Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit dem Bericht des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit über Maßnahmen gegen den unerlaubten Umgang mit Kernbrennstoffen aus Staaten der GUS befaßt hat.
Ich erinnere an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an die Behandlung dieses Themas Fragen zu anderen Bereichen gestellt werden können.
Ich darf für den einleitenden Bericht dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn Dr. Töpfer, das Wort erteilen.
Frau Präsidentin! Ich habe heute dem Kabinett den Bericht über Maßnahmen gegen den unerlaubten Umgang mit Kernbrennstoffen aus den sogenannten GUS-Staaten vorgelegt.Die Bevölkerung war in besonderer Weise beunruhigt, ganz konkret durch die illegal eingeführten 1,2 kg schwach angereicherten Urans aus der GUS, das am 5. März 1992 in Augsburg sichergestellt wurde. Obwohl dieses Material kein waffenfähiges Material war, haben wir darin ein weiteres Indiz für Besorgnisse über Entwicklungen in den Bereichen Abrüstung, Kernwaffenzerlegung und weitere Verwertung des Kernmaterials im Hinblick auf illegale Weiterverbreitung gesehen. Es gibt also Besorgnisse über vagabundierendes spaltbares Material.Es ist davon auszugehen, daß es eine große Menge waffenfähigen Kernmaterials aus der Kernwaffenzerlegung gibt und geben wird. Über die weitere Verwendung ist noch nicht entschieden. Es werden Zwischenlager für mehrere Jahre erforderlich sein. Bei Verzögerung der Folgemaßnahmen besteht die Gefahr, daß der Abrüstungsprozeß dadurch ins Stokken gerät. Es gibt ein unzureichendes Niveau des physischen Schutzes bei zivilen Nuklearanlagen der GUS und nahezu keine Spaltstoffflußkontrolle in diesen Staaten.Abhilfe und Gegenmaßnahmen haben wir für folgende Bereiche vorgeschlagen: erstens an der Quelle des Kernmaterials, also ab Zerlegung der Waffen bei Transport, Lagerung und weiterer Verwendung des Kernmaterials im zivilen Kernbrennstoffkreislauf; zweitens an der Grenze der Bundesrepublik Deutschland; drittens innerhalb Deutschlands. Diese Maßnahmen sind eingeleitet und werden weiter verstärkt.Beim ersten Bereich, nämlich Maßnahmen an der Quelle, sind folgende Schwerpunkte anzustreben und umzusetzen: Abrüstungs- und Rüstungskontrollinitiativen, insbesondere der Beitritt aller GUS-Staaten zum Nichtverbreitungsvertrag als Nichtkernwaffenstaaten mit Ausnahme Rußlands, das als Kernwaffenstaat bereits Mitglied des Nichtverbreitungsvertrags ist; der Beitritt all dieser Staaten zum Übereinkommen über den physischen Schutz vor Kernmaterial.Zweitens. Begleitung der Kernwaffenzerlegung und der zivilen Weiterverwendung des dabei anfallenden Kernmaterials, vornehmlich im Rahmen der bestehenden NATO-Ad-hoc-Gruppe.Drittens. Aufbau einer gesicherten Zwischenlagerung des Kernmaterials.Viertens. Intensivierung des physischen Schutzes bei zivilen Nuklearanlagen und Transporten, um eine Entwendung von entsprechendem Material zu verhindern.Nicht zuletzt fünftens: Aufbau nationaler oder regionaler Spaltstoffüberwachungssysteme der Safeguard-Regimes, zur frühzeitigen Entdeckung einer Abzweigung von Kernmaterial. Hierbei müssen auch die internationalen Organisationen, insbesondere die Internationale Atomenergieorganisation und EURATOM, hinzugezogen werden.Die Sicherheitsmaßnahmen an der Grenze sind ebenfalls entsprechend zu verstärken; Verbesserung des Exportkontrollregimes in den GUS-Staaten und Grenzkontrollen in der Bundesrepublik Deutschland sind dazu einige Hinweise. Innerhalb unserer Grenzen ist die Fortentwicklung unserer Gefahrenabwehrmaßnahmen erforderlich, die sogenannte Nuklearnachsorge. Darüber ist der Deutsche Bundestag in seinen Ausschüssen bereits unterrichtet worden.Frau Präsidentin, wir werden diesen Bericht dem zuständigen Ausschuß, dem Umweltausschuß, unver-
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7208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Bundesminister Dr. Klaus Töpferzüglich zusenden und gehen davon aus, daß darüber weiter diskutiert werden kann.
Vielen Dank, Herr Minister.
Herr Weis.
Herr Minister, ich möchte nachfragen, ob es konkrete Initiativen gibt, die Zuständigkeit der IAEO möglicherweise auch auf den bisher im militärischen Bereich liegenden Kernbrennstoff auszudehnen. Gibt es da konkrete Vorhaben? Sie deuteten das an.
Ich darf wiederholen: Der Nichtverbreitungsvertrag, in dessen Rahmen die IAEO tätig wird, unterscheidet Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten. Die Zahl der Kernwaffenstaaten ist in dem Vertrag abschließend festgelegt. Rußland als Nachfolgestaat der Sowjetunion ist Kernwaffenstaat. Dort sind die Einfluß- und Überprüfungsmöglichkeiten der IAEO auf freiwillige Öffnung begrenzt. Das gilt auch für die anderen Kernwaffenstaaten.
Bei den Nichtkernwaffenstaaten ist — das ist völlig klar — eine entsprechende Einbindung in die Überwachungspraktiken der IAEO vorzunehmen. Deswegen sind wir auch auf diese Ebene ganz konkret eingegangen. Das kann keine bilaterale Arbeit sein, sondern nur im Rahmen des Vertrages und damit auch der IAEO geschehen. Dabei gehen wir davon aus, daß auch EURATOM zumindest hilfreich tätig werden kann. EURATOM übernimmt diese Aufgaben ja in der Europäischen Gemeinschaft.
Können Sie die Maßnahmen, die die Bundesrepublik im Innern vorbereitet, hier oder vielleicht in dem Bericht dem Ausschuß gegenüber näher benennen? Gibt es konkrete Vorhaben der Bundesregierung, mit welchen Maßnahmen im Falle eines Erpressungsversuches reagiert werden soll?
Zu der ersten Frage kann ich Ihnen sagen, daß über diese Maßnahmen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland in großer Detailliertheit in dem Bericht entsprechend unterrichtet wird. Ich sage noch einmal, daß wir den Bericht auch dem Ausschuß unmittelbar zugeleitet haben, so daß wir das auch weiter erörtern können. Dies hat schon im Rahmen der Diskussion über Transnuklear eine Rolle gespielt. Ich erinnere an die entsprechenden Diskussionen auch im Untersuchungsausschuß. Das finden Sie jetzt in dem Bericht als Antwort wieder.
Zur zweiten Frage: Wir wissen, daß dies in ganz besonderer Weise ein Thema der Nachsorge ist. Deswegen findet es sich auch darin wieder. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß wir hier nicht nur als Bundesrepublik Deutschland, sondern international in der Abstimmung sind. Wir haben dabei insbesondere auch Kontakte zu Großbritannien.
Herr Hornhues.
Herr Bundesminister, ich darf noch einmal auf die IAEO zurückkommen. Hat die Bundesregierung das Problem erörtert, daß die personelle Ausstattung und die rechtlichen Möglichkeiten dieser immer wichtiger werdenden Organisation völlig unzureichend sind? Hat die Bundesregierung irgendwelche Absichten, dort tätig zu werden, um die Handlungsmöglichkeiten und auch die rechtlichen Möglichkeiten auszuweiten?
Herr Kollege Hornhues, auf dieses Thema wird in dem Bericht eingegangen. Natürlich weiß die Bundesregierung, daß eine Erweiterung dieser Aufgaben — wonach Kollege Weis gefragt hat — auf die Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht ohne zusätzliche sachliche und personelle Ausstattung möglich ist. Dies kann wiederum nicht eine bilaterale Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland sein, die Finanzausstattung der IAEO deswegen allein zu erhöhen. Aber wir haben auf diese Punkte sehr genau aufmerksam gemacht.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß sich dieser Teilbereich entscheidend auf die Aufgaben der IAEO im Rahmen des NV-Vertrages bezieht. Daß die IAEO auch im Zusammenhang mit der Frage der friedlichen Nutzung der Kernenergie Aufgaben hat, ist sicherlich ergänzend hinzuzufügen. Aber dies ist natürlich nicht Gegenstand unserer jetzigen Berichterstattung gewesen.
Insgesamt kann ich Ihnen nur bestätigen, daß die personelle und die sächliche Ausstattung dieser Organisation für diese Aufgabe sicherlich zur Sorge Anlaß gibt.
Frau Klemmer.
Herr Minister, können Sie etwas über Initiativen der Bundesregierung berichten, die das Ziel haben, ein internationales Beschäftigungsprogramm für die Nuklearwissenschaftler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, der jetzigen GUS, zustande zu bringen?
Frau Kollegin, Sie wissen, daß es in besonderer Weise durch die Initiative der Bundesrepublik Deutschland — hier des Kollegen Genscher — und der Vereinigten Staaten — dort des Außenministers Baker — möglich geworden ist, in Abstimmung mit Rußland und anderen, auch der EG, ein Internationales Zentrum für Wissenschaft und Technologie in Moskau zu gründen. Wir gehen davon aus, daß dieses Institut im Frühsommer dieses Jahres seine Arbeit aufnehmen kann.Das Ziel dieses Institutes ist es, den Sachverstand in nuklearen und anderen Waffenbereichen, der in der ehemaligen Sowjetunion vorhanden gewesen ist und noch vorhanden ist, so einzusetzen, daß es eine Alternative zu einem „Nuklearsöldnertum" — wie wir es plastisch genannt haben — gibt. Diese Sachverständigen sollen also in diesem internationalen Zentrum, IWTZ, vernünftig bezahlte Arbeit finden, damit sie nicht auf Grund fast existentieller Probleme dorthin abwandern, wo wir diesen Sachverstand gerade nicht haben wollen.
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Bundesminister Dr. Klaus TöpferIch darf Sie darauf hinweisen, daß wir in der Bundesregierung außerdem ein entsprechendes Programm zum Aufbau der Marktwirtschaft und der Demokratie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion verfolgen. Auch in diesem Rahmen findet sich diese Problematik wieder.Wir müssen — das haben wir auch sehr deutlich getan — klarmachen, daß es nicht in erster Linie um sogenannte Hardware geht, also etwa um konkrete Baumaßnahmen für Zwischenlager. Vielmehr geht es darum, daß wir den Sachverstand, den es auf diesem Gebiet gibt, verfügbar machen, daß wir Ausbildung betreiben, gesetzliche Grundlagen erarbeiten helfen und vieles andere mehr, was bei uns eigentlich ganz selbstverständlich ist. Es fehlt völlig die administrative Infrastruktur. Deshalb müssen wir auf diesem Gebiet genauso tätig werden. Die beiden genannten Initiativen — das Programm zum Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie einerseits und das Betreiben des Internationalen Zentrums für Wissenschaft und Technologie andererseits — sind ganz konkrete Ausprägungen dieser Antwort.
Frau Klemmer.
Herr Minister, können Sie bitte etwas darüber sagen, warum die Nachsorgestudie der Kernforschungsanlage Jülich noch immer nicht umgesetzt ist?
Ich kann Ihnen dazu im Augenblick keine konkrete Antwort geben, bin aber gerne bereit, Sie im Nachgang zu dieser Frage sofort darüber zu unterrichten. Sie wissen möglicherweise, daß ich heute morgen gerade erst von der Konferenz der Entwicklungsländer in Malaysia zurückgekommen bin, so daß ich mich darüber nicht aktuell informieren konnte.
Herr Kübler.
Herr Bundesminister, ich darf noch einmal nach der Aufgabenstellung dieser dann versammelten Wissenschaftler fragen. Sie im wesentlichen mit ihrer bisherigen Aufgabenstellung zu beschäftigen ist sicherlich nicht übermäßig attraktiv; denn das wäre wohl ein auslaufendes Inhaltsprogramm und würde die Wissenschaftler möglicherweise nicht demotivieren, woanders hinzugehen. Deshalb frage ich noch einmal nach der weiterführenden Aufgabenstellung dieses Zentrums.
Herr Kollege Kübler, Sie werden sicher verstehen, daß wir diese Wissenschaftler nicht in ihrer bisherigen Aufgabe weiterbeschäftigen wollen; denn diese war auf Nuklearwaffen oder auf andere Waffen ausgerichtet. Genau das wollen wir nicht mehr. Das ist der Ansatzpunkt dafür, daß es eines solchen Instituts bedarf.
Aber es ist natürlich genauso richtig, daß wir sie zunächst einmal in den Bereichen einsetzen, in denen sie Kenntnisse haben. Es gibt eine Vielfalt von Aufgaben in der ehemaligen Sowjetunion, die von Nuklearexperten bewältigt werden müssen. Wenn Sie sich vor Augen halten, daß es dort insgesamt 64 Kernkraftwerke gibt, daß dort Wiederaufarbeitungsanlagen stehen, daß wir ungeklärte Verhältnisse etwa bei der Zwischen- und Endlagerung von abgebrannten Brennelementen haben, daß wir große Schwierigkeiten haben, abschließend zu sagen, welche Verseuchungen großflächiger Art es gibt und wie man diese ermitteln, messen, bewerten, möglicherweise sanieren kann, dann, glaube ich, können Sie sich vorstellen, daß die dort vorhandenen Grundkenntnisse in einer Konversion sehr gut auch für friedliche Zwecke eingesetzt werden können.
Ich möchte nicht ausschließen, daß darüber hinaus natürlich auch die Möglichkeit besteht, dies auf andere Forschungsaufgaben zu übertragen. Ich kann Ihnen jetzt also nicht sagen, daß dort über nukleare Fragen nicht mehr gesprochen wird. Aber wir wollen den Sachverstand nutzen, um die vorhandenen Probleme in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wirklich aufzuarbeiten und damit eine gute Entwicklung zu ermöglichen.
Eine weitere Frage, Herr Kübler.
Herr Minister, meine zweite Frage betrifft die institutionelle Verankerung. Wie könnte die parlamentarische Verankerung der Arbeit dieser Wissenschaftler aussehen? Gibt es dazu Vorstellungen? Welche Parlamente haben da eine Kontrollmöglichkeit, und wie sieht diese aus? Gibt es darüber konkrete Vorstellungen?
Herr Kollege Kübler, ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß von den USA, Rußland, und von der Bundesrepublik Deutschland die Idee entwickelt worden ist, daß sie aber jetzt auch in der Zusammenarbeit mit der EG und Japan weitergeführt und umgesetzt wurde. Ganz sicher wird Rußland als Sitzland — wenn Sie so wollen — in ganz besonderer Weise auch die Kontrolle über eine solche Institution auszuüben haben. Da aber auch international gilt, daß man, wenn Finanzmittel verfügbar gemacht werden, wissen will, was mit den Mitteln getan wird, ist es ganz selbstverständlich, daß auch diejenigen, die sich finanziell daran beteiligen, entsprechende Informations- und Kontrollmöglichkeiten bekommen. Ich bin absolut sicher, daß die Bundesregierung — wie in allen Fällen dieser Art — auch das Parlament umfassend über diese Dinge unterrichten wird.
Gibt es weitere Fragen zu diesem Komplex? — Das scheint nicht der Fall zu sein. Damit schließe ich diesen ersten Komplex ab. Vielen Dank, Herr Minister Töpfer.
Wir kommen jetzt zur ersten freien Frage. Herr Abgeordneter Penner, bitte.
„Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt ... " So sieht es das Grundgesetz vor. Beabsichtigt der Bundeskanzler nach der
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Dr. Willfried PennerErfahrung der letzten Tage, sein Vorschlagsrecht auf ein Lotterieunternehmen zu übertragen, weil dies die bessere Gewähr für die Solidität solcher Vorschläge sein dürfte?
Herr Bohl.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Penner! Der zuständige Parlamentarische Staatssekretär des Justizministeriums schlägt mir vor, zu antworten, daß Ihre Überlegung gegen das Lotteriegesetz verstößt. Ich weiß nicht, ob das die Antwort ist, die Sie erwartet haben. Aber Spaß beiseite.
Herr Kollege Penner, das Grundgesetz gilt zur Zeit genauso wie in den Jahren von 1969 bis 1982. In Koalitionsregierungen ist es üblich, daß man sich über die Verteilung der Ministerien zu Beginn einer Legislaturperiode einigt und daß dann die entsprechenden Parteien für diese Positionen ein Vorschlagsrecht haben. Nicht mehr und nicht weniger ist früher geschehen, nicht mehr und nicht weniger geschieht heute.
Der Herr Bundeskanzler wird die Personalvorschläge der F.D.P. sicherlich entgegennehmen und dann nach erfolgter Prüfung das Erforderliche veranlassen.
Herr Penner, bitte.
Der Hinweis auf das Lotteriegesetz veranlaßt mich zu einer Zusatzfrage. Darf das deutsche Volk denn erwarten, daß solche Vorschläge frei von den Bedrängungen des Lotteriegesetzes künftig bei einer Runde Canasta oder einer Runde 66 zwischen Graf Lambsdorff und dem CDU-Vorsitzenden Kohl mit dem CSU-Vorsitzenden Waigel am Katzentisch entwickelt werden?
Herr Kollege Penner, ich muß nun doch folgendes sagen: Die Parteien tun sich naturgemäß bei der Entscheidungsfindung nicht immer ganz leicht. Ich kann mich gut daran erinnern, daß es nach der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 innerhalb der SPD gewisse Personalprobleme gab, die auch die Qualifizierung Querelen verdient hätten. Dennoch, glaube ich, war es klug, daß sich sowohl die Bundesregierung als auch andere politische Parteien davor gehütet haben, den Finger in die Wunde zu legen.
Ich weiß nicht, ob es angemessen ist, den Entscheidungsprozeß in der F.D.P. den Sie qualifizieren mögen, wie Sie wollen — heute in dieser Weise zu attackieren. Es ist, glaube ich, nichts Abnormales, wenn der Vorschlag einer Parteispitze von den zuständigen Gremien der Partei und Fraktion nicht akzeptiert wird. Man muß in einer Demokratie damit leben, daß sich die Parteispitze nicht immer auf Punkt und Komma mit allem bei der Basis durchsetzen kann. Ich halte das, was sich hier vollzogen hat, für durchaus im Rahmen des üblichen demokratischen Spiels.
