Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit einem Maßnahmenkatalog zur Förderung des Osthandels der Unternehmen in den neuen Bundesländern befaßt hat. Ich erinnere noch einmal an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an diese Thematik auch zu anderen Bereichen Fragen gestellt werden können.
Das Wort zum einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann. Herr Bundesminister, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundeskabinett hat ein Maßnahmenpaket beschlossen, das die gesamte Absatzproblematik behandelt. Es besteht aus drei Elementen.Erstens aus einem Sofortprogramm der Treuhandanstalt zur Umstrukturierung und Modernisierung der Unternehmen. Das bedeutet Identifizierung der auf Westmärkte umstellungsfähigen Unternehmen und eine Entwicklung marktgerechter Umstrukturierungskonzepte. Das bedeutet Ausschöpfen aller Möglichkeiten einer schnellen Privatisierung, auch die Entwicklung zusätzlicher Privatisierungsmodelle. Das bedeutet, die Umstrukturierung sanierungsfähiger Unternehmen soll durch ein spezifisches Programm flankiert werden. Bei geeignetem Management soll die Umstrukturierung in Eigenverantwortung der Unternehmensleistungen erfolgen. Das bedeutet vor allem eine stärkere aktive Sanierung, die notwendige Erhaltung und Umstrukturierung industrieller Kernbereiche, vor allem im Maschinenbau, und größere Flexibilität bei den schwieriger werdenden Privatisierungen.Zweitens. Alle Möglichkeiten werden ausgeschöpft, um kurzfristig Aufträge aus den GUS-Republiken und den mittel- und osteuropäischen Reformländern zu sichern und langfristig Perspektiven zu schaffen. Das schließt die Fortführung des HermesInstrumentariums ein. Der 5-Milliarden-Plafond, der derzeit mit 3,2 Milliarden in Anspruch genommen worden ist, soll möglichst bald vollständig ausgeschöpft werden. Wir werden dann im Einzelfall über Deckungen entscheiden, und zwar nach unserer wirtschaftlichen Interessenlage und nicht nach irgendwelchen Prioritätenlisten der Abnehmerseite. Wir werden also auch die Beschäftigungssituation in den Betrieben der neuen Bundesländer zum Kriterium machen.Wichtig ist die Erweiterung des Hermes-Instrumentariums auf Kompensations- und Bartergeschäfte. Wir werden auch versuchen, die Einnahmen aus Rohstoffvorkommen für unsere Handelsbeziehungen zu nutzen. Dazu sind wir aber auf die Bereitschaft der GUS-Staaten angewiesen. Ostdeutschen Unternehmen werden zinsverbilligte Kredite der KfW für ostdeutsche Lieferungen, für Infrastrukturprojekte bzw. Projekte der industriellen Modernisierung in den GUS- oder MOE-Staaten ausgereicht. Wir sind bei all diesen Maßnahmen natürlich auf die Mitwirkung unserer Partner in diesen Ländern angewiesen. Ich werde dies in der nächsten Woche bei meinen Gesprächen in Moskau deutlich machen, und ich gehe davon aus, daß wir dann eine Reihe bestehender Schwierigkeiten abbauen können.Drittens unterstützen wir die Absatzmöglichkeiten auf den heimischen Märkten sowie den Westmärkten. Primär soll die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an Ostunternehmen privilegiert werden. Unter anderem werden dazu die Vergaberessorts des Bundes ihre Auftragsvergabe für die im Osten verfügbaren Produkte möglichst für die nächsten zwei Jahre verdoppeln. Dabei sind wir aber auch auf die Mitwirkung der Vergabestellen von Ländern und Kommunen angewiesen. Wir erwarten, daß die alten Bundesländer ihre bisherige Ablehnung aufgeben, die Präferenzregeln, die wir für die neuen Bundesländer geschaffen haben, zu übernehmen. Selbstverständlich werden wir darüber hinaus weiterhin bestehende Exportförderungsinstrumentarien ausbauen.Ich glaube, Herr Präsident, daß dieses Paket unsere Bemühungen, den Absatz der Unternehmungen in den neuen Bundesländern zu unterstützen, nicht nur in geeigneter Weise verdeutlicht, sondern auch konkretisiert.
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9050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Vielen Dank, Herr Bundesminister. Die erste Frage ist mir schon schriftlich übermittelt worden. Herr Kollege Jork, bitte.
Herr Bundesminister, eine Frage, bezogen auf die Finanzierbarkeit der Leistungen, die vor allem die neuen Bundesländer für die Staaten der GUS erbringen sollen: Sehen Sie Möglichkeiten, die Verfügbarkeit von Rohstoffen in der GUS als Alternative für Hermes-Kredite zu nutzen? Das war ja ein Gedanke, der zur Diskussion steht.
Wir wollen die Gespräche mit den Regierungen der entsprechenden Länder noch einmal darauf bringen — wir haben das schon mehrfach getan —, daß es natürlich im beiderseitigen Interesse ist, die vorhandenen Rohstoffvorkommen stärker zu nutzen und auch zu Vereinbarungen zu kommen, die dazu führen, daß, auf welchem Weg auch immer, die dabei erzielten Einnahmen dann auch für Bestellungen und Bezahlungen von Lieferungen aus Unternehmungen der neuen Länder genutzt werden. Über Abwicklungsformen will ich mich jetzt hier nicht auslassen, aber das Ziel ist damit angestrebt.
Eine generelle Festlegung Rußlands, Kasachstans und anderer Staaten der GUS darauf, daß sie die Erlöse aus ihren Rohstoffverkäufen nur noch oder primär für Käufe in den neuen Bundesländern verwenden, wird man wohl nicht erreichen können; denn wir haben uns ja ganz absichtsvoll von politischen Preisen gelöst. Man schaut sich natürlich in diesen Ländern auf dem Weltmarkt um. Aber auf der anderen Seite meine ich, daß der Vertrauensschutz, den wir durch die Hermes-Sonderkonditionen gewährt haben, eine Zweibahnstraße markiert, und deswegen sollte man schon die Chance haben, zu Einvernehmen zu kommen. Die Tatsache, daß jetzt die Gespräche über dieses Thema wieder eine — sagen wir — konkretere Richtung nehmen, macht mich da auch zuversichtlich.
Möchten Sie noch eine Zusatzfrage stellen?
Ja, danke schön.
Ich habe gehört, daß es entsprechende Vereinbarungen z. B. zwischen Frankreich und Rußland geben soll. Sehen Sie in diesem Zusammenhang, daß wir unter einem gewissen Handlungs- und Zeitdruck stehen, und gibt es Möglichkeiten, diese Nutzbarmachung von Rohstoffen im Sinne der Bezahlung von Leistungen in der nächsten Zeit besonders zu forcieren?
Nun, es gibt ja Gespräche zwischen Firmenkonsortien, auch bundesdeutschen Firmenkonsortien, und entsprechenden Stellen z. B. in Rußland. Das betrifft nicht nur die Verbesserung der Förderkapazitäten. Es geht auch um die Vermeidung von Transportverlusten, die zum Teil beträchtliche Dimensionen angenommen haben. Hier haben wir die entsprechende technologische Leistungsfähigkeit anzubieten. Wenn es zu solchen Vereinbarungen kommt,
entsteht dabei natürlich auch eine entsprechende Verbesserung der Einnahmesituation. Wir hoffen, daß damit dann auch das Potential für Käufe in den neuen Bundesländern und für die Begleichung von Rechnungen steigt. Wir legen schon Wert darauf, daß die solchermaßen erzielten Devisen auch zu einem interessanten Anteil in den neuen Bundesländern angelegt werden.
Herr Kollege, wir können andererseits nicht die Marktwirtschaft und deren Einführung auch in den GUS- und MOE-Ländern propagieren, uns aber sofort, wenn es schwierig wird, von deren Regeln lösen. Deswegen wird man wohl auf diesem Weg nur einen Teil der Probleme lösen können.
Danke.
Herr Kollege Schwanitz.
Herr Minister, Sie sind vorhin auch darauf eingegangen, daß das Kabinett beschlossen hat, Barter-Geschäfte zu fördern. Meine Frage geht dahin: Es gibt ja sicherlich eine Bedarfsgröße von ostdeutschen Betrieben, die Erwartungen in diese Förderung setzen. Welche Überlegungen gibt es im Kabinett, hier eine Prioritätensetzung vorzunehmen? Spielen hier auch strukturpolitische Fragen eine entsprechende Rolle?
Alles das, was wir heute in diesem Paket beraten haben, dreht sich im speziellen doch um unsere Absicht, unseren politischen Willen, die industriellen Kernbereiche in den neuen Bundesländern zu erhalten. Dabei wenden wir ein Instrumenten-Mixed an, das wir an anderer Stelle nicht anwenden würden, ganz einfach, weil sonst eine auch von den Menschen zu ertragende Umstrukturierung nicht zu erreichen ist.
Man kann nicht definieren, wie groß das finanzielle Volumen ist, das hier in Rede steht. Wir wissen nur, daß derzeit bei den Unternehmungen, die bisher überwiegend von Ostaufträgen gelebt haben, mehr als 200 000 Arbeitsplätze in Gefahr kämen, wenn die Handelsbeziehungen zu den früheren Partnern vollständig wegbrechen würden. Diese Anstrengungen sind notwendig, damit das nicht eintritt.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Kann ich davon ausgehen, daß bei dieser Auswahlproblematik, die zweifelsohne ansteht, auch eine entsprechende Mitwirkung der neuen Bundesländer möglich sein wird?
Bei den Einzelentscheidungen über HermesFälle trifft die entsprechende Festlegung der interministerielle Ausschuß. Aber Sie können davon ausgehen, daß wir das gesamte Thema der Sanierung, der Erhaltung industrieller Kerne in engster Abstimmung mit den Landesregierungen und in diesem Fall speziell mit den Wirtschaftsministern der neuen Bundesländer beraten.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9051
Die nächste Frage, Herr Kollege Müntefering.
Herr Minister, ich beziehe mich auf Ihren zweiten Punkt, die Ostmärkte; das hat etwas mit der Unterstützung von Verhandlungen zu tun, aber sicher auch mit Geld. Können Sie den Ansatz quantifizieren, wieviel die Bundesregierung in diesem Jahr und in den nächsten Jahren — auch die Frage: wie lange? — für diese Zwecke einzusetzen gedenkt? Was kann das für die Zahl der Arbeitsplätze bedeuten? Sie sprachen eben von den 200 000 gefährdeten. Wie sehen Sie da die Quantitäten?
Das kann man verantwortlicherweise nicht tun, Herr Kollege Müntefering. Ich müßte hier jetzt erstens die notwendigen Anstrengungen im von mir angesprochenen Programm der Treuhandanstalt aufrechnen; das wird sich von Firma zu Firma unterschiedlich darstellen. Ich müßte zweitens über die voraussichtliche Inanspruchnahme des Hermes-Plafonds und über die voraussichtliche Schadensquote spekulieren.
Ich will nicht darüber spekulieren, weil ich im Blick auf die beiden zuvor gestellten Fragen doch hoffe, daß wir sowohl über das Instrument der Absicherung von BarterGeschäften sowie vor allem auch über die stärkere Nutzung der Einnahmen aus Rohstoffverkäufen Schadensfälle weitestgehend vermeiden. Wenn wir von der Annahme sicheren Verlustes ausgehen würden, könnten wir an sich das Hermes-Instrumentarium nicht weiter nutzen.
Eine Zusatzfrage.
Darf ich trotzdem noch einmal nachfragen, ob Sie davon ausgehen, daß dieses ein einmaliger, ein starker Impuls ist, der da gesucht wird, oder ob das eine mittelfristige Konzeption ist, auf die Sie sich einlassen und die Sie in den nächsten Jahren eventuell noch verstärken wollen?
Welche Branchen — wenn Sie das noch mit beantworten können — sehen Sie in besonderer Weise positiv von den Bemühungen betroffen?
Es ist bekannt, daß insbesondere im Bereich Maschinenbau — und zwar alle Orientierungen des Maschinenbaus — eine besondere Abhängigkeit von Antriebsmotoren über Landmaschinen bis zu Textilmaschinen besteht. Aber ich möchte noch einmal sagen: Ich will keine Quantifizierung vornehmen. Daß es sich bei dem, was wir hier heute beraten haben, um Anstrengungen handelt, die sicher mittelfristig notwendig sein werden, weil eine Umorientierung auf westliche Märkte so kurzfristig gar nicht erfolgen kann, ist klar.
Ich habe, Herr Kollege Müntefering, heute nicht — und wir haben das heute nicht beraten — über die notwendigen Anstrengungen der westlichen Staatengemeinschaft gesprochen, unseren östlichen Nachbarn Rückendeckung bei der Überwindung ihrer wirtschaftlichen Probleme zu geben. Denn die Wiederbelebungen dieser Märkte, die nicht auf Dauer abgeschrieben werden dürfen, ist natürlich die sicherste Gewähr dafür, daß dann auch wieder traditionelle
Lieferbeziehungen angeknüpft werden können. Das heißt — eine kleine Einschränkung will ich machen —, traditionell nicht in dem Sinne, daß man an Beziehungen anknüpft, weil sie vorher bestanden haben; vielmehr müssen die Beziehungen mit neuem Inhalt gefüllt werden, das heißt konkret, auch mit neuen Produktqualitäten.
Herr Kollege Dr. Thalheim, die nächste Frage.
Herr Bundesminister, welchen Instrumentariums will sich die Bundesregierung bei der Wiederbelebung des Osthandels — wie Sie das nennen — bedienen? Ist geplant, Osthandelsgesellschaften zu gründen und sie stärker in diesen ganzen Prozeß zu involvieren?
Herr Kollege, ich hatte versucht, das Instrumentarium in meinen Eingangsbemerkungen zu beschreiben. Die Tatsache, daß alles im Fluß ist, auch der Besuch dieser Veranstaltung, hat wahrscheinlich damit zu tun, daß ich gebeten werde, das noch einmal darzustellen.
Vielleicht so viel dazu: Die von Ihnen angesprochenen Handelsgesellschaften brauchen wir nicht zu gründen; private Handelsgesellschaften gibt es. Dort, wo mit Handel Geld zu verdienen ist, engagieren sie sich auch. Wir möchten die Handelsgesellschaften, so stark es eben geht, ausdrücklich in dieses Geschäft mit einbeziehen; aber staatliche Gesellschaften brauchen wir da nicht.
Herr Bundesminister, herzlichen Dank. Im übrigen ist es ja, wie Sie wissen, in der Politik kein Novum, daß Fragen nach etwas gestellt werden, was bereits behandelt worden ist, weil der Fragesteller ein bißchen spät dran war.
Das lag wahrscheinlich mehr daran, daß ich zu früh da war.
Das müßte ich jetzt weiter kommentieren. — Vielen Dank, Herr Minister.
Ich frage die Kolleginnen und Kollegen, ob Fragen zu anderen Themenbereichen an die Regierung gestellt werden. — Bitte sehr!
Trifft es zu, daß heute im Kabinett Fragen behandelt worden sind, die die Abschiebung von Roma aus Rumänien betreffen, daß in diesem Zusammenhang größere Einheiten der Polizei und des Bundesgrenzschutzes für dieses Wochenende mobilisiert wurden und daß es sich um etwa 30 000 Personen handeln soll?
Herr Kollege, das ist nicht behandelt worden.
Bitte!
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9052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Trifft es zu, daß in der Kabinettsrunde heute auch Fragen behandelt worden sind zur Finanzierung von Altlasten in den neuen Bundesländern, insbesondere die Frage der Beteiligung der Länder und des Bundes dabei, und, wenn ja, was ist dort beschlossen worden?
Herr Bundesminister!
Im Gegensatz zur vorherigen Frage kann diese Frage mit Ja beantwortet werden. Wir haben uns mit der Situation in der ostdeutschen Braunkohlenindustrie beschäftigt, also mit den Privatisierungsbemühungen für Mibrag und Laubag. Dabei spielt ja u. a. die Frage der Altlasten eine beträchtliche Rolle. Ich möchte, Herr Präsident, folgende Bemerkungen dazu machen:
Erstens. Wir sehen, daß die notwendige Privatisierung, für die es Bewerber und Interessenten gibt, an einigen Punkten hängt, nicht nur an dem ausstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Klage der Kommunen zum Stromversorgungsvertrag, sondern auch daran, daß die betroffenen drei Bundesländer — Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg — noch keine rechtliche und politische Klarheit über die notwendige Nutzungsdauer der Braunkohlentagebaue geschaffen haben. Milliardeninvestitionen in diesem Bereich werden nicht erfolgen, wenn nicht klar ist, daß man auch eine hinreichende Nutzungsdauer hat.
Darüber hinaus ist die Frage der Aufteilung der Altlasten noch nicht geklärt. Darüber hat es gestern eine weitere Verhandlungsrunde mit den drei betroffenen Bundesländern gegeben. Morgen folgt, da man sich nicht geeinigt hat, eine weitere. In der Runde, die am Montag beim Bundeskanzler mit den Vertretern der neuen Länder, den Ministerpräsidenten und den Repräsentanten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, stattfinden wird, soll dann nach Möglichkeit das Ergebnis festgelegt werden. Ich halte es für zwingend geboten, daß in dieser Altlastenproblematik, die manches an Investitionen hemmt, jetzt schon Einigungen erfolgen. Dabei wird man bei sogenannten Großprojekten sicher von Fall zu Fall auch andere Anteile der Übernahme der Kosten zwischen Bund und Ländern festlegen als bei der Altlastenproblematik im allgemeinen.
Ich bedauere, Ihnen das jetzt nicht mit Quoten vortragen zu können oder gar in DM-Beträgen, weil, wie ich beschrieben habe, ein Verhandlungsprozeß im Gange ist, und während der Verhandlungen will man ja die Karten auch nicht völlig auf den Tisch legen.
Frau Kollegin Zapf, bitte.
Ich wüßte gern, ob sich die Bundesregierung in ihrer Kabinettssitzung mit einem Vorfall beschäftigt hat, der in der vergangenen Woche durch die Zeitungen ging, wo sich ein Bundeswehrkommandeur über mögliche Einsatzoptionen der Bundeswehr ausgelassen hat. Ich wüßte gern, wie die Bundesregierung zu den dort genannten Einsatzoptionen Bekämpfung von internationalem Terrorismus und Drogenhandel — —
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Wollen wir vielleicht zunächst einmal feststellen, ob sich die Bundesregierung damit befaßt hat, um nicht das Thema jetzt ausführlich auf dem Wege der Frage einzuführen. Wenn sich die Bundesregierung damit befaßt hat, kann das der Parlamentarische Staatssekretär zunächst einmal beantworten.
Die Bundesregierung hat sich damit nicht befaßt.
Weitere Fragen? — Weitere Fragen an die Regierung scheinen nicht vorzuliegen.
Frau Kollegin Zapf, die Regierung hat sich heute nicht damit befaßt. Aber da keine weiteren Fragen zur Kabinettssitzung vorliegen, könnten Sie diese Frage, wenn Sie wollen, vielleicht noch einmal stellen.
Das tue ich sehr gern. Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Ich nehme an, daß die Bundesregierung den Vorfall zur Kenntnis genommen hat. Er wurde ja auch öffentlich diskutiert. Ich möchte gern die Bundesregierung fragen, ob sie mit den Gedanken des Kommandeurs des Heeresfliegerregiments 10 bezüglich seines vorgetragenen „Einsatzspektrums 2000" der Bundeswehr übereinstimmt, was zukünftige Bundeswehreinsatzoptionen betrifft, und auf welcher rechtlichen Grundlage ein Offizier der Bundeswehr bei einer offiziellen Veranstaltung der Bundeswehr mit derartigen Szenarios an die Öffentlichkeit treten kann, wenn diese sich nicht mit den Meinungen des Verteidigungsministeriums decken — diese Szenarios betreffen Einsätze der Bundeswehr bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des Drogenhandels, bei der Migration, wie immer das auch gemeint war, und im Bereich der inneren Sicherheit —, und ob ein solches Verhalten disziplinarisch belangt wird.
Die zweite Frage in diesem Zusammenhang wäre, ob die Bundesregierung meiner Auffassung zustimmt, daß ein solches Aufgabenspektrum nicht vom Grundgesetz abgedeckt ist, daß es dazu Grundgesetzänderungen bedürfte und daß der Primat der Politik, wenn ein Offizier mit solchen Gedankenspielen an die Öffentlichkeit geht — und es war öffentlich — zutiefst verletzt ist, wenn so etwas vorliegt.
