesicht für viele derjenigen, die ein einiges, im Sinne der westeuropäischen Tradition zugleich liberal-bürgerfreundliches und soziales Europa wollen. Sie sind undemokratisch, sie sind bürokratisch-zentralistisch und zementieren die wirtschaftliche Vorherrschaft Europas in der Welt oder versuchen dies zumindest. Sie zementieren die Vorherrschaft der ökonomisch starken Länder in Europa. Sie befestigen die Festung Europa weiter. Sie tragen zur weiteren Hochrüstung bei, und sie schotten Europa weiter gegenüber den Armen in Ost und Süd ab. Sie bringen uns auch dem technologisch hochgerüsteten Überwachungsstaat ein erhebliches Stück näher. Alles das sind wahrhaftig Gründe, zu Maastricht nein zu sagen.Und doch zögert man in der jetzigen Situation, tatsächlich nein zu sagen. Der Grund hierfür ist insbesondere die Entwicklung in diesem Lande, im wieder groß und einigermaßen mächtig gewordenen Deutschland. Um — mit Verlaub, Herr Präsident — einen Slogan von der Demo am vergangenen Samstag in Frankfurt wiederzugeben: Kaum ist Deutschland wieder groß, geht der Scheiß von vorne los.Um es etwas salonfähiger auszudrücken: Kaum sind die Deutschen wieder einig, groß und halbwegs mächtig geworden, schon werden sie übermütig und brechen die neonationalistische Entwicklung vom Zaune, die nicht nur zutiefst unmenschlich ist, sondern die auch das europäische Projekt, die Einigung Europas, um die es hier geht, zu zerstören droht.Die Rede ist von der Rechtsentwicklung, dem Ausländerhau, dem Rassismus, dem Antisemitismus und den Pogromen in Deutschland. Die Rede ist von den auch in der BRD inzwischen alltäglich gewordenen Menschenrechtsverletzungen, die von Deutschen gegenüber Asylanten und Asylantinnen, gegenüber Flüchtlingen, gegenüber Menschen, die aus Not in dieses Land kommen, begangen werden. Für diese Deutschen, die Urheber dieser Akte sind, für ihre Angriffe auf Kinder, Frauen und Männer und für ihre feigen Morde kann man sich gegenüber Europa und der Welt und vor allem gegenüber den Betroffenen nur schämen. Das Verhalten der deutschen Rechten ist absolut uneuropäisch. Beschämend und uneuropäisch ist aber auch das Verhalten der deutschen Spießer, die, wie in Rostock, die Bierflasche fest umklammert, Zugabe brüllen, wenn Brandsätze auf Kinder geworfen werden.Für die darin zum Ausdruck kommende Roheit und Brutalität müßten die Repräsentanten dieses Staates eigentlich die Betroffenen um Verzeihung bitten. Für den applaudierenden Mob wie für die Täter kann es keinerlei Verständnis geben. Seit wann gibt im übrigen der Verlust des Arbeitsplatzes — ein ja ständig wiederholtes Motiv — das Recht, wildfremde und unbeteiligte Menschen zu verletzten, zu verstümmeln und zu töten? Sozialarbeiterlich heranzugehen ist absolut unangebracht. Der rechte Mob und die rechten Täter müssen mit allen politischen und gesellschaftlichen Mitteln geächtet, isoliert und bekämpft werden. Sie müssen bekämpft werden, um das Projekt Europa aufrechterhalten zu können. Da sie kriminell sind, müssen sie, um den Weg für die weitere Einigung Europas offenzuhalten, mit allen rechtlichen und polizeilichen Mitteln belangt werden. Das gilt auch für
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Dr. Ulrich Briefsdie Sympathisantenszene. Der rechte gewalttätige Sumpf in der deutschen Bevölkerung muß ausgetrocknet werden, auch und gerade im Namen Europas, das unter dem deutschen Faschismus, was noch gar nicht so lange her ist, so furchtbar gelitten hat.Denn was bleibt von Europa, wenn der rassistische Flächenbrand in Deutschland weiter um sich greift? Diese Frage wurde bisher gar nicht gestellt. Was wird, wenn die Pogrome sich gegen weitere Gruppen ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen richten? Welches werden die nächsten Ziele sein, nachdem insbesondere die Neonazis nach dem Zurückweichen der demokratischen Kräfte auch hier in diesem Hause einen Erfolg sondergleichen verzeichnen können? Sinti und Roma, Bangladeshi, Angolaner und Vietnamesen haben keine starke Regierung, die sie schützen könnte. Gilt das aber für alle ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen? Werden die Deutschen wegen dieses rassistischen Flächenbrandes eines Tages nicht völlig isoliert in Europa und in der EG sein? Das europäische Projekt wird gescheitert sein, wenn wegen der Pogrome in Deutschland die italienische, spanische, portugiesische und griechische Regierung sich vor ihre in Deutschland lebenden Landsleute stellen muß. Der rechte Sumpf, der Mob in Rostock, Wismar, Quedlinburg und Dresden, die Rassisten in Ost- und Westdeutschland, sie stellen die größte Gefahr für Europa dar. Sie können sehr viel mehr zerstören als die demokratische Insensibilität derjenigen, die die Maastrichter Verträge ausgehandelt haben.Die neue deutsche Rechte ist aber nicht nur unmenschlich. Das Verhalten der Pogromvoyeure und Pogromtouristen in Rostock erinnert auch daran, daß 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion deutsche Familien in der Lüneburger Heide — man schämt sich, das zu erwähnen, aber es war so — Ausflüge an die Stacheldrahtzäune der Kriegsgefangenenlager für sowjetische Gefangene gemacht haben, um dort zuzuschauen und zuzuhören, wie die sowjetischen Gefangenen elend umkamen,
weil man sie dort ohne Nahrung, Wasser, Kleidung und Behausung — es ging in den Winter hinein — einfach sich selbst überließ. Auch das ist deutsche Geschichte.Die Politik und das Verhalten der neuen deutschen Rechten sind nicht nur unmenschlich, sondern auch dumm. Was wird wohl z. B. aus dem noch ökonomisch starken Deutschland, wenn deutsche Produkte im Ausland nicht mehr akzeptiert werden, weil an ihnen — nach dem Verständnis unserer europäischen Nachbarn — das Blut unschuldiger Menschen klebt? Was bleibt von der starken D-Mark, jener Grundlage der neuen deutschen Großmannssucht, wenn es keine Handelsbilanzüberschüsse mehr gibt? Der dumme Mob in Rostock hat mit dem Applaudieren für die Pogrome auch einige hundert Arbeitsplätze weggeklatscht. Internationale Konzerne lehnen es wegen der Gefahren für ihre Mitarbeiter bereits ab, in Ostdeutschland zu investieren.Vergessen wir nicht, ein Drittel unserer Produktion geht in den Export. Wir sind vom Ausland und vor allen Dingen vom europäischen Ausland wirtschaftlich durch und durch abhängig. Das gilt auch für unsere Wissenschaft und Technik. Was bleibt von unserer technologischen Spitzenstellung, wenn wir draußen so behandelt werden, wie unsere Rechte gemäß ihrem dummen Spruch: Deutschland den Deutschen, Ausländer raus! Ausländer und Ausländerinnen hier behandelt? Als gerade gewähltes Vorstandsmitglied einer Vereinigung französischsprachiger Informatiker bin ich es einfach satt, draußen immer mehr auf eine Stimmung zu stoßen, die zu den Pogromen in Deutschland sagt: Na ja, das sind halt die Deutschen; die sind halt so!Was wird aus den mehr als 500 000 Deutschen, die im Ausland und vor allem in den westeuropäischen Nachbarländern leben? Der Schaden, den die organisierten Neonazis, die Drahtzieher der Pogrome, aber auch der erwähnte deutsche Mob angerichtet haben, ist bereits groß. Die Rechtsentwicklung kann, wie gesagt, das Ende der Öffnung Deutschlands zur Welt, insbesondere zu Europa hin sein. Sie kann das Ende der Entwicklung Deutschlands zu einem halbwegs offenen, halbwegs europäischen und halbwegs zivilisierten Land werden.Glaube doch niemand, daß nach der Lösung der sogenannten Asylfrage durch Beseitigung des Asylrechts in der Verfassung die ausländerfeindlichen und rassistischen Pogrome abebben werden. Das ist doch eine Täuschung. Nein, der Flächenbrand wird bleiben. Herr Rühe, der als Generalsekretär der CDU zusammen mit Herrn Gerster und anderen die sogenannte Asylfrage zur zentralen politischen Aufgabe proklamiert hat, bekommt die Geister, die er gerufen hat, nicht mehr so einfach weg. Herr Rühe, Sie haben ein Feuer entfacht, das nunmehr auch die Stellung Deutschlands in Europa und das europäische Projekt zu verwüsten droht. Die politischen Kräfte, die mit Ihnen der Rechten den Rang ablaufen wollen, indem sie immer weiter nach rechts abdriften, wirken deshalb mit an der Zerstörung des europäischen Pro-j ekts.Die Antwort auf den Terror der Neonazis und den erschreckend umfangreichen rechten Sumpf in der deutschen Bevölkerung muß lauten: Hände weg vom Asylrecht, für eine weitere Öffnung Deutschlands nach Europa und in die Welt hinaus. Die Antwort muß sein: Einsatz aller strafrechtlichen und polizeirechtlichen Mittel, um die neonazistische Rechte auszuheben,
um sie dorthin zu bringen, wo sie mit ihren völkerverhetzenden, rassistischen, antisemitischen und kriminellen Aktionen und Parolen hingehört: vor Gericht und in die Gefängnisse. Einmütiger Widerstand aller demokratischen Kräfte ist notwendig: gemeinsam mit unseren Freunden in Europa gegen den dumpfen Ausländerhaß und gegen den Rassismus in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung. Wer rassistisch und antisemitisch handelt oder redet, muß gesell-
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Dr. Ulrich Briefsschaftlich und politisch geächtet, stigmatisiert, isoliert werden.
Wir müssen uns einmal klarmachen — insbesondere Sie auf der Rechten müssen sich das klarmachen —, wieviel dieses Land durch die Beiträge von Millionen ausländischer Bürger und Bürgerinnen, wieviel es durch seine Öffnung nach Europa hin gewonnen hat und um wieviel es ärmer würde, wenn es wirklich einmal wieder, wie in der furchtbaren Zeit des Dutzendjährigen Reichs, den Deutschen und nur ihnen gehörte.Die wirkliche Gefahr von Europa geht von Deutschland, von der Rechts-Entwicklung in diesem Lande aus. Diese Situation macht es schwierig, zu den Maastrichter Verträgen nein zu sagen, obwohl sie es nach ihrem Inhalt und ihrer Wirkungsweise durchaus verdienen.Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einer kleinen historischen Reminiszenz beginnen und nicht sofort zum Thema Maastricht kommen, sondern von einem Ereignis berichten, das in Zusammenhang mit zehn Jahren Regierungszeit Helmut Kohl steht.Ich darf mir trotzdem eine kurze Anmerkung vorweg erlauben. Selten habe ich eine Debatte erlebt, in der eine Bundesregierung so viele Fehler und Versäumnisse im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Vertrages eingeräumt hat, um dann doch zu dem Ergebnis zu kommen, daß alles beim alten bleiben soll.Wenn ich an das erinnern darf, was ich ansprechen wollte, nämlich zehn Jahre Helmut Kohl, dann reizt es mich als ehemaliges Mitglied der Christlich Sozialen Union natürlich, auf ein kleines Ereignis zurückzukommen, als die Landesgruppe der CSU von Franz Josef Strauß eingeladen war, nach München zu kommen, um dort zusammen mit der restlichen Vorstandschaft darüber zu debattieren, ob ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt zugunsten von Helmut Kohl durchgeführt werden sollte oder nicht. Strauß war dagegen. Er fühlte sich schlichtweg von Helmut Kohl hintergangen. Helmut Kohl hatte ihm 1978 die Kandidatur zur Kanzlerschaft überlassen, wohlwissend, daß er keine Chance gegen Helmut Schmidt haben würde.
Außerdem wurde damit verhindert, daß Strauß mit seiner Partei eine bundesweite Liste bei der Europawahl 1979 anstreben konnte.Zudem vermutete Strauß zu Recht, daß Absprachen zwischen Kohl und Genscher stattgefunden hatten, abzuwarten, bis Strauß Bonn verlassen hätte, um dann den Regierungswechsel vorzunehmen. Er war gefühlsmäßig also gegen den Wechsel, aber es war ihm klar, daß die Chancen für den Regierungswechsel zu dieser Zeit wahrscheinlich optimal waren.Entsprechend verlief auch die Debatte in München. Strauß war schlichtweg gegen den Wechsel. Das Erstaunliche war, daß die gesamte politische Prominenz der CSU in keiner Weise für diesen Wechsel eingetreten war. Erst als Strauß selber nach ca. zweieinhalb Stunden zu schwanken begann, zwischen Intellekt und Gefühl hin und her gerissen,
und sich die Waage so zugunsten des Regierungswechsels senkte, kam die Prominenz der CSU — an der Spitze Theo Waigel, Zimmermann usw. — aus der Reserve hervor.Sie sollen nur wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Ich behaupte einfach, daß diese Art von Opportunismus leider längst unsere gesamte Politik durchzieht.
Da treten Spitzenpolitiker auf, beschwören die großen Probleme und Sorgen unserer Menschen, und stellen sich gleichzeitig daneben, als ob sie damit überhaupt nichts zu tun hätten.Der Finanzminister beklagt den europäischen Zentralismus, aber er selbst hat die Verträge von Maastricht gerade erst unterzeichnet. Andere beklagen das Informationsdefizit und tun so, als ob das keine Frage und kein Problem der Regierung wäre. Vor allen Dingen wird fast unisono frenetisch die Forderung nach einem schärferen Durchgreifen gegen sogenannte extremistische Gewalttäter erhoben, aber gleichzeitig unterläßt es die Bundesregierung, der Polizei die notwendigen Mittel an die Hand zu geben, und zwar auch materiellrechtlich, um gegen die allgemeine Gewaltkriminalität, die unglaublich zugenommen hat, vorzugehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht hier doch gar nicht um das Asyl, sondern es geht um den Asylmißbrauch, der bekämpft werden muß, und die sich sehr oft darum herumrankenden Straftaten.Nun zu Maastricht. Ich habe vor dem Deutschen Bundestag jüngst darauf hingewiesen, daß die Maastrichter Vereinbarungen zur Industriepolitik einen massiven Eingriff in die marktwirtschaftlichen Strukturen bedeuten würden. Alle Fachleute geben mir darin recht, erfreulicherweise auch Fachleute aus der Union. Man sagt, man sei überfordert und nicht gefragt worden. Warum, so frage ich, hat man dann unterzeichnet?Nur um die Kollegen, die vielleicht nicht alle Textpassag en des Maastrichter Vertrags gelesen haben können, einmal zu fragen, was sie hier ratifizieren wollen, möchte ich auf Art. 130 hinweisen und sie fragen, was der Vertrag eigentlich meint, wenn es heißt, daß die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten eine „Förderung einer besseren Nutzung des industriellen Potentials der Politik in den Bereichen Innovation, Forschung und technologische Entwicklung" zu gewährleisten hätten. Ich frage mich: Wo ist das „industrielle Potential der Politik", und was soll damit geschehen? Man muß sich solche Sätze auf der Zunge
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Ortwin Lowackzergehen lassen, damit man weiß, welch ein Blödsinn hier teilweise auch drinsteht. Aber vielleicht erhalten wir durch die portugiesische oder irische oder dänische Urfassung des Vertrages eine notwendige Interpretation dazu.Maastricht, das ist Versailles ohne Krieg, schrieb der „Figaro" , der sich große Verdienste um die deutschfranzösische Verständigung erworben hat. Wir Deutsche sollten endlich lernen, auf unsere wahren Freunde zu hören und die Lust abbauen, permanent unsere Gegner zu bevorzugen, und sei es auch nur beim besonders lockeren Umgang mit Steuergeldern.Ich behaupte noch mehr: Maastricht birgt — ich bitte, das zu erwägen — den Keim zur Zerstörung der Europäischen Gemeinschaft und zur Teilung Europas, mit großer Wahrscheinlichkeit unter fürchterlichen Voraussetzungen, vor allem ständigen Streitereien, in sich.Keine künftige Generation in Deutschland — ich spreche die jungen Menschen in unserem Land an — wird sich bei der ungeheuren Anhäufung von öffentlichen Schulden in Deutschland auf Dauer bereiterklären, mit riesigen weiteren Transferzahlungen in andere europäische Länder wie eine Weihnachtsgans ausgenommen zu werden.Ich bitte Sie: Lesen Sie sich einmal durch, was in der Drucksache der Europäischen Kommission unter der Überschrift „Ausreichende Mittel für unsere" — der Kommission — „ehrgeizigen Ziele" alles drinsteht. Dann wissen Sie, welch ungeheure Belastungen auf den Bundeshaushalt — sprich: auf die zukünftigen Generationen — zukommen sollen. Keine dieser Generationen wird bereit sein, das Leistungsprinzip zu Lasten der Deutschen in Europa ad absurdum zu führen. Aber man wird mit Maastricht eine Handhabe finden, die Deutschen ins Unrecht zu setzen, weil sie sich angeblich nicht an vertragliche Abmachungen halten wollten.Ich persönlich bin der Auffassung, je flexibler und von freiheitlichem Geist getragen Europa bleibt, desto bestandsfähiger wird es sein. Maastricht wird dem nicht gerecht. Es ist ein in sich nicht gerechter Vertrag und kann nur kontraproduktiv sein. Das sage ich als überzeugter Europäer, der auch an die europäische Zukunft glaubt.Ich frage Sie nochmals: Wer soll eigentlich die großen Probleme in Deutschland lösen, wenn nicht die Deutschen selbst? Wie sollen wir dazu beitragen, daß die Probleme der anderen Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft gelöst werden können, wenn wir nicht erst im eigenen Land zu Stabilität und — jetzt — neuer Wirtschaftskraft und innerer Sicherheit zurückgefunden haben?Der Wert des europäischen Protektionismus muß doch auch einmal überprüft werden. Er ist doch längst umstritten. Er war am Anfang gut. Später hat er verhindert, daß die Entwicklungsländer wirkliche Partner werden konnten, und er hat viel dazu beigetragen, daß man beispielsweise auf die japanische Herausforderung zu spät und nicht angemessen reagiert hat. Das heißt: Wir müssen erst einmal eine Debatte über die Grundstrukturen der Gemeinschaft führen, bevor wir derartig weitreichende weitere Verpflichtungen eingehen.Ich bin Thomas Goppel sehr dankbar für seinen Beitrag, weil er die Zweifel ja geäußert hat, aber es bleibt doch dabei: Mit Maastricht soll in wichtige Bereiche des Grundgesetzes eingegriffen, es soll der europäische Bürger geschaffen werden. Aber die Menschen in Deutschland werden zu dieser Statusänderung nicht gefragt. Die Spitzenpolitiker bieten, wie die Entwicklung in Bosnien zeigt, leider allzuoft ein jämmerliches Bild des Opportunismus, der Unfähigkeit, der Unmenschlichkeit und leider auch der Überheblichkeit. Wer hier so tut, als ob ihn das dänische Nein nichts anginge, der belügt doch nur die eigene Bevölkerung. Natürlich ist das dänische Nein entscheidend für die Frage der Gültigkeit des gesamten Vertrags. Wir sollten die Chance, die uns die Dänen eingeräumt haben, wahrnehmen, um eine Reihe von Regelungen dieses Vertrages zu relativieren und den Vertrag davon zu befreien. Dieses Parlament ist zu dieser Aufgabe aufgefordert. Es kann nicht allem folgen, was eine innerlich schwache Regierung vorzuschlagen hat. Wir können nicht über die Köpfe der Menschen entscheiden.Die Alternative, nach der vorhin gefragt wurde, ist: Schaffen wir doch erst einmal den europäischen Binnenmarkt vom 1. Januar an! Bekennen wir uns zu den europäischen Prinzipien, und bauen wir jetzt nicht schon an einem Europa, das sich erst in den nächsten Jahren Stück für Stück tatsächlich aufbauen läßt!
Meine Damen und Herren, ich kann nunmehr die Aussprache schließen.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Einsetzung eines Sonderausschusses zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union . Er liegt Ihnen vor auf Drucksache 12/3373. Wer ist für diesen Antrag? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig angenommen worden.Wir kommen nunmehr zu den Überweisungen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/3334, 12/3202, 12/3319, 12/3338, 12/3003, 12/3004, 12/3129, 12/3132, 12/3353, 12/3322, 12/3366 und 12/3367 an die in der Tagesordnung und im Anhang zur Zusatzpunktliste aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Zusatzpunktliste mit Anhang ist Ihnen heute morgen zugegangen.Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Vertrag über die Europäische Union auf Drucksache 12/3334 — das ist Tagesordnungspunkt 5 a — soll zusätzlich zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Die Entschließung des Europäischen Parlaments auf Drucksache 12/3003 — das ist Tagesordnungspunkt 5 e — soll auch an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuß für Forschung und Technologie zur Mitberatung überwiesen werden.
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch frage nunmehr, ob es weitere Vorschläge gibt. — Das ist nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, daß diese Überweisungen beschlossen sind.Zur Erinnerung: Wir hatten den Tagesordnungspunkt 6 abgesetzt und können nunmehr zum Tagesordnungspunkt 11 kommen:Vereinbarte Debatte über Extremismus und GewaltDazu liegen uns Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. und drei Entschließungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste sowie ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß ich eine Debattenzeit von zwei Stunden vorschlage. Ich hoffe, das Haus ist damit einverstanden. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich dies als beschlossen feststellen und dem Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters, das Wort erteilen. Herr Bundesminister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Vorlage des Verfassungsschutzberichtes 1991, noch vor der Welle rechtsextremistischer Gewalt, habe ich das erschreckende Phänomen der Gewalttaten gegen Ausländer gegeißelt und erklärt: Die Gewalttaten gegen Ausländer waren und sind schändlich; die Bundesregierung wird es nicht dulden, daß rechtsextremistische und neonationalsozialistische Schlägertrupps fremdenfeindliche Aktionen und schlimme Gewalttaten begehen. Nichts und niemand gibt das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze oder zu Gewalt.
Dies erkläre ich mit allem Nachdruck auch heute. Wir Deutschen wissen aus dem leidvollen Teil unserer Geschichte, daß Extremismus, Haß und Gewalt immer in Unheil und Verhängnis geendet haben. Straßenterror und brutale Gewalt sind Angriffe auf unsere Rechts- und Werteordnung. Sie bedrohen den inneren Frieden unseres Landes, und deswegen muß sich unsere Demokratie, d. h. wir alle, gegen ihre Feinde mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen.
Meine Damen und Herren, ich sage dies, weil ausländerfeindliche Ausschreitungen und Übergriffe die unveräußerliche Würde des Menschen verletzen. Ich sage dies auch, weil die Ereignisse der vergangenen Wochen, Gewalttaten mit primitiver, ausländerfeindlicher Hetze und brutalen, kriminellen Angriffsweisen gegenüber anderen Menschen, einen schweren Schatten werfen auf das Bild Deutschlands in der Welt. Aber diese gewalttätige Minderheit ist nicht Deutschland, meine Damen und Herren!
Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. 6 Millionen Ausländer leben hier. Sie sind Teil unseres Arbeits- und Gesellschaftslebens. Als die schrecklichen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien passierten, ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch unser Land, und diese Welle hält bis heute an. Ich denke,auch an dieser Stelle sollten wir der deutschen Öffentlichkeit, der deutschen Bevölkerung dafür nachdrücklich danken.
Um so wichtiger ist es, deutlich zu machen: Wer gewalttätig gegen Menschen vorgeht, wer Häuser in Brand setzt und Fremdenhaß schürt, ist ein Krimineller und muß als solcher behandelt werden.
Deshalb muß der Rechtsstaat alle Mittel ausschöpfen. Wir brauchen einen Solidarpakt aller demokratischen Kräfte gegen Extremismus und Radikalismus, um fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Übergriffe zu verhindern und zu bekämpfen, ihren Ursachen zu begegnen und Ausländer vor Angriffen wirksam zu schützen.Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich betonen: Die Polizei versieht ihre schwierige Aufgabe mit großem Einsatz und vorbildlicher Pflichterfüllung. Sie verdient bei ihrem Kampf gegen Rechtsextremismus und Linksextremismus — den es ja auch nach wie vor gibt, wie die gemeingefährlichen Ausschreitungen am 3. Oktober in Berlin zeigen — Anerkennung und Dank sowie die Unterstützung aller Bürger.
Die Innen- und Justizminister des Bundes und der Länder werden morgen in einer Sonderkonferenz über die Bedrohungssituation und über Bekämpfungsstrategien beraten. Dazu sage ich: Die Auseinandersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, mit Gewalt und Extremismus kann nicht allein von Polizei und Justiz geführt werden. Wir brauchen ganz sicher in Deutschland verstärkte Anstrengungen mit dem Ziel, extremistische Gewaltpotentiale, insbesondere unter jungen Menschen, schon im Keim zu unterbinden.Ich bin überzeugt, daß die Innen- und Justizminister des Bundes und der Länder die Dringlichkeit der gesamtgesellschaftlichen Aufklärungskampagne ebenso bestätigen wie die Notwendigkeit, durch die Erziehung in den Familien sowie durch die pädagogische Arbeit in der Schule, in Vereinen und in Jugendverbänden klare Werte und Normen zu vermitteln, und dies insbesondere angesichts der Tatsache, daß nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden über 80 % der rechtsextremistischen Gewalttäter unter 20 Jahren sind. Auch die Medien tragen hier eine ganz große Verantwortung.
Ich stimme zu, daß rechtsstaatliche Stärke und Besonnenheit gefordert sind. Ich will, daß der Rechtsstaat das bestehende gesetzliche Instrumentarium nutzt, um kriminelle Gewalt konsequent zu verfolgen und zu ahnden. Ich fordere aber auch uns alle auf, unvoreingenommen zu prüfen, welche rechtsstaatlichen Mittel zusätzlich nötig sind, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und vorbeugend zu wirken
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9395
Bundesminister Rudolf Seitersgegen jede Art von Extremismus, Kriminalität und Gewalt.
Die Bundesregierung hat schon vor den gewalttätigen Ausschreitungen in Rostock die Länderpolizeien im Osten bei gewaltgeneigten Versammlungen massiv durch den Bundesgrenzschutz unterstützt und wird dies auch in Zukunft tun. Der Bund unterstützt auch die Ausstattung von Einsatzeinheiten der Bereitschaftspolizei in den neuen Ländern. Nach der bisherigen Planung sind bis 1995 hierfür rund 100 Millionen DM vorgesehen. Mit allen neuen Bundesländern wurden Verwaltungsabkommen über die Bereitschaftspolizei geschlossen. Sechs Bereitschaftspolizei-Abteilungen mit 20 Einsatzhundertschaften befinden sich im Aufbau. Erst für spätere Jahre vorgesehene Haushaltsmittel für die vollständige Ausstattung mit Führungs- und Einsatzmitteln will ich vorziehen, um eine schnelle, optimale Einsatzbereitschaft sicherzustellen.Dem dezentralen jederzeitigen Bereithalten gut trainierter und einsatzerfahrener geschlossener Zugriffseinheiten durch die Bereitschaftspolizei und den Bundesgrenzschutz muß eine hohe Priorität zukommen. Sie sind besonders wichtig für die Festnahme von Gewalttätern, für die gerichtsverwertbare Beweisführung und somit für einen dauerhaften Erfolg polizeilicher Maßnahmen.Ich werde bei der morgigen Sondersitzung der Innen- und Justizministerkonferenz auch auf die Notwendigkeit hinweisen, zu jeder Zeit ein ausreichendes und schnell verfügbares Kontingent von Polizeibeamten bereitzuhalten.Ich halte zur weiteren Unterstützung der polizeilichen Arbeit die Errichtung eines Meldedienstes „Fremdenfeindliche Straftaten" zwischen Bund und Ländern für geboten. Ziel dieses Meldedienstes muß sein, die vor Ort gewonnenen polizeilichen Erkenntnisse gerade auch für effektive Bekämpfungsstrategien in Zusammenhang mit reisenden Mehrfachtätern besser zusammenzuführen und auszuwerten.Ich habe schon bei der Vorlage des Verfassungsschutzberichtes gefordert, mehr Vorfeldaufklärung durch den Verfassungsschutz durchzuführen. Ich hoffe auf einen gemeinsamen Beschluß der Innenminister des Bundes und der Länder mit Ihrer Unterstützung, den auf Grund der Wiedervereinigung und des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in Osteuropa eingeleiteten Personalabbau in den Verfassungsschutzbehörden rückgängig zu machen oder zumindest auszusetzen und die Verfassungsschutzbehörden in den neuen Ländern personell zu unterstützen.
Der Verfassungsschutz muß sein Augenmerk neben der Beobachtung linksextremistischer Entwicklungen verstärkt auf rechtsextremistische und gewalttätige ausländerfeindliche Entwicklungen richten. Hierzu sind voll funktionsfähige Verfassungsschutzbehörden auch in den neuen Bundesländern unverzichtbar.Ich habe das Bundesamt für Verfassungsschutz angewiesen, zu prüfen, ob die Beweislage ausreicht, bestimmte rechtsextremistische Organisationen zu verbieten. Die Ausschreitungen der jüngsten Zeit und die zunehmende Gewalt machen es darüber hinaus dringend erforderlich, das Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland fortzuschreiben, um der veränderten Lage auf dem Gebiet der inneren Sicherheit Rechnung zu tragen. Ich habe an die Innenministerkonferenz appelliert, die Arbeit an der Fortschreibung des Programms zügig fortzuführen.Meine Damen und Herren! Ich habe ausdrücklich betont, daß der Rechtsstaat das bestehende gesetzliche Instrumentarium konsequent nutzen muß, um kriminelle Gewalt zu verfolgen und zu ahnden. Wir sind uns einig, daß die Justiz schnell und hart gegen j ede Form politisch verbrämter Gewalt vorgehen muß, um über den Einzelfall hinaus abschreckende Wirkung zu erzielen.Dazu gehört, daß erkannte Täter sofort festgenommen, schnell vor Gericht gestellt und hart verurteilt werden. Von den Möglichkeiten, Personen zur Verhinderung von Straftaten in Gewahrsam zu nehmen, was nach den Polizeigesetzen der Länder möglich ist, muß konsequent Gebrauch gemacht werden. Die Möglichkeiten des Versammlungsrechts für ein befristetes und räumlich begrenztes Demonstrationsverbot müssen genutzt und, wo nötig, ausgewertet werden.Ich fordere darüber hinaus, unvoreingenommen zu prüfen — ich wiederhole dies —, ob in bestimmten Bereichen eine Verschärfung der Gesetze nötig ist. Ich persönlich sage dazu ein klares Ja.
Die jüngsten Erfahrungen zeigen doch, daß die kriminelle Gewaltanwendung, wie etwa der Angriff mit Molotowcocktails oder Steinen aus einer Menschenmenge heraus, oft nicht gerichtsverwertbar aufgeklärt werden kann. Wer aus der schützenden Anonymität einer selbst keine Gewalt anwendenden Menschenmenge heraus operiert, kann als Tatverdächtiger oft nicht überführt werden. Deshalb trete ich dafür ein, den Tatbestand des Landfriedensbruchs zu ergänzen, damit es Gewalttätern erschwert wird, aus einer Menge heraus zu handeln oder in ihr unterzutauchen. Ich denke daß wir eine Regelung brauchen, nach der sich auch strafbar macht, wer sich im Falle von solchen Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen aus einer Menschenmenge heraus trotz Aufforderung durch die Polizei nicht entfernt oder sich dieser Menge anschließt.
Ich denke, daß uns die Bilder doch allen gemeinsam noch vor Augen stehen, die wir
in Rostock erlebt haben, Bilder von Kriminellen, vonGewalttätern, die kriminelle Handlungen begangen
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Bundesminister Rudolf Seitershaben, die wir alle gemeinsam verurteilen. Ist es denn wirklich falsch, unvernünftig und angreifbar, wenn wir darüber nachdenken und wenn wir prüfen, wie wir künftig auch dadurch, daß wir Täter aus der schützenden Menge entfernen oder eine solche Menge von den Tätern entfernen, unsere Instrumentarien so verbessern, daß diese brutalen kriminellen Pendler vor Gericht gestellt werden können?
Ich weise auch darauf hin, daß nach geltendem Recht wegen Landfriedensbruch festgenommene Gewalttäter vom Haftrichter wieder zu entlassen sind, wenn nicht ausnahmsweise Fluchtgefahr besteht. Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr kommt meist nicht in Betracht, da es sich regelmäßig um Überzeugungstäter handelt, die die Tatbegehung einräumen. Auf diese Weise können sich diese Kriminellen schon bald wieder an weiteren Gewalttätigkeiten beteiligen. Und ich unterstelle, daß wir alle gemeinsam dies nicht wollen und daß wir darüber nachzudenken haben, wie wir das verhindern können.
— Ich möchte jetzt im Gesamtzusammenhang vortragen.Deswegen sage ich zum vierten Male: Laßt uns dies bitte unvoreingenommen prüfen! Nach meiner Meinung spricht alles dafür, das Haftrecht dahin gehend zu verschärfen, daß des Landfriedensbruchs dringend Verdächtige bei Wiederholungsgefahr auch ohne Vorverurteilung in Untersuchungshaft genommen werden können.
Meine Damen und Herren, wenn es denn stimmt, daß die Verhinderung von Gewalttaten Vorrang hat, die Bestrafung von Tätern ebenso, und wenn wir uns in der Zielsetzung einig sind — und wir sind uns doch in dieser Zielsetzung einig —, dem Treiben extremistischer Gewalttäter eine eindeutige und entschiedene rechtsstaatliche Antwort zu geben, dann müssen wir doch auch unvoreingenommen an die Lösung dieser Probleme herangehen können.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung der gewalttätigen Ausschreitungen in Teilen unseres Landes ist eine Herausforderung für Politik, für Sicherheitsbehörden, für die Justiz, für alle gesellschaftlichen Gruppen. Dieser Herausforderung muß eine entschiedene, von allen demokratischen Kräften getragene Antwort gegeben werden — im Interesse der politischen Kultur, der inneren Sicherheit unseres Landes und der doch von uns allen gewollten wehrhaften Demokratie.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Hans-Jochen Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Über unserem Land entlädt sich seit geraumer Zeit eine Welle der Gewalt. Ihr Ausmaß ist erschreckend. Sechs Menschen haben allein in diesem Jahr bei solchen Anschlägen ihr Leben verloren. Mehr als 400mal sind Menschen angegriffen, Mahnmale beschädigt oder zerstört oder Friedhöfe geschändet worden. Das ist für sich allein schon bedrückend und beschämend. Bedrückender noch ist, daß die Gewalt vor allem von jungen Menschen ausgeht und sich fast ausschließlich gegen Ausländer richtet. Und daß die Gewalt auch vor jüdischen Einrichtungen nicht haltmacht, das kann auf dem Hintergrund dessen, was von Deutschen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dem jüdischen Volk angetan worden ist, nur als Schande, nein als eine Schmach bezeichnet werden.
Das alles ist alarmierend genug. Noch alarmierender muß für uns alle sein, daß Rechtsradikale mit schlimmen Parolen zur Gewalt aufrufen und sich immer häufiger an die Spitze derer setzen, die sie zuvor aufgehetzt haben. Für uns Ältere, für meine Generation werden da böse Erinnerungen wach: nichts — noch nicht — an die Pogromnacht des Jahres 1938 — das ist eine unzulässige Gleichsetzung —, aber, meine Damen und Herren, an die frühen 30er Jahre, in denen Menschen gejagt wurden, in denen die Saat der Gewalt aufging, die später so furchtbare Ernte hielt.Es ist sicher falsch, die Herausfordentng, mit der wir es zu tun haben, zu dramatisieren. Noch gefährlicher aber wäre es, sie zu bagatellisieren.
Sagen wir es klar heraus und, wenn immer es sein kann, gemeinsam: Unsere Republik, unser Gemeinwesen steht in einer ernsten Bewährungsprobe. Dabei spielt sicher auch — und ich betone: auch — eine Rolle, wie sehr die Ereignisse der letzten Wochen unserem Ansehen in Europa und in der Welt schaden, einem Ansehen, das verloren war und das wir uns in Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit mühsam zurückerworben haben. Das kann uns nicht gleichgültig sein, auch nicht die wirtschaftlichen Nachteile, die sich daraus bereits ergeben und auf die gelegentlich verwiesen wird.Aber für mich ist das nicht das Primäre. Entscheidend ist für mich, daß wir vor uns selbst, daß wir vor den Wertmaßstäben bestehen können, auf die wir uns unter dem Eindruck der Katastrophen der 30er und 40er Jahre geeinigt haben.
Und das heißt, daß sich alle Menschen, die sich in unserem Lande aufhalten, sicher fühlen können: ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ihre Hautfarbe, ihren Glauben oder ihren ausländerrechtlichen Status.
Darum kann es auf die Welle der Gewalt nur eine Antwort geben, nämlich das entschiedene Nein, das
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Dr. Hans-Jochen Vogelgemeinschaftliche Nein aller in unserem Volke und vor allem aller Demokraten
sowie die gesellschaftliche Ächtung der Gewalt, ihrer Hintermänner und Drahtzieher, aber auch ihrer Sympathisanten, einerlei, ob sie ihre Sympathie offen — und ich spreche das Wort in Erinnerung an die Vergangenheit aus — oder klammheimlich zeigen.
Diese Ächtung haben wir in den 70er Jahren über alle Divergenzen hinweg dem Terror der RAF zuteil werden lassen. Sie muß uns heute ebenso gelingen. Die Verwerflichkeit und die Gefährlichkeit sind nicht geringer, als es damals der Fall war.
Das heißt auch: Der Staat muß sein Gewaltmonopol verteidigen. Er muß alle seine rechtsstaatlichen Machtmittel einsetzen, auch gegen sogenannte autonome Gruppen, wenn sie Gewalt anwenden.
Dabei erscheint mir die Suche nach neuen Instrumenten und zusätzlichen Regelungen weniger dringlich als der entschlossene Einsatz der bereits vorhandenen und bewährten Mittel.
Notwendig ist auch — da stimme ich mit Ihnen, Herr Kollege Seiters, völlig überein —, daß wir den Beamten der Polizei und des Grenzschutzes, die dem Recht Geltung verschaffen, Rückhalt geben, ihnen unsere Solidarität bekunden
und ihnen für den Dienst, den sie unter schwierigen Bedingungen leisten, danken. Ich tue das heute hier genauso, wie ich das Ende August an Ort und Stelle in Rostock tun konnte.Ebenso deutlich und klar wie das Nein gegen jegliche Gewaltanwendung muß eine weitere Absage sein, nämlich die Absage an alle rechtsradikalen Parteien, Gruppierungen und Aktivitäten.
Wenn irgendwo, dann gilt es hier, den Anfängen zu wehren und sich unserer jüngeren Geschichte zu erinnern, etwa daran zu denken, daß schon einmal das Unheil damit begonnen hat, daß Menschen — damals waren es die Juden — ausgegrenzt, verteufelt und zu Objekten des Hasses, eines tödlichen Hasses gemacht worden sind.
Eine andere Lehre aus jener Zeit lautet übrigens: Man kann den Rechtsradikalismus nicht durch Nachgiebigkeit oder dadurch bekämpfen, daß man seine Forderungen übernimmt.
Man wird seiner nur Herr, indem man kompromißlos nein sagt und Widerstand leistet.
Aber all das genügt nicht. Wir alle können unsere Verantwortung — und so habe ich Sie auch nicht verstanden — auch nicht an die Polizei und die Strafjustiz delegieren.
Gefordert ist unsere ganze Gesellschaft mit all ihren Institutionen:
die Parteien, die Gewerkschaften ebenso wie die Verbände, die Schulen, die Kirchen und nicht zuletzt die Medien, aber auch Bürgerinitiativen und Gruppen, die sich ad hoc auf örtlicher Ebene bilden. Gefordert sind die Eltern, ist letzten Endes jeder Bürger und jede Bürgerin dieser Republik.
Vergessen wir nicht: Weimar ist nicht zugrunde gegangen am Mangel an Vorschriften oder Strafbestimmungen; daran hat es — siehe Republikschutzgesetz — nicht gefehlt. Gemangelt hat es zuletzt an Demokraten, an Menschen, die sich für die Demokratie und für die Gewaltlosigkeit engagiert haben.
Sage keiner, auf ihn komme es an, er könne nichts tun. Jeder kann den Angegriffenen und den Bedrohten seine Solidarität bekunden und den Angreifern seine Verachtung — jeder kann das!
Es war gut, daß an einigen Orten Menschenketten Ausländer- und Asylbewerberheime schützend umschlossen, daß nicht wenige solche Heime besucht haben. Noch besser wäre es, dies geschähe überall. Es war gut, daß in Sachsenhausen 5 000 und in Frankfurt und Nürnberg jeweils über 10 000 Menschen gegen Gewalt, Antisemitismus und Ausländerhaß protestiert haben. Noch besser wäre es, es fänden sich Hundertausende zusammen, so wie das Anfang der 80er Jahre aus anderen Anlässen geschehen ist.