Herr Müntefering.
Es hat in der Osterzeit neben dem sehr wichtigen Thema, das Herr Töpfer angesprochen hat, eine ganze Reihe von wichtigen Themen gegeben, die die Menschen im Lande interessieren. Sicher ist diese Stunde der Regierungsbefragung eigentlich die, in der man erwarten muß, daß sich die Bundesregierung zu den allgemein interessierenden, wichtigen Themen äußert. Ich nenne einmal die Stichworte Karenztage, Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst, Gehaltskürzung für Minister.
Ich frage deshalb: Hat der Bundeskanzler heute eines dieser Themen angesprochen? Hat er etwas zu dem Thema Karenztage, das von wichtigen Leuten der Koalition angesprochen worden ist, gesagt? Hat er etwas zum Stand der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst gesagt, beispielsweise ob der Bund in seiner Funktion als Arbeitgeber bereit ist, neue Angebote zu machen? Hat er sich zur Gehaltskürzung für Minister geäußert? Sein Vorschlag war 5 % . Hat er eventuell etwas dazu gesagt, ob er auf einen Leistungslohn für die Minister umstellen will, und welcher Minister bekommt dann noch wieviel?
Herr Kollege Müntefering, vielleicht können Sie uns die Kriterien der SPD-Bundestagsfraktion, nach denen der Leistungslohn für Parlamentarische Geschäftsführer bei Ihnen gestaltet ist, übermitteln. Vielleicht kann das eine Entscheidungshilfe sein.
Herr Kollege Müntefering, natürlich ist eine Vielzahl von Problemen heute im Bundeskabinett besprochen worden. Ich kann vielleicht von den von Ihnen angesprochenen Themen herausgreifen, daß der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, daß es in der Tat für Bundesminister, Parlamentarische Staatssekretäre und Staatsminister im laufenden Jahr und im nächsten Jahr zu keiner Erhöhung kommen soll. Das Kabinett hat Herrn Bundesinnenminister Seiters beauftragt, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Darüber hinaus — ich sage es noch einmal sind eine Vielzahl von Problemen heute im Kabinett erörtert worden. Es bestand keine Veranlassung, heute etwas zu dem Thema Karenztage zu sagen, weil dieser Vorschlag nicht seitens der Bundesregierung unterbreitet wurde oder aus der Bundesregierung gekommen ist. Deshalb war auch keine Veranlassung, darauf einzugehen.
Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß die von Ihnen angesprochenen Fragen ansonsten durch den Regierungssprecher ständig auf den wöchentlichen Pressekonferenzen erörtert werden, so daß die Haltung der Bundesregierung zu dem Strauß der Fragen, die Sie hier angesprochen haben, durchaus klar sein dürfte.
Herr Müntefering.
Herr ehemaliger Kollege Parlamentarischer Geschäftsführer, Sie sind sich darüber im klaren, daß Bekundungen der Bundesregie-
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Franz Münteferingrung vor der Presse kein Ersatz für das sind, was im Deutschen Bundestag erörtert werden muß.
Deshalb frage ich noch einmal: Ist es tatsächlich so, daß sich das Kabinett heute nicht über die Tarifrunde bzw. den Streik im öffentlichen Dienst unterhalten hat? Was ist dazu denn gesagt worden?Zum zweiten ergänzend eine Frage. Es gibt unterschiedliche Positionen in der Bundesregierung zu der Frage der Kabinettsumbildungen. Was ist denn dazu gesagt worden? Dazu gibt es die Aussage eines wichtigen Teils der Koalition — der CSU —, daß nun eine größere Umbildung fällig geworden sei. Ist eine Äußerung des Kanzlers dazu gekommen, wann sie denn nun kommt und welche Ministerien davon betroffen sind?
Herr Kollege Müntefering zum ersten Teil Ihrer Frage: In der Tat ist das Thema Tarifrunde oder Streik im öffentlichen Dienst erörtert worden. Es hat dazu einen Bericht des Bundesinnenministers Seiters gegeben, woran sich eine Aussprache angeschlossen hat. Ich habe nicht die Absicht — ich glaube auch nicht, daß das berichtspflichtig ist —, über diese Aussprache etwas verlauten zu lassen, zumal es keinen Beschluß gegeben hat. Vielmehr haben die Mitglieder der Bundesregierung die Gelegenheit wahrgenommen, ihre Auffassung zu der aktuellen Lage darzulegen. Das gehört zu dem Bereich der Meinungsbildung, die der Bundesregierung zusteht. Das ist nach meiner Beurteilung der Sach- und Rechtslage nicht berichtspflichtig.
Können Sie mir zu dem zweiten Teil Ihrer Frage noch einmal ein Stichwort geben?
Ich verstehe das. Die Kabinettsumbildungen erfolgen so schnell, daß Sie das nicht mehr richtig nachvollziehen können.
Ich hatte gefragt, wann denn die größere Kabinettsumbildung stattfindet.
Weil das im Bundeskabinett nicht erörtert wurde und darüber auch ansonsten kein Wort verlautete, kann ich dazu nur sagen, daß der Bundeskanzler die Auffassung vertritt, daß eine Kabinettsumbildung zum Jahresende, vielleicht auch zu Beginn des nächsten Jahres angezeigt ist und daß die aktuellen Ereignisse damit nichts zu tun haben. Die größere Kabinettsumbildung wird vom Bundeskanzler also vorgenommen werden, wie es im Zeitplan vorgesehen ist.
Ich möchte, damit ich nachher nicht gescholten werde, vielleicht nicht umfassend genug berichtet zu haben, noch darauf hinweisen, daß der Regierungssprecher auf der Pressekonferenz erklären wird, daß die Bundesregierung der Auffassung ist, daß sich die durch die Haltung der Gewerkschaften eingetretene Verzögerung des Tarifabschlusses nicht zu Lasten der Beschäftigten auswirken sollte. Das Bundeskabinett hat deshalb beschlossen, daß der Bund im Interesse seiner Bediensteten auf der Grundlage des Arbeitgeberangebots in Stuttgart Vorabzahlungen gewährt, und zwar 500 DM für alle und 250 DM für die Auszubildenden.
Herr Lowack.
Lieber Kollege Bohl, hat denn die Bundesregierung wenigstens ein Programm zur Entlastung des Kollegen Möllemann entwickelt, der sich heute früh in einem Interview bitter darüber beklagt hat, daß die Übernahme der Vizekanzlerschaft durch ihn mit offenbar sehr unangenehmer Mehrarbeit verbunden sei?
Das Interview, auf das Sie abheben, ist mir nicht bekannt; ich kenne die Formulierung des Kollegen Möllemann nicht. Insofern ist es schwierig, darauf zu antworten. Welche zusätzliche Arbeitsbelastung durch die Berufung als Vizekanzler auf ein Mitglied der Bundesregierung zukommt, können die Mitglieder des Hohen Hauses, glaube ich, durchaus selber einschätzen.
Herr Kübler.
Sah die Bundesregierung, d. h. der Bundeskanzler und die Bundesminister in der heutigen Kabinettssitzung keinen neuen Handlungsbedarf bei der Tarifauseinandersetzung in der Weise, daß sie das wohl nicht einfach laufen lassen kann nach dem Motto „Der Mai macht alles neu"?
Herr Staatssekretär Lintner.
Herr Kollege, der Bundesinnenminister hat in seinem Bericht die Haltung der Bundesregierung noch einmal bekräftigt und dargetan, daß die Bereitschaft vorhanden ist, jederzeit an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Es muß dann aber Bewegung auf beiden Seiten geben, auch auf seiten der Gewerkschaften. Die ist aber bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu erkennen.
Herr Weis.
Mich interessiert eine Aussage der Bundesregierung, ob vielleicht im Zusammenhang mit Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt geplant ist, den Niedrigwasserzuschlag für die Binnenschiffahrt abzuschaffen, und, wenn nicht, ob dieser Niedrigwasserzuschlag möglicherweise im gemeinsamen europäischen Binnenmarkt Bestand haben kann.
Ich darf bekennen, daß ich die Frage aus dem Stegreif nicht beantworten kann; darüber ist nicht gesprochen worden. Wenn Sie auf
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerBeantwortung Wert legen, werden wir Ihnen die Antwort schriftlich zukommen lassen.
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen und schließe damit die Regierungsbefragung. Wir werden nach einer kurzen Unterbrechung mit der Fragestunde beginnen.
Meine Damen und Herren, ich schlage vor, wir warten die wenigen Minuten bis zum vorgesehenen Beginn der Fragestunde, damit die Kolleginnen und Kollegen, die sich auf diesen Zeitpunkt eingerichtet haben, dasein können.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
— Drucksache 12/2466 —
Ich bedaure, daß die Fragestellerin der ersten Frage, die Abgeordnete Uta Würfel, noch nicht im Raum ist. Deshalb wird mit der Frage nach der Geschäftsordnung verfahren.
Ich rufe sodann den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf. Zur Beantwortung der Frage steht der Parlamentarische Staatssekretär Jürgen Echternach zur Verfügung.
Ich rufe Frage 2 des Abgeordneten Horst Kubatschka auf:
Welche Genehmigungsverfahren sind zum Bau von Windkraftanlagen notwendig, reicht eine Baugenehmigung oder muß ein Raumordnungsverfahren durchgeführt werden?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Kubatschka, nach der Raumordnungsverordnung des Bundes von 1990 ist für Windkraftanlagen kein Raumordnungsverfahren durchzuführen. Jedoch können die Länder nach landesrechtlicher Regelung für derartige Vorhaben ein Raumordnungsverfahren vorsehen. Im übrigen unterliegen Windkraftanlagen nach allen Bauordnungen der Länder der dort vorgesehenen Genehmigungspflicht.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, beabsichtigt die Regierung, einheitliche Regelungen einzuführen bzw. den Versuch zu unternehmen, die Länder bei den Genehmigungsverfahren unter einen Hut zu bringen?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es gibt ja Vorschriften für die Voraussetzungen,
unter denen solche Genehmigungen erteilt werden können; sie befinden sich im Baugesetzbuch und in der Baunutzungsverordnung. Insofern ist davon auszugehen, daß die Genehmigungen nach einheitlichen Kriterien für das ganze Bundesgebiet erteilt werden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da sich Windkraftanlagen immer an exponierten Standorten befinden müssen — wir können sie ja nicht verstecken, weil sie sonst nicht funktionierten —, frage ich Sie: Welche Problematik sieht die Bundesregierung in bezug auf das Thema „Windkraftanlagen und Landschaftsschutz "?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, was die Raumordnungsverfahren angeht, die ja Vorverfahren sind, um insofern die Auswirkungen auf die Umwelt zu prüfen, sind die Länder frei, derartige Genehmigungsverfahren durchzuführen. Beispielsweise in Bayern sind sie — das hat eine entsprechende Rückfrage ergeben — in einer Reihe von Fällen durchgeführt worden.
Ansonsten hängt es, was die bauordnungsrechtliche Genehmigung angeht, davon ab, wozu die Anlagen im einzelnen dienen. Wenn sie der Versorgung des Baugebietes dienen, können sie als Nebenanlagen auch ohne ausdrückliche Festsetzung genehmigt werden. Wenn sie Flächen für solche Anlagen als sonstiges Sondergebiet voraussetzen, bedarf es einer entsprechenden Ausweisung als Sondergebiet nach § 11 der Baunutzungsverordnung.
Wünschen andere Kolleginnen oder Kollegen, dazu Fragen zu stellen? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Frage.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe Frage 3 der Kollegin Jutta Müller auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorwurf von Ethnologen und Umweltschützern, daß die beim Bau der Teleskopstation auf dem Mount Graham beteiligte Max-Planck-Gesellschaft und auch die Bundesregierung selbst sich nicht ausschließlich auf die Urteilskraft amerikanischer Gerichte verlassen können, sondern daß es hier über die juristischen Aspekte hinaus auf deutscher Seite auch eine moralische Verantwortung bezüglich der überflüssigen Zerstörung intakter Ökosysteme und der Vernichtung indianischen Kulturraums durch deutsche Steuergelder gibt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Die für den Standort verantwortliche Betreiberin der Teleskopanlage auf dem Mount Graham ist die Universität von Arizona. Nach Auskunft der Max-Planck-Gesellschaft ist die Universität von Arizona darum bemüht, mit den Vertretern der Apachen zu einer allseits befriedigenden Regelung zum Betrieb der Tele-
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Parl. Staatssekretär Bernd Neumannskopanlage zu kommen. So hat am 27. März 1992 in Tuson ein Hearing mit Vertretern der interessierten Apachengruppen stattgefunden, das Anlaß zu der Hoffnung gibt, daß eine einvernehmliche Regelung des Betriebes der Teleskopanlage erreicht werden kann. Dies gilt unabhängig von den inneramerikanischen adminstrativen und juristischen Verfahren, die bisher für die Gegner der Teleskopanlage erfolglos waren.Auch die Umweltaspekte sind bei diesem Verfahren eingehend geprüft worden. Das danach u. a. vorgesehene Überwachungsprogramm für das Mount-Graham-Eichhörnchen hat auch 1991 nach Auskunft der Max-Planck-Gesellschaft keinen negativen Einfluß der Bauarbeiten auf die Zahl und Lebensbedingungen der Eichhörnchen feststellen können. Die MaxPlanck-Gesellschaft, die im Verhältnis zu den sie fördernden Bundesländern und dem Bund autonom handelt, ist sich ihrer Verantwortung bewußt.
Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.
Ist Ihnen bekannt, daß von den zahlreichen Instituten, die am Anfang dabei waren, mittlerweile fast alle aus diesen Gründen ausgeschieden sind, so daß zur Zeit im Grunde genommen nur noch drei interessiert sind, die MaxPlanck-Gesellschaft, ein italienisches Institut und die Universität von Arizona, die auch Linsen herstellt und von daher am Bau der Teleskope wirtschaftlich interessiert ist? In der amerikanischen Öffentlichkeit wird die Max-Planck-Gesellschaft als deutsche Forschungsgesellschaft fast mit der Bundesrepublik Deutschland gleichgesetzt. Denken Sie nicht, daß wir so in ein sehr schlechtes Licht geraten?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, zum einen können wir deshalb nicht in ein schlechtes Licht geraten, weil über die Probleme, die Sie angedeutet haben — Schutz des Eichhörnchens und auch Schutz eines für die dortigen ApachenIndianer bedeutsamen Berges , nach langwierigen Diskussionen unter Inanspruchnahme von Gerichten rechtsstaatlich entschieden worden ist. Darüber hinaus ist, wie ich Ihnen gesagt habe, keine tatsächliche Bedrohung der genannten Tierart gegeben. Was das Einvernehmen mit den Indianern angeht, steht eine befriedigende Regelung an. Das zur Sache.
Was das Ausscheren bestimmter Mitinteressenten betrifft, kann ich Ihre Darstellung nicht bestätigen. Zumindest ist mir kein neuer Sachstand bekannt als der, den ich in der Antwort auf eine Frage Ihres Kollegen Duve in einer Sitzung in diesem Jahr gegeben habe. Nach Auskunft der Max-Planck-Gesellschaft haben sich zwei Organisationen von dem Projekt zurückgezogen. Die eine ist nicht mehr bereit, sich daran zu beteiligen, weil durch die langwierigen Verzögerungen durch die jeweiligen Verfahren zu erklären unkalkulierbare finanzielle Dimensionen für sie aufzutreten schienen; deshalb hat sie sich für ein Vorhaben in Hawaii entschieden. Der andere Beteiligte hat sich aus finanziellen Gründen aus dem Projekt zurückgezogen. Andere beteiligen sich weiterhin, z. B. der Vatikan und das Observatorium Arcetri in Italien. Ich gehe davon aus, daß es, wenn sich der Vatikan beteiligt, keine ethischen oder moralischen Bedenken gibt, die wir als Aufhänger dafür nehmen könnten, der Max-Planck-Gesellschaft anzuraten, sich nicht weiter zu beteiligen.
Zweite Zusatzfrage.
Daß der Papst kein großes Interesse daran hat, die Religion von Apachen zu unterstützen oder zu schützen, kann ich mir schon vorstellen. Er hat da wahrscheinlich andere Vorstellungen.
Ist Ihnen eigentlich bekannt oder haben Sie Erkenntnisse darüber, um wieviel teurer das Projekt für die Max-Planck-Gesellschaft wird, nachdem sich Institute zurückgezogen haben?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ich habe keine dementsprechenden Erkenntnisse. Die Teleskopstation hat mehrere Segmente. Wenn eines wegfällt, wird ein bestimmter Bereich eben nicht verfolgt. Das, was sich die Max-Planck-Gesellschaft von Anfang an vorgenommen hat, findet statt. Das von der MPG mitbetriebene 10-Meter-Radioteleskop erfordert, was den deutschen Beitrag betrifft, etwa 7 Millionen DM Investitionen, die unterschiedlich finanziert werden. Das ist so und bleibt so. Es hat sich durch den Rückzug einiger anderer Interessenten nach meinem Wissensstand daran nichts geändert.
Weitere Zusatzfragen dazu aus dem Hause? Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 4, ebenfalls von der Kollegin Jutta Müller gestellt, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß das unter anderem von der Max-Planck-Gesellschaft finanzierte Teleskopprojekt erst durch ein Gutachten ermöglicht wurde, dessen Ergebnisse — wie die untersuchenden Wissenschaftler unter Eid bezeugen — bereits vor der Erstellung der Studie zugunsten des geplanten Projektes festgelegt wurden, und wie beabsichtigt die Bundesregierung auf diesen Mißbrauch deutscher Steuermittel zu reagieren?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben wieder das Wort.
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Diese Frage steht in einem engen Zusammenhang zu der vorangegangenen Frage und damit logischerweise auch zu der von mir gegebenen Antwort. Dennoch beantworte ich sie wie folgt:
Die in der Frage enthaltene Darlegung ist bereits in amerikanischen Verfahren vorgetragen worden und hat nach Auskunft der MPG auf den für die Universität von Arizona positiven Ausgang des Verfahrens keinen Einfluß gehabt. An den Verfahren waren weder die Bundesregierung noch die Max-Planck-Gesellschaft beteiligt. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, in die inneramerikanischen Verfahren einzugreifen oder sie zu bewerten.