Frau Kollegin, so hatte ich meine Aufforderung zwar nicht gemeint, daß Sie hier einen größeren Redebeitrag halten. Es bleibt immer noch eine Befragung. Aber, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilz, Sie werden das jetzt sicher beantworten.
Auftrag der Bundeswehr ist Friedenssicherung durch Verteidigungs-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9053
Parl. Staatssekretär Bernd Witzfähigkeit. Wir haben die Aufgabe der Landesverteidigung, aber auch der erweiterten Landesverteidigung im Rahmen der Bündnisverteidigung. Darüber hinaus ist für uns klar, daß wir Einsätze im Rahmen humanitärer Aufgabenstellungen wahrnehmen. Dies tun wir. Darüber hinaus sind wir in Überlegungen, ob, beginnend möglicherweise im Herbst nächsten Jahres, Blauhelmeinsätze vorgenommen werden. Dies ist der Stand der Dinge.Wenn Offiziere der Bundeswehr darüber hinausgehende Äußerungen von sich geben, dann ist zu fragen, ob die gedeckt sind. Da ich diesen Vorgang im Detail nicht kenne, muß ich mir die Äußerungen erst beschaffen. Danach kann ich diese Äußerungen bewerten.
Zusatzfrage, Frau Zapf.
Herr Staatssekretär, ich formuliere jetzt etwas anders. Sollte es zutreffen, daß dieser Offizier geäußert hat, daß künftige Aufgaben der Bundeswehr z. B. in der inneren Sicherheit liegen oder bei der Abwehr von Migrationsströmen, würden Sie dann zustimmen, daß dies nicht von der Auffassung gedeckt ist, die wir bisher gemeinsam vertreten haben und dies dann disziplinarisch geahndet werden müßte.
Frau Kollegin, ich bitte sehr um Verständnis, daß ich auf hypothetische oder spekulative Fragen nicht antworte. Es gehört zum guten Umgang auch mit Offizieren der Bundeswehr, daß man ihnen die Möglichkeit der Anhörung gibt. Wenn man dies getan hat und wenn dann Vorgänge vorliegen, die disziplinarrechtliche Maßnahmen auslösen müssen, dann werden wir das selbstverständlich tun.
Ich frage die Kolleginnen und Kollegen, ob weitere Fragen zu anderen Bereichen vorliegen. — Bitte, Herr Kollege Conradi.
Ich sehe gerade, daß der Bericht in der „Frankfurter Rundschau" über die Planspiele des Kommandeurs vom 18. September 1992 stammt. Entspricht die Tatsache, daß Sie sich fünf Tage nach einer solchen Berichterstattung noch nicht damit befaßt haben und demzufolge nicht in der Lage sind, zu solch schwerwiegenden Äußerungen dem Hause eine Auskunft zu geben, der Bearbeitungsgeschwindigkeit des Ministeriums?
Herr Kollege, ich weise zunächst darauf hin, daß Zeitungsaussagen sehr vielfältig sein können.
Man kann nicht immer sofort jede Zeitung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen.
Aber folgendes — ich habe das bereits vorhin gesagt — gilt immer: Zunächst muß man dem betroffenen Offizier die Möglichkeit zu einer Antwort geben. Wenn diese Antwort vorliegt und alle Fragen geklärt sind, kann ein Prüfungsverfahren eingeleitet werden.
Berücksichtigen Sie dies unter dem Gesichtspunkt der Zeitspanne vom 18. September bis heute, dann, so glaube ich, werden Sie zu einer anderen Bewertung kommen.
Eine weitere Frage des Abgeordneten Möllemann.
Herr Staatssekretär, könnten Sie den Eindruck, den man jedenfalls von der Regierungsbank aus soeben haben konnte, bestätigen, daß der Artikel vom 18. September durch den Abgeordneten Conradi erst heute, am 23. September 1992, zur Kenntnis genommen worden ist?
Diesen Eindruck bestätige ich.
Eine Frage des Kollegen Schily.
Ist in der heutigen Kabinettssitzung die Situation in bezug auf die Maastrichter Verträge erörtert worden?
Jawohl, Herr Kollege. Das ist der Fall. Wir haben den Ausgang des Referendums in Frankreich begrüßt und festgestellt, daß dies ein wichtiger Schritt zur Ratifizierung des Maastrichter Vertrages sein wird. Wir haben allerdings auch gesagt, daß das Ergebnis des Referendums, nämlich 51,1 %, uns Anlaß sein muß, darüber nachzudenken, wie wir diesen Vertrag und einige ganz besonders wichtige Elemente, die auch die Bundesregierung immer vertreten hat, dieses Vertrages in der Bevölkerung weiter und näher erläutern können. Der Bundeskanzler hat diesbezüglich ganz besonders folgende Themen hervorgehoben: Subsidiarität, föderaler Aufbau der Gemeinschaft und Demokratisierung der Gemeinschaft.
Herr Kollege Schily, noch eine Zusatzfrage.
Ist in der Kabinettssitzung auch besprochen worden, daß ein offenkundiger Dissens zwischen der Bundesregierung und dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand bezüglich der Auslegung der Maastrichter Verträge — ich meine Art. 107 — besteht? Es geht dabei um die Unabhängigkeit der in Aussicht genommenen Europäischen Zentralbank.
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9054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Dies ist nicht der Fall, Herr Kollege Schily.
Herr Kollege Conradi, bevor ich Ihnen das Wort gebe, muß ich zur Erklärung des Ablaufs folgendes sagen: Wir haben eine Geschäftsordnung, in der geregelt ist, daß Themen, die in der betreffenden Woche ausgedruckt auf der Tagesordnung stehen, nicht in der Fragestunde behandelt werden sollen. Nun hat der frühere Kollege Jahn, Parlamentarischer Geschäftsführer, seinerzeit eingebracht, daß man auch in der Kabinettsberichterstattung nicht über Themen berichten soll, die in dieser betreffenden Woche auf der Tagesordnung stehen. Das wurde damals vom Ältestenrat widerspruchslos so akzeptiert.
Nun war dieses Thema nicht Thema im Rahmen der Kabinettsberichterstattung, sondern der Kollege Schily hat es jetzt, im allgemeinen Frageteil, angesprochen. Insofern sind wir in der seltsamen Situation, daß ich die Frage, die Herr Schily gestellt hat, auf Grund unserer Geschäftsordnung in der Fragestunde nachher nicht zulassen kann, wir das Thema aber jetzt behandeln können.
Frau Staatsministerin, ich wollte Sie nur auf diesen Hintergrund hinweisen. Jetzt hat der Kollege Conradi noch eine Frage.
Möglicherweise ist auch der damalige Beschluß des Ältestenrates der Diskontinuität anheimgefallen und müßte neu gefaßt werden.
Frau Staatsministerin, in welcher Weise gedenkt die Bundesregierung eine Klärung mit dem französischen Staatspräsidenten darüber herbeizuführen, ob die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in Zukunft gewährleistet ist oder ob diese, wie Herr Mitterrand öffentlich erklärt hat, weisungsabhängig ist?
Herr Kollege Conradi, wie ich gerade sagte, war dies heute nicht Gegenstand der Debatte. Die Bundesregierung verweist nachdrücklich auf ihre Position, daß sie den Vertragsinhalt und den Vertragstext als den richtigen Weg dazu beurteilt, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zu garantieren. Sie hält die Unabhängigkeit dieses Instituts als ganz grundlegende Voraussetzung für den Übergang in die dritte Stufe für notwendig.
Gibt es weitere Fragen zu einem allgemeinen Themenbereich an die Bundesregierung? — Dies ist jetzt nicht der Fall. Dann danke ich den Mitgliedern der Bundesregierung, die zum Zwecke der Beantwortung von Fragen in der Regierungsbefragung hierhergekommen sind, und unterbreche die Sitzung für drei Minuten, damit die Kollegen, die sich auf 13.35 Uhr eingestellt haben, pünktlich mit dem Ablauf der Fragestunde rechnen können.
Ich fahre in der unterbrochenen Sitzung fort.
Ich rufe auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/3269 —
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend. Zur Beantwortung der Fragen ist die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelia Yzer erschienen.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Jürgen Meyer auf:
Ist es richtig, daß Jugendliche, die sich für einen „Freiwilligen Sozialen Dienst in Europa" für die Dauer bis zu drei Jahren entscheiden, diese Zeit nicht auf den Zivildienst angerechnet bekommen, und was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Meyer, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Das Programm „Freiwillige Soziale Dienste Europa" wird angeboten von dem Verein „Initiative Christen für Europa e. V.". Dieser Verein gehört zu den vom Bundesministerium für Frauen und Jugend anerkannten Trägern zur Durchführung von Auslandsdiensten anerkannter Kriegsdienstverweigerer nach § 14 b des Zivildienstgesetzes. Danach können sich Zivildienstpflichtige zur Ableistung eines Dienstes im Ausland verpflichten, der das friedliche Zusammenleben der Völker fördern will. Dieser Auslandsdienst muß mindestens zwei Monate länger dauern als der Zivildienst, in der Regel also insgesamt 17 Monate. Wer einen solchen Dienst geleiset hat, wird nicht mehr zum Zivildienst herangezogen.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Teilen Sie die Auffassung, daß es im Zeichen des zusammenwachsenden Europa provinziell wäre, das Ableisten des Zivildienstes im Rahmen des Jugendwerkes für Internationale Zusammenarbeit dadurch zu erschweren, daß man die genannte Regelung in dem von Ihnen erwähnten § 14b so restriktiv auslegt, wie es bisher geschieht?
Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung, daß hier eine restriktive Auslegung des § 14b des Zivildienstgesetzes erfolgt, nicht. Wir müssen davon ausgehen, daß eine grundsätzliche strukturelle Gleichbehandlung des inländischen und des ausländischen Dienstes hier nicht erfolgen kann. Der Auslandsdienst nach § 14b des Zivildienstgesetzes wird auf der Grundlage eines frei zu vereinbarenden privatrechtlichen Vertrages zwischen dem Freiwilligen und dem anerkannten Träger durchgeführt. Dies hat zwangsläufig zur Folge, daß hier unterschiedliche Anforderungen gestellt werden.
Weitere Zusatzfrage.
Teilen Sie die Auffassung, daß die Regelung in § 14 b Abs. 2, wonach ein Dienst im Ausland anerkannt werden kann, wenn
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9055
Dr. Jürgen Meyer
er aus Gründen, die der Kriegsdienstverweigerer nicht zu vertreten hat, vorzeitig beendet wird, folgende Auslegung zuläßt: Ein angebotener Dienst von lediglich 12 Monaten ist ein solcher Grund, den der Kriegsdienstverweigerer nicht zu vertreten hat, so daß nach geltendem Recht die volle Anrechnung des Dienstes in Europa, soweit er zwei Monate überschreitet, möglich wäre?
Herr Abgeordneter, die mindestens um zwei Monate längere Dauer des Auslandsdienstes ist unter Berücksichtung des Grundsatzes der allgemeinen Dienstgerechtigkeit angemessen. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers ein Ausgleich dafür sein, daß der vertraglich frei zu vereinbarende Auslandsdienst im Gegensatz zum staatlichen Zivildienst kein besonderes Gewaltverhältnis mit der Besonderheit klarer Über- und Unterordnung, Weisungsgebundenheit, Disziplinargewalt sowie gewissen Einschränkungen der persönlichen Freiheit darstellt. Insofern sind unterschiedliche Behandlungen, wie bereits ausgeführt, gerechtfertigt.
Herr Kollege Elmer hat eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, wäre es auch in Ihrem Sinne denkbar, diesem Dienst von seiten der Bundesregierung, analog den Aufwandszuschüssen für Zivildienstleistende im Inland, eine irgendwie geartete finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen?
Herr Abgeordneter Elmer, die Unentgeltlichkeit des Auslandsdienstes nach § 14b des Zivildienstgesetzes hat der Gesetzgeber vorgeschrieben, um damit das besondere freiwillige Engagement der Dienstleistenden an einem völkerverbindenden Versöhnungsdienst herauszustellen und zu betonen. An diese gesetzgeberische Vorgabe sind wir gebunden.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Thema? — Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich bei Ihnen, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Zur Frage 2 wird um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 3 ist zurückgezogen worden.
Bei den Fragen 4 bis einschließlich 8 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Die Fragestellerin der Frage 51 ist nicht im Raum. Es wird nach der Geschäftsordnung verfahren.
Die Frage 52 hat die Kollegin Susanne Kastner gestellt.
Wird in dem neuen Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, das zur Zeit vor dem Abschluß steht, die Gleichstellung der bei den Alliierten, speziell bei den amerikanischen Streitkräften, angestellten deutschen Zivilbeschäftigten mit den Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr verankert sein?
Herr Staatsminister, ich bitte Sie um Beantwortung.
Frau Kollegin, die beiden Fragen, die Sie gestellt haben, hängen eng miteinander zusammen. Ich möchte sie deshalb auch zusammen beantworten.
Ich rufe dann auch die Frage 53 der Abgeordneten Susanne Kastner auf:
Wenn nein, wie begründet die Bundesregierung die Fortdauer minderen Rechts für die deutschen Zivilbeschäftigten bei den Alliierten?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Gleichstellung der deutschen Zivilbeschäftigten bei den Streitkräften der Alliierten mit den Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr ist eines unserer wesentlichen Verhandlungsziele. Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis dafür, daß ich im derzeitigen Stadium keine detaillierten Angaben über die noch offenen Punkte machen kann.
Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, dann hätte ich gerne, wenn Sie keine detaillierten Auskünfte geben können, einen Hinweis auf die Zielsetzung Ihrer Verhandlungen, und zwar einen etwas dezidierteren Hinweis, bitte.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Sie wissen, daß bei diesen Verhandlungen eine ganze Fülle von Fragen mit den Alliierten besprochen werden. Schwerpunkte in diesem Fragenkomplex, bei dem eine ganze Fülle von Fragen — ich sagte das schon — zu besprechen sind, sind vor allem Kündigungsschutzverfahren, Mitbestimmung und Arbeitsschutz. Ich nenne jetzt einmal drei Schwerpunkte. Es sind nicht die einzigen Punkte, über die verhandelt worden ist.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, es gibt auch Amerikaner, die bei deutschen Stellen in Amerika arbeiten. Könnten Sie mir sagen, wie es dort gehandhabt wird und ob auch das eine Grundlage der Diskussion in den Verhandlungen zum NATO-Truppenstatut ist?Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, es geht weniger um Amerikaner, die bei vergleichbaren, mit Billigung der Vereinigten Staaten dort stationierten deutschen Einheiten arbeiten, sondern es geht um die Gleichbehandlung der Deutschen und auch des deutschen Militärs in den Vereinigten Staaten und in Kanada, also in den Ländern, die mit NATO-Truppen hier bei uns seit vielen Jahren stationiert sind. Auch das ist ein Thema der Verhandlungen.Ich darf noch einmal sagen: Wir haben schon jetzt in einer ganzen Reihe von Punkten Einverständnis hergestellt. Es gibt aber noch einige Punkte — ich kann sie leider nicht nennen —, die noch zu verhandeln sind und noch nicht abschließend einvemehmlich geklärt werden konnten.
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9056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Sie haben noch zwei Fragen.
Herr Staatsminister, könnten Sie mir die Ergebnisse der bereits behandelten Punkte vielleicht schriftlich mitteilen? Wann kann man damit rechnen, daß die Verhandlungen zum NATO-Truppenstatut beendet sind?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Frau Kollegin, ich kann Ihnen das, was ich Ihnen mündlich nicht mitteilen kann, auch nicht schriftlich mitteilen, weil es eine ganz sensible Materie ist und weil gerade die Alliierten, gerade diejenigen, die mit uns verhandeln, auf frühzeitige Vorstöße der Bundesregierung in einer komplizierten Verhandlungsrunde nicht sonderlich positiv reagieren würden. Es gibt Hinweise dafür, daß gewisse Zeitungsartikel, die es zu dem bisherigen Ergebnis schon gab, die Verhandlungen nicht erleichtert haben. Ich bitte also um Verständnis. Sie können sicher sein, auch ich bin natürlich daran interessiert — ich habe diese Probleme ebenfalls in meinem Heimatbereich; der Kollege Müller wird dazu gleich Fragen stellen —, daß wir hier vorankommen und daß wir Ergebnisse erzielen, die in unserem Interesse, im Interesse der deutschen Beschäftigten bei NATO-Partnern in Deutschland, liegen; es sind nicht nur die Amerikaner betroffen. Aber das ist natürlich nicht ganz einfach.
Von daher möchten wir jetzt nicht die Verhandlungen durch zu frühzeitige Informationen darüber erschweren, welche Probleme wir schon gelöst haben und wo wir uns noch weiter bemühen müssen, daß solche Ergebnisse, wie wir sie wollen, zustande kommen.
Vielleicht nennen Sie mir noch den Zeitpunkt, wann in etwa die Verhandlungen zum NATO-Truppenstatut abgeschlossen sind.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Sie greifen mit Ihrer Zusatzfrage der Frage des Kollegen Müller vor; er hat nämlich genau diese Frage gestellt:
Wann ist mit dem Abschluß der Verhandlungen fiber das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und mit der Unterzeichnung des Vertrages zu rechnen?
Ich muß jetzt schon auf die Frage von Herrn Kollegen Müller antworten, daß wir noch keine Aussage dazu machen können. Die Verhandlungen sind im September 1991 begonnen worden. Es bleibt eine Reihe wichtiger Fragen zu klären. Diese Fragen — ich darf das ergänzen, was ich schon gesagt habe — werden jetzt auf der Ebene der Außenminister behandelt.
Herr Kollege Müller, auf Grund des ökonomischen Verfahrens, das die Kollegin Kastner mit dem Herrn Staatsminister eingeschlagen hat, können Sie gleich zu den Zusatzfragen kommen.
Ich habe zwei Zusatzfragen: Wird denn die Bundesregierung akzeptieren, daß die Zivilbeschäftigten bei den Alliierten weniger Rechte haben als die Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, wir sind uns alle darin einig — da gibt es keinen Unterschied zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag —, daß wir das, was wir erreichen können und erreichen müssen, mit unseren Forderungen auch erreichen wollen. Wir müssen uns aber darüber im klaren sein, daß es in einigen Punkten ziemlich große Schwierigkeiten gibt. Ich darf als Stichwort nur die Mitbestimmung nennen. Sie wissen, daß die Mitbestimmung bei uns vollkommen anders gehandhabt wird als etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Kanada oder sonstwo. Es gibt da ernstliche, rechtliche Probleme. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß man eine hundertprozentige Lösung der Probleme zwar erreichen will, aber daß man dann, wenn Wesentliches erreicht werden kann, unter Umständen auch Kompromisse eingehen muß — wo, das sei dahingestellt; dazu kann ich im Augenblick nichts sagen; darüber muß noch gesprochen werden.
Wir haben zwar schon wesentliche Punkte einvernehmlich klären können, sind uns aber einig, daß es jetzt auch der Ebene der Außenminister bedarf, um einige noch nicht geklärte Punkte auf dieser höheren Ebene der Klärung zuzuführen.
Herr Staatsminister, da vorhin eine Frage meiner Kollegin mißverstanden worden ist, will ich an diese Frage noch einmal erinnern. Die Frage meiner Kollegin zielte darauf, ob es in dieser Welt denkbar ist, daß in einem Land, nämlich in unserem, für Menschen dieses Landes ein unterschiedliches Recht gilt, je nachdem, ob sie bei einem inländischen oder bei einem ausländischen Arbeitgeber arbeiten. — Das ist sozusagen nur noch einmal die Aufnahme der Frage meiner Kollegin.
Meine Frage ist, ob die Bundesregierung überhaupt angestrebt hat, die Gleichstellung zu erreichen, und speziell: Hat sie überhaupt die Gleichheit bei der steuerlichen Behandlung von deutschen Arbeitnehmern und ausländischen Arbeitnehmern angestrebt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es ist ganz klar, daß die Bundesregierung die Gleichstellung deutscher Angestellter angestrebt hat und sehr energisch verhandelt hat. Sie haben vielleicht zur Kenntnis genommen, daß das am Anfang nicht ganz leicht war. Das Klima hat sich sehr verbessert. Wir haben sehr vieles schon erreichen können.