Ich sprach davon, daß sich an Ausschreitungen vor allem junge Menschen beteiligt haben, in den neuen
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Dr. Hans-Jochen VogelBundesländern zumal. Wir müssen den Gründen nachgehen, warum das so ist, warum so viele rechtsradikalen Parolen Gehör schenken. Dabei könnten wir an die Erkenntnisse der Enquete-Kommission „Jugendprotest" aus den Jahren 1981 und 1982 anknüpfen, etwa an die Erkenntnis, daß Gewalt oft auch ein Anzeichen für gestörte Kommunikation, für Sprachlosigkeit, für die Unfähigkeit ist, sich und seine Probleme mitzuteilen.Weiteres kommt hinzu, so für nicht wenige junge Menschen in den neuen Bundesländern — und ich glaube, wir in den alten Bundesländern müssen uns immer wieder anstrengen, das zu erfassen und ins Bewußtsein zu nehmen —, daß sie im Zuge des großen Umbruchs orientierungslos geworden sind, weil die alten Orientierungen zusammen mit der dauernden Fremdbestimmung und Bevormundung verschwunden und neue Orientierungen, die zum sinnvollen Gebrauch der neugewonnenen Freiheit befähigen würden, noch nicht an ihre Stelle getreten sind; weil es auch an sinnvollen Freizeitangeboten mangelt, sie jedenfalls nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, und weil sich die Arbeitslosigkeit der Eltern — ich rede von Lichtenhagen, von denen, die dort ohne normale Beschäftigung sind — wie ein Schatten auch auf die eigenen Lebensperspektiven legt. Um so wichtiger ist es, den Menschen in den neuen Bundesländern durch eine gemeinsame solidarische Anstrengung wieder eine Perspektive zu geben und diesen Schleier zu durchbrechen.
Wichtig ist es auch, den Menschen in den alten Bundesländern klarzumachen, daß sie sich in einer Zeit gewaltiger Umbrüche nicht wie Zuschauer verhalten können, daß die Veränderungsprozesse auch sie, auch uns ergriffen haben, daß auch sie eine neue Perspektive brauchen: nicht eine illusionäre, die zu neuer Enttäuschung führt, sondern eine realistische, die auf Wahrheit beruht, deshalb glaubwürdig ist und aufs neue Vertrauen schafft. Denn nur wer Vertrauen genießt, kann das leisten, was jetzt vor allem gefordert ist, nämlich geistig-moralische Orientierung und eine Politik, die auch auf diese Weise die Gewalt überwindet.
Dazu gehört auch, daß wir redlich und verantwortungsbewußt — und ich wage zu sagen: vielleicht redlicher und verantwortungsbewußter — miteinander umgehen — und das gerade da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind, wo jeder wechselseitig meint, er hätte recht und der andere hätte unrecht.Instrumentalisierung von Problemen zur Bekämpfung des jeweiligen demokratischen Gegners — diese Lektion sollten wir in der letzten Zeit gelernt haben — hat bisher nur den Rechtsradikalen und — ich spreche es aus — insonderheit den Republikanern genutzt. Sie waren die Nutznießer!
Als einer, der seiner Partei — wie andere der ihren — ein Leben lang in vielen Funktionen gedient hat, sage ich: Jetzt ist nicht das Wichtigste, daß die eigene Partei in Meinungsumfragen ein paar Prozente gewinnt und die andere Partei in Meinungsumfragen ein paar Prozente verliert. Das wichtigste ist jetzt, daß wir gemeinsam unser Gemeinwesen vor Schaden bewahren, daß wir seine demokratische und rechtsstaatliche Substanz verteidigen. Das ist das Wichtigste!
Die deutsche Sozialdemokratie wird dazu die Erfahrungen ihrer 130jährigen Geschichte einbringen, gerade auch die Erfahrungen aus der Zeit, in der — wie andere Demokraten und Demokratinnen — Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen selbst gejagt und verfolgt wurden und nicht wenige überhaupt nur deshalb überlebten, weil andere Völker ihnen Asyl gewährten und sie vor Gewalt geschützt haben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Blens das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates vier Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus darangingen, eine neue deutsche Verfassung zu formulieren, da schrieben sie an den Anfang zwei einfache Sätze:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.Das war die Antwort auf zwölf Jahre totalitärer Herrschaft, die Menschen zu bloßen Objekten, zu „Menschenmaterial", zu „Untermenschen" herabgewürdigt hatte: durch Diffamierung, Diskriminierung, Entrechtung, Zwangsarbeit, Versklavung, Terror und millionenfachen fabrikmäßig betriebenen Massenmord.Die Antwort unserer Verfassung auf diese Verbrechen heißt nicht etwa „Die Würde des deutschen Menschen ist unantastbar".
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Dr. Heribert BlensDie Antwort unserer Verfassung heißt: „Die Würde des Menschen" — und daß heißt: jedes Menschen —„ist unantastbar."
Denn alle Menschen haben die gleiche Würde: Der Schwarze aus Afrika hat die gleiche Würde wie der Weiße aus Europa. Der Muslim aus dem Kosovo hat die gleiche Würde wie der Christ aus München oder der Jude aus Frankfurt.
Der Sinti oder Roma aus Rumänien hat die gleiche Würde wie der Deutsche aus Rostock.
Und weil alle Menschen die gleiche Würde haben, haben alle Menschen das gleiche, aus der Menschenwürde folgende Recht auf Leben und das gleiche, aus der Menschenwürde folgende Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Diese Rechte sind nicht nur zu achten, sie sind auch aktiv und wirksam gegen Angriffe zu schützen. Das ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. So fordert es die Verfassung.
Wenn in diesem Land Menschen gejagt und geprügelt werden, weil sie Ausländer sind, wenn in diesem Land Häuser in Brand gesetzt werden, um die darin lebenden Menschen zu verbrennen, weil sie Ayslbewerber sind, dann haben Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte die selbstverständliche Pflicht, mit aller Härte, zu der der Rechtsstaat fähig ist, die Angriffe abzuwehren, die Täter zu fassen und sie nach den Gesetzen ohne Nachsicht zu bestrafen.
Und die Politiker — das sind wir — haben die selbstverständliche Pflicht, der Polizei, den Staatsanwälten, den Richtern alle sachlichen und personellen Mittel zu verschaffen, die für durchgreifende Erfolge gegen Gewalttäter erforderlich sind.Dazu gehört auch, daß wir die Gesetze verschärfen, wenn das notwendig ist, um mit der Gewalt fertigzuwerden.
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten das für erforderlich. Darüber muß geredet, das muß entschieden werden. Dabei sollten wir nicht den Fehler machen, zu glauben, öffentliche Sicherheit und Freiheit, staatliche Ordnung und Liberalität seien Gegensätze, Carlo Schmid hat dazu am 6. Mai 1949 im Parlamentarischen Rat gesagt:Letztlich ist der Staat dazu da, die äußere Ordnung zu schaffen, derer die Menschen zu einem auf der Freiheit des einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen. Aus diesem Auftragallein stammt letztlich die Legitimität seiner Machtausübung.Oder sagen wir es mit anderen Worten: Staatliche Ordnung, rechtsstaatlich organisierte öffentliche Sicherheit sind nicht Gegner, sondern notwendige Bedingung der Freiheit der Bürger.
Deshalb sollten wir ohne Vorurteile über eine Verbesserung der öffentlichen Sicherheit auch durch Verschärfung von Gesetzen reden und möglichst bald die notwendigen Entscheidungen treffen.Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte müssen durchgreifen. Aber damit allein ist es nicht getan. Wenn ein Haus brennt, braucht man als erstes die Feuerwehr, damit sie das Feuer schnell löscht. Aber wenn gelöscht ist, stellt sich die Frage: Was war die Brandursache? Und dann kommt die Frage: Was müssen wir tun, um in Zukunft weitere Brände zu vermeiden?Da gibt es viele zum Teil gegensätzliche Antworten. Patentrezepte hat keiner von uns. Da wird intensive Aufklärung über den Nationalsozialismus gefordert. Und das ist sicherlich richtig. Aber der für den Hauptvorstand der IG Metall arbeitende Psychologe und Soziologe Kowalsky schränkt die Erfolgsaussichten solcher Aufklärungsaktionen erheblich ein, wenn er feststellt — ich zitiere —: „Moralische Abscheu und Distanzierung lassen sich nicht durch pädagogische Tricks hervorrufen und nicht anerziehen."Da wird zu fremdenfreundlichen Sympathiekundgebungen aufgerufen, und das sicher in guter Absicht. Aber der Bielefelder Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer stellt kritisch fest, „die menschenüberfordernde Fremdenfreundlichkeit, die das Bild vom fehlerlosen Fremden transportiert", widerspreche „jeglicher Alltagserfahrung". Sie dürfte deshalb eher das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt ist.Was können wir also tun? — Der sächsische Ministerpräsident und sein Innenminister Eggert haben nach den Krawallen in Hoyerswerda runde Tische eingerichtet, an denen Jugendliche mit Politikern, Kommunalbeamten, Kirchenvertretern und Polizei über ihre Probleme reden können. Dabei dürfen auch Jugendliche aus extremen Gruppen mitreden. Vielleicht gelingt es so, junge Leute im Gespräch für die Demokratie zu gewinnen und dadurch das Umfeld rechtsradikaler Gruppen langsam auszutrocknen.Aber wir werden junge Leute, die durch den Untergang der DDR, die durch die Wiedervereinigung ihre bisherige Orientierung und Identität verloren haben, auch durch noch so viele Gespräche nicht für den demokratischen Staat gewinnen können, wenn das Ansehen dieses Staates immer weiter demontiert wird. Demokratie braucht Kritik, und demokratische Politiker brauchen öffentliche Kontrolle und öffentliche Kritik; das ist keine Frage. Aber wenn demokratische Politiker von einigen Erzeugnissen der Massenmedien Tag für Tag als raffgierige, sich selbst bedienende geistig Minderbemittelte dargestellt werden, die in jedem ordentlichen Beruf Schiffbruch erlitten hät-
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Dr. Heribert Blensten, dann darf man sich nicht wundern, daß es äußerst schwierig ist, junge Leute für den demokratischen Staat zu gewinnen.
Die Journalisten, die dieses Geschäft betreiben, sollten einmal ernsthaft darüber nachdenken, wessen Geschäfte sie da letztlich betreiben.
Meine Damen und Herren, Menschen für die Demokratie gewinnen, das setzt auch voraus, daß der demokratische Staat die Probleme löst, die die Bürger als vordringlich ansehen.
Wir wissen aus der Erfahrung mit der Spätzeit der Weimarer Republik, daß Rechtsradikale es meisterhaft verstehen, Defizite der Politik demokratischer Parteien demagogisch für sich auszunutzen. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir möglichst rasch beweisen, daß wir gemeinsam in der Lage sind, vor allem drei Probleme zu bewältigen.Erstens. Wir müssen das ungelöste Asylproblem so weit wie möglich lösen, was nach unserer Überzeugung ohne Änderung des Grundgesetzes nicht möglich ist. Dazu ist die Zustimmung der SPD unerläßlich.
Zweitens. Wir müssen die von der Bevölkerung deutlich gesehenen Defizite im Bereich der inneren Sicherheit beseitigen. Auch dazu ist, soweit es um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität geht, nach unserer Ansicht eine Grundgesetzänderung und damit auch die Zustimmung der SPD erforderlich. Und ohne die Innenminister SPD-regierter Bundesländer geht es auch nicht.Drittens. Wir müssen die Entwicklung in den neuen Bundesländern so weit voranbringen, daß die Bürger dort deutlich sehen, daß es aufwärts geht und daß ihre Angst vor sozialer Deklassierung nicht mehr begründet ist.
Wir wissen aus der wissenschaftlichen Forschung über das Entstehen rechtsradikaler Bewegungen, daß Rechtsradikalismus seine Anhänger hauptsächlich in Schichten und Gruppen findet, die von sozialer Deklassierung bedroht und durch autoritäre Denk- und Verhaltensformen geprägt sind.Die Überwindung der vom SED-Staat in 40 Jahren geschaffenen autoritären Denkformen wird nicht von heute auf morgen gelingen; um so notwendiger ist es, den Menschen in den neuen Bundesländern durch deutlich sichtbare Aufbauleistungen die Angst vor Deklassierung zu nehmen und ihnen begründete Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben.
Auch dafür ist schon wegen der Mehrheitsverhältnisse breites Zusammenwirken von Regierungsparteien und SPD in Bund und Ländern, in Bundestag und Bundesrat unerläßlich.
Meine Damen und Herren, dringende Probleme lösen heißt politisch führen. Wenn es den demokratischen Parteien nicht gelingt, die dringendsten Probleme durch vernünftige Zusammenarbeit zu bewältigen, d. h., wenn es den demokratischen Parteien nicht gelingt, politisch zu führen,
dann wird sich eine wachsende Zahl von Bürgern nach anderen Führern umsehen, die keine Hemmungen haben, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf das Recht alles zu versprechen, was die Leute gerade hören wollen.
Ob Rechtsradikalismus bei uns eine Chance bekommt, hängt von unser aller Fähigkeit ab, demokratische Führung durch gemeinsame konsequente Problemlösung zu demonstrieren. Das ist unsere Verpflichtung. Daran werden wir gemessen. Dem müssen wir gerecht werden.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Überfälle, die Nacht für Nacht auf Unterkünfte verübt werden, in denen Flüchtlinge leben, die täglichen Attacken, Beschimpfungen und Beleidigungen gegenüber Ausländern, die schon lange bei uns leben, sind eine Schande für unser Land.
Darin sind wir uns auch alle einig. Aber die Debatte um das Asylrecht — und fast ausschließlich um das Asylrecht — hat uns in eine Sackgasse geführt.
Mit Paragraphen kann man weder den Wanderungsdruck noch die aufgeheizte Stimmung wegzaubern.
Ebensowenig kann man den Rechtsextremismus bekämpfen, indem man ihm die Opfer wegnimmt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9401
Cornelia Schmalz-JacobsenMeine Vorgängerin im Amt der Ausländerbeauftragten, Liselotte Funcke, hat bereits vor zwei Jahren vor einer zunehmenden Ausländerfeindlichkeit gewarnt; sie hat auf schreckliche Weise recht behalten.Die Polizei und die Justiz müssen kriminelle Gewalt verfolgen — nachhaltig und schneller als bisher. Aber, meine Damen und Herren, es ist doch in erster Linie Sache der Politik und aller demokratischen Kräfte, den gemeinsamen Willen hierzu eindeutig klarzustellen, und zwar ohne auf eigene Vorteile zu schielen und ohne zu wackeln. Dazu bedarf es eines politischen Konsenses, der gewissermaßen wasserdicht ist. Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt haben keinen Platz in der Bundesrepublik. Das muß die Botschaft sein!
Diese Botschaft muß den Bürgerinnen und Bürgern vermittelt werden. Sie muß überzeugend, sie muß glaubwürdig, sie muß konsequent sein, ohne Wenn und Aber und ohne eine Hintertür für Verharmlosungen.Ich bin froh darüber, daß wir heute eine innenpolitische Debatte führen. Die Frage nach dem Bild, das wir im Ausland bieten, oder auch die Sorgen um ausbleibende Investitionen in den neuen Bundesländern sind gewiß wichtig. Aber sind sie nicht letzten Endes zweitrangig? Die wirklich zentralen Fragen lauten doch: Was lassen wir eigentlich in unserem eigenen Land zu?
Was können wir gegen den latenten und offenkundigen Rassismus tun? Dabei schließt Rassismus Antisemitismus immer ein. Wo liegen die Ursachen, und wie gehen wir mit Konflikten um?Es gibt Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Sie sind in meinen Augen, auch im Zusammenhang mit der heutigen Debatte, gravierend. Festzustellen ist allerdings, daß sich das Klima für Ausländer in der ganzen Bundesrepublik in dramatischer Weise verschlechtert hat.
Je fremder sie aussehen, desto schlimmer ist es für sie. Die Bekundungen, daß niemand etwas gegen „unsere Ausländer" habe, gegen diejenigen, die bei uns leben und arbeiten, taugen wenig, und den Betroffenen helfen sie gar nichts.
Viele haben einfach Angst. Es steht ja nicht auf ihrer Stirn geschrieben, woher sie kommen und wie lange sie schon da sind, ob sie Steuern zahlen oder ob sie Sozialhilfe empfangen.Die Beispiele dessen, was sich die „ausländischen Mitbürger" — wie sie so schönfärberisch genannt werden — alltäglich bieten lassen müssen, würde jeden von Ihnen entsetzen.Aber in den offiziellen Stellungnahmen von Abscheu und Scham kommen diese Mitbürger fast überhaupt nicht vor. Das vermissen sie sehr. Darauf warten sie, und nicht nur darauf; auch hier, bei diesen Personen, besteht Handlungsbedarf.Meine Damen und Herren, ich male Deutschland nicht schwarz. Aber ich halte es für untauglich, wenn man sich selbst auf die Schulter klopft und sich Sand in die Augen streut.
Meine Kolleginnen und Kollegen, Bonn ist nicht Weimar. Darum führt die künstliche Herstellung von Ursachenparallelen — vom Nationalsozialismus zum heutigen Rechtsextremismus — ins Leere. Auch die Paranoia — ich kann das gar nicht mehr anders nennen —, mit der „die Ausländer" heute von vielen zu Sündenböcken gemacht werden — für alle realen oder vermeintlichen Defizite —, spielt sich doch vor einem ganz und gar anderen Hintergrund ab als der Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung. Auch wenn die Losungen ähnlich klingen: Es ist etwas ganz anderes.Der Verfassungsschutz hat uns wissen lassen, daß es sich bei den Rechtsextremisten um keine wohlorganisierte Gruppe handelt. Das mag stimmen. Aber ich finde es überhaupt nicht beruhigend.
Kommandostrukturen, meine Damen und Herren, lassen sich vielleicht eher bekämpfen. Wie aber steht es mit der willkürlich auflodernden Allgegenwärtigkeit des Hasses und des Terrors, in der wir zur Zeit leben?Gebenüber diesem eruptiven Aufbrechen der Gewalt, die kaum koordiniert, weitgehend planlos, zeitlos, unberechenbar, aber intensiv und sehr brutal ist, sind die Gegenmaßnahmen hilflos und oft schwerfällig. Es kann jederzeit irgendwo losgehen; und das tut es leider auch.Der Rechtsextremismus, den wir zur Zeit erleben, hat tiefliegende Ursachen, und er hatte wohl auch so etwas wie eine politische Inkubationszeit, meine Damen und Herren.Damit es gar kein Mißverständnis gibt: Ich entschuldige Gewalt mit keiner Silbe. Erklärung und Entschuldigung dürfen auf keinen Fall miteinander vermischt werden; das muß ganz klar sein. Aber nichts und niemand entbindet uns von der Aufgabe, genau hinzusehen und uns auch einigen schmerzlichen Wahrheiten zu stellen.
Da das heute keine Feierstunde ist, sondern eine Parlamentsdebatte, will ich dies auch tun. Parteiraster oder andere liebgewordene Stereotype sind an der Garderobe abzugeben, meine Damen und Herren; sie sind hinderlich.Folgende Punkte halte ich für besonders wichtig. Sie scheinen mir nach meinen letzten Besuchen in verschiedenen Städten in den neuen Ländern dringender denn je.
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9402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Cornelia Schmalz-JacobsenErstens. Wir sollten auch in dieser Hinsicht die rosa Brille „deutsche Einheit" absetzen. Wir müssen die Spannungen sehen, die zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen herrschen und dürfen die zu hohen gegenseitigen Erwartungen nicht verschweigen oder vertuschen.
Die Bürger in den neuen Bundesländern sind in einem autoritären Regime aufgewachsen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte geschah in der DDR einseitig und zu Lasten Dritter. Konfliktfähigkeit wurde nicht geübt, statt dessen ein Freund-FreindDenken gepflegt. Ostdeutsche und Westdeutsche sind mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensformen konfrontiert. Wir setzen unterschiedliche Prioritäten, haben unterschiedliche Einstellungen, auch im Umgang mit Konkurrenz.Vierzig Jahre getrennter Entwicklung, meine Damen und Herren, sind einfach nicht zu leugnen. Das schafft Fremdheit und Enttäuschung auf beiden Seiten, die wir überwinden müssen.Zweitens. Moralische Appelle sind in ihrer Wirkung sehr begrenzt. Eigentlich ist das bekannt. Gute Absichten haben oft fatale Wirkungen. Besonders töricht sind die Multikulturapostel, die ins Schwärmen geraten,
ganz so, als sei das Zusammenleben mit Fremden ein nicht enden wollendes Straßenfest.Besonders unangenehm sind mir aber auch die aggressiven Antirassisten, deren Wortwahl ebenso intolerant ist wie die der Rechtsextremisten. Man muß sich nur einige Slogans auf den Häuserwänden ansehen. Das trägt zur weiteren Polarisierung bei anstatt zur Einsicht, die wir brauchen.
Drittens. Es ist bestürzend, daß insbesondere Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren für fremdenfeindliche Parolen und Aktionen anfällig sind. Ich habe es selbst erlebt — übrigens in Ost- wie in Westdeutschland —, daß der negative Begriff „Neonazi" einfach in etwas Positives, in eine stolze Selbstbezeichnung umgewertet wird. Also Vorsicht mit Etiketten!Aus allen Untersuchungen wissen wir, daß Rechtsextremismus seine Ursache auch in fehlender Orientierung hat. Wenn wir diese fehlende Wertorientierung beklagen, dann hat das etwas Heuchlerisches, meine Damen und Herren.
Wir setzen die Normen, wir, die Erwachsenen. Wir müssen die Leitbilder sein.Übrigens fände ich eine Sondersitzung der Kultusminister ebenso angebracht wie eine Sondersitzung der Innen- und Justizminister.
Viertens. Das vielleicht schwierigste Thema lautet: Wie sieht es mit der Bindungsfähigkeit in unserer Gesellschaft aus? Wo ist das Gemeinsame, wo ist der Kitt, der uns zusammenhält? Gerade wir Liberalen haben die fortschreitende Individualisierung in der Gesellschaft wohl allzu positiv gesehen. Wenn der Preis dafür die Distanz voneinander ist, das Wegfallen von sozialer Verankerung, dann ist mir der Preis zu hoch.
Die Tatsache, daß Jugendliche Geborgenheit bei extremen Gruppierungen suchen, statt sie in ihrem normalen Lebensumfeld zu finden, ist ein Trauerspiel, und das hat Folgen. Je mehr wir uns voneinander entfernen, meine Damen und Herren, desto schwieriger wird auch jede Integrationsanstrengung gegenüber Fremden.
Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielschichtig. Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich; das ist wahr. Also machen wir uns doch daran, diese Unübersichtlichkeit zu durchdringen; sonst werden immer weitere Konflikte gespeist. Ich rege eine Anhörung des Bundestages zum Phänomen Rechtsextremismus an.
Auf diesem Gebiet ist viel geforscht worden; aber wir als handelnde Politiker wissen offenbar zuwenig darüber. Wir sollten eine Generaldebatte darüber beginnen, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen: wir mit uns, wir mit Fremden, wir mit unseren näheren und ferneren Nachbarländern.Meine Damen und Herren, das Versteckspiel mit der Wirklichkeit muß ein Ende haben.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich dem Kollegen Ganschow zu seinem couragierten Auftreten und seinen klaren Worten an die Adresse vieler Politikerinnen gratulieren. Zugleich aber möchte ich Sie alle bitten, einige Sekunden darüber nachzudenken, wie die Schlagzeile im „Express" gestern gelautet haben würde, hätte z. B. mein Kollege Gregor Gysi oder ein Autonomer zugeschlagen und die Schläge so begründet wie Kollege Ganschow, nämlich daß die Neofaschisten offenbar nur diese Sprache verstehen und daß es nichts nutzt, wenn Politiker durch Asylbewerberheime reisen und Kinderköpfe streicheln.Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, ist sich sicher, daß sämtliche Maßnahmen gegen Asylsuchende auf Zustimmung einer Mehrheit in diesem Lande stoßen werden, sofern sie mit Ausgrenzung und Entrechtung der Flüchtlinge begründet werden. Gegen diesen Rechtsruck, der den Spielraum militanter Rassisten bis auf bisher unvorstellbare Weise
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Ulla Jelpkevergrößert hat, hat meine Gruppe dem Parlament heute drei Entschließungsanträge vorgelegt.Unserer Meinung nach ist in dieser Situation das Parlament aufgerufen, sich schützend vor Flüchtlinge zu stellen und Rechtsradikalismus und Rassismus entgegenzutreten. Wir brauchen keine neuen Gesetze; wir brauchen statt dessen die kompromißlose Verteidigung bestehender Grundrechte.Meine Damen und Herren, in diesen letzten Monaten hat die Bundesregierung gezielt eine scharfe Politik gegen Flüchtlinge und Einwanderinnen betrieben. Ich möchte herausstreichen: Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit vernichtende Zeugnisse erhalten. An sich müßte es eine Katastrophe für eine Regierung sein, wenn sie sich anläßlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes von einer ganzen Reihe von Zeitungen nachsagen lassen muß, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Politik gegen die Flüchtlinge und dem Hochschnellen der Zahl neofaschistischer Anschläge gibt. Presseorgane wie die „Süddeutsche Zeitung", die „Frankfurter Rundschau" oder die „Berliner Zeitung" haben die Bundesregierung ganz offen für den Terror an Flüchtlingen und Immigrantinnen mitverantwortlich gemacht.Ergänzt wird dieser Fakt noch durch die Tatsache, daß es eigentlich auch keinen ernsthaften Streit darüber gibt, daß dieser Staat brandsatzwerfende Neofaschisten mit Glacéhandschuhen anfaßt, während er gegen Demonstrantinnen, die — wie in München anläßlich des Wirtschaftsgipfels geschehen — ihren Protest pfeifend ausdrücken, mit aller Härte vorgeht.
Es ist erschreckend, daß es mittlerweile zu einer einfachen Wahrheit in dieser Gesellschaft geworden ist, daß diese Regierung unwillig ist, gegen die neofaschistischen Banden mit aller Konsequenz vorzugehen. Es wäre doch unvorstellbar, daß z. B. das Bundeskanzleramt tagelang mit Steinen und Brandsätzen angegriffen wird und daß sich dann, irgendwann, vor laufenden Kameras, die Polizei zurückzieht, um den mit Regierungsmitgliedern, Ministerialbeamten vollbesetzten Westflügel den Angreifern als Beute freizugeben — der gesamten Bevölkerung quasi als Lehrstück serviert.Aber das eigentlich Erschreckende ist, daß in der Unvorstellbarkeit dieses Gedankens das Wissen steckt, daß das Leben und die Gesundheit eines Flüchtlings oder einer vietnamesischen Arbeiterin im Vergleich zu Leben und Gesundheit von hochdotierten Staatssekretären weniger wert ist. Das zieht sich durch alle Handlungen dieser Regierung.
Der Brandsatz auf die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen machte aller Welt deutlich, welche Geister inHoyerswerda, Rostock und fast überall am Werke sind.
Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth reagiert auf den Brandanschlag in Sachsenhausen mit folgenden Worten:Wer heute die Erinnerungsstätten an die Verbrechen der NS-Zeit schändet, ist morgen auch bereit, Gewalt gegen Menschen anzuwenden.Meine Damen und Herren, so oberflächlich, gedankenlos und ritualisiert werden hierzulande die Sonntagsworte gegen Antisemitismus gesprochen. Fünf Wochen, nachdem in Rostock mehr als hundert Menschen rechtsradikalen Mordbrennern hilflos ausgeliefert worden sind, nachdem in sechs Monaten mehr als zehn Menschen aus rassistischen Motiven getötet worden sind, Zigtausende Flüchtlinge mit Brandsätzen angegriffen wurden, ihre Tötung wollend in Kauf genommen wurde, warnt Frau Süssmuth, daß sich die Gewalt morgen vielleicht auch gegen Menschen richten könnte. Ich frage: Was sind dann diese Leute, diese Flüchtlinge gewesen, die angegriffen wurden, die umgebracht wurden?Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Bubis, hat es gewagt, die Politik der Bundesregierung angesichts der rassistischen Anschläge in den letzten Monaten zu kritisieren. Statt die Gewalt zu bekämpfen, sagte er, habe sich die Politik auf eine Asyldebatte konzentriert, die nichts bringe, außer daß die Gewalttäter das Gefühl bekämen, ihre Taten brächten die Politiker endlich zum Handeln. Vom Regierungssprecher mußte er sich abkanzeln lassen: Bubis habe „eine etwas eigenartige Vorstellung" von den Möglichkeiten, die eine Bundesregierung habe, ließ ihm eben diese Regierung antworten.Diese höchstamtlichen Reaktionen machen überdeutlich, daß Pogrome, Brandflaschen gegen Asylunterkünfte, Messerstechereien, Überfälle an Ausländerinnen in Privatwohnungen — begangen auf der Grundlage eines seit Jahren verharmlosten Nationalismus, Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus — überhaupt nicht als alltägliche massenhafte, akute Gefährdung von Menschenleben begriffen werden.Wer glaubt, ein bißchen Rassismus zur Durchsetzung seiner politischen Ziele nutzen zu können, wer zudem glaubt, in Deutschland sei dieses bißchen Rassismus ohne Antisemitismus zu haben, der irrt. Wer in einer sozial so angespannten Situation, wie sie derzeit herrscht, diesen Irrtum zur Grundlage seiner Politik macht, spielt mit dem Feuer. Hinter der völligen Unfähigkeit dieser Bundesregierung zur Selbstkritik muß der Wille vermutet werden, diesen Zusammenhang zu verwischen.Deshalb, meine Damen und Herren, heißt das Thema der heutigen Debatte auch nicht mehr — wie ursprünglich vorgesehen — „Rechtsradikalismus und Gewalt", sondern „Extremismus und Gewalt".
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Ulla JelpkeMeine Damen und Herren, unter dem Motto „Gegen Extremismus und Gewalt" wird die alte Hitparade der inneren Sicherheit heruntergeleiert. Tatkraft wird demonstriert, und ein wildes Gemisch — vom verschärften Haftrecht bis zum Lauschangriff, vom Aufwärmen der Landfriedensbruchdiskussion bis zum Sondermeldedienst für fremdenfeindliche Straftaten — steht plötzlich im Programm. Nichts davon hätte meiner Meinung nach etwas gegen die Pogrome genutzt. Gefragt war und ist der politische Wille, eindeutig gegen Rechtsradikalismus aufzutreten.In merkwürdigem Kontrast zu der jetzigen Hektik steht auch die Auskunft der Bundesregierung, daß sich die nach Hoyerswerda durch die Innenministerkonferenz eingeleiteten Maßnahmen „bewährt haben". So heißt es vieldeutig in einer Antwort auf meine Anfrage zu Rostock.Wichtiger Bestandteil des damaligen Maßnahmekatalogs der Innenministerkonferenz war die schnelle Verurteilung der Täterinnen und die Bekanntmachung der Urteile zur Abschreckung. Was das praktisch heißt, möchte ich an einem Beispiel darstellen.Am 17. November 1991 marschierten in Halbe in Brandenburg etwa 1 000 Neonazis auf. Völlig ungehindert von Polizei, Staats- und Verfassungsschutz konnten sie ihre Huldigungen an die Waffen-SS feiern, gegen das Uniformverbot verstoßen und den „Heil Hitler"-Gruß rufen. Ich stellte deshalb einen Strafantrag und eine Dienstaufsichtsbeschwerde Anfang Dezember 1991. Heute, nach fast einem Jahr, ist der Stand des Verfahrens immer noch nicht bekannt.Neue Gesetze würden derartige Verfahren gewiß nicht beschleunigen. Dasselbe gilt für Festnahmen, Untersuchungshaft, Landfriedensbruch usw. All die Vorhaben haben mit dem Anwachsen rassistischer Gewalt nichts zu tun. Gesetze und Polizei mit den entsprechenden Befugnissen gibt es mehr als genug.Seit Beginn der 80er Jahre sind einschlägige Untersuchungen über die Verbreitung rechtsextremistischer Weltbilder, antisemitischer und rassistischer Grundpositionen bekannt. Die Sinus-Studie von 1980/81 beispielsweise ermittelte bei 54,4 % der CDU/CSU-Wählerinnen rechtsextremistisch ausrichtbare Einstellungen. 1982 ergab eine andere Studie, daß bei 20 % der Bevölkerung ausgeprägte antisemitische Vorurteile vorhanden sind; bei weiteren 30 % sei Antisemitismus in Latenz vorhanden. 1984 ergab eine Studie des Innenministeriums, daß 80 % der Bevölkerung der Meinung sind, in der Bundesrepublik lebten zu viele Ausländer. Auf dieses Potential hat die Regierung mit ihrer Politik gesetzt und damit den Spielraum für die Neofaschisten vergrößert.Die jetzt inszenierte Kampagne gegen rechtsextremistische Gewalt mit Strafverschärfung und Abbau demokratischer Rechte unterstreicht, daß die Regierung an ihrer Politik der Ausgrenzung und Abschottung weiterhin festhält. Gestärkt wurde sie darin leider auch durch die neue Beweglichkeit der SPD.Eine Offensive gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wie sie in den letzten Tagen Gott sei Dank verstärkt gefordert worden ist, wird sich gegen dieGrundlinien der Regierungspolitik richten müssen. Die Unterstützung der Anträge, die meine Gruppe hier heute eingebracht hat, könnte ein kleiner Anfang sein.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, das eine Mauer der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um sich baut. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Frauen und Kinder schlagen und drangsalieren, die Jagd auf jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe suchen oder anders sind.Zehn Menschen wurden in diesem Jahr von Rechtsradikalen getötet. Hunderte wurden geschlagen, getreten, verletzt. Tag für Tag werden Menschen, die eine andere Hautfarbe haben oder eine fremde Sprache sprechen, diskriminiert, benachteiligt, geschändet.Mehr als 1 300 rechtsradikale Gewalttaten wurden bis Ende September in Deutschland verübt. 400mal wurden Bomben oder Brandflaschen auf Asylbewerberheime oder in die Wohnungen von Ausländern geworfen. Auch ausländische Diplomaten, Kaufleute und Touristen sind im Land der Deutschen nicht mehr ihres Lebens sicher.An jedem Tag dieses Jahres wurden Synagogen und jüdische Gräber geschändet, 360mal in zwölf Monaten.Und die meisten Deutschen stehlen sich davon und schweigen. Was ist das nur für ein Land, in dem Hunderttausende auf die Straße gehen, wenn ihnen der Bau eines Flugplatzes oder eines Atomkraftwerkes mißfällt, die aber von einer kollektiven Lähmung befallen scheinen, wenn es um das Leben ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen geht?
Gerade einmal 5 000 Berliner und Brandenburger haben am vergangenen Wochenende den Weg zur verbrannten jüdischen Baracke in Sachsenhausen géfunden — 5 000 von 5 Millionen.Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland geschieht und was wir heute in Deutschland dulden. Weder der mühsame Prozeß der Wiedervereinigung noch unsere schmerzliche Ernüchterung, weder Arbeitslosigkeit noch soziale Nöte rechtfertigen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die Deformierungen aus 60 Jahren Diktatur dürfen als Entschuldigung dafür dienen, daß Menschen wie Tiere über Menschen herfallen. Durch nichts kann diese tausendfache Gewalt gegen schutzlose Men-
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schen gerechtfertigt oder entschuldigt werden. Diese Fremdenfeindlichkeit so vieler Deutscher ist keine krankhafte Verhaltensstörung, die der rücksichtsvollen Therapie bedarf, sondern eine Unmenschlichkeit, die unentschuldbar ist.Haben wir Ostdeutschen aus 40 Jahren Unterdrükkung und Eingesperrtsein wirklich nichts anderes gelernt als Ausgrenzen, Aussperren und Ausstoßen? Und ist die westdeutsche Demokratie nach 40 Jahren wirklich so schwach und verkommen, daß sie sich nicht mehr zu wehren weiß? 813 fremdenfeindliche Ausschreitungen wurden bis Ende September auch in Westdeutschland registriert, fast doppelt so viele wie in Ostdeutschland.Unsere Demokratie muß sich wehren. Wir dürfen es nicht hinnehmen, daß der Name Deutschlands wieder und wieder von radikalen Gewalttätern beschmutzt wird. Jeder und jede in unserem Land muß unsere Demokratie verteidigen. Das beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten, die aber soviel Mut, Wachheit und Zivilcourage erfordern. Denn es braucht Mut, dem Taxifahrer oder dem Kollegen, der von „Kanaken" spricht oder fremdenfeindliche Witze erzählt, über den Mund zu fahren. Und es braucht genauso Mut, denen entgegenzutreten, die Polizisten als „Bullen" beschimpfen oder sie bei ihrer Arbeit zum Schutz von Mitbürgerinnen und Mitbürgern behindern.
Es braucht Courage, nicht wegzusehen oder sich davonzuschleichen, wenn Menschen Menschen beleidigen und mißhandeln oder wenn Steine und Brandflaschen geworfen werden. Es braucht Courage, dem Nachbarn, der zum Sturm auf Ausländer Beifall klatscht, in aller Eindeutigkeit zu sagen, was man von ihm hält, oder den Feiglingen, die sich vermummen, die Maske vom Gesicht zu reißen.Ich kann auch diese sogenannten Antifaschisten nicht ernst nehmen, die nicht einmal den Mut haben, mit ihrem Namen und ihrem Gesicht für ihr Handeln einzustehen.
Es braucht staatsbürgerliche Verantwortlichkeit, nicht schweigend zu dulden, wenn Verfassungsfeinde ihre Fahnen und Symbole zeigen und ihre wirren Reden halten, sondern Anzeige zu erstatten und Polizei und Justiz zu konsequentem Handeln aufzufordern.Am vergangenen Wochenende marschierten in Dresden 500 Neonazis und hatten dabei den Arm zum Hitler-Gruß erhoben. Fernsehaufnahmen belegen dies eindeutig. Dennoch schritt die Polizei nicht ein. Ein Polizeisprecher sagte, daß es keine Hinweise auf strafrechtlich relevante Handlungen gegeben habe. Gilt der § 86a des Strafgesetzbuches denn in Dresden nicht? Ich fordere den sächsischen Innenminister auf, jene Beamte, die gegen die Verwendung der verfassungsfeindlichen Symbole nicht pflichtgemäß eingeschritten sind, zur Verantwortung zu ziehen.
Wir müssen unsere Demokratie radikal verteidigen — radikal, aber mit friedlichen Mitteln, mit den Mitteln des gewaltfreien Widerstands, mit den Mitteln des Rechts. Ich unterstütze nachdrücklich den Vorschlag unseres Kollegen Wolfgang Ullmann, internationale Künsterinnen und Künstler zum Boykott der Kunststadt Dresden aufzurufen, wenn dort erneut ein Aufmarsch von Rechtsradikalen geduldet werden sollte. Ich rufe meine Mitbürgerinnen und Mitbürger in Brandenburg auf, die Jahrtausendfeier unserer Landeshauptstadt Potsdam zu boykottieren, solange das Land Brandenburg eine Hochburg der Intoleranz ist und ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger dort nicht in Frieden und Sicherheit leben können.Städte und Gemeinden, in denen radikale Gewalttäter aufmarschieren oder sich in Festsälen und Gasthäusern versammeln dürfen, sollten wir meiden. Wer Rechtsradikalen aus Gewinnsucht oder Feigheit Unterschlupf bietet, soll wissen, daß er sich selbst isoliert.Unsere Demokratie muß sich wehren. Dazu gehört auch, daß der Rechtsstaat das Recht verteidigt, unparteiisch und konsequent. Polizeibeamte, die der Ermordung eines ausländischen Mitbürgers aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen, wie es in Eberswalde geschah, sind pflichtvergessene Schufte, die bestraft werden müssen. Staatsanwälte, die Terroristen wenige Stunden nach einem versuchten Mord oder Anschlag wieder auf freien Fuß setzen, sind nicht minder gemeingefährlich als jene Kriminelle.
Und der Richter, der fünf Mörder zu wenigen Jahren Jugendstrafe verurteilte, nur weil nicht erkennbar war, wessen Stiefeltritt das Opfer tatsächlich getötet hat, hat sich selbst zum Mittäter gemacht. Ich bin kein Jurist, aber ich meine, wenn Terroristen in der Absicht losziehen, Menschen „aufzuklatschen", wie es in ihrer schrecklichen Gewaltsprache heißt, oder Bomben zu legen, dann ist der Tod von Menschen gemeinschaftlich gewollt und gemeinschaftlich verübt. Das allein muß das Strafmaß bestimmen.
Wir brauchen in Deutschland keine neuen Gesetze, sondern die konsequente Anwendung der gegebenen.
Oder ist in diesem Land das Leben eines deutschen Politikers oder Industriellen mehr wert als das eines angolanischen Gastarbeiters oder eines vietnamesischen oder rumänischen Asylbewerbers? Warum werden linksradikale Terroristen lebenslang in Hochsicherheitsgefängnissen verwahrt, rechtsradikale Ter-
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roristen aber nach verübten Anschlägen wieder auf freien Fuß gesetzt?