Keine Zusatzfragen dazu.
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Vizepräsident Hans KleinHerr Parlamentarischer Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Peter Repnik zur Verfügung.Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Elke Ferner auf:Welche Bedeutung hat nach Auffassung der Bundesregierung der Schutz indigener und traditioneller Gesellschaften und deren Kultur- und Wirtschaftsformen im Zusammenhang mit dem weltweiten Schutz der Umwelt, und verfügt die Bundesregierung über ökologische und ethische Kriterien zur Förderung von Forschungsprogrammen, die dem Schutz dieser Völker dienen?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident, die Bundesregierung ist sich bewußt, daß die heute noch lebenden indigenen Völker und andere einer traditionellen Lebens- und Wirtschaftsweise nachgehenden Gesellschaften in vielfacher Weise bedroht sind. Von daher stimme ich Ihrer Fragestellung zu.
Eine der zentralen Bedrohungen ist die Zerstörung ihrer Lebensräume durch schwere Eingriffe in die Ökosysteme, z. B. die Tropenwälder, in denen und von denen diese Menschen leben. Die tradierte Lebens- und Wirtschaftsweise indigener Gesellschaften, die auf der Überlieferung umfangreichen Wissens über langfristig tragfähige, angepaßte Ressourcennutzung beruht, gerät heute zunehmend in Konflikt mit staatlichen Entwicklungsplänen sowie den wirtschaftlichen Bedürfnissen und Interessen anderer Bevölkerungsgruppen.
Dies hat vor allem zwei konkrete Folgen:
Erstens. Die Zerstörung und die Einengung ihrer Lebensräume konfrontiert zahlreiche indigene Völker
seien es nun die Yanomami-Indianer im Amazonasbereich, die Baka-Pygmäen in Zentralafrika oder nomadische Hirtenvölker in Westafrika — mit Lebensbedingungen, die ihren traditionellen Wirtschaftsweisen und Lebensformen nicht entsprechen und die in Extremfällen ihre Existenz bedrohen.
Zweitens. Das ökologische Wissen indigener Völker, das die Kenntnis pflanzlicher Arzneimittel, unzähliger Nahrungsmittel und pflanzlicher Substanzen, ihrer Standorte, ihrer Nutzungsmöglichkeiten sowie Kenntnisse über eine Vielzahl von Tieren umfaßt, droht dabei verlorenzugehen.
Angesichts der Tatsache, daß die Bundesrepublik mit einem Anteil von 15 % an den jährlich weltweit aufgebrachten Mitteln zum Schutz der Tropenwälder einen deutlichen Beitrag zum Erhalt gerade dieser Lebensräume zu leisten sucht, gewinnt auch der Zusammenhang zwischen dem Schutz indigener Völker und den Maßnahmen zur Erhaltung der tropischen Wälder für die bilaterale Zusammenarbeit zunehmend an Bedeutung.
Um hierfür besser gerüstet zu sein, ist die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit beauftragt worden, in Zusammenarbeit mit deutschen und internationalen Nicht-Regierungsorganisationen die Situation der verschiedenen Tropenwaldvölker darzulegen und konkrete Vorschläge zu formulieren, wie Belange der indigenen Völker im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit künftig verstärkt berücksichtigt werden können. Diese Vorschläge können auch Forschungsaktivitäten umfassen.
Erste Ergebnisse hierzu werden in Kürze vorliegen. Die Bundesregierung wird dann im einzelnen überprüfen, wie diese Empfehlungen umgesetzt werden können.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Ferner.
Sehen Sie nicht zwischen dem, was Sie jetzt in bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit gesagt haben, und dem, was zu den beiden vorhergegangenen Fragen seitens der Bundesregie - rung, auch bezüglich kultureller Identität von Minderheiten, diesmal eben in den USA, geantwortet worden ist, einen Widerspruch?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Nein, wir haben ja dieses Thema in den vergangenen Jahren, Frau Kollegin, nachhaltig vorangetrieben, und wir versuchen, die verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen. Dies bedeutet, daß wir dort, wo wir als Bundesrepublik Deutschland konkrete Zuständigkeiten haben, gerade auf die Erfordernisse dieser Völker entsprechende Rücksicht nehmen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich vermute, daß die Bundesregierung auch ein bißchen Einfluß auf die Max-Planck-Gesellschaft hat, und darauf möchte ich schon noch einmal zurückkommen. Denn ein solches Institut stört quasi doch die Ausübung der Religion dieser Menschen und bedroht ihre Kultur. Oder würden Sie auch tatenlos zusehen, wenn man auf dem Petersplatz eine Schuhfabrik mit der Begründung, die Leute könnten ja darum herum beten, baute?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, wir sollten über das Thema mit dem gebotenen Ernst diskutieren und nicht in der Form, wie Sie es, wenn ich das sagen darf, zum Schluß getan haben. Der Kollege Neumann hat in seinen Antworten alles Nötige gesagt. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Weitere Zusatzfragen? —Das ist nicht der Fall.Ich rufe dann die Frage 6 des Abgeordneten Otto Schily auf:Unterstützt die Bundesregierung Aufforstungsprogramme nach der von Prof. Dr. Dr. Kallistratos entwickelten Kallidendron-Methode?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, zur Beantwortung.Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung unterstützt bisher keine Aufforstungsprogramme nach dem sogenannten KallidendronVerfahren.
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Parl. Staatssekretär Hans-Peter RepnikVor vier Jahren ist ein dem Bundesministerium für Umwelt vorgelegter Förderantrag der Gesellschaft für Nuklear- und Umwelttechnik mbH & Co. KG zur Finanzierung eines entsprechenden Versuchsvorhabens in der Sahelzone nach eingehender Erörterung mit BMFT und BMZ unter fachlichen, umwelt- und entwicklungspolitischen Gesichtspunkten abgelehnt worden.Der Bundesminister für Wirtschaft hat kürzlich einen modifizierten Förderantrag erhalten, der auf eine Überprüfung der damaligen Entscheidung abzielt und verschiedenen Ressorts, u. a. dem BMU, dem BMFT, dem BMZ und dem BML, zur Stellungnahme bis Ende Mai 1992 vorliegt. Man befaßt sich also erneut damit und wird Ende Mai 1992 zu einem Ergebnis kommen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Herr Staatssekretär, liegen der Bundesregierung — ich nehme an, auch im Rahmen des Prüfungsverfahrens; das, was Sie uns jetzt mitgeteilt haben, ist mir neu, und es ist interessant — Berichte über Ergebnisse der Anwendung dieser Methode bei Aufforstungsprojekten vor?
Hans-Peter Repnik, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, die Bundesregierung und der BMZ haben sich mit diesem Thema befaßt. Ich schlage Ihnen vor, daß wir die Ergebnisse dieser erneuten Überprüfung erst einmal abwarten und dann wieder ins Gespräch miteinander treten.
Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:
Welche Erfahrungen liegen der Bundesregierung zu dem zum 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Gesetz über den Auswärtigen Dienst einschließlich Begleitgesetz vor?
Herr Kollege, die bisherigen Erfahrungen mit dem Gesetz über den Auswärtigen Dienst und dem Begleitgesetz sind positiv. Der deutsche Auswärtige Dienst hat mit ihm eine Grundlage erhalten, die für die Erfüllung der bisherigen und, neuer, durch die weltpolitischen Veränderungen bedingter Aufgaben notwendig war und sie wesentlich erleichtert. Die Angehörigen des Dienstes hat das Gesetz in ihrer Motivation gestärkt, da sie es auch als Anerkennung ihres persönlichen Einsatzes werten, der, wie Sie wissen, weltweit sehr kompliziert ist.
Bei der praktischen Durchführung von Einzelmaßnahmen, für die das Einvernehmen des Innenressorts gesetzlich vorgesehen ist, bestehen allerdings gelegentlich noch Schwierigkeiten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Lowack.
Herzlichen Dank! Herr Staatsminister, wir haben daran lange gemeinsam gearbeitet, und ich freue mich über eine insgesamt positive Antwort. Aber vielleicht darf ich Sie doch um eine etwas strukturiertere Antwort bitten.Man kann die Auswirkungen dieses Gesetzes mit Blick auf das Personal sehen, also unter dem Gesichtspunkt: Welche Konsequenzen hat es für die Mitarbeiter gehabt? Man kann sie mit Blick auf den gesetzlichen Auftrag sehen, der vom Parlament sehr umfassend formuliert war. Ist er vielleicht zu umfangreich, gibt es Problembereiche? Man kann sich vorstellen, daß der Dienst im Rahmen der Fortentwicklung dieses Rechts bestimmte Fragen an das Parlament als verantwortlichen Gesetzgeber hat.Ich würde Sie gern bitten, hierauf eine Antwort zu geben, so daß wir Anhaltspunkte für die konkrete Arbeit im Bundestag bekommen.Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, unabhängig von einer Antwort, die ich Ihnen gern gebe, würde ich vorschlagen, daß wir uns — wie vorgesehen — daran halten, daß sich der Auswärtige Ausschuß mit den Auswirkungen des Gesetzes von Zeit zu Zeit beschäftigt, daß wir also Detailfragen nicht hier in der Fragestunde, sondern im Ausschuß erörtern. Die Zeit dafür ist denkbarerweise auch schon gekommen. Aber es liegt in der Initiative des Ausschusses, bei Gelegenheit einmal intensiver über die Auswirkungen zu diskutieren.Ich kann nur soviel sagen: Die wichtigsten Umsetzungsmaßnahmen sind die Einführung des Zuschlages für den Auswärtigen Dienst im Bundesbesoldungsgesetz und die Zahlung des Zuschlages für den Ehepartner gewesen; das ist alles in Ordnung. Wir haben in bezug auf die neue Heimaturlaubsverordnung Fortschritte erreicht, da sie einen jährlichen Zusatzurlaub erlaubt und beim Heimaturlaub Fahrtkostenzuschüsse vorsieht. Schulbeihilfe, Beihilfe für den Besuch von Kindergärten, all dies ist angepaßt worden. Durch die Verbesserung der Wohnbeihilfe wurde vielen Auslandsbediensteten eine wesentliche Entlastung ermöglicht.Der Auslandszuschlag — ich kann das jetzt nicht in allen Details aufführen — wurde, wie Sie wissen, in den unteren Besoldungsgruppen angehoben. Das gilt auch für Zulagen für die wichtige Funktion des Kanzlers an B-9-Botschaften, und es gilt für Sprachenaufwandsentschädigungen und anderes mehr.Ich darf vielleicht noch sagen, daß die Schwierigkeiten, die es noch gibt und über die wir uns im Auswärtigen Ausschuß vielleicht einmal intensiver unterhalten sollten, im Zusammenhang mit Maßnahmen stehen, die beim Eintritt von unvorhergesehenen Entwicklungen in bestimmten Ländern erforderlich werden. Hier sollte die sogenannte Zitterprämie genannt werden, die dann gezahlt wird, wenn kriegsähnliche Zustände entstehen; ich denke dabei an den Golfkrieg und an die Zustände in Jugoslawien, aber auch in Zaire, in Kinshasa. Wenn sich die Verhandlungen mit dem Innenressort in einer solchen plötzlich eintretenden Gefahrensituation sehr lange hinziehen, werden die ursprünglich vom Auswärtigen Ausschuß gewollten schnellen Hilfen natürlich erschwert. Das
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Staatsminister Helmut Schäfersollte man vor dem Deutschen Bundestag sagen. Hier kann man sicher noch einiges verbessern.
Zweite Zusatzfrage.
Erneut ganz herzlichen Dank, Herr Staatsminister. Ich habe noch eine kleine Bitte bzw. eine Frage, die Sie kurz beantworten können. Wäre es, da ich als fraktionsfreier und wirklich unabhängiger Abgeordneter im Auswärtigen Ausschuß kein Antragsrecht habe, möglich, daß die Bundesregierung einen kleinen Anstoß dazu gibt, daß wir so etwas im Auswärtigen Ausschuß erörtern?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin als langjähriges Mitglied des Auswärtigen Ausschusses wie immer gerne bereit, solche Anregungen in geeigneter Weise an Abgeordnete weiterzugeben, die — im Gegensatz zu Ihnen — die Möglichkeit haben, solche Punkte auf die Tagesordnung zu setzen.
Vielen Dank, Herr Staatsminister.
Bei der Frage 8 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 9 und 10 sind zurückgezogen worden.
Es kommt noch eine Reihe weiterer Fragen, für die um schriftliche Beantwortung gebeten ist. Ich sage deshalb an die Adresse der Parlamentarischen Geschäftsführer: Der Verlauf von Fragestunden ist vorher nie genau abzuschätzen, aber die Zahl der Fragen hat sich jetzt stark verringert. Die Präsidentin hat angekündigt, daß der nächste Tagesordnungspunkt im Anschluß an die Fragestunde behandelt werden soll. Also wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn Sie die Kollegen, die beim nächsten Tagesordnungspunkt antreten sollen, schon einmal alarmieren würden.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze zur Verfügung.
Ich rufe die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Wolfgang Gröbl ist zur Beantwortung erschienen.
Ich rufe Frage 13 des Abgeordneten Dr. Günther Müller auf:
l ialt die Bundesregierung den vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes auf dem Verkehrsrichtertag gemachten Vorschlag einer Überwachung der Geschwindigkeitsbegrenzung durch den Einsatz von je einem Überwachungsfahrzeug pro fünfzig Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik Deutschland für durchführbar, und wie viele Polizeibeamte müßten zur Durchführung einer derartigen Überwachung neu eingestellt werden?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Dr. Müller, die Bundesregierung ist für Fragen der Überwachung der Einhaltung von Verkehrsvorschriften nicht zuständig. Dies ist Angelegenheit der Länder. Eine Bewertung des Vorschlags des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist daher von der Bundesregierung nicht vorgenommen worden.
Zusatzfrage, Herr Kollege Müller.
Herr Staatssekretär, gehe ich recht in der Annahme, daß die Bundesregierung für die Einführung eines Tempolimits zuständig ist?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Richtig.
Eine zweite Zusatzfrage.
Kann ich dann davon ausgehen, daß, wenn die Bundesregierung für die Einführung eines Tempolimits zuständig ist, sie sich auch darüber im klaren sein muß, welche Folgen es hat, wenn es nicht überwacht werden kann; ist es dann überhaupt sinnvoll, ein solches Tempolimit einzuführen? Sind insofern die Hinweise des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts nicht eine Hilfe für die Bundesregierung, eine weise Entscheidung zu treffen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich selbstverständlich darüber Gedanken gemacht und deshalb die weise Entscheidung getroffen, ein Tempolimit nicht einzuführen.
Eine weitere Zusatzfrage? — Bitte, Frau Kollegin Ferner.
Kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung dann, wenn sie kein Tempolimit einführen will, weil sie es nicht für überwachbar hält, auch darauf dringen wird, daß bestehende Tempolimits aufgehoben werden, weil diese nach meiner Einschätzung ebenfalls nicht überwacht werden können?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ihre Ansicht teilt die Bundesregierung nicht, Frau Kollegin.
Werden weitere Zusatzfragen zur Frage 13 gestellt? — Das ist nicht der Fall.Ich rufe die Frage 14, die ebenfalls der Kollege Müller gestellt hat, auf:Wie viele Kraftfahrzeuge und Geschwindigkeitsüberwachungsgeräte müßten zur Durchführung des vorgeschlagenen Verfahrens durch die Polizeidienststellen in den Bundesländern neu angeschafft werden, und welche Steuererhöhungen wären notwendig, um die, nach Meinung des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten, einzig mögliche genaue Überwachung der Tempolimitüberschreitung zu finanzieren?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
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Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Bei dieser Frage muß ich auf meine Antwort zur letzten Frage verweisen, denn eine Zuständigkeit der Bundesregierung ist hierfür nicht gegeben.
Herr Kollege Müller, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würde die Bundesregierung oder würden Sie mir zustimmen, daß eine, wie vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts geforderte, lückenlose Überwachung des Tempolimits einen zusätzlichen Aufwand für Kraftfahrzeuge der Polizei von 40 Milliarden DM und für Planstellen der Polizei in Höhe von 80 Milliarden DM erfordern würde?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Diese Rechnung hat die Bundesregierung nicht vollzogen. Die Bundesregierung hat lediglich nachgerechnet, was der Vorschlag in Zahlen bedeuten würde. Es geht um den Vorschlag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts: Pro 50 Kraftfahrzeuge ist ein Überwachungsfahrzeug erforderlich; dies würde bei 40 Millionen zugelassenen Kraftfahrzeugen 800 000 Überwachungsfahrzeuge und bei einer Besetzung von vier Beamten pro Fahrzeug 3,2 Millionen Polizeibeamte bedeuten.
Eine zweite Zusatzfrage.
Ich bin der Bundesregierung dankbar dafür, daß sie von vier Polizeibeamten ausgegangen ist. Ich bin bei meiner Rechnung nur von zwei Polizeibeamten ausgegangen, so daß sich die Zahl von 80 Milliarden DM auf 160 Milliarden DM erhöhen würde und damit den ganzen Unsinn des Vorschlags deutlich macht.
Wollten Sie eine Frage stellen, Herr Kollege Müller, oder nur eine Bemerkung machen, was eigentlich nicht zulässig wäre?
Das passiert hier öfter, Herr Präsident.
Das Fragebedürfnis zu diesem Bereich scheint erschöpft.
Dann rufe ich die Frage 15 des Abgeordneten Martin Göttsching auf:
1st die Bundesregierung bereit, im Interesse der neuen Bundesländer, konkret in Thüringen, eine Umgehungsstraße der Kreisstadt Sondershausen an der B 4 in den ersten gesamtdeutschen Verkehrswegeplan 1992 in die Kategorie „Vordringlicher Bedarf" aufzunehmen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben wieder das Wort.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Göttsching, ja, im Referentenentwurf des Bundesverkehrswegeplanes 1992 — Stand: 9. April 1992; Teil Bundesfernstraßen — wurde die Ortsumgehung Sondershausen im Zuge der B 4 in die Stufe vordringlicher Bedarf eingestellt. Die endgültige Entscheidung bleibt jedoch dem Deutschen Bundestag vorbehalten.