Wir streben weiterhin die Gleichstellung an. Wir streben auch die Gleichstellung von deutschen Einrichtungen in diesen Ländern an; auch das ist nicht sichergestellt. Dies ist weniger eine innenpolitische als eine außenpolitische Frage. Wir legen Wert darauf, daß für deutsche Truppen, die bei unseren Nachbarn stationiert sind, die gleichen Rechte angewendet werden, wie sie hier gegenüber unseren NATO-Partnern angewandt worden sind. Dieses Feld ist rechtlich zum Teil sehr schwierig.
Und die steuerliche Gleichstellung?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9057
Herr Kollege, Sie haben Ihre zwei Zusatzfragen gestellt.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich gehe dann schon in die Einzelheiten. Ich kann nur sagen: Wir tun unser Möglichstes, um so weit zu kommen, wie wir alle hoffen, kommen zu können.
Die nächste Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Staatsminister, kann man sich darüber einig sein, daß die aufgeworfenen Fragen nur im Kontext mit den außenpolitischen Problemen und auch den Fragen erörtert und zu einem Ergebnis gebracht werden können, die sich im Augenblick insgesamt im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika auch bezüglich einer Neustrukturierung des Nordatlantischen Bündnisses stellen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Sie weisen auf größere Zusammenhänge hin. Diese stehen bei solchen Verhandlungen natürlich im Hintergrund; das ist klar. Wir sind von Anfang an mit der ganz klaren Zielsetzung in die Verhandlungen gegangen, daß bestehende Ungleichgewichte beseitigt werden. Wir sind ein souveräner Staat; daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Aber wir haben Verträge auch zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als wir noch kein souveräner Staat in dem Sinne wie heute waren.
Hier ergibt sich eine Fülle von rechtlichen Problemen, die im Zusammenhang mit der Gesetzgebung, die in den betroffenen Ländern anders als bei uns ist, stehen; man fürchtet Ausweitungen. Ich kann jetzt die Palette der Besorgnisse auf der anderen Seite, deren Berechtigung man anerkennen muß, nicht insgesamt vortragen. Aber Sie können versichert sein, der Bundesaußenminister wird in seinem Schreiben an seine Kollegen aus den sechs Staaten, die betroffen sind, die noch nicht in unserem Sinne zu Ende verhandelten Fragen noch einmal aufwerfen und sich damit auch auf Außenministerebene bemühen, daß man diese Fragen möglichst bald löst, damit die Verhandlungen zum Abschluß gebracht werden können.
Sie können gleich stehenbleiben, Herr Kollege. Denn ich rufe die Frage 55, die der Abgeordnete Lowack gestellt hat, auf:
Wann wird die Bundesregierung mit der Regierung Polens über das völkerrechtswidrig entzogene Eigentum der Vertriebenen verhandeln, nachdem Vermögensfragen ausdrücklich aus dem deutsch-polnischen Grenzanerkennungs- und dem Freundschaftsvertrag ausgeklammert worden waren?
Herr Staatsminister, Sie haben schon wieder das Wort.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Ihnen ist bekannt, daß die Bundesregierung und die Regierung von Polen in der Eigentumsfrage gegensätzliche Rechtsauffassungen vertreten. Es ist der Bundesregierung gelungen, in den schwierigen Verhandlungen über den deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 die Vermögensfrage offenzuhalten. Diese Offenhaltung ist in Ziffer 5 des zum Vertrag
gehörenden Briefwechsels der Außenminister ausdrücklich von beiden Seiten übereinstimmend festgehalten.
Der Vertrag ist seit Januar dieses Jahres, also seit weniger als einem Jahr, in Kraft. Vor diesem Hintergrund ist es verfrüht, polnische Verhandlungsbereitschaft in dieser Frage zu erwarten.
Eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung nicht bekannt — es ist ihr, jedenfalls nach dem Gespräch, das Dr. Kastrup mit Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses geführt hat, teilweise wohl doch bekannt gewesen —, daß durch diese Klausel — —
Herr Kollege, Informationen über Mitteilungen in Ausschüssen werden weder im Plenum noch in der Öffentlichkeit gegeben. Darf ich mir diesen Hinweis erlauben?
Herr Präsident, Sie dürfen sich immer einen Hinweis erlauben.
Ist der Bundesregierung der Effekt bekannt, daß die Betroffenen durch das Ausklammern von Vermögensansprüchen im Augenblick auch nicht z. B. zum Bundesverfassungsgericht gehen können, weil die Bundesregierung darauf hinweist, daß hier noch keine abschließende Regelung erfolgt sei, und daß durch diese Regelung im Grunde genommen ein ganz wichtiges Rechtsmittel für die Betroffenen weggefallen ist?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, soviel ich weiß, gab es ja schon Gerichtsurteile im Zusammenhang mit der Anfechtung des deutsch-polnischen Vertrages im Hinblick auf ungelöste Vermögensfragen, die den Standpunkt der Bundesregierung eindeutig bekräftigt haben.
Der Bundesregierung sind natürlich alle diese Probleme bekannt, Herr Kollege. Es ist immer nett, wenn gefragt wird: Sind der Bundesregierung Probleme bekannt? Natürlich sind ihr alle Probleme bekannt. Aber ich muß hinzufügen, daß umgekehrt den Betroffenen bekannt ist, daß sich bei den deutsch-polnischen Verhandlungen in dieser speziellen Frage eine Einigung nicht erzielen ließ, und daß wir in dem von mir zitierten Brief der Außenminister ausdrücklich festgehalten haben, daß es hier gegenteilige Auffassungen gibt.
Die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, da es hier nicht nur um Grundstücke, sondern auch um sehr viele persönliche Dinge, z. B. um Urkunden und Fotos, geht, die den Menschen geraubt wurden: Glaubt die Bundesregierung nicht doch, daß es längst an der Zeit wäre, die Vermögensfragen, die sie ausgeklammert hat, doch mit der polnischen Regierung zu erörtern und möglichst bald eine Regelung dazu herbeizuführen?
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9058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir haben ja schon klargemacht, daß wir das Thema nie ausgeklammert haben. Ich habe den Weg beschrieben, der begangen worden ist.Wir sehen voraus, daß sich im Hinblick auf die Annäherung Polens an die Europäische Gemeinschaft — wir gehören ja zu den Staaten, die diese Annäherung besonders stark befürworten — das Klima im politischen Raum möglicherweise so verändern und verbessern kann, daß manch schwierige Frage mit der polnischen Regierung leichter gelöst werden kann.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Jäger.
Herr Staatsminister, ist der Bundesregierung bekannt, ob sich frühere deutsche Eigentümer, die enteignet worden sind, bereits vor polnischen Gerichten um die Durchsetzung ihrer Rechte bemüht haben und welche Erfolge sie gegebenenfalls erzielt haben?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich mich erinnern kann, wird eine ähnliche Frage noch gestellt. Jedenfalls kann ich Ihnen, Herr Jäger, im Vorgriff auf die Beantwortung einer anderen Frage eines Kollegen hier im Bundestag sagen, daß sich inzwischen auch schon deutsche Staatsbürger in Polen niedergelassen haben und daß dabei — wir haben keine genauen statistischen Zahlen, aber soviel ich weiß, sind inzwischen 111 Ansiedlungen von Deutschen in Polen erfolgt — beispielsweise auch der Rückkauf von Grundstücken mit Hilfe polnischer Stellen erfolgt ist. Ich bin gerne bereit, Ihnen das noch genauer schriftlich darzulegen.
Ich rufe Frage 56 des Kollegen Michael von Schmude auf:
Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang die Länder Lettland, Estland, Ungarn und Rumänien deutschen Staatsbürgern enteignetes Eigentum zurückerstatten bzw. Entschädigung gewähren?
Der Herr Staatsminister hat das Wort zur Beantwortung der Frage.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, Lettland hat eine Reihe von Gesetzen erlassen, die eine Rückgabe enteigneten Vermögens bzw. Entschädigungsleistung vorsehen. Diese betreffen allerdings nur Vermögen, das nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit Lettlands durch die sowjetischen Behörden nationalisiert wurde.
Ansprüche nach diesen Gesetzen sind an bestimmte zeitliche und räumliche Voraussetzungen geknüpft. Bei Erfüllung dieser Voraussetzungen haben auch ausländische Staatsangehörige und damit auch Deutsche Ansprüche auf Rückgabe bzw. Entschädigungen.
Zu Estland — Sie haben ja nach vier Ländern gefragt —: In Estland erfolgt eine Rückerstattung enteigneten Vermögens derzeit nur an estnische Staatsangehörige.
Zu Ungarn: Hier wird für enteignetes Vermögen eine Teilentschädigung in Form von sogenannten Entschädigungszertifikaten gewährt. Diese Regelung betrifft alle Enteignungen, die auf Grund der ab 1. Mai
1939 erlassenen Gesetze durchgeführt wurden. Auch Deutsche haben Anspruch auf diese Teilentschädigung, wenn sie zum Zeitpunkt der Enteignung ungarische Staatsangehörige waren.
Zu Rumänien: In Rumänien wurde auf Grund der dem Auswärtigen Amt vorliegenden Informationen bisher nur die Rückerstattung enteigneten landwirtschaftlichen Grundbesitzes geregelt. Alle entsprechenden Verfahren sind derzeit allerdings bis zu den für den 27. September — also Ende dieser Woche — vorgesehenen Wahlen suspendiert. Voraussetzung für einen Rückgabeanspruch sind u. a. die rumänische Staatsangehörigkeit sowie ein ständiger Wohnsitz in Rumänien. Die Restitution von Grundbesitz im städtischen Bereich wurde bislang noch nicht geregelt.
Wünschen Sie eine Zusatzfrage? — Nein. Möchte sonst jemand zu dieser Frage eine Zusatzfrage stellen? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 57, die ebenfalls der Kollege von Schmude gestellt hat, auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Republik Polen und die CSFR im Geiste einer guten nachbarschaftlichen Zusammenarbeit zu bewegen, den völkerrechtswidrigen Zustand zu beseitigen, der darin besteht, daß nach 1945 deutsche Staatsbürger entschädigungslos enteignet wurden, und beabsichtigt die Bundesregierung dementsprechend die Rückgabe des Eigentums oder eine entsprechende Entschädigung für die betroffenen deutschen Staatsbürger zu fordern?
Bitte, Herr Staatsminister.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zu dem die Republik Polen betreffenden Teil der Frage verweise ich auf die dem Kollegen Lowack gerade gegebene Antwort.
Gleiches gilt im Verhältnis zur CSFR. Die Offenhaltung der Vermögensfrage ist in Punkt 2 des zum Vertrag vom 27. Februar 1992 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit mit der CSFR gehörenden Briefwechsels der Außenminister ausdrücklich von beiden Seiten übereinstimmend festgehalten. Der Vertrag ist erst seit wenigen Tagen, nämlich seit dem 14. September 1992, in Kraft. Es ist vor diesem Hintergrund auch hier verfrüht, tschechoslowakische Verhandlungsbereitschaft in dieser Frage zu erwarten.
Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, die Volksrepublik Polen, aber auch die CSFR mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß erstens ungeklärte Vermögensverhältnisse ein Investitionshemmnis darstellen und daß zweitens die Vorabveräußerung ehemals deutschen Eigentums an andere Ausländer eine Vorwegnahme der endgültigen Regelung beinhalten könnte, und ist die Bundesregierung drittens bereit, mit den beiden Staaten — auch in Verbindung mit neuen Forderungen nach Wirtschaftshilfe — über die Klärung dieser Fragen zu sprechen?Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß erstens die Bundesregierung bei den Vertragsverhandlungen diese Fragen angesprochen hat und daß zweitens in beiden Fällen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9059
Staatsminister Helmut Schäferbei Polen und der CSFR, die entsprechenden Briefwechsel erfolgt sind. Ich habe drittens gesagt, daß angesichts der Kürze der Zeit, seitdem diese Verträge in Kraft getreten sind — mit Polen vor dem Dreivierteljahr und mit der CSFR erst seit wenigen Tagen —, nicht zu erwarten ist, daß wir im Augenblick eine völlige Änderung der Position polnischerseits oder seitens der tschechischen und der slowakischen Seite erwarten können. Ich bitte also um eine Geduld, die natürlich auch im Zusammenhang mit dem steht, was ich vorhin schon Herrn Lowack gesagt habe: Mit einer immer stärker werdenden Annäherung an europäisches Recht, nämlich im Hinblick auf die Assoziierung mit der Europäischen Gemeinschaft und die entsprechenden Wünsche dieser Länder, werden sicher eine ganze Reihe von Fragen leichter zu lösen sein, als das im Augenblick angesichts der innenpolitischen Lage in diesen beiden Staaten und angesichts der nicht zu vergessenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieser beiden Staaten möglich ist.
Zweite Zusatzfrage.
Ist die Bundesregierung dann wenigstens bereit, in den beiden Ländern darauf hinzuweisen, daß die Regelung dieser Eigentumsverhältnisse auch ein Stück Wirtschaftsförderung in den beiden Ländern mit sich bringen könnte, und ist die Bundesregierung gewillt, zumindest den Rückerwerb von ehemaligem Eigentum durch Deutsche in entsprechender Weise zu unterstützen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Was den Rückerwerb betrifft — ich habe das vorhin bei Polen schon erwähnt —, gibt es erfreuliche Anzeichen. Man wird sicher in den Gesprächen immer wieder auf diesen Punkt hinweisen. Solche Gespräche führt nicht nur die Bundesregierung, sondern auch Sie als Abgeordnete können sie mit den Botschaftern von Polen oder der CSFR führen; Sie stehen sicher deutschen Wirtschaftsunternehmen nahe, die möglicherweise solche Investitionen vorhaben.
Es mag einen solchen Zusammenhang geben. Es ist ganz klar, daß z. B. die Frage des Niederlassungsrechts, die Sie nicht angesprochen haben, in Zukunft eine Rolle spielen wird, weil das in der EG eine Selbstverständlichkeit ist. Alle diese Fragenkomplexe werden bei der zu erhoffenden weiteren Annäherung zwischen diesen Staaten und der EG immer wieder eine Rolle spielen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Lowack.
Herr Staatsminister, könnten Sie Ihren Hinweis, daß hier etwas zu früh sei, ein bißchen präzisieren, nachdem die Assoziierung an die Europäische Gemeinschaft einen Zeitraum von vielleicht zehn bis zwanzig Jahren umfassen kann und innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gerade diese Fragen überhaupt nicht geregelt werden?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege Lowack, es ist in der Politik so, daß dann, wenn man Verträge ausgehandelt hat, wenn in einem solchen
Punkt keine Einigung zu erzielen war, wenn schriftlich deutlich ausgedrückt wurde, daß es hier entgegengesetzte Auffassungen gibt — das ist in der Vermögensfrage durch den Briefwechsel geschehen —, nach diesen Verhandlungen und nach der kurzen Zeit, die diese Verträge in Kraft sind, nicht damit zu rechnen ist, daß man das, was man vor wenigen Wochen noch nicht bekommen konnte, nun gleich bekommen könnte. Ich glaube, hier müssen wir ein bißchen Geduld haben. Das bedeutet ja nicht, daß erst mit dem Beitritt oder der Assoziierung dieser beiden Staaten die Bereitschaft bestehen wird, diese oder jene Frage leichter zu lösen. Ich bitte um Verständnis dafür, daß die Bundesregierung — auch wenn sie das versuchen würde — angesichts der Lage in den beiden Ländern den gleichen Standpunkt erwarten muß, den wir bei den Verhandlungen festgestellt haben, die noch gar nicht so lange zurückliegen. Insofern bitte ich darum, uns in einer Situation nicht zu drängen, in der neue Verhandlungen nichts Neues ergeben würden.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jäger.
Herr Staatsminister, welchen Einfluß hat die sich im Augenblick vollziehende Trennung der beiden Teilstaaten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik auf die Vertragsgestaltung, und erkennen beide Teilstaaten den Vorbehalt im Vertrag — Herausnahme der Eigentumsfrage — an?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Bundesregierung hat die Rechtsüberzeugung, daß der am 14. September ratifizierte Vertrag im Verhältnis zwischen Deutschland und der Tschechischen bzw. der Slowakischen Republik fortgilt, unabhängig davon, wie sich die staats- und völkerrechtliche Trennung der CSFR gestalten wird. Das ist den beiden möglichen Nachfolgestaaten der CSFR bekannt. Es gibt auch seitens di eser Nachfolgestaaten keinerlei Hinweis darauf, daß das Vertragswerk rechtlich wieder in Frage gestellt würde.
Herr Staatsminister Schäfer, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.Für die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Austermann, 60 und 61 des Abgeordneten Fuchtel und 62 des Abgeordneten Dr. Kübler ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Die Frage 63 des Abgeordneten Augustinowitz wird aus Geschäftsordnungsgründen schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Dann komme ich zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.Herr Kollege Carstens, die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Kolbe sollen auf Bitten des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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9060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Vizepräsident Hans KleinIch rufe die Frage 12 auf, die der Kollege Dr. Konrad Elmer gestellt hat:Kann die Bundesregierung Auskunft darüber geben, inwieweit das Ergebnis einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, in der für den April 1992 festgestellt worden ist, daß nur ca. 535 000 Arbeitskräfte in privatisierten Treuhandbetrieben beschäftigt waren, obwohl die Treuhandanstalt in ihrer entsprechenden Bilanz für diesen Zeitpunkt von 1,12 Mio. Arbeitsplatzzusagen ausgegangen ist, aus der Diskrepanz zwischen den in die Privatisierungsbilanz der Treuhandanstalt eingestellten Verträgen und den tatsächlich notariell beglaubigten Verträgen zu erklären ist, oder welche anderen Gründe sind gegebenenfalls benennbar?
Durch Privatisierung von Unternehmen, Betrieben und Vermögensteilen usw. erhielt die Treuhandanstalt in der Tat Beschäftigungszusagen bis Ende April 1992 in Höhe von insgesamt 1,12 Millionen Arbeitsplätzen. In den meisten Verträgen sind als Ecktermine für den Erhalt bzw. die Schaffung der Arbeitsplätze die Jahre 1992, 1993 und 1994 vereinbart. In vielen Fällen ist ein stufenweiser Aufbau der Beschäftigtenzahlen vorgesehen.
Die vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung genannte Zahl von 553 000 Arbeitsplätzen bezieht sich auf Ist-Zahlen von 1 600 befragten Unternehmen im April 1992.
Das zur ersten Frage. — Vielleicht sollte ich die zweite gleich mitbeantworten, Herr Präsident?
Dann rufe ich auch die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Elmer auf:
Welche Dimension hat das Unterlaufen von Arbeitsplatzzusagen in privatisierten Betrieben derzeit angenommen, und welche Schritte unternimmt die Bundesregierung gegebenenfalls, um diesem Unterlaufen von Zusagen entgegenzutreten?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Wie zur vorhergehenden Frage ausgeführt, bezieht sich die genannte Zahl auf eine eingeschränkte Erhebung. Gleichwohl darf ich Ihnen mitteilen, daß die Treuhandanstalt im Rahmen der Vertragsabwicklung die Einhaltung der in den Verträgen gegebenen Arbeitsplatzzusagen prüft. Die Ergebnisse werden im nächsten Monat vorliegen.
Bei Nichteinhaltung der Arbeitsplatzzusagen wird die Treuhandanstalt zunächst ein klärendes Gespräch mit den Investoren über die Gründe führen. In den Fällen, in denen Unternehmen nicht durch eigenes Verschulden, z. B. durch unvorhergesehene Marktentwicklung, die Zusagen nicht einhalten konnten, wird nach gemeinsamen Lösungen gesucht. Dabei mißt die Treuhandanstalt dem Erhalt von Arbeitsplätzen höchste Priorität bei.
Erste Zusatzfrage.
Erstens. Wie hoch genau ist nach Ihrer Kenntnis die bis zum April wirklich realisierte Zahl von Arbeitsplätzen? Stimmt also die Zahl des Instituts nach Ihrem Wissen?
Zweitens. Entspricht sie wenigstens dem Stufenplan, den die Treuhand ja mit den Betrieben ausgehandelt hat? Daraus müßte ja auch hervorgehen, welche Zahl von Arbeitsplätzen die Betriebe zu schaffen verpflichtet gewesen wären.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wir hoffen natürlich sehr, daß alle Zusagen eingehalten worden sind. Aber ich muß Ihnen noch einmal darlegen, daß die Überprüfung jetzt läuft und daß die Ergebnisse im nächsten Monat vorliegen werden. Ich will mich jetzt schon verpflichten, bei Vorliegen der Ergebnisse Ihnen diese schriftlich mitzuteilen. Aber weiter kann ich in der Antwort jetzt nicht gehen.