Eine der Ursachen des Unheils, das wieder über Deutschland gekommen ist, ist die Bejahung von Gewalt. Die Barbarei der Rechtsradikalen wird aus den vielen kleinen Gewalttätigkeiten gespeist, an die wir uns gewöhnt haben und die wir fast widerstandslos hinnehmen. Wir haben es nur ungenügend gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, im kleinen ebenso wie im großen. Wie dulden die Gewalt im Straßenverkehr und die Gewalt der Erwachsenen gegen die Kinder. Wir akzeptieren, daß Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wir nehmen die vielfältigen, die verbalen oder handgreiflichen Gewalttätigkeiten gegen Minderheiten und Andersdenkende gedankenlos hin. Wir dulden unter dem Vorwand, die Freiheit der Kultur zu schützen, daß uns und unseren Kindern unentwegt die scheußlichsten Gewalttaten vorgeführt werden. Es ist die Saat dieser vielfältigen Gewalt, die nun aufgeht.Unsere Demokratie, meine Damen und Herren, unser Land können wir nur durch eine große Koalition der Menschlichkeit vor dem Rückfall in Barbarei und Totalitarismus bewahren. Diejenigen, die heute Neger „aufklatschen", werden morgen uns und unsere Familien foltern und töten. Sie werden, wenn wir sie gewähren lassen, nicht danach fragen, ob wir Sozialdemokraten oder Kommunisten, ob wir christliche oder liberale Demokraten, ob wir Grüne oder Bürgerrechtler sind. Wir werden uns gemeinsam in ihren Vernichtungslagern wiederfinden, so wie es auch 1933 geschah, wenn wir sie weiter gewähren lassen wie bisher. Mancher von uns steht doch schon heute auf ihren Todeslisten.
Das Wort hat die Bundesjustizministerin, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welle schändlicher rechtsradikaler Gewalt, die sich gegen Ausländer und Asylbewerber, zunehmend aber auch gegen jüdische Mitbürger und Einrichtungen richtet, muß jeden von uns alarmieren. Besonders erschütternd für mich ist, daß die rassistischen Gewalttäter Beifall von Zuschauern finden, die dadurch das Geschehen weiter anheizen.Die Fälle von Gewalt werden brutaler. Sie erinnern an die Gewalttätigkeiten linksextremistischer Terroristen aus früheren Zeiten. Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz sind bis Ende September bei gewalttätigen Ausschreitungen bereits zehn Ausländer von erwiesenen bzw. mutmaßlichen rechtsextremistischen Gewalttätern getötet worden.1991 waren es „nur" drei. Dabei hatten 1991 die Ausschreitungen gegen Ausländer bereits ein solches Ausmaß angenommen, daß im Oktober 1991 eine gemeinsame Sondersitzung der Innen- und Justizminister und -senatoren zu diesem Thema stattgefunden hat.Eine nicht unbeträchtliche Zunahme läßt sich auch bei fremdenfeindlich motivierten Brand- und Sprengstoffanschlägen feststellen. 405 solcher Taten in den ersten neun Monaten des Jahres 1992 stehen 383 für das ganze Jahr 1991 gegenüber.Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem durch extremistisch radikale und antidemokratische Gruppen an den Grundwerten der Demokratie gerüttelt wird. Schon deshalb müssen wir diesen Exzessen energisch begegnen. Vor allem aber sind wir im Hinblick auf die hierin zum Ausdruck kommende brutale Menschenverachtung aufgefordert, den Kampf gegen diese schändlichen und verachtenswerten Taten aufzunehmen.
Dabei scheint es so, als sei sich gegen den Staat auflehnender Extremismus ein Problem allein der neuen Bundesländer. Der Eindruck täuscht.
Ausländerfeindliche Exzesse verteilen sich auf das ganze Bundesgebiet. Von 1 296 bis Ende September registrierten Gewalttaten mit überwiegend fremdenfeindlicher Motivation sind 813 in West- und 483 in Ostdeutschland begangen worden.Gewalttätiger Extremismus ist insofern weder ein Problem allein der alten, noch ein Problem allein der neuen Bundesländer. Nach allem, was die wissenschaftlichen Erkenntnisse uns bieten, ist auch davon auszugehen, daß die Mechanismen und Bestimmungsgründe, die die brutale fremdenfeindliche Gewalt erzeugen, in Ost und West wesentlich die gleichen sind. Nur kommt durch die besonderen Bedingungen des schnellen Umbruchs in den neuen Bundesländern die Gewaltbereitschaft unvorhergesehen eruptiv zum Ausdruck, die sich in den alten Bundesländern eher etwas schleichend eingenistet hat.Der Rechtsstaat muß sich jetzt die Frage stellen, warum es gerade Jugendliche sind, die ganz offensichtlich Bereitschaft zeigen, erhebliche Verletzungen oder gar den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen.Dabei fällt beim Blick auf die neuen Bundesländer ein Widerspruch auf, der meiner Ansicht nach darin zum Ausdruck kommt, daß es gerade viele junge Menschen waren, die durch Flucht und demonstrativen Widerstand den Zerfall des ungeliebten DDRRegimes wesentlich beschleunigt haben.Ich wage sogar die Behauptung, daß so mancher jener jungen Menschen, die heute in den neuen Bundesländern ohne Skurpel Asylbewerber attackieren oder fremdenfeindliche Parolen unterstützen, vor kurzem noch für seine Freiheit auf die Straße ging.Um diesen Widerspruch zu klären, ist es meiner Ansicht nach wichtig, darauf hinzuweisen, daß den allermeisten Menschen in der ehemaligen DDR die
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Autorität des Staates schon seit Jahren obsolet geworden war.Was den Menschen in der ehemaligen DDR in den letzten Jahren des Regimes Halt und Orientierung bieten konnte, war ein breiter, wenn auch zum größten Teil latenter Konsens in der Verneinung des Regimes.Anders wäre es nur schwer erklärbar, mit welcher Vehemenz, Freude und Erleichterung die Vereinigung der beiden deutschen Staaten von den Menschen beider Seiten aufgenommen und gefeiert wurde.Es konnte gar nicht anders sein, als daß mit diesem historisch einmaligen Vorgang höchste Erwartungen verbunden wurden; Erwartungen, die nicht allein auf materiellen Wohlstand, sondern auch auf neue Lebensperspektiven und neue Werteorientierungen ausgerichtet waren.Wir alle müssen uns eingestehen, daß der Staat, die Politik und die Gesellschaft diese unbewußt gehegte Hoffnung auf Lebensorientierung bisher noch nicht zufriedenstellend erfüllt haben — bei aller Konzentration auf die Herstellung gleicher äußerer Lebensbedingungen wohl auch nicht erfüllen konnten.Ein solches Defizit an Werteorientierung wird von der Psyche keines Menschen toleriert; erst recht nicht von der des jungen Menschen. Sie werden notgedrungen nach alternativen Rastern Ausschau halten und extrem gefährdet sein, wenn es unserer Gesellschaft nicht gelingt, diese Raster mit demokratisch-rechtsstaatlichen Werten aufzufüllen. Dies gilt generell für jede Art von Extremismus, auch in den alten Bundesländern, in denen die Werteorientierung, vor allem auch über die Ereignisse seit 1989, gleichermaßen zu kurz gekommen ist. Diese jungen Menschen können deshalb zu einem erheblichen Gefährdungspotential für unsere Demokratie werden.Schon aus diesem Grund dürfen wir die ausländerfeindlichen Anschläge nicht hinnehmen. Wir dürfen sie nicht als vorhandenes Phänomen akzeptieren. Wir dürfen uns nicht an sie gewöhnen.
Was kann der Staat, was kann die Politik gegen extremistische, gewaltorientierte Radikale tun? In vielem erinnert mich die Diskussion an das, was zu Zeiten der von schweren Ausschreitungen begleiteten Massendemonstrationen in den 80er Jahren erörtert wurde.Richtig ist selbstverständlich, daß der Rechtsstaat mit aller Konsequenz und Härte gegen die brutalen Rechtsbrecher vorgehen muß. Aufgabe einer wehrhaften Demokratie ist es, den freiheitlichen Rechtsstaat zu schützen und die Freiheit der Bürger gegen die Feinde des Rechtsstaats zu verteidigen. Daß er zu einem solchen Vorgehen imstande ist, hat unser Rechtsstaat schon gezeigt. Die Länder sind um eine zeitnahe und nachdrückliche Ahndung der Straftaten bemüht. In vielen Fällen gelingt es, auf die scheußlichen Taten schnell zu reagieren. So ist ein Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim in Thüringen innerhalb eines Monats mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe abgeurteilt worden. Das ist sicher nicht dieRegel, macht aber deutlich, daß unsere geltenden Gesetze ein schnelles effizientes Vorgehen erlauben.
Nichtsdestotrotz wird von verschiedenen Seiten ein Katalog von Forderungen aufgestellt, der es ermöglichen soll, den Kampf gegen extremistische Gewalttäter besser zu bestehen. Ich möchte der anlaufenden Diskussion nicht vorgreifen. Morgen findet in Bonn eine Sondersitzung der Innen- und Justizminister-und -senatoren statt, die sich mit diesen Fragen eingehend beschäftigen werden.Eine persönliche Bemerkung sei auch mir hier erlaubt: Viele jetzt erhobene Forderungen sind nicht neu, sie sind in den 80er Jahren in gleicher Weise wie heute thematisiert worden. Die Verschärfung des Haftrechts und die Änderung des Landfriedensbruchs als Waffe gegen den Extremismus sind keine originellen Ideen.
Die Änderung der Bestimmungen über den Landfriedensbruch ist damals nach einer umfänglichen Anhörung von Sachverständigen und Praktikern als nicht rechtsstaatlich und, mit einem gleich wichtigen Argument, als nicht praktikabel verworfen worden.
Wir werden deshalb sogfältig zu prüfen haben, ob das, was uns damals — übrigens nahezu einhellig in Bund und Ländern — bewogen hat, von weiteren Verschärfungen unseres Strafrechts und Strafverfahrensrechts Abstand zu nehmen, nicht auch heute noch Gültigkeit hat.Aus meiner Sicht steht fest: Konkrete Gesetzesänderungen allein werden uns nicht helfen, die brutalen Gewalttätigkeiten junger Menschen in den Griff zu bekommen. Wir werden das überhaupt nur erreichen können, wenn es uns gelingt, unserer Jugend die dem Grundgesetz immanente Werteordnung nahezubringen.
Wir müssen dabei einsichtig machen, daß sie ein Werteraster darstellt, das individuelle Freiheit und soziale Sicherung garantiert und damit die erhoffte Lebensorientierung liefern kann.Dazu sind alle gesellschaftlichen und staatstragenden Kräfte aufgerufen, aber auch jeder einzelne von uns. Wir alle können einen Beitrag leisten. Tun wir es!
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Thierse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemals werde ich das Gesicht
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Wolfgang Thiersejenes jungen Mädchens aus Rostock vergessen können, das strahlenden Blicks seine Unterstützung ausländerfeindlicher Gewalttaten, von Verbrechen also, in die Fernsehkameras hinein mitteilte. Dieses Gesicht konstrastierte auf bedrückende Weise mit den Blicken der Angst, des Entsetzens, die die Verfolgten uns zusandten, wenn denn eine Fernsehkamera sie für uns einfing. Denn die Medienstars der vergangenen Wochen waren nicht die Erniedrigten und Beleidigten, sondern Skinheads, gewalttätige Jugendliche, die neuen Faschisten.
Dieses junge Mädchen war sich wahrscheinlich der Zustimmung ihrer Freunde, ihrer Eltern, ihrer Nachbarn gewiß. Dies ist das eigentlich Bestürzende, Alarmierende: Die nicht mehr nur heimliche, sondern lautstarke Zustimmung zu Gewalt, zu rechtsradikalen Ausbrüchen bei vielen, allzu vielen Menschen.Was ist da geschehen? Was geschieht mit den Menschen in Deutschland, drei Jahre nach dem friedlichen Umbruch, zwei Jahre nach dem Glück der staatlichen Wiedervereinigung? Nach Aufbruchstimmung, Begeisterung, Hoffnung über alle Maßen nun Enttäuschung, Angst, tiefe Verunsicherung und — als ein Ausdruck dessen — zunehmende Bereitschaft und Verführbarkeit zu Gewalt, die Sehnsucht nach gewaltsamen Lösungen, Kommunikation untereinander in der Sprache der Gewalt.Da ist nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Was wir erleben, ist eine besorgniserregende, dramatische Änderung des gesellschaftlichen Klimas. Rechtsradikale Gewalt beginnt alltäglich zu werden. Der Feind der Demokratie steht wieder rechts.
Ist der Rechtsstaat, so frage ich, wieder, wie schon einmal in unseliger deutscher Vergangenheit, auf dem rechten Auge blind? Es gab in den vergangenen Wochen schlimme Anzeichen dafür. Eindeutigkeit und Glaubwürdigkeit des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols sind schweren Zweifeln ausgesetzt worden. Manches an Untätigkeit, an Verharmlosung, an Verständnis konnte womöglich gar als indirekte Ermunterung irregeleiteter Jugendlicher, verunsicherter Erwachsener verstanden werden — gerade in Ostdeutschland, wo Größe und Grenzen, Würde und Mühsal des Rechtsstaats erst noch wirklich erfahren und angeeignet werden müssen.Wir behandeln heute gleichwohl kein spezifisch ostdeutsches Problem. Untersuchungen haben gezeigt, daß Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit unter Ostdeutschen nicht stärker verbreitet sind als unter Westdeutschen. Leider sind wir in dieser schlimmen Hinsicht vereinter, als wir uns das wünschen dürfen. Trotzdem ist die Tatsache nicht zu übersehen: In den neuen Ländern trägt die rechtsradikale Gewalt besonders brutale, eruptive Züge. Diese müssen erklärt werden, ohne irgend etwas zu rechtfertigen. Sie sind Erscheinungsformen einer um sich greifenden sozialen, psychischen und moralischen Entwurzelung. Die Sprache der Gewalt ist deren schrillster Ausdruck.Das massive Gefühl der Benachteiligung gegenüber dem Westen, die deutlich erkennbar schlechteren Lebensverhältnisse und die drohende Bedeutungslosigkeit des eigenen Lebens benötigen ein Forum, eine Plattform der Mitteilung. Stellen Politik und Kultur, die demokratischen Institutionen und Strukturen ein solches Forum nicht zur Verfügung, auf dem sich Unzufriedenheit „nach oben" artikulieren kann, dann artikuliert sich die Unzufriedenheit in der Sprache der Gewalt, richtet sie sich „nach unten", gegen die Schwächeren und Schwächsten, gegen die Minderheiten der Gesellschaft und zuletzt auch gegen das Gedächtnis der Toten. Ausländer und Asylanten fungieren dabei nur als eine mögliche Zielgruppe der Unzufriedenheitsartikulation.Reagiert die Politik nun in einer Weise, daß nach den Gewaltausbrüchen nur das „Asylantenproblem" als dringlich und vorrangig zu lösen anerkannt wird, gibt sie den gewaltausübenden Jugendlichen indirekt eine politische Rechtfertigung für deren Handeln.
Die Erfahrung der Jugendlichen lautete dann, erst der Einsatz von Gewalt führe dazu, daß die eigene Stimme gehört wird. Außerdem suggerierte eine solche Politikreaktion, daß Ausländer und Asylanten zumindest mitverantwortlich für die schlimme wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern seien. Es wäre eine Reaktion der Angst der Politiker vor der Angst der Bürger, die den Rechtsradikalen den Eindruck eines Sieges verschaffen könnte — eine fatale Wirkung unseres Handelns.
Das eigentliche Problem hat jedoch wenig mit den Ausländern oder Asylbewerbern zu tun, sondern mit uns selbst, mit der Art und Weise unserer gewohnten Konfliktbearbeitung, mit zunehmender Konfliktunfähigkeit, mit Schwierigkeiten, die nahegerückten Fremden, das zudringliche Fremde gelassen wahrzunehmen. Es hat mit unserer Gesellschafts- und Politikorganisation und unseren eingeschränkten Wahrnehmungen der Wirklichkeit zu tun. Aber dies so zu sehen scheint uns — nicht nur denjenigen, die Gewalt ausüben — sehr schwer zu fallen.Da jedoch Ausländer und Asylbewerber weder Ursache noch einzige Zielgruppe möglicher Haßausbrüche sind, darf keine Fixierung der Politik auf die Ausländerfrage oder das Asylantenproblem stattfinden. Die Gewalt verschwindet nicht, wenn die Ausländer verschwinden. Das Ausländerproblem ist zuallererst ein Inländerproblem.
Wie wir diesen Zusammenhang begreifen und gestalten, wird für die künftige politische Kultur in Deutschland mit entscheidend sein.Was ist zu tun? — „Keine Gewalt! ", das war unser angstvoll besorgter, mahnend appellativer Ruf im Herbst 1989, adressiert an die Träger, an die Akteure
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Wolfgang Thierseeines zusammenbrechenden Unrechtsregimes. Dieser Ruf hat ein wenig geholfen. Ist er heute wieder notwendig, sinnvoll? Ich denke: ja. Aber ich zweifle, ob er heute Wirkung zeigte, ob die Angesprochenen wirklich noch erreichbar sind.Vor allem: Warum sind es immer noch so wenige, die gegen Gewalt protestieren, die die Bereitschaft demonstrieren, die gefährdete Demokratie zu verteidigen? Die Verteidigung von Demokratie und Humanität ist doch keine Aufgabe nur der Politiker, sondern ist eine Aufgabe der Bürger insgesamt.
Ihre Gefährdung ist, so fürchte ich, nicht bloß kurzfristiger Art, wenn nicht die Mehrheit der Bürger Demokratie und Humanität entschlossen verteidigen. Denn wir haben uns darauf einzustellen, daß es in unserem Lande eine noch länger währende Diskrepanz geben wird zwischen den verständlich ungeduldigen Wünschen nach wirtschaftlicher, sozialer, politischer, mentaler Sicherheit, nach Gleichheit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, einerseits und andererseits den objektiven ökonomischen und sozialen Möglichkeiten, diese Wünsche schnell zu erfüllen. Diese Diskrepanz ist der soziale und psychische Konfliktstoff, der sich immer wieder neu entzünden kann. Die Brandstifter haben sich organisiert, sie sind schon unterwegs. Viele Menschen sind in ihrer Angst und Unsicherheit verführbar geworden.In solcher Situation müssen wir Demokraten uns vor falschem Parteiengezänk hüten, vor allzu eilfertigen Versuchen, Gesetze allzu schnell zu ändern. Die vorhandenen Gesetze müssen endlich konsequent angewendet werden.
Wir müssen uns vor dem Eindruck hüten, wir würden rechtsradikaler Gewalt nachgeben. Jedweder Versuch, Ressentiments und Ängste taktisch auszunutzen, verbietet sich, weil er der Demokratie insgesamt schadet.Der Rechtsstaat muß sich verteidigen, indem er die Schwächsten, die Opfer von Gewalt, entschlossen schützt und verteidigt. Das ist mein Begriff von wehrhafter Demokratie.
Dazu muß die Bekämpfung des Rechtsextremismus eine Chefsache der Bonner Politik werden. Die Innenminister von Bund und Ländern müssen gemeinsames Vorgehen gegen rechts vereinbaren. Bundeskriminalamt, Bundesanwaltschaft, Verfassungsschutz und Polizei müssen die Kräfte darauf konzentrieren. Warum eigentlich kann die Polizei Zwölfjährigen nicht die Molotowcocktails aus der Hand nehmen und die Kinder dahin schicken, wo sie hingehören? So fragte zu Recht Wolfgang Benz, einer der renommiertesten deutschen Faschismusforscher.Erst wenn wir uns diesen unmittelbaren Aufgaben gestellt haben, werden wir auch die Chance haben, die tiefer liegenden Ursachen und Probleme zu bearbeiten: durch eine vernünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik, durch den Entwurf einer menschlichen Perspektive, einer identitätsstiftenden Vision für Deutschland, durch reiche Angebote von Jugend- und Kulturarbeit. Aufklärung und Bildung sind notwendig, ebenso Angebote und Räume, insgesamt ein gesellschaftliches und kulturelles Klima, wo junge Leute untereinander und mit uns anders kommunizieren können als in der entmenschlichten Sprache der Gewalt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im „Kreisstadtecho" für Neuenahr und Ahrweiler, also unmittelbar vor der Haustür Bonns, erschien in dieser Woche eine Anzeige einer „Deutschen Liga, Freundeskreis für Volk und Heimat". Dieser Freundeskreis lädt — ich zitiere — „alle deutschen Männer und Frauen zum ersten nationalen Stammtisch" ein. Dies ist eine Nachricht aus unserer Umgebung, die zeigt, was in diesen Tagen in der Bundesrepublik Deutschland passiert.Was aber auch wahr ist und mir Mut macht: Die Gymnasien, die Evangelische Kirche und alle Jugendorganisationen werden morgen abend gemeinsam dagegen protestieren.
Fast jeden Tag hören wir von Anschlägen auf Ausländer. Ich verurteile diese Übergriffe auf das schärfste. Wir müssen aber, denke ich, auch fragen, wie wir die Gewaltausschreitungen verhindern können. Es sind meist junge Menschen, von denen diese Akte der Barbarei ausgehen. Deshalb ist die Jugendpolitik besonders gefordert. Wir dürfen nicht nur fragen, was strafrechtlich getan werden kann.
Wir müssen nach dem Lebensumfeld der jungen Menschen fragen und überlegen, wie wir präventiv tätig werden können.Aus meinen Gesprächen mit Jugendlichen an Ort und Stelle weiß ich, daß die Gründe für Gewalt sehr vielschichtig sind. Es gibt einen harten Kern von organisierten Rechtsextremisten, die konsequent strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden müssen. Mit diesen Leuten und ihren Auffassungen kann und darf es keine Kompromisse geben.Außer diesen gibt es aber Menschen, die für fremdenfeindliche Parolen anfällig sind. Das sind häufig Jugendliche, die aus Gründen des sozialen Neids glauben, Ausländer nähmen ihnen etwas weg, die Vorurteilen erliegen und immer wieder auf die Vorur-
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9410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Angela Merkelteile Erwachsener hören. Der Anteil dieser jungen Menschen liegt in Ost und West bei besorgniserregenden 30 %.Wir dürfen diese Urteile natürlich nicht hinnehmen. Wir dürfen diese Jugendlichen aber auch nicht abschreiben. Wir müssen uns mit ihren Problemen befassen, mit ihnen sprechen, ihre Lebensprobleme ernstnehmen und ihnen Lösungen zeigen. Wer diese Leute ausgrenzt, nicht mit ihnen spricht, sie stigmatisiert, treibt sie den Extremisten in die Arme.
Wir müssen vor allem den Jugendlichen in den neuen Bundesländern helfen, sich in ihrer Gesellschaft zurechtzufinden.Hier setzt das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt" ein. Wir wollen damit den Jugendlichen in der schwierigen Umbruchssituation konkrete Hilfe und Orientierung vermitteln. Erste Erfolge sind immer dort sichtbar, wo es gelingt, die jungen Menschen in konkrete Projekte einzubinden.Mit dem Programm zum Auf- und Ausbau von Trägern der Freien Jugendhilfe in den neuen Bundesländern stellen wir eine Anschubförderung bereit, um die Jugendarbeit dort nach 40 Jahren neu aufzubauen. Damit sollen Verunsicherung und Vereinzelung junger Menschen aufgefangen werden. In 40 Jahren Sozialismus ist ein freies Vereinsleben, sind selbständige Verbände und Initiativen unterdrückt worden. Mit diesem Programm wollen wir entstehenden Zusammenschlüssen in Ostdeutschland helfen, damit junge Menschen soziales Verhalten, Rücksichtnahme auf den Nächsten und demokratische Toleranz erlernen können. Es geht dabei vor allem um das Lernen von Regeln und Mechanismen zur friedlichen Auseinandersetzung und zur Bewältigung von Konflikten.Die Aktivitäten des Staates aber können nur ein Teil unserer Aktivitäten als Politiker sein. Eine Demokratie ohne mündige Bürger kann nicht existieren. Jeder einzelne Bürger steht in der Verantwortung.Wie oft habe ich in den letzten Tagen von Jugendlichen gehört, daß Erwachsene abfällige Äußerungen über Ausländer und Asylbewerber gemacht haben. Kinder und Jugendliche — das weiß man aus den Gesprächen — übernehmen vieles, was Erwachsene ihnen vorleben. Die Eltern in dieser Bundesrepublik Deutschland müssen ihren Erziehungsauftrag zuvörderst wahrnehmen. Diese Verantwortung kann ihnen der Staat nicht abnehmen. Die Eltern müssen vorleben, wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können. Sie müssen Zeit für ihre Kinder aufbringen, ihren Bedürfnissen nach Zuwendung gerecht werden und sich mit ihnen vor allem geistig auseinandersetzen. Materielle Versorgung von Kindern reicht nicht aus.
Jeder Erwachsene muß darauf achten, was er sagt und wie er über Ausländer spricht. Jeder Bürger steht hier, besonders in unserer Zeit, in der Bewährungsprobe.Auch die Medien müssen sich fragen, wann und wie sie ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Geschehnisse und Probleme richten und in welchem Umfang sie das tun.In Rostock habe ich im Gespräch Jugendliche erlebt, die nur darauf aus waren, öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Wir wissen auch, daß Medienberichterstattung durchaus zu Wiederholungen und Steigerungen von Gewalt anregen kann.Ich glaube, wir sollten uns an die Erfahrungen aus England erinnern, wo man den Exzessen der Fußballhooligans u. a. deshalb entgegentreten konnte, weil die Berichterstattung darüber auf das notwendige Minimum beschränkt werden konnte.
Gewalt ist ein gesellschaftliches Phänomen, das wir nur dann in den Griff bekommen, wenn alle mithelfen, daß bei uns eine Gesellschaft entsteht, die die Menschen als gerecht empfinden. Diese Verantwortung richtet sich an den Staat, an die Tarifpartner, an die Verbände, Vereine und an jeden einzelnen Bürger. Gemeinsam müssen wir zeigen, daß wir eine Entwicklung zur Gewalt nicht tatenlos hinnehmen. Wir sind eine wehrhafte Demokratie, nicht nur im Sinne von Polizei und Justiz. Wir alle stehen durch unser Verhalten in der Verantwortung.Ich danke den vielen, die sich um ein friedliches Zusammenleben in unserem Lande kümmern,
den Runden Tischen und denen, die Tage der Begegnung organisieren. Es gibt viele Beispiele dafür; aber es müssen mehr werden. Nur dann können wir ein Land des äußeren und des inneren Friedens sein, ein Land in der Mitte Europas, das weiß, daß es seinen Wohlstand und seinen kulturellen Reichtum nicht zuletzt der Tatsache verdankt, daß zahlreiche Menschen aus anderen Ländern bei uns arbeiten und leben.
Diese Menschen sind nicht nur ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft; die ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen sind auch ein Gewinn für unser Land.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jürgen Schmieder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß in dem Rostocker Asylantenheim keine Menschen zu Schaden gekommen sind, grenzt an ein wahres Wunder. Daß sie dem wütenden Mob schutzlos ausgeliefert, in Todesangst anderthalb Stunden vor laufenden Kameras auf Hilfe warten mußten, ist, gelinde gesagt, ein Verbrechen.
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Dr. Jürgen SchmiederFür Mord genügt es, daß vom Täter der Tod des Opfers billigend in Kauf genommen wird. Wer Brandsätze und andere Wurfgeschosse in die Wohnungen wirft, in denen sich Kinder, Frauen und Männer aufhalten, ist ein potentieller Mörder. Das Johlen und der gröhlende Applaus der beifällig dabeistehenden Bürger ist nichts anderes als Beihilfe für Kriminelle.
Meine Damen und Herren, Deutschland erlebt zur Zeit eine Welle rechtsradikaler Gewalt. Damit rückt verstärkt die innere Sicherheit unseres Staates ins Blickfeld, die durch extremistisch-radikale, antidemokratische Gruppierungen und durch offensichtlich steigende Gewalt und Delinquenzbereitschaft in Gefahr zu kommen droht. Bezeichnenderweise wurden in Rostock einige ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi festgestellt, die in vorderster Reihe agierten. Es stellen sich die Fragen, wer die regiert, wer lenkt und leitet, wer wird durch wen und wovon begünstigt?Die Bilder von brennenden Asylantenheimen und randalierenden Horden vor beifällig en Zuschauerkulissen, die seit Monaten andauernden Exzesse in Hoyerswerda, Rostock, Saarlouis, Hünxe und anderen Orten, der Brandanschlag auf das frühere KZ Sachsenhausen — dies beunruhigt und beschämt uns zutiefst und macht uns betroffen. Aber damit darf es nicht genug sein. Wir müssen hier etwas tun. Der Staat muß sich zur Wehr setzen, und die demokratischen Parteien sind aufgerufen, gemeinsam zu handeln.Sie sind aufgerufen, über alle Parteigrenzen hinweg im Kampf gegen solche Akte brutaler Gewalt gemeinsam nach wirksamen Instrumenten zu suchen. Für parteipolitische Profilierungen ist es ohnehin zu spät, und die Situation ist zu ernst.
Wir sind den betroffenen Menschen Solidarität schuldig.Parteienstrategie und Profilierungssucht einiger Politiker, insbesondere in Landeswahlkämpfen — nicht zuletzt in Baden-Württemberg —, haben das Asylantenproblem zum Wahlkampfthema gemacht, es damit aufgebauscht und mißbraucht.
Die F.D.P. hat davor gewarnt. Es macht die Republikaner salonfähig, ermutigt die Rechtsradikalen und lenkt von den in Wirklichkeit größeren Problemen und politischen Versäumnissen des Einigungsprozesses ab.
Fast ist man geneigt, dem Vorwurf des Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zuzustimmen.Aber jetzt bringt es nichts, sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen zu üben. Jetzt sind Taten gefragt, und zwar Taten in voller Ausnutzung der bereits geltenden gesetzlichen Regelungen. Der alleinige Ruf nach neuen Gesetzen ist unseriös. Er vernebelt denHintergrund der aktuellen Schwierigkeiten und ist eigentlich nur polemische Effekthascherei.
An der Stelle darf ich den Angriff vorhin auf das Präsidentenamt verteidigen. Man kann, wenn man zitiert, die Zitate nicht aus dem Zusammenhang reißen. Frau Süssmuth hat das zwar gesagt, aber an ganz anderer Stelle. Ich denke, man muß die Würde des Hauses hier wahren.
Wir müssen gründlich analysieren, was im Einzelfall falsch gemacht wurde. Wir müssen Voraussetzungen schaffen, damit der Staat den Tätern vorbereitet und gut gerüstet bzw. ausgerüstet gegenübersteht. Wir müssen die Ursachen beseitigen.Die Debatte heute ist dringend notwendig. Man ist nach Rostock zu schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen und hat sich dem üblichen Politgeschäft zugewandt.
Der Tatsache, daß Rechtsradikale in Deutschland inzwischen in wesentlich kürzerer Zeit mehr Morde auf dem Gewissen haben als die RAF-Terroristen, muß Rechnung getragen werden. Es müssen sofortige Konsequenzen gezogen werden.Daß der Rechtsstaat die hilflosen Opfer in Lichtenhagen auf dem Dach des brennenden Hauses verlassen und damit verraten und verkauft hat, grenzt schon an ein Verbrechen der verantwortlichen Politiker. Die Staatsgewalt hat in Rostock Mordversuche der Rechtsradikalen und Neonazis zugelassen, die sie — soviel steht heute fest — nach Lage der Dinge hätte verhindern können.
Der mecklenburgische Innenminister hat nicht zuletzt vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages deutlich gemacht, daß er der Situation in Rostock nicht gewachsen war und für seine Funktion ungeeignet erscheint. Der Untersuchungsausschuß im Landtag muß sich hierzu endlich positionieren.Durch die verzögerte Handlungsfähigkeit der staatlichen Macht und durch das Beklatschen der Aktionen durch Schaulustige ist ein Flächenbrand ausgelöst worden, der sich gegen die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft richtet. Hierfür muß doch jemand die politische Verantwortung übernehmen.
Auch war es dilettantisch, eine zentrale Aufnahmestelle mitten in einem von sozialen Spannungen und Belastungen heimgesuchten Wohngebiet unterzubringen. Die Schuld trägt hier nicht nur der Oberbürgermeister von Rostock.Aber Rostock zeigt auch, daß die Aktionen gelenkt, geleitet und geführt und darüber hinaus zeitlich so terminiert waren, daß sie noch im schutzlosen Heim in Lichtenhagen stattfinden konnten. Eine Woche später wären die Asylanten in Sicherheit gewesen.
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9412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Dr. Jürgen SchmiederDie Frage nach den Hintermännern und Drahtziehern taucht erneut auf. Wie war es möglich, daß organisierte Rechtsradikale aus Hamburg und Schleswig-Holstein mit Taxis zum Tatort fahren konnten, ohne daß es Vorfeldkontrollen gegeben hat? Das alles hat mit Asylrecht nichts zu tun.
Es ist übrigens auch banal, dieses Problem als ostdeutsches Problem abzutun, wie man es gelegentlich hört. In Ostdeutschland haben die Bürger auch vor der Wende mit Ausländern zusammengelebt, beispielsweise mit den über Werkverträge ins Land geholten Vietnamesen und Angolanern. Hier hat es meines Wissens noch keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben. Der Ostdeutsche ist also durchaus nicht ungeübt im Zusammenleben mit Ausländern. Aber der an völkerwanderungsähnliche Zustände erinnernde Ansturm von Sinti und Roma überfordert jedoch sichtbar das vertretbare und verkraftbare Maß in den ostdeutschen Kommunen und Ländern; noch dazu, wo die materiellen Voraussetzungen fehlen und die Bürger und Behörden im Osten schwer an den Umstrukturierungsprozessen zu tragen haben.Die persönlichen Belange müssen neu geregelt und koordiniert werden, und es ist in einigen Regionen viel Geduld mit der wirtschaftlichen Umgestaltung aufzubringen. Hier ist die Koalition, aber darüber hinaus sind auch alle demokratischen Kräfte aufgerufen, dringend weitere Instrumente des wirtschaftlichen Aufschwungs Ostdeutschlands einerseits und andererseits auch zur Begrenzung des Zuwanderungsstroms wirksam zu machen. Diese Probleme stehen in jedem Fall vor uns und sind nicht erst durch die Untaten der Extremisten ins Blickfeld gerückt.Was die Neonazis angeht: Die hat es auch in der ehemaligen DDR gegeben. Sie sind totgeschwiegen worden, und man glaubte, mit der Vogel-Strauß-Politik könnte man dem Problem entkommen. Mit der Einkehr einer freiheitlichen demokratischen Ordnung kamen sie aus ihren Schlupflöchern, vermehrten sich und bekamen Unterstützung durch Gleichgesinnte aus den alten Bundesländern, die glauben, im Osten Deutschlands ihr Unwesen treiben zu können, da dort die Polizei- und Verfassungsschutzstrukturen noch im Aufbau sind.Es ist gerade noch Zeit, den Anfängen eines größeren Unheils zu wehren. Wir müssen das soziale Umfeld des Rechtsextremismus austrocknen, und wir müssen den Ausschreitungen energisch begegnen. Gefordert sind rechtsstaatliche Stärke und Besonnenheit.Der Rechtsstaat muß das bereits bestehende, breitgefächerte gesetzliche Instrumentarium nutzen, um kriminelle Gewalt — um nichts anderes handelt es sich hier — konsequenter als bisher zu verfolgen und zu ahnden. Es geht um die konsequente und effektive Anwendung des geltenden Rechts.Polizei und andere Ordnungskräfte sowie Gerichte und Justizbehörden müssen unbedingt und vorrangig personell und materiell so ausgestattet werden, daß Rechtsbrüche unverzüglich verfolgt und geahndet werden können. Die Ausrüstung der polizeilichen Kräfte, die den Randalierern gegenüberstehen, muß verbessert werden. Man muß jetzt vorübergehend eben verstärkt mit Abordnungen aus dem Westen für Abhilfe sorgen. Die F.D.P. fordert eben dieses schon seit längerem.Die vielfältigen Sanktionen des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes — nach denen sich z. B. auch strafbar machen kann, wer als Zuschauer Gewalttätern beisteht — müssen den Straftaten schuldangemessen angewandt, die vorhandenen Strafrahmen ausgeschöpft werden. Es geht vorrangig darum, nicht durch zu mildes Strafmaß zu neuen Straftaten einzuladen.Gleichfalls ist von Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung im Sinne von § 212 der Strafprozeßordnung Gebrauch zu machen durch die Sicherstellung einer zeitnahen Verurteilung von Gewalttätern durch verstärkt vor Ort eingesetzte Staatsanwälte und Richter. Außerdem sollte über die Schaffung einer effektiven mobilen Sondereinsatzgruppe gegen Straßengewalt ernsthaft nachgedacht werden.Abschließend muß ich aber noch einmal darauf hinweisen, daß der Entstehung der Bereitschaft zur Gewalt ein Prozeß zugrunde liegt, der letztlich nicht durch strafrechtliche Aktionen bekämpft werden kann. Hier sind alle demokratischen Kräfte aktiv gefordert, um insbesondere unserer Jugend zu verdeutlichen, daß Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung des anderen ein Werteraster darstellen, das soziale Sicherung und individuelle Freiheit garantiert, das Lebensorientierung liefert und für das es sich einzustehen lohnt.
Ich erteile das Wort dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Herbert Schnoor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich umsieht in unserem Land, wer genau hinhört, was die Menschen bewegt, was sie sagen, der kommt nicht mehr an der Feststellung vorbei, daß sich der demokratische und soziale Rechtsstaat heute in einer schwierigen Phase der Bewährung befindet.Wir im Westen leben in einer Gesellschaft, die in vier Jahrzehnten sehr wohl erkannt hat, was Freiheit, Toleranz, ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit, Wohlstand und Weltoffenheit geistig und materiell konkret für den einzelnen bedeuten. Diese Gesellschaft ist aber offensichtlich sehr schnell bereit, fundamentale Grundsätze in Frage zu stellen, wenn sie ihren individuellen, vor allem ihrem materiellen Lebensbereich — von wem auch immer — bedroht sieht.In Zeiten wirtschaftlicher Krisen, sozialer Unsicherheit, internationaler Konflikte und einer sich ständig erweiternden geistigen Hilf- und Orientierungslosigkeit kommt es dann sehr schnell zu Forderungen nach
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9413
Minister Dr. Herbert Schnoor einfachen, schnellen, diskussionsfreien, überschaubaren und für jedermann einsichtigen Lösungen. Diese aber gibt es in komplexen Gesellschaften nicht. Der Preis für die Vereinfachung komplexer Sachverhalte ist die Gewalt, wie Friedrich Hacker in seinen Thesen zur Gewalt gesagt hat. Ich kann nur empfehlen, diese immer wieder nachzulesen.Hier liegen die eigentlichen Gefahren für eine freie demokratische Gesellschaft, und hier setzt der Rechtsextremismus an, der glaubt, daß nach zwei Jahrzehnten der Erfolglosigkeit, insbesondere nach dem Niedergang der NPD, nunmehr seine Stunde gekommen sei. Rechtsextremistische Parteien und Vereine haben Zentimeter für Zentimeter ihren Boden aufbereitet, Tabus gebrochen und Themen besetzt. Es gibt dafür einen aufnahmebereiten Boden, der Schoß ist fruchtbar noch.Die Parteien und Vereine haben sich schwerpunktmäßig auf Personengruppen konzentriert, die sich in einer individuell komplizierten und sozial schwierigen Lage befinden: auf junge Menschen, die eine positive Zukunftsperspektive nicht zu erkennen glauben, auf ungelernte und angelernte Arbeiter, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben, auf ältere und einkommensschwache Menschen, die um ihre Wohnung in einem sozial schwierigen Umfeld fürchten, auf Jugendliche und Heranwachsende, die sich der Leistungs- und Konsumgesellschaft nicht gewachsen fühlen. Hier, aber nicht nur hier, finden die einfachen Erklärungen und schlichten Lösungen der Rechtsradikalen Widerhall.Ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie, Frau Schmalz-Jacobsen, gesagt haben, Ihnen ausdrücklich zustimmen und in diesem Zusammenhang Wilhelm Heitmeyer erwähnen. Wir dürfen in der aktuellen Debatte über den Rechtsextremismus und über Ausländerfeindlichkeit nämlich nicht dem Trugschluß erliegen, als könne man den Rechtsextremismus dadurch bekämpfen, daß man ihm seine derzeitigen Opfer, nämlich die Asylbewerber, nimmt.Heitmeyer sagt — wie ich meine, zu Recht —, daß das eigentliche Problem viel tiefer liege, nämlich in den zunehmenden sozialen, beruflichen und politischen Desintegrationsprozessen unserer Gesellschaft. Hier liegt das große Problem. Hier müssen wir ansetzen.