Es gibt keine Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 16 der Kollegin Elke Ferner auf:
Hat der Bundesminister für Verkehr, Dr. Günther Krause, am 11. März 1992 bei der Pressekonferenz in Homburg/Saar im Hinblick auf die Anbindung Saarbrückens an die Hochgeschwindigkeitsbahnverbindung Paris-Ostfrankreich-Südwestdeutschland gesagt: „Daran müssen wir ja denken, daß wir die Wettbewerbsfähigkeit des Ypsilons garantieren wollen, das war ja eine wichtige Bedingung, die wir beim Fundament gegenüber dem Vertragspartner zu garantieren hatten, und ich denke, wir kommen damit gut weg, weil — ich kann da Ihre Analyse teilweise übernehmen — wir mit Sicherheit durch einen Nur-Ausbau diese günstigen Fahrzeiten nicht erreichen. Insofern ist da auch ein Segensfall für das Saarland. An welcher Stelle nun neu gebaut werden muß, in welchem Umfang und wie teuer das wird und ob das anderthalb Milliarden kostet oder ob das zweieinhalb Milliarden kostet oder ob das nur 500 Millionen kostet — das weiß ich nicht. "?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Bundesminister Professor Dr. Krause hat im Rahmen der Veranstaltung am 11. März 1992 in Homburg/Saar zum Abschnitt Saarbrücken-Ludwigshafen/Mannheim deutlich gemacht, daß die Entscheidung über Art und Umfang der Maßnahmen von dem Abschluß der bilateralen Projektvereinbarung mit Frankreich und von dem Ergebnis der vertiefenden Untersuchungen zwischen Hochspeyer und Neustadt mit dem Ziel einer deutlichen Fahrzeitverbesserung abhängt.
Eine Zusatzfrage.
Die Frage war eigentlich die, ob er das, was ich von einer Bandmitschrift des Senders „Radio Salut" aus Saarbrücken zitiert habe, gesagt hat oder nicht.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich kann einen solchen Mitschnitt an Hand eines Tonbandes weder bestätigen noch dementieren.
Eine zweite Zusatzfrage.
Wenn das Zitat so zutrifft, sehen Sie dann einen Widerspruch zu der Antwort, die mir die Bundesregierung im März dieses Jahres auf meine Frage gegeben hat, ob ein ähnliches Zitat aus der „Saarbrücker Zeitung" zutrifft oder nicht? Damals wurde mir geantwortet, die Ausführungen von Professor Krause seien nicht richtig wiedergegeben.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Antworten auf diese Frage hat mein Kollege Dr. Schulte, habe ich selbst am 19. März und hat mein Kollege Dr. Knittel am, wie ich meine, 1. April gegeben. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Es werden keine weiteren Zusatzfragen gestellt.Die Frage 17 des Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich Knaape und die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Benno Zierer werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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7218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Vizepräsident Hans KleinIch danke Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.Die Frage 20 der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid, die Fragen 21 und 22 der Abgeordneten Ulrike Mehl sowie die Fragen 23 und 24 der Abgeordneten Marion Caspers-Merk werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Dadurch erübrigt sich eine Beantwortung durch Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Wieczorek.Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.Ich rufe die Frage 25 des Abgeordneten Ortwin Lowack auf:Warum wird der von Hava Kohav Beller geschriebene, gedrehte und produzierte Film über den deutschen Widerstand im Dritten Reich „Das unruhige Gewissen" nicht von bundesdeutscher Seite gefördert, und sind der Bundesregierung Gründe bekannt, weshalb der Film, der für den Oscar nominiert ist, noch nicht einmal im deutschen Fernsehen gezeigt wurde?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Lowack, die Antwort lautet wie folgt. Der deutsche Widerstand im Dritten Reich nimmt in der politischen Bildungsarbeit des Bundes von jeher einen besonderen Stellenwert ein. Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet den Bildungseinrichtungen und anderen in Betracht kommenden Stellen derzeit zwölf Filme zu diesem Thema an. Sie will prüfen, ob auch der Film „Das unruhige Gewissen" in ihr Filmangebot aufgenommen werden kann. Das Zweite Deutsche Fernsehen hat im übrigen die Ausstrahlungsrechte an dem Film erworben und wird ihn zu einem noch zu bestimmenden Zeitpunkt auch senden.
Zusatzfrage.
Herzlichen Dank. Es bleibt trotzdem die Frage, nachdem die Filmförderung durchaus als ein wichtiger Bereich angesehen wird, der im Innenministerium angesiedelt ist, warum dieser Film, der sich um eine objektive Darstellung bemüht und vor allem versucht, die Einseitigkeit der Darstellung der Situation in Deutschland im Ausland, vor allen Dingen in den USA, etwas zu relativieren, sich keiner Förderung durch die Bundesregierung erfreut.
Ich habe schon die Frage, warum man so wenig Interesse daran zeigt, daß derartige Filme, die uns vor der Geschichte ein bißchen entlasten, gerade in den Ländern gezeigt werden können und gefördert werden können, bei denen ein sehr unobjektives Bild von der deutschen Geschichte vermittelt wurde.
Verzeihung, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich muß zunächst eine Bemerkung zum Fragestil des Kollegen Lowack machen.
Bei vollem Verständnis für den Wunsch nach Redezeit: In der Fragestunde sollten die Fragen möglichst
kurz gestellt und keine Debattenbeiträge geliefert werden. Sie haben eine große rhetorische Fähigkeit entwickelt, in Ihre Frage auch noch den ganzen Meinungsbeitrag hineinzupacken. Sie sind nicht der einzige, aber Sie sind jetzt wieder einmal derjenige, der das in dieser Fragestunde macht. Deshalb erlaube ich mir, darauf hinzuweisen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, in der Fragestunde kurze Fragen zu stellen. Ich habe den stillen Wunsch an die Bundesregierung, sie möge entsprechend antworten.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, wenn ich es richtig sehe, wird angestrebt, im Rahmen der Fördermöglichkeiten, die ja nicht unbegrenzt sind, eine breite Palette an Filmen zu fördern. Wenn bereits zwölf Filme zu dieser Themenstellung gefördert wurden, liegt es nahe und auch in der Logik, daß man die Förderung sodann auf andere Dinge erstreckt und konzentriert.
Im übrigen scheint mir Ihr eigentliches Anliegen, nämlich dafür Sorge zu tragen, daß dieser Film angefordert und vorgeführt werden kann, durch die Zusage, die in meiner Antwort enthalten war, berücksichtigt zu sein, nämlich daß geprüft werden soll, ob die Bundeszentrale den Film nicht leihweise zur Verfügung stellen kann.
Herzlichen Dank, auch für Ihren Hinweis, Herr Präsident, der mich tief beeindruckt hat. Ich will mich auch gleich, davon beeinflußt, entsprechend kurzfassen.
Wird in Ihrer Antwort nicht etwas gleichgestellt, was nicht gleichzustellen ist, nämlich Filme, die von deutscher Seite aus angefordert wurden, mit Filmen von einem freien Filmschaffenden, der sich an ein bestimmtes Publikum wendet?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, ich sehe das nicht so. Ich glaube, ich habe die für die Erklärung der Entscheidung notwendigen Erläuterungen gegeben.
Man soll ja das Mikrophon nicht mißbrauchen; aber, Herr Kollege Lowack, ich bin immer glücklich, wenn ich einen Kollegen beeindrucken kann.
Ich rufe die Frage 26 auf, die unser Kollege Dr. Eberhard Brecht gestellt hat:Trifft die Behauptung des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL vom 30. März 1992 zu, der entsprechend sowohl das Bundesministerium des Innern als auch das Bundeskanzleramt bereits Anfang 1990 Kenntnis über eine von Martin Kirchner besprochene Tonbandkassette hatten, die einen klaren Hinweis auf die Stasi-Spitzeltätigkeit des Ost-CDU-Generalsekretärs erbrachte?Herr Parlamentarischer Staatssekretär.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Brecht, die Antwort: Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Such und der Fraktion DIE GRÜNEN vom 15. Oktober 1991 und im Rahmen der Frage-
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerstunde des Deutschen Bundestags vom 24. Oktober 1990 erklärt, daß sie zu Erkenntnissen sowie zum Inhalt und Zeitpunkt der Berichterstattung ihrer Nachrichtendienste aus grundsätzlichen Erwägungen nicht öffentlich Stellung nimmt. Die Bundesregierung wiederholt aber ihre mehrfach geäußerte Bereitschaft, den zuständigen parlamentarischen Gremien zu berichten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Brecht.
Darf ich trotzdem nachfragen, ob das Bundeskanzleramt über die Namensliste informiert wurde, die am 8. März vom Bundesamt für Verfassungsschutz an den BND weitergereicht wurde und die möglicherweise auch den Namen von Martin Kirchner enthält?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Brecht, darf ich auf meine vorige Antwort verweisen?
Ich rufe die Frage 27 auf, die ebenfalls der Kollege Brecht gestellt hat:
Trifft weiterhin die Behauptung zu, daß wenige Wochen vor der Volkskammerwahl der BfV-Vizepräsident Dr. Peter Frisch — möglicherweise im Auftrag des Bundeskanzleramtes — geplant hat, eine Kampagne gegen die vermeintlichen StasiVerleumdungen von Schnur und Kirchner in Gang zu setzen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet schlicht und einfach: Die Behauptung ist unzutreffend.
Zusatzfrage.
Ich darf fragen, ob die Antwort „Unzutreffend", die Sie soeben gegeben haben, sich auf die Frage bezieht, ob der Auftraggeber das Kanzleramt ist, oder ob sie besagt, daß generell der Tatbestand unzutreffend ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Soweit die Bundesregierung involviert sein könnte, ist die Behauptung unzutreffend.
Darf ich noch fragen, ob die zwei Fragen, um deren Beantwortung ich Sie gebeten habe, bereits Gegenstand einer Sitzung der parlamentarischen Kontrollkommission gewesen sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das ist mir im Moment nicht bekannt. Das müßte ich klären lassen.
Gibt es zu dem Komplex weitere Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Ich sehe den Kollegen Dr. Mahlo nicht. Mit seiner Frage 28 wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Ich rufe die Frage 29 des Kollegen Ralf Walter auf:
Wie wird die Bestimmung des Aussiedlergesetzes, der zufolge Kinder aus Ehen zwischen einem Aussiedler/einer Aussiedlerin und einer Person, die nicht Deutsche/r im Sinne des Grundgesetzes sind, entsprechend ihres sozio-kulturellen Charakterbildes daraufhin zu beurteilen sind, ob es sich auch bei ihnen um Aussiedler handelt oder nicht, im Falle von Kleinkindern und Säuglingen angewandt?
Bitte, Sie haben das Wort.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Nach § 15 Abs. 1 des Bundesvertriebenengesetzes erhält ein Aussiedler zum Nachweis dieser Eigenschaft einen Vertriebenenausweis. In diesem Ausweis werden Säuglinge und Kleinkinder regelmäßig eingetragen. Bei nur einem deutschen Elternteil wird die Eintragung im Ausweis des deutschen Elternteils vorgenommen. Die Frage einer Prägung im deutschen Volkstum stellt sich hier nicht. Mit der Eintragung wird die Aussiedlereigenschaft des Kindes verbindlich festgestellt.
Die Länder führen das Bundesvertriebenengesetz als eigene Angelegenheit aus. Ob im Einzelfall die Voraussetzungen zur Feststellung der Aussiedlereigenschaft vorliegen, entscheiden daher die in den Ländern zuständigen Behörden.
Zusatzfrage.
Können Sie mir die Frage beantworten, warum das Bundesverwaltungsamt als Grund dafür, daß ein eineinhalbjähriges Kind nicht mit seinen Eltern ausreisen darf, angegeben hat: Der Vater ist Tatar, die Mutter deutschstämmig; wir müssen erst feststellen, ob das Kind in tatarischer Tradition oder in deutscher Tradition erzogen worden ist?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich kann zu einem so konkreten Einzelfall naturgemäß nicht aus dem Stegreif sachgerecht und fachgerecht Stellung nehmen. Deshalb bitte ich Sie, uns die Unterlagen zu dem Fall zur Verfügung zu stellen. Wir werden das abklären.
Sie sind also mit mir der Meinung, daß in diesem Alter solche Überprüfungen nicht möglich sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Walter, ich habe darauf hingewiesen, daß auch Kleinkinder von der von mir geschilderten Regelung umfaßt sind. Ich halte ein eineinhalbjähriges Kind durchaus für ein Kleinkind.
Herr Kollege Lowack.
Lieber Kollege Lintner, halten Sie unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten diese Regelung nicht für eine Überforderung der Praxis?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, ich sehe den Ansatz für Ihre Kritik nicht. Ich habe doch ausgeführt, daß Säuglinge und Kleinkinder automatisch an der Aussiedlereigenschaft teilhaben. Deshalb geht Ihre Kritik meines Erachtens völlig ins Leere.
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7220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Ich rufe die Frage 30 des Abgeordneten Klaus Harries auf:
Ist der Bundesregierung bekannt und kann sie mitteilen, wie viele Ausländer im Durchschnitt der letzten Jahre von den Bundesländern deswegen ausgewiesen worden sind, weil sie im Bundesgebiet straffällig geworden und rechtskräftig verurteilt worden sind?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, die Antwort lautet: Eine Querschnittsauswertung des Ausländerzentralregisters hat ergeben, daß in dem Zeitraum 1. Januar 1987 bis 30. Juni 1991 insgesamt 24 845 Ausländer ausgewiesen wurden. Für die Jahre 1987 bis 1990 ergibt die Auswertung einen Mittelwert von 5 940 Ausweisungen pro Jahr. Im ersten Halbjahr 1991 sind 1 085 Ausländer ausgewiesen worden.
Ausweisungsgründe lassen sich durch Querschnittsauswertungen des Ausländerzentralregisters nicht feststellen. Da der Bundesregierung andere eigene Erkenntnisquellen nicht zur Verfügung stehen, kann ich nicht sagen, wie viele Ausländer in den letzten Jahren ausgewiesen wurden, weil sie im Bundesgebiet straffällig geworden und rechtskräftig verurteilt worden sind.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß zuständige Polizeiabschnitte in den Städten, Ländern und Kreisen sehr unglücklich darüber sind, daß es offenbar — ich frage das aber — Weisungen von einigen Ländern an die Staatsanwaltschaft gibt, Strafanzeigen der Polizei wegen Verstößen von Asylbewerbern nicht zu verfolgen und nicht entgegenzunehmen?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Harries, offiziell ist uns dieser Sachverhalt nicht bekannt.
Zweite Zusatzfrage.
Ist er Ihnen, Herr Staatssekretär, inoffiziell bekannt?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Wir sammeln naturgemäß alle Informationen, die in diesem Bereich, beispielsweise auch in der Presse, wiedergegeben werden. Aber ich kann das in amtlicher Eigenschaft seitens der Bundesregierung nicht bestätigen.
Vielen Dank. Weitere Zusatzfragen aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen liegen nicht vor.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe Frage 31 der Kollegin Uta Würfel auf:
Was hat das Bundesministerium der Finanzen vor dem Hintergrund des Straftatbestandes Kinderpornographie bislang unternommen, um die Einziehung dieser Machwerke bereits an den deutschen Grenzen durch den Zoll zu gewährleisten?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Würfel, wird bei der Grenzabfertigung eingebrachter oder auszuführender Gegenstände festgestellt, daß sich darunter kinderpornographische Machwerke befinden, hält die Zollstelle diese Sendungen an und benachrichtigt die zuständige Staatsanwaltschaft, die das Weitere veranlaßt.
Bei entsprechenden Einfuhren im Postwege ist die Zollverwaltung derzeit — ich betone derzeit — auf Grund des Brief- und Postgeheimnisses nach Art. 10 Grundgesetz an einer Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden gehindert. Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1970 zur Postbeschlagnahme von eingeführten unzüchtigen Schriften eine Verwertungsbefugnis der Zollbehörden zur Weiterleitung pornographischer Schriften an die Staatsanwaltschaft ausdrücklich verneint. Die Zollstelle muß sich deshalb in einem solchen Fall darauf beschränken, den Antrag auf Einfuhrabfertigung zurückzuweisen und die Sendung der Deutschen Bundespost zur Rückbeförderung an den ausländischen Absender zu übergeben.
Das soll nun künftig anders werden. Die Bundesregierung bereitet zur Zeit ein Gesetz zur Regelung von Einfuhrverboten — Einfuhr-Überwachungsgesetz — vor, mit dem die für die Zollverwaltung bestehende Beschränkung der Weitergabe der in Rede stehenden Machwerke an die Staatsanwaltschaft ausgeräumt wird. Der Gesetzentwurf sieht bei Verstößen gegen Einfuhr- und Ausfuhrverbote ausdrücklich eine Einschränkung des Brief- und Postgeheimnisses vor.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Würfel.
Herr Staatssekretär, können Sie uns vielleicht sagen, in welchem Zeitrahmen es dazu kommen wird, daß diese Neuerungen gesetzlich verankert werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Interministeriell ist dieser Gesetzentwurf zur Zeit in der Abstimmung. Hindernisse, wie sie in der Vergangenheit bestanden, sind ausgeräumt. Das hängt auch mit dem EG-Binnenmarkt zum 1. Januar 1993 zusammen. Wir hoffen, daß in einem normalen Gesetzgebungsverfahren auch im üblichen Zeitrahmen das Gesetz verabschiedet werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Hat es einen Schriftverkehr oder hat es deutliche Hinweise an die Zollgrenzstellen gegeben, bei Durchsuchungen der Autos und der Einreisenden besonderen Wert darauf zu legen, nach diesen Videokassetten zu forschen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7221
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob es besondere Hinweise gegeben hat. Nur, man muß natürlich sehen, daß die die Beschauquote relativ gering ist. Bei dem Verkehr in Drittländer liegt sie bei knapp 5 %, beim innergemeinschaftlichen Verkehr beträgt sie sogar nur 1 %. Sie ist also sehr gering, so daß wir gar keinen so rechten Überblick über Art und Umfang dieser unschönen Vorgänge haben.
Aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen dazu weitere Zusatzfragen? — Bitte, Herr Kollege Müller.