Zweite Zusatzfrage.
Schon Ihr Kriterium unvorhergesehene Marktentwicklung, das als Entschuldigung dienen könnte, kann natürlich so gut wie alles rechtfertigen, wenn sogar der Bundeskanzler schon grundsätzlich von unvorhersehbaren Dingen gesprochen hat. Könnten Sie das noch so präzisieren, daß ein solches Kriterium nicht gleich alles entschuldigt, was da nicht läuft?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, das, was Sie zum Ausdruck gebracht haben, ist nach meiner Einschätzung berechtigt. Es stellt sich für uns als Bundesfinanzministerium über die Treuhandanstalt dort eine sehr schwierige Frage. Es gibt auch Konventionalstrafen, die sicherlich gegebenenfalls verhängt werden müssen. Aber auf der anderen Seite habe ich eben zum Ausdruck gebracht, daß man natürlich auch die Gesamtproblematik im Auge behalten muß und daß es darum geht, wenn eben möglich, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Da kann nicht jeder Entschuldigungsgrund herhalten. Das brächte ja viel zu viele Berufungsfälle mit sich.
Insofern muß man zunächst einmal den Bericht abwarten und feststellen, in wie vielen Fällen die Vereinbarungen eingehalten wurden. Dann muß man so vorgehen, wie ich es eben zum Ausdruck gebracht habe.
Bitte sehr, Frau Kollegin Kolbe.
Wenn ich mir die Zahlen anschaue, stelle ich fest, daß die Treuhandanstalt bisher nur 50 % der Arbeitsplätze erhalten hat. Sie haben von einem Stufenplan gesprochen. Der Kollege Elmer hat eben die Frage gestellt, ob die Zahlen denn wenigstens dem Stufenplan entsprechen. Diese Frage haben Sie nicht beantwortet, oder ich habe es nicht gehört.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Doch, Frau Abgeordnete. Ich habe nämlich zum Ausdruck gebracht, daß die Überprüfung jetzt läuft und daß das Ergebnis in etwa einem Monat erwartet wird. Dann werden wir festgestellt haben, inwieweit der Stufenplan eingehalten wurde. Daraufhin habe ich zugesagt, daß ich dieses Ergebnis dem Abgeordneten schriftlich mitteilen werde.
Ist Ihnen klar, daß das für die weiteren Stufen Vorgesehene für die Betriebe von sehr geringer Verbindlichkeit ist, wenn von Ihrer Seite aus nicht drakonische Strafen für den Fall der Nichteinhaltung vorgesehen werden?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9061
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wir werden Sorge dafür tragen, daß dieser Eindruck überhaupt nicht erst entstehen kann. Wenn Sie bei solchen Firmen Rückfrage hielten, die schon versucht haben, aus Verpflichtungen herauszukommen, würden Sie eher das Gegenteil dessen hören, was sie jetzt befürchten. Das muß natürlich auch für kommende Entscheidungen die Marschroute sein.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Thema? — Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 14 des Abgeordneten Lowack auf:
Welche Beträge aus dem Bundeshaushalt wurden auf Grund des zwischen Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und dem damaligen Bundeskanzleramtsminister Wolfgang Schäuble einerseits sowie Erich Honecker andererseits ausgehandelten Transitabkommens mit einer Anhebung der Transitpauschale von 326 Mio. DM auf 560 Mio. DM jährlich mit einer Vertragsdauer von zehn Jahren geleistet?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich nehme an, Sie beziehen sich mit Ihrer Anfrage auf die Vereinbarung mit der damaligen DDR aus dem Jahre 1988, durch die die Transitpauschale für den Zehnjahreszeitraum 1990 bis 1999 festgelegt worden war. Die für diesen Zeitraum vereinbarte jährliche Pauschalsumme betrug 860 Millionen DM. Sie ist nur im Jahre 1990 gezahlt worden.
Für den Zehnjahreszeitraum vor 1990 ist eine vereinbarte Pauschale in Höhe von jährlich 525 Millionen DM gezahlt worden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, abgesehen davon, daß ich Ihnen sehr dankbar dafür bin, daß Sie entgegen der Frage auf die richtigen Zahlen hingewiesen haben, nämlich eine Anhebung von 525 Millionen DM auf 860 Millionen DM — das wurde durch einen Übertragungsfehler leider falsch dargestellt —, möchte ich Sie fragen, welche Perspektive die Bundesregierung zu dieser Vereinbarung geführt hat, die ja bedeutet hat, daß sich das Honekker-Regime auf 8,6 Milliarden DM — das ist eine Anhebung von insgesamt rund 3,2 Milliarden DM — verlassen konnte.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das ergibt sich aus dem Ablaufen des bis dahin geltenden Vertragszeitraums. In dem vor 1990 liegenden Zehnjahreszeitraum galt die Summe von 525 Millionen DM. Es kam nun damals, schon im Jahre 1988, darauf an, für einen in die Zukunft hineinragenden Zeitraum zu einer Vereinbarung zu kommen. Das ist das Ergebnis gewesen.
Zweite Zusatzfrage.
Warum hat die Bundesregierung — es könnte sein, daß Sie jetzt Schwierigkeiten haben, diese Frage zu beantworten, aber ich halte es doch für erforderlich, sie zu stellen — sehr klare, von Fachleuten dem damaligen innerdeutschen Ausschuß, aber auch in der Öffentlichkeit vorgelegte Zahlen nicht berücksichtigt, die deutlich gemacht haben, daß das System — Slogan: „Der Sozialismus besiegt nur sich selbst" — letztlich von unseren Steuermitteln abhing?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich kann nicht präzise sagen, wer damals insgesamt eingeschaltet gewesen ist. Aber ich kann mich wohl noch daran erinnern, daß im parlamentarischen Raum eher Zustimmung festzustellen gewesen ist. Das halte ich auch, wenn man die Zahlen bezüglich des vorhergehenden Zehnjahreszeitraums vergleicht, durchaus für angemessen. Denn wenn man den gestiegenen Transitverkehr und die zusätzlichen Angaben zugrunde legt, die dabei Ausgangsposition gewesen sind, dann lassen sich die Summen unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität durchaus vergleichen, auch wenn man im nachhinein für jedes Jahr bedauern möchte, daß man damals solche Summen gezahlt hat.
Weitere Zusatzfragen werden hierzu nicht gestellt.
Bezüglich der Fragen 15 und 16 des Abgeordneten Dr. Karl H. Fell sowie der Frage 17 des Abgeordneten Otto Schily, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wird verfahren wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe nunmehr die Frage 18, die der Kollege Jürgen Augustinowitz gestellt hat, auf:
Welchen Einfluß hat die Bundesregierung auf die jüngste Senkung der Leitzinsen, die auf einer Sondersitzung durch den Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank beschlossen wurde, genommen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Senkung der Leitzinsen am 14. September 1992 durch den Zentralbankrat war eine autonome Entscheidung der Deutschen Bundesbank. Die Bundesregierung hat keinen Einfluß genommen. Die Unabhängigkeit der Bundesbank bei dem Einsatz ihrer geldpolitischen Instrumente ist bei der Entscheidung des Zentralbankrats am 14. September 1992 gewahrt worden. Gleichwohl ist es selbstverständlich, daß Bundesregierung und Bundesbank vor wichtigen Entscheidungen über anstehende Fragen sprechen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat der Bundeskanzler mit Blick auf das Referendum in Frankreich irgendeinen Einfluß auf diese zinspolitische Entscheidung genommen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Bundesbank ist, wie ich soeben zum Ausdruck gebracht habe, unabhängig. Daß Gespräche stattgefunden haben, habe ich bestätigt. Aber es ist seit 20 oder 30 Jahren durchaus üblich, vor wichtigen Entscheidungen miteinander zu sprechen; Einfluß genommen wurde nicht.
Zweite Zusatzfrage.
Woher wußte der Bundesfinanzminister bereits einen Tag vor der Sondersitzung des Zentralbankrates — übrigens der ersten Sondersitzung des Zentralbankrates in der Geschichte der Deutschen Bundesbank, auf der zinspolitische Entscheidungen getroffen worden sind — von der beabsichtigten Senkung der Leitzinsen?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich darf zunächst sagen: Die Senkung der
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9062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Parl. Staatssekretär Manfred Carstensdeutschen Leitzinsen erfolgte im Zusammenhang mit der Neufestsetzung der Leitkurse im EWS am 13. September 1992. Dabei lag es sowohl im Interesse der Bundesbank als auch unserer europäischen Partner, Spannungen im EWS abzubauen. Die Bundesbank hat ihre Entscheidung unter voller Wahrung ihrer Unabhängigkeit getroffen.Nun präzise zu Ihrer Fragestellung: Es hat schon am 13. September — das ist in der deutschen Öffentlichkeit leider nicht besonders publik geworden; deswegen sage ich es jetzt um so lieber — ein gemeinsames Kommuniqué des Währungsausschusses der Europäischen Gemeinschaft gegeben. Hierin ist — unter Einbeziehung der Zentralbankgouverneure, und ich darf hinzufügen: in Abstimmung und mit Zustimmung der Bundesbank; sonst wäre das nicht zustande gekommen — schon die Formulierung aufgenommen gewesen: Der Zentralbankrat der Bundesbank wird am Montag, dem 14. September 1992, um 9 Uhr zusammentreffen und beabsichtigt, dieses Realignment mit einer Senkung der Leitzinsen zu flankieren. — Wäre dieses Kommuniqué rechtzeitig überall bekannt gewesen, hätte es wahrscheinlich im deutschen Blätterwald weniger Aufregung gegeben, und diese Frage hätte sich möglicherweise erübrigt.
Die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Sielaff sollen schriftlich beantwortet werden, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 21 der Abgeordneten Lydia Westrich auf:
Welche Kosten kommen auf die Bundesrepublik Deutschland zu, falls die US-Streitkräfte die Sozialpläne für entlassene deutsche Zivilbeschäftigte — wie vom Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Bernd Wilz, befürchtet — nicht selbst finanzieren?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Zum Ausgleich der Nachteile, die den Arbeitnehmern bei den Stationierungsstreitkräften durch den Verlust der Arbeitsplätze infolge der Truppenreduzierung entstehen, sind zwei Tarifverträge geschlossen worden. Bereits in dem 1971 geschlossenen Tarifvertrag „Soziale Sicherung" hat die Bundesregierung die Stationierungsstreitkräfte von Anfang an von den finanziellen Verpflichtungen freigestellt. Bis Ende 1991 sind dem Bund hierdurch für Arbeitnehmer aller Stationierungsstreitkräfte ca. 40 Millionen DM an Kosten entstanden.
Wie hoch die Gesamtbelastung für den Bund sein wird, läßt sich noch nicht sagen. In den nächsten Jahren muß mit Ausgaben auf Grund dieses Tarifvertrags in der Größenordnung von weiteren 200 Millionen DM gerechnet werden.
Weiterhin ist am 6. Dezember 1991 ein Tarifvertrag über zusätzliche Leistungen im Falle von Entlassungen wegen Truppenreduzierung geschlossen worden. Dieser Tarifvertrag sieht insbesondere die Zahlung von Abfindungen vor. Er wird von den Stationierungsstreitkräften selbst finanziert. Die Bundesregierung hat keinen Zweifel, daß z. B. die US-Streitkräfte die mit diesem Tarifvertrag übernommenen Verpflichtungen erfüllen werden.
Durch die genannten beiden Tarifverträge ist es aus Sicht der Bundesregierung möglich, den Personalabbau bei den Stationierungsstreitkräften sozial verträglich zu gestalten.
Vielleicht ist es gut, wenn ich die nächste Frage gleich mitbeantworte.
Stimmen Sie dem Angebot des Parlamentarischen Staatssekretärs zu, daß er die nächste Frage gleich mitbeantworten will, oder wollen Sie jetzt Ihre Fragen zu dieser Frage stellen?
Ich möchte jetzt, wenn es möglich ist, eine Frage stellen. — Sie haben gesagt, Herr Staatssekretär, die Bundesregierung habe keine Zweifel. Aber das Bundesverteidigungsministerium hat anscheinend seine Zweifel. Wie sicher sind denn diese Zusagen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Gerade was die US-Streitkräfte angeht, können wir bestätigen, daß in der Vergangenheit immer ein starkes Bemühen festzustellen war, Abmachungen auch einzuhalten. Insofern kann ich hier Zweifel nicht bestätigen, und solche gibt es wohl auch nicht im Bundesverteidigungsministerium.
Es gibt aber gleich noch weitere Fragen, die auf das Thema präziser eingehen.
Eine zweite Zusatzfrage, bitte.
Soll das heißen, daß dies eventuell das noch ausstehende Konversionsprogramm der Bundesregierung sein soll?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Nein, die Bundesregierung hat ja ihre Antwort zum Thema „Konversionsprogramm" schon hinlänglich gegeben. Sie hat beschlossen, daß Grundstücke in bestimmten Fällen sehr verbilligt abgegeben werden können, und sie hat den Bundesländern Mittel speziell für die Bewältigung der Aufgabe der Konversion in den einzelnen Ländern zufließen lassen, so daß es jetzt in allererster Linie Aufgabe der Bundesländer ist, für ein entsprechendes Konversionsprogramm bei sich zu Hause zu sorgen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Müller.
Könnte die Befürchtung Ihres Kollegen Wilz vielleicht im Zusammenhang mit der Forderung der US-Seite stehen, daß die deutsche Seite die Zivilbeschäftigten insgesamt bezahlt? Ist diese Forderung nach wie vor auf dem Tisch, oder ist sie vom Tisch?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, darf ich darum bitten, daß die Antwort bis zu den nächsten Fragen zurückgestellt wird, da dies dann speziell angesprochen wird? — Sie können gerne darauf zurückkommen, Herr Kollege.
Wenn Sie, Kollege Müller, einverstanden sind, verfahren wir so.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9063
Vizepräsident Hans KleinDann rufe ich Frage 22 der Abgeordneten Lydia Westrich auf:Ist die Forderung des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der Verteidigung, Bernd Wilz, nach einer „Konzertierten Aktion" von Vertretern des Bundesministeriums der Verteidigung, des Bundesministeriums der Finanzen, des Auswärtigen Amtes und der US-Streitkräfte, um genaue Angaben zu Terminen, zum Ausmaß der Truppenreduzierung und der Arbeitsplätze sowie die Freigabe von Liegenschaften der US-Streitkräfte „auf den Tisch zu bekommen" , so zu verstehen, daß die Bundesregierung über solche Angaben bisher nicht bzw. in unzureichendem Maße verfügt?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hält das Verfahren der gegenseitigen Unterrichtung zwischen den amerikanischen und den deutschen Stellen einerseits und innerhalb der Bundesressorts und -verwaltungen andererseits im Prinzip für funktionstüchtig. Wenn die Auswirkungen der Truppenreduzierung noch nicht in allen Einzelheiten bekannt sind, so liegt das im wesentlichen daran, daß die notwendigen Einzelentscheidungen der amerikanischen Streitkräfte noch nicht getroffen werden konnten. Die zuständigen deutschen Stellen sind aber mit den maßgebenden amerikanischen Stellen laufend in Kontakt und wirken darauf hin, daß die getroffenen Entscheidungen so schnell wie möglich an die zuständigen Stellen des Bundes weitergeleitet und dort zügig umgesetzt werden.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Wie kann es dann vorkommen, daß die betroffenen Kommunen immer noch aus den Zeitungen das Entsprechende erfahren müssen? Warum leitet die Bundesregierung die Informationen, die sie hat, nicht rechtzeitig an die Kommunen weiter?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es kann sich nicht darum handeln, daß wir unsere Informationen nicht rechtzeitig weiterleiten. Sicherlich kann es einmal zu einer kurzen Zeitverzögerung kommen. Wir sind sehr bereit, Auskünfte zu geben. Ich habe in der Antwort auf diese Frage zum Ausdruck bringen müssen, daß bei den Amerikanern noch nicht alle Einzelentscheidungen getroffen sind. Solange das nicht der Fall ist, können wir nicht Auskünfte weitergeben.
Die zweite Zusatzfrage.
Haben Sie trotzdem jetzt schon Erkenntnisse, was in Zukunft noch auf uns zukommen kann?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ja, die Größenordnung der Reduzierungen ist im Prinzip bekannt. Insofern kommt es nun darauf an, noch abzustimmen und genau zu erfahren, wie die Einzelentscheidungen für die betroffenen Regionen jeweils aussehen. Wenn Sie eine spezielle Region vor Augen haben und darüber Informationen haben möchten, schreiben Sie mich bitte an. Ich bin bereit, Ihnen das auf den Tisch zu legen, was bei uns vorliegt.
Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, können Sie ausschließen, daß diese zumindest von den Zivilbeschäftigten, aber auch von den Kommunen als absolut unzureichend empfundene Informationspolitik mit zwei Dingen etwas zu tun haben könnte: erstens damit, daß die Gewerkschaften und Betriebsvertretungen nach dem von Ihnen erwähnten Tarifvertrag „Soziale Sicherung" erst richtig tätig werden können, wenn sie genau wissen, wer wie wo betroffen ist, und zweitens damit, daß die amerikanischen Stellen deutsche Zivilbeschäftigte mit ihren unbefristeten Arbeitsverträgen erkennbar durch amerikanische Zivilbeschäftigte, Touristen etc. bzw. durch Deutsche mit de facto befristeten Arbeitsverträgen ersetzen wollen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Was den ersten Teil der Frage angeht, möchte ich zum Ausdruck bringen, daß auch der Bundesregierung daran liegt, daß solche Befürchtungen gar nicht erst Platz greifen. Daran ist unser gesamtes Handeln ausgerichtet.
In dem anderen Fall wird man sicher auch auf amerikanischer Seite Interessen haben, und es kommt dann darauf an, sich zu verständigen, wie man die Einzelregelungen durchführt, um dann bestmöglich sozial flankierend zu wirken. Daß auch die Amerikaner Interessen haben, versteht sich.
Gibt es weitere Zusatzfragen dazu? — Es werden keine gestellt. Dann rufe ich Frage 23 des Abgeordneten Albrecht Müller auf:
Hat die Verzögerung der Verhandlungen und der Unterzeichnung nach Kenntnis der Bundesregierung etwas damit zu tun, daß die US-Streitkräfte die anstehenden Kündigungen noch zu den Bedingungen des alten Rechts durchführen wollen? (Siehe auch Frage 61)
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die folgende Antwort geht nun speziell auf die Fragestellung von vorhin ein. Das hatte ich, Herr Präsident, schon angedeutet.
Die Verhandlungen zur Revision des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut, die bereits seit einem Jahr andauern und noch nicht zum Abschluß geführt werden konnten, sind mit einer Fülle von zum Teil sehr schwierigen Einzelfragen belastet, für deren Klärung ein ausreichender Zeitrahmen notwendig ist.
Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß die Verhandlungen verzögert worden sind. Es ist noch nicht über alle Punkte Einigung erzielt worden. Gleichwohl geht die Bundesregierung davon aus, daß der im Rahmen der Truppenreduzierung jetzt notwendige Personalabbau bei den Stationierungsstreitkräften vom Ergebnis der Verhandlungen nicht beeinflußt wird.
Eine Zusatzfrage, bitte.
Es ist zum einen noch die Frage von vorhin offen, die mir jetzt, bitte, nicht angerechnet wird.Ich frage zum anderen: Ist es also völlig falsch, wenn über den Stand der Verhandlungen gesagt wird, sie
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Albrecht Müller
seien de facto abgeschlossen, und man warte nur noch mit der Unterzeichnung?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Solche Informationen sind mir nicht bekannt. Es würde mich sehr wundern, wenn es so wäre. Nach meinem jetzigen Kenntnisstand ist es nicht so.
Die zweite Zusatzfrage.