Deswegen herzlichen Dank für die Zustimmung einer liberalen Politikerin. Heute sind die Asylbewerber die Opfer, morgen vielleicht alle Ausländer, dann die Obdachlosen, vielleicht die Behinderten oder sonstigen Minderheiten, kurz: die sogenannten Andersartigen, die andersfarbigen, die Andersdenkenden. Sie werden als Sündenböcke für alle individuellen und gesellschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich gemacht.Deshalb soll sich niemand der Illusion hingeben, daß bei einer etwaigen Lösung des Asylproblems — so notwendig sie ist — die Rechtsextremisten in unserem Lande Ruhe geben. Sie wollen in Deutschland und Europa all das aushebeln, was an Humanität, Liberalität, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Fortschritt unverrückbarer Bestandteil unserer Kultur geworden ist.
Was ist zu tun? Wir müssen in einem realistischen Bericht zur Lage der Nation die Problemfelder der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, der Wohnungsbau-, Bildungs- und auch der Ausländerpolitik darlegen und konkrete Lösungen anbieten. Wir müssen den Mut haben, den Menschen zu sagen, wann und in welchem Umfang weitere Opfer von uns allen verlangt werden. Wir sollten offen bekennen, daß wir nicht alle Probleme von heute auf morgen lösen können, z. B. die Probleme mit den Zuwanderern. Wir sollten die Desintegrationsprozesse in unserer Gesellschaft nicht länger hinnehmen, sondern nach Wegen suchen, wie wir dem entgegenwirken können. Wir sollten uns erneut und deutlich zu den Prinzipien der abwehrbereiten Demokratie bekennen.Nordrhein-Westfalen hat seit jeher den Rechtsextremismus intensiv, d. h. unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel umfassend beobachtet. Dies hat mir bis heute Kritik eingebracht, auch von Teilen der eigenen Partei, die ein anderes Verhältnis zum Verfassungsschutz haben. Das sage ich ganz deutlich.Wir haben zugleich die Konsequenzen aus den so gewonnenen Erkenntnissen gezogen und schon 1986 das Verbot der neonazistischen FAP und 1987 der „Nationalistischen Front", Bielefeld, gefordert. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse, insbesondere im Blick auf die üble Rolle, die die Kader der „Nationalistischen Front" bei den Krawallen spielen, bedauere ich zutiefst, daß es der Bundesminister des Innern seinerzeit für nicht erforderlich gehalten hat, der Initiative Nordrhein-Westfalens zu folgen.Ich weiß natürlich sehr wohl, was gegen Partei- und Vereinsverbote spricht. Das sollten wir sorgfältig abwägen. Aber wenn in dem Kanon, der von der CDU/CSU-Fraktion — so habe ich es jedenfalls gelesen — vorgetragen wird, auch Vereinsverbote enthalten sind — ich meine, man muß darüber sprechen —, dann ist es wert, auch hierauf hinzuweisen. Ich habe dies seit langem gefordert.
Der neuartigen Welle der Gewalt soll statt dessen mit schärferen Gesetzen begegnet werden. Als ob nicht alles längst geregelt ist: vom Verbot des Hitlergrußes über den Brandanschlag bis zum Landfriedensbruch.
Jetzt scheint wieder einmal Ziel das Demonstrationsrecht zu sein. Es werden gescheiterte Lösungsvorschläge vergangener Legislaturperioden ausgegraben. Es werden Themen miteinander verknüpft, die wirklich nichts miteinander zu tun haben.
Minister Dr. Herbert Schnoor
Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs ist zur Beseitigung gewaltsamer Übergriffe gegen Ausländer überhaupt nicht geeignet. Die meisten Anschläge erfolgen gerade nicht aus einer Menge heraus, sondern erfolgen heimlich, nachts, wenn Jugendliche unterwegs sind, sich noch einmal ausländerfeindliche Parolen gesagt und Alkohol getrunken haben. Das sind die meisten Fälle. Wenn sie aus einer Menge heraus erfolgen, müssen die Straftäter selbstverständlich festgenommen und vor den Richter gebracht werden.
Dafür gibt es seit Anfang der 80er Jahre Festnahmegruppen. Das ist das einfache ABC der Innenminister und der Polizei. Das muß nicht erfunden werden. Es funktioniert zwar nicht überall bereits, aber wir dürfen auch nicht mit den Fingern auf diejenigen zeigen, wo es noch nicht funktioniert. Es ist nämlich schwierig, dort mit modernen Polizeimethoden zu arbeiten, wo die Polizei noch nicht auf dem besten Stand ist. Deswegen sollten wir behutsam mit den Kollegen in den anderen Bundesländern umgehen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie rechnen es mir nicht an?
Nein. Ich rechne es Ihnen hoch an, wenn Sie die Frage zulassen, Herr Schnoor.
Herr Schnoor, wenn man den Satz „Wer morgens mit der Zwille in der Tasche aus dem Hause geht, um zur Demo zu eilen, dessen Lebensgefährtin sollte wissen, daß es keinen Slim hat, das Abendessen warm zu halten" für eine einigermaßen normale rechtspolitische Maxime hält, dann frage ich Sie: Was ist in Nordrhein-Westfalen geschehen, um in ähnlich vorbildlicher Weise wie kürzlich in Mecklenburg-Vorpommern sicherzustellen, daß die Leute abends tatsächlich zu Händen gehalten worden sind, damit nach acht Tagen sehr schnell ein rechtsstaatliches, aber sehr schnelles Verfahren abgeschlossen werden konnte? Ist Nordrhein-Westfalen da in irgendeiner Weise besonders rühmlich hervorgetreten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein, ich will Nordrhein-Westfalen gar nicht herausstellen. Das, was die Polizeien in Westdeutschland in dieser Frage leisten, das leisten sie in allen Ländern. Es gibt natürlich in Ostdeutschland einen gewissen Nachholbedarf bei der Polizei. Aber Sie können es doch nicht der Polizei anlasten, wenn es dort Nachholbedarf gibt.
— Herr Kleinert, lassen Sie mich zum Ende kommen.
Ich will zum Thema Landfriedensbruch deutlich sagen: Wer aus einer Menge heraus Gewalt übt, muß festgenommen werden. Er macht sich strafbar und wird vor den Richter gebracht. Wer ihn unterstützt, wird wegen Beihilfe bestraft. Wer Anheizer ist, wird bestraft. Das ist alles gesetzlich geregelt.
Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob Sie auch die Bürger in Lichtenhagen, die dort herumgestanden haben, auch alle verhaften und vor den Kadi bringen wollen. Sie mögen sich einmal überlegen, ob das die richtige Politik ist. Das wäre nämlich die Konsequenz, wenn Sie den alten Landfriedensbruchtatbestand aus Kaiser Wilhelms Zeiten wieder herausholen wollten.
Ich verstehe ja den Impetus, das ernsthafte Bemühen, das hinter den Vorschlägen der CDU/CSU steht; ich will das deutlich sagen. Wir suchen ja nach einem Weg, wie man den Menschen deutlich machen kann: Nie wieder Faschismus! Nur, dann sollten wir nicht Wege wählen, die unsere Rechtsordnung verfremden, wie sich das eben nicht gehört. Vielmehr sollten wir nach anderen Mitteln suchen. Dabei ist zunächst einmal die Politik gefragt, aber beispielsweise auch die Bürger. Darauf ist ja hingewiesen worden. Dazu gehört auch, daß sich die politisch Verantwortlichen vor die Opfer stellen.
Der französische Staatspräsident beispielsweise hat gezeigt, nachdem in seinem Land jüdische Gräber geschändet wurden, wie man sich an die Spitze einer großen Demonstration mit über 120 000 Menschen stellt und damit deutlich macht: Das französische Volk nimmt diese Exzesse nicht hin.
Dieses Gefühl haben wir doch alle hier, unabhängig davon, in welcher Partei oder welcher Fraktion wir sind.
Deswegen frage ich, Herr Bundesinnenminister: Sollte es in einer solchen Situation nicht möglich sein, daß der Bundeskanzler, der — das sage ich nicht kritisch — ein Gefühl für Gesten hat, die Ministerpräsidenten, die Gewerkschaftsführer, die Bischöfe, die Friedensbewegungen, wir in unseren Parteien dafür sorgen, daß wir einmal gemeinsam gegen Rechts auf die Straße gehen.
Ich glaube, das würde vielen Mut machen und würde mit zur Verbesserung unseres Ansehens beitragen.
Herr Kollege Norbert Geis, Sie haben das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9415
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß dieser Debatte ist die zunehmende Bedrohung unserer inneren Sicherheit durch rechtsradikale Kräfte. Wir können das nicht deutlich genug sagen, damit die Bevölkerung weiß, woher heute zuallererst die Bedrohung unserer Demokratie kommt.Anlaß ist natürlich auch die steigende Kriminalität in unserer Gesellschaft. Die Bevölkerung hat allmählich, Herr Schnoor, schon die Hoffnung verloren, daß wir in diesem Parlament, im Bundestag, und vielleicht auch in den Ländern draußen noch die Kraft aufbringen, gesetzliche Maßnahmen zu verabschieden, die die Polizei wirklich in die Lage versetzen, Gewalt und Kriminalität zu bekämpfen.Wir kämpfen hier schon seit Wochen und Monaten um eine vernünftige Regelung im Rahmen der Organisierten Kriminalität und haben sie bis jetzt noch nicht durchgesetzt, obwohl alle Fachleute der Polizei, auch aus Nordrhein-Westfalen, uns sagen,
— Sie auch, aber nicht alle in Ihrer Partei; sagen Sie das in Ihrer Partei weiter —, daß wir endlich gesetzliche Regelungen treffen müssen, mit denen wir Gewalt wirklich bekämpfen können.Die Bekämpfung der steigenden Gewaltkriminalität ist auch eine Forderung an die Rechtspolitik. Die heutige Debatte hätte ihren Sinn verfehlt, und die Entschließung, die wir nachher hoffentlich gemeinsam verabschieden, wäre das Papier nicht wert, wenn wir uns nicht im Anschluß daran Gedanken machen würden, wie wir konkret auch mit gesetzlichen Maßnahmen, Frau Ministerin, vor allem auch mit den Mitteln des Strafrechtes den Versuch unternehmen können, der Gewaltkriminalität entgegenzutreten.Ich möchte von vornherein klarstellen, daß ich nicht zu denen gehöre, die in der Strafjustiz das Allheilmittel gegen Gewalt sehen. Das Verhängen von Strafen ist immer Ultima ratio staatlichen Handelns. Wer sich aber von vornherein jeglichem Gedanken an eine mögliche Ergänzung und eine Prüfung, ob unser strafrechtlicher Rahmen so, wie wir ihn im Augenblick haben, noch geeignet ist, der Gewalt zu begegnen, versperrt, der wird, glaube ich, dem Anspruch dieser Debatte und vor allen Dingen dem Anspruch, den die Bevölkerung an uns hat, nicht gerecht.
Wenn ich mich nun auf den strafrechtlichen Aspekt beschränke, tue ich dies sehr wohl in dem Bewußtsein — ich wiederhole das —, daß das Strafrecht gegen Gewalt kein Allheilmittel ist. Aber daß wir uns darüber natürlich Gedanken machen müssen, scheint mir notwendig zu sein.Es taucht zunächst einmal die Frage auf, ob wir nicht zu anderen strafrechtlichen Rahmen kommen müssen. In der rechtspolitischen Diskussion — ich habe mich daran beteiligt — haben wir uns in der Vergangenheit vor allem darüber Gedanken gemacht, wie wir zu einem Täter-Opfer-Ausgleich kommen können und wie es dann vielleicht möglich ist, dem Täter die Strafe zu erlassen. Ich halte diese Diskussion für richtig. Aber angesichts der steigenden Gewaltkriminalität, angesichts der Straftaten vor den Asylbewerberheimen müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, ob es nicht richtiger ist, den Strafrahmen, den uns das Strafgesetzbuch im Augenblick zur Verfügung stellt, auch wirklich auszunutzen, d. h. die Täter auch wirklich zu bestrafen, die Strafe wirklich durchzusetzen. Das ist, meine ich, eine richtige Forderung.Immer noch — das dürfen wir nicht vergessen — hat die Gewalt in unserer Gesetzgebung nicht die richtige Einschätzung. So haben wir seit 120 Jahren einen Unterschied zwischen dem Rechtsgut körperliche Unversehrtheit und dem Rechtsgut Eigentum. Derjenige, der eine Körperverletzung begeht, kann mit Freiheitsentzug von maximal drei Jahren bestraft werden. Aber derjenige, der nur einen versuchten Diebstahl begeht, kann zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt werden. Das ist doch ein Mißverhältnis. Darüber müssen wir uns Gedanken machen und versuchen, das gerade angesichts der Gewaltkriminalität zu ändern. Das kann doch nicht verkehrt sein, Herr Schnoor.
Natürlich müssen wir uns auch überlegen, ob es angesichts der Gewaltkriminalität, angesichts der Straftaten vor Asylantenheimen richtig ist, die Rechtspolitik fortzusetzen, Strafen möglichst oft und möglichst mehrmals zur Bewährung auszusetzen. Strafgerichte neigen in den letzten Jahren immer mehr dazu, Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen. Dieser Trend, meine ich, muß gestoppt werden. Gewalttäter müssen wissen, daß ihnen das Gefängnis droht und die Freiheitsstrafe nicht nur auf dem Papier steht. Strafprozesse sind keine Alibiveranstaltung für die Politik und keine Gesellschaftsspiele für Kriminelle, sondern sie haben die wichtige Funktion, die Achtung vor unserer Rechtsordnung zu wahren.
Ich teile Ihre abfälligen Äußerungen über die Überlegungen, den Landfriedensbruchparagraphen zu überdenken, nicht, Herr Schnoor. Dieser Tatbestand spielt in der Rechtspraxis — das wissen Sie ganz genau — überhaupt keine Rolle, und zwar deshalb nicht, weil er unpraktikabel ist. Man kann ihn genausogut aus dem Strafgesetzbuch streichen. Er ist das Papier nicht wert. Es erfolgt daraus keinerlei Rechtspraxis. Die Polizei kann damit nicht umgehen, weil der Tatbestand selbst ungeeignet ist.Deshalb meine ich wirklich, daß die Forderung des Innenministers und auch die Forderung, die der CDU/CSU-Fraktionsvorstand erhoben hat, nicht verkehrt sein kann, darüber nachzudenken, wie man ihn besser formulieren kann, und zwar so, daß er wirklich anwendbar ist. Ich fordere dazu nachdrücklich in der Diskussion nach dieser Debatte auf.
Meine Damen und Herren, ganz unerträglich ist es auch, daß die Polizei nach derzeitiger Gesetzeslage Randalierer — oft unter höchstem Einsatz — zwar festnehmen kann und muß, aber nur, um die Personalien festzustellen. In der Regel muß sie dann die
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9416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Norbert GeisGewalttäter wieder laufen lassen, weil unsere Strafprozeßordnung es nicht vorsieht, daß man solche Gewalttäter schon nach der Ersttat in Sicherungshaft nehmen darf. Deshalb kann es doch nicht verkehrt sein, wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Strafprozeßordnung an die steigende Gewaltkriminalität anpassen.Unsere Bevölkerung hat Angst. Es gibt nicht nur die Bedrohung der Asylantenheime und Asylbewerber, sondern die Menschen bei uns haben Angst davor, abends auf die Straße zu gehen, Angst vor Schlägereien und davor, beraubt zu werden. U-Bahn-Stationen werden nachts nicht mehr besucht, weil die Bevölkerung Angst vor Gewaltkriminalität hat. Deswegen kann es doch nicht richtig sein, daß der Polizeibeamte den einzelnen faßt, aber nur seine Personalien feststellen kann und ihn dann wieder laufen lassen muß, weil der Haftrichter gar nicht in der Lage ist, eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. Der Landfriedensbruch, Herr Schnoor, muß deswegen in den § 112 a StPO eingefügt werden, so daß jemand, der dagegen verstößt, schon bei seiner ersten Tat festgesetzt werden kann.Das gleiche gilt natürlich auch für den, der einen Raub auf offener Straße begeht.
Der, der eine Raubtat begeht, muß nicht erst beim zweiten- oder drittenmal erwarten, daß er festgesetzt wird, sondern bereits bei der ersten Tat muß Sicherungsverwahrung gegen ihn möglich sein. Deswegen müssen wir die Strapfprozeßordnung, insbesondere den § 112 a StPO, überdenken. Frau Justizministerin, hier dürfen Sie sich nicht sperren. Ich meine, das ist ein dringendes Erfordernis.
Ein Wort noch zu den gewalttätigen Jugendlichen: Wir beobachten mit großem Erschrecken die Entwicklung der Gewaltkriminalität insbesondere bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Jugendliche rotten sich zu Banden zusammen und verunsichern die Bevölkerung. Straßenraub ist in den Großstädten an der Tagesordnung. Im Rhein-Main-Gebiet ist der Straßenraub 1991 um mehr als 20 % angestiegen. In den Großstädten ist die Quote noch höher. Das muß man sich einmal vorstellen! Viele der Täter sind Jugendliche.Hier müssen wir uns natürlich überlegen, ob wir unser Jugendstrafrecht noch richtig handhaben. Natürlich muß im Jugendstrafvollzug der Erziehungsgedanke Vorrang haben. Dafür haben wir jahrelang gekämpft, das muß auch seinen Bestand haben. Angesichts der steigenden Gewaltkriminalität muß aber auch der Gedanke der Sicherheit der Bevölkerung entsprechend berücksichtigt werden. Das müssen wir im Jugendstrafrecht entsprechend einpassen.Ein Wort noch zum Strafvollzug. Was für den Jugendstrafvollzug gilt, hat natürlich erst recht für den Strafvollzug bei Erwachsenen zu gelten. Die Praxis der Vollzugslockerungen hat sich im großen und ganzen bewährt, und daran wollen wir auch festhalten. Gewaltverbrecher müssen wir künftig aber härter anfassen. So leicht, wie es manche Strafvollzugsanstalten handhaben, dürfen wir es den Gewaltverbrechern nicht machen. Wer eine Gewalttat begeht, darf nicht darauf hoffen, in Kürze die Wohltaten des offenen Vollzuges zu erhalten. Wir müssen deshalb auch beim Strafvollzug die Gewaltverbrechen anders bewerten.Wir werden uns darum bemühen müssen, alle diese Forderungen sorgfältig zu prüfen. Es geht nicht um Schnellschüsse, aber es geht darum, daß wir der steigenden Gewaltkriminalität auch mit den Mitteln des Strafrechtes entgegentreten. Dabei sind wir uns bewußt, daß ein säkularisierter Staat vor allem gegenüber der Jugend ständig im Begründungszwang steht, warum das eine erlaubt und das andere nicht erlaubt oder warum nicht alles erlaubt ist. Das kann und darf uns nicht daran hindern, auch auf dem Gebiet der Rechtspolitik alle Anstrengungen zu unternehmen, der steigenden Gewaltkriminalität entgegenzutreten.Danke.
Frau Kollegin Claudia Nolte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor 20 Jahren wies der damalige Münchner Oberbürgermeister auf die Gewalt in New York hin und warnte, die Gegenwart dieser einen Stadt könne die Zukunft aller Städte sein. Er prophezeite, daß sich die Zentren in steinerne Dschungel verwandeln würden, in denen Gewalt, Haß, Verderben und Untergang herrschten, wenn sich die Politik nicht ändere.1980, zwölf Jahre nach der Hochzeit der APO, begann wieder eine Welle der Jugendkrawalle in Deutschland. Man sah Punks die Häuser besetzen, die Polizei angreifen und Geschäfte plündern. Sie verachteten die „verspießte Elterngeneration" und deren „dumpfe Gewohnheiten".Jetzt, 1992, sind es die Skinheads, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie sind entschieden ausländerfeindlich eingestellt, werden gewalttätig gegen Fremde und Fremdes, werfen Brandsätze in Asylbewerberheime und vertreten die rechtsextremen Parolen von vorgestern. Es macht mich betroffen, daß es vor allem junge Menschen sind. Ob Gewalt gegen den Staat oder gegen Ausländer und Minderheiten ausgeübt wird, immer ist es ein Anschlag auf die freiheitliche Demokratie.Auch im Überwachungsstaat DDR, der die Menschen von der Wiege bis zur Bahre versorgte und kontrollierte, entstanden gewaltbereite Gruppen von Skinheads, deren Aktivitäten weder verhindert noch verheimlicht werden konnten. Damals wie heute ist Gewalt eine Schande für unser Volk. Die Politik darf dazu nicht schweigen. Deshalb sind die heutige Debatte und der gemeinsame Entschließungsantrag aller Fraktionen dieses Hauses ein Zeichen dafür, daß wir uns des Ernstes der Lage bewußt sind und das in
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Claudia Nolteunseren Möglichkeiten Stehende tun wollen, um der Gewalt in unserm Lande Einhalt zu gebieten.
Extremismus und Gewalt waren und sind nicht nur ein deutsches Problem. Jedoch haben gerade wir Deutsche im Hinblick auf unsere jüngere Geschichte eine besondere Verantwortung dafür, wie wir mit Ausländern umgehen. Es reicht nicht mehr aus, Betroffenheitsadressen auszutauschen. Die Ursachen der Gewalt von Jugendlichen müssen wir ernstnehmen. Orientierungslosigkeit, Desintegration infolge kaputter Familien und Arbeitslosigkeit sowie Unsicherheit, die Angst produziert, sind solche Ursachen. Gerade Jugendliche in den neuen Bundesländern machen verstärkt diese Erfahrung.Auch deshalb muß sich die Politik für junge Menschen als Querschnittsaufgabe für alle politischen Bereiche und auf allen politischen Ebenen verstehen. Neben der Stärkung der Familien, damit Kinder dort wieder Geborgenheit spüren und die Verbindlichkeit von menschlichen Beziehungen erleben, tragen die Schulen eine besondere Verantwortung. Viele Jugendliche fühlen sich hilflos und alleingelassen und sind somit besonders auf Unterstützung angewiesen. Schulen dürfen deshalb nicht nur der reinen Wissensvermittlung dienen.Integration und Hilfestellung können Jugendverbände und Vereine bieten. Dem Auf- und Ausbau freier Träger der Jugendhilfe in den neuen Ländern kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Dies muß ergänzt werden durch einen Jugendaustausch, der junge Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und sozialer Schichten im In- und Ausland umfaßt. Früher bekamen wir in der DDR verordnet, wer unsere Freunde zu sein hatten. Das waren größtenteils Freundschaften auf dem Papier, aber nicht in den Herzen. So durften wir Studenten damals von uns aus keinen Kontakt zu Sowjetsoldaten aufnehmen. Die Vietnamesen haben isoliert auf engstem Raum gelebt und gingen mindestens zu zweit einkaufen, weil sie Angst vor Pöbeleien hatten. Die Vielfalt, das Anderssein als Gewinn zu betrachten, ist eine Erfahrung, die den Deutschen, welche im realsozialistischen Teilstaat lebten, fremder ist als den Altbundesbürgern. Bei Themen wie Europa und Integration von Ausländern ist es wichtig, daß die Menschen die Entwicklung nachvollziehen können, daß wir sie nicht überfordern. Wir müssen sie darüber informieren, was wir wollen und warum wir es wollen.Meine Damen und Herren, der Idealismus der Jugend wurde in diesem Jahrhundert zu oft mißbraucht. Den Extremisten von heute dürfen wir nicht gestatten, junge Menschen zu verführen.
Die Anstifter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wer zu Gewalt aufruft und wer Gewalt gegen Sachen und besonders gegen Menschen anwendet, muß mit Strafen bis hin zum Freiheitsentzug rechnen.Rechtsextremistisches Gedankengut zu vertreten ist kein Kavaliersdelikt.
Es reicht nicht aus, nur das Verbreiten von Propagandamitteln sowie das Verwenden von Kennzeichen mit neonazistischem Inhalt zu bestrafen. Auch bei Verfremdung und Verzerrung von Kennzeichen, die aber deutlich an Nazi-Symbole erinnern, muß geprüft werden, ob ein Verbot sinnvoll sein könnte.Jugendliche sind zur Mitgestaltung aufgerufen. Sie sollten Bewährungsfelder finden, selber Verantwortung übernehmen können. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend besteht die historische Chance, daß Ideale Wirklichkeit werden, die die junge Generation schon seit jeher bewegten.Die demokratischen Parteien tragen gemeinsam Verantwortung für den inneren und äußeren Frieden. Es liegt an uns, ob vom Vertrauen in die Politik und von der Glaubwürdigkeit der Politik nicht nur gesprochen wird, sondern ob sie erlebbar ist. Manche rhetorische Attacken, die den politischen Gegner treffen sollen, beschädigen die parlamentarische Demokratie insgesamt.
Ich kritisiere damit nicht den politischen Streit. Im Gegenteil, ich bin entschieden der Meinung, daß die Parteien, besonders die großen Parteien, ihr Profil deutlich zeigen sollen. An einer starken Regierung und einer starken Opposition, die auch offensiv und sachlich streiten kann, stößt sich die Bevölkerung nicht, ja, man erwartet es sogar. Aber dann wird auch der parteiübergreifende Konsens erwartet.Es gibt keine Patentrezepte gegen Gewalt und Extremismus.
Frau Kollegin, Sie sind schon ein gutes Stück über Ihre Redezeit.
Hier reicht es nicht aus, nur nach dem Staat zu rufen. Jeder von uns, jeder Bürger dieses freiheitlichsten Gesamtstaates, den es je auf deutschem Boden gab, trägt die Verantwortung für den inneren Frieden und für das Bild, das unser Vaterland nach außen darstellt.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksache 12/3374 . Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Der interfraktionelle Entschließungsantrag ist angenommen.Wir stimmen jetzt über drei Entschließungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste ab.
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9418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Vizepräsident Hans KleinWer stimmt für Drucksache 12/3381? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wer stimmt für Drucksache 12/3382? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.Wer stimmt für Drucksache 12/3383? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/3392 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu der Unterrichtung durch den WehrbeauftragtenJahresbericht 1991- Drucksachen 12/2200, 12/2782 —Berichterstattung:Abgeordnete Claire Marienfeld Dieter HeistermannNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Damit besteht offensichtlich Einverständnis. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Alfred Biehle, das Wort.Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu früheren Jahresberichten hat der wesentliche Inhalt des Jahresberichtes 1991 auch im Herbst 1992 kaum an Aktualität verloren. Die Lehren aus dem Golfkrieg sowie die Umstrukturierung und der Neuaufbau der Bundeswehr sind, so meine ich, nach wie vor Dauerbrenner, nicht nur in der parlamentarischen Diskussion, sondern auch im Alltag der Soldaten.Die Diskussion über den Umfang und die Grenzen künftiger neuer Aufgaben der Bundeswehr hat sich inzwischen erfreulicherweise in den parlamentarischen Bereich verlagert. Die UNO-Hilfe der Bundeswehr im Sanitätsbereich in Kambodscha und die politische Entscheidung zugunsten der Teilnahme unserer Marine an den Überwachungsmaßnahmen in der Adria sowie weitere Aufträge — ich denke an die Heeresflieger im Irak oder an die Transportflieger in Sarajevo und Somalia — regen immer wieder die Diskussionen um den Auftrag der Bundeswehr an. Sie erfordern aber, so meine ich, gerade für die Zukunft dringend klare Vorgaben und Grenzziehungen durch die Politik.Erweiterte Landesverteidigung im Bündnisgebiet der NATO ist die Grundlage für den Einsatz aller Soldaten der Bundeswehr, vom Grundwehrdienstleistenden bis zum Zeit- und zum Berufsoldaten. Soweit es über das Bündnisgebiet hinausgeht — und diePolitik dies auch beschließt —, trete ich beim Einsatz von Wehrpflichtigen unbedingt für Freiwilligkeit ein.Die Unsicherheiten und andauernden öffentlichen Diskussionen über die Legitimität selbst waffenloser Einsätze der Bundeswehr bei UNO-Blauhelm-Missionen belasten nach meinen Feststellungen die Motivation unserer Soldaten. Wie auch immer die Entscheidung ausfallen möge: Je breiter und deutlicher der parlamentarische Konsens auch in der Beantwortung der Sinnfrage sein wird, desto eher werden nicht nur die Soldaten, sondern auch die Gesellschaft Auftrag und Aufgaben im Rahmen der UNO mittragen.Ich füge aber hinzu: Wer für Out-of-area-Einsätze — in welcher Form auch immer — eintritt, muß gleichzeitig auch ein Paket begleitender sozialer Maßnahmen auf den Tisch legen.
Auch diese Fürsorge ist Voraussetzung der Akzeptanz.
Ich begrüße es deshalb, daß seit wenigen Tagen zur Ressortabstimmung ein sogenanntes Auslandsunterstützungsgesetz als Artikelgesetz vorliegt,
das der Absicherung von Soldaten und Bundesbeamten bei der Unterstützung humanitärer Maßnahmen im Ausland dienen soll.
Dazu zählen Versicherungsfragen, Soldatenversorgungsgesetz , Zulagen, Schadensregulierungen wie beim Auswärtigen Dienst und weitere Problembereiche. Wenn das Gesetz das Licht der Welt erblicken wird, scheint mir in diesem Fürsorgebereich des Dienstherrn ein zentnerschwerer Stein von den Soldaten und den Familien genommen zu sein. Die kurzfristige, über Zeitabschnitte umstrittene Bürgschaftszusicherung kann nur eine vorübergehende Lösung sein. Es gilt nun, keine Zeit mehr zu verlieren, da die Soldaten einen Anspruch auf gesetzliche Regelung der Besoldungs-, Versorgungs- und Versicherungsfragen haben, bevor sie zu Einsätzen befohlen werden.Ich meine, wir alle müssen den Soldaten und ihren Familien zu erkennen geben, daß wir ihre oft mit großem Risiko durchzuführenden Aufträge über Wochen und viele Monate hinweg als eine außergewöhnliche Dienstleistung für unser Vaterland und anderer Völker Freiheit bewerten. Dem muß die familiengerechte Fürsorge des Staates für die Soldaten entsprechen.Ein besonderes Lob, meine ich, gilt den Wehrpflichtigen, die seither bei Aufträgen im Rahmen der UNO dabei waren. Sie haben ihren Dienst in vorbildlicher Weise mit den Berufs- und Zeitsoldaten, denen in gleicher Weise Dank zu zollen ist, erfüllt. Sie sind — so meine Feststellung nach vielen Besuchen bei den Soldaten außerhalb unseres Landes — hervorragend motiviert.
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Wehrbeauftragter Alfred BiehleDie innere Lage der Streitkräfte wird nach wie vor wesentlich von dem Aufbau der Bundeswehr in den neuen Bundesländern und vom Personalabbau bzw. von den Umgliederungsmaßnahmen zur Einnahme der neuen Strukturen bestimmt. Wenn auch manches nach den Anlaufschwierigkeiten des vergangenen Jahres nun in ruhigeren Bahnen läuft und deutliche Fortschritte erkennbar sind, stehen die Streitkräfte nach der Gründerzeit wohl vor der zweitgrößten Herausforderung.In den neuen Bundesländern kommt es derzeit besonders darauf an, neben der Lösung von Sachfragen und materiellen Fragen die ehemaligen NVASoldaten in der Bundeswehr in die Gesellschaft zu integrieren und sie vom Image der früheren Parteiarmee zu befreien. Zudem müssen, so meine ich, Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, daß die vermehrt zu erwartenden Versetzungen von West nach Ost für die Soldaten und für deren Familien akzeptabel werden. Hier besteht politisch eiliger Handlungsbedarf, z. B. in der Wohnungsfürsorge. Da müßten seit langer Zeit die Alarmglocken schrillen.Solange allerdings westdeutsche Offiziere und Unteroffiziere verständlicherweise von Freitag bis Montag zu ihren Familien zurückkehren, weil sie in ostdeutschen Garnisonen keine Wohnungen bekommen, stagniert auch hier die Integration.
Es fehlt häufig wegen dieser Mängel an notwendigem persönlichen Kontakt westdeutscher Soldatenfamilien zu Nachbarn, in der Schule, im Kindergarten oder in Vereinen der neuen ostdeutschen Garnisonsorte.Ich stelle die Frage, ob es im Rahmen der notwendig gewordenen Nachbesserung des Stationierungskonzepts nicht sinnvoller wäre, beabsichtigte Verlegungen geschlossener größerer Einheiten und Einrichtungen von West nach Ost angsichts der Wohnungs- und der daraus entstehenden Familienprobleme zumindest zeitlich zu verschieben, wobei in finanzieller Hinsicht gewiß auch die allgemeine Haushaltslage eine Rolle spielen sollte.
Dabei könnte inzwischen auch das soziale Umfeld, das die Soldaten dann erwartet, geklärt werden.Dankbar bin ich dem Bundesrat, dem Verteidigungsausschuß und seinem Unterausschuß Streitkräftefragen in den neuen Bundesländern dafür, daß durch entsprechende Initiativen eine Verordnung zunächst gestoppt wurde, die aus den zu übernehmenden SaZ-2-Soldaten der ehemaligen NVA — wie es in vielen Eingaben formuliert wurde — Soldaten zweiter Klasse in der Bundeswehr machen würde. Man kann nicht eine gemeinsame Bundeswehr proklamieren, aber dann für eine Minderheit die Altersversorgung auf 35 % beschneiden. Ich hoffe, daß dieser sozialpolitische Zündstoff ebenso wie die gestrichene Übergangshilfe für zu entlassende SaZ2-Soldaten rasch geklärt und damit ein Wachsen derMauer in den Köpfen vieler Betroffener verhindert wird.
Der Ausbau der Infrastruktur, z. B. bei Truppenunterkünften, macht dagegen hervorragende Fortschritte. Fast keine ostdeutsche Garnison ist mehr ohne Baugerüst. 1,8 Milliarden DM standen bisher zur Verfügung. Daß dies natürlich zu Lasten westdeutscher Garnisonsplanungen geht, sollte überall Verständnis finden. Die von Quartal zu Quartal in Ostdeutschland steigende Zahl der heimatfern einberufenen Wehrpflichtigen wirkt sich oft negativ auf die Stimmungslage der betroffenen Soldaten aus.Große Sorge bereitet der mangels attraktiver, aber auch einfacher Freizeitangebote steigende Alkoholkonsum bei den Soldaten ostdeutscher Garnisonen. Freizeiteinrichtungen sollten ähnlich den Küchen-und sanitären Anlagen beim Ausbau der Infrastrukturen in entfernten Garnisonen Priorität erhalten.
Besonderes Augenmerk gilt der Tatsache, daß die Wohnungssituation auch im alten Bundesgebiet nach wie vor völlig unbefriedigend ist. Wenn im Rahmen des Stationierungskonzepts jährlich bis zu 30 000 Versetzungen anstehen, aber die Wohnungen fehlen, werden wir immer mehr zur Pendlerarmee mit Soldaten in Wochenendehen.
Viele Klagen von Frauen beim Wehrbeauftragten bestätigen dies. Hier baut sich Frust auf. Ich habe deshalb in meinem Amt ein koordinierendes Referat für Fürsorge und Familie eingerichtet. Die Stelle ist im übrigen mit einer Frau besetzt.
In Zukunft ist für diesen Bereich der Familie auch die Militärseelsorge gefordert. Militärgeneralvikar Dr. Niermann hat dazu gestern bei der Gesamtkonferenz der katholischen Militärseelsorger in Augsburg ausgeführt:Die Auswertung der Seelsorgerberichte ergibt ein differenziertes Bild der Lage der von jenen Konsequenzen betroffenen Soldaten und Soldatenfamilien. Berichtet wird über Unsicherheit in der Berufs- und Lebensplanung; Befürchtungen, durch Versetzungen Beheimatungen zu verlieren; über das vielen gemeinsame Gefühl einer Ohnmacht, die zu negativer Solidarisierung führt ... Versetzungen führen zu Wochenendehen, diese nicht selten zu familiären Problemen. Betroffen seien vielfach heranwachsende Kinder, die der Verlust sozialer Beziehungen und den Schulwechsel nur schwer ertrügen.Mit Dr. Niermann stelle ich aber auch fest, daß sichVorgesetzte auf der Brigadeebene und darüber hinaus, auch schon auf der Bataillonsebene, redlich um
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9420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Wehrbeauftragter Alfred Biehlesozialverträgliche Lösungen für ihre Soldaten bemühen.Die Übergeordneten entscheidenden Personalstellen sollten allerdings in Härtefällen öfter einmal flexibel Hürden überspringen, wenn von unten her sozialverträgliche Lösungen angeboten werden, auch wenn das nicht immer in das große Konzept paßt. Lücken sollten jedenfalls schnellstens geschlossen werden, um auch dem letzten Soldaten und seiner Familie endlich zu sagen, wo er künftig seinen Dienstsitz haben wird.Die Militärseelsorge hat übrigens einen Stellenwert wie kaum zuvor. Das hat sich gerade bei den vielen Einsätzen der Soldaten im Rahmen der UNO abseits von Familie und Heimat gezeigt. In Ostdeutschland gibt es da leider noch — besonders in der evangelischen Kirche — einige Hürden der Vergangenheit zu überwinden.
Zum Personalstärkegesetz gab es nach dem Stand von September 17 172 Anträge. 12 308 wurden positiv beschieden. Hierzu liegen beim Wehrbeauftragten schon rund 400 Eingaben vor. Häufig wird darin ein Mangel an Flexibilität kritisiert, da trotz terminlich befristeter ziviler Chancen oder Ausbildungsmöglichkeiten keine vorgezogene Bearbeitung erfolgte. Hinzu kommen Zweifel an der mit dienstlichem Bedarf begründeten Ablehnung oder Nichtberücksichtigung persönlicher Belange.Ich bin Herrn Staatssekretär Dr. Wichert sehr dankbar, daß er sich — wie er mir versichert hat — dieser Probleme besonders annehmen will.Lassen Sie mich an dieser Stelle auch deutlich unterstreichen, daß ich ein engagierter Verfechter der Wehrpflicht bin. In den Streitkräften mit allgemeiner Wehrpflicht spiegeln sich meiner Meinung nach auch die Grundanschauungen der Gesellschaft wider. Die Wehrpflicht fördert zudem die Diskussion in der Gesellschaft über die Sicherheitspolitik.
Unbeschadet der Tatsache, daß eine Berufsarmee unter Ausbildungs- und Kostengesichtspunkten bei näherer Betrachtung nicht besser dastünde, liegen die für meine Überzeugung ausschlaggebenden Gründe zur Beibehaltung der Wehrpflicht in einem anderen Bereich: Jede Berufsarmee birgt die Gefahr eines Eigenlebens und eines Elitebewußtseins in sich, die eine Entwicklung der Armee zum „Staat im Staate" hin vorantreiben könnte. Das Prinzip der Wehrverfassung, nämlich die Einbindung der Wehrpflichtarmee in Staat und Gesellschaft, verhindert hingegen eine Isolierung der Streitkräfte. Wir haben ein Rotationssystem: Zivilbürger — Staatsbürger in Uniform — wieder Zivilbürger; und das hat sich hervorragend bewährt.
Dies fördert die Diskussion und die Auseinandersetzung, aber auch das Wissen der Gesellschaft um die inneren Zustände der Bundeswehr. Selbst wenn nicht immer ein erfreuliches Bild gezeichnet wird, ist diesder Kontrolle dienlich und beugt einer Isolierung der Streitkräfte vor. Letztlich ist die Friedenssicherung eine Aufgabe aller Bürger, und sie kann nicht nur auf eine Berufsarmee als „Sicherheitsagentur" abgeschoben werden. Es darf jedenfalls keine Wohlstandslösung geben nach dem Motto: Die einen genießen, und die anderen setzen ihr Leben ein.
Die Entscheidung für die Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland ist Bestandteil unserer Verfassung, ist im Grundgesetz verankert und damit demokratisch legitimiert. Hieraus folgt, daß es nicht Aufgabe der Bundeswehr sein kann, gegenüber Bürgern, aber auch von Vorgesetzten gegenüber Untergebenen, ständig erneut die verfassungsrechtliche Legitimation als Wehrpflichtarmee und ihre eigene Existenz begründen zu müssen. Wenn etwas neu begründet werden muß — lassen Sie mich das ganz kritisch sagen —, dann sind dies künftige neue Aufträge bzw. Aufgaben der Bundeswehr. Hier gibt es, was die erforderlichen Klärungen angeht, dringenden politischen Handlungsbedarf.Zur Wehrpflicht gehört natürlich auch die Wehrgerechtigkeit, die eigentlich mehr unter dem Stichwort Dienstgerechtigkeit zu sehen ist. Es sollte rasch darüber nachgedacht werden, wie die 25 % junger Bürger, die keinen Dienst in der Bundeswehr und keinen Zivildienst leisten, endlich auch in diesem Staat in die Pflicht genommen werden.