Hält die Bundesregierung ihr Bemühen um Kontrolle, wie sie dies geschildert haben, angesichts der Tatsache, daß bei deutschen Fernsehsendern Abend für Abend staatlich gefördert eine Menge Pornographie zu sehen ist, überhaupt für angebracht? Ich persönlich habe eine andere Meinung dazu; ich halte es für angebracht. Aber ich halte auch die anderen Ausstrahlungen für fragwürdig. Immerhin fördert die Bundesregierung diese anderen Sender. Hält sie es überhaupt noch aus, daß sie auf der einen Seite so etwas millionenfach verbreiten läßt und auf der anderen Seite den Zoll mühsam an die Grenzen schickt?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, die Bundesregierung bedauert die von Ihnen zitierten Sendungen zutiefst. Aber hier reden wir von der sogenannten harten Pornographie, von der Kinderpornographie. Wir halten es für unverzichtbar, daß wir im Interesse des Schutzes unserer Kinder hier in der Zukunft einschreiten und auf den Möglichkeiten, die wir jetzt schon haben, unsere Arbeit intensivieren.
Bitte sehr, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, wie erfolgreich war Ihr Bemühen bisher?
Dr. Joachim Grünewald; Parl. Staatssekretär: Ich hatte eben schon sagen dürfen, daß wir eine Berichtspflicht an die Zollbehörden nicht verfügt haben und daß die sogenannten Nachschauquoten sehr unterschiedlich sind. Aber selbstverständlich spülen solche Fälle immer wieder auf, und sie werden dann, wie ich eben darlegen durfte, auch behandelt.
Zur Frage 31 noch eine Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Für die Frage 32 ist schriftliche Beantwortung erbeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Albrecht Müller auf:
Wie viele deutsche Zivilbeschäftigte und wo in RheinlandPfalz sollen nach den neuesten Plänen der US-Regierung abgebaut werden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, die endgültigen Auswirkungen des Planstellenabbaus der US-Armee für die einzelnen Standorte stehen noch nicht fest. Nach dem gegenwärtigen Stand der Planungen werden davon in Rheinland-Pfalz etwa 4 600 örtliche Arbeitnehmer betroffen sein, die sich wie folgt auf die einzelnen Standorte verteilen: Miesau: 1 095 Arbeitnehmer, Kaiserslautern: 642, Worms: 5, Germersheim: 819, Zweibrücken: 654, Münchweiler: 429, Pirmasens: 753, Landstuhl: 124, Mainz: 228 Arbeitnehmer.
Gleichzeitig soll sich die Zahl der örtlichen Arbeitnehmer in Bad Kreuznach um knapp 150 und in Baumholder um knapp 20 erhöhen. Veränderungen dieser vorläufigen Zahlen sind bei Umstellung der örtlichen Planungen natürlich denkbar.
Zusatzfrage, Herr Kollege Müller.
Herr Staatssekretär, was tut die Bundesregierung, um herauszubekommen, welche Menschen davon betroffen sind? Denn erst dann — das wissen auch Sie — sind die Bemühungen, die sich aus dem Tarifvertrag „Soziale Sicherheit" ergeben, möglich. Erst wenn man weiß, wer betroffen ist, kann man hier etwas tun: beginnend davon, sich umzugucken, welche anderen behördlichen Stellen Leute einstellen könnten, bis hin zur Umschulung oder dem Versuch, Ersatzarbeitsplätze außerhalb des behördlichen Apparats zu beschaffen. Solange man das nicht weiß, kann man nichts tun. Was also tut die Bundesregierung, um diese Informationen zu beschaffen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hält — das geht auch aus meiner ersten Antwort hervor — in allen Bereichen sehr engen Kontakt mit den alliierten Verbündeten, um sich über deren Planungen mit den zu beklagenden Folgerungen des Personalabbaus abzustimmen. Deswegen konnte ich Ihnen in Einzelfällen die Zahlen nennen. Dann setzen die Maßnahmen der unterschiedlichen Tarifvertragswerke, die die Bundesregierung im Einvernehmen mit den alliierten Streitkräften abgeschlossen hat, ein. Wir bemühen uns, dabei zu helfen, Ersatzarbeitsplätze zu beschaffen und, und, und. Aber das ist nicht primär eine Aufgabe der Bundesregierung.
Weitere Zusatzfrage.
Letzteres teile ich nicht. Aber ich frage: Ist die Bundesregierung bereit, für eine arbeitnehmerfreundliche Anwendung des Tarifvertrages „Soziale Sicherheit" zu sorgen; denn dafür sind Sie ja der Verhandlungsführer?Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ja, selbstverständlich. Die unterschiedlichen Tarifvertragswerke, die Ihnen ja erkennbar bekannt sind, weisen diese arbeitnehmerfreundlichen Maßnahmen aus. Wir haben einen Vertrag, der sich speziell mit der Sicherheit der Arbeitsplätze und mit der Milderung von finanziellen Folgen, wenn die Arbeitsplätze nicht erhalten werden können, befaßt. Ebenfalls haben wir einen eigenen Tarifvertrag für die Erleichterung des Übergangs in andere Beschäftigungsverhältnisse.
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7222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Joachim GrünewaldSie sehen also, daß wir uns schon sehr intensiv im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer um eine sozial verträgliche Lösung bemühen.
Haben die Kolleginnen und Kollegen dazu noch Zusatzfragen? — Das ist nicht der Fall.
Ich rufe die Frage 34, die ebenfalls unser Kollege Albrecht Müller gestellt hat, auf:
Seit wann hat die Bundesregierung von diesen Plänen Kenntnis?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Müller, das Bundesministerium der Finanzen ist mit Schreiben des Verbindungsoffiziers des US-Hauptquartiers USAREUR in Bonn am 3. April 1992 über den beabsichtigten Stellenabbau unterrichtet worden. Ob und wann andere Ressorts von der Pressemitteilung des Hauptquartiers am 7. April 1992 von der Planung unterrichtet wurden, läßt sich ohne erheblichen Zeitaufwand nicht feststellen.
Zusatzfrage.
Hält die Bundesregierung diese späte Information vom 3. April angesichts der Tatsache, daß von diesen Plänen schon vorher unter den Betroffenen etwas ruchbar geworden ist, ohne daß man Genaues wußte, für ein Zeichen der Freundschaft und der guten Information zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich würde das nicht so negativ bewerten. Auch aus der eigenen Alltagsarbeit im Hause des Bundesfinanzministers weiß ich von einzelnen Standorten — beispielsweise von dem soeben erwähnten Standort in Zweibrücken —, daß wir seit geraumer Zeit in sehr engem Kontakt mit den alliierten Streitkräften stehen, daß aber auch die natürlich erst ihre Planungen endgültig festlegen müssen, bevor wir ganz konkret wissen, was nun wirklich geschehen wird.
Weitere Zusatzfrage.
Habe ich Sie vorhin richtig verstanden, daß Sie gesagt haben, sich nach Ersatzarbeitsplätzen umzuschauen, läge nicht in der Kompetenz und auch nicht in der Pflicht der Bundesregierung, und halten Sie das für vereinbar mit den schon erwähnten Tarifverträgen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, nein. Ich habe ja ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir einen Tarifvertrag speziell zur Sicherung und einen weiteren zur Abmilderung solcher Folgen miteinander vereinbart haben. Dann wird — wie das in der Praxis geschieht, das wissen Sie ja auch aus den Erfahrungen vor Ort, das steht ja ebenfalls hinter Ihrer Frage — in einer konzertierten Aktion mit den Oberfinanzpräsidenten, mit der Bundesvermögensverwaltung und insbesondere mit den Belegenheitsgemeinden und den Belegenheitskreisen darüber nachgedacht, wie man sozial verträgliche Lösungen schaffen kann.
Zusatzfrage des Kollegen Walter.
Sind Sie der Auffassung, daß der Zeitraum eines halben Jahres für eine konzertierte Aktion ausreicht?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Entschuldigen Sie, aber über die Entwicklung beispielsweise in Zweibrücken — diesen Fall kenne ich aus eigener Wahrnehmung am besten — sind wir schon seit mindestens zwei Jahren miteinander im Gespräch. Das ist an anderen Standorten ebenfalls so.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? — Das ist offensichtlich nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Ich bedanke mich für die Beantwortung.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Erich Riedl steht uns zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Herr Kollege Riedl, für die Fragen 35 und 36 ist um schriftliche Beantwortung gebeten worden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Die Frage 37 hat der Kollege Erich Fritz gestellt:
Mit welchen Wirkungen auf die Beschäftigung der deutschen Stahlindustrie in den neuen und in den alten Bundesländern rechnet die Bundesregierung angesichts des seit 1991 in Europa eingetretenen Erlösverfalls für das laufende Jahr 1992?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich rede noch ein bißchen, bis Sie Ihre Papiere geordnet haben.
Danach bitte ich Sie, die Antwort zu erteilen.
Das Ganze kommt daher, Herr Präsident, daß die Frage 36 vormals als Frage 17 und die Frage 37 vormals als Frage 18 beziffert wurde. Ich bitte um Nachsicht, daß ich der korrekten Amtsführung des Präsidiums etwas Nachprüfung angedeihen ließ.
Die Frage 36 darf ich wie folgt beantworten: Nach den der Bundesregierung zur Verfügung stehenden Informationen dürften sich die seit einiger Zeit registrierten Preiseinbrüche bei zahlreichen Stahlerzeugnissen im Laufe des Jahres 1992 noch nicht negativ auf die Produktionstätigkeit in der westdeutschen Stahlindustrie auswirken. In den Prognosen führender Wirtschaftsforschungsinstitute wird für dieses Jahr übereinstimmend von einer Stabilisierung der Produktion auf dem Vorjahresniveau ausgegangen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Verzeihung. Ich glaube, Sie haben doch die falsche Frage erwischt.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, das war genau der Grund, warum ich mir erlaubt habe,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7223
Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedlnoch einmal nachzusehen. Ich bedanke mich für Ihr Verständnis.
Das beruhigt mich sehr.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Die Preisentwicklung wird sich jedoch auch nach Einschätzung der Bundesregierung nachteilig auf die ohnehin angespannte Ertragslage der Stahlunternehmen auswirken. Über konkrete Folgerungen der Industrie aus dieser Entwicklung liegen der Bundesregierung noch keine umfassenden Angaben vor. Eine Reduzierung der Investitionstätigkeit und ein verstärkter Personalabbau dürften allerdings leider Gottes nicht auszuschließen sein, wenn diese unbefriedigende Situation anhalten sollte.
In den neuen Bundesländern, Herr Abgeordneter, dürfte sich auch 1992 der einschneidende Strukturanpassungsprozeß fortsetzen und die konjunkturelle Entwicklung überlagern. Erfreuliche Fortschritte bei der Privatisierung sowie die immer stärker werdende wirtschaftliche Belebung in den neuen Bundesländern dürften sich aber nach Einschätzung der Bundesregierung im Jahresverlauf stabilisieren und auf Produktion und Beschäftigung auswirken. Der international registrierte Preisverfall dürfte den Strukturwandel hemmen. Angesichts der zahlreichen, zum Teil gegeneinander wirkenden Einflußfaktoren sieht sich die Bundesregierung allerdings derzeit nicht in der Lage, eine detailliertere Stellungnahme über mögliche Entwicklungstendenzen abzugeben.
Keine Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 38 auf, die ebenfalls der Kollege Fritz gestellt hat:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Effizienz der Überwachung des Subventionsverbots durch die Europäische Kommission bei den in den anderen Mitgliedstaaten der Montanunion zu beobachtenden Reaktionen der Politik auf den Beschäftigungsrückgang?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, das müßte in der Reihenfolge der Ziffern die nächste sein.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Es ist mit den Fragen in der Tat viel geschoben worden. Aber ich kenne Ihre Frage, Herr Abgeordneter.
Nach Einschätzung der Bundesregierung führt die EG-Kommission in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ihre Beihilfeaufsicht konsequent durch. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Bundesregierung allen Beihilfeentscheidungen der EG-Kommission vorbehaltlos zustimmt. Die Bundesregierung wertet es als positiv, daß die Zahl der Kommissionsentscheidungen im Stahlbereich, denen sie nicht völlig kritiklos gegenübersteht, drastisch zurückgegangen ist. Sie sieht in dieser positiven Entwicklung auch die Auswirkungen ihrer Anstrengungen, eine konsequente Beihilfendisziplin in der Gemeinschaft durchzusetzen. Aber, wenn ich es einmal so sagen darf, Herr Abgeordneter, gesündigt wird in diesem Bereich innerhalb der EG leider Gottes nach wie vor.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, haben Sie genaue Kenntnis über den Umfang dieser Zuwendungen, zumindest in den Ländern Italien, Spanien und Frankreich? Sind Sie, sofern Sie die Zahlen kennen, nicht der Meinung, daß dies eigentlich über den Kodex in der Europäischen Gemeinschaft hinausgeht? Können Sie insbesondere Auskunft darüber geben, ob die Struktur dieser Zuwendungen geeignet ist, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Stahlindustrie zu beeinträchtigen?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Das letztere ist richtig; das kann ich bejahen. Es gibt, Herr Abgeordneter, leider Gottes solche Fälle. Einer der jüngsten Fälle ist die Ihnen sicherlich bekannte Zuführung von 2,5 Milliarden FF an das französische Stahlunternehmen Usinor Sacilor mit Hilfe der Staatsbank Crédit Lyonnais, was ein Unternehmen betrifft, das einen Verlust von etwa 3 Milliarden FF erwirtschaftet hat. Daß dies von uns bei der EG-Kommission vorgetragen und diskutiert wird, das ist selbstverständlich. Ich könnte Ihnen auch Beispiele aus Italien nennen, Herr Abgeordneter. Es ist die Aufgabe des Bundesministers für Wirtschaft, sich im Interesse gleicher Wettbewerbsverhältnisse intensiv darum zu bemühen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Fritz.
Können Sie dann hier darstellen, in welcher Weise der Bundeswirtschaftsminister bei den von Ihnen genannten Fällen tätig geworden ist?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Da gibt es ganz einfache Regularien. Wir werden bei der EG-Kommission vorstellig. Das Verfahren ist eigentlich nicht das Problem. Das Problem ist die Beweisbarkeit. Indirekte Zuwendungen vor Ort nachzuprüfen — das geht bis in Steuerbescheide hinein — ist außerordentlich schwierig. Diese werden natürlich nicht in der Tagespresse veröffentlicht, sondern wir sind auf Informationen breitester Art, vor allen Dingen aus der betroffenen Wirtschaft, angewiesen.
Wünscht noch jemand eine Zusatzfrage zu stellen? — Bitte, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, haben die verbotenen Subventionen in diesem Bereich Auswirkungen auf die Maxhütte in der Oberpfalz?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Da ich den Maxhütte-Fall in seiner augenblicklichen Situation nicht absolut beurteilen kann, allerdings die Maxhütte voll im nationalen und europäischen Wettbewerb steht, kann ich das nicht nur nicht ausschließen, sondern ich nehme es sogar mit guten Gründen an.
Für die Fragen 39 bis 44 ist schriftliche Beantwortung erbeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Herr Parlamentarischer Staatssekretär, damit ist Ihr Geschäftsbereich erledigt. Ich bedanke mich bei Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
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7224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Vizepräsident Hans KleinIch sage nun den Parlamentarischen Geschäftsführern, wir haben nur noch eine Frage.Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Georg Gallus steht uns zur Beantwortung zur Verfügung.Die Fragen 45 und 46 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Es bleibt uns also nur noch die Frage 47 des Kollegen Horst Kubatschka:Wie beurteilt die Bundesregierung die Förderpraxis der Europäischen Gemeinschaft, Aufforstungen höher zu bezuschussen als Naturschutzprogramme, was dazu führt, daß Forstverwaltungen auch in Bereichen aufforsten, wo neu angepflanzter Wald aus landeskultureller Sicht nicht wünschenswert ist wie z. B. in Wiesentälern, und was wird sie gegen diese Zuschußpraxis der EG unternehmen?Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort zur Beantwortung.
Herr Kollege Kubatschka, die Förderung der Erstaufforstung seitens der EG geschieht im Rahmen des Art. 25 der Effizienzverordnung. Danach werden Aufforstungsbeihilfen der Mitgliedstaaten bis zu 1 800 ECU pro Hektar sowie eine jährliche Prämie je aufgeforsteter Hektar zum Ausgleich aufforstungsbedingter Einkommensverluste für Landwirte bis 150 ECU für höchstens 20 Jahre von der EG zu 25 % mitfinanziert.
Die Bundesregierung setzt sich für eine wirkungsvolle Förderung der Erstaufforstung ein, weil mit dieser Maßnahme gleichzeitig rohstoffpolitische, agrarpolitische und umweltpolitische Ziele verfolgt werden. Ich erinnere an die CO2-Problematik.
Deutschland hat die Erstaufforstungsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes umgesetzt. Dort betragen die einmaligen Zuschüsse zur Begründung und Sicherung von Forstkulturen bis zu 85 % bei Laubbaumkulturen, 70 % bei Misch- oder Tannenkulturen, 50 % bei Kulturen einer Nadelbaumart.
Die Erstaufforstungsprämie wird in Form jährlicher Zahlungen bis zu 20 Jahren und bis zu 500 DM je Hektar gestaffelt nach Baumarten und Standortgüte gezahlt. Die detaillierte Ausgestaltung und Durchführung dieser Fördermaßnahmen fällt in die Zuständigkeit der Länder.
Es ist festzuhalten, daß der investiven Erstaufforstungsförderung um mindestens 25 % höhere tatsächliche Aufforstungskosten gegenüberstehen. Die jährliche Prämie bis zu 500 DM je Hektar soll einen Beitrag zum Ausgleich der Einkommensverluste gegenüber der landwirtschaftlichen Nutzung liefern.
Ob sich aus dieser Praxis eine Diskriminierung der Naturschutzprogramme ergibt, kann nicht generell beantwortet, sondern nur am Einzelfall geprüft werden. Für die Ausgestaltung der Naturschutzprogramme sind im übrigen die Länder zuständig.