Die andere Frage betraf den Zusammenhang zwischen der Forderung der amerikanischen Seite, die Zivilbeschäftigten insgesamt zu bezahlen, und der in der Frage 21 enthaltenen Vermutung oder Befürchtung von Herrn Wilz.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, wir haben keine Veranlassung, irgend etwas zu verzögern. Wir haben durch die Vereinbarungen und die Verträge, die es schon gibt bzw. über die jetzt verhandelt wird, auch eine bestmögliche Vertretung der Interessen ziviler deutscher Arbeitnehmer gewährleistet. Daß es in Einzelfällen immer zu unterschiedlichen Interessen kommt, die dann auch ausgetragen werden müssen, will ich, wenn Sie es behauptet haben sollten, gerne als richtig akzeptieren. Aber es ist uns bislang in den allermeisten Fällen gelungen, zu Lösungen zu kommen, die man im nachhinein sowohl als Beteiligter als auch als Unbeteiligter doch als angemessen bezeichnen konnte. Ich bin ganz zuversichtlich, daß uns das auch in Zukunft so gelingen wird.
Herr Präsident, ich kann verstehen, daß der Herr Staatssekretär bei so vielen Fragen nicht mehr präzise in Erinnerung hat, was ich gefragt habe. Ich habe vorhin präzise gefragt, ob die Forderung nach Finanzierung der deutschen Zivilbeschäftigten bei den amerikanischen Streitkräften durch den deutschen Steuerzahler, d. h. sie nicht mehr von amerikanischer Seite finanzieren zu lassen, noch auf dem Tisch liegt oder endgültig vom Tisch ist.
An sich hatten Sie Ihre Zusatzfragen schon, Herr Kollege. Aber da der Parlamentarische Staatssekretär vorhin selber gesagt hat, er wolle auf dieses Thema im Zusammenhang mit Ihrer Frage eingehen, das aber offenbar jetzt nicht in Sie befriedigendem Umfang getan hat, bitte ich Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, das jetzt zu tun.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, ich hatte den Eindruck, hinsichtlich der einen Frage darauf geantwortet zu haben. Ich habe ja die Zahlen genannt und gesagt, daß in der Vergangenheit schon 40 Millionen DM bezahlt worden sind und daß sich das bis auf 200 Millionen DM summieren könnte. Sofern Sie hierzu noch eine finanzpolitische Auskunft erwarten, die dann aber auch präzise sein soll, biete ich Ihnen an — das ist ja die letzte Frage, die ich zu beantworten habe —, das schriftlich zu beantworten. Dann können Sie es schwarz auf weiß nach Hause tragen.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Damit kämen wir zum nächsten Geschäftsbereich. Ich glaube, eine Frage schaffen wir noch. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Kolb steht zur Beantwortung bereit. Falls die Antwort nicht die Länge einer mittleren Novelle hat, schaffen wir die Frage auch noch mit Zusatzfragen.
Wir kommen also zur Frage 24 der Abgeordneten Siegrun Klemmer:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung eines russischen Regierungsberaters, die dortigen Kernkraftwerke könnten innerhalb von sieben Jahren geschlossen und zu Kosten von rund sechs Mrd. Dollar durch Gasturbinenkraftwerke ersetzt werden , und was wird sie dafür tun, dieses vergleichsweise preiswerte und für die europäische Sicherheit so wichtige Projekt der russischen Regierung nahezulegen und zu unterstützen, z. B. indem sie ihre EG-Partner für eine gemeinsame Bereitstellung der dazu nötigen finanziellen Mittel gewinnt?
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Frau Kollegin Klemmer, aus der nur sehr kurzen Pressenotiz über die angeblichen Kosten in Höhe von 6 Milliarden Dollar muß angenommen werden, daß es sich hier keineswegs um den Ersatz aller Kernkraftwerke der Russischen Föderation mit einer Gesamtleistung von ca. 21 000 MW handelt, sondern um den Ersatz der Kernkraftwerke der ersten Generation, die nur ca. ein Drittel der Leistung ausmachen und nach russischer Einschätzung in den nächsten zehn Jahren stillgelegt werden sollen.Der Anschein, daß es sich um ein preiswertes Projekt handelt, beruht sicher darauf, daß die angegebenen Kosten nur die Investitionen für die Gasturbinenkraftwerke selbst beinhalten. Derzeit ist aber die Gasförderung vor allem wegen des schlechten technischen Zustandes zurückgegangen. Das Gas muß in den westsibirischen Lagerstätten gewonnen und über Pipelines an die Kraftwerkstandorte im europäischen Teil der Russischen Föderation herangeführt werden. Insgesamt dürften die Kosten allein für dieses Projekt wesentlich höher sein.Wirksame öffentliche Hilfsmaßnahmen — darüber müssen wir uns im klaren sein — können nur im internationalen Rahmen erfolgen. Vor allem der Weltwirtschaftsgipfel in München hat ein Aktionsprogramm zur Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke Mittel- und Osteuropas beschlossen.Neben den Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der Kernkraftwerkssicherheit sollen die zügige Entwicklung von Energieversorgungsalternativen und eine effizientere Energienutzung es ermöglichen, die älteren Reaktoren bald abzuschalten. Die Bundesregierung ist bereit, hierbei einen angemessenen Beitrag zu leisten, und hat sich bei ihren westlichen Partnern nachhaltig für entsprechende Hilfsprogramme eingesetzt.Diese internationalen Bemühungen sollten Teil einer marktorientierten Reform der russischen Energiepolitik insgesamt sein, die eine privatwirtschaftliche Finanzierung der Entwicklung des Energiesektors fördert. Die notwendigen Rahmenbedingungen für die energiewirtschaftliche Kooperation wurden mit
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbder Europäischen Energiecharta geschaffen. Auf dieser Basis werden durch die deutsche Wirtschaft erste Projekte, u. a. durch die Errichtung von erdgasgefeuerten Kombikraftwerken, geprüft. Die Bundesregierung unterstützt diese Bemühungen. Fragen der energiewirtschaftlichen Zusammenarbeit einschließlich der Zusammenarbeit im Kernkraftbereich werden auch im Rahmen des Deutsch-Russischen Kooperationsrates erörtert, dessen zweite Tagung am 30. September 1992 in Moskau stattfindet.Alle bi- und multilateralen Programme können jedoch nur der erste Anstoß zur Selbsthilfe sein. Es muß davon ausgegangen werden, daß es in der Eigenverantwortung der Russischen Föderation liegt, über ihre Energiepolitik zu entscheiden und ausreichende Voraussetzungen für private ausländische Investitionen in der Energiewirtschaft zu schaffen.
Frau Kollegin Klemmer, eine Zusatzfrage.
Gestatten Sie, Herr Staatssekretär, daß ich doch noch einmal auf dem Ersatz der Atomreaktoren durch Gasturbinen insistiere und Sie frage, ob Sie die Einschätzung teilen, die auf der fünften Weltenergiekonferenz in Madrid gestern von dem Weltbankdirektor Tony Churchill gemacht wurde, der gesagt hat, sämtliche Nachrüstungsvorhaben seien in äußerstem Maße eine riskante Strategie. Er hat das mit russischem Roulette verglichen und gesagt, daß dann insgesamt 20 Milliarden Dollar für die Reaktoren nicht nur in der GUS, sondern auch in den anderen osteuropäischen Staaten ausreichten, um hocheffiziente Gaskraftwerke zu errichten. Teilen Sie auch diese finanzielle Einschätzung?
Frau Kollegin, wir sind schon ein Stück über der Grenze der Fragestunde. Ich meine, die Antworten und Fragen sind in der Länge einander würdig, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, jetzt konzis zu sein; sonst muß ich Sie in der Frage unterbrechen.
Bitte.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Klemmer, ich bitte um Nachsicht dafür, daß mir diese Einschätzung bisher nicht bekannt ist und ich infolgedessen auch keine Stellungnahme dazu abgeben kann. Ich bin aber gerne bereit, mich sachkundig zu machen und Ihnen dann auf schriftlichem Wege zu antworten.
Noch eine kurze zweite Frage? — Nein.
Danke sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur wirtschaftlichen und sozialen Situation in Chemnitz
Die Fraktion der SPD hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Als erstem erteile ich dem Kollegen Dr. Gerald Thalheim das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Stadt Chemnitz und ihrem Umland geht es um das nackte Überleben einer traditionsreichen Industrieregion. Das von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Sterben eines bedeutsamen Industriestandortes der ehemaligen DDR hat ein bedrohliches Ausmaß angenommen. Nicht einmal im Ansatz ist der Aufbau neuer Strukturen zu erkennen, von denen in den nächsten Jahren spürbare Beschäftigungsimpulse ausgehen könnten. Gegenwärtig spitzt sich die Situation zu.In Chemnitz befinden sich nur noch 50 % der ehemaligen Beschäftigten in einem regulären Anstellungsverhältnis. In dem bis zur Wende strukturbestimmenden Maschinenbau wurde die Beschäftigtenzahl um 85 % reduziert. In Chemnitz existiert kein Großbetrieb mit über tausend Beschäftigten mehr. Im Textilmaschinenbau ist die Beschäftigtenzahl von 35 000 auf 3 000 zurückgegangen, davon allein um 22 000 in Chemnitz. Im Werkzeugmaschinenbau stehen weitere Entlassungen an.Die Sachsen-Hydraulik GmbH sei stellvertretend für weitere Unternehmen genannt. Von den früher 3 500 Beschäftigten sind heute noch 780 Arbeitnehmer im Betrieb. Die neue Zielgröße beträgt 302; wohlgemerkt von ehemals 3 500.Das Schleifmaschinenwerk mit früher 1 300 Beschäftigten soll komplett liquidiert werden. In der Chemnitzer Niederlassung der Treuhandanstalt ist die Liquidation weiterer 100 überwiegend kleinerer Unternehmen ausgemachte Sache. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung möchte ich folgende Forderungen an die Bundesregierung stellen: erstens den sofortigen Stopp des weiteren Stellenabbaus durch die Treuhandanstalt in den strukturbestimmenden Unternehmen; zweitens die Bildung regionaler Holdinggesellschaften zur Sanierung der Kernbereiche des Textil- und Werkzeugmaschinenbaus; drittens die Übernahme einer Bestandsgarantie für einen fest umrissenen Sanierungszeitraum einschließlich der Bereitstellung von finanziellen Mitteln — Lohnkostenzuschüsse dürfen nicht länger tabu sein —; viertens kombinierte Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung mit dem Ziel der Umnutzung von Industriebrachen, insbesondere für kapitalschwache Neugründungen im gewerblichen Bereich; fünftens die Freistellung der Unternehmen von Kosten, die aus der alten Unternehmensstruktur herrühren, mit dem jetzigen Produktionsprozeß nichts zu tun haben, aber die tatsächliche Effizienz verschleiern; sechstens die verstärkte Werbung und Verkaufsförderung, beispielsweise durch Messen innerhalb der Unternehmen der Treuhandanstalt und der Auftraggeber, vor allem der öffentlichen Hand.Zur Finanzierung der Vorhaben schlage ich einen „Aktienfonds deutsche Einheit" vor, in dem gegen Ausgabe von Beteiligungsaktien Einzahlungen nach den Kriterien des ausgelaufenen Solidaritätszuschla-
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Dr. Gerald Thalheimges von allen Einkommenspflichtigen zu leisten sind.Die Ursachen für die katastrophale Situation können nicht nur auf den Zusammenbruch der Ostmärkte zurückgeführt werden. Auch wenn die Auswirkungen auf die überwiegend exportorientierten Branchen der Region Chemnitz verheerend sind: Chemnitz steht symbolisch für das Scheitern der Wirtschafts- und Treuhandpolitik der Bundesregierung. Warum werden denn die Unternehmen bei Absatzförderung und Umsatzsteigerung nicht stärker unterstützt? Warum wurde nicht mehr in zukunftsträchtige Bereiche investiert?
Heute, zwei Jahre nach Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, haben Resignation der Hoffnung und Gleichgültigkeit der Aufbruchstimmung Platz gemacht. Die Menschen im Osten fühlen sich in vielen Bereichen um eine wirkliche Chance für einen wirtschaftlichen Neubeginn betrogen. Deshalb fordere ich nicht nur für die Region Chemnitz eine einschneidende Umorientierung in der Politik der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Joachim Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation in Chemnitz ist kritisch. Das ist die Wahrheit. Es gibt nichts zu beschönigen. Wir haben erhebliche Probleme in der Stadt. Industrieansiedlungen bereiten Schwierigkeiten, weil vor allem die Verwaltung nicht im notwendigen Maße funktioniert. Investoren können deshalb nicht gehalten werden.Vorhandene positive Ansätze bei verschiedenen Betrieben, z. B. beim VW-Motorenwerk mit 800 Millionen DM Investitionen, werden durch negative Beispiele deutlich neutralisiert. Der wichtigste Industriezweig der Stadt, der Maschinenbau, dem Chemnitz seinen Ruf als bedeutenden Industriestandort verdankt, ist zudem auch international in einer krisenhaften Situation.Auch subjektive Momente spielen eine Rolle, die der Bewältigung der Aufgabe nicht förderlich sind.Aber wahr ist auch, daß sich der Chemnitzer Koalitionspartner, die SPD, in der Stadt nicht kooperativ zeigt. Wer dem Haushalt, den man gemeinsam erarbeitet hat, nicht zustimmt, zeigt ein bedenkliches Verhältnis zur übernommenen Verantwortung.
Wahr ist auch, daß der für Wirtschaft zuständige Dezernent und stellvertretende Oberbürgermeister der Stadt von der SPD gestellt wird.
Mir geht es aber nicht um parteipolitischen Kleinkrieg.
— Aber Wahrheit muß Wahrheit bleiben.Entscheidend ist, wie die Situation in Chenmitz verbessert werden kann.
— Ich komme gleich darauf. — Die rein kommunalen Fragen müssen von den städtischen Verantwortungsträgern gelöst werden.
— So sehen es die demokratischen Spielregeln vor, Herr Thalheim. — Zu speziellen Chemnitzer Problemen werden sich meine Kollegen aus unserer Landesgruppe in dieser Aktuellen Stunde noch gesondert äußern.
Ich will dazu Stellung nehmen, wie die objektiv gegebenen Schwierigkeiten, die generell und besonders auch in Chemnitz den Aufschwung behindern, beseitigt werden können. Das ist unsere Aufgabe.Die ostdeutschen CDU-Abgeordneten haben unter maßgeblicher Beteiligung der sächsischen Landesgruppe in Erfurt ein Papier verabschiedet, das den Titel trägt „Zwölf Punkte für Deutschland — Wohlstand im Osten entwickeln, im Westen sichern".
Im Erfurter Papier werden erstmals alle Aspekte des Aufschwungs dargestellt: Wirtschaftlicher Aufschwung, soziale Sicherheit und Lebensqualität sowie die Finanzierung des Aufschwungs stehen im Mittelpunkt.
Welche Ziele sollen in welchem Zeitraum erreicht werden, welche Kosten sind zur Verwirklichung dieser Ziele notwendig, und welche Instrumente stehen zur Finanzierung zur Verfügung? Das sind die grundlegenden Fragen, die im Erfurter Papier behandelt werden,
Alle Punkte des Programms sind wichtig. Aus Chemnitzer Sicht sind sicherlich von besonderer Bedeutung: Strukturkonzepte gegen die Deindustriealisierung und gegen die Arbeitslosigkeit,
gezielte Fortbildung von Arbeitslosen, alternativeModelle zur Existenzgründung im Mittelstand, Erhal-
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Dr. -Ing. Joachim Schmidttung der industriellen Forschungstätigkeit zur Produktinnovation,
Wiederbelebung der osteuropäischen Märkte
— lassen Sie mich doch bitte ausreden; ich höre Ihnen doch auch zu —, die Sicherung der Finanzausstattung, Wohnungsbau als Konjunkturmotor, Erhaltung der Kulturlandschaft, für die wir uns außerordentlich engagieren, und — das ist wichtig — die Vereinfachung des Rechtes, um die Entbürokratisierung und die Beseitigung von Hemmnissen voranzutreiben.Die Bundesregierung hat auf unsere Anregungen schnell reagiert und Arbeitsgruppen eingesetzt,
die die Lösungsvorschläge zu den von mir angesprochenen Problemkreisen erarbeiten werden.
In diesen Arbeitsgruppen sind west- und ostdeutscheAbgeordnete aller Koalitionsparteien sowie kompetente Mitarbeiter aus den Fachministerien vertreten.
Auch eine Reihe Mitglieder der sächsischen Landesgruppe sind in diese Arbeitsgruppen berufen worden.Es wird in hohem Maße von unserer eigenen Aktivität abhängen,
ob die eingesetzten Arbeitsgruppen bald umsetzbare Ergebnisse vorlegen.
Wir werden uns in unseren Bemühungen von niemandem übertreffen lassen; denn wir wissen, daß von der Lösung dieser Aufgabe der Aufschwung im Osten generell und auch speziell in Chemnitz abhängen wird. Das Wohl und Wehe unserer Landsleute, auch in der Stadt Chemnitz, verdient unsere ganze Anstrengung.Vielen Dank.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mein Heimatland, den Freistaat Sachsen, stehe ich hier vor Ihnen. Ich bin alt genug, um noch miterlebt haben zu können, daß dieses Land einmal zu denen gehörte, die in vielen Zweigen der Industrie die Weltspitze bestimmt haben. Ich bin aber auch alt genug, um miterlebt haben zu können, wie diesehochentwickelte Industrie mehrfach zerstört worden ist.Sensibilisiert durch diese meine Lebenserfahrung, habe ich jetzt eine Bemerkung zu machen und drei Fragen zu stellen. Die Bemerkung lautet: Ich bin es leid, mir anzuhören, das sei freie Marktwirtschaft, wenn Stahlkrisen dadurch gelöst werden sollen, daß das Edelstahlwerk Freital geschlossen wird.
Ich bin es leid, mir anzuhören, das sei freie Konkurrenz, wenn BMW die Gutachter stellt, die der Treuhand bestätigen, für das in Zschopau konstruierte und produzierte Motorrad gäbe es keinen Markt.
Anschließend erklärt dieselbe Firma, sie wolle ebendieses Modell produzieren.Ich bin es leid, mir anzuhören, das sei freie Marktwirtschaft, wenn der Schwarzenberger FCKW-freie Kühlschrank als feuergefährlich hingestellt wird, und zwar nicht von unparteiischen Sachverständigen, sondern von den Konkurrenzfirmen Siemens und Bosch. Das ist nicht freie Marktwirtschaft, sondern das ist Wettbewerbsverzerrung mit unlauteren Mitteln.
Ich bin es leid, mir anzuhören, wer das kritisiere, sei ein Anhänger der Staatlichen Plankommission der SED-Zeit. Nein, weil keine Wirtschaft ohne Marktwirtschaft funktionieren kann, fordere ich: Marktwirtschaft muß dann aber frei sein und darf nicht so unfrei, verzerrt und deformiert sein, wie sie das derzeit in den Ost-Ländern ist.Sie ist so verzerrt und unfrei, daß sich ihr gegenüber als erstes die Frage stellt — ich habe sie vielen Unternehmern gestellt —: Warum soll in diesem Gebiet verzerrter und deformierter Konkurrenz überhaupt investiert werden? Das kann kein Unternehmer beantworten, aber die Regierung muß es beantworten.Welche Industrie- und Marktperspektive ergibt sich für die restlichen 3 800 Betriebe mit noch 826 000 Beschäftigten, die durch die Treuhand noch zu privatisieren sind? Ergibt sich allein die Perspektive Chemnitz, die wir eben vorgestellt bekommen haben? Was wird aus den mehreren Hundert Milliarden Schulden, die das Wirken der Treuhand bis jetzt produziert hat? Was bedeutet das für Bürger und Bürgerinnen, für Kommunen und Länder, die diese Schulden niemals gemacht haben, denen sie aber jetzt aufgebürdet werden sollen?Die Bundesregierung muß diese Fragen noch vor Winteranfang beantwortet haben. Sie muß sie beantworten und darf nicht etwa nur Arbeitsgruppen einsetzen.