Unter diese Rubrik gehört auch die Überprüfung der Tauglichkeit. Ein Wehrpflichtiger, der zur Zeit seinen Grundwehrdienst ableistet, schrieb mir dazu sehr bildhaft:Meine bisherigen Einschränkungen lauten: Keine belastenden Tätigkeiten für beide Handgelenke; kein Heben und Tragen von mehr als 10 kg; kein Knien oder Hocken, kein Marsch von mehr als 5 km, kein Laufen von mehr als 1 000 m; keine Ball-, Sprung- oder Kampfsportarten. Einige meiner Vorgesetzten fragten mich: Was wollen Sie denn bei der Bundeswehr? Das frag' ich mich mittlerweile selbst. Mein jetziger Tagesablauf besteht hauptsächlich aus Stubenhocken, und dazu habe ich keine Lust mehr. Weder Schieß- oder praktische Ausbildungsabschnitte darf ich mitmachen. Meine Kameraden finden das ziemlich übel.Erfreulich ist auch aus meiner Sicht — es hat etwas länger gedauert, hat aber funktioniert — die Wehrsolderhöhung für alle Wehrpflichtigen ab 1. Oktober 1992 um 2 DM pro Tag und die anstehende Erhöhung des Weihnachtsgeldes auf 450 DM; das Gesetz wird ja nachher noch in erster Lesung beraten. Dringend fällig ist aber auch eine Überprüfung und deutliche Verbesserung des Unterhaltssicherungsgesetzes, insbesondere auch zur Mietbeihilfe. Was sagt man denn einem 24jährigen Grundwehrdienstleistenden, der seine Wohnung in München, Hamburg oder einer anderen Stadt während seiner zwölfmonatigen Wehrdienstzeit beibehalten und 900 DM Miete bezahlen muß, weil er sie sonst nachher nicht wieder bekommt?Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9421Wehrbeauftragter Alfred BiehleMit Miete und einigen anderen festen Ausgaben — so schreiben mir Soldaten — haben sie am Ende ihrer Wehrdienstzeit 4 000 bis 5 000 DM Schulden. Das kann doch nicht im Sinne des Erfinders sein!
Unter Einschränkung großzügiger Einberufungspraxis aus den 80er Jahren muß der Wehrdienst für die Lebensplanung wieder überschaubarer werden. Dazu ist, meine ich, rasch eine gesetzliche Reduzierung des Einberufungshöchstalters von 28 Jahren auf 25 Jahren anzustreben, wie es jetzt administrativ auch schon gehandhabt wird. Die Einberufung sollte künftig im Regelfall zum 19. Lebensjahr erfolgen, damit die Wehrpflichtigen ihre berufliche Ausbildung verbindlicher planen können — auch im Blick auf die nachfolgenden Reserveübungen, die auf vier Jahre à sechs Tage beschränkt sein werden.Die am 1. Juli begonnene Dienstleistung der ersten 450 Wehrpflichtigen aus Westdeutschland in Ostdeutschland wird das noch mangelhafte Verständnis für die Probleme in den fünf neuen Bundesländern sicher erheblich verbessern.Immer wieder werden Mängel im musterungsärztlichen Dienst beklagt. Ich habe festgestellt — und das war für mich überraschend —, daß innerhalb von drei Jahren 1 733 Wehrpflichtige nach der Einstellungsuntersuchung bei der Truppe wieder nach Hause geschickt wurden, weil bei den Musterungen in den Kreiswehrersatzämtern gesundheitliche Fehler übersehen worden waren. Ich halte das für untragbar. Welch ein unnötiger Aufwand zur Einberufung, Einkleidung und Wiederauskleidung bei der Truppe! Hoffentlich sind Ausmusterungen und damit Freistellungen vom Bundeswehrdienst nicht von gleichen Fehlerquellen belastet.Offiziere und Unteroffiziere haben eine große Verantwortung für die ihnen anvertrauten Wehrpflichtigen. Gerade jetzt mit den Ausuferungen des Rechtsextremismus in der freien Gesellschaft muß der staatsbürgerliche Unterricht mehr denn je auch in der Bundeswehr höchste Priorität erhalten oder gar ausgedehnt werden. Dazu muß sich jeder Vorgesetzte trotz hoher Anforderungen an den militärischen Dienst die notwendige Zeit nehmen.Sorgen bereitet mir die mangelnde Einbindung der Funktion der Vertrauenspersonen besonders der Mannschaften durch Vorgesetzte. Nicht nur fehlende bzw. mangelhafte Einführung in das Amt oder auch die Bereitstellung von notwendigen Unterlagen, sondern auch die bis zur Mißachtung der Funktion der Vertrauenspersonen gehende Einstellung erfordert ein Umdenken vieler Vorgesetzter. Wir wollen doch Gehorsam aus Einsicht und nicht Kadavergehorsam. Das bedeutet einfach Information vor Entscheidungen und das Gespräch mit dem Untergebenen und nicht nur Kenntnisnahme nach vollzogenen Entscheidungen. Da gibt es noch viele Lücken.Die Zahl der Eingaben beim Wehrbeauftragten ist zwar formal rückläufig, aber gemessen am Maß der bisherigen Reduzierung der Armee um über 10 % steigend. Bei der Bundeswehr Ost entfallen 1 261 Eingaben des Vorjahres, die auf unterschiedliche finanzielle Abfindungen der Wehrpflichtigen und schleppende Abwicklung beim Wehrbereichsgebührnisamt VII zurückzuführen waren.1 141 Eingaben zur Menschenführung berühren besonders das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Da ist jeder einzelne Fall einer zuviel, da muß noch sehr viel Dienstaufsicht hinzukommen. Innere Führung muß immer wieder aufs neue als Menschenführung von allen Dienstgraden vorgelebt werden.Die Wehrübungsungerechtigkeit läßt neben der auch hier oftmals gestellten Sinnfrage bei den Reservisten die Zahl der Eingaben um über 20 % steigen. Das hat seine Ursache sicherlich auch darin, daß der Dienst der Reservisten nicht immer sinnvoll ist. Wenn man einen 42jährigen 22 Jahre nach Ableistung seines Grundwehrdienstes zur Bundeswehr holt, und zwar zu einer Einheit, in der er als Wehrpflichtiger seinen Dienst geleistet hat, und wenn er dann zum Kontrollieren der Ausweise und als Telefonist eingesetzt wird, zu Hause aber sein Geschäft leidet, hat er sicherlich kein Verständnis für eine solche Reserveübung.
Nicht alles an Problemen der Bundeswehr, meine Damen und Herren, läßt sich in dieser Stunde abhandeln. Ich habe bewußt einige Themen aktualisiert. Das übrige ist umfassend niedergelegt. Das Bundesministerium der Verteidigung hat umfassend zum Jahresbericht Stellung bezogen und die darin enthaltenen Vorkommnisse und Auffassungen auch weitgehend bestätigt.Lassen Sie mich zum Schluß dem Verteidigungsausschuß und dem Parlament für die Unterstützung und die gute Zusammenarbeit Dank sagen, Dank auch dem Verteidigungsminister und seinen Mitstreitern. Manche Themen wurden rasch aufgegriffen — ich denke an die Gleichstellung ostdeutscher Wehrpflichtiger —, und das wurde dann auch parlamentarisch sehr schnell umgesetzt.Persönlich danken möchte ich auch meinen Mitarbeitern im Amt. Sie haben nicht nur im Hause selbst, sondern auch bei vielen Truppenbesuchen die eingeforderte Aufgabe gut und hervorragend gemeistert.Dennoch, es bleibt noch viel zu tun. Die Freiheit und die Sicherheit in Frieden sind es wert, daß wir uns dafür täglich aufs neue einsetzen. Dank allen Soldaten und Zivilbediensteten mit ihren Familien.Dank Ihnen allen, daß Sie mir so lange zugehört haben.
Herr Biehle, Sie sind der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Ich darf Ihnen und allen Ihren Mitarbeitern im Namen des ganzen Hauses für die Vorlage des Berichts danken.
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9422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Vizepräsident Hans KleinDas Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Herr Volker Rühe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte gleich am Anfang dem Wehrbeauftragten, Ihnen, lieber Herr Kollege Biehle, sehr herzlich für die gute Zusammenarbeit danken, vor allem aber für die engagierte Art und Weise, mit der Sie sich immer wieder für die Soldaten der Bundeswehr eingesetzt haben. Das ist auch als Dank an Ihre Mitarbeiter zu verstehen.Der Bericht, den Sie vorgelegt haben, ist umfassend. Er hat fast alle Themen angesprochen, die auch mich und das Bundesministerium der Verteidigung bewegen. Ihre Erkenntnisse decken sich im wesentlichen mit unseren Beobachtungen. Wir prüfen Ihre Anregungen und werden die notwendigen Maßnahmen einleiten.Der Wehrbeauftragte hat sich in dankenswerter Weise den veränderten Rahmenbedingungen und der Akzeptanz der Bundeswehr in Politik und Gesellschaft gewidmet. Fürsorge und Betreuung haben einen herausgehobenen Platz im Jahresbericht. Da sich der Wehrbeauftragte gleichermaßen den aktuellen politischen Fragen wie den praktischen Problemen unserer Soldaten zuwendet, ist er eine wichtige, eine glaubwürdige Instanz für die Bundeswehr, für die Bundesregierung, für das Parlament, für die Öffentlichkeit geworden.Die großen Veränderungen in Europa, aber auch die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt machen es notwendig, Auftrag und Sinn unserer Bundeswehr intensiv zu diskutieren. Nur so stellen wir die notwendige Akzeptanz her. Es kommt darauf an, in den Grundfragen deutscher Sicherheitspolitik und für den Auftrag der Bundeswehr eine breite Übereinstimmung zwischen Politik, Gesellschaft und Streitkräften zu erreichen.
Wir brauchen eine zukunftsweisende Sicherheitskonzeption, die das Bewährte aus den Jahrzehnten erfolgreicher Bündnispolitik mit der gebotenen Neuorientierung verbindet.Fragen der Sicherheitspolitik bewegen unsere Bevölkerung nicht mehr so wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Das Verständnis von Sicherheitsvorsorge hat sich gewandelt. Wir stehen in der bemerkenswerten Situation, daß einerseits der enorme Zugewinn an Sicherheit, der gerade Deutschland durch die Überwindung der Teilung, durch Abrüstung und durch neue europäische Zusammenarbeit zugewachsen ist, in der öffentlichen Debatte schnell konsumiert ist. Andererseits aber wird leicht verdrängt, daß es krisenund konfliktträchtige Entwicklungen gibt, auf die wir unsere Sicherheitsvorsorge neu ausrichten müssen.Parteien und Regierung müssen in dieser Situation zu einem Konsens in der Sicherheitspolitik finden, die den geänderten außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen entspricht. Sie muß die Interessen unseres Landes ebenso berücksichtigen wie die Ängste, die Gefühle und die Sehnsüchte unseres Volkes. Sonst wären weitreichende negative Auswirkungen auf die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands zu befürchten.Es ist aber nicht ausreichend, jetzt lediglich in europäischen Strukturen und Prozessen zu denken. Es genügt nicht, für deren Entwicklung Programme zu entwerfen. Was wir vordringlich brauchen, ist ein Mentalitätswandel, ist das Verständnis der Deutschen für die veränderte Situation. Wer Sicherheitspolitik nur in Abkürzungen erklärt, wie auch wir als sogenannte Experten das immer wieder tun, der muß wissen, daß er die Bevölkerung damit nicht erreicht. Staat und Gesellschaft müssen zu einem gemeinsamen Verständnis finden, daß der Einsatz militärischer Macht für eine gerechte Sache möglich und gelegentlich notwendig ist.Wir müssen uns daran gewöhnen, daß unsere Soldaten auch außerhalb der eigenen Grenzen eingesetzt werden. Ich habe in einer der letzten Debatten schon deutlich gemacht, daß es für andere Länder in den letzten vier Jahrzehnten ganz normal war, mit ihren Soldaten nach Deutschland zu kommen, um ihr eigenes Land und das Bündnis in Deutschland zu verteidigen. Jetzt kommen umgekehrt solche Auf gaben auf uns zu. Europas Sicherheit braucht ein zweifelsfreies deutsches Engagement.Wir wählen dabei nicht zwischen NATO und WEU. Die Allianz und die europäische Integration sind kein Gegensatz, sondern sie ergänzen einander. Ich denke, es wird sich bald zeigen, daß für das Euro-Korps eindeutige Unterstützungsverhältnisse geschaffen werden. Je nach Lage werden NATO oder WEU über diesen Verband verfügen können.
Damit erhalten die Allianz und Europa mehr Handlungsfähigkeit, und die Skeptiker, Herr Kollege Kolbow, können sich beruhigt zurücklehnen, was Sie ja schon getan haben.
Von der Bevölkerung können wir auf Dauer nur Unterstützung erwarten, wenn alle wissen, was auf uns zukommt. Die Bürger müssen verstehen, welche Chancen und Risiken sich für deutsche Sicherheitspolitik künftig ergeben. Sie müssen verstehen lernen, auf welchen Tragpfeilern die europäische Sicherheitsarchitektur ruht, welche Rolle die Bundeswehr für Europa, für die Allianz und neu für die Vereinten Nationen spielen soll.Deutschland kann sich auf Dauer nicht der Pflicht entziehen, auch an Operationen zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit teilzunehmen.
Wir Deutschen müssen Schritt für Schritt Abschied nehmen von der uns selbst auferlegten Zurückhaltung. Unsere Verantwortung für Europa und die Welt wird andernorts außerhalb Deutschlands deutlicher formuliert als im eigenen Lande.Deutsche Soldaten brauchen ein neues Selbstverständnis. Die Herausforderungen der Zukunft verlangen ein anderes Militär. Die Mission des Soldaten im
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Bundesminister Volker Rühe21. Jahrhundert wird heißen: schützen, retten, helfen. Ich stimme daher mit dem Wehrbeauftragten uneingeschränkt überein und greife seine Forderungen an Parlament, Politik und staatliche Bildungseinrichtungen auf. Es gilt zu verdeutlichen, daß Frieden in Freiheit für uns Deutsche, aber auch für alle Europäer davon abhängen, daß Sicherheit und Stabilität in Europa, an der Peripherie zu Europa und in anderen Regionen der Welt zu gewährleisten ist. Sobald wir die erforderlichen rechtlichen, politischen und militärischen Voraussetzungen geschaffen haben, werden wir uns auch an Friedensmissionen der Vereinten Nationen beteiligen. Für solche Einsätze sollen alle Berufs- und Zeitsoldaten herangezogen werden können. Wehrpflichtige — und da sind wir uns einig, Herr Wehrbeauftragter — sollen in den dafür vorgesehenen Verbänden nur auf Grund freiwilliger Meldung eingesetzt werden.
Wobei ich auf Grund der Erfahrungen, die wir z. B. mit den Freiwilligenmeldungen für den Einsatz in Kambodscha gemacht haben, überhaupt keinen Zweifel habe, daß es mehr Meldungen als Plätze geben wird. Aber dennoch ist das genau das richtige Prinzip für Wehrpflichtige.Die Bundeswehr steht in einem tiefgreifenden Umbruch. Einige möchten in dieser Phase auch noch die Freiwilligenarmee einführen. Ich will nicht nachtreten, denn die verantwortungsbewußten Kollegen von der F.D.P. haben auf ihrem Parteitag schon in hervorragender Weise für eindeutige Beschlüsse gesorgt.
Aber ich bin trotzdem dankbar, daß der Wehrbeauftragte hier auch noch einmal ein klares Wort zur Wehrpflicht gesagt hat. Denn die Debatte in der F.D.P. ist ja nicht künstlich — ein bißchen schon —,
aber sie spiegelt natürlich eine Diskussion in der Gesellschaft wider. Deswegen ist es richtig, daß wir auch hier die Argumente deutlich machen.
— Gut, daß Ihr das immer wieder deutlich macht. Aber ich freue mich, daß es in diesen Fragen gerade unter den großen Parteien stabile Verhältnisse gibt. Deswegen habe ich auch gar nicht gezittert um den Parteitag in Bremen herum.Wer die Freiwilligenarmee einführen will, überspannt den Bogen. Er würde die Bundeswehr überfordern, so daß sie in Gefahr wäre, daran zu zerbrechen.Es ist eben schon deutlich geworden: Wir wollen keine deutschen Streitkräfte, die Fremdkörper im eigenen Lande sind. Die Verankerung unserer Bundeswehr im Bewußtsein der Bevölkerung ist von ganz entscheidender Bedeutung, und die Wehrpflicht ist eine Brücke zwischen Volk und Armee. Deswegen muß die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee bleiben. Ihre Struktur wird so ausgelegt, daß auch Grundwehrdienstleistende einen sinnvollen Dienst ableisten können. Dabei wird die Bundeswehr in Zukunft noch mobilmachungsabhängiger. Deshalb hat Entwicklung und Regeneration eines motivierten und gut ausgebildeten Reservistenpotentials einen hohen Stellenwert.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja.
Herr Minister, nachdem Sie eben von der Brücke zum Volk sprachen: Wie würden Sie es denn beurteilen, daß in Belgien und Holland jetzt die Wehrpflicht abgeschafft wird?
Das muß jeder für sich selbst beurteilen. Ich will da nicht hereinreden. Aber für Deutschland ist das die einzig richtige Entscheidung.
Ich bin, wie gesagt, dankbar, daß der Parteitag anders entschieden hat, als Sie das vorhatten.Der Wehrbeauftragte hat eine Reihe von Problemen für die Fürsorge und die Betreuung angesprochen. Ich stimme den meisten seiner Beobachtungen zu. Ich bin mir bewußt, daß wir gerade in der nächsten Zeit vor allem Investitionen für die Menschen brauchen, für bessere Lebens- und Dienstbedingungen. Probleme bei Standortverlegungen, der Wohnungssituation oder auch bei der Personalstruktur werden vorrangig angepackt, vor allem aber auch der Nachholbedarf in den neuen Bundesländern.Fürsorge und Betreuung hat eine ideelle und eine materielle Seite. Es kommt jetzt darauf an, daß sich die Vorgesetzten in besonderem Maße den Problemen der Mitarbeiter stellen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Führen heißt zuallererst, sich kümmern. Dies gilt auch für die Familien unsere Soldaten. Sie tragen große Belastungen klaglos mit. Wir alle wissen, daß ein solches Verhalten keine Selbstverständlichkeit mehr in unserer Gesellschaft ist. Deswegen verdient diese Solidarität der Familien unsere Anerkennung und unseren Respekt.
Die Herausforderungen militärischen Dienstes sind nämlich ohne den Rückhalt durch die Familien nicht zu bewältigen. Die Motiviation und die Einsatzbereitschaft unserer Soldaten hängen nicht zuletzt davon ab, wie es um ihre Familien bestellt ist. Ich werde deshalb der wachsenden Bedeutung der Familie einen wesentlichen Teil meiner Aufmerksamkeit und damit auch der Arbeit widmen.Der Standortwechsel, also die Versetzung, wird in den kommenden Jahren eher die Regel sein als das Verbleiben am Standort. Die dramatische Lage am Wohnungsmarkt ist bekannt. Trotz aller Anstrengungen wird es auch in naher Zukunft nicht gelingen, in ausreichendem Maße familiengerechten und bezahlbaren Wohnraum verfügbar zu machen. Bei allen
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Bundesminister Volker RühePersonalmaßnahmen kommt daher der Wohnungsfürsorge besondere Bedeutung zu.
Deswegen haben wir das erste Mal in der Geschichte des Verteidigungshaushalts hier einen eigenen Titel eingeführt über das hinaus, was der Wohnungsbauminister zu tun hat. Den Soldaten und ihren Familien soll ein Standortwechsel ermöglicht werden, ohne daß ihnen Einbußen an Wohn- und Lebensqualität abverlangt werden.In der Spannung zwischen begrenzten Mitteln für Investitionen und Betrieb müssen die verfügbaren Mittel so rationell wie möglich für die Bundeswehr der Zukunft eingesetzt werden.Neben der materiellen Qualität brauchen unsere Streitkräfte moralische, geistige und vor allem professionelle Qualitäten. Qualität zieht junge Menschen an, die ihr gewachsen sind. Wer hohen Anforderungen nicht gewachsen ist, der wird sich abwenden. Wer sich heute aber entscheidet, in die Bundeswehr einzutreten, wer bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, der hat große Chancen und auch großartige Aufgaben vor sich. Er dient unserem Land und seinen Bürgern. Und manchen, die nach der Motivation fragen, fällt es jetzt auf Grund der tragischen Ereignisse, die man jeden Abend am Fernsehschirm sehen kann, ganz leicht zu verstehen: Nur wer Streitkräfte hat und wer einem Bündnis angehört, mit dem wird nicht so umgegangen, wie leider in Jugoslawien mit den Menschen umgegangen wird. Ich glaube, daß deswegen immer mehr Bürger auch spüren, welchen Dienst tagtäglich die Streitkräfte im Bündnis für sie leisten.Der Soldat in der Bundeswehr dient unserer Freiheit. Er hilft mit, eine bessere und eine friedlichere Zukunft zu gestalten. Es gibt diese Männer und Frauen, es gibt sie schon heute, überall in der Bundeswehr. Ich denke, Sie werden mir alle zustimmen, daß wir stolz auf sie und ihre Arbeit sein können.Vielen Dank.
Herr Kollege Alfred Steiner, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie schon in Ihrem letzten Jahresbericht haben Sie, Herr Wehrbeauftragter, auch in Ihrem Bericht für das Jahr 1991 ein wirklich zutreffendes Bild über die Ihnen bekanntgewordenen Mängel innerhalb der Bundeswehr, über Probleme im Verhältnis zwischen politischer und militärischer Führung, über den allgemeinen Zustand der Bundeswehr und über Fehlentwicklungen in der Planungsphase für den Umbau der Bundeswehr gezeichnet. Sie haben das dankenswerterweise heute noch aktualisiert. Ich glaube, damit haben Sie auch die Themen angesprochen, die unsere Soldaten wirklich berühren, während der Herr Minister hier in seiner Rede — ich möchte sagen — sich mehr in philosophischen Betrachungen ergangen hat
und die eigentlichen Probleme mit der Bemerkung: „ Wir werden ihre festgestellten Mängel und Anregungen überprüfen und nach Lösungsmöglichkeiten suchen" nur gestreift hat.Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das, was Sie hier vorgetragen und was Sie in Ihrem Bericht ausgeführt haben, engagiert gemacht. Sie haben damit erneut den Nachweis dafür erbracht, daß Sie der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages sind und nicht der Wehrbeauftragte einer Koalition oder gar einer Bundesregierung. Dafür danken wir Ihnen ganz besonders.
Wir danken Ihnen auch dafür, daß Sie den Mut gehabt haben, in einer kritischen Zeit die Dinge so deutlich anzusprechen, wie sie angesprochen werden mußten. Der Dank, den ich hier ausspreche, gilt natürlich auch Ihren Mitarbeitern, die Ihnen Tag für Tag zuarbeiten müssen.Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten hatte traditionell immer den Charakter eines Mängelberichts, weil er sich vornehmlich auf den Inhalt und die Zahl der eingegangenen Eingaben stützen muß. Diejenigen, die ein wenig Einblick in die Eingabenvielfalt und in die Inhalte der meisten Eingaben haben durften, werden mir zustimmen, daß wenig Erfreuliches in Schriftform an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages herangetragen wird. Das war in den vergangenen Jahren so, und so ist es auch im Berichtsjahr 1991 gewesen.Man könnte also sagen: Kein Grund zu besonderer Beunruhigung, wäre da nicht die Zahl von 9 864 Eingaben! Das ist die zweithöchste Zahl in 33 Berichtsjahren. Auch wenn Sondereinsätze der Bundeswehr im Rahmen des Golfkrieges die Zahl der Eingaben an den Wehrbeauftragten erhöht haben, so ist das nicht der eigentliche Grund für diese Fast-Rekordmarke. Vielmehr machten die in den Eingaben formulierten Sorgen, Ängste und Beschwerden die Unzufriedenheiten der Soldaten deutlich, die zur Zeit die wohl einmalige und schwierigste Umbauphase in der Geschichte der Bundeswehr durchmachen müssen.Viele Soldaten und zivile Mitarbeiter fühlen sich und fühlten sich in den vergangenen Jahren lediglich administriert, aber nicht geführt. Sie waren nicht oder schlecht informiert und fühlten sich deshalb häufig auch angeschmiert. Sie wurden nicht wie Staatsbürger in Uniform behandelt, sondern wie Marionetten verplant und eingesetzt, und sie fühlten sich häufig auch als Verfügungsmasse. Ich denke da insbesondere auch an Ihre kritischen Anmerkungen, die Sie, Herr Wehrbeauftragter, zu Recht gemacht haben, als
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Heinz-Alfred Steinerdie Soldaten für einen Einsatz in der Türkei bereitgestellt worden sind.
Es ist müßig, hier noch eine nachträgliche Abrechnung mit dem damaligen Amtsinhaber vornehmen zu wollen. Das möchte ich uns ersparen, weil es auch für die Zukunft wenig hergibt. Ich habe aber diese wenigen Bemerkungen machen müssen, um zu verdeutlichen, daß sich ein neuer Berichtszeitraum mit neuen Verantwortlichen für die Bundeswehr in seinem letzten Quartal befindet. Im nächsten Jahr werden Sie, Herr Minister Rühe, hier auf dem Prüfstand stehen und Rechenschaft abzulegen haben. Sie werden dann darlegen müssen, ob Sie in der Lage waren — wie Sie es heute angekündigt haben —, die angelaufenen Fehlentwicklungen zu stoppen, den aufgezeigten Handlungsbedarf abzudecken und grobe Mängel zu beseitigen. Ich glaube, obwohl der Verschleiß an Ministern und Staatssekretären im Verteidigungsministerium in den letzten Jahren — in den letzten zehn Jahren, muß ich sagen -- erheblich war, haben Sie zumindest statistisch die gute Chance, zu dem nächsten Jahresbericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 1992 als Verteidigungsminister Stellung zu nehmen. Es wird von Ihrer Führungsqualität abhängen, ob es der Wehrbeauftragte in seinem nächsten Jahresbericht bei Mahnungen belassen kann oder ob er und wir offene Kritik an der Amtsführung und den Entscheidungen des Verteidigungsministers üben müssen. Bisher ist es ihm jedenfalls noch nicht überzeugend gelungen, auf die veränderten Rahmenbedingungen, mit denen unsere Soldaten und ihre Familien ebenso wie die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr fertigwerden müssen, plausible Antworten zu geben oder gar ein klares Konzept für die Zukunft der Bundeswehr zu entwickeln. Sie haben ja eben selbst noch darauf hingewiesen, daß Sie da noch in einer Phase sind, die möglicherweise als Ermutigung aufgefaßt werden kann, daß Sie das doch noch zustande bringen.An dieser Aussage ändert sich auch nichts, wenn Sie jetzt die mutige Entscheidung getroffen haben, einen bereits toten Jäger 90 dann auch noch öffentlichkeitswirksam zu beerdigen. Sie haben von Ihrem Amtsvorgänger eine abenteuerliche Standortplanung sowohl für die militärische als auch für die zivile Komponente unserer Bundeswehr — wie es scheint: kritiklos — übernommen, und Sie sind dabei, mit der Truppenübungsplatz-Konzeption zumindest für den Bereich der neuen Bundesländer der Bundeswehr eine weitere — und ich glaube: nicht leichte — Hypothek aufzuladen.Und Sie schauen eher zu, wie weiter an einer konkreten Aufgabenstellung für die Bundeswehr gebastelt wird, und setzten uns alle damit der Gefahr aus, daß der Grundkonsens in sicherheitspolitischen Fragen zwischen den staatstragenden Parteien weiter beschädigt werden könnte.
Dabei wäre es gerade in dieser so schwierigen Umbruchphase besonders wichtig, den ernsthaften — ich sage hier wirklich: den ernsthaften — Versuch zu unternehmen, einer gefährlichen Dissonanz bei der Festlegung der zukünftigen Aufgabenstellung für unsere Streitkräfte durch koalitionsübergreifende Gesprächsrunden entgegenzuwirken.
Ich habe die große Sorge, Herr Kollege Dr. Altherr, daß wir uns durch immer neue naßforsche, gegenseitige Unterstellungen langsam, aber sicher auseinanderdividieren, so daß der zu Beginn der 50er Jahre, d. h. zu Beginn unserer Demokratie, gefundene, mühsam erreichte Grundkonsens in sicherheitspolitischen Fragen dabei unter die Räder kommen könnte.
Genauso wichtig wie die Pflege des Grundkonsenses zwischen den Parteien ist die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten unserer Bevölkerung zu den sicherheitspolitischen Feststellungen und Fragestellungen. Daß unsere Bürger sensibler sind, als wir es häufig unterstellen, haben der Golfkonflikt und die große Zahl der damit zusammenhängenden Eingaben von Soldaten an den Wehrbeauftragten gezeigt.Ich meine: Tagespolitische Auseinandersetzungen müssen sein; aber diese dürfen das parallel dazu zu führende Gespräch zwischen den Fraktionen nicht ausschließen, Gespräche mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten auszuloten und Gegensätze abzubauen, auch in ganz praktischen Fragen, wie wir das in dieser Woche auch im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages erfolgreich praktiziert haben.Ich hätte mir einen konstruktiven Gedankenaustausch über die zukünftigen Aufgaben der Streitkräfte, über die Stationierungsplanung, zum Thema „Truppenübungsplatz-Konzept" und über die Personal- und Organisationsstruktur für den militärischen und für den zivilen Teil der Bundeswehr gewünscht, und zwar bevor Entscheidungen getroffen sind oder bevor die koalitionsinterne Abstimmung abgeschlossen ist.
Ich bin sicher: Jeder öffentliche Streit über die Bundeswehr schadet unserer Bundeswehr und schadet ihren Soldaten in dieser wirklich schwierigen Umbruchphase. Wer wie Sie, Herr Minister — dann überfallartig für bereits getroffene Entscheidungen unsere Zustimmung einfordert, der wird nicht enttäuscht sein dürfen, wenn wir diese Zustimmung, die überfallartig angefordert wird, nicht geben können. Es hilft auch nicht weiter, wenn Sie — wie Sie das heute wieder demonstriert haben — nach außen den Eindruck vermitteln, als gäbe es einen hinreichend großen Gedankenaustausch zwischen dem Verteidi-
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Heinz-Alfred Steinergungsminister und der SPD-Bundestagsfraktion. Den gibt es nämlich zur Zeit noch nicht.
Dabei wäre es so wichtig und nützlich, auch zu den vom Wehrbeauftragten in seinem Jahresbericht angesprochenen konkreten Problemen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Da genügt es nicht, die 33. Kommandeurtagung der Bundeswehr unter das Motto zu stellen: „Wandel und Aufbruch — Bundeswehr: Streitkräfte der Einheit". Was damit gesagt werden soll, muß durch praktisches, politisches Handeln glaubwürdig gemacht werden. Dazu paßt der Kabinettsbeschluß, mit dem das Ruhegehalt für die Soldaten der ehemaligen NVA geregelt ist, die jetzt als Berufssoldaten in die Bundeswehr übernommen werden, nicht. So darf man nicht mit den Menschen umgehen, von denen treuer Dienst für unsere Bundeswehr erwartet wird.
So schafft man keine Streitkräfte der Einheit, so trägt man höchstens sozialpolitischen Zündstoff in unsere Streitkräfte. Das wird ihnen nicht guttun.Der Wehrbeauftragte wird mir zustimmen, wenn ich hier eine die Besonderheiten des militärischen Dienstes berücksichtigende Regelung anmahne. Ich verlange keine Privilegien für Soldaten. Ich bin aber auch nicht dazu bereit, Schlechterstellungen von Soldaten gegenüber vergleichbaren Gruppen unserer Gesellschaft hinzunehmen.
Wer Streitkräfte der Einheit schaffen will, benötigt dazu auch die Zustimmung der Menschen außerhalb der Bundeswehr, der Menschen in unserer Republik. Sie, Herr Minister, haben selbst den Maßstab dazu vorgegeben. Im ersten Beratungsdurchgang zum Truppenübungsplatzkonzept haben Sie gesagt: „Ich werde bei meinen Entscheidungen die Befindlichkeit der Bevölkerung berücksichtigen.... Jede Brachialentscheidung erschüttert das Vertrauen in die Demokratie, weil es eine Entscheidung gegen den ausdrücklichen Mehrheitswillen der Bevölkerung ist."
Wenn man diesen selbst auferlegten Maßstab an Ihre Entscheidung, den Truppenübungsplatz ColbitzLetzlinger Heide weiter militärisch nutzen zu wollen, anlegt, kann man nur zu dem Ergebnis kommen, daß der Maßstab inzwischen verbogen ist. Dort haben sich vier Anliegerkreise des Truppenübungsplatzes und der Landtag von Sachsen-Anhalt mit guten Argumenten gegen eine weitere militärische Nutzung ausgesprochen, zusätzlich unterstützt von 102 Gemeindevertretungsbeschlüssen. Ich wiederhole, was ich dazu schon im Verteidigungsausschuß gesagt habe: Nehmen Sie die Willensäußerung der Menschen in dieser Region bitte nicht auf die leichte Schulter. Es sind Menschen, die nach Jahrzehnten der Diktatur jetzt von ihrem demokratischen Recht erstmals Gebrauch gemacht haben und ihre Meinung artikuliert haben, die Beschlüsse gefaßt haben und die maßlos enttäuscht wären, würde ihr eindeutiges Votum bei den Regierenden keine Beachtung finden.
Der Wehrbeauftragte hat in seinem Jahresbericht zu Recht die völlig unzureichende Wohnungsfürsorge für die Angehörigen der Bundeswehr angesprochen, und Sie sind auch darauf eingegangen. Statt bisher etwa 11 000 Versetzungen im Jahr werden im Rahmen der Umstrukturierung wahrscheinlich zwischen 20 000 und 30 000 Soldaten mit eigenem Hausstand jährlich versetzt werden. Das bedeutet, daß bis Ende 1994 eine Versetzungswelle in Gang gesetzt wird, von der allein in den alten Bundesländern 25 000 Offiziere und 87 000 Unteroffiziere mit ihren Familien betroffen sein werden. Diese Situation kann man nicht häufig genug schildern. Sie ist auch darauf zurückzuführen, daß wir in den zurückliegenden Jahren im Bereich der Wohnungsfürsorge viel zuwenig getan haben. Jetzt kommen durch die Umstrukturierung der Bundeswehr noch Versetzungen hinzu, und das bei einer angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt. Wir bringen die Soldaten mit ihren Familien in eine unzumutbare Situation. Ich muß denen recht geben, die heute schon von Streitkräften der getrennten Familien sprechen. Es rächen sich die Fehler der Vergangenheit, die zu den erheblichen Versäumnissen hinzukommen. Wir werden auch bei all den Anstrengungen, die jetzt unternommen werden und die ich begrüße, in den kommenden Jahren noch nicht zu einer spürbaren Entlastung kommen.Nun ließe sich an den Standorten, in denen kurzfristig Wohnungen der Alliierten frei werden, eine bessere Wohnungsversorgung erreichen, würde zumindest ein Teil dieser Wohnungen vom Finanzminister für die Besetzung durch Angehörige der Bundeswehr freigegeben. Ich zitiere jetzt aus einem Schreiben des Finanzministers an den Deutschen Bundeswehr-Verband vom 5. Februar: „Der Bundeswehr mußte in ihrer Aufbauphase ein gewisser Vorrang eingeräumt werden. Nachdem diese Aufbauphase jetzt jedoch abgeschlossen ist, besteht kein Anlaß mehr dazu, Bundeswehrangehörigen bei der Wohnungsvergabe einen Vorrang einzuräumen." Was mag Herr Waigel sich wohl dabei gedacht haben, als er diesen Brief unterschrieben hat? Herr Minister Rühe, ich möchte Sie bitten, mit Ihrem Kollegen einmal eindringlich darüber zu sprechen, daß er zuzugestehen hat, daß wir uns in einer Phase befinden, die unvergleichlich schwieriger ist als die Phase, von der er hier gesprochen hat.Auch die Beteiligungsrechte für Soldaten gehören nach wie vor zu den Kritikpunkten im Bericht des Wehrbeauftragten. In seinem Bericht für das Jahr 1990 hatte der Wehrbeauftragte darauf hingewiesen, daß das Ende 1990 verabschiedete Gesetz über die Beteiligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden einen Kompromiß darstellen würde. In diesem Jahr enthält sein Bericht Anmerkungen darüber, daß bei der Umsetzung und der Auslegung des Soldatenbeteiligungsgesetzes offenbar teilweise erhebliche Schwierigkeiten bestehen. Insbesondere treibt den Wehrbeauftragten die Sorge um, daß die Beteili-
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Heinz-Alfred Steinergungsrechte nicht in dem gebotenen Umfang wahrgenommen werden können. Diese Einschätzung bekräftigt nur die Kritik der SPD an diesem Gesetz, die ich bereits bei der Debatte über den letzten Bericht des Wehrbeauftragten hier geäußert habe. Das sogenannte Streitkräftebeteiligungsgesetz läßt sich noch nicht einmal als Kompromiß bezeichnen. Es ist ein Zaun, gebaut von Ihrem Vorgänger, Herr Minister, um unsere Soldaten von der gesellschaftlichen Normalität fernzuhalten.Nicht zuletzt befaßt sich der Wehrbeauftragte in seinem Bericht auch kritisch mit den Fragen der Wehrgerechtigkeit. Die Verfahrensweise, nur noch in Ausnahmefällen Wehrpflichtige über 25 Jahre einzuberufen, hält er für verfassungsrechtlich bedenklich. Wir übrigens auch. Auch hier gelte es, so der Wehrbeauftragte, den Wehrpflichtigen mehr Sicherheit in ihrer beruflichen und Lebensplanung zu geben. Die SPD teilt diese Kritik des Wehrbeauftragten und schließt sich seiner Forderung nach Herabsetzung des gesetzlichen Einberufungshöchstalters uneingeschränkt an. Wir werden hierzu eine Gesetzesinitiative ergreifen.Der Bericht des Wehrbeauftragten macht deutlich, daß sich die Probleme der Bundeswehr nachhaltig verändert haben. Besorgnis bereitet uns nicht — wie in vielen Jahren zuvor —, daß das Verhalten einiger unqualifizierter Vorgesetzter vielleicht zu Beschwerden Anlaß gegeben hätte. Besorgnis bereiten uns die zunehmenden Defizite, insbesondere auch bei der politischen Führung. Spätestens bei der Debatte des Wehrbeauftragtenberichts in diesem Jahr ist deutlich geworden, daß hier Handlungsbedarf auf vielen Feldern besteht, auf Feldern, die nur gemeinsam beackert werden können. I lerr Minister, Sie werden bei der Debatte des Wehrbeauftragtenberichts für das Jahr 1992 daran gemessen werden, ob es Ihnen gelungen ist, verhängnisvolle Entwicklungen zu stoppen und die Altlasten Ihres Vorgängers zu beseitigen.Vielen Dank.
Frau Kollegin Claire Marienfeld, ich erteile Ihnen das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich in meinem Redebeitrag vor allem auf den Teil des Berichts des Wehrbeauftragten stützen, der die Versorgung der Soldaten im weitesten Sinne zum Inhalt hat und den ich gerade im Hinblick auf die Personalfürsorge für sehr wichtig halte.Da ist zum einen der Bereich der Wohnungsfürsorge. Der Wehrbeauftragte weist darauf hin, daß wir durch die Umstrukturierung der Bundeswehr einer höheren Versetzungsquote gegenüberstehen. Herr Steiner hat die Zahlen eben schon genannt.Die Verschärfung der Wohnungssituation im allgemeinen trifft auch unsere Soldaten. Auch davon hat Herr Steiner gesprochen. Ich teile allerdings nicht IhreAuffassung, Herr Steiner, daß diese prekäre Wohnungssituation seit langer Zeit absehbar gewesen ist. Ich kann mich erinnern, daß es vor etwa drei bis vier Jahren noch Hunderte leerstehender Wohnungen in der Region gab und daß diese Verschärfung erst in der jüngsten Zeit, etwa in den letzten zwei Jahren, eingetreten ist. Im Wohnungsbaubereich muß ja längerfristig geplant werden.
— Das ist unterschiedlich zu sehen. Jedenfalls gab es eine ganze Menge leerstehender Wohnungen.Wir sind jetzt natürlich aufgefordert, in dieser schwierigen Lage Lösungen zu finden. Deshalb ist es sehr dankenswert — auch darauf hat Herr Steiner hingewiesen —, daß wir durch die Zusammenarbeit aller Fraktionen jetzt in der Lage sind, gemeinsame Anträge vorzulegen.In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal die Einführung einer Ballungsraumzulage zu erwähnen, durch die dem gestiegenden Mietpreisniveau in den dichtbesiedelten Regionen insbesondere der Großstädte Rechnung getragen werden soll. Nur so können zu versetzende Soldaten die Mieten noch tragen. Die Soldaten brauchen eine monatliche Zulage, die eine gänzlich andere Wirkung hat als die jetzt bewilligte Einmalzahlung.Gerade den jüngeren Familien mit Kindern, deren Bezüge noch nicht sehr hoch sind, deren finanzielle Belastungen aber gerade jetzt durch Zusatzaufgaben für Kinder hoch sind, muß damit geholfen werden. Der junge Soldat muß die Chance haben, etwas für seinen beruflichen Werdegang zu tun, aber auch seiner Familie die Möglichkeit zu bieten, auch in Großstädten vernünftig zu leben.