Darüber hinaus besteht in Form des nach § 10 des Bundeswaldgesetzes obligatorischen Erstaufforstungsgenehmigungsverfahrens ein wirksames Instrument zur Steuerung von Erstaufforstungen auch unter Naturschutzgesichtspunkten, etwa bei der Offenhaltung von Wiesentälern in waldreichen Gebieten. Der § 10 des Bundeswaldgesetzes schreibt vor, daß die Erstaufforstung bisher nicht forstwirtschaftlich genutzter Flächen der Genehmigung durch die nach Landesrecht zuständige Behörde bedarf. Zu den Versagungsgründen rechnen nach Landesrecht vor allem Natursschutzgründe, das Entgegenstehen von Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung und nachteilige Veränderungen des Landschaftsbildes.
Am Genehmigungsverfahren sind in der Regel die Naturschutzbehörden, die Forstbehörden, die Landwirtschaftsbehörden und die Gemeinden nach Maßgabe der jeweiligen Länderrechte beteiligt.
Herr Kollege Kubatschka, Sie haben gefragt, wie die Bundesregierung das beurteilt. Das ist eben mitgeteilt worden. Eine Zusatzfrage.
Wenn es zu einem Konflikt zwischen Aufforstung und Landeskultur bzw. Kulturlandschaft kommt, wie werden dann die Prioritäten gesetzt?
Georg Gallus, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie müssen die jeweiligen Länder und Kommissionen fragen, wie sie im Einzelfall entscheiden.
Die zweite Zusatzfrage.
Könnte es dann auch zu einem Konflikt mit dem Fremdenverkehr kommen? Wenn man Gebiete ohne Rücksicht aufforstete und z. B. den Bayerischen Wald veränderte, hätte das doch ganz nachteilige Auswirkungen auf den Fremdenverkehr. Sie wissen sicher, daß der Wald-Wiesen-Effekt viel reizvoller ist als eine geschlossene Waldlandschaft. Wie beurteilt das die Bundesregierung?
Georg Gallus, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist, wie schon gesagt, nicht zuständig. Aber wenn Sie eine Beurteilung von mir haben wollen, dann kann ich Ihnen nur eines sagen: Das Problem besteht nicht nur im Bayerischen Wald, sondern auch im Schwarzwald, weil manche Gebiete ohne Genehmigung aufgeforstet werden, weil die Leute heute anderen Tätigkeiten nachgehen und weil niemand mehr bereit ist, die Flächen entsprechend offenzuhalten, auch nicht für die Beträge, die heute für die Offenhaltung dieser Flächen ausgeworfen werden. Das ergibt ein großes Problem in der Zukunft. Dabei glaube ich, daß für bestimmte Gebiete höhere Beträge für den Naturschutz zur Verfügung gestellt werden müssen; denn sonst werden sie brachliegen gelassen, und jetzt im Frühjahr steht noch das Heu-Gras vom letzten Jahr. Das wollen die Leute nicht; aber sie wollen den Boden auch nicht mehr bearbeiten.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Themenbereich werden nicht zu stellen gewünscht. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7225
Vizepräsident Hans KleinFrau Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Roitzsch, die Sie für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung bis jetzt ausgeharrt haben, ich muß Ihnen leider sagen, daß der einzige Fragesteller, der nicht um schriftliche Beantwortung gebeten hat, bis zum Augenblick nicht im Saal ist. Trotzdem bedanke ich mich für Ihre Bereitschaft, die Fragen zu beantworten.Alle Fragen, die wir noch auf unserer Liste haben, werden im übrigen schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich schließe damit die Fragestunde.Meine Damen und Herren, ich darf zunächst der Frau Kollegin Roswitha Verhülsdonk, die am 26. April einen wichtigen, runden Geburtstag gefeiert hat, nachträglich im Namen des ganzen Hauses die herzlichsten Glückwünsche aussprechen.
Dann habe ich Ihnen bekanntzugeben, daß die Gruppe der PDS/Linke Liste mitteilt, daß der Kollege Dr. Gregor Gysi als ordentliches Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer vorgeschlagen. Besteht darüber Einverständnis? — Ich sehe, es erhebt sich kein Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer als ordentliches Mitglied in der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:1. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 148 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1977 über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigung, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen — Drucksache 12/2447 —2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 162 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1986 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest — Drucksache 12/2448- 2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 167 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1988 über den Arbeitsschutz im Bauwesen — Drucksache 12/ 2472 —3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Übereinkommen 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern — Drucksache 12/2150-4. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Übereinkommen Nr. 153 über die Arbeits- und Ruhezeiten im StraßentransportEmpfehlung Nr. 161 betreffend die Arbeits- und Ruhezeiten im Straßentransport — Drucksache 12/2151 —Von der Frist für den Begriff der Beratung soll, soweit es erforderlich ist, abgewichen werden.Die Vorlage unter Tagesordnungspunkt 12 — Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste „Stiftung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe" — soll heute ohne Debatte überwiesen werden.Der Tagesordnungspunkt 13 soll bereits heute im Anschluß an den Tagesordnungspunkt 5 aufgerufen werden.Sodann bittet der Finanzausschuß, daß ihm jeweils die Anträge der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion der SPD zu Großforschungseinrichtungen nachträglich zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie mit diesen Änderungen einverstanden? —
Es erhebt sich kein Widerspruch; ich höre sogar ausdrückliche Zustimmung von seiten eines einzelnen parlamentarischen Geschäftsführers. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vermögensgesetzes und anderer Vorschriften— Zweites Vermögensrechtsänderungsgesetz - — Drucksache 12/2480 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und TourismusHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vermögensgesetzes— Drucksache 12/2228 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und TourismusHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GOc) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung redlich erworbener Eigentums- und Nutzungsrechte an Gebäuden und Grundstükken in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet— Drucksache 12/2358 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß
InnenausschußAusschuß für WirtschaftAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Fremdenverkehr und TourismusHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Norbert Geis das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten den Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes deshalb, weil sich unsere Vorstellungen von vor einem Jahr, als wir das Vermögensgesetz zum ersten-
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7226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Norbert Geismal geändert haben, nicht erfüllt haben. Damals hatten wir uns vorgestellt, daß wir mit Hilfe der sogenannten Vorfahrtsregelung des § 3 a des Vermögensgesetzes und der anderen Vorfahrtsregelungen, die in anderen Gesetzen vorgesehen waren, die großen Enteignungen des SED-Unrechtsstaats rückgängig machen können und daß wir zugleich den Weg für Investitionen zum Wiederaufbau der neuen Bundesländer freimachen können. Die Erfahrungen nach einem Jahr haben gezeigt, daß eine Verbesserung der gesetzlichen Instrumentarien notwendig ist.
Herr Kollege Geis, der Kollege Müntefering würde Ihnen gern eine Frage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege, es ist ein wichtiges Thema, über das wir im Augenblick sprechen. Können Sie sich erklären, wo die gesamte Bundesregierung ist?
Der Bundesminister der Justiz ist auf dem Weg hierher. Das weiß ich.
In der Erörterung um den besseren Weg zur Abwicklung des SED-Unrechts taucht immer wieder die Forderung auf, den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" aufzugeben und ins Gegenteil umzukehren. Wer dieses Prinzip auf den Kopf stellen will, ist sich nicht im klaren darüber, welche verfassungsrechtlichen, welche psychologischen und vor allem welche praktischen Folgerungen eine solche Umkehr mit sich brächte.
Als die Volkskammer das Vermögensgesetz verabschiedet hat, war ihr Blick vor allem auf die Rechtsordnung unseres Grundgesetzes gerichtet. Sie wollte dem Verständnis des Grundgesetzes über die Funktion des Eigentums in einer freien Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen. Sie wollte das Eigentum zu einem tragenden Grundprinzip bei der Abwicklung der Revolution machen. Deshalb sollten die rechtlosen Enteignungen aufgehoben werden. Den vielen Menschen, die von dem SED-Regime von Haus und Hof gejagt wurden, sollte ihr Eigentum wieder zurückgegeben werden. Das Unrecht der SED sollte von einem frei gewählten Parlament nicht nachträglich sanktioniert werden. Deshalb kam es zum Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung".
Von diesem rechtsstaatlichen Ansatz haben wir uns auch beim Ersten Vermögensrechtsänderungsgesetz vor einem Jahr leiten lassen, soweit dies nur möglich und vertretbar war. Wer dieses Prinzip umkehren will — ich wiederhole es noch einmal —, übersieht, daß durch die seinerzeitigen Entscheidungen heute Tatbestände geschaffen worden sind, deren Rückgängigmachung erneut verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen würde.
— Ich nenne nur das Faktum. — Außerdem käme eine
Umkehr des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung"
für jüdische Vermögen nicht in Frage. Es käme
überdies zu einer Schieflage zwischen den Enteignungen und den Zwangsverwaltungen. Darüber hinaus würden die Entschädigungsforderungen in eine Höhe klettern, in der sie nicht mehr finanzierbar wären. Zudem könnte das Privateigentum in der vormaligen DDR leicht zu einer Beute von Wessis mit dickem Geldbeutel werden.
Alle Entscheidungen, die auf Grund dieses Prinzips bereits ergangen sind, müßten noch einmal neu gefällt werden, und neue Unsicherheiten würden entstehen. Wir hätten es mit einer Prozeßwelle zu tun, die mit Sicherheit bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht schwappen würde. Der Rechtsfriede würde in einem erheblichen Maße gestört werden. Die Forderung nach Umkehr des Prinzips ist deshalb zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnen. Das mag zu einem früheren Zeitpunkt anders gewesen sein, und man mag zu einem früheren Zeitpunkt durchaus mit Recht darüber diskutiert haben. Aber es ist abenteuerlich, diese Forderung jetzt immer noch zu erheben. Deshalb lehnen wir eine solche Forderung ganz entschieden ab.
Herr Kollege Geis, der Kollege Müntefering hat noch eine Frage.
Herr Kollege, was Sie sagen, klingt ganz ungewohnt selbstkritisch. Darf ich das so interpretieren, daß Sie als CDU/CSU, wenn Sie noch einmal entscheiden könnten, ein anderes Prinzip nähmen als damals?
Nein. Das ergibt sich auch aus meinen Ausführungen überhaupt nicht! Dann haben Sie meine Ausführungen falsch verstanden.In diesem Zusammenhang wird immer wieder das noch ausstehende Entschädigungsgesetz angemahnt. Ich bin der Meinung, daß wir dieses Entschädigungsgesetz bald auf dem Tisch haben müssen. Wer aber glaubt, mit Hilfe dieses Entschädigungsgesetzes könnten wir jetzt auf dem Tisch liegende Probleme lösen, täuscht sich. Setzen wir nämlich die Entschädigung hoch an, wollen alle die Entschädigung, und die Grundstücke bleiben beim Staat, bei den Kommunen, und es kümmert sich keiner mehr darum. Die Misere ist die gleiche. Setzen wir die Entschädigung niedrig an, wollen alle die Grundstücke zurück, und der Engpaß ist nach wie vor vorhanden. Die Situation hätte sich nicht verbessert.Deswegen trügt die Hoffnung, daß das Entschädigungsgesetz in dieser Frage Abhilfe schaffen würde. Im übrigen muß man natürlich auch bedenken, daß die Forderungen nach hohen Entschädigungen, wie sie draußen immer wieder erhoben werden, nicht erfüllt werden können. Es ist völlig ausgeschlossen, daß sich der Staat hohe Entschädigungszahlungen zumuten kann. Das würde der Haushalt nicht vertragen.Die Eckpunkte liegen bereits fest. Wir hoffen, daß es bald zu einer Regelung kommt. Aber diese Regelung wird in der uns jetzt berührenden Frage nicht von so ausschlaggebender Bedeutung sein, wie es immer wieder herausgestellt wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7227
Norbert GeisDeshalb müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die bestehende Vorfahrtsregelung des § 3 a entsprechend verbessern. Denn er sieht ja vor, daß das Zugriffsrecht des Alteigentümers gewahrt bleibt, aber auf der anderen Seite der Investor, der bereit ist, Geld locker zu machen, um einen Betrieb aufzubauen, um Arbeitsplätze zu schaffen, auch zum Zuge kommen kann. Es gibt also ein Spannungsverhältnis zwischen Alteigentümer und möglichem Investor. Dieser von uns damals verabschiedete § 3 a sollte das Spannungsverhältnis so auflösen, daß der Investor dann den Vorzug genießt, wenn er die besseren Karten hat, d. h. wenn er darlegen kann, daß er bereit und eher in der Lage ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen.Wir mußten feststellen, daß die Regelung des derzeitigen § 3 a des Vermögensgesetzes nicht so gegriffen hat, wie wir uns das vorgestellt haben. Ich habe das vorhin schon einmal gesagt.
Deswegen geht es uns jetzt darum, zu einer besseren, einer schlankeren Regelung zu kommen. Das sieht dieses Vermögensrechtsänderungsgesetz auch vor. Wir werden im Ausschuß darüber zu diskutieren haben, wie wir das vielleicht sogar noch in den Beratungen verbessern können. Aber auf jeden Fall — darüber sind wir uns einig — müssen wir diesen § 3 a noch einmal anpacken. Das ist uns von den Vermögensämtern in den neuen Bundesländern und auch von den dortigen Justizministerien gesagt worden.Nun soll keiner kommen und sagen: Warum habt ihr das nicht vorher gewußt? — Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gilt das Wort von Herrn Justizminister Kinkel: Wir haben die Einheit nicht proben können. — Es war nicht möglich, all die Schwierigkeiten, die sich jetzt auftürmen, von vornherein zu erkennen und auch schon die Lösung zu wissen. Das müssen wir in aller Bescheidenheit zugestehen. Wir nehmen uns die Freiheit heraus und haben auch soviel Selbstbewußtsein, zu sagen: Dann versuchen wir es zu verbessern. Das machen wir mit diesem Gesetzgebungsvorhaben.
Ein Punkt ist z. B., daß der Alteigentümer zwar schon den Erstzugriff haben soll, daß der Investor aber insofern besser geschützt wird, als sein Anliegen dann zum Durchbruch kommt, wenn der Alteigentümer in einer bestimmten Frist nicht erklärt: Ich will selbst investieren. — Wenn er erklärt, er habe Einwendungen gegen Investitionsmaßnahmen eines Dritten, muß er sagen, wie er es besser macht. Laut Entwurf muß er das innerhalb einer Frist von vier Wochen tun. Diese Regelung haben wir bislang nicht. Wir haben sie vor einem Jahr sogar bewußt nicht aufgenommen, weil wir der Meinung waren, wir greifen dann zu sehr in die Rechte des Alteigentümers ein. Wir müssen uns heute — das gestehe ich zu — eines Besseren belehren lassen. Wenn wir nicht in irgendeiner Form eine Frist setzen, versetzen wir den Alteigentümer in die Lage — und das ist auch vorgekommen —, in der er nicht nur sehr zögernd handeln, sondern manchmalauch ganz bewußt seine Position ausnutzen kann, und zwar zu Lasten des Aufbaus der neuen Bundesländer. Dies wollen wir nun durch die Fristsetzung ändern, und wir werden es auch tun, wobei wir uns Gedanken darüber werden machen müssen, ob diese Fristsetzung so, wie sie jetzt im Entwurf steht, richtig ist, ob die Fristen richtig bemessen sind. Aber das können wir ja in der Beratung miteinander bedenken und dann auch richtig entscheiden.
Wir wollen den Investor auch für den Fall entsprechend absichern, daß der Alteigentümer, weil er mit der Entscheidung des Vermögensamtes nicht einverstanden ist, zu Gericht geht und in einem Prozeß auf Grund seiner Argumente recht bekommt, während inzwischen der Investor Maßnahmen getroffen hat. Wir wollen dem Investor dann den Bestandsschutz garantieren. Meine Kollegen werden darauf noch näher eingehen.
Wir begrüßen auch die Maßnahmen zur Aufhebung der Zwangsverwaltung von Grundbesitz. Es soll ja ein Gesetz gemacht werden, durch das mit einem Schlag die Zwangsverwaltung von Grundstücken aufgehoben werden soll.Besonders wichtig erscheinen mir auch die Maßnahmen zum Schutz von Eigenheimbesitzern, die erst nach dem Stichtag 19. Oktober 1989 ihr Eigentum erwerben konnten, wenn sie schon vor dem Stichtag in Verhandlungen waren und dies nachweisbar ist. Vielleicht kann man darüber, in welcher Form dies nachgewiesen werden soll, noch reden. Wir wollen den Stichtag selbst nicht angreifen. Wir wollen den Stichtag beibehalten, weil wir meinen, er ist eine gute Markierung, wenn es um die Frage geht, ob jemand redlich erworben hat oder nicht. Aber wir wollen diesen Stichtag nicht zur alleinigen Säule erheben, sondern die Möglichkeit schaffen, daß der Wohnungseigentümer dann, wenn er nachweisen kann: Ich habe vorher schon verhandelt, und ich habe erst danach erwerben können, nicht benachteiligt wird.Ich bin auch der Meinung, daß die im Gesetzentwurf vorgesehene Verlängerung der Sicherung der Eigenheimbesitzer, die ihr Eigenheim ohne offizielles Nutzungsrecht gebaut haben, daß das in diesem Zusammenhang vorgesehene Moratorium bis zum 31. Dezember 1994 richtig ist. Dabei haben wir uns dafür zu entscheiden, daß diesen Wohnungseigentümern ihr Eigentum, ihr Grund und Boden nicht mehr genommen werden kann. Dies ist allerdings in einem Sachenrechtsbereinigungsgesetz festzulegen, das wir im Zuge dieser Gesetzgebungsmaßnahme noch nicht fertigstellen können, weil dazu noch Rechtstatsachen erörtert und gesichtet werden müssen.
Herr Kollege Geis, Ihre Redezeit ist schon ein Stück überschritten.
Ich danke Ihnen.
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7228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Norbert GeisWir haben den vorgelegten Gesetzentwurf mit aller Sorgfalt zu bedenken. Noch nie ist ein Gesetz aus dem Parlament so herausgekommen, wie es hineingekommen ist. Entscheidend ist, meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition, daß wir schnell entscheiden,
damit nicht ein langes Warten in den Vermögensämtern entsteht, das wiederum zu Investitionshemmnissen führen würde; denn viele Investoren würden dann erst abwarten müssen, bis die Bescheinigung erteilt wird.Ich danke Ihnen.
Nachdem Sie sich das gegenseitig erklärt haben, lassen Sie mich sagen: Wenn der amtierende Präsident sagt: Die Redezeit ist zu Ende, dann bitte allenfalls noch einen Satz, nicht noch eine Minute.