Wenn sie diese Fragen bis Winteranfang nicht beantwortet hat, meine Damen und Herren, dann sind alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, darüber nachzudenken, was angesichts der erwiesenen Hand-
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Dr. Wolfgang Ullmannlungsunfähigkeit der Regierung zu geschehen hat; denn es kann ja wohl nicht weiter tatenlos einer Regierung zugesehen werden, der die Rechtsradikalen auf der Nase herumtrampeln können, die nichts dagegen tut, daß unser Land bei seinen Nachbarn immer tiefer in Verruf gerät, und die es dahin kommen läßt, daß die Bundesrepublik Deutschland von einem Motor zu einer Belastung der europäischen Einigung wird.Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat jetzt das Wort unser Kollege Dr. Jürgen Schmieder.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation für einzelne Betriebe in meiner Heimatstadt Chemnitz ist wirklich prekär. Die Industriestruktur bietet, für Chemnitz gesehen, eine einmalige Konfiguration auf dem Maschinenbausektor; man denke nur an den Werkzeug- und Textilmaschinenbereich, den Fahrzeugbau und die chemische Industrie. Aber gerade diese Branchen leiden jetzt unter sehr starkem Anpassungsdruck.Der konkrete Weg, der in den letzten zwei Jahren im Maschinenbaubereich und im Textilmaschinenbereich beschritten worden ist, war aus meiner Sicht unglücklich. Die einfache Umbenennung eines ehemaligen Kombinats in eine AG reicht eben nicht aus.Zum anderen ist die Personalpolitik zum Teil ziemlich halbherzig betrieben worden. Man hat sich ziemlich schwergetan. Man hat ehemalige Leiter, Kombinatsdirektoren, weiter in der Verantwortung gelassen.Notwendig wäre eine Entflechtung der großen, nicht weiter lebensfähigen Struktureinheiten gewesen. Ehemals gab es im Maschinenbau 80 000 Arbeitsplätze. Wir wissen alle selber — die Erinnerung kann uns an der Stelle noch nicht verlassen haben -, wie hoch die verdeckte Arbeitslosigkeit war; sie lag geschätzt bei etwa 40 %.
— Dazu komme ich gleich, Herr Kollege. Aber Sie sollten mit uns etwas tun; denn es kommt nicht immer nur darauf an zu kritisieren, sondern man muß sich natürlich an Konzepten beteiligen.
Zum anderen kommt hinzu, daß die Betriebe früher über ihre VVB oder ihr Ministerium den Absatz geregelt haben. Das ist alles weggefallen; die Betriebe sind jetzt selbst für ihren Absatz verantwortlich.Neben der Umstrukturierung gibt es ein weiteres Problem: den Wegfall des Absatzgebietes, den Zusammenbruch des Osthandels.Zur Entflechtung gibt es aber auch in Chemnitz einige gute Beispiele, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Ich möchte anführen den Spinnereimaschinenbau — das war ehemals der Stammbetrieb im Kombinat Textima —, der 3 500 Beschäftigte hatte. Dieser Betrieb hat sich frühzeitig abgenabelt, hat sich entflochten und umstrukturiert. Nebenbei gesagt: Dieser Betrieb war der erste — und meines Wissens der einzige —, der den Geschäftsführer, den damaligen Betriebsleiter, frei und demokratisch gewählt hat, und zwar im Januar 1990.Dieser Betrieb hat jetzt 750 Beschäftigte und hat liberale Wirtschaftspolitik wie aus dem Lehrbuch gemacht. Er hat nämlich entflochten, hat bestimmte Bereiche privatisiert und aus der Betriebskonfiguration abgestoßen, so daß fast niemand entlassen werden mußte. Die Leute wurden nur umgesetzt.Ein weiteres gutes Beispiel ist die Elite-Diamant GmbH, Flachstrickmaschinen- und Fahrradwerke Chemnitz. Dieser Betrieb hat es ebenfalls geschafft und steht auch mit seinem Export, mit seinem Absatz recht gut da.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen. Die Zusammenarbeit mit der Treuhand muß natürlich produktiver gestaltet werden. Was jetzt läuft, ist nicht kooperativ. Es verdichtet sich der Eindruck — er wird von vielen meiner Chemnitzer Mitbürger geteilt —, daß bestimmte Sachen behindert bzw. auf die lange Bank geschoben werden, um unliebsame Konkurrenzpartner oder Konkurrenzfirmen auszuschalten. Die Treuhand muß Umstrukturierungen ihrer Unternehmen progressiver und für die Region lebenserhaltender begleiten. Investitionsentscheidungen müssen schneller getroffen werden.
Die Bewerber für Firmen dürfen nicht behindert werden. Vielmehr muß in Schwerpunktregionen Vorrang haben, daß bestimmte industrielle Kerne erhalten werden.
— So kann man die Frage nicht stellen.Privatisierungs- und Investitionsmaßnahmen müssen besser ausgelotet und unterstützt werden, z. B. im Webstuhlbau.
— Ich kritisiere ja gerade die Treuhand bzw. verlange das von ihr. Sie müssen einmal zuhören, Herr Kollege.
Es sind Probleme, die aus meiner Sicht auf Grund einer falschen Anbindung der Treuhand existieren.
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Dr. Jürgen SchmiederDie Treuhand muß Instrumente nutzen wie den Verkauf unter Liquidationswert beispielsweise, das Entgegenkommen im Altlastenbereich, TreuhandMinderheitsbeteiligungen. Muß es immer erst so weit kommen wie beim Edelstahlwerk Freital?Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Absatzsituation machen.
— Wenn Sie alles machen würden, dann könnten wir ewig darauf warten. —
Ein vorrangiges Problem der ostdeutschen Wirtschaft ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Ich bestärke die Bundesregierung darin, verstärkt Förderinstrumente des Ostexports zu fördern, Einzelfallentscheidungen — gerade im Rahmen von Hermes — zu treffen. Dadurch muß es möglich werden, daß Projektfinanzierungen und Bartergeschäfte die Gesamtsituation absichern helfen.Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu einem Randproblem machen, das aber eigentlich sehr dominant ist, nämlich das Problem der mittelständischen Industrie.
— Das ist richtig; dazu komme ich gleich.
Herr Kollege Schmieder, Sie können nicht mehr dazu kommen; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich muß Sie leider unterbrechen.
Ich hatte dauernd Unterbrechungen durch die SPD.
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist schon vieles über die Lage in Chemnitz gesagt worden, was ich nur unterstreichen kann; denn Chemnitz ist mein Wahlkreis. Es ist hingewiesen worden auf die Zahl der Arbeitslosen dort. Sie beträgt gegenwärtig, wenn man die in ABM befindlichen und die in Umschulung Befindlichen berücksichtigt, über 23 %. Hinzu muß man noch diejenigen rechnen, die jetzt in Westdeutschland arbeiten.Nach meiner Ansicht muß auch die Frage der konzeptionellen Lösung der in Sachsen und in Ostdeutschland überhaupt bestehenden Probleme Gegenstand der Debatte sein. Die Ursache des Problems ist meiner Ansicht nach nicht die schnelle Einheit, sondern das fehlende Wirtschaftskonzept für die Zeitnach dem 2. Dezember 1990. Das sehe ich als das Hauptproblem an, ein Hauptproblem, an dessen fehlender Lösung wir noch heute leiden.Am 14. März 1991 hat die Bundesregierung zusammen mit Vertretern der Länder und der Treuhand folgendes beschlossen — ich zitiere —: „Der Systemumbruch in den neuen Ländern erfordert ungewöhnliche Maßnahmen in einem konzertierten Zusammenwirken von Bund, neuen Ländern und Treuhandanstalt. Schnelles, unideologisches Handeln ist notwendig. Zunächst teuere, aber den Arbeitsmarkt schonende Lösungen können langfristig wirtschaftlicher sein." Das ist anderthalb Jahre her, und es ist nichts geschehen. Wo sind denn die ungewöhnlichen Maßnahmen im konzertierten Zusammenwirken? Das ist nicht erfolgt.Wir haben mehrfach gefordert, wir haben hier vorgelegt Vorschläge für die Änderung der Politik der Treuhand. Sie sind abgelehnt worden. Heute ist im Rechtsausschuß erneut sowohl ein Antrag der SPD wie ein Antrag der PDS zur Neugestaltung der Politik der Treuhand abgelehnt worden.Über die Maschinenbauindustrie ist hier heute gesprochen worden. 80 % der Arbeitsplätze sind im Maschinenbau in Chemnitz vernichtet worden. Und das Schlimme ist, daß diese Politik gewollt ist. Ich möchte Wirtschaftsminister Kajo Schommer zitieren. Er hat in der „Zeit" vom 19. September 1991 geschrieben:„Industriepolitik" ist ein schönes Schlagwort. Kein Betrieb soll künstlich am Leben erhalten bleiben, wie dies in der alten Bundesrepublik z. B. im Schiffsbau geschehen ist.Selbst wenn es in einer Region nur einen Betrieb gäbe, werde das Land nicht eingreifen. Das hat er öffentlich vor einem Jahr erklärt, und das ist die Politik, die betrieben worden ist. Und am Schluß hat er gesagt:Wir können nur hoffen, daß dieser Crash-Kurs verkraftet wird.Jetzt hat er erklärt, es müßte eine Lösung getroffen werden für das Edelstahlwerk Freital. Und was ist geschehen? Die Treuhand hat sich bereit erklärt, die 500 Millionen DM Altschulden zu streichen, Altschulden, von denen, glaube ich, jeder hier im Raum weiß oder ahnt, daß sie fiktiv sind; das ist überhaupt keine Leistung. Aber um die 36 Millionen DM, die notwendig sind, um diesem Werk wieder auf die Beine zu helfen, streitet man sich zwischen Treuhand und sächsischer Regierung.Ich bin also der Meinung, wir brauchen eine andere Art von Politik für Ostdeutschland; wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, und wir brauchen eine Umorientierung der Treuhand. Das halte ich für die eigentliche Grundfrage, die hier in unserem Kreise diskutiert werden muß, für die eigentliche Frage, die wir an die Adresse der Bundesregierung stellen müssen.Von den 1989/90 vorhandenen 538 Betrieben mit je über 500 Beschäftigten in den Regierungsbezirken Chemnitz, Dresden und Leipzig haben bis Ende Mai 1992 nur 95 die Treuhandzwänge und die Westkonkurrenz überstanden. Es geht also um eine wirkliche Beschäftigungspolitik, die eine Brücke in gesicherte
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Dr. Uwe-Jens HeuerDauerarbeitsverhältnisse schlägt. Das Arbeitsförderungsprogramm ist in unseren Augen im Prinzip nur ein Programm zur Arbeitslosenverwaltung, und der groß angekündigte Sachsenfonds als Hilfsmaßnahme im Treuhandbereich blieb von Anfang an infolge fehlender Geldgeber aus dem Westen ein Flop.Entscheidend ist also, welche Politik gemacht wird, welche Politik mit der Treuhand gemacht wird. Ich möchte Ihnen ein Zitat von Kenneth Galbraith, den ja ein großer Teil von Ihnen kennt, vorlesen. Er hat im „Spiegel" Nr. 36 in diesem Jahr erklärt:Eine der Säulen, auf denen das Dach aus Wohlstand und Komfort ruht, ist die Auffassung, daß die, die nicht im Wohlstand leben, friedvoll und glücklich ihr eigenes Schicksal akzeptieren. Dieser Irrglaube könnte eines Tages plötzlich wie eine Seifenblase zerplatzen. Es gibt durchaus die Möglichkeit einer Revolte der Unterschicht.Und er schreibt am Schluß, daß der Kapitalismus nicht gerettet werden kann ohne staatliche Maßnahmen, die nötig wären, um eine wirtschaftlich erfolgversprechende und sozial friedvolle Zukunft zu sichern. Er ist ein Anhänger des Kapitalismus, aber er fordert eine wirkliche staatliche Politik. Und diese staatliche Politik wird uns heute verweigert, und es wird eben die freie Marktwirtschaft betrieben.
Herr Kollege Dr. Heuer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ein Satz zum Schluß: Es wird heute nach den Hintermännern der Komitees für Gerechtigkeit gesucht. Ich meine, wenn es einen Förderverein für die Komitees für Gerechtigkeit gibt, so würde ich als Hauptmitglieder dieses Fördervereins Herrn Waigel und Frau Breuel ansehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir vorab eine Anmerkung. Ich finde es schon sehr sonderbar und möchte das auch namens der Bundesregierung zurückweisen, wenn Professor Heuer hier glaubt, uns namens der PDS wirtschaftspolitische Ratschläge erteilen zu sollen. Es ist doch wohl verständlich, Herr Professor Heuer, daß wir diese nicht annehmen. Es hieße ja wirklich, den Bock zum Gärtner zu machen, wenn wir auf Ihre Vorschläge eingehen wollten.
Zum Thema: Die in der Region Chemnitz vertretenen Branchen sind in der Tat — wer wollte das leugnen — einem starken Anpassungsdruck ausgesetzt. Es gibt eine ganze Reihe von Betrieben, die mit ernsten Problemen zu kämpfen haben. Das sehe ich mit großer Sorge. Doch die Gesamtsituation in derRegion ist, verglichen mit anderen Regionen des Freistaates Sachsen, noch als durchaus günstig einzuschätzen.
— Wenn Sie die Zahlen hören, denken Sie vielleicht anders. Während im Freistaat Sachsen das verarbeitende Gewerbe im ersten Quartal 1992 gegenüber dem Vorjahreszeitraum eine rückläufige Umsatzentwicklung von 10,2 % ausweist, konnte in der Region im gleichen Zeitraum eine Umsatzsteigerung von 8,5 % verzeichnet werden. Die Arbeitslosenquote lag im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz im Juli 1992 mit 12,8 % wesentlich unter dem Landesdurchschnitt von 14,0 % und auch unter dem Durchschnitt der neuen Länder insgesamt.Was wichtig ist: Gegenüber dem Januar 1992 ist diese Arbeitslosenquote rückläufig. Die Zahl der Kurzarbeiter — das ist ja immer ein Frühindikator — ist seit Anfang dieses Jahres um 7 700 auf 18 300 zurückgegangen.In der Gemeinschaftsaufgabe Regionalförderung gibt es die flächendeckende Fördermöglichkeit für die neuen Bundesländer. Im Rahmen dieses Gemeinschaftswerkes ist für die Jahre 1991 und 1992 für besonders vom Strukturwandel betroffene Regionen zusätzlich ein Sonderprogramm von 2,4 Milliarden DM aufgelegt worden. Auch Stadt- und Landkreis Chemnitz haben von diesen besonderen Fördermöglichkeiten profitiert.Aus Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe ,,Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" sind im Stadt- und Landkreis Chemnitz bisher 216 Vorhaben, davon 200 Vorhaben in der gewerblichen Wirtschaft und 16 Infrastrukturmaßnahmen, mit einem Investitionszuschuß von insgesamt 205,9 Millionen DM gefördert worden, davon die gewerbliche Wirtschaft mit 133,9 und die Infrastruktur mit 72 Millionen DM. Soviel zu dem, was bisher geschehen ist.
— Über diesen Punkt können wir diskutieren. Ich wollte, alle Kollegen hätten derartige Anschauungen aus dem Wirtschaftsprozeß in den neuen Ländern, wie ich sie persönlich gewinnen konnte. Aber ich will das hier nicht vertiefen.
— Lassen Sie uns doch, Herr Professor Ullmann, einmal an dem arbeiten, was jetzt konkret getan werden kann! Da ist doch das, was heute im Kabinett behandelt wurde, ein ganz wichtiger Ansatzpunkt. Man hat sich mit der Absatzsituation der ostdeutschen Unternehmen befaßt, die ja nicht einfach ist.
— Nein, nein, Herr Schwanhold, das muß ich zurückweisen. Kernpunkt ist doch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, und die können Sie beim besten Willen nicht der Bundesregierung anlasten, da müssen Sie schon andere fragen. Diese
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Parl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolbmangelnde Wettbewerbsfähigkeit ist mit dem Zusammenbruch der Ostmärkte unmittelbar zutage getreten. Wir würden zu kurz treten — das muß ich schon sagen, wenn es jetzt um die Konzeptionen geht —, wenn wir im Hinblick auf das, was getan werden kann, nur die Ostmärkte im Auge behielten. Ich unterstütze ausdrücklich, was Herr Kollege Schmieder gesagt hat: Wir müssen versuchen, Kerne in den neuen Ländern aufzubauen, Kerne, um die herum sich neue Strukturen ausbilden können.Was ist beschlossen worden? Ich will kurz wiederholen, was Herr Minister Möllemann in der Regierungsbefragung schon ausgeführt hat. Es wird jetzt möglich sein und wird angestrebt, kurzfristig den Fünf-Milliarden-Plafond auszuschöpfen. Die Hermes-Garantien werden ausgedehnt auch auf BarterGeschäfte. Die Einnahmen aus Rohstoffvorkommen in Rußland und den Staaten der GUS werden verstärkt — das ist unsere Absicht — zu Handelsbeziehungen herangezogen werden. Und ganz entscheidend: ostdeutsche Unternehmen werden auch die Möglichkeit haben, zinsverbilligte Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu bekommen, wenn sie Lieferungen für Infrastrukturprojekte und Projekte der industriellen Modernisierung in den GUS- und mittel-osteuropäischen Staaten tätigen.Daß darüber hinaus — ich sagte ja bereits, man darf den Blick nicht nur nach Osten richten — jetzt auch die Absatzmöglichkeiten auf den heimischen Märkten und auf den Westmärkten gefördert werden, ist zu begrüßen. In diesem Zusammenhang ist konkret die Möglichkeit zu nennen — diesbezüglich gab es bereits Ausführungen —, daß jetzt primär eine stärkere Berücksichtigung von Unternehmen aus den neuen Bundesländern in bezug auf öffentliche Aufträge Platz greifen soll.Soweit meine Ausführungen zu dem, was heute morgen im Kabinett diskutiert wurde.Darüber hinaus — deswegen rufe ich Sie ja auch zu einem konstruktiven Dialog auf — denkt die Bundesregierung weiter darüber nach, wie der Aufbauprozeß in den neuen Bundesländern vorangetrieben werden kann. Sie wissen, daß die Bundesregierung derzeit mit den Abgeordneten der Koalitionsfraktionen eine Reihe von Vorschlägen prüft. Über ein Gesamtpaket von Maßnahmen, das auch die Frage der Finanzierung der deutschen Einheit einbezieht, muß im Rahmen des bis zum Ende des Jahres auszuhandelnden Solidarpakts Einvernehmen erzielt werden. Morgen werden wir im Bundestag auf Antrag der SPD über eine Gemeinschaftsinitiative „neue Länder" sprechen.Wenn auch in Einzelfragen zum Teil deutliche Unterschiede bestehen, so interpretiere ich dies doch alles als Ansatzpunkt für eine konstruktive Diskussion im Interesse der Menschen in West- und Ostdeutschland.
Ich bitte Sie nachdrücklich, sich konstruktiv an dieser Diskussion zu beteiligen.
Sie können sicher sein, daß die Bundesregierung für gute Vorschläge immer ein offenes Ohr hat.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Kollegin Frau Dr. Helga Otto.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschen in der Region Chemnitz haben die Wende gewollt. Mit überwältigender Mehrheit haben sie der Koalitionsregierung einen Vorschuß an Vertrauen gewährt und sind bitter enttäuscht worden.In dieser Region steht die Wiege der deutschen Industrie. Sie hat eine hundertjährige Tradition in der Textilindustrie. Wir beklagen nicht, daß die HochZeit dieser beiden Industriezweige vorbei ist, aber wir beklagen, daß kein Wille zu erkennen ist, der Region eine neue Zukunft zu verheißen. Der politische Wille, Kerne dieser beiden traditionellen Industriezweige zu erhalten, wird nicht definiert; ganz zu schweigen davon, den Boden für eine neue, zukunftsorientierte, ökologische und technologieorientierte Industrie zu bereiten.Auch die Reduzierung der Textilforschung ist fatal für die Region. Im Textilforschungsinstitut Chemnitz arbeiteten 1991 400 Personen in der Textilforschung. Das Endziel: 38 Personen. Somit ist gut jeder zehnte Arbeitsplatz verlorengegangen. Die Entlassungen betreffen zwangsläufig den Kern junger und hochqualifizierter Leute.Dabei bitte ich Sie, zu beachten, daß unsere Forschungsinstitute von ihren heutigen Konkurrenten bis in den letzten Winkel untersucht wurden. Da gibt es keine Betriebsgeheimnisse mehr. Damit gibt es auch keine Chancengleichheit mehr. Die ehemaligen Auftraggeber aus dem Osten sitzen hinter der Devisenmauer. Die Betriebe in der Region gibt es nicht mehr. Westdeutsche Auftraggeber halten sich in bezug auf unsere Forschungsinstitute bedeckt.Der Staat ist nun in der Pflicht, Strukturförderprogramme bis zum Wunder Aufschwung Ost am Leben zu erhalten; aber nicht nur für ein bis zwei Jahre. Billige Gewerbemieten, Entschuldung von Altlastforderungen, höhere Investitionshilfen und Entbürokratisierung wären gute Instrumente zur Belebung der Wirtschaft.Es ist immer dieselbe fatale Mühle, in welche die Betriebe geraten, sie gleicht sich fast in jedem Treuhandbetrieb: Entlassen, warten, Kurzarbeit null, Kunden ziehen sich zurück, da keine mittel- und langfristige Bestandsgarantie für die Produkte da ist, keine Möglichkeit der Investition zur Produkterneuerung, warten, wieder Konzepte, warten, Eigentumsprobleme, endlose Duette mit der Treuhand und am Ende die Liquidation.