Unsere Vorstellung ist, daß sich die Höhe der zu gewährenden Zulage am Nettoeinkommen der betreffenden Soldaten im Verhältnis zum Mietpreisniveau ausrichtet.Mit einem weiteren Antrag, der von der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD eingebracht worden ist, reagieren wir auf eine Forderung des Wehrbeauftragten nach Erhöhung der Fördersätze für Familienheime. Diese Fördersätze sollen nach unserem Willen auf einen zinsgünstigen Darlehensbetrag von 75 000 DM angehoben werden. Wer an der Notwendigkeit dieser Maßnahme noch zweifelt, den mag der Hinweis überzeugen, daß seit 1971 bis jetzt ein Betrag von 35 000 DM gilt. Ich denke, in dieser Zeit hat sich eine Menge getan. Die Erhöhung ist nur recht und billig.
Wir wollen damit auf die gestiegenen Grundstücksund Baupreise reagieren. Auch einer ganz besonderen Nachfrage in den neuen Bundesländern nach
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Claire MarienfeldOffizieren, die von West nach Ost versetzt werden, soll damit Rechnung getragen werden.In einem weiteren Punkt entsprechen alle im Verteidigungsausschuß vertretenen Fraktionen den Wünschen des Wehrbeauftragten. Dabei handelt es sich um die Bereitstellung eines festen Kontingents von frei werdenden Wohnungen für die Bundeswehr beim Abzug der ausländischen Streitkräfte.Insbesondere in Berlin, wo ein beträchtlicher Teil von Wohnungen an den Bundesfinanzminister zurückfällt, ist dieses Bestreben realistisch.
Hier muß durch eine Begrenzung der Grundmiete bei größeren Wohnungen bezahlbarer Wohnraum bereitgestellt werden.Eine weitere Möglichkeit, Umzüge zu vermeiden — das ist mir häufig vorgetragen worden; ich denke, das gilt auch für den Wehrbeauftragten —, ist die Planung von zwei Verwendungen von Soldaten, und zwar dann, wenn erkennbar ist, daß die zweite Verwendung wieder in die frühere Region zurückführt. In solchen Fällen könnte die Familie gleich am ersten Wohnort verbleiben. Gerade für Familien mit Kindern, die bei Umzügen schwere Lasten zu tragen haben, weil es zum Schulwechsel kommt, weil Freundschaften aufgegeben werden müssen, was Kinder sehr hart trifft, wäre dies eine große Erleichterung.
Bei allen Maßnahmen, außer der letztgenannten, sind wir auf die Mithilfe der beteiligten Ressorts angewiesen. Ich möchte an die Verantwortlichen in den beteiligten Ressorts, aber auch an die Parlamentarier, die dort beratend tätig sind, appellieren, diese Maßnahmen zu unterstützen. Keine Berufsgruppe des öffentlichen Dienstes ist so betroffen und gleichzeitig so von Maßnahmen und Unterstützungen seitens des Dienstherrn abhängig wie die der Soldaten. Wenn wir uns die Zahl der Umzüge unserer Soldaten vor Augen führen, dann wird klar, daß dieses Wort Gültigkeit hat.
Auch im Hinblick auf die Zukunft der Bundeswehr ist dies unbedingt erforderlich; denn ein junger Mann wird seine Entscheidung, ob er sich bei der Bundeswehr weiterverpflichten will, auch von diesen Umständen abhängig machen. Deshalb liegen diese Anstrengungen auch im ureigensten Interesse der Bundeswehr.Dessen ist sich der Bundesminister der Verteidigung, so denke ich, bewußt. Er hat vorhin davon gesprochen, daß in erster Linie etwas für die Menschen zu tun sei. In diesem Bereich hat er durch die erstmalige Einstellung von 40 Millionen DM für denBau von Wohnungen in den neuen Bundesländern deutliche Zeichen gesetzt.
Auch durch die Neufassung der Vergaberichtlinien haben sich die Bedingungen verbessert.Kurzum: Das BMVg kann die erforderlichen Kraftanstrengungen — ich habe vorhin schon darauf hingewiesen — nicht allein erbringen; wir brauchen die Mitwirkung der Bundesbauministerin und des Bundesfinanzministers. Besondere Verhältnisse erfordern auch ein besonderes Handeln.Im Rahmen eines weiteren Beitrags geht der Wehrbeauftragte in seinen persönlichen Anmerkungen auf die großartigen Leistungen der Bundeswehr im humanitären Bereich ein. Der Einsatz unserer Soldaten in der Türkei und im Iran hat international Anerkennung gefunden.
Der Verteidigungsausschuß konnte sich in einer Anhörung durch betroffene Soldaten über die hohe Motivation und den enormen Einsatzwillen informieren, und er hat dies auch honoriert. Ich denke noch an die Ausschußsitzung zurück, in der wir alle von den Schilderungen der Soldaten sehr betroffen waren.Nicht minder ist der Einsatz unseres Sanitätsdienstes bei der Unterstützung der UNO-Soldaten in Kambodscha zu werten. Die Unsicherheit bezüglich der Versorgung der Soldaten gegenüber früheren Hilfsaktionen konnte gänzlich ausgeräumt werden. Dafür sei Dank.Wir können heute feststellen, daß alle am Einsatz beteiligten Soldaten eine ausreichende Versicherung haben. Die sogenannte Kriegsklausel in den allgemeinen Bedingungen für die Lebensversicherung kommt bei humanitären Einsätzen der Bundeswehr — hierzu gehört auch der UNTAC-Einsatz der Bundeswehrsoldaten in Kambodscha — auch dann nicht zur Anwendung, wenn es zur Gewaltanwendung gegen die entsandten Soldaten kommt. Für den kurzfristigen Einsatz in Kambodscha ist des weiteren ein Rahmenvertrag zur besonderen Absicherung des sogenannten passiven Kriegsrisikos im Bereich der privaten Unfallversicherung abgeschlossen worden.In diesem Zusammenhang muß insbesondere die versorgungsrechtliche Lage der jungen Soldaten und ihrer Familien mit geregelt werden. Diese Regelung und diese Sicherheit waren im Interesse der Soldaten und ihrer Familie dringend erforderlich. Dies sind verläßliche Aussagen. Meine Damen und Herren, es gibt keinen Grund, hier noch Zweifel oder Unsicherheiten zu hegen. Es liegen Zusagen der Regierungen vor.Der schweren und verantwortungsvollen Aufgabe trägt dieses Land mit zusätzlichen Bezügen für die Soldaten Rechnung. Lassen Sie uns an dieser Stelle den Soldaten für die Bereitschaft, diesen Dienst im Rahmen des Friedensdienstes der UNO und im Interesse der betroffenen Menschen in Kambodscha zu tun, danken.
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Claire MarienfeldHerr Biehle, auch Ihnen gilt unser herzlicher Dank für Ihre Arbeit und für Ihren engagierten Einsatz für unsere Soldaten. Dieser Dank ist selbstverständlich auch an Ihre Mitarbeiter gerichtet.
Das Wort hat der Kollege Günther Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gleich zu Beginn dem Herrn Wehrbeauftragten und natürlich auch seinen Mitarbeitern für die engagierte Arbeit, die in dieser Zeit wahrlich nicht leicht ist, danken. Herr Wehrbeauftragter, die F.D.P. wird Ihre Arbeit auch in Zukunft konstruktiv unterstützen.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr befindet sich in der größten Umstrukturierung seit ihrer Gründung vor nunmehr 36 Jahren. Auch die relativ hohe Zahl von Eingaben an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ist ein Spiegelbild dieses schwierigen Prozesses.Die Frage nach dem Auftrag der Bundeswehr in einer sich verändernden Welt wird von einer zunehmenden Zahl von Mitbürgern und auch Soldaten gestellt. Wir dürfen aber nicht nur die Frage nach dem Auftrag der Bundeswehr insgesamt stellen — wir müssen sie natürlich auch beantworten —, sondern müssen von diesem Auftrag auch ableiten, wie der Auftrag der einzelnen Teilstreitkräfte aussehen soll. Jetzt muß die Frage nach dem Wieviel und dem Wofür für jede einzelne Teilstreitkraft beantwortet werden, und dies, Herr Minister, bevor der neue Bundeswehrplan aufgestellt wird. Wir werden hier auch die Frage stellen, ob die Schwergewichte in Zukunft noch so sehr beim Heer liegen oder ob wir Veränderungen zugunsten der anderen Teilstreitkräfte vornehmen können.
Meine Damen und Herren, die Aussagen des Wehrbeauftragten zu den Auswirkungen des Golfkriegs verdeutlichten — ich will dies hier in aller Offenheit ansprechen — auch ein nicht unerhebliches Defizit der Politik. Es gab im Zusammenhang mit dem Golfkrieg sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Soldaten Unsicherheiten und Verunsicherungen bezüglich eines möglichen Einsatzes. Es herrschte Unkenntnis darüber, daß die Operation in der Osttürkei im Rahmen des NATO-Vertrages verlief, also innerhalb des Bündnisses. Es war weitgehend unbekannt, daß ein Angriff des Irak auf die Türkei den Bündnisfall hätte auslösen können.Die Bundeswehrführung und vor allem die Politik waren offensichtlich unzureichend vorbereitet, und es kam dann zu den bekannten Diskussionen über dieses Thema in der Öffentlichkeit und in den Medien.Meiner Meinung nach sind die politische und militärische Führung, letztlich aber wir alle als Gesetzgeber aufgefordert, der Bevölkerung zu verdeutlichen, daß der Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung nicht nur innerhalb deutscher Grenzen erfüllt werden muß, sondern innerhalb des Gebiets der NATO — der Bundesminister der Verteidigung hat ja vorhin darauf hingewiesen —, also auch in Anatolien, auf der Iberischen Halbinsel oder in Norwegen. Ich bedauere, daß dieser eigentliche Auftrag der Bundeswehr, nämlich die Verteidigung des Landes und des Bündnisses, in der öffentlichen Diskussion viel zuwenig Beachtung findet.Meine Damen und Herren, wir müssen unseren Soldaten auch sagen, daß der Soldatenberuf erhebliche Unterschiede gegenüber anderen Berufen aufweist und daß sie sich des Risikos eines gefährlichen Einsatzes bewußt sein müssen. Wir haben zwar keine direkte Bedrohung mehr, aber es besteht eine Vielzahl von Risiken. Die Welt hat sich verändert, aber leider wird nicht nur der Frieden der Ernstfall sein.Meine Damen und Herren, um unseren Soldaten endlich Rechtssicherheit und gesetzliche Rückendekkung bei eventuellen Einsätzen außerhalb des Bündnisgebietes geben zu können, müssen schnellstens die erforderlichen Grundgesetzänderungen erfolgen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich, Herr Kollege Kolbow, direkt an Sie, an die Damen und Herren der SPD-Fraktion wenden und Sie ermuntern, Herr Kollege, sich nicht zu verweigern oder auf halbem Wege stehenzubleiben.Bei einem möglichen Einsatz im Rahmen der UNO muß aus Sicht der F.D.P. die Bundeswehr an allen Einsatzarten teilnehmen können. Es darf eben nicht der Eindruck entstehen, daß sich die Bundesrepublik die Rosinen aus dem Kuchen pickt
und risikoreiche Aktionen wiederum anderen überläßt.
Wir brauchen auch in der Sicherheitspolitik die notwendige Handlungsfreiheit und dürfen hier nicht in die Isolation geraten. Ich hoffe, Herr Kollege, daß die SPD auch in dieser Frage zum Konsens bereit ist, so wie es der Kollege Steiner hier vorhin ja schon angesprochen und auch angemahnt hat.
— Das ist ein wichtiger Punkt, der auch in der öffentlichen Diskussion, glaube ich, dementsprechend gewürdigt werden sollte und zu dem auch die Öffentlichkeit einen Konsens im Plenum des Deutschen Bundestages erwartet.
Meine Damen und Herren, zur sozialen und rechtlichen Absicherung der Soldaten haben der Wehrbeauftragte und auch die Kollegin Marienfeld schon gesprochen. Ich schließe mich den Ausführungen vorbehaltlos an und will nur eines hinzufügen: Angesichts der Einsätze unserer Soldaten in Kambodscha, im Irak, im Golf ist diese Entscheidung längst überfällig. Wir haben auch in dieser Hinsicht unseren Soldaten zu danken.
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9430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Günther Friedrich NoltingMeine Damen und Herren, in seinem Bericht macht der Wehrbeauftragte deutlich, daß die Zahl der Eingaben in Personalangelegenheiten gegenüber 1989 um ca. 5 % gestiegen ist. Darin zeigt sich, daß der Personalabbau und die vielen Versetzungen für den einzelnen und seine Familie durchaus zu Härtefällen führen können.Die Eingliederung der Soldaten der ehemaligen NVA in die Strukturen der Bundeswehr und die rechtzeitige Reduzierung auf 370 000 Mann sind ein äußerst komplexer und schwieriger Prozeß, bei dem ein Höchstmaß an Sensibilität den Soldaten gegenüber gefordert werden muß.Das künftige Stationierungskonzept der Bundeswehr und die Politik der Information darüber haben in verschiedenen Truppenteilen und Einheiten zu teilweise großer Verunsicherung geführt. Ich weiß, daß dies nicht immer direkt am BMVg lag, sondern auch an untergeordneten Kommandoebenen. Es ist aber unbedingt notwendig, daß alle Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Bundeswehr stehen, transparenter gemacht werden und daß auch auf den unteren Befehlsebenen der Informationfluß funktioniert, damit alle Soldaten, Zivilbeschäftigte und ihre Angehörigen frühzeitig unterrichtet werden.Wir werden eine Versetzungswelle von mehr als 20 000 pro Jahr haben. Dabei müssen wir die Befindlichkeiten der Betroffenen berücksichtigen. Die Soldaten und ihre Familien dürfen keine beliebige Verschiebungsmasse sein, die man wie Schachfiguren von einem Ort an den anderen setzen kann.Meine Damen und Herren, die Eingliederung der Soldaten der ehemaligen NVA und damit die Schaffung wirklicher gesamtdeutscher Streitkräfte ist auch im Berichtszeitraum ein großes Stück vorangekommen. Seit Anfang dieses Jahres werden vor dem Ausschuß zur Eignungsüberprüfung die Übernahmeanträge von Berufs- und Zeitsoldaten behandelt. Am vergangenen Freitag, dem Vorabend des zweiten Jahrestages der deutschen Vereinigung, wurden in Leipzig durch den Bundesminister der Verteidigung die ersten Soldaten der ehemaligen NVA als Berufssoldaten in die Bundeswehr übernommen. Dieser Tag ist, denke ich, ein Markstein in der Geschichte der Bundeswehr.Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, im Namen der F.D.P.-Bundestagsfraktion auch einmal allen Verantwortlichen in Ost und West, die diesen geordneten Prozeß ermöglicht haben, zu danken.Auch in dieser Frage, denke ich, übernimmt die Bundeswehr eine Vorbildfunktion. Ich wäre froh, wenn in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens der Fortschritt der Einigung schon soweit gediehen wäre.Meine Damen und Herren, es bleibt natürlich noch eine große Anzahl von Aufgaben zu erfüllen, bis auch in den neuen Bundesländern in allen Bereichen die gleichen Verhältnisse wie in Westdeutschland herrschen. Moderne Kasernen und soziale Betreuungseinrichtungen lassen sich eben nicht über Nacht aus dem Boden stampfen. Aber der beginnende Austausch vonWehrpflichtigen zwischen Ost und West ist, denke ich, ein wichtiger und ein richtiger Schritt auf dem Wege zur Normalisierung.
Meine Damen und Herren, die Akzeptanz des Wehrdienstes schwindet innerhalb und außerhalb der Bundeswehr. Es ist daher dringend geboten, die Attraktivität des Wehrdienstes zu steigern. Dieses Problem berührt die Grundlagen unseres Staates und bedarf dringend der Lösung. Die F.D.P. hält die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee — so auch der Beschluß des letzten Bundesparteitags — für ein unverzichtbares Instrument zur Sicherung des Friedens in Freiheit.
Es ist eine wichtige Aufgabe politischer Bildungsarbeit, darüber aufzuklären, daß die Bundeswehr auch in Zukunft zur Risikovorsorge benötigt wird, um eben auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Ich will hier die Schweizer Liberalen zitieren, die da sagen: Jedes Land hat eine Armee, entweder eine eigene oder eine fremde.
— Das übernehme ich gern für alle Liberalen, jawohl.Deshalb sind wir alle aufgefordert, die Sinnhaftigkeit von Dienstzeit und Ausbildung aufzuzeigen. Diese muß dann aber auch sinnvoll und fordernd für den einzelnen Soldaten sein. Der Herr Wehrbeauftragte hat auf diese Problematik hingewiesen.Gleichzeitig sind natürlich Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Situation der Längerdienenden und der Wehrpflichtigen unerläßlich. Beim nächsten Tagesordnungspunkt wird darauf aber noch der Kollege Koppelin eingehen.Zu den sozialen Maßnahmen zählt u. a. auch — das sage ich hier ganz bewußt und mit Stolz — die maßgeblich von der F.D.P. mitgeschaffene Dienstzeitregelung. Der Verteidigungsminister hat sich dazu im Verteidigungsausschuß geäußert und hat positive Wirkungen dieser Regelungen aufgezeigt. Wir werden uns als F.D.P. nicht verschließen — wir sind in dieser Frage offen —, eine Überprüfung der geltenden Dienstzeitregelung durchzuführen. Dabei sollte dann auch über attraktivere finanzielle Ausgleichsmaßnahmen nachgedacht werden.Der Bereich der Wohnungsfürsorge — damit komme ich dann zum Abschluß — ist hier bereits angesprochen worden. Soldaten gehören zu den wenigen Berufsgruppen, die sich ihren Arbeitsort nicht aussuchen können. Der Soldat muß ständig mit eventuellen Versetzungen rechnen. Ich denke, daß wir bei den weiteren Beratungen des Haushaltsplans 1993 entsprechende Maßnahmen ergreifen können, wie sie die Kollegin Marienfeld schon angesprochen hat.Meine Damen und Herren, wir haben heute die Stellungnahme des Bundesverteidigungsministers
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Günther Friedrich NoltingRühe gehört. Er hat dabei aufgezeigt, daß die Hardthöhe die Probleme sieht, die sich aus der Verkleinerung und Umstrukturierung der Bundeswehr ergeben, und daß das Verteidigungsministerium bemüht ist, darauf zu reagieren und sie zu beseitigen. Es kommt jetzt darauf an, im Rahmen der Politik klare Vorgaben zu schaffen und bereits getroffene Entscheidungen zügig und umfassend durchzusetzen. Die F.D.P.-Fraktion wird sich hieran konstruktiv beteiligen.Vielen Dank.
Herr Kollege Lambinus, hier oben herrscht Uneinigkeit über Ihren Zwischenruf vorhin. Da ich nicht das Protokoll abwarten will, bitte ich Sie einfach, ihn zu wiederholen.
— Völlig in Ordnung. Danke vielmals.
Das Wort hat die Abgeordnete Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lektüre des Berichts des Wehrbeauftragten ist spannend und lehrreich. Unvermutet und aus unverdächtiger Feder geht aus ihm hervor, wie erfreulich weit die Entmilitarisierung unserer Gesellschaft schon fortgeschritten ist. Die Armee eines Volkes, das stets eine unheilvolle Begeisterung für alles Militärische hegte und das in diesem Jahrhundert zwei Kriege angezettelt hat, beginnt Eigenschaften abzulegen, die in der Vergangenheit die Welt das Fürchten lehrten: soldatischer Eifer, mechanische Disziplin und Kadavergehorsam. Die Bereitschaft sich selbst und andere auf Befehl zu Tode zu bringen, ist erfreulich gesunken.Ich halte die Abkehr von allem Militärischen für das hoffnungsvollste Zeichen im vereinten Deutschland, da gerade in den letzten Wochen und Monaten rechtsradikale Gewalt und ihre beschämende Billigung durch beifallklatschende Mengen und sensationslüsterne Medien alte Ängste der Welt vor Deutschland frisch geschürt hat.Während der Golfkrise, bemerkte der Wehrbeauftragte, habe sich die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung verdoppelt. Es stellten immer mehr Zeit- und Berufssoldaten den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Der Wehrbeauftragte registriert das mit einer gewissen Fassungslosigkeit. Er macht geltend, daß doch jeder dieser Berufssoldaten bei seinem Eintritt in die Bundeswehr den militärischen Einsatz in seiner Lebensplanung ins Auge gefaßt haben müßte.Aber ich kann aus meiner Erfahrung durch Gespräche in der Truppe bestätigen, daß es tatsächlich eine Reihe junger Offiziere gibt, die keinesfalls gewillt ist, Deutschland irgendwo in Asien, Afrika oder auf dem Balkan zu verteidigen. Sie haben die Aussage „Frieden ist der Ernstfall" als Grundlage ihres Dienstverständnisses in der Bundeswehr genommen. Wir sollten froh sein über diese neue Art von Berufssoldaten, die im Kern eine ganz neue Art von Streitkräften entstehen lassen, die wehrhaft sind, aber nicht bedrohlich.Das Bewußtsein vieler Soldaten, in einer kriegerischer Auseinandersetzung eingesetzt zu werden, wie es sich im Golfkrieg als denkbar darstellte, hatte sich häufig auf die Vorstellung beschränkt, die Bundesrepublik Deutschland auf heimischem Territorium verteidigen zu müssen, konstatiert der Wehrbeauftragte. Weil die Bedrohung für Deutschland aber inzwischen eingestandenermaßen als gering angesehen werden muß, sinkt die Bereitschaft der Soldaten zum militärischen Einsatz.Den Wehrbeauftragten hat bei seinen gelegentlichen Truppenbesuchen erschreckt, wie auch bei längerdienenden Soldaten diese Möglichkeit verdrängt wurde. Warum die sinkende Bereitschaft von Soldaten, Krieg zu führen, erschreckend sein soll, ist für mich allerdings nicht nachvollziehbar, ist doch die sinkende Bereitschaft zum militärischen Einsatz ein Zeichen wachsender Friedensfähigkeit.Es ist nicht so, daß gewachsene Friedensfähigkeit ein Verschwinden der Bereitschaft bedeutet, Deutschland zu verteidigen. Ich habe jedenfalls niemanden unter den Soldaten getroffen, bei dem das zugetroffen hätte. Sie weigern sich allerdings, weiterhin wie im Kalten Krieg eine Bedrohung für die Welt darzustellen. Das ist gut so. Die Zeit der alten Angriffs- und Verteidigungsarmeen ist endgültig vorbei. Die Soldaten, von denen eben die Rede war, haben das eher begriffen als manche Politiker, die lieber mit viel Mühe und Not an alten Relikten des Kalten Krieges festhalten und mit neuer Rhetorik die alte Politik der Stärke fortsetzen wollen.Statt nun zu überlegen, wie der Wehrbeauftragte es sich wünscht, wie die Soldaten wieder dazu gebracht werden können, einen nicht im Belieben des einzelnen stehenden Auftrag gegebenenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens und ohne die Garantie einer gesunden Heimkehr auszuführen, sollte endlich über die Funktion der Bundeswehr in einer von Grund auf geänderten sicherheitspolitischen Lage nachgedacht werden.Dazu gehört auch die Diskussion über Sinn und Unsinn der Beibehaltung der Wehrpflicht. Unsere Haltung dazu ist bekannt, und ich möchte sie deshalb hier nicht wiederholen. Es geht nicht darum, krampfhaft neue Aufgaben für die Bundeswehr zu suchen oder, wie der Wehrbeauftragte es ausdrückt, mit welchem Etikett ihre Aktivitäten versehen werden, es geht um die Grundsatzentscheidung, welcher Art die Streitkräfte des vereinten Deutschlands sein sollen. Diese Grundsatzentscheidung sind wir allen Soldaten, die in dieser Armee Dienst tun, schuldig. Es geht nicht an, daß die Politiker auf dem Rücken der Soldaten ihre politischen Unklarheiten ausfechten.
— Ich tue das sowieso nicht, Herr Breuer.
Meine Damen und Herren, wie Sie meinen Ausführungen entnehmen konnten, gilt meine Kritik am
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9432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Vera WollenbergerWehrbeauftragten vor allem, wenn er versucht, sich in die politische Sinnfindung für die Streitkräfte einzuschalten. Wenn ich das Amt des Wehrbeauftragten richtig verstehe, ist das auch gar nicht seine Aufgabe.Wo er aber seine Aufgaben wahrnimmt, ist der Bericht — ich habe es schon gesagt — sehr informativ und — ich wiederhole das — spannend. Das betrifft vor allem die Aussagen über das Informationsverhalten des Dienstherrn, das Teile der Truppe bis an den Rand der Disziplinlosigkeit verärgert hat. Wo hätte es das in einer deutschen Armee schon einmal gegeben?Es spricht für ein erfreulich gewachsenes Demokratiebewußtsein, wenn Weisungen von oben nicht mehr widerspruchslos hingenommen werden.Ich würde jetzt gerne weiter detailliert auf den Bericht des Wehrbeauftragten eingehen, aber die geringe Redezeit unserer Gruppe läßt das leider nicht zu. Ich möchte deshalb am Schluß noch auf zwei Dinge eingehen, die im Jahresbericht des Wehrbeauftragten nicht erwähnt werden.Kurz nach dem 2. Jahrestag der Deutschen Einheit möchte ich an dieser Stelle sagen, daß wir heute mit der Gestaltung der inneren Einheit wesentlich weiter wären, wenn sich alle gesellschaftlichen Institutionen in gleicher Weise darum bemüht hätten wie die Bundeswehr.
Das sage ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich nicht in bezug auf die Eingliederung von ehemaligen NVA-Soldaten in die Bundeswehr, der ich nach wie vor sehr skeptisch gegenüberstehe, auch weil ich weiß, daß es in neonazistischen Kreisen der DDR usus war, als Zeitsoldat für zehn Jahre in die NVA zu gehen. Dies ist nach meinem Eindruck als Problem noch gar nicht erkannt worden. Nein, ich meine den persönlichen Einsatz vieler örtlicher Kommandeure für den Aufbau der neuen Bundesländer. Ich kenne viele gute Beispiele von Soldaten und Offizieren, die aktiv an den Angelegenheiten ihrer Stationierungsorte Anteil nehmen. Leider wird diese gute Wirkung mancherorts durch unsensible Entscheidungen von oben wieder zunichte gemacht. So besteht bisher die Absicht, den Truppenübungsplatz Wittstock für die Bundeswehr weiter zu nutzen. Dies gegen den entschiedenen, geschlossenen Widerstand der betroffenen Bevölkerung. Diesem Beispiel wäre ein weiteres anzufügen, aber das muß ich mir aus Zeitgründen sparen.Leider hat der Wehrbeauftragte den sympathischsten und zukunftsträchtigsten Teil der Bundeswehr in seinem Bericht nicht erwähnt. Ich meine die Abrüstungssoldaten. Das ist besonders bedauerlich, wenn man bedenkt, daß allgemein über Imageverlust der Bundeswehr geklagt wird. Die Abrüstungssoldaten haben dieses Problem nicht; im Gegenteil, sie wären geeignet, der Bundeswehr ein neues positives Image zu geben.Leider werden sie vor allem von jenen vergessen, die das sinkende Ansehen der Bundeswehr ausgerechnet mit neuen Kampfaufträgen aufhalten wollen. Statt durch ideologische Feldzüge unter dem Banner sogenannter neuer Risiken bei der Bevölkerung Akzeptanz für Kriegseinsätze erzeugen zu wollen, sollte den friedenserhaltenden Aktivitäten der Abrüstungssoldaten endlich die Beachtung eingeräumt werden, die sie verdienen.Die Offiziere und Unteroffiziere vom Zentrum für Verifikationsaufgaben haben als erste deutsche Soldaten in Uniform Rußland, die Ukraine, Litauen und Polen besucht. Sie haben dabei nicht nur Militärobjekte und Kriegsgeräte ihres ehemaligen Gegners inspiziert, sondern Freundschaften geschlossen, die noch vor drei Jahren undenkbar waren. Wenn heute einem deutschen Offizier am Rande eines Massengrabs, in dem 14 000 russische Gewaltopfer bestattet sind, von einem russischen Offizier gesagt wird: das waren nicht die Deutschen, das waren die Faschisten, so ist das mehr, als ein Deutscher erwarten kann. Es sollte unsere vornehmlichste Aufgabe sein, solches Vertrauen, das uns von diesen Völkern wieder entgegengebracht wird, zu rechtfertigen.Das, meine lieben Kolleginnnen und Kollegen, wird uns am besten gelingen, wenn wir uns den Symbolen der Abrüstungssoldaten anschließen: „V" nicht für „victory", sondern für Vérité, Vernunft, Völkerverständigung und Vertrauen.Vielen Dank.
Frau Kollegin Leni Fischer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich ganz kurz, in einigen Sätzen, auf das eingehe, was Frau Wollenberger gesagt hat. Ich fand das in einigen Punkten höchst interessant. Sicher werden wir nicht völlig einer Meinung sein. Ich teile auch nicht Ihre Meinung, was den Bereich der früheren Gegnerschaften angeht. Ich teile schon gar nicht Ihre Auffassung, die dahin geht, daß die Frage der früheren Soldaten der Bundesrepublik genauso zu sehen ist wie die der früheren Soldaten innerhalb der NVA und des Warschauer Pakts.
Ich glaube, wir sollten versuchen, diesen immensen Unterschied in einem Gespräch miteinander auszuloten. Ich denke nämlich, daß in den Jahren der deutlichen Abgeschlossenheit im östlichen Teil des deutschen Landes doch viele Dinge als Schreckgespenster aufgebaut worden sind, die so innerhalb der NATO und innerhalb des Bündnisses nie gesehen wurden.
Dies heute zu tun würde sicher den Rahmen sprengen. Aber ich biete Ihnen dazu ein Gespräch an.Auch ich möchte dem Herrn Wehrbeauftragten ganz herzlich für die deutlichen Aussagen in seinem Jahresbericht 1991 und seinen heutigen Ausführungen danken. Als langjähriger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses hat er die Erfahrung, aus den Eingaben, die ihn aus allen Bereichen der Bundeswehr erreichen, die Probleme zu erkennen und die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
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Leni FischerEine große Anzahl von Problemen, die in seinem letzten Jahresbericht dargestellt wurden, sind vom Bundestag und vom Verteidigungsministerium aufgegriffen worden. Des weiteren gibt es eine Beschlußempfehlung vom 10. Juni 1992. In einigen Problembereichen konnte bereits Abhilfe geschaffen werden.Gleichwohl sollten wir uns darüber im klaren sein, daß in diesem Jahr bis zum 30. September fast 8 000 Eingaben im Amt des Wehrbeauftragten eingegangen sind, gegenüber 9 644 Eingaben im gesamten Zeitraum des Vorjahres. Sollte diese Entwicklung weiter anhalten, wird die Anzahl der Eingaben in diesem Jahr die Höhe des Vorjahres erreichen oder sogar noch höher sein als im vergangenen Jahr; dies gilt trotz der Tatsache, daß die Bundeswehr zahlenmäßig reduziert wurde.Wir haben schon viel von den Problemen gehört, die mit der Auflösung von Standorten verbunden sind. Aber wir vergessen häufig genug, zu sagen, daß wir alle diese Politik gewollt haben. Wir stehen jetzt vor einer der größten Herausforderungen in Friedenszeiten. Dieser Bewältigung sollten wir mit Freude entgegensehen.
Der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, hat zu Recht in seiner Rede am 2. Oktober 1992 in Leipzig zum Tag der Deutschen Einheit auf die Erfolge der Bundeswehr bei der Reduzierung, der Umstrukturierung, der Integration von Teilen der ehemaligen Nationalen Volksarmee und dem Aufbau der Garnisonen in den neuen Bundesländern hingewiesen, die für viele andere Bereiche beispielhaft sind. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sowie des Ausschusses haben sich bei vielen Besuchen in den Garnisonen der neuen Bundesländer über den Fortgang der Arbeiten informiert. Auch die Probleme wurden den Mitgliedern so vor Augen geführt.Wir müssen — wie dies auch die Vorredner und Vorrednerinnen gesagt haben — die zusätzlichen Belastungen insbesondere für die verheirateten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften jetzt und in den nächsten Jahren in ganz besonderer Weise im Auge behalten.Es wird demnächst zu sehr vielen Versetzungen kommen. Wir wissen, daß wir auch mit diesem Problem fertigwerden müssen. Auch die vielen Eingaben im Personalbereich werden uns in den nächsten Jahren sicher weiter beschäftigen. Die Eingaben im Bereich der finanziellen Abfindung der Wehrpflichtigen sowie die Eingaben im Bereich der Versorgung sind wohl stark zurückgegangen. Dies ist — das hoffe ich jedenfalls — Folge unserer guten Politik.Ein wesentlicher Bestandteil im Leben eines Soldaten ist seine Motivation. Ist sie nicht oder nicht mehr vorhanden, läßt auch seine Bereitschaft zum Dienen nach. Es kommt also wesentlich darauf an, den täglichen Dienst und das soziale Umfeld so zu gestalten, daß der Soldat die Sinnhaftigkeit seines Dienens sowie des Dienstes einsieht. Die Motivation der Soldaten wirkt sich darüber hinaus auch auf die Attraktivität der Bundeswehr insgesamt aus.Hatte in der Vergangenheit das Aufkommen an ungedienten Bewerbern ein Verhältnis von 7 :1, d. h. von sieben Bewerbern wurde ein Bewerber eingestellt — es wurde also eine qualitative Auslese getroffen —, so besteht heute ein Verhältnis von 3 : 2. Ich denke, wir sollten auch in den nächsten Monaten und Jahren unser Augenmerk auf die Gewinnung von gutem Nachwuchs lenken. Wir sollten alles tun, damit für die jungen Soldaten in Zukunft das Dienen in der Bundeswehr ebenfalls als ein attraktiver Beruf angesehen wird.Danke.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Für Sie, Herr Breuer: Ich heiße Ruth Fuchs.
— Wenn er sich in der Vergangenheit mit Sport beschäftigt hätte, dann wüßte er, mit wem er es zu tun hat. Aber das macht nichts. Ich will darauf nicht näher eingehen. Ich komme jetzt lieber zu meiner Rede.
Über alle Parteigrenzen hinweg: Frau Fuchs war Olympia-Siegerin.
Herr Präsident, bitte ziehen Sie mir das nicht von meiner Redezeit ab!
— Ja, den Beifall. Beifall in diesem Haus ist für mich bzw. für unsere Partei ungewohnt.Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages berührt die aus seiner Sicht entscheidenden Probleme der Bundeswehr. Ich stimme ihm zu, wenn er als Ausgangspunkt für seine Einschätzung die tragenden Rahmenbedingungen, nämlich die Auslandseinsätze der Bundeswehr, ihre Umstrukturierung und den Aufbau in den neuen Bundesländern, an den Anfang seiner Analyse stellt. Das sind tatsächlich die Kernfragen, die so oder anders alle nachgeordneten Fragen — auch die sogenannten kleinen Dinge des militärischen Alltags — wesentlich beeinflussen. Wie schon bemerkt wurde: die Zeit ist fortgeschritten. Wir kommen nicht umhin, den Bericht von 1991 auch unter dem Blickwinkel unserer heutigen Kenntnisse zu beurteilen.Zu den Rahmenbedingungen: Im Bericht heißt es unter 2.1. — ich zitiere —:Es hat mich mit großer Sorge erfüllt, daß die erstmalige Entsendung deutscher Soldaten in die Randzone einer kriegerischen Auseinandersetzung erfolgte, ohne daß diese Entscheidung von einem breiten parlamentarischen Konsens getragen war.
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Dr. Ruth FuchsIch füge hinzu: Mich auch.Ich erinnere Sie, meine Damen und Herren, an unsere Sondersitzung im Zusammenhang mit der Entscheidung der Bundesregierung über die militärische Überwachung der Sanktionen gegen Jugoslawien. Auch hier wäre es beinahe ohne eine entsprechende Debatte im Parlament möglich gewesen, deutsche Soldaten in einem Krisengebiet zum Einsatz zu bringen. Ähnliches darf unter gar keinen Umständen wieder passieren.Ich zitiere weiter aus dem gleichen Punkt des uns vorliegenden Berichts: „Mit Erleichterung haben wir ihre gesunde Rückkehr" — gemeint sind die deutschen Soldaten — „zur Kenntnis genommen, zumal der Krieg auch einen anderen Verlauf nehmen könnte. " Mein Kommentar: Kriege nehmen meistens einen ernsteren Verlauf. Dieses Mal somit Glück gehabt, oder?Künftige Einsätze deutscher Soldaten außerhalb des deutschen Staatsgebietes liegen nach dem Stand der Dinge vor uns. Noch könnten wir sie ausschließen. Aber die Forderungen nach Auslandseinsätzen sind in der Bundeswehrplanung — d. h. in ihrer Struktur, ihrer Ausrüstung und ihrem Einsatzkonzept — schon festgeschrieben.Der Wehrbeauftragte fordert in seinem Bericht, daß die deutschen Verpflichtungen, die Beteiligung an einem europäischen Korps im Rahmen der WEU sowie die Aufstellung hochbeweglicher und für den Einsatz auch außerhalb unseres Staates vorbereiteter Verbände politisch nicht umstritten sein dürfen. Sie sind aber politisch umstritten. Ich kann für Deutschland nur hoffen, daß dieser Streit an öffentlicher Breite, an Tiefe, Schärfe und vor allem an Konsequenz zunimmt.Ich jedenfalls finde es seltsam, wenn das Bundesministerium der Verteidigung und — in der öffentlichen Diskussion — die Bundesregierung zur Begründung für militärische Auslandseinsätze immer wieder auf die sogenannte deutsche Sonderrolle hinweisen.Meine Damen und Herren, ich habe es Gott sei Dank nicht erleben müssen, aber die Geschichte hat bewiesen, welche Sonderrolle Deutschland in diesem Jahrhundert zweimal gespielt hat. Es war nicht eine Sonderrolle der Zurückhaltung, sondern der Aggressionen. Die Sonderrolle der Zurückhaltung, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einnehmen mußte und die so schlecht gar nicht war, scheint auf einmal nicht mehr zu passen. Verstehen kann ich das nicht, denn in keiner Weise ist widerlegt, daß die Völker der Welt die Fortführung einer Politik deutscher Selbsteinschränkung auch weiterhin mit Achtung und Respekt annehmen würden.Ist ein militärischer Konflikt erst einmal da, entwikkelt er seine Eigendynamik, die — das hat die Geschichte wiederholt bestätigt — alle früheren Friedensbeteuerungen und friedenssichernden Maßnahmen parlamentarischer Gremien überrollen wird.Aus meiner Sicht gibt es nur eine mehr oder weniger zuverlässige Sicherung gegen ein Hineinziehen in einen militärischen Konflikt: Das ist der Abbau der Streitkräfte nach dem Prinzip der vernünftigen Hinlänglichkeit und ihre konsequente Ausrichtung auf die Verteidigung des eigenen Staatsgebietes.Der uns vorliegende Bericht konstatiert eine Verdoppelung der Zahl der Kriegsdienstverweigerer während der Golfkrise, und er erwähnt die Auffassung vieler Soldaten, die Bundesrepublik Deutschland nur auf heimischem Territorium verteidigen zu wollen. Bedenken Sie: Das sind in der überwiegenden Zahl nicht Gegner der Bundeswehr und nicht ausschließlich Pazifisten.Die Ursachen für solche und ähnliche Einstellungen liegen auf der Hand: Es ist das Begreifen des Fehlens einer erkennbaren, direkten militärischen Bedrohung; es ist der Unwille, für irgendwelche persönlich nicht mehr begreifbare höhere Interessen das eigene Leben aufs Spiel zu setzen; es ist der Zweifel daran, ob in allen bisherigen Konflikten auch wirklich das Instrumentarium politischer, ökonomischer und diplomatischer Mittel in vollem Umfang ausgeschöpft wurde.Bezug nehmend auf die vorangegangene Debatte: 1991 wurden in der Bundeswehr Einzelfälle von rechtsextremen Ausschreitungen von Soldaten registriert. Inzwischen ist in unserem Land der Rechtsextremismus weiter auf dem Vormarsch, mehr, als mancher es wahrhaben will.Ich stimme deshalb dem Wehrbeauftragten zu, daß man solchen Erscheinungen mit der gebotenen Entschlossenheit und unter Ausnutzung aller rechtlichen Möglichkeiten entgegentreten muß. Ich hoffe, daß die ähnlich lautende Stellungnahme des Verteidigungsministeriums zu diesem Punkt des Berichts des Wehrbeauftragten mit Entschiedenheit in der Truppe durchgesetzt wird.Mir liegt noch ein Problem besonders am Herzen. Es ist die im Bericht erwähnte Gleichbehandlung der Soldaten in den alten und neuen Bundesländern. Mich erreichen immer wieder Briefe und Beschwerden ehemaliger NVA-Angehöriger mit der Darstellung von Fakten über eine ungerechte Behandlung im sozialen Bereich und eine pauschale Ausgrenzung.Der Deutsche Bundeswehrverband hat als Interessenvertreter aller Soldaten nach einer gründlichen Analyse der Tatsachen einen Forderungskatalog für die Gleichstellung im Dienstrecht der Soldaten erarbeitet. Diese Forderungen, beruhen auf Sachkompetenz, Augenmaß und politischem Verantwortungsgefühl.Ich plädiere dafür, daß der Deutsche Bundeswehrverband seine Vorstellungen von Gleichbehandlung der Soldaten in geeigneter Form den parlamentarischen Gremien zur Kenntnis geben kann.Ich bitte den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, die Vorstellungen des Deutschen Bundeswehrverbandes nicht nur zu prüfen, sondern nach Möglichkeit wirksam zu unterstützen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Ich muß aus gegebenen Anlaß eine kleine Bemerkung machen: Es gab in I den ersten Legislaturperioden — ich glaube in der
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Vizepräsident Hans Kleinersten oder zweiten — eine sehr berühmte Abgeordnete, die der CDU/CSU-Fraktion angehörte und Helene Wessel hieß. Sie hat bei langen Sitzungen dem damaligen Bundeskanzler Adenauer mitunter ein Stückchen Schokolade oder ein Bonbon zugesteckt. Aber der damalige Bundeskanzler hat unauffällig gekaut.