Es geht von der Redezeit des nächsten Kollegen von der eigenen Fraktion ab.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Uwe Küster das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Kinkel, bevor ich zur Sache rede, möchte ich Ihnen, auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion, herzlich zu Ihrer neuen politischen Perspektive gratulieren. Die Umstände Ihrer Wahl haben gezeigt, daß Abgeordnete durchaus in der Lage sind, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen,
aber auch, daß der Koalition jetzt die Luft ausgeht — wie man an dem unwürdigen Gezerre um Vizekanzlerschaft und um Ministerposten ablesen kann. Wir wünschen Ihnen mehr Erfolg in Ihrem neuen Amt, als Sie bei der Regelung offener Vermögensfragen in den neuen Bundesländern bisher offensichtlich hatten. Damit wäre ich beim Thema.Meine Damen und Herren, dieses Problem muß endlich richtig angepackt werden — und natürlich schnell. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig: Der jetzige Zustand jedenfalls ist nicht nur für die direkt Betroffenen untragbar, sondern hat auch für die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands fatale Folgen. 2,1 Millionen Rückgabeansprüche von 1,1 Millionen Antragstellern sind bei den Gerichten und Vermögensämtern anhängig, die mit der Bewältigung dieser Flut natürlich hoffnungslos überlastet sind. Lediglich 3,5 % aller Fälle sind bisher gelöst. Es wird nach vorsichtigen Schätzungen mindestens zehnJahre dauern, bis über alle Anträge entschieden ist. Das sind die Zahlen und die Einschätzungen der Bundesregierung, die an den Bundesratsausschuß Deutsche Einheit gegeben worden sind.Diese Situation ist das Investitionshindernis schlechthin. Denn wer steckt Geld und Energie in eine Wohnraumsanierung oder Gewerbeerweiterung, wenn er nicht sicher sein kann, daß es sich tatsächlich um sein Eigentum handelt? Wer will seine berufliche Existenz auf „unsicheren" Grund und Boden gründen? Woher bekommt er überhaupt Kredite, wenn keine rechtlich gesicherte Grundbucheintragung vorliegt? Fehlende Investitionsbereitschaft hat weniger Auftragseingänge für die ostdeutschen Gewerbetreibenden zur Folge, was wiederum die Gefährdung von Arbeitsplätzen bedeutet. Eine Lawine rollt zu Tal.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung legt jetzt das 2. Vermögensrechtsänderungsgesetz vor. Damit gesteht sie ein — Herr Geis hat das auch deutlich geäußert —, daß die Reparaturgesetzgebung vom März 1991 nur ein unzureichender Versuch war.
Die Spitzenverbände der Wirtschaft sind sich mit der SPD einig, daß dieses Gesetz kaum vernünftig anwendbar ist und dadurch selbst ein erstklassiges Investitionshindernis darstellt.
Um es vorwegzunehmen: Wir bezweifeln, daß der zweite Korrekturversuch bessere Ergebnisse bringen wird. Gesetzliche Regelungen, die laut Ministerpräsident Biedenkopf schon heute so kompliziert sind, daß selbst hocherfahrene westdeutsche Juristen davor kapitulieren, können durch ein Änderungsgesetz von 84 Seiten und 210 Seiten gesetzlicher Erläuterungen für die tägliche Anwendung in Hunderten von Vermögens- und anderen Ämtern in den neuen Ländern nicht leichter handhabbar gemacht werden. Das gilt um so mehr für die Millionen von Betroffenen in Ost und West.Wir Sozialdemokraten haben schon im Vorjahr nicht lockergelassen und auch in den Gesprächen, die gerade vor einem Jahr angesichts der sich zuspitzenden Lage in Ostdeutschland zwischen Opposition und Koalition aufgenommen wurden, auf Regelungen für eine schnellere Klärung der Eigentumsverhältnisse und den Vorrang für Entschädigungen gedrängt — damals ohne Erfolg.Herr Minister, was diesen zentralen Punkt angeht, war mit Ihnen damals nicht zu reden. Wir hegen die stille Hoffnung, daß Ihre designierte Nachfolgerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, der ich an dieser Stelle für ihre Aufgabe alles Gute wünsche, diese grundsätzlichen Fragen problembewußter und mutiger aufnehmen wird. Denn für die neuen Bundesländer ist die Umkehrung des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" von entscheidender Bedeutung.Heribert Prantl ging in der „Süddeutschen Zeitung" angesichts der Verabschiedung des heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurfs der Bundesregierung so weit, vom „Osten im Wundstarrkrampf" zu reden. Den Erreger dafür sieht er — mit uns gemein-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7229
Dr. Uwe Küstersam — in dem im Einigungsvertrag festgelegten falschen Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung".Ich sage voraus, daß der Wundstarrkrampf der ostdeutschen Wirtschaft in den städtischen Sanierungsgebieten, bei der Sanierung und Neuansiedlung von Betrieben mit diesem Gesetzesvorschlag nicht zu überwinden ist. Weiterhin werden Tausende von Mittelständlern nicht an Grund und Boden kommen, den sie zur Beschaffung von Baukrediten benötigen. Zehntausende von Wohnungen werden wegen ungeklärter Eigentumsverhältnisse leerstehen, nicht saniert werden können und dadurch weiter verfallen. Auch Treuhandbetriebe, bei denen die Treuhandanstalt erstmals Anstrengungen zu eigenständigen Sanierungen macht, bleiben dadurch in ihrer Gesundung massiv behindert.Diese Situation ist nur durch eine Umkehr des Prinzips, nicht durch halbherzige Reparaturen aufzulösen. Es kann dann nur noch um die Höhe von Entschädigungsansprüchen gegenüber dem Bund gehen, nicht mehr darum, wem ein Grundstück gehört. Damit hätten wir die Blockade durchbrochen.Hans-Jochen Vogel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Ausgleichsabgabe derer, die jetzt in den neuen Bundesländern durch erhebliche Bodenwertsteigerungen begünstigt werden, außerdem dem Gerechtigkeits- und Gleichbehandlungsgebot Rechnung tragen würde. Die Argumentation der Bundesregierung, eine solche Korrektur sei nicht mehr möglich, weil bereits 3 % der Fälle nach dem bisherigen Prinzip entschieden worden seien, verkenne die Grundsätze der Allgemeinwohlbindung, der Güterabwägung und der Verhältnismäßigkeit. — Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen.Sie werden uns sicher die verfassungsrechtlichen und finanzwirtschaftlichen Probleme dieses Lösungsvorschlages vorhalten. Aber ist es eigentlich unumstößlich, daß in einem solchen Fall die Entschädigung nach Verkehrswert gewährt werden muß? — Diese Argumentation führen Sie immer wieder ins Feld, ohne daß das letztendllich geklärt ist.
Hier ist auch eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nötig: Arbeitslosigkeit und deren Kosten, fehlender Aufschwung, ausbleibende Steuerkraft, das alles sind Dinge, die bei der Gesamtrechnung mitbetrachtet werden müssen.Der Erste Bürgermeister von Hamburg, Henning Voscherau, hat am 13. März 1992 in einer Bundesratsrede zu diesem Punkt Stellung genommen. Er sprach sich dafür aus, ein Entschädigungsbemessungsgesetz zu verabschieden, das auf der Angemessenheit der Entschädigung basiert, was nicht das gleiche wie voller Schadensersatz ist. Diese Angemessenheit muß vom Gesetzgeber definiert werden.Ich bin mir dessen bewußt, daß ein solches Verfahren verfassungsrechtlich nicht unproblematisch ist. Allerdings hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes ausdrücklich offen gelassen, ob bei der Bewertung von Enteignungen in den neuen Bundesländern nicht andere Maßstäbe als in Westdeutschland angelegt werden müssen. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der Eigentumsverschaffung durch Hoheitsakt besteht durchaus. Wir sind der Meinung, daß darüber grundsätzlich debattiert werden sollte. Dazu benötigen wir endlich eine Entschädigungsregelung, die seit einem Jahr überfällig ist, eigentlich seit noch mehr als einem Jahr, nämlich seit Verabschiedung des Einigungsvertrages.
Davor drückt sich die Bundesregierung.
Im übrigen ist die Bundesratsinitiative von Brandenburg, die eine Vorfahrtsregelung für Investitionen vor Rückgabe in Sanierungsgebieten zum Inhalt hat, heute vom Rechtsausschuß des Bundesrates mit den Stimmen von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin angenommen worden.Diese Zusammenhänge sind es, um die es sich zu streiten lohnt, und nicht so sehr die Einzelpunkte Ihres Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Einiges davon finden wir durchaus positiv, wie z. B. die Vereinheitlichung der Vorfahrtsregelungen, die Begrenzung der Möglichkeit der Antragstellung zu Ende 1992 und das Moratorium für die Überlassungsverträge. Über andere Punkte wird in der zweiten Lesung noch zu reden sein.Doch alles das ändert nichts daran, daß der Problembereich der offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern damit nicht zu lösen sein wird, sondern daß das nur durch eine Umkehrung des im Einigungsvertrag enthaltenen falschen Prinzips geht. Ich fordere die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen auf, über diese schwierige, aber für die neuen Bundesländer so notwendige Materie unvoreingenommen zu reden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 40 Jahre SED haben die Eigentumsverhältnisse in den neuen Ländern zerrüttet; man muß es leider immer wieder so deutlich und klar sagen. Die unzähligen Enteignungen und Vertreibungen der Alteigentümer sind nur die Spitze des Eisbergs. Die ordnungsgemäße Führung der Grundbücher wurde abgebrochen. Ohne es aktenkundig zu machen, wurden neue Nutzungsrechte vergeben. Die für unser Recht grundlegende Unterscheidung zwischen dinglichen und schuldrechtlichen Nutzungsrechten wurde aufgegeben und durch diffuse, technisch nicht vernünftig ausgearbeitete Konstruktionen ersetzt. Die hohe Schule unseres Zivilrechts wurde als kapitalistisches Übel bewußt und zielgerichtet verunglimpft und auch zerstört.Entsprechend schwer ist der Neuanfang. Es geht nicht nur darum, durch formale Rechtsakte die Enteignungen rückgängig zu machen. Es geht vielmehr darum, eine rechtsstaatliche und gerechte Eigentumsordnung von Grund auf neu aufzubauen; das ist verdammt schwierig.
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7230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Bundesminister Dr. Klaus KinkelIch kann den Unmut der Betroffenen gut verstehen. Aber hatte wirklich jemand im Ernst erwartet, daß wir die Folgen von 40 Jahren Enteignung, sozialistischen Unrechts und Mißwirtschaft über Nacht oder jedenfalls in so relativ kurzer Zeit würden beseitigen können? — Es bedrückt mich, wie die Diskussion zum Teil geführt wird. Da wird von „Systemwechsel" und „Umkehr des Rückgabeprinzips" gesprochen, Als ob damit über Nacht über eine Million Einzelfälle ins Lot zu bringen wären!Dem Rechtsstaat muß es, Herr Küster, um Einzelfallgerechtigkeit gehen. Manchmal würde ich mir wirklich wünschen, daß die Hauptkritiker was dieses Rückgabeprinzip anbelangt — in der Verantwortung stehen würden. Es würde mich wirklich interessieren, wie sie das von ihrer Einstellung her dann meistern und regeln würden.Mindestens drei Ziele müssen wir bei den Eigentumsfragen gegeneinander abwägen und in ein einigermaßen gerechtes Gleichgewicht bringen. Erstens. Die Rechte der Alteigentümer müssen wiederhergestellt, das an ihnen begangene Unrecht muß beseitigt werden. Zweitens. Die Interessen der Menschen, die die Grundstücke und Häuser heute nutzen, müssen berücksichtigt werden. Vierzig Jahre Leben können nicht einfach ungeschehen gemacht werden. Drittens. Dringend notwendige Investitionen müssen gefördert und ermöglicht werden.Für unseren Rechtsstaat konnte im Einigungsvertrag nicht zweifelhaft sein, dem Eigentum seine zentrale Bedeutung zurückzugeben. Dabei muß es bleiben.
Der Streit um das Privateigentum ist in den letzten 150 Jahren mit besonderer Erbitterung geführt worden. Dem Frühkapitalismus diente das unbeschränkte Eigentum als Legitimation für Unterdrückung und auch Ausbeutung. Der Marxismus-Leninismus glaubte dagegen, den Menschen durch Beseitigung des Privateigentums von Armut und Knechtschaft befreien zu können. Beides war falsch, beides.Aber während die kommunistischen Staaten ihren ideologischen und falschen Weg bis zum bitteren Ende gegangen sind und dabei genau in der Unterdrückung, Ausbeutung und Verelendung der Menschen gelandet sind, die sie doch bekämpfen wollten, hat die freiheitliche Demokratie ihre Lektion gelernt und einen schrankenlosen Kapitalismus in die Soziale Marktwirtschaft transformiert; jedenfalls einigermaßen gelungen transformiert.Begriff und Funktion des Eigentums wurden dabei wesentlich verändert. Das Privateigentum wurde rechtsstaatlich eingebunden und über das Grundgesetz mit den Interessen des Gemeinwohls zum Einklang gebracht. Das Privateigentum wurde dann zum Motor von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.Der Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa beruht ganz zentral auf dieser Anziehungskraft des Privateigentums für die Menschen.
Eigentum ist nicht nur ein wirtschaftliches Gut, Eigentum garantiert nicht nur marktwirtschaftliche Bewegungsfreiheit, ist nicht nur die Basis weiteren wirtschaftlichen Wachstums, Eigentum ist vor allem auch Unabhängigkeit, also individuelle Freiheit der Lebensgestaltung. Diese Zielrichtung gegen den Staat ist in der freiheitlichen Demokratie besonders wichtig, denn der Bürger braucht mit dem Privateigentum ein Gegengewicht gegen die immer drohendere Allmacht des Staats.Eigentum ist auch Privatheit, also Refugium des individuellen Rückzugs. Symptomatisch ist, daß gerade die Datschen in der früheren DDR das individuelle Leben, das Überleben der Menschen so sehr stark bestimmt haben.
Eigentum bedeutet Stolz; die Menschen empfinden Eigentum als Ergebnis und Ausweis von Leistung. Eigentum bedeutet Absicherung im Alter, eine Funktion des privaten Eigentums, die in unserer Gesellschaft, in der die Menschen im Durchschnitt immer älter werden, an Bedeutung erheblich zunimmt.Unserer grundrechtlichen Einstellung zum Eigentum sind wir im Einigungsvertrag — wie ich finde — zu Recht treu geblieben. Hätten wir uns gegen das Rückgabeprinzip entschieden, wäre eine schwere Akzeptanzkrise bei den Alteigentümern die Folge gewesen. Man kann nicht etwas jahrelang zum Prinzip erheben und erklären und es dann in einer konkreten Bewährungsprobe einfach vom Tisch wischen.Gewiß, viele Alteigentümer hatten sich mit dem Verlust ihres Eigentums abgefunden. Der kommunistische Machtblock erschien unerschütterlich und die Wiedervereinigung — wenn überhaupt — in sehr weiter Ferne. Da ist es natürlich, daß man versucht hat, sich auf die Verhältnisse einzurichten. Aber durch die deutsche Einheit wurde dieses fast schon abgeschriebene Eigentum für den einzelnen plötzlich wieder real.Gerade für das Wohl der neuen Länder — und das sage ich mit großem Nachdruck — wäre es auch ganz falsch gewesen, die Alteigentümer nur zu entschädigen und das gesamte betroffene Grund- und Hausvermögen sozusagen einer Staatsholding zuzuschlagen, denn der Staatsbesitz hatte doch gerade den wirtschaftlichen Ruin der früheren DDR, den Niedergang des Wohnungswesens verursacht.
Auch wenn viele Idealisten es nicht wahrhaben wollen: Eine der deprimierenden Erfahrungen der DDR ist es, daß die Menschen mit Staatseigentum schlechter umgegangen sind als mit ihrem eigenen.In der aktuellen Diskussion drohen diese Erkenntnisse leider verlorenzugehen. Es ist üblich geworden, für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den neuen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7231
Bundesminister Dr. Klaus KinkelLändern das Rückgabeprinzip verantwortlich zu machen.