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9072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Dr. Helga OttoKommt denn niemand in dieser Bundesregierung auf die Idee, daß etwas am System falsch ist? Oder ist das eine Strategie?
Das Versagen der politisch Verantwortlichen muß immer wieder deutlich dargestellt werden. Obwohl die Textilindustrie nun schon auf etwa 10 % des ursprünglichen Bestandes geschrumpft ist, sind noch immer keine Leuchtzeichen von der Treuhand da, welche Betriebe erhalten bleiben sollen. Da erfährt die Vorsitzende Gewerkschaft Textil und Bekleidung aus der Lokalpresse, daß wieder sieben Textilbetriebe in die Liquidation gehen. Am sogenannten „Sachsentisch" erfährt sie davon nichts.
Dabei hat es eine Schiene Breuel-Biedenkopf gegeben. Aber das war wohl nur ein Flop.Es ist schon so weit, daß ein Liquidator die planmäßige Liquidierung eines Betriebes nicht mehr mitansehen kann und mit eigenem Kapital versucht, einen mit modernem Maschinenpark ausgestatteten Textilbetrieb in Mühlau zu retten.Wie sollen die Menschen in Mittweida bei Chemnitz verstehen, daß die Treuhand ihren letzten größeren Betrieb, die Baumwollspinnerei, liquidieren und 20 Millionen DM von den sechs Kaufwilligen haben will, obwohl doch noch Investitionen in Millionenhöhe erforderlich sind. Da sind andere Betriebe in bezug auf den Verkauf schon besser weggekommen.
Ich will noch kurz auf die Situation unserer Frauen eingehen. 93 % haben bis vor der Wende gearbeitet. Viele sind alleinerziehend und auf eigenen Verdienst angewiesen. Jetzt stellen sie fast 70 % der Arbeitslosen. Es sind keine Mittel für die neue, zukunftsorientierte ABS-Gesellschaft für die Textilarbeiter übrig gewesen. Das haben sie nicht verdient. Aber erst recht haben sie nicht verdient, daß Herr Möllemann den „guten" Vorschlag macht, die Wochen- und die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Das ist blanker Zynismus.
Bei der hohen Arbeitslosigkeit, beim Zurückfahren der Mittel für Kultur und Sport und bei einem Mangel an Ausbildungsplätzen sind die riesigen menschenfeindlichen Neubausiedlungen in Chemnitz eine Brutstätte für Gewalt und Fremdenhaß.
Die Finanzausstattung des Arbeitslosenverbandes wäre keine sinnlose Investition gewesen. Der soziale Friede ist gefährdet. Die Region Chemnitz kämpft unter der Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Ich appelliere an die Verantwortung derer, die leichtsinnig blindes Vertrauen erhascht haben, und bitte sieum Solidarität und ihren Willen zu politischem Handeln zum Wohle der Region Chemnitz.
Ich erteile als nächstem Redner unserem Kollegen Klaus Reichenbach das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Otto, ich komme aus der Textilindustrie. Ich habe bis 1972 einen halbstaatlichen Betrieb geleitet.
Ich war Mitbesitzer. Das ging ganz gut. Darüber müssen wir noch reden.
Ich kenne die Textilindustrie sehr gut. Ich habe bis 1988 in der Textilindustrie gearbeitet. Sie wissen ganz genau, daß die Situation, wie Sie sie geschildert haben, so nicht stimmt. Ihre Ausführungen waren unlogisch; denn die dortige Textilindustrie war total veraltet. Das war die zu melkende Kuh der DDR, die schnelle Exporte machen mußte und die in bezug auf die Ausstattung keinem Konkurrenzkampf gewachsen ist. Was Sie erzählt haben, das war Unsinn.
Herr Professor Heuer, es tut mir leid, aber ich muß Ihnen folgendes sagen: Die in Chemnitz entstandene Industrie war doch die Kombinatsbildung der DDR. Alles, was jetzt dort zusammenbricht, beruht auf der kranken Struktur.
Wir haben doch früher kaum Mittelstand gehabt. Der Mittelstand in der DDR ist 1972 wegrationalisiert worden.
— Dazu werde ich noch etwas sagen. Bitte lassen Sie mich deshalb ausreden!
Wir müssen jetzt eine Mittelstandsstruktur entwikkeln.
Einen Moment bitte, Herr Kollege Reichenbach! — Zwischenrufe sind gestattet. Das ist in Ordnung. Aber der Redner muß sich verständlich machen können. Zuhören können wir doch alle. Jeder kann doch hier argumentieren.
Bitte, Herr Kollege Reichenbach.
Wir sollten darüber reden, wir wir einen gesunden Mittelstand entwickeln können. Ich gebe zu, daß diesbezüglich Fehler gemacht wurden und Defizite vorhanden sind. Wir müssen darüber reden. Wir müssen zu sachlichen und zu konstruktiven Lösungen kommen. Wir müssen ergründen, welche Wege denkbar wären.
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Klaus ReichenbachDie Kapitalausstattung des ostdeutschen Mittelstandes ist zur Zeit eine Katastrophe,
— Seien Sie doch bitte einen Moment ruhig!
Wir müssen Möglichkeiten finden, um zu einer Verbesserung zu gelangen. Ich bitte die Bundesregierung — in diesem Zusammenhang erwähne ich das ZwölfPunkte-Programm —, mitzuziehen. Es ist jetzt ganz dringend notwendig, daß Bürgschaften vom Bund und von den Ländern geleistet werden, die die Bereitstellung von Kapital für mittelständische Existenzgründer im Osten wesentlich verbessern. Ein Riesenproblem ist für uns, daß wir nicht an Geld herankommen.
— Herr Dr. Thalheim, Moment, ich möchte Sie loben. Ich bin für die Industriebörse für Immobilien, die Sie angesprochen haben. Wir haben 72, die ihre Immobilien zurückbekommen und zum Teil damit nichts anzufangen wissen. Also lassen Sie uns gemeinsam mit der Treuhand, mit dem Amt für offene Vermögensfragen und den Kommunen diese Immobilien für entsprechende Existenzgründer ausschreiben und verkaufen! Dann haben wir viel gewonnen.
Ich bin der Meinung, wir sollten darauf achten, daß wir hier keine Hilfsprogramme für Leichen aufbauen, die schon auf dem Tisch liegen und mit einer Bluttransfusion gerettet werden sollen.Meine Herren, wir müssen eine Industrie aufbauen, die investiv zukunftsorientiert ist, aber nicht in ein bis zwei Jahren wieder pleite ist.
Ich lehne es, ehrlich gesagt ab, Gelder dort hinzugeben, die nur konsumiert werden, so daß wir in zwei bis drei Jahren vor derselben Situation stehen, daß wieder Geld transferiert werden muß, weil diese Betriebe vor der Pleite stehen. Deswegen brauchen wir eine zukunftsorientierte Industrie.Es stimmt nicht, was Sie gesagt haben: daß' es in Sachsen und in Chemnitz nichts gibt. Ich bin selbst Aufsichtsratsmitglied in einer SMAG Spezialmaschinenbau GmbH und Werkzeugmaschinenbau, die gegründet wurde und jetzt bereits 300 Mitglieder hat. Sie baut sich aus dem ehemaligen Werkzeugmaschinenbau des Buchungsmaschinenwerks, des MZ-Werkes in Zschopau, des DKK Scharfenstein auf und hat sich in den marktfähigen Regionen, nämlich in Westeuropa und in der Bundesrepublik, einen Markt gesichert. Wir wissen ganz genau, daß der osteuropäische Markt im Moment absolut unmöglich ist, weil dort nicht die entsprechende Zahlungsfähigkeit vorhanden ist. Gerade die Exportfähigkeit zu erhalten, bedeutet doch eindeutig, daß wir die Ostmärkte wieder aktivieren müssen. Dafür müssen wir alles einsetzen.
Ohne Märkte wird keine Produktion funktionieren. Ohne funktionierende größere Produktion — nicht mehr mit 5 000-, 6 000-, 7 000-Mann-Betrieben, sondern mit 500-, 600-, 700-Mann-Betrieben — wird es auch keinen Mittelstand geben, der produzieren kann. Ein Mittelstand, der nur im Konsumbereich oder nur im Dienstleistungssektor tätig ist, wird der Region Chemnitz auf Dauer gesehen nicht helfen. Dafür sollten wir alles einsetzen.Ich bin der Meinung, das Amt für offene Vermögensfragen, das gerade in der Region Chemnitz die meisten Fälle der Reprivatisierung behandeln muß, muß dringend personell ausgestattet werden. Dort hängt es teilweise an Schreibkräften, dort fehlen fachkompetente Leute, die nach rechtlichen Vorgaben die Entscheidungen schnell treffen. Zur Zeit werden sie über Monate hingezogen.Die Treuhandanstalt handelt auch nicht immer sehr gut, und ich bin nicht mit allen Dingen einverstanden. Es gibt in der Treuhandanstalt den gesetzlichen Rahmen für eine gütliche Einigung, die bei den vielen Möglichkeiten in der Anwendung des Gesetzes die Regelungen mit allen Seiten offen läßt. Aber da gibt es natürlich sehr unterschiedliche Auffassungen. Es gibt eine Niederlassung in Dresden, die ganz anders entscheidet als die Niederlassung in Chemnitz, die in Leipzig oder die in Berlin. Dort müssen wir Einigkeit erzielen.Die Situation ist schlimm. Es kommen Liquidatoren zu uns in die ehemalige DDR, die gerade ihren Schulabschluß als Rechtsanwälte gemacht haben, die keinerlei wirtschaftliches Verständnis haben und Fehlentscheidungen treffen. Dort müßten wir auch ansetzen. Das kann so nicht sein. Wir sind hier gemeinsam — ob in den Regierungsparteien oder in der Opposition — als Bundestagsabgeordnete aufgefordert, hier unser Veto einzulegen. Ich persönlich habe in meinem Urlaub fünf bis sieben Fälle von Reprivatisierung behandelt, um zu helfen. Ich muß sagen, 90 % sind gutgegangen.Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen und versuchen, konstruktive, sachkonkrete Lösungen für alle in dieser Region zu finden! Das erwarten die Bürger von uns als Bundestagsabgeordneten.Ich danke Ihnen.
Der nächste Redner ist unser Kollege Ernst Schwanhold. Ich erteile ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, Schuldigkeiten müssen auch Schuldigkeiten genannt werden, Herr Kolb. Das, was Sie heute als Fortschritt feiern, ist eigentlich das Eingeständnis schuldhaften Verhaltens dieser Regierung in den letzten zwei Jahren. Sie haben gesagt, ich muß das zurückweisen. Ich nehme das zur Kenntnis, wobei ich sage, die Betonung liegt auf „muß".Schuldhaftes Verhalten deshalb, weil wir Ihnen seit zwei Jahren täglich vorpredigen: Der Eigentumsanspruch „Rückgabe vor Entschädigung" ist falsch und muß umgekehrt werden; da gibt es Investitionshemm-
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9074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Ernst Schwanholdnisse. Wir predigen Ihnen seit langer Zeit: Wir müssen diese Betriebe, die es dort gibt, erhalten und aus den Kernbereichen dieser Betriebe eine Umstrukturierung vornehmen. Jetzt endlich fangen Sie an, darüber nachzudenken, nachdem 50 % der Betriebe oder mehr „platt" sind. Ich frage mich, ob dies eigentlich die Politik ist, die die Menschen dort wirklich verdient haben.Hans Kaspar hat gesagt: „Es ist besser, Deiche zu bauen, als auf die Vernunft der Flut zu hoffen." Sie sind dabei, zu jener Flut, die sich über das Land und über diese Region in Sachsen ergießt, auch noch den letzten Wald, der Windbruch verhindern und der die letzten bestehenden Betriebe noch am Leben erhalten könnte, wegzupusten. Sie machen sich mit Ihrer jetzigen Politik daran schuldig, daß in Ostdeutschland die Brandstifter, die ihr Süppchen des Rechtsradikalismus auf Grund einer desolaten sozialen Situation kochen, von Ihnen die Streichhölzer geliefert bekommen. Es besteht ein ernsthafter Zusammenhang zwischen der sozialen Situation, den Zukunftschancen der Menschen und jenem, was diese Regierung an Zukunftschancen verspielt.
Ich will Ihnen sagen, daß es eine Fülle von Ansätzen für die Betriebe in Chemnitz und in der Region Chemnitz gegeben hätte. Um Ihnen ein Stückchen aus dem Tollhaus zu sagen: Da schreibt ein Treuhandbetrieb Ostdeutschlands eine Zerkleinerungsanlage aus, die ein Investitionsvolumen von ca. 6,5 Millionen DM ausmachen würde. Um diesen Auftrag bemühen sich Firmen aus Westdeutschland und auch ein Treuhandbetrieb, der in diese Richtung hinein umstrukturiert hat. Nach Kenntnis aller gibt es dort gleiche technische Ausrüstungen, gleiche Qualifikation der Maschine. Was meinen Sie, wohin der Auftrag gegangen ist? Er ist zu einem westdeutschen Betrieb gegangen, der sogar noch 300 000 DM teurer angeboten hat als der ostdeutsche Betrieb.Wenn Sie nicht einmal in der Lage sind, die Treuhand so zu kontrollieren, daß sie in ihren Betrieben auch Zukunftschancen und Aufträge vergibt, die in diese Region hineingehören, dann hören Sie auf mit Vorwürfen gegenüber der Opposition, sie sei nicht konstruktiv. Nein, Sie lassen Ihre Kontrolle der Treuhand vermissen, und dies schadet den Menschen dort ganz genauso.Ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen, wo es eine Fülle von Möglichkeiten gibt, wie ich denke. Wir werden erleben, daß die Textilindustrie der Nachfolgestaaten der Sowjetunion binnen kurzer Zeit keine Ersatzteile mehr hat und die Produktion dort insgesamt zusammenbricht. Wir werden dann, weil es zu sozialen Katastrophen kommen könnte, in Taiwan oder anderswo fabrizierte Mäntel kaufen und sie als Hilfsprogramme mit aktivierten privaten Mitteln dorthin schicken. Die Treuhandbetriebe verschrotten die in der GUS notwendigen Ersatzteile und Maschinenteile, die zur Komplettierung und Aufrechterhaltung der Produktion notwendig wären, und es wird nur der Schrottpreis dafür bezahlt. Es muß doch möglich sein, einen Solidarpakt der Vernunft zu erstellen, daß wir wenigstens diese Geräte und Ersatzteile dort kaufen,damit Kapital dorthin fließt, damit weiter produziert werden kann und wir auch der GUS helfen.
Ich will die Kette der Beispiele nicht verlängern. Wir haben Ihnen vor Wochen gesagt, es ist notwendig Osthandelsgesellschaften zu gründen; wir haben Ihnen vor Wochen gesagt, es ist notwendig, BarterGeschäfte mit einzubeziehen; wir haben Ihnen vor Wochen und vor Monaten gesagt, man muß über einen Swing nachdenken — heute kommen Sie auf diese Idee. Ich denke, die Menschen in Chemnitz werden genau erkennen, daß Sie auch in den letzten Monaten schuldhaft versäumt haben, hier positive Ansätze zu finden, die Ihnen die Opposition gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Rudolf Meinl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über 30 Jahre war ich im Werkzeugmaschinenbau in Chemnitz in der Entwicklung tätig. Ich kenne dadurch die Situation im Maschinenbaubereich bis in die heutige Zeit und bin von der augenblicklichen Lage der Betriebe persönlich sehr betroffen.Zu keiner Zeit war jedoch mit einem solchen Einbruch bei dem vorhandenen Facharbeiter- und Entwicklungspotential zu rechnen. Aber die realsozialistische Wirtschaftspolitik der SED und der Zusammenbruch der Märkte, auf denen diese Strategie aufbaute, haben diese Basis stark angegriffen, und wir sind gefordert, diese Fehler zu beseitigen.
- Ich dachte, deswegen haben Sie diese Stunde einberufen. — Das geht aber auf keinen Fall mit einer Weiterführung im sozialistischen Stil und auch nicht durch schnelle Angleichung der Löhne an Westniveau bei noch fehlender Produktivität.Aber Chemnitz ist und bleibt ein traditionelles Wirtschaftsgebiet. Gemeinsam wird von der Staatsregierung Sachsen und von der Treuhand an der Erhaltung sanierungsfähiger Unternehmen gearbeitet. 14 Betriebe mit einem erfolgversprechendem Konzept, darunter auch die „Heckert"-Werkzeugmaschinen GmbH Chemnitz, wurden bis jetzt ausgewählt. Weitere Betriebe sind zur Zeit in Prüfung. Bei der Vorlage eines machbaren Konzepts ist natürlich insbesondere die Unternehmensleitung gefragt. Aber auch bei der Treuhand müssen neue Wege beschritten, die Konzepte besser geprüft und vor allem mit der Geschäftsleitung und dem Betriebsrat des Unternehmens auch beraten werden. Daß dabei andere Interessen im Spiel sind, muß durch politische Begleitung durch Land und Bund vermieden werden.Das Beispiel Schleifmaschinenwerk — bereits genannt — soll das verdeutlichen: Nach dem Zusammenbruch des Ostmarktes konnte mit den dort produ-
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Rudolf Horst Meinlzierten modernen Maschinen bereits ein Marktanteil in Westeuropa errungen werden. Damit wäre ein Bestand mit etwa 300 Beschäftigten bei weiterer Ausweitung des Marktes möglich. Von der Treuhand ist jedoch die Auflösung des Chemnitzer Betriebes mit einer Verlagerung der Produktion in die Werke nach Berlin und Leipzig angedacht.Nicht die Produktion ist schlecht; hier wird vielmehr etwas reglementiert. Seltsamerweise ist der Aufsichtsratsvorsitzende des Schleifmaschinenwerkes Chemnitz gleichzeitig Hauptgeschäftsführer in Leipzig und Berlin. Zufall? Ich glaube es nicht.