Ich erteile dem Kollegen Gerhard Neumann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 12. März 1992 legte der Wehrbeauftragte seinen Jahresbericht vor. Wie schon gesagt wurde: Traditionell ist das ein Mängelbericht. Diese Tradition setzt sich auch 1991, im Jahr des Golfkrieges, dem ersten Jahr des Aufbaus der Bundeswehr Ost, mitten in der Umstrukturierung auf 370 000 Mann fort.So ist es auch nicht verwunderlich, daß 1991 wesentlich mehr Kritik als üblich geäußert wurde: Es gab fast 10 000 Eingaben an den Wehrbeauftragten. Das ist die zweithöchste Zahl seit 33 Jahren!Zwar treten im Bericht die Verletzungen der inneren Führung und Menschenrechtsverletzungen, wie sie in den letzten Jahren zu beklagen waren, in den Hintergrund. Wir von der SPD begrüßen dies.Trotz vieler Hindernisse ist die Integration der Bundeswehr im Osten schon weiter vorangeschritten als in einigen zivilen Bereichen.
Hier gilt unser Dank den Offizieren und Unteroffizieren, die sich mit viel Engagement und Einfühlungsvermögen gleich nach der Wende der Aufgabe „Aufbau Bundeswehr Ost" widmeten.
Ausdrücklich verurteilt werden muß an dieser Stelle allerdings das soldatenunwürdige Verhalten einiger Offiziere, die in Kasernen der neuen Bundesländer eingesetzt werden und ihren Kameraden tagtäglich vorrechnen, welche Zuschläge sie für diesen Einsatz erhalten.Wir fordern deshalb, die Zahlung von hohen Sondervergütungen, auch „Buschgelder" genannt, möglichst bald einzustellen. Wegen der in den fünf neuen Ländern wirkenden Rahmenbedingungen zieht sich auch durch die Bundeswehr ein Riß, der die Soldaten deprimiert. Das birgt Zündstoff, der nicht durch Sonderzahlungen und Sondervergünstigungen entflammt werden darf. Verteidigungsminister Rühe irrte, als er bei einem Besuch in Halle erklärte, es gäbe keine Unterschiede zwischen Soldaten Ost und Soldaten West.Soldaten und Offiziere der neuen Länder erhalten nur 60 % des Westgehaltes — darüber brauchen wir uns nicht weiter zu unterhalten — und wesentlich geringere Ruhestandsgelder als ihre Kollegen im Westen.
Gleiche Bedingungen gibt es lediglich für verheiratete Wehrpflichtige in Ost und West, die sich durch hohe Miet- und Lebenshaltungskosten am Ende ihrer Wehrdienstzeit einem Schuldenberg von mehreren tausend Mark gegenübersehen, da Wehrsold und Mietbeihilfe völlig unzureichend sind.Wir von der SPD fordern deshalb eine baldige Verbesserung des Unterhaltssicherungsgesetzes und eine Erhöhung der Mietbeihilfe.
Zu einem weiteren Problem: Für viele der 6 000 Offiziere der NVA, die für drei Jahre auf Zeit — sozusagen auf Bewährung — in die Bundeswehr übernommen wurden, steht jetzt die Entscheidung der Übernahme oder Entlassung vor der Tür. Eine Entlassung erfolgt oft nur, weil keine Planstellen vorhanden sind. Hier müssen vom Verteidigungsministerium sozial verträgliche Regelungen geschaffen werden. Diese Offiziere dürfen jetzt, nach zwei Jahren, nicht denen gleichgestellt werden, die die Bundeswehr sofort verlassen haben oder gar nicht erst zur Bundeswehr gegangen sind.Unverständnis und große Verärgerung ruft bei den ehemaligen NVA-Offizieren auch die Regelung zur Anrechnung von Dienstzeiten auf die Rentenzeit hervor. Bei einem Rentenalter von 65 Jahren werden ihnen höchstens fünf Jahre NVA-Dienstzeit anerkannt. Der Ruhestand für Westoffiziere beginnt schon mit dem 53. Lebensjahr. Das bedeutet, daß ein Bundeswehroffizier Ost mit einem Ruhegehalt von 35 % seines ursprünglichen Gehaltes bis zu zwölf Jahren leben muß. Sein Kamerad im Westen erhält in gleicher Situation bis zu 75 %.Eine weitere Benachteiligung für Ostoffiziere ist die Anzahl der Heimfahrten. Ich habe erfahren, daß Westsoldaten monatlich vier Heimfahrten zustehen, Ostsoldaten aber nur zwei. Dies kann ich jedoch nicht mit 100 %iger Sicherheit sagen.
— Ja, ich möchte das als Frage im Raum stehenlassen.Diese Mißstände müssen schnellstens beseitigt werden, damit nicht — trotz aller Integrationsbemühungen — bei den Soldaten in den fünf neuen Ländern der Eindruck entsteht, sie seien Bürger zweiter Klasse.Noch einige Worte zu den Lebensbedingungen und dem Arbeitsalltag in den Kasernen der fünf neuen Länder: Obwohl Soldaten aus Ost und West dort täglich zusammenarbeiten, gibt es kaum private Kontakte in der Freizeit.Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Da angemessener Wohnraum in den neuen Ländern nur begrenzt zur Verfügung steht, bleibt die Familie des Westsoldaten oft im Westen. Den Ostsoldaten plagen in der
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9436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Gerhard Neumann
Freizeit zahlreiche private Probleme, z. B. das Ausfüllen der Steuererklärung, Geldsorgen, Wohnungs- und Grundstücksprobleme, so daß für weitergehende Kontakte oft keine Zeit bleibt. Auch dies ist ein sehr ungünstiger Zustand, der das Zusammenwachsen dieser beiden Teile nicht unbedingt befördert.Ein fehlendes Freizeitangebot in abgelegenen Standorten in den neuen Ländern sowie die mangelhafte Ausstattung der Offiziers- und Unteroffiziersheime führt dort außerdem verstärkt zu Alkoholmißbrauch; das ist schon gesagt worden.Verteidigungsminister Volker Rühe ist aufgefordert, auch für diese Kasernen ein sinnvolles Freizeitangebot zu schaffen und damit diese Mißstände zu beseitigen. Militärseelsorge allein kann wohl kaum als angemessenes Freizeitangebot gewertet werden.Die Dienstgestaltung in den neuen Ländern läßt ebenfalls zu wünschen übrig. Nach den Worten Alfred Biehles bestimmten Aufräumen, Bewachen und Abschieben des von der NVA übernommenen militärischen Materials im Berichtszeitraum den dienstlichen Alltag. Das hat sich nun hoffentlich geändert. Damals hörte man häufig die Frage: Wie soll ein Soldat unter solchen Umständen einen Sinn in seiner Arbeit erkennen? In der Übergangsphase war diese Arbeit notwendig. Jetzt aber müssen schnellstens Veränderungen eintreten.Die Politiker der Regierungsparteien müssen sich zudem vorwerfen lassen, den Soldaten der Bundeswehr nur unzureichende Zukunftsperspektiven anbieten zu können. Es herrscht Ungewißheit über die zukünftige Zielsetzung der Bundeswehr, ihr Einsatzgebiet, ihre endgültige Personalstärke.Die Bedeutung der Bundeswehr im Rahmen künftiger deutscher später auch europäischer — Sicherheitspolitik muß herausgearbeitet werden. Nicht der Soldat muß sich rechtfertigen; es ist die Aufgabe staatlicher Institutionen, vor allem Aufgabe von Regierung und Parlament, Sinn und Auftrag der Streitkräfte zu definieren.Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Ungewißheit in der Stationierungsplanung, dem Besoldungsgesetz, beim Personalabbau und in der Wohnungsfürsorge für Soldaten durch eindeutige Vorschläge zu beseitigen. Den Soldaten der Bundeswehr ist heute keine klare Lebensplanung möglich; das Vertrauen der Soldaten in die Führung ist angeschlagen. Diese bedauerliche Mängelliste ließe sich fortführen.Wir von der SPD haben bereits im November 1991 ein Truppenübungsplatzkonzept gefordert. — Damals war noch Herr Stoltenberg Minister, jetzt haben wir einen neuen. — Fast zwölf Monate später aber liegt es immer noch nicht vollständig vor.Die Vorschläge, die der Bundesverteidigungsminister hier vor zwei Wochen gemacht hat, können in dieser Form nicht akzeptiert werden. Sie bleiben korrekturbedürftig, weil sie die Bedürfnisse der Menschen in den neuen Ländern nicht berücksichtigen.
Die Forderungen des Bundesverteidigungsministeriums schaden dem Ansehen der Bundeswehr in den neuen Ländern.
Auch General von Scheven kommt zu dem Ergebnis, daß das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr in dieser Form zum Akzeptanzproblem wird.Die Flächenforderung von 140 000 Hektar ist für die Bürger in den neuen Ländern nicht nachvollziehbar, Zum Vergleich: In den Westbundesländern sind es bisher 148 000 Hektar für Bundeswehr und Alliierte. In den Flächenvorgaben im neuen Konzept sind die Standortübungsplätze noch nicht eingerechnet.Wie fehlgeleitet die Vorstellungen der Bundeswehrplaner sind, zeigt der Widerstand gegen das vorgelegte Konzept. Hier gibt es nicht nur Proteste der Bürgerinitiativen und Anliegergemeinden, selbst CDU-regierte Länder wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern kündigten ihren Widerstand an.
Wittstock, Letzinger Heide, Lübthen, aber auch Ohrdruf stehen weiter auf dem Prüfstand. Bedürfnisse der Bundeswehr dürfen nicht maximiert werden.Die Bürger in den neuen Ländern erwarten von der Hardthöhe einen Anflug von Verteilungsgerechtigkeit. Auch die Art und Weise, wie die Entscheidungen zur Übungsfläche fielen, hat dem Ansehen der Bundeswehr Ost Schaden zugefügt.So hatte z. B. das Erfurter Verteidigungsbezirkskommando für Mitte Juni für den Truppenübungsplatz Ohrdruf ein Lärmemissionsschießen angekündigt. Erst nach Auswertung der Messungen sollte eine endgültige Entscheidung über die weitere Nutzung des Platzes getroffen werden. Im Bonner Konzept aber befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon genaue Aussagen über geplante Schießbahnen. Ich kann Ihnen hier versichern: Keiner glaubt mehr an eine saubere Entscheidung über diesen Truppenübungsplatz.
Lassen Sie mich zu einem abschließenden Urteil kommen: Die oben aufgeführten Entwicklungen zeigen, daß trotz einiger positiver Ansätze auch die Bundeswehr in den neuen Ländern wohl noch eine Zeitlang geteilt bleiben wird. Wer darüber die Augen verschließt, ist blind. Ich kann damit leben, wenn wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren, dies zu verändern.Danke.
Meine Damen und Herren, als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich jetzt unserem Kollegen Paul Breuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Anfang — nicht deshalb, weil alle das getan haben, lieber Alfred Biehle, sondern deshalb, weil der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages und seine Mitarbeiter das
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Paul Breuerwirklich verdient haben — für die Fraktion der CDU/CSU ein ganz herzliches Dankeschön sagen.
Der Jahresbericht 1991 des Wehrbeauftragten, den wir heute debattieren, ist eine sachliche und konstruktive Bestandsaufnahme einer sich im tiefgreifendsten Wandel ihrer Geschichte befindlichen Bundeswehr. Mit welcher Tiefe sich dieser Wandel vollzieht, wird insbesondere an der Entwicklung in drei Bereichen deutlich: erstens im sich verändernden sicherheitspolitischen Umfeld, zweitens in der Umstrukturierung der Streitkräfte und drittens im Aufbau der Bundeswehr in den neuen Bundesländern.Der Zusammenbruch des Sozialismus, die Auflösung des Warschauer Pakts und das Auseinanderfallen der Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihre Folgen in der Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas haben ein politisches — insbesondere sicherheitspolitisches — Erdbeben ausgelöst.Meine Damen und Herren, bei aller Freude und Genugtuung darüber müssen wir heute nüchtern feststellen, daß der Weg zu einem friedlichen Gesamteuropa doch länger ist, als wir in der Hochstimmung der Jahre 1989 und 1990 anzuerkennen bereit waren. Die Gefahr neuer Krisen und Konfrontationen ist seitdem nicht kleiner, sie ist unüberschaubarer und zum Teil größer geworden. Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität der europäischen Staaten bedürfen daher weiterhin eines wirksamen europäischen Schutzes und eines Schutzes durch das NATO-Bündnis.
Bei allem feststellbaren Wandel des sicherheitspolitischen Umfeldes bleiben die Grundlagen unserer Außen- und Sicherheitspolitik deshalb unverändert. Unsere Verantwortung für die Schaffung und Bewahrung von Frieden und Freiheit in Europa und in der Welt ist gewachsen. Wir müssen deshalb zur Verteidigung unseres Landes und des Territoriums unserer Verbündeten weiterhin politisch willens und militärisch fähig sein.
Wir müssen weiter zur Verantwortung gegenüber der Völkergemeinschaft, gegenüber den Vereinten Nationen und gegenüber der KSZE bereit sein. Nur mit dieser Verantwortungsbereitschaft können wir unsere Interessen wahrnehmen.Im Interesse unserer Gesellschaft, aber insbesondere auf Grund unserer Verantwortung für die Angehörigen der Bundeswehr muß eine Sicherheitspolitik, die sich nicht am Tagesstreit und bloßer Geschäftigkeit orientiert, langfristig an dem Erhalt einer einsatz-und verteidigungsfähigen Bundeswehr ausgerichtet sein.
Freiheit und Sicherheit haben für die Bürger derBundesrepublik Deutschland höchsten Rang. Dasheißt, meine Damen und Herren, daß Freiheit undSicherheit für uns alle auch höchsten politischen Rang haben müssen. Der Umbruch in Europa hat auf absehbare Zeit eine existenzielle Bedrohung Deutschlands beseitigt. Die sicherheitspolitische Situation in Europa und weltweit ist jedoch weniger berechenbar. Eine mittel- oder gar langfristige Voraussage über die Sicherheitspolitik ist heute nicht möglich.Deutsche Sicherheitspolitik ist immer auch Bündnispolitik. In dieser Erkenntnis ist die Bundesrepublik Deutschland einer Reihe von Systemen kollektiver Sicherheit beigetreten, deren Ziel die Verteidigung von Frieden und Freiheit in Europa, der westlichen Demokratien und weltweit ist. In der Wahrnehmung dieser vertraglichen Verpflichtungen in den Systemen kollektiver Sicherheit kommen die Streitkräfte Deutschlands daher ihrer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zur Verteidigung nach. Umfang, Struktur, Ausbildung und Ausrüstung deutscher Streitkräfte müssen diesem Auftrag entsprechen.Meine Damen und Herren, zu Recht betont der Wehrbeauftragte die im Parlament getroffene Feststellung, daß der Primat der Politik auch durch die Politik künftig wieder sichtbarer und spürbarer werden muß. Es ist Aufgabe dieses Parlaments, sich dieser Verantwortung zu stellen. Die Gesellschaft — nicht der Soldat — muß sich rechtfertigen. Die Gesellschaft muß die Bundeswehr rechtfertigen, nicht der Soldat.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich eindeutig zu dieser Verantwortung.Aus dem Auftrag der Verfassung, einen Beitrag zu einer wirksamen Bündnisverteidigung und zu friedenserhaltenden und friedensschaffenden Maßnahmen im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme zu leisten, leitet sich die Aufgabe deutscher Streitkräfte ab, im Rahmen der bestehenden Fähigkeiten für die Bundesrepublik auf Anforderung der Vereinten Nationen Menschen und Material auch für humanitäre Hilfe innerhalb und außerhalb des Bündnisgebietes zur Verfügung zu stellen. Der Auftrag bedingt aber auch die Schaffung und den Erhalt der Fähigkeiten, deutsche Streitkräfte im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen für Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen zur Verfügung zu stellen.Vor dem Hintergrund der angestrebten Politischen Union Europas würde die Verweigerung der Solidarität zum Frieden die Europaunfähigkeit Deutschlands bedeuten. Die Verweigerung dieser Solidarität würde unser Land im Bündnis und weltweit isolieren.
Es ist deshalb unsere Überzeugung, daß hierfür eine inhaltliche Änderung des Grundgesetzes nicht erforderlich ist.
Gleichwohl, Herr Kollege Kolbow, werden wir uns einer verfassungspolitischen Klarstellung des Auftrages deutscher Streitkräfte nicht widersetzen, wenn dies zur Bildung eines gesellschaftspolitischen Konsenses im Sinne dieser Aufgabenbeschreibung bei-
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Paul Breuerträgt. Dabei dürfen wir die Möglichkeiten des Grundgesetzes allerdings nicht einschränken.Wenn Sie sagen, das stehe nicht im Bericht des Wehrbeauftragten, dann möchte ich Ihnen dazu sagen: Wenn der Wehrbeauftragte den Konsens fordert, dann muß man die Bedingungen darstellen, auf deren Basis der Konsens hergestellt werden kann.
— Sehr richtig, Herr Kollege Niggemeier.Meine Damen und Herren, die Bundeswehr steht nicht nur international vor großen Herausforderungen. Mit der notwendigen Reduzierung der Streitkräfte auf 370 000 Soldaten bis 1994 und der hierdurch bedingten Stationierungsentscheidung nach der deutschen Einheit kommt auf die Bundeswehr — wir haben heute mehrfach etwas dazu gehört — eine gewaltige Aufgabe zu.Die Bundeswehr der Zukunft ist die Bundeswehr der Einheit. Ein gewaltiges Zerstörungspotential in Gestalt des Materials der ehemaligen nationalen Volksarmee ist in Verschrottung begriffen oder wartet darauf — und alles ohne einen Schuß, ohne Blutvergießen, ohne Zerstörung und Vernichtung, ohne Sieger und Besiegte.
Dies ist ein nicht hoch genug einzuschätzender politischer Erfolg, meine Damen und Herren. Es ist auch ein Erfolg der Bundeswehr.
Die Bundeswehr hat im Zusammenwachsen von Ost und West Vorbildliches geleistet. Ich bin dankbar dafür, Herr Kollege Neumann, daß Sie soeben darauf eingegangen sind.Auf dem Weg zur inneren Einheit unseres Vaterlandes können wir hier allerdings — das will ich deutlich sagen — noch nicht stehenbleiben. Wir sind erst am Beginn des Weges der inneren Einheit. Wir haben ihn bei der Bundeswehr sicher schon etwas weiter beschritten als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, aber er ist längst nicht zu Ende. Dies gilt psychisch und materiell für die Soldaten innerhalb der Bundeswehr und für ihre Familien außerhalb der Bundeswehr.Nach dem 3. Oktober 1990 haben die Soldaten in den neuen Ländern Vorbildliches geleistet. Diese Haltung brauchen wir auch weiterhin. Business as usual ist nicht angesagt, meine Damen und Herren.
Ich möchte ein kurzes Wort zu der Diskussion über das Truppenübungsplatzkonzept von Verteidigungsminister Volker Rühe sagen.
Ich finde dieses Truppenübungsplatzkonzept ausgewogen, weil es auf die Bedürfnisse der Menschen auch in den neuen Ländern eingegangen ist. Herr Kollege Neumann, ich habe vorhin schon in einemZuruf gesagt, daß ich, wenn Sie sich gegen einzelne Teilbereiche wehren, Deckungsvorschläge erwarte. Sie wissen natürlich genau, daß hier Ihre Schwäche liegt. Es ist sehr leicht, den Bürgern zu sagen, ich unterstütze die Einrichtung eines Truppenübungsplatzes nicht, ohne gleichzeitig zu sagen, wo er denn angelegt werden soll.Wenn Sie Flächenbedarf vorrechnen, dann sollten Sie dazusagen, daß die Belastungen — das wissen Sie sehr genau — in Zukunft zu 80 % in den alten und zu 20 % in den neuen Ländern sein werden. Ich denke, hier ist eine faire Betrachtung geboten. Lieber Kollege Neumann, ich bin davon überzeugt — das weiß ich aus der Erfahrung mit Ihnen als hochgeschätztem Kollegen —, daß Sie zu dieser Fairneß fähig sind.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 12/2782 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei drei Stimmenthaltungen angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes
— Drucksache 12/3330 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Georg Janovsky.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses über die Notwendigkeit und den Erhalt einer wirksamen Landesverteidigung. Da dies das Prinzip der Verteidigungspolitik der CDU/CSU-Fraktion ist, fühlen wir uns den Wehrpflichtigen, d. h. den Grundwehrdienstleistenden, den Reservisten und den Zivildienstleistenden, besonders verpflichtet.Wehrpflichtige müssen ihre berufliche Laufbahn unterbrechen und erleiden finanzielle Einbußen. Wehrsold ist kein Lohn, sondern ein Taschengeld. Wehrpflichtige erbringen durch ihren Dienst ein Opfer für das Gemeinwohl, das wir hoch anerkennen und wofür wir danken.
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Georg JanovskyDeshalb — und weil im Mittelpunkt der CDU/CSUPolitik immer der Mensch steht — begrüßt meine Fraktion den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Wehrsoldgesetzes.Bereits im Mai dieses Jahres haben Verteidigungspolitiker der Union nach einer Sitzung ihrer Arbeitsgruppe in Berlin die Wehrsolderhöhung als ein dringliches Anliegen der CDU/CSU hervorgehoben. Mit dem Beschluß der Bundesregierung vom 12. Juli 1992, die Wehrsoldtagessätze für wehrpflichtige Grundwehrdienstleistende und Reservisten um einheitlich 2 DM ab 1. Oktober 1992 zu erhöhen,
hat das Kabinett dem entsprochen.
Demzufolge, lieber Kollege Kolbow, war Ihr Antrag vor der Sommerpause längst überholt und diente nur parteipolitischer Profilierungssucht.
Der heute diskutierte Gesetzentwurf geht noch darüber hinaus, indem auch das Weihnachtsgeld um 60 DM auf 450 DM angehoben wird. Weiterhin stellt dieser Entwurf durch die Änderung der Anspruchsvoraussetzungen für diese besonderen Zuwendungen sicher, daß jeder Grundwehrdienstleistende diese Zuwendung erhält. Denn nach der Verkürzung des Grundwehrdienstes auf 12 Monate waren die im November und am 1. Dezember Einberufenen ausgeschlossen, weil sie die Wartezeiten im Jahr der Einberufung nicht erreicht hatten und im Entlassungsjahr bereits vor dem Stichtag ausschieden.
Herr Kollege Janovsky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow?
Bitte, Herr Kollege Kolbow.
Da Sie gegenüber der Opposition den ungeheuerlichen Vorwurf erhoben haben, wir hätten einen Showantrag gestellt, frage ich Sie, wie Sie, Herr Kollege Janovsky, die gestrigen Ausführungen des Generalsekretärs der F.D.P. auf der Bundestagung des Bundeswehrverbandes für Wehrpflichtige kommentieren, wonach die späte Vorlage des Gesetzentwurfes zur Wehrsolderhöhung allein ein Versäumnis der Bundesregierung sei.
Herr Kollege Kolbow, ich kenne diese Aussage nicht, aber wir stehen zu unserem Wort. Wenn Sie meine Rede noch weiter verfolgen, werden Sie meinen Standpunkt dazu gleich erfahren.
Dies ist nun zugunsten der Grundwehrdienstleistenden, da in der Regel für Freitag, Samstag und Sonntag nicht einberufen wird, so geregelt, daß selbst dann, wenn der Einberufungstag ein Tag bis zum 4. Dezember ist, der Erhalt der besonderen Zuwendung sichergestellt ist.
Gut drei Jahre seit der letzten Wehrsolderhöhung ist eine lange Zeit. Trotzdem ist die ab dem 1. Oktober 1992 wirksam werdende Wehrsolderhöhung im Hinblick auf die insgesamt angespannte Finanzlage ein gutes Werk. Immerhin entstehen jährliche Mehrkosten in Höhe von mehr als 200 Millionen DM. Als Abgeordneter aus Sachsen freue ich mich besonders darüber, daß die Erhöhungen des Wehrsoldes und des Weihnachtsgeldes unseren Grundwehrdienstleistenden aus und in den neuen Bundesländern voll zugute kommen.
Ich halte es für wichtig, in diesem Zusammenhang nochmals darauf zu verweisen, daß Grundwehrdienstleistende in Ost und West seit gut einem Jahr gleichgestellt sind, d. h.: gleicher Wehrsold, gleiches Weihnachtsgeld und gleiches Entlassungsgeld. Von dieser Stelle danke ich den Kollegen des Haushaltsausschusses, die dazu beigetragen haben, daß die Wehrsolderhöhung zum 1. Oktober 1992 erfolgt und das Geld bereitsteht.
Meine Damen und Herren, trotz vieler Unkenrufe: Die Union hat zu ihrem Wort gestanden. Auf uns ist eben Verlaß!
Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Niggemeier.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Da schloß doch der Kollege Janovsky mit der überzeugenden Bemerkung: „Auf uns ist eben Verlaß!"
Dies hätte mich fast dazu veranlaßt, Beifall zu klatschen. Aber ich weiß es besser: Auf Sie und Ihr Kabinett ist in der Frage der Wehrsolderhöhung leider kein Verlaß; ebensowenig ist auf Sie Verlaß auf anderen Gebieten.
In der jüngeren Zeit
— ich sage Ihnen das gleich — haben wir den Wehrsold in einem Rhythmus von etwa drei Jahren erhöht. Die letzte Wehrsolderhöhung war im Juni 1989. Ich frage mich allen Ernstes: Warum gibt es eigentlich diesen verrückten Dreijahresrhythmus bei der Solderhöhung für Soldaten, von denen wir sagen, daß sie eine großartige Pflicht gegenüber unserer Gesellschaft erfüllen? Dagegen werden im öffentlichen Dienst die Einkommen vernünftigerweise Jahr für Jahr angehoben. Nur unsere Soldaten müssen drei Jahre auf die nächste Wehrsolderhöhung warten. Ich
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Horst Niggemeier
meine, dies ist eine gemeinsam überprüfungswürdige Angelegenheit.
— Das kann ich nicht so genau sagen, Frau Marienfeld. Wir beide sind zur gleichen Zeit ins Parlament gekommen.
Es ist prima, wenn es uns gelingt, Sie dazu anzuregen.
— Es ist zwar in unserer Fraktion noch nicht besprochen worden, aber nach meiner Auffassung bietet sich eine Dynamisierung des Wehrsolds für unsere Soldaten an, damit wir diese Diskussion, wie wir sie heute führen, nicht mehr führen müssen und nicht der eine Redner vom anderen sagt: Auf mich oder auf uns ist Verlaß.
Die Lebenshaltungskosten sind zwischenzeitlich dank der Preis- und Wirtschaftspolitik der Koalitionsfraktionen und der von ihnen gestellten Bundesregierung erheblich gestiegen. Besonders gestiegen ist der Benzinpreis. Das belastet die spärlich gefüllten Geldbeutel unserer Wehrpflichtigen sehr. Viele Grundwehrdienstleistende sind bei den Familienheimfahrten auf die Benutzung eines privaten Kraftfahrzeuges angewiesen, weil an vielen Standorten keine zumutbaren Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestehen. Deshalb geht diese kräftige Erhöhung der Mineralölsteuer besonders zu Lasten unserer Soldaten.
Herr Kollege Niggemeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Aber selbstverständlich!
Herr Kollege Niggemeier, wenn Sie auf die Erhöhung der Benzinpreise und insbesondere der Mineralölsteuer abstellen, ist Ihnen doch sicher bekannt, daß die SPD erheblich weitergehende Erhöhungen fordert. Wie stehen Sie dazu?
Herr Kollege Breuer, das ist eine gute Frage. Die von Ihnen gestellte Bundesregierung hat von 1989 bis heute die Mineralölsteuer zwischen 31 und 37 Pfennig pro Liter erhöht; das ist eine beachtliche Zahl. Diese Erhöhung diente dazu, Ihre Finanzpolitik zu kaschieren. Wenn wir die Mineralölsteuer erhöhen wollen, dann deshalb, um die ökologische Effizienzrevolution in Gang zu bringen.
Herr Kollege Niggemeier, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?
Aber gerne.
Bitte, Kollege Breuer.
Ich finde das sehr instruktiv. Können Sie denn erklären, was die ökologische Effizienzrevolution ist?
Diese ökologische Effizienzrevolution hat unser neuer umweltpolitischer Sprecher, Michael Müller, erst kürzlich in der „taz" verkündet, und ich nehme das sehr ernst. Genau deshalb wollen wir die Mineralölsteuer erhöhen. — — Sind Ihre Fragen jetzt ausreichend beantwortet?
— Okay.
Also, jetzt ist das mit der Mineralölsteuer klar; sie ist erhöht worden.
— Das kriegen wir nie klar? Frau Fischer, die ökologische Effizienzrevolution müßte auch Ihnen geläufig sein.Bisher war die Wehrpflicht in unserer Gesellschaft relativ unumstritten. Die Mehrheit der Bürger trägt diese Wehrpflicht mit. Ihre Akzeptanz hängt wesentlich von den sozialen und finanziellen Bedingungen ab, denen sich die Grundwehrdienstleistenden und Reservisten sowie deren Familien ausgesetzt sehen.Deshalb hat die SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuß im Rahmen der Haushaltsberatungen — jetzt kommt es, Herr Kollege Janovsky —
seit zwei Jahren strukturelle Verbesserungen beim Wehrsold gefordert. Diese Anträge wurden in den Vorjahren jeweils durch die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt.
Da sitzen die Herrschaften, die das gemacht haben.
Das, was ich hier vortrage, läßt sich also nachprüf en.
— Das werden die sicher gleich im Anschluß an meine Ausführungen erklären.Bereits im April 1991, meine Damen und Herren von der Koalition, wurde durch einen fraktionsübergreifenden Antrag von der Bundesregierung — auf die Regierung ist Verlaß, Herr Janovsky! —, eine „strukturelle Verbesserung des Wehrsolds" gefordert, wie es der Verteidigungsausschuß formuliert hat. Es sollte ein Bericht durch den Minister vorgelegt werden.Das Ergebnis wurde am 29. September 1991 dem Verteidigungsausschuß durch den damaligen Parlamentarischen Staatssekretär Ottfried Hennig — der jetzt als Oppositionsführer in Schleswig-Holstein sein Dasein fristet — dem Ausschuß mitgeteilt. Dies ist
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Horst Niggemeierganz wichtig zu hören — September 1991, Staatssekretär Henning aus dem Verteidigungsministerium —:Ich sehe zur Zeit keinen Handlungsbedarf für weitere Verbesserungen beim Wehrsold.Das war, wie gesagt, im Herbst 1991.
— Richtig, aber ein Jahr weiter, Herr Nolting, ohne daß die Wehrpflichtigen in den Genuß einer Wehrsolderhöhung gekommen wären, wie das bei allen anderen Beschäftigten in diesem deutschen Lande der Fall ist.
— Ich sage Ihnen, das ist eine ganz einfache Regelung: Wir dynamisieren den Wehrsold, und dann hat es sich.Dann kam der neue Verteidigungsminister Volker Rühe; auch das ist ein ganz interessanter Aspekt. Dieser kündigte im Mai 1992 — nachdem im September 1991 alles abgelehnt worden war — auf der Kommandeurstagung in Leipzig und in den Medien eine Initiative zur Erhöhung des Wehrsolds noch für das Jahr 1992 an.
Wie bereits erwähnt, war das sowohl von der SPD als auch dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages seit langem vergeblich gefordert worden.Wer bösartig ist
— das ist hier niemand; ich bin es auch nicht —, der könnte jetzt sagen, daß eine solche Art, Wehrsoldpolitik zu machen, eine Politik nach Gutsherrenart ist.
— Sehr gut. — Aber ich will einmal weiter denken, was er vielleicht sagen könnte. Wenn der neue Herr auf dem Rittergut ankommt,
dann tut er seinem Gesinde etwas Gutes. So hat das auch Rühe gemacht. Diese Rittergutsbesitzeraura könnte Rühe schnell loswerden, indem er beispielsweise unseren Vorschlag aufnimmt und dafür sorgt, daß wir durch ein vernünftiges Wehrsoldkonzept zu einer Dynamisierung kommen.Selbstverständlich sind wir — damit auch da keine Zweifel aufkommen — für die Erhöhung des Wehrsoldes, weil wir meinen, daß die Soldaten einschließlich der Zivildienstleistenden das schwächste Glied in derKette derer sind, die ihren Dienst für die Gesellschaft leisten.
-- Ganz einfach; ich nenne einmal ein Beispiel: Wir als Abgeordnete erfüllen unseren Dienst gegenüber dem deutschen Volk für 10 000 DM im Monat und der Soldat für 450 DM im Monat.
Das ist der kleine Unterschied, Herr Kollege Kolbow.
— Ja, so lustig sehen Sie jetzt auch aus.
— Natürlich, ich bin Major der Reserve.
Die jungen Männer, deren Wehrsold erhöht werden soll, werden sich natürlich sehr darüber freuen.Aber ich meine, wir sollten um der politischen Wahrheit und Klarheit willen auch deutlich machen, daß wir als Sozialdemokraten sehr lange dafür fighten mußten, daß es so weit gekommen ist. Ich denke, wir alle sollten uns in Zukunft ein bißchen stärker darum bemühen, daß solche Vorgänge, wie wir sie in der Vergangenheit im Hinblick auf den Wehrsold hatten, nicht wieder vorkommen. Immerhin, nach drei Jahren haben wir als Politiker eine Anpassung des Wehrsoldes an die gestiegenen Preise angeboten und versprochen. Das Kabinett und der Bundestag mußten damals nur zustimm en. Alle Zivildienstleistenden und Reservisten haben daran geglaubt, daß wir das tun würden. Aber das war leider nicht der Fall. Wie gesagt, im August 1992 stand alles noch auf des Messers Schneide. Inzwischen ist aber Gott sei Dank alles geregelt worden.
Ich hoffe sehr, daß wir uns in Zukunft etwas stärker darauf besinnen, daß wir parteitaktisches Vorteilsdenken, wie das gerade in der Wehrsoldfrage zum Ausdruck gekommen ist, zurückstellen können, indem wir gemeinsam, CDU/CSU, F.D.P. und SPD, darüber nachdenken, wie wir die Sicherheitspolitik und alles, was damit zusammenhängt, von parteitaktischen Überlegungen freihalten können. Wer mich kennt, weiß, daß ich sehr dafür bin, daß Sicherheitspolitik eine Angelegenheit des gesamten Deutschen Bundestages und nicht nur einer Partei ist.
Deswegen bitte ich darum, daß wir gemeinsam dafür sorgen, daß der Wehrsold erhöht wird.Schönen Dank.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Jürgen Koppelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach diesem Mineralölsteuerdebattenbeitrag unter Berücksichtigung der Gutsherren darf ich vielleicht auf das Thema Wehrsold zurückkommen.Nach der eben stattgefundenen Beratung über den Bericht des Wehrbeauftragten finde ich es gut, daß wir gleich eine Forderung des Wehrbeauftragten durch praktische Politik erfüllen. Ich meine den Hinweis in seinem Bericht auf die notwendige Erhöhung des Wehrsoldes. Ich begrüße es ausdrücklich, daß nachdem der Bericht veröffentlicht wurde, sowohl der Verteidigungsminister als auch die Koalitionsparteien sofort erklärt haben, daß sie selbstverständlich gewillt seien, in diesem Jahr den Wehrsold anzuheben.
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Wild entschlossen!)— So war es.In einem Entschließungsantrag haben wir — CDU/CSU, F.D.P. und auch die SPD — Anfang Juni im Verteidigungsausschuß die Bundesregierung aufgefordert, die Voraussetzungen für eine Wehrsolderhöhung um 2 DM pro Tag ab 1. Oktober 1992 zu schaffen. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung mit dem Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes nachgekommen.Ich will für die F.D.P. ausdrücklich begrüßen, daß wir bei unserer Forderung nach Erhöhung des Wehrsoldes den Bundesminister der Verteidigung von Anfang an auf unserer Seite hatten. Ich meine, diese Haltung verdient um so mehr Anerkennung, als in dieser Zeit, wo das Geld so knapp ist und im Haushalt Einsparungen vorgenommen werden müssen, immerhin — um nur eine Zahl zu nennen — für 1993 221,5 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt werden müssen. So ein Betrag ist, glaube ich, wohl kein Zuckerschlecken.
Auch die Erhöhung des Weihnachtsgeldes für Grundwehrdienstleistende um 60 DM auf 450 DM findet natürlich unsere volle Zustimmung. Es erfreut vor allem, Herr Staatssekretär, daß alle das Weihnachtsgeld erhalten, auch diejenigen, die im November oder Dezember einberufen werden.Damit machen wir, so glaube ich, deutlich, daß wir nicht nur bei Gelöbnisfeiern oder bei Sonntagsreden, Kollege Nieggemeier, den Grundwehrdienstleistenden unseren Dank und unsere Anerkennung aussprechen.
— Nein, das weiß ich; ich meinte die Sozialdemokraten. Die können auch Sonntagsreden halten; das machen wir ja auch.
Wir sprechen jedenfalls auch in dieser Form den Grundwehrdienstleistenden unseren Dank aus.
Uns allen ist klar, daß der Wehrsold bei weitem kein Ausgleich für entgangenes Einkommen oder geopferte Freizeit ist. Andererseits sind wir auch nicht der Auffassung, daß die Wehrpflichtigen die Sparkasse des Verteidigungshaushaltes darstellen sollen. Kollege Niggemeier, ich fand sehr gut, was Sie gesagt haben. Ich möchte Sie ausdrücklich in einem Punkt unterstützen. Ich finde, daß wir bei dieser Gelegenheit einmal darüber nachdenken sollten, ob wir vom bisherigen dreijährigen Rhythmus der Erhöhung des Wehrsoldes abkommen und zukünftig den Wehrsold vielleicht in kürzeren Zeitabständen erhöhen sollten. Das wird dann natürlich nicht in der Höhe sein, wie wir es jetzt vornehmen. Insgesamt sollten wir aber von dem dreijährigen Rhythmus abkommen.Ich habe bereits eingangs gesagt, die Koalitionsparteien und der Verteidigungsminister hätten deutlich gemacht, daß sie für eine Erhöhung des Wehrsoldes zum 1. Oktober dieses Jahres eintreten und eingetreten sind. Daran, meine ich, Kollege Kolbow, konnte es keinen Zweifel geben. Um so bedauerlicher fand ich es, daß die SPD es für notwendig erachtet hat, Unsicherheit und — das sage ich ausdrücklich — damit auch Parteienverdrossenheit bei den Wehrpflichtigen zu schüren.
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, Kollege Niggemeier und Kollege Kolbow!
Der Kollege Janovsky hatte vorhin recht, insofern will ich gerne ihm zur Seite stehen. Kollege Kolbow, Sie hatten in einer Erklärung vom 27. Juni behauptet, die Koalitionsparteien hätten in der Bundestagssitzung am 26. Juni einem Antrag der SPD auf Erhöhung des Wehrsoldes nicht zugestimmt.
Tatsache ist, daß es am 26. Juni über die Erhöhung des Wehrsoldes gar keine Abstimmung gegeben hat.
Der Antrag der SPD, am 26. Juni gestellt, wurde nach unserer Geschäftsordnung auf die nächste Sitzungswoche verwiesen.
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Jürgen KoppelinUnd jetzt steht in meinem Protokoll — Sie können es wirklich nachlesen —: Frage des Kollegen Kolbow. Bitte schön.
Herr Kollege Koppelin, ich bedanke mich. Das Wort zu einer Zwischenfrage hat der Kollege Kolbow.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. Jetzt muß ich Sie auch fragen, ob Sie bereit sind, Ihren Generalsekretär zu fragen, ob er auf der von mir schon zitierten Wehrpflichtigentagung des Deutschen Bundeswehrverbandes dann zu Unrecht die Bundesregierung der Verzögerung bei der Wehrsolderhöhung gezeitigt hat.
Der Generalsekretär kommt gerade aufs Stichwort durch die Tür. Sie können ihn nachher selbst fragen. Ich will aber die Frage in meiner Form beantworten und hoffe, diese Antwort ist dann eindeutig. Ich hatte mir ja aufgeschrieben, daß von Ihnen eine Zwischenfrage kommt. Wie Ihre Darstellung zu deuten ist, hat der Kollege Heistermann sehr deutlich gemacht. Er hat es nämlich überhaupt nicht begriffen. Leider ist er heute nicht hier, aber ich muß einmal die Presseerklärung des Kollegen Heistermann vom 12. August zitieren. Kollege Heistermann sagt:
Freilich lehnten die Regierungsparteien CDU/CSU und F.D.P. noch in der letzten Sitzungswoche vor der parlamentarischen Sommerpause einen entsprechenden Antrag der SPD im Bundestag ab.
Das stimmt meines Erachtens nicht. Das stimmt überhaupt nicht.
Jetzt sage ich noch etwas, was wie ein Bumerang auf die SPD zurückkommt. Sie können sich wieder setzen!
Der Kollege Heistermann hat gesagt:
Nach diesem parteipolitischen Taktieren braucht man sich nicht mehr über die Politikverdrossenheit unserer Bürger und insbesondere der jungen Leute zu wundern.
Hier gebe ich ihm vollkommen recht; nach diesem Taktieren braucht man sich wirklich nicht mehr zu wundern.
Herr Kollege Koppelin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow? — Bitte, Kollege Kolbow.
Darf ich Sie zunächst fragen, Herr Kollege, ob Sie in Ihrem Manuskript eine weitere Zwischenfrage von mir aufgeführt haben.
Nein, das habe ich nicht, aber ich habe damit gerechnet.
Wenn Sie damit gerechnet haben, will ich Sie nicht enttäuschen, Herr Kollege. Glauben Sie das, was Sie gerade gesagt haben?
Ich weiß nicht, was für Sie „glauben" heißt. Glauben heißt ja normalerweise: nicht wissen. Ich bin von dem überzeugt, was ich hier sage.
— Er hat schon danach gefragt; ich war auf weitere Fragen eingestellt.
Was wollte ich damit sagen? Deswegen habe ich das auch zitiert, Herr Kollege Kolbow. Als Parlamentarier, der zum erstenmal in den Bundestag gekommen ist, war ich darüber enttäuscht, daß Sie nicht darauf bestanden haben, daß über Ihren Antrag abgestimmt wird. Inzwischen bin ich aber etwas klüger geworden. Sie hatten überhaupt kein Interesse daran, über Ihren Antrag abstimmen zu lassen, weil Sie ganz genau wußten, daß die Koalition und der Verteidigungsminister ihr gegebenes Wort halten würden. Das wußten Sie ganz genau; deswegen haben Sie auch auf eine Abstimmung in der darauffolgenden Sitzungswoche überhaupt keinen Wert gelegt, obwohl Sie das Recht dazu gehabt hätten.
Mit dem jetzt vorgelegten Entwurf zur Änderung des Wehrsoldgesetzes lösen wir trotz damit verbundener jährlicher Mehrkosten in Millionenhöhe unser gegebenes Versprechen ein. Die Wehrpflichtigen in der Bundeswehr wissen also, daß die Koalition und das Ministerium zu ihrem Wort stehen.
Meine Damen und Herren! Für die F.D.P.-Fraktion spreche ich allen unseren Wehrpflichtigen in der Bundeswehr den Dank für ihren Dienst aus. Uns ist klar, daß weitere Verbesserungen für die Grundwehrdienstleistenden notwendig sind. Wir, die F.D.P., sind bereit, an Verbesserungen mitzuarbeiten. Die Koalition insgesamt ist gewillt, das zu tun. Wir laden die Sozialdemokraten herzlich dazu ein, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten. Dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Vera Wollenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem konstruktiven Ende des letzten Redebeitrages und dem Angebot, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man über den heutigen Gesetzentwurf hinaus noch mehr für die Wehrpflichtigen tun kann, möchte ich gleich einmal einen konstruktiven Vorschlag
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9444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Vera Wollenbergermachen und daran erinnern, daß unsere Vorgänger, DIE GRÜNEN im Bundestag, regelmäßig beantragt haben, den Wehrsold doch mindestens dem Sozialhilfesatz im Westen anzugleichen. Dies würde bedeuten, daß der Wehrsold jetzt auf mindestens 507 DM festgelegt werden müßte. Dabei ist das immer noch zuwenig; denn der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert bereits eine Mindestsicherung von 770 DM.Ich frage Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Wenn Sie so glühende Verfechter der Wehrpflicht sind und wenn Sie hier des langen und des breiten über die schwere Pflicht unserer Vaterlandsverteidiger reden, was hindert Sie eigentlich daran, diese jungen Menschen mit einer Mindestsicherung zu versehen, die allen anderen Bürgern zusteht?
Frau Kollegin Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer? — Bitte, Herr Kollege Breuer.
Frau Kollegin Wollenberger, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Unterschied zwischen einem Wehrdienstleistenden und einem Sozialhilfeempfänger darin besteht, daß der Sozialhilfeempfänger seinen gesamten Lebensunterhalt, inklusive Kleidung und Nahrung, davon bestreiten muß, wohingegen der Wehrpflichtige zusätzliche Einkünfte durch alle möglichen Leistungen hat? Ich denke, wir sollten sehr deutlich sehen, daß hier erhebliche Unterschiede bestehen.
Ich bin mir dieser Unterschiede wohl bewußt. Wir alle haben aber den Bericht des Wehrbeauftragten gelesen, der mehrere Beispiele dafür gebracht hat, wie sich junge Wehrpflichtige verschulden müssen, um ihren Lebensstandard während der Wehrdienstzeit zu halten. Angesichts der Wehrungerechtigkeit, die von allen Parteien zugegeben wird, denke ich, sollte man diesen Zustand ändern und vor allem diesen jungen Wehrpflichtigen helfen, daß sie nicht mit Schulden aus dem Wehrdienst ausscheiden.
Ich habe jetzt gerade gemerkt, daß ich in der Beantwortung Ihrer Frage einigermaßen das ausgeführt habe, was ich ohnehin sagen wollte. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir wollen eine Angleichung des Wehrsoldes mindestens an den Sozialhilfesatz; nach oben sind aber keine Grenzen gesetzt. Ich hoffe sehr, daß Sie sich unseren Vorschlägen anschließen werden. Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, nunmehr erteile ich das Wort unserem Kollegen, dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Bernd Wilz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, daß die Debatte eindeutig gezeigt hat, daß sich der Bundesminister der Verteidigung aktiv und rechtzeitig um eine Wehrsolderhöhung und die Anhebung des Weihnachtsgeldes bemüht hat, und dies mit Erfolg.
Kollege Niggemeier, ich will hier gar nicht differenzieren.
Entscheidend ist, daß wir zum Erfolg gekommen sind; das sollte man herausstellen.Die politische Leitung des Bundesministeriums hat schon in der Haushaltsdebatte dargestellt, daß die Bundesregierung der Sorge um die Menschen in der Bundeswehr Vorrang gibt. Dabei bedürfen die Grundwehrdienstleistenden unserer besonderen Aufmerksamkeit. Darin werden Sie mir zustimmen, Kollege Kolbow. Die überwältigende Mehrheit des Deutschen Bundestages sagt ja zur Wehrpflicht. Dieses Ja bedeutet, daß wir uns um die Wehrpflichtigen kümmern müssen. Wehrdienst in der Bundeswehr ist Dienst an unserem Volk. Das verlangt neben guter Ausrüstung und fordernder Dienstgestaltung auch angemessene finanzielle Zuwendungen. Ich bin mir wohl bewußt, daß der Dienst, den unsere Wehrpflichtigen in den Streitkräften leisten, mit dem Wehrsold und den Unterhaltsleistungen nur teilweise abgegolten wird. Um so wichtiger muß es für Parlament und Regierung sein, unseren jungen Soldaten zukommen zu lassen, was immer möglich ist.In einer Zeit, da der Staat sparen muß, fallen finanzielle Erhöhungen generell nicht leicht. Bei den Wehrpflichtigen haben wir jedoch ein Gebot, das höherwertig ist, nämlich das Gebot, Wehr- und Dienstgerechtigkeit zu verwirklichen. Frau Kollegin Wollenberger, ich darf darauf hinweisen: Wir haben Wehrgerechtigkeit. Diejenigen, die wehrtauglich sind und keiner gesetzlichen Ausnahme unterliegen, dienen heute schon zu 97 %, und zwar über 50 % in der Bundeswehr und die anderen bei Polizei, BGS, Zivildienst, Freiwilliger Feuerwehr oder in anderen Bereichen. Aber das Gebot der Dienstgerechtigkeit verlangt, jeden, der dienen kann, zum Wehrdienst oder zu einem anderen gleichwertigen Gemeinschaftsdienst heranzuziehen, und jeden, der dient, sozial so zu stellen, daß er gegenüber dem, der aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht dienen kann, nach Möglichkeit nicht benachteiligt ist.Ich darf ferner darauf hinweisen, daß wir den Wehrsold seit 1984 nunmehr zum drittenmal erhöhen. Wir haben dies gerade 1989 in einer überaus deutlichen Weise getan. Damals sind wir weit über eine Dynamisierung hinausgegangen. Insofern haben wir den Wehrpflichtigen eine große Hilfe zuteil werden lassen.Ich darf auch darauf hinweisen, daß wir, als es darum ging, von W 15 auf W 18 zu gehen,
die Abfindung von 1 170 DM im Jahre 1990 auf 2 500 DM erhöht haben. Wir haben es bei dieser Erhöhung auf 2 500 DM belassen, obwohl wir die Dauer des Wehrdienstes auf 12 Monate beschränkt haben. Ich glaube, das macht deutlich, wie wichtig uns
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9445
Parl. Staatssekretär Bernd Wilzdie Unterstützung unserer Wehrpflichtigen jetzt und auch in Zukunft ist.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf folgen wir der bewährten Linie der Bundesregierung, daß die Aufwendungen für den Menschen Vorrang vor der materiellen Ausstattung der Streitkräfte haben müssen. Diese Politik ist gerade bei einem Sparhaushalt von besonderer Bedeutung. Mit der angestrebten Wehrsolderhöhung werden wir in die Lage versetzt, unseren jungen Soldaten, die einen so wichtigen und dabei nicht einfachen Dienst an unserem Volk leisten, ein Zeichen für unsere Anerkennung zu geben.Mein besonderer Dank gilt heute allen Kolleginnen und Kollegen im Hause, die sich mit der politischen Führung des BMVg um die Verbesserung der Lage unserer Wehrpflichtigen bemüht haben. Um Ihrer aller Unterstützung für die Belange der Bundeswehr bitte ich auch in Zukunft, denn ich glaube, unsere Wehrpflichtigen haben dies wahrlich verdient.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3330 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle dem Herrn Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern noch einmal dafür danken, daß sie auch bei der Beratung dieses Tagesordnungspunktes noch anwesend waren. Es gab ja, wie der Kollege Koppelin dargelegt hat, einige weitführende Äußerungen zum Thema Wehrsold, von der Mineralölsteuer bis zu anderen Dingen.
Vielleicht kann man das mit beherzigen.
Ich rufe nun Punkt 9 der Tagesordnung auf:
— Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Marschewski, Horst Eylmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Detlef Kleinert , Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verkürzung der Juristenausbildung
— Drucksache 12/2280 —
— Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Deutschen Richtergesetzes
— Drucksache 12/2507 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/3337 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Dr. Eckhart Pick
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. Inzwischen ist mir mitgeteilt worden, daß die vorgesehenen Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. Das ist eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Ich bitte um Zustimmung. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen *).
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Verkürzung der Juristenausbildung auf den Drucksachen 12/2280 und 12/3337. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten jetzt in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 12/2507 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch das ist einstimmig so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Angelika Barbe, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einrichtung eines Gedenkortes für Walter Benjamin in Port Bou
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Freimut Duve das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen heute abend sehr kurz mit allseits gutem Willen eine Sache besprechen, die schon einmal auf einem sehr guten Weg war, auf diesem Weg dann ins Stolpern gekommen ist und die wir nun hoffentlich gemeinsam wieder hinkriegen.*) Anlage 2
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9446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Freimut DuveEs ist eine Angelegenheit, die vom Auswärtigen Amt befürwortet wird, für die der Bundespräsident Interesse bekundet hat, die unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Außenministers Genscher stand und für die sich der jetzige Außenminister Kinkel engagiert. Dafür sollten schon einmal, nämlich 1991, Finanzmittel in den Haushalt eingestellt werden, was dann aber an den erhobenen Augenbrauen der Rechnungsprüfer gescheitert ist. Wir sind eigentlich hier heute zusammengekommen, um zu verhindern, daß die Sache scheitert.Worum geht es? Es geht um eine Gedenkstätte, die an jenem Nadelöhr der Hoffnung, aber auch der Verzweiflung eingerichtet werden soll, durch das Tausende von Flüchtlingen des Nazi-Terrors gegangen sind. Einer von ihnen ist in diesem Nadelöhr hängengeblieben. Er hat sich in Port Bou das Leben genommen. Es war Walter Benjamin.Ich will nur einen Satz von ihm zitieren, den er 1922 als Schlußsatz seines wunderbaren Buchs über Goethes „Wahlverwandtschaften" geschrieben hat:Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.Damit schließt er seinen Essay.Port Bou ist sicher auch ein Symbol für das, was in diesem Satz zum Ausdruck kommt: Viele wollten dorthin. Vielen, vielen ist es nicht gelungen. Walter Benjamin liegt dort begraben.Die Vorgespräche mit der spanischen Regierung, mit der katalanischen Regierung, mit der Gemeinde, mit dem israelischen Bildhauer Dani Karavan sind geführt worden. Das Projekt selber ist an vielen Orten in Europa ausgestellt worden. Nicht nur die deutschen, auch andere europäische Feuilletons haben über diese Anlage eines solchen Gedenkortes — es geht nicht um ein Denkmal — geschrieben und zunächst mit Verblüffung, nachher aber mit ungläubigem Staunen festgestellt, daß dieses Projekt zwischen Bundestag und Bundesregierung zerrieben worden ist.Wir haben einen Antrag eingebracht und hoffen, daß wir bis nächste Woche zu einer Form gelangen, in der das zustande kommen kann. Ich freue mich sehr und bin dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg dankbar, der zugestanden hat, daß 200 000 DM für dieses Projekt aus dem baden-württembergischen Haushalt aufgebracht werden. Ich denke, schon dadurch gerät auch der Bund in ein gewisses Obligo.Ich finde es außerordentlich interessant, daß die F.D.P.-Fraktion sehr engagiert gesagt hat: Und wenn wir nicht alles Geld beschaffen können, dann müssen wir sehen, wie wir es aus eigener Kraft aufbringen. Das geht sicher nicht nur mit Beiträgen von Abgeordneten, wie es in Ihrer Erklärung steht. Aber vielleicht ist das dann das dritte Element für dieses Projekt.Wenn wir das schaffen und vielleicht bis nächsten Mittwoch noch das vierte Element prüfen, nämlich den Gedenkstättenetat des Innenministers — dort gibt es ja inzwischen ein Programm, das, wie ich meine, dem Ansinnen dieser Gedenkstätte in Port Bou entspricht —, dann können wir die Sache glücklich zu Ende bringen. Daß wir als Sozialdemokraten das wollen, ist auch der Grund dafür, warum ich so friedlich und ohne jeden Zorn, obwohl es Anlaß zum Zorn gibt, hier überhaupt nicht mit der Bundesregierung ins Gericht gegangen bin, obgleich es Anlaß dazu gibt.Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte sehr, daß wir es noch schaffen.
Das Wort hat unser Kollege Dr. Volkmar Köhler.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es noch im Ohr, daß wir heute nachmittag hier eine Debatte geführt haben, zu der man Bertolt Brecht zitieren könnte: „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu." Deswegen haben wir allen Grund, mit großem Ernst zu betonen, daß das, was an Austreibung von Intelligenz und kritischem Denken in diesem Land einmal geschehen ist, nicht vergessen werden darf und weiterhin von jedem Einsichtigen als eine der abscheulichsten Taten in diesem Jahrhundert und in diesem Lande eindeutig erkannt werden muß.
Ich glaube, wir haben gerade an diesem Tag deswegen Grund, die Frage eines Gedenkortes für Walter Benjamin unter diesem Gesichtspunkt zu diskutieren. Die Bedeutung von Walter Benjamin bedarf hier keiner Diskussion.Es bedarf vielleicht einer Erinnerung daran, wie verzweifelt ein solches menschliches Schicksal gewesen sein muß. Es bedarf auch der Erinnerung daran, daß wir hier nicht über einen noch so beklagenswerten einzelnen Menschen sprechen. Er steht für eine ganze Gruppe, die wegen ihrer Einstellung und ihres Denkens, aber auch wegen ihrer Rasse verfolgt wurde.All dies, meine ich, erlaubt es uns nicht, nach dem beklagenswerten Verlauf dieser ganzen Projektdiskussion zur Tagesordnung überzugehen.
Ich habe deshalb als Vorsitzender des Unterausschusses Auswärtige Kulturpolitik dem Arbeitskreis selbständiger kultureller Institutionen im Einvernehmen mit den Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit gegeben, uns die Geschichte und das Wesen dieses Projektes vorzutragen, und habe die Fraktionen gebeten, aus diesem Vortrag ihre Folgerungen zu ziehen. So beraten wir heute über diesen Antrag.Die Vorgeschichte hat schlimme Züge. Wir brauchen uns nicht über die Qualitäten des entwerfenden Künstlers, Dani Karavan, zu unterhalten. Sein Ansehen ist in der Kunstwelt eindeutig definiert. Aber man darf mit solchen Leuten auch nicht in der Form
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9447
Dr. Volkmar Köhler
umgehen, daß man sie arbeiten läßt und eines Tages sagt: Und nun hat es uns leid getan.Es wäre z. B. interessant, sich darüber zu unterhalten, welche Verpflichtungen hier entstanden sind. Ich weigere mich auf Grund meiner ganzen Erfahrung auf diesem Gebiet, jemanden in diese Arbeit hineinzuschicken, ohne daß man eine Verpflichtung für die Anerkennung der geleisteten intellektuellen und auch physischen Arbeit akzeptiert. Das heißt aber auf deutsch: So ganz ohne Kosten kommt man sowieso nicht davon.
Das zweite. Hier sind Gutachten in Umlauf gesetzt und Presseveröffentlichungen verfaßt worden, die der Sache schon deshalb nicht gerecht werden, weil sie unwahr und falsch sind.
Wir können uns nicht einfach der dadurch erzeugten Stimmung beugen, denn dann würden wir uns dem Unwahren und dem Falschen beugen. Ich sehe es nicht als eine Möglichkeit für uns an, das zu tun.Es gibt in der Tat Probleme. Dieses Parlament hat. nicht zu vertreten, daß in gutem Glauben schon so weit gearbeitet wurde. Erst danach kam die Situation, Herr Staatsminister, in der unter dem Druck der öffentlichen Meinung und angesichts einer immer engeren Finanzierungslage unsere Haushälter glaubten, nein sagen zu müssen. Sie fühlten sich auch jetzt, als Herr Minister Kinkel versuchte, die Angelegenheit wieder in Gang zu bringen, nicht in der Lage, das jetzt einfach schnell durch Draufsatteln zu bewilligen.Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß „ins allen, auch denjenigen — und das sind ja letzten Endes auch alle —, die für die in dieser Situation dringend gebotene Sparsamkeit verantwortlich sind, von der Summe her etwas zugemutet wird. Vielleicht hätte man, würde man heute zu planen anfangen, eine andere Größenordnung wählen müssen. Aber dies ist geschehen und nicht ungeschehen zu machen.In der Situation bleibt nur noch eines übrig. Wir sollten uns in den nächsten Tagen — das ist mein Ruf an den Innenausschuß wie an die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses sowie der Unterausschüsse — zusammensetzen und versuchen, unsere Phantasie zu strapazieren, um eine Lösung zu finden. Es ist uns dadurch ein Stück leichter gemacht worden, daß wir diese gute Nachricht aus Baden-Württemberg gehört haben, von der ich hoffe, daß sie zutrifft. Vielleicht ist es auch möglich, noch Spenden zu mobilisieren, obwohl wir das nicht als Hauptausweg betrachten dürfen. Vielleicht ist es möglich, noch anderes zu prüfen, etwa den Europäischen Kulturfonds, und zu versuchen, im Zusammenhang mit dem Gesamtvolumen des Gedenkstättenprogramms, in dem ja die verschiedensten Dinge, von den Gedenkstätten in Auschwitz bis zur Erhaltung der sowjetischen Kriegerdenkmäler, gefördert werden, den richtigen Weg und die richtigen Gewichtungen zu finden.Meine Fraktion weiß, daß meine Kollegin, Frau Professor Wisniewski, hier heute sprechen wollte, um diesen Vorschlag seitens der Innenpolitiker zu machen. Ich bin Frau Wisniewski außerordentlich dankbar, daß sie sozusagen das Erstgeburtsrecht des Unterausschusses Auswärtige Kulturpolitik anerkannt hat, mit dem Ziel, nichts unversucht zu lassen, was eine gemeinsame Anstrengung möglich macht.Ich bitte auch die Beamten der involvierten Ministerien — das betrifft nach diesem Vorgang nicht mehr allein das Außenministerium —, noch einmal zu versuchen, phantasievoll an das Projekt heranzugehen.Nirgendwo steht geschrieben, daß diese Summe in einem Jahr fällig sein muß. Nirgendwo steht geschrieben, daß sie nicht auch von anderer Seite unterstützt werden kann, wenn wir richtig darum bitten. Das alles sollten wir versuchen.Allerdings muß auch klar sein: Nach einem Vorlauf über mehrere Jahre können wir dem Künstler nicht mehr zumuten, seinen Entwurf zu verstümmeln oder unwesentlich zu machen. Das geht nicht.
Dann wäre ein klares Wort richtiger. Aber nach meiner Ansicht haben wir noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft. Wir sollten uns nicht mit Blick auf den Haushalt vor der Bedeutung dieses Themas drükken.Ich weiß, daß in diesem Moment jeder sagt, wir brauchen jeden Pfennig für die neuen Bundesländer, und ich bin ganz gewiß bereit, das zu akzeptieren. Aber ich erinnere a ach dai an, daß die alte Bundestepublik mit der moralischen und materiellen Wiedergutmachung nicht bis zu dem Tag gewartet hat, an dem bei uns im Lande alle Probleme gelöst waren; vielmehr haben wir im ersten Moment, als wir dies tun konnten, nicht nur die äußeren Eirichtungen dieses Landes repariert, sondern wir haben mich alles getan, um die Wunden, die dieses Land in seiner Seele trägt, zu reparieren.Deswegen haben wir die Pflicht, in den nächsten Tagen alles Mögliche zu tun, um diese Angelegenheit aus dem Raum herauszuholen, in dem letzten Endes uns, dem Parlament, obwohl wir erst relativ spät in die Sache hineingekommen sind, ein Versagen vorgeworfen würde. Dies können wir uns als Parlament nicht leisten, wenn wir heute der Intoleranz, der Gewalttätigkeit, der Bedrohung Andersdenkender und Andersseiender mit der Entschiedenheit entgegentreten, die heute nachmittag hier geäußert wurde.Ich danke Ihnen.
Der nächste Redner ist unser Kollege Gerhard Schüßler. Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder Versuch, der Persönlichkeit Walter Benjamins und der Symbolkraft seines Schicksals in 30 Minuten Bundestagsdebatte gerecht zu werden, ist zum Scheitern verurteilt.
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9448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Gerhard SchüßlerSo sehr ich es begrüße, daß seine mit der Geistesgeschichte dieses Jahrhunderts aufs engste verbundene Ideenwelt durch diese Debatte noch einmal sehr nachdrücklich in Erinnerung gerufen wird, so sehr bedauere ich den Anlaß, auf den die Kollegen Duve und Köhler schon hingewiesen haben.Diese Debatte wäre unter den gegebenen Vorzeichen eigentlich nicht notwendig gewesen; denn wir streiten uns doch wohl nicht darüber, ob dieser Repräsentant deutscher Geistesgeschichte, der in seiner Person die Widersprüche deutschen Denkens und das Leid, das Deutschen von ihresgleichen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts angetan wurde, beispielhaft darstellt; wir streiten uns doch nicht über ein angemessenes Denkmal am Orte seines Leidens und Freitodes.Ich meine, einer würdigen Gedenkstätte für Walter Benjamin kann aus deutschem Geschichts- und Kulturverständnis und als Mahnung für künftige Generationen nur mit vollem Herzen zugestimmt werden.Wer die kläglichen und erniedrigenden Bedingungen der Flucht deutscher, namentlich jüdischer Intellektueller vor den Nazigreueln kennt, vermag zu ermessen, was heute in Flüchtlingen vorgeht. Wieder müssen Menschen unter Verfolgungs- oder Kriegsdruck bei Nacht und Nebel ihre Heimat verlassen. Auch damals gab es Schlepper und Fluchthilfeorganisationen, die den Weg über die grüne Grenze wiesen. Dabei gab es auch Geschäftemacher und dubiose Organisationen, die den Verfolgten die Taschen leerten.Heinrich, Nelly und Golo Mann, Alma Mahler und Franz Werfel war die Flucht gelungen, wo Walter Benjamin zunächst die körperlichen und dann die seelischen Kräfte verließen.Was hat das deutsche Volk sich angetan, daß es diese Menschen vertrieben oder zerstört hat?Doch auch ein anderer Gesichtspunkt sollte uns beim Ernst dieser Debatte aus diesem Anlaß leiten: Wie teuer muß ein Monument sein, um der Würde des Ereignisses, um der Person des Geehrten gerecht zu werden? Hätte Walter Benjamin selbst, dem jegliche Ruhmessucht und jegliches Renommieren persönlichkeitsfremd waren, nur das Teuerste und Beste, nur ein Mahnmal vom Feinsten für sich in Anspruch genommen, er, der ein letztes verschollenes Manuskript in einer schäbigen Aktentasche durch die Weinberge der Pyrenäen trug?
Kann der israelische Künstler Dani Karavan, können alle Beteiligten nicht davon überzeugt werden, sich noch einmal zusammenzusetzen, um einigermaßen akzeptable Bedingungen für eine angemessene Gedenkstätte zu finden? Dem Vernehmen nach — der Hinweis auf das Land Baden-Württemberg ist schon gegeben worden — gibt es hier auch schon Vorüberlegungen, die nach meiner Überzeugung in die richtige Richtung weisen.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich die Einrichtung einer Gedenkstätte zu Ehren und zum Gedächtnis Walter Benjamins.
Um die Grabstätte von Walter Benjamin in einen würdigen, angemessenen Zustand zu versetzen, treten wir neben der notwendigen öffentlichen Bezuschussung für eine private Spendenaktion zur baldigen Realisierung dieses Vorhabens ein. Bis heute mittag haben bereits zahlreiche Mitglieder der F.D.P.-Fraktion eine persönliche Geldspende geleistet. Es handelte sich heute mittag um einen Betrag von 5 000 DM. Ich gehe davon aus, daß sich das noch erheblich verstärken wird.
So möchten wir die Mitglieder der anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen und Gruppen sowie alle Bürger, Unternehmen und Verbände ebenfalls auffordern, sich an diesem Projekt zu beteiligen und so zu dokumentieren, daß die Gedenkstätte Walter Benjamins breite Unterstützung in der deutschen Bevölkerung findet. Es ist eine alte Erfahrung, daß privates Engagement vieler Bürger viel eindringlicher deutlich macht, daß sich deutsche Landsleute für eine würdige Gestaltung der Gedenkstätte auch persönlich einsetzen.Wie gesagt, diese Debatte hätte nicht stattfinden müssen. Den Beteiligten soll ein individueller Vorwurf gar nicht gemacht werden. Aber ersparen wir uns die Blamage einer längeren und fruchtlosen, aufs höchste mißverständlichen Kontroverse über dieses Thema! Die Umstände des Todes von Walter Benjamin werden sich wohl nie in allen Einzelheiten klären lassen, so kurz vor dem Ziel der Freiheit, wie er in Port Bou stand. Aber ein klares Wort zur Gestaltung des Gedenkorts ist nötig, und zwar bald. Ich hoffe, daß uns das gemeinsam gelingen wird.
Ich erteile unserer Kollegin Frau Angela Stachowa das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Walter Benjamin war einer der wenigen Großen. Ihm und seinem Gedenken gegenüber haben wir eine bleibende Verpflichtung.So der Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Schirmherr des Internationalen Benjamin-Kongresses in Osnabrück, im Juni dieses Jahres.Um so trauriger, ärgerlicher, beschämender ist es, daß sich der Deutsche Bundestag heute mit dem Problem der Einrichtung eines Gedenkortes für Walter Benjamin befassen muß. Warum mußte diese Frage zu einer höchstpolitischen werden, die den Bundestag beschäftigt? Ich kann nicht daran glauben, daß es jemanden in diesem Saal gibt, der ernsthafte Bedenken gegen die Einrichtung eines solchen Gedenkorts in Port Bou hat.
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Angela StachowaIch persönlich unterstütze diesen Antrag auf Errichtung einer Stätte, die einem Mann zum Gedenken geschaffen werden soll, der auf der Flucht vor einem unmenschlichen System war, der Rettung erhoffte, der das Ziel schon vor Augen hatte, der fest glaubte und darum kämpfte, den faschistischen Schergen zu entgehen, und zum Schluß an einer unmenschlich gehandhabten Ausreisepolitik verzweifelte. Für ihn war in dieser Situation der Tod der einzige Ausweg.Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, welche Desinformationskampagne, gepaart mit gewissenloser Infamie einiger Journalisten, zu diesem heutigen Tagesordnungspunkt geführt hat. Ich kann aber nicht umhin, anzumerken, daß sich dahinter auch eine— freundlich gesagt — Fehlleistung des Auswärtigen Amts verbirgt. Diese Blamage reiht sich würdig in Entscheidungen ein, die mit der Absage der Durchführung der Menschenrechtskonferenz einen Höhepunkt fanden.
— Doch.Die Erinnerung an Leben und Tod von Walter Benjamin veranlaßt mich zu einer Bezugnahme auf heute. Jeder Freitod eines Menschen ist ein Tod zuviel. Ich verzweifle eigentlich, wenn ich mir vorstelle, daß in unserer heutigen Welt Menschen ein solches Schicksal erleiden. Es sind nicht wenige, die heute auf der Flucht sind, auf der Flucht vor Unmenschlichkeit, vor Diskriminierung, vor Terror, vor Hunger, und die nichts anderes wollen als ein menschenwürdiges Dasein, oft sogar nur einfach überleben wollen.Ich würde mir wünschen, daß die Erinnerung an die Schicksale vieler deutscher Emigranten in der Zeit des Faschismus auch heute bei der Diskussion um die Handhabung des Asylrechtes in Deutschland Berücksichtigung fände.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sehr wohltuend, daß heute abend der Tonfall der Reden — bis auf die Rede der Vertreterin der PDS, die eine gewisse Polemik hereingebracht hat — übereinstimmend deutlich gemacht hat, wie sehr uns daran liegt, diese Frage zu lösen.
Es geht hier ja um mehr als nur um eine Gedenkstätte. Es geht auch darum, ein Zeichen zu setzen. Es geht darum, daß mit dem Schicksal von Walter Benjamin natürlich auch das Schicksal all der Emigranten angesprochen wird, die Deutschland verlassen mußten und die wie er zwar ins Ausland gelangt sind, Herr Kollege Schüßler, aber sich dort das Leben genommen haben, etwa Stefan Zweig. Sie sind an der nationalsozialistischen Realität verzweifelt und haben befürchtet, daß dieses Regime seine Siege fortsetzt. Das muß man sehen.
Viele von ihnen haben ihre Sprache in den Ländern, in denen sie gelebt haben, nicht so in den Dienst eines Kunstwerks stellen können, wie es zu Hause möglich war, weil sie in diesen Ländern sehr häufig keinerlei kulturelle Reaktion erfuhren, es sei denn, sie waren damals schon so berühmt wie Thomas Mann.
Ich muß aber noch einmal den Hergang der ganzen Geschichte klären, damit hier nicht falsche Vorstellungen im Raum bleiben. Ich will versuchen, mich sehr kurz zu fassen. Es ist — das ist vorhin von Herrn Köhler auch zu Recht gesagt worden -- schon seit 1985 das Bemühen des Auswärtigen Amtes gewesen, in Port Bou eine Gedenkstätte zu ermöglichen. 1991 ist, wie Sie wissen, nach verschiedenen Anregungen von Künstlern und auch des Bundespräsidenten ein Projektentwurf des israelischen Künstlers Dani Karavan in Höhe von 980 000 DM nach eingehenden Prüfungen unter Beteiligung des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau als eine vielversprechende und anspruchsvolle Lösung aufgegriffen worden.
Das Auswärtige Amt hat nun für den Haushalt 1992 die zusätzliche Einstellung der genannten Summe zur Verwirklichung des Projektes beantragt. Frau Kollegin, hier können sie nicht von einer Fehlleistung des Auswärtigen Amtes sprechen, wenn dann im Haushaltsausschuß am 16. Dezember 1991 die Berichterstatter die Finanzierung der hohen Kosten des Projekts einstimmig abgelehnt haben, und zwar — das darf man hier bitte nicht übersehen —, nachdem der Bundesrechnungshof in derselben Sitzung nachdrücklich Einwendungen gegen die finanzielle Dimension dieses Denkmales gemacht hatte. Genehmigt wurden vom Haushaltsausschuß damals 60 000 DM für die Errichtung einer Gedenktafel in Port Bou.
Gleichwohl hat sich das Auswärtige Amt — auch das haben Herr Duve und Herr Köhler richtig dargestellt — bemüht, diese Summe noch einmal für 1993 einzustellen. Es hat auch den Versuch gegeben, auf die AsKI — das ist die Künstlergemeinschaft, der Herr Karavan angehört — einzuwirken, die Projektkosten zu senken. Das ist von diesem Arbeitskreis abgelehnt worden. Es blieb bei der Summe, die ursprünglich von Herrn Karavan und dem Arbeitskreis benannt worden ist.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Ich habe eine sehr kurze Redezeit, Herr Duve. Aber wenn Sie es wollen: ja.
Ich möchte Ihnen von Ihrer Redezeit überhaupt nichts wegnehmen; und es wird Ihnen tatsächlich nichts weggenommen. Aber ich finde, es ist der Sache und dem gemeinsamen Bemühen doch nicht so angemessen, wenn wir jetzt hier Bälle zwischen Parlament und Regierung hin- und herschieben.
Ist das eine Frage oder eine Feststellung? Sie haben doch schon gesprochen.
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9450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992
Es ist eine dramatische, für uns alle sehr peinliche Angelegenheit, und wir sollten uns jetzt gemeinsam bemühen, daß wir das zustande bringen.
Herr Kollege, Sie stellen keine Frage, wenn ich das feststellen darf; Sie haben jetzt mehrere Sätze gesprochen.
Herr Kollege Duve, Sie müssen fragen. Sie haben nicht gefragt. — Herr Staatsminister, fahren Sie bitte fort.
Ich komme auf Ihre Vorschläge zurück. Aber wir müssen hier noch einmal verdeutlichen, wie diese Geschichte entstanden ist, damit Vorwürfe, die ja schon ausgesprochen worden sind, nicht im Raume bleiben und falsche Anschuldigungen, die in der Presse zu lesen waren, nicht unbeantwortet bleiben. Es wurde ja auf das angebliche Versagen des Auswärtigen Amtes hingewiesen. Sie werden mir erlauben, das zurechtzurücken.
Ich darf in dem Zusammenhang darauf zurückkommen, daß der Bundesrechnungshof zweimal ganz erhebliche Einwendungen erhoben hat, was dazu geführt hat, daß der Haushaltsausschuß nicht beschließen konnte, die vorgesehene Summe zu zahlen.
Es ist inzwischen — auch das wurde nicht erwähnt — seitens des Auswärtigen Amtes in Port Bou eine Benjamin-Gedenkausstellung initiiert und durchgeführt worden; Kostenpunkt 180 000 DM. Es ist also nicht so, als ob überhaupt nichts getan worden sei.
Ich muß nun sagen, daß der Bundesaußenminister immer wieder öffentlich deutlich gemacht hat, daß ihm sehr daran liegt, daß wir eine Lösung finden, nach Möglichkeit die vorgeschlagene, also das Projekt des israelischen Bildhauers. Aber auch beim letzten Gespräch Herr Duve, Sie haben selber darauf hingewiesen — am 8. September haben die Berichterstatter mit Ausnahme eines einzigen ihre Meinung nicht geändert.
Es geht jetzt aber wirklich darum — ich bin sehr dankbar, Herr Köhler und Herr Duve und Herr Schüßler, daß Sie das hier angeregt haben, ganz zu schweigen von der Initiative meines Fraktionsvorsitzenden —, von der typisch deutschen Betrachtungsweise wegzukommen, daß alles, aber auch alles, was in irgendeiner Weise kulturell wichtig ist, vom Staat finanziert werden muß und ausschließlich vom Staat finanziert werden kann, statt gelegentlich auch an die zu appellieren, die in diesem Lande sicher bereit wären, durch Spenden dazu beizutragen, daß angesichts der ungeheuren Belastungen dieses Haushalts, von dem wir nun dauernd sprechen und mit dem wir dauernd beschäftigt sind, vielleicht auch gemeinsame Anstrengungen dazu führen, die Gedenkstätte doch zu bauen. Genau das, Herr Duve, haben Sie und Herr Köhler hier vorgeschlagen. Ich greife diesen Vorschlag deshalb sehr gern auf.
Lassen Sie uns möglichst schnell zusammenkommen, um konkret zu sehen, inwieweit bei den in
Betracht kommenden Ministerien die Bereitschaft dazu besteht. Herr Duve, Sie haben einen Vorschlag gemacht. Wir wissen inzwischen auch, daß ein Bundesland schon bereit gewesen ist, im Blick auf die viel diskutierte Subsidiarität 200 000 DM zur Verfügung zu stellen. Ich würde vorschlagen, daß auch einige alte Bundesländer auf die Idee kommen, es Baden-Württemberg gleichzutun und dem Bund und dem Bundeshaushalt dadurch eine gewisse Entlastung zuteil werden zu lassen, damit wir gemeinsam mit unseren Spenden — ich bin bereit, mitzuwirken; vielleicht ist es auch die SPD-Fraktion; die CDU/CSU-Fraktion ist es sicher — eine Lösung finden, die jeden Geruch von Peinlichkeit vermeidet und das, was vorgesehen war, doch noch ermöglicht.
Vielen Dank.
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes habe ich den Kolleginnen und Kollegen der SPD meinen Dank dafür abzustatten, daß sie durch ihren Antrag für die Einrichtung eines Gedenkortes für Walter Benjamin in Port Bou dem Deutschen Bundestag die Gelegenheit geben, der heute in so vielen Worten zur Extremismusdebatte geäußerten Entschlossenheit alsbald eine Tat folgen zu lassen. Ich möchte mit allem Nachdruck für die Annahme dieses Antrages durch das Hohe Haus werben und dafür drei Gründe benennen.Walter Benjamin war ein Flüchtling. Er ist in Port Bou aus Verzweiflung darüber gestorben, daß er abgewiesen wurde und fürchten mußte, den ihn verfolgenden Nazis in die Hände zu fallen.Walter Benjamin war derjenige unter den deutschen Publizisten, der durch seine Briefsammlung „Deutsche Menschen" in den 30er Jahren dokumentiert hat, daß es in Deutschland Leute gab, die wußten, was Menschen sind und was Menschlichkeit ist — im Gegensatz zu vielen, die für deutsche Sprache und deutsches Denken Verantwortung trugen und durch ihr ständiges Reden von deutscher Seele und deutschem Geist etwas ganz anderes dokumentierten, nämlich das, worüber schon Hölderlin verzweifelt war: daß es in Deutschland nur Deutsche gäbe, aber keine Menschen.Walter Benjamin war — drittens —Jude. Als solcher trug er in seiner Tasche, als er der spanischen Grenze zustrebte, jene Thesen über den Begriff der Geschichte, die die erste deutsche Aufklärung, die mit Lessings Thesen zur Erziehung des Menschengeschlechts begann, abschlossen; ein lebendiges Zeugnis dafür, daß ohne den Anteil des Judentums, von Moses Mendelssohn bis zu Hermann Cohen, Aufklärung in deutschen Landen nicht möglich war.
Walter Benjamin war Jude. Der Deutsche Bundestag — das möchte ich nun doch sagen dürfen, Herr Staatsminister; ich hoffe, daß wir da übereinstimmen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9451
Dr. Wolfgang Ullmann— und auch die deutschen Länder sollten dokumentieren, daß sie an der Seite derer stehen, deren Grabsteine in den letzten Wochen und Tagen geschändet worden sind.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/3039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entbindung ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes von der ihnen auf erlegten Schweigepflicht
— Drucksache 12/2071 — Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß Rechtsausschuß
Im Ältestenrat war eine Aussprache von fünf Minuten vereinbart worden. Ich sehe keinen Widerspruch, daß wir diese Aussprache nicht stattfinden lassen, sondern die Reden zu Protokoll nehmen.
— Dann ist das so beschlossen.* )
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2071 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. — Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Oktober 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.