Jedenfalls wurde der Chemnitzer Betrieb von diesem Vorhaben durch eine Pressemitteilung im „Handelsblatt" vom 13. August völlig überrascht. Die eigenen Sanierungskonzepte scheint man nicht gelesen zu haben.Gemeinsam mit der Staatsregierung Sachsen werden wir diesen Fall überprüfen und eine Sanierung durchsetzen, wenn das Konzept tragfähig ist. Nur damit können Arbeitsplätze gesichert werden, nicht mit Betriebsbesetzungen, wie sie unseren Belegschaften von einigen sogenannten Helfern aus den alten Bundesländern eingeredet werden. Hierbei geht es nur um Selbstprofilierung dieser Leute, nicht um selbstlose Hilfe. Mit einem Solidarpakt hat das für mich überhaupt nichts zu tun.Nicht nur die ehemals großen Industriebetriebe aber halten und schaffen Arbeitsplätze, sondern vor allem neue, kleinere, flexiblere mittelständische Unternehmen. Das ist bereits gesagt worden.Die weitgehende Deckungsgleichheit zwischen den elf Maßnahmen, die vom Interessenverband des Chemnitzer Maschinenbaus bei dem Gespräch mit Bundeskanzleramtsminister Bohl vorgelegt wurden, mit dem Zwölf-Punkte-Programm der CDU-Abgeordneten aus den neuen Ländern beweist, daß die Lösung in der gleichen Richtung gesehen wird.Ich erwähne hiervon nur wenige zu ändernde Verhaltensweisen: die Kreditvergabe durch Banken, die von ansässigen Unternehmern mehr Sicherheiten verlangen als bei Investoren aus alten Bundesländern, die Vergabe öffentlicher Aufträge an ortsansässige Betriebe sowie kürzere Prüf- und Vergabefristen bei Behörden.Ein wirtschaftlicher Aufbau ohne eine gute Verkehrsinfrastruktur wird nicht gelingen. Durch das Chemnitzer Industriegebiet führt die Sachsen-Magistrale, die wichtigste Ost-West-Schienenverbindung am Fuße des Erzgebirges. Der derzeitige Zustand muß durch die entsprechende Einordnung in den Bundesverkehrswegeplan und die daraus resultierenden Baumaßnahmen schnellstens verbessert werden. Dieser Ausbau bringt Arbeitsplätze in großer Zahl und schafft die verkehrlichen Anschlüsse an andere Industriegebiete.Wo sich eine gute Wirtschaft entwickeln soll, dürfen auch Kunst und Kultur nicht fehlen. So betrachte ich es als ein hoffnungsvolles Zeichen, daß im Dezember 1992 in Chemnitz das im Innen- und Bühnenraumvöllig umgestaltete Opernhaus nach fünf Jahren Bauzeit wieder seiner Bestimmung übergeben wird. Das zeigt, daß sich die Region trotz der vorhandenen Schwierigkeiten nicht aufgegeben hat.Ich danke sehr.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Christoph Schnittler.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den letzten Tagen haben das Europareferendum in Frankreich und das Asylproblem die vielen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern etwas in den Hintergrund treten lassen. Heute haben wir sie wieder in vollem Umfang auf dem Tisch; und das ist recht so.Lassen Sie mich bitte mit dieser natürlich bewußt vereinfachenden These beginnen — ich hoffe dabei auf die Zustimmung aller Fraktionen —: Politische Stabilität in Deutschland wird es in den nächsten Jahren genau in dem Maße geben, wie es gelingt, in den neuen Ländern zügig und sichtbar Arbeitsplätze zu schaffen.
Ich möchte das Problem aus meinen Erfahrungen ein bißchen vertiefen: Ich hatte Gelegenheit, an einer Sitzung des Unterausschusses „Treuhand" teilzunehmen. Unter anderem ging es dabei um die Privatisierung der Glasindustrie im Ilmenauer Raum. Ilmenau ist mein Wahlkreis. Hier gab es ein Kombinat „Technisches Glas Ilmenau", das 12 500 Menschen vor der Wende Arbeit gab. Heute sind es noch 2 000 Beschäftigte. Das Konzept der Einzelprivatisierung sieht vor, 1 700 Arbeitsplätze zu erhalten. Gesichert sind sie noch nicht.Ein weiterer Tagesordnungspunkt war die Situation in der ostdeutschen Textilindustrie. Hier spielt sich das gleiche Drama ab, nur in einer anderen Größenordnung. Am 1. Januar 1991 gab es dort immerhin noch 170 000 Beschäftigte, davon 111 000 im sächsischen Raum. Die Treuhand glaubt heute, daß sie 10 % der Arbeitsplätze, vielleicht auch ein paar mehr, erhalten kann. Wie dem auch sei: Die Arbeitslosen zählen nach Hunderttausenden.Damit ist die Situation in Chemnitz umrissen; denn in den anderen Industriezweigen sieht es nicht anders aus.In Chemnitz sind die Probleme kulminiert. Aber Chemnitz ist sozusagen überall in den neuen Ländern. Die Unterschiede sind eher graduell.
Die psychologischen Folgen sind schlimm. Sie werden dadurch verschärft, daß das Märchen von der führenden Rolle der Arbeiterklasse zusammengebrochen ist und daß gerade die früher gehegten wenig qualifizierten Arbeiter heute keinerlei Chance sehen; natürlich auch dadurch, daß zumindest an Arbeitsplätzen in der damaligen DDR kein Mangel herrschte
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9076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Dr. Christoph Schnittlerund Arbeitslosigkeit für die meisten Menschen einfach nicht vorstellbar war.Die Gründe für diese Situation sind durchaus klar. Die korrupte und unfähige SED-Administration hat Infrastruktur und Wirtschaft in gleicher Weise verkommen lassen. Diese Feststellung ist ebenso richtig, wie sie den Betroffenen nichts nützt.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen — das sage ich ganz bewußt —: Heute, fast drei Jahre nach der Wende, will diese Binsenweisheit niemand mehr hören.
Eine Entlastung für die alten und neuen Genossen von der SED und der Nachfolgepartei ist das aber nicht.Genauso ist es mit der Marktsituation. Die Analyse ist richtig. Doch sie gibt keine Hoffnung und keine Zuversicht. Die betroffenen Menschen erwarten von uns Politikern keine Wunder; aber sie möchten wenigstens Antworten haben.Zunächst will ich feststellen: Ohne die Solidarität des Westens und damit ohne Verzicht auf Wohlstandszuwachs in den alten Ländern wird es auf viele Jahre hinaus nicht gehen. Ich muß allerdings andererseits den Menschen im Osten sagen, sie mögen bitte die Solidarität des Westens nicht überfordern, und sei es nur, um die Stabilität dieser westdeutschen Wirtschaft nicht zu gefährden.Geld ist aber keineswegs das Allheilmittel zur Lösung der Probleme. Es kommt natürlich ebenso darauf an, dieses Geld richtig einzusetzen und die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.Die F.D.P. hat hierzu eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Ich meine nach wie vor: Es sind gute Vorschläge. Die Eckpunkte sind: Sparsamkeit in allen Haushalten
und Überwindung eines gesteigerten Anspruchsdenkens. Hier sind alle gesellschaftlichen Gruppen gefordert. Ich meine natürlich auch die Kollegen von der SPD und von den Gewerkschaften.Nach wie vor steht die Forderung, daß Ostdeutschland ein Niedrigsteuergebiet im Hochsteuerland Deutschland sein muß. Nach wie vor meinen wir: Wir müssen zügig privatisieren; alles andere kann nicht zum Ziel führen.
Kollege Schnittler, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin sofort fertig. — Wir alle sollten endlich diese notwendigen Maßnahmen bündeln und ein Konzept daraus entwikkeln, damit wir den Menschen wieder Mut machen können. Ich sage bewußt: wir.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Daß diese drängenden Fragen zum Gegenstand des Parteienstreits gemacht werden, verstehen die Menschen in den neuen Ländern am allerwenigsten.
Herr Kollege Schnittler, ich muß Sie unterbrechen. Ihre Redezeit ist weit überzogen. In Aktuellen Stunden gibt es nicht mehr als fünf Minuten Redezeit. Ich bitte Sie, aufzuhören.
— Trotzdem. Ich kann bei der Aktuellen Stunde nicht zulassen, daß länger geredet wird.
Meine Damen und Herren, ich erteile unserem Kollegen Wolfgang Engelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Situation des Arbeitsmarkts in der Region Chemnitz und im Erzgebirge ist mehr als besorgniserregend. Das wurde schon mehrmals betont.Traditionelle Industriebetriebe sind weitestgehend nicht mehr vorhanden. Die Privatisierung durch die Treuhand hat wohl einige Standorte erhalten. Aber die Beschäftigungsquote ist teilweise von 100 % auf 10 % heruntergefahren worden, ohne daß der im Aufbau befindliche Mittelstand die freigesetzten Arbeitnehmer hat aufnehmen können.Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit durch den Wegfall der Produktionsstätten liegen nicht allein im Abbrechen des oft zitierten Ostmarktes und des Ostreiches, sondern auch in einer weitestgehend nicht vorhandenen Kooperation der Treuhand mit dem Land Sachsen, mit dem Bund, mit den Kommunen, mit den gesellschaftlichen und politischen Kräften. Eine fehlende Wirtschaftsstrukturpolitik ist mit verantwortlich für den derzeitigen Industrialisierungsverfall Ostdeutschlands.
Solche Hauruckaktionen wie die in den letzten Tagen zur Rettung der sächsischen Edelstahlwerke Freital sollten der Vergangenheit angehören.
Ich erwarte von den Wirtschaftspolitikern, daß eine Strategie verfolgt wird, die neuen Bundesländer nicht nur im Verbraucherbereich, sondern auch im produktiven Sektor zu integrieren.
Wir Ostabgeordneten der CDU wollen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen eigener Wertschöpfung, Konsumtion und Dienstleistung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992 9077
Wolfgang EngelmannAuch wenn die offiziellen Zahlen des Arbeitsbezirks Chemnitz nur 12,5 % für den Monat August ausweisen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch die Instrumentarien des Arbeitsförderungsgesetzes eine weitaus höhere Zahl von Beschäftigungslosen aufgefangen wird.
32 713 Arbeitslosen — davon 66,4 % Frauen — stehen gegenüber: 62 300 Maßnahmen in ABM, Weiterbildung, Kurzarbeit und Empfänger von Altersübergangsgeld — eine unglaubliche Solidarleistung aller Deutschen, die nicht hoch genug geschätzt und gewürdigt werden kann.An dieser Stelle gilt mein Dank dem Ministerium für Arbeit und Sozialordnung und Herrn Minister Blüm sowie der Bundesanstalt für Arbeit, die durch enorme Leistungen in kurzer Zeit eine funktionierende Verwaltung in den neuen Ländern aufgebaut haben und Tausenden von Arbeitslosen die erste Hilfestellung in einer schwierigen Übergangszeit bieten.Damit der Arbeitsmarkt nicht nur in Chemnitz weiter entlastet wird, halte ich es für dringend erforderlich, ab dem 1. Januar 1993 den 55jährigen Bürgern eine Alternativlösung zur auslaufenden Altersübergangsregelung anzubieten.
Als ein Akt der Gerechtigkeit sollte vorausgehen, daß die für uns unselige 78-Tage-Regelung beseitigt wird, die Tausenden von Mittfünfzigern versagt, die großzügige vorzeitige Altersabsicherung in Anspruch zu nehmen.
— Das hat man selten: Beifall von allen Rängen.
Vielen arbeitslosen Frauen sollte eine Beschäftigung ermöglicht werden, indem mehr Teilzeitarbeitsplätze angeboten werden. Der Bedarf ist vorhanden.Die arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien sind eine dankbare Hilfe in der Übergangsphase von der sozialen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft.
Aber sie bieten keinerlei Perspektiven. Diese können nur im engen Zusammenwirken zwischen Politik und Wirtschaft erreicht werden.
Der von den Unionsparteien vorgeschlagene Sozialpakt ist ein Schritt in die richtige Richtung.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile unserem Kollegen Hinrich Kuessner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Chemnitz ist ein Beispiel. Das Beispiel von Chemnitz zeigt: Die Umstrukturierung der Wirtschaft in den neuen Ländern kann nicht dem Markt überlassen werden. Der Markt erhält und schafft nur wenige Industriearbeitsplätze.
Das Beispiel Chemnitz zeigt auch: Man kann den Umstrukturierungsprozeß nicht einfach der Treuhand überlassen. Die Treuhand hat von der Mehrheit in diesem Parlament den Auftrag zur Privatisierung und zur Stillegung von Betrieben und leider nur zu einer zögernden und begrenzten Sanierung erhalten. Es fehlt bis zum heutigen Tag eine aktive regionale Strukturpolitik.
Diese Strukturpolitik ist Aufgabe des Wirtschaftsministeriums. Die politische Gestaltungskraft ist gefordert. Was ist die Antwort der Bundesregierung auf den Zerfall der Industriestandorte in den neuen Ländern? Über Ursachen haben wir viel gehört. Von der Bundesregierung muß man heute eine Antwort auf die Frage nach dem Weg in die Zukunft erwarten.
Am 14. September dieses Jahres fuhr der Kanzleramtsminister Bohl nach Chemnitz. Die Menschen haben eine Antwort von ihm als Regierungsvertreter erwartet. Die Enttäuschung in Chemnitz war groß, als er ging; denn er hatte keine Antwort.Wir von der SPD-Fraktion sind im Sommer zweimal in Chemnitz gewesen, weil Chemnitz ein Beispiel ist. Man muß am Beispiel zeigen, ob man politisch etwas verwirklichen kann. Wir haben im Gespräch mit Belegschaft, mit Betriebsrat, mit Geschäftsführung, mit Gewerkschaft — aber wir haben auch die Treuhandanstalt und Politiker aus Ost- und Westdeutschland eingeladen — zusammen überlegt, wie man mit einzelnen Betrieben die nächsten Schritte macht.Wir haben in Chemnitz erlebt, daß eine Entscheidung in einem Betrieb fallen sollte: Der Betrieb sollte in die Management KG aufgenommen werden. Die Treuhand hatte überhaupt keinen Grund genannt, warum dies passierte; denn die Privatisierungsgespräche waren zu einem scheinbar erfolgreichen Ende geführt worden. Wir von der SPD, der immer vorgeworfen wird, daß sie nicht für Privatisierung, sondern nur für Sanierung ist, mußten uns stark machen, damit hier eine schnelle Privatisierung passiert und dieser Betrieb gerettet wird.Wir haben in langen Verhandlungen in der Berliner Treuhand am nächsten Tag erreicht, daß diese Entscheidung der Treuhand neu überlegt wird, da uns keine erkennbaren Gründe auf den Tisch gelegt
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9078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 106. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. September 1992
Hinrich Kuessnerwerden konnten. Das muß, meine ich, in dieser Bundesregierung geändert werden; denn für die Treuhand ist die Bundesregierung und nicht die Treuhand verantwortlich. Das Gespräch mit den Betroffenen muß viel intensiver vor Ort geführt werden.Wir haben nicht die Zeit, uns grundsätzlich um große Gesetzesänderungen hier zu streiten, sondern wir müssen konkrete Lösungen machen. Wir von der SPD-Fraktion werden weiterhin in den neuen Bundesländern umherreisen und dieses Gespräch suchen. Wir laden dazu die Regierungsvertreter und die Vertreter der Treuhand mit an den Tisch, damit wir zu Lösungen kommen. Uns liegt nicht daran, die Situation so zu gestalten, daß wir sie nicht mehr im Griff haben und daß Gewalt und Hoffnungslosigkeit entstehen. Wir aus dem Osten, die in der SPD Politik mitmachen wollen, haben vieles in der Wende eingesetzt. Darum wollen wir, daß dies ein gutes Ende findet.Es ist unbedingt notwendig, daß die Regierung endlich beginnt, für die Regionen etwas auf den Tisch zu legen. Dies vermisse ich bis zum heutigen Tage. Es ist schlimm, daß wir, die SPD, die Opposition, solche Aktuellen Stunden verlangen müssen. Ich erwarte von der Regierung, daß sie selber darstellt, was sie vorhat und wie sie es gestaltet. Dies fehlt völlig.
Wenn Sie nicht bereit sind, den Sanierungsauftrag der Treuhand in ein Gesetz zu fassen, dann betreiben Sie eine aktivere Politik vor Ort! Zeigen Sie, daß sie in den Betrieben den Sanierungsauftrag praktizieren wollen! Die Management KG ist sicher ein Ansatz. Ob sie immer der richtige Ansatz ist, bleibt die Frage. Leider erlebt man sehr viele Enttäuschungen und muß man erkennen, daß hier persönliche Interessen eine Rolle spielen. Wir werden dies hinterfragen, aber nicht um etwas zu zerstören, sondern um etwas voranzubringen, um Menschen Arbeitsplätze in der Region und Hoffnung zu geben.Ich erwarte nach dieser Aktuellen Stunde von der Regierung endlich eine klare Antwort, was die nächsten Schritte in der Region Chemnitz sind. Diese Antwort muß, weil sie heute nicht gegeben wird, nachgeliefert werden.
Meine Damen und Herren, als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat unser Kollege Manfred Kolbe das Wort.
Liebe Kollegen! Wir alle, Herr Kuessner, auch wir von der sächsischen Landesgruppe, begrüßen diese Aktuelle Stunde. Wir müssen die Probleme in Chemnitz, die Probleme in Sachsen und die Probleme im Osten Deutschlands bewußtmachen, vor allem hier in Bonn bewußtmachen. Dazu dient diese Aktuelle Stunde genauso, wie vor zwei Wochen der Besuch der Betriebsräte in Bonn und ihr Auftritt vor allen Fraktionen dazu gedient haben.Wir werden die Probleme im Osten Deutschlands, die ja nicht von der Bundesregierung verursacht worden sind, sondern der vierzigjährigen SED-Herrschaft anzulasten sind, nur gemeinsam lösen können.
— Sie eignen sich nicht für parteipolitische Polemik, Herr Kuessner.
Da haben wir alle unsere Probleme. Ich warte noch heute auf Ihre Stellungnahme zu den Äußerungen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder, der sagte: Mit den Forderungen aus dem Osten muß endlich Schluß sein.
— Nein. — Ich sage nur: Wir alle haben da Probleme. Deshalb sage ich deutlich: Wir müssen das gemeinsam lösen, Herr Thierse.
— Wir müssen die Probleme gemeinsam lösen, Herr Thierse. Das betrifft auch die Finanzierung der deutschen Einheit. Man kann ja den Bundesfinanzminister kritisieren, Herr Thierse — gelegentlich tun auch wir das —, aber dann muß man auch ehrlich sein und sagen, daß der Bund den allergrößten Teil der Einheitslasten trägt — auch das ist ein Faktum —
und daß die Länder, je nachdem, wie sie rechnen, daran entweder minimal verdienen oder sich minimal beteiligen. Auch das gehört zur Wahrheit. Also, bei aller Kritik am Bundesfinanzministerium: Die Mehrheit der Einheitslasten trägt der Bund.
Wir sollten uns einig sein: Wir können die Probleme nur gemeinsam lösen.
Wir ostdeutschen CDU-Abgeordneten haben in Erfurt versucht, dazu einen ersten Schritt zu unternehmen: Wir haben unser Zwölf-Punkte-Programm aufgestellt,
und auch unser Bundesvorstand hat einen Solidarpakt gefordert, weil die Probleme der deutschen Einheit nur gemeinsam gelöst werden können. Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Bundesregierung und Parteien müssen gemeinsam handeln.
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Manfred KolbeUnser erster Punkt lautet — der spielt jetzt hier hinein —: Strukturkonzepte gegen Entindustrialisierung.
Das haben wir wörtlich gefordert. Es geht in der Tat nicht an, daß die Treuhand für Sanierung und Restrukturierung in einem Jahr ungefähr nur den Betrag aufwendet, der auch der Deutschen Bundesbahn zugute kommt: etwa 11 Milliarden DM. Das ist meines Erachtens zu wenig.Oder wo stünden wir heute in Wolfsburg, wenn nach dem Besuch von Henry Ford — es war wohl 1946 oder 1947 — VW, das er als einen Schrotthaufen bezeichnete, liquidiert worden wäre? Auch VW ist nicht geschlossen worden.Mit meinem Gerechtigkeitsgefühl ist auch nicht vereinbar, daß ein Arbeitsplatz im Ruhrgebiet im Bergbau mit jährlich 76 000 DM subventioniert wird, Lohnsubventionen oder Subventionen im Osten generell aber einen Sündenfall darstellen sollen. So etwas müssen wir gemeinsam angehen.
Aber das eignet sich nicht zur Polemik. Deshalb die Aufforderung: Unterstützen Sie unser Erfurter Programm, unterstützen Sie unseren Solidarpakt! Wir werden es nur gemeinsam schaffen.Das ist auch keine Konfrontation zwischen Ost und West. Es liegt auch im Interesse der Westdeutschen, daß der Osten schnell auf die Beine kommt;
denn die Ostdeutschen wollen nicht auf Dauer von Transfers leben, und die Westdeutschen wollen sie verständlicherweise nicht auf Dauer bezahlen. Auch in Ostdeutschland will die Bevölkerung arbeiten, ihren Lebensunterhalt selber verdienen und nicht vom Arbeitsamt abhängig sein.
Herr Kollege Kolbe, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin fertig. — Der Aufschwung im Osten wird kommen; aber wir alle müssen ihm den Weg ebnen.
Meine Damen und Herren, ich mache an dieser Stelle noch einmal auf folgendes aufmerksam: Wir haben eine Geschäftsordnung. Darin steht, daß gerade in der Aktuellen Stunde nur Redebeiträge bis zu fünf Minuten zulässig sind. Die amtierenden Präsidenten dürfen keine Abweichung gestatten. Das ist anders als bei allgemeinen Debatten. Es tut mir sehr leid, Herr Kollege Dr. Schnittler, daß ich darauf aufmerksam machen mußte.
Wir sind am Ende der Aktuellen Stunde und damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 24. September 1992, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.