Das ist falsch. Es ist auch ungerecht. Diese Schwierigkeiten haben, wie Sie ganz genau wissen, eine Fülle von Ursachen.Die Verwaltungsbehörden sind total überlastet. Sie wissen es: Allein bei den Grundbuchämtern liegen 630 000 unerledigte Anträge. Das ist traurig; ich weiß es. Ich kann es nicht ändern.Oft sind die Anträge unklar. Die Vermögensverteilung nach den Art. 20 und 21 des Einigungsvertrags macht in der Praxis gewaltige Schwierigkeiten. Die Gemeinden halten leider Gottes sehr oft die Filetstücke im Grundstücksbereich zurück. Die ungeklärten Eigentumsfragen werden vorgeschoben, wenn sich die geplante Investition doch nicht rechnet.Nein, ich bleibe dabei: Wir dürfen den Tanker, der jetzt endlich angefahren ist, nicht abbremsen und wieder wenden. Andernfalls kämen wir in die größten rechtlichen und auch faktischen. Schwierigkeiten, Herr Küster. Es kommt jetzt vielmehr darauf an, Kurs zu halten und die immer wieder neuen Probleme gesetzgeberisch und praktisch in den Griff zu nehmen. Wir müssen die Klärung der offenen Vermögensfragen deshalb als Gesetzgeber leider immer wieder flankieren. Es wird, wenn ich die Lage richtig sehe, nicht das letzte Mal sein.Mit dem Hemmnisbeseitigungsgesetz haben wir eine ganze Reihe von Stolpersteinen aus dem Weg geräumt. Mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz, das jetzt vorliegt, werden wir nochmals helfen.Der Gesetzentwurf verfolgt drei Ziele. Erstens. Im Interesse des wirtschaftlichen Aufschwungs werden die Vorfahrtsregelungen für Investitionen weiter verbessert und bis Ende 1995 verlängert. Die bisher in verschiedenen Gesetzen angesiedelten Vorschriften werden in einem einheitlichen Investitionsvorranggesetz zusammengefaßt. Die Verfahren werden vereinfacht, gestrafft und beschleunigt. Der Alteigentümer wird unter Fristzwang gesetzt. In der Praxis hat sich herausgestellt, daß Alteigentümer zunehmend versuchen, investive Verkäufe an Dritte durch immer neue Einwendungen zu verzögern.Auch bei Grundstücken wird dem Alteigentümer künftig grundsätzlich der Vorrang vor einem Fremdinvestor eingeräumt, wenn er selbst ein gleichwertiges Investitionsvorhaben verfolgt.Zweitens. Die Rückgabe von zwangsverwaltetem oder enteignetem Vermögen wird beschleunigt. Bisher mußte jede staatliche Zwangsverwaltung durch einen besonderen Bescheid des Vermögensamtes aufgehoben werden; künftig wird die staatliche Zwangsverwaltung unmittelbar durch Gesetz aufgehoben.Bislang können Alteigentümer Rückgabeanträge in sehr vager Form stellen. Die Vermögensämter stehen deshalb vor einem Bodensatz unpräziser Anmeldungen.Der Entwurf führt eine Ausschlußfrist ein. Rück-übertragungs- und Entschädigungsansprüche nach dem Vermögensgesetz können nur noch bis zum 31. Dezember 1992 Herr Geis hat es vorhin gesagt — neu angemeldet werden.Drittens. Wer sich vor dem 19. Oktober 1989 — das ist diese außerordentlich wichtige Frist — schriftlich oder sonst aktenkundig um den Kauf seines Eigenheims bemüht hat, wird von der Stichtagsregelung des Gesetzes nicht betroffen, auch wenn der eigentliche Erwerb erst später erfolgt. Der redliche Erwerber kann sein Eigenheim behalten. Ich möchte die Gelegenheit hier noch einmal benutzen, um zu sagen, daß zum einen wahnsinnig viel Stimmung gemacht wird und daß zum anderen leider bei den Betroffenen unpräzise Vorstellungen bestehen. Dafür können die Betroffenen nicht, sondern es fehlt sehr oft an der Aufklärung. Ich bemühe mich, soweit ich das nur irgendwie kann, aber es ist außerordentlich schwer, den betroffenen Menschen die Rechtssituation klarzumachen. Es liegt nicht am fehlenden Bemühen, sondern es liegt einfach auch am schwierigen Überbringen dieser Fakten.Erheblich über 90 % der Fälle, die durch den 19. Oktober 1989 theoretisch betroffen sein können, sind geregelt. Es handelt sich um sogenannte Komplettierungsfälle, bei denen sozusagen zum dinglichen Recht praktisch nur noch der Grundstückserwerb hinzukam.Alle diese Menschen brauchen keine Sorge zu haben, daß ihnen irgend etwas weggenommen werden kann. Durch die Neuformulierung der Stichtagsregelung — nicht die Beseitigung — werden wir für einen weiteren Rest Klarheit schaffen.Allerdings möchte ich deutlich und klar für diejenigen, die übrig bleiben, sagen, daß wir wollen, daß „Kriegsgewinnler" wie einige, die ich mit Namen nennen könnte, nicht davon profitieren sollen, was um den 19. Oktober 1989 herum zum Teil im Bereich des Grundstückserwerbs gelaufen ist.
Im Vertrauen auf die Zusagen der ehemaligen DDR-Behörden haben viele Menschen ihre Eigenheime ohne ausreichende Rechtsgrundlage auf fremdem Grund und Boden errichtet. Um sie vor Räumungsklagen der Grundeigentümer zu schützen, werden diese Nutzer zur weiteren Nutzung im bisherigen Umfang gesetzlich ermächtigt. Dies soll bis zum Dezember 1994 gelten.In der Zeit von der Währungsunion bis zur Wiedervereinigung sind viele Verträge über DDR-Immobilien von Notaren der alten Bundesrepublik abgeschlossen worden. Nach einer gerichtlichen Entscheidung sind diese Verträge formnichtig. Durch das Gesetz werden sie geheilt.Ich komme zum Schluß. Ich weiß wahrhaftig schon aus meiner Beteiligung an den Verhandlungen über den Einigungsvertrag, in diesem schwierigen, wahrscheinlich mit schwierigsten Bereich, den uns diese 40 Jahre SED-Unrecht hinterlassen haben, wie schwierig und kompliziert diese Materie tatsächlich und rechtlich ist.
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7232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Bundesminister Dr. Klaus KinkelIch bitte Sie herzlich und dringend, die Dinge nicht zu zerreden. Ich bitte Sie genauso herzlich und dringend um ernsthafte konstruktive und zügige Beratung dessen, was Ihnen jetzt vorliegt.Gesetzgeberische Maßnahmen sind nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite sind der entschiedene Wille der Verwaltung und der Alteigentümer, Investoren und Nutzer, konstruktiv zusammenzuarbeiten und Streitfragen nicht zu verschleppen. Nur dann tritt der allen Beteiligten dienende Rechtsfriede ein, ein Rechtsfriede, der nicht nur das Unrecht der Vergangenheit bewältigt, sondern auch den wirtschaftlichen Aufschwung beschleunigt, von dem wir letztlich alle profitieren.Ganz besonders kommt es auf das Verhalten der Alteigentümer an. Ich möchte an sie appellieren. Hier gibt es schwarze Schafe. Es darf nicht versucht werden, mit rüden, ungesetzlichen und teilweise kriminellen Machenschaften tatsächliche oder vermeintliche Rechte durchzusetzen. Das dürfen und werden wir nicht zulassen. Die betroffenen Bürger in den neuen Ländern können und sollen sich auf unseren Rechtsstaat und den Schutz durch diesen Rechtsstaat, vor allem auf die nötige soziale Sicherheit, verlassen können. Alle Beteiligten müssen in dieser schwierigen Situation in diesem schwierigen Bereich mit der notwendigen Sensibilität und Rücksichtnahme miteinander umgehen.Nur, lassen Sie mich zum Schluß nochmals sagen: Diese Materie ist nicht durch Deklamationen oder durch fadenscheinige Begründungen zu lösen, sondern nur durch eine solide gesetzgeberische und praktische Arbeit. Es gibt, aus der Wiedervereinigung fließend, wie im übrigen auch in anderen Bereichen, Materien, von denen man einfach sagen muß, daß sie wegen der Kompliziertheit in der Sache und im rechtlichen Bereich leider nicht so und vor allem nicht so schnell gelöst werden können, wie die Betroffenen es zu Recht erwarten und im Grund erwarten dürften. Vergessen Sie nicht: Die Wiedervereinigung liegt noch nicht so lange zurück; und dies ist zwar einer der wesentlichsten, aber nur ein einziger Bereich dessen, was wir hoffentlich gemeinsam möglichst bald bewältigen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf der Bundesregierung zu einem Zweiten Vermögensänderungsgesetz enthält eine große Zahl von Gesetzesänderungen und auch neue Gesetzesregelungen wie das Investitionsvorranggesetz.Wenn nach dem Sinn der Verbesserungen der Investitionsmöglichkeiten, der Verfahrensregelungen und der bloß lückenhaften Bereinigung des Sachenrechts gefragt wird, wird diese Frage von der Bundesregierung hinsichtlich eines übergreifenden Maßstabs vor allem damit beantwortet, daß die vorgeschlagenen gesetzgeberischen Maßnahmen der Verbesserung des Grundstücksmarkts dienen.Doch was bedeutet „Verbesserung", und was sind schließlich die mit dieser Verbesserung zu erreichenden Investitionen?Wenn mit Verbesserung etwa die rechtliche und tatsächliche Angleichung des Grundstücksmarkts an die westdeutschen Verhältnisse mit ihrem weitgehend unbeschränkten Grundstücksverkehr gemeint sein soll, so kann einem normalen Bürger der DDR, der keine Investitionen mehr vornehmen kann, nur angst und bange vor dem werden, was auf ihn zukommt: Grundstücksspekulationen, an denen die Banken kräftig mitwirken; anfänglich niedrige, doch dann ins Unerschwingliche hochgetriebene Grundstückspreise; spekulative Flächen- und Luxussanierungen; Wohnungsnot; für viele nicht mehr zahlbare Miet- und Pachtzinsen; Obdachlosigkeit und Pleiten.Sowohl das bislang geltende Vermögensgesetz als auch der vorliegende Entwurf eines zweiten Gesetzes zeugen eher von Hilflosigkeit. Nach der Begründung der Bundesregierung ergeben sich mit diesem Gesetz gegenüber den bisherigen Regelungen, insbesondere des aufgehobenen Investitionsgesetzes, keine wesentlichen Änderungen. Das neue Gesetz behebt vielmehr hauptsächlich Unstimmigkeiten zwischen den bisherigen verschiedenen gesetzlichen Regelungen, die etwa in der Rechtsprechung zu einigen Unsicherheiten geführt haben.Die Investitionszwecke und -formen sind keineswegs neu und waren schon bisher wirkungslos. Nach unserer Auffassung ist es eine Illusion, zu glauben, daß juristische Veränderungen, flexiblere Gestaltung von Rechtssätzen oder die Streichung von Worten wie „dringlich" die Situation prinzipiell verbessern werden. Wir meinen, daß das Grundkonzept der schrankenlosen Einführung der freien Marktwirtschaft illusionär ist und eher in die Hilflosigkeit führt, als daß es Wirkungen zeigt.Für die ostdeutschen Bürger gibt es nach unserer Auffassung zwei Kernfragen: erstens der endgültige, nicht vorübergehende Ausschluß der Rückgabe bei persönlich genutzten Häusern, einschließlich der Grundstücke, und zweitens die Aufhebung der Stichtagsregelung. Sie werden in unserem Entwurf und, jedenfalls teilweise, im Entwurf der SPD angesprochen.Das vorgeschlagene Moratorium schließt in den bereits dargestellten Fällen die Herausgabeansprüche ehemaliger Eigentümer nur vorübergehend aus. Eine endgültige Lösung soll einer Neuregelung des Sachenrechts des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorbehalten bleiben. Bis dahin, d. h. bis zum 1. Januar 1995, können sich die betroffenen Bürger dann sorgen, ob die Bundesregierung Mittel und Wege sucht und gefunden hat, ihre Interessen zu übergehen und eine endgültige Herausgabe der insbesondere zu Wohn-und Freizeitzwecken genutzten Grundstücke durchzusetzen.Betroffen sind insbesondere diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die nicht Eigentümer der bewohnten Grundstücke geworden sind. Alle erhalten nur ein Besitzrecht unbeschadet bestehender Nutzungs-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7233
Dr. Uwe-Jens Heuerrechte und günstiger Vereinbarungen und Regelungen. Entgegen den Vorstellungen der Bundesregierung erscheinen uns aber nicht nur Eigenheimbesitzer schützenswert, sondern auch die Nutzer von zu Freizeit und Erholung errichteten Gebäuden.Der Bundesjustizminister hat hier ein hymnisches Lied auf das Privateigentum gesungen. Es garantiere Unabhängigkeit und Privatheit; er verwies in diesem Zusammenhang auf die Datschen. Gleichzeitig aber droht die Enteignung von zehntausenden, wenn nicht hunderttausenden Datschenbesitzern. In allen Fällen sind von den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erhebliche Leistungen auch zur Pflege von Grundstücken und Gebäuden erbracht worden. So schmerzlich dabei für die ehemaligen Besitzer und Eigentümer der Verlust ihres Besitzes sein mag, sie haben sich neue Existenzmöglichkeiten schaffen können, unabhängig von der Möglichkeit, ihre alten Grundstücke jemals wieder in Anspruch nehmen zu können.Eine Rückgabe würde neue Verluste bedeuten, ohne daß sofort ein wirtschafts- und sozialpolitisch sinnvoller Gegenwert entstünde. Verstärkt ist auch zu beobachten, daß reines Profitinteresse Sinn und Zweck der Forderung auf Rückgabe der Grundstücke ist. Aber selbst wenn ein echtes Eigeninteresse bestünde, müßte es zurückgewiesen werden, weil es, wie in den alten Bundesländern deutlich sichtbar wurde, schwere wohnungspolitische und wirtschaftliche Probleme aufwirft.Die klare Lösung kann deshalb nach unserer Auffassung nur lauten, Rückgabe auszuschließen, gleichgültig ob es sich um Fälle von Nutzungsrechten oder Fälle von schuldrechtlich zu beurteilenden Überlassungen von Grundstücken und Gebäuden zur persönlichen Nutzung handelt.Wir hatten die Einrichtung eines Erbbaurechts vorgeschlagen. Wir sind der Meinung, man sollte überprüfen, ob das sinnvoll und nützlich ist und ob man weitergehen müßte. Wir meinen, daß das im Ausschuß gründlich erörtert werden müßte.Ein anderes schwerwiegendes Problem, das vielen Bürgerinnen und Bürgern im Osten Deutschlands auf dem Herzen liegt, ist das der Stichtagsregelung des Gesetzes. Trotz aller Proteste gegen die Stichtagsregelung hat die Bundesregierung grundsätzlich an ihr festgehalten. Die Stichtagsregelung soll allerdings für dingliche Nutzungsrechte nicht gelten.Sie soll den Sinn haben, Grundstückskäufe nach dem Sturz Honeckers am 18. Oktober 1989 rückabzuwickeln, so als ob der Sturz Honeckers ein rechtsstaatliches Kriterium für rückwirkende staatliche Maßnahmen gegen Bürgerinteressen und deren Vertrauensschutz sein könnte. Der Kollege Geis hat hier davon gesprochen, es handele sich um eine gute Markierung. Ich meine, daß diese Stichtagsregelung eine zutiefst willkürliche und damit rechtsstaatswidrige Festsetzung ist.Die Stichtagsregelung soll und das ist offensichtlich ein besonderes Ziel — das auf Initiative des Runden Tisches zustande gekommene — darauf möchte ich nachdrücklich hinweisen — und von allen Fraktionen der Volkskammer gebilligte Gesetz vom 7. März 1990 treffen. Wenige Tage später ist diesesGesetz von der ersten frei gewählten DDR-Regierung unter de Maizière übernommen worden und wurde durch einen Ministerratsbeschluß vom 16. Mai bestätigt. Der Sinn dieser Regelung war, den Bürgern der DDR, die bis dahin die zu ihren Häusern gehörenden Grundstücke infolge der verfassungsrechtlich gesicherten Unantastbarkeit des Volkseigentums nicht erwerben konnten, jetzt die Möglichkeit dazu zu geben.Der Bundesjustizminister hat später diese Erwerber für nicht schutzwürdig erklärt, weil der bevorstehende grundlegende Wandel der Eigentums- und Sozialordnung erkennbar gewesen sei. Dazu hat die Bürgerrechtlerin Daniela Dahn in der „Zeit" vom 24. April 1992 geschrieben:Dies ist eine kuriose Verdrehung, denn das Volkskammergesetz war ja gerade ein Ergebnis der beginnenden demokratischen Umwälzung. Durch die rückwirkende Verfügung, nach der es unmöglich sein soll, volkseigene Grundstücke legitim erworben zu haben, weil sie grundsätzlich erst nach dem Stichtag verkauft wurden, ist hier mit kaltem Federstrich zum Nachteil hunderttausender DDR-Bürger ein Stück Basisdemokratie getilgt worden.Wir halten in unserem Entwurf — im Einklang mit dem SPD-Entwurf — die Aufhebung der Stichtagsregelung für unabdingbar. Gleichzeitig sollte von der Unredlichkeitsvermutung abgegangen werden. Es sollte vielmehr der Gedanke des Art. 19 des zweiten Staatsvertrages aufgegriffen werden, wonach Verwaltungsentscheidungen der DDR grundsätzlich wirksam bleiben, es sei denn, dies widerspräche rechtsstaatlichen Grundsätzen oder dem zweiten Staatsvertrag. Diese Regelung schützt auch das Bürgervertrauen in bestehende Gesetze.Als ich hier vor kurzem von der Vertreibung Hunderttausender von ihren Grundstücken sprach, gab es Unverständnis. Von der SPD kam der Zwischenruf: „Das ist doch Quatsch, niemand wird vertrieben! " ADN hat heute gemeldet, daß ein 44jähriger Arbeitsloser aus Zepernik, dem Wohnort von Dalk, vor der drohenden Zwangsräumung seines Grundstücks von dem Gerichtsvollzieher erhängt aufgefunden wurde.Daniela Dahn hat geschrieben, daß in ihrer Gemeinde 85 % der Häuser — also auch der Menschen — von einer Vertreibung bedroht seien. Sie schließt mit den Worten:Wenn im einigen Deutschland keine einigenden politischen Lösungen gefunden werden, sind Tragödien und Gewalt programmiert. Es kann nicht folgenlos bleiben, wenn die Benachteiligung der Ostdeutschen für Generationen festgeschrieben wird.Ich danke Ihnen.
Nun hat unser Kollege Johannes Nitsch das Wort.
Sehr geehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines der Haupthindernisse für den Aufbau der Wirtschaft in den
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7234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Johannes Nitschneuen Bundesländern sind die zahlreichen administrativen Hemmnisse. In einer kürzlich durchgeführten Anhörung in unserer Fraktion wurde von einem führenden Vertreter der deutschen Wirtschaft erklärt: Mit den heutigen Gesetzen und Vorschriften hätte es nie ein deutsches Wirtschaftswunder gegeben. — Das möchte ich allgemein zur Einführung sagen.Ganz besonders trifft das nun auf die Engpässe in den Ämtern für offene Vermögensfragen zu. Sie kommen der Flut von Anträgen auf Rückerstattung von Eigentum nicht nach. Es wurde schon mehrfach gesagt: Es liegen rund 1,2 Millionen Anträge für 2,6 Millionen Vermögensgegenstände vor. Davon sind 75 % Immobilien. Entschieden sind weniger als 5%.Heute haben wir mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz ein Gesetz in der ersten Lesung, das nicht Geld kosten wird, sondern viele Transferleistungen in die neuen Bundesländer sparen kann. Deshalb zunächst ein Dank an das Bundesministerium für Justiz, das diesen umfangreichen Entwurf in einer sehr kurzen Zeit vorbereitet hat.
Ich habe jetzt die Bitte an die Ausschüsse, ebenso zügig zu beraten, um die Inkraftsetzung noch vor der Sommerpause zu ermöglichen.Es ist inzwischen landauf, landab bekannt, daß dieser Entwurf im Parlament ist. Überall wird auf die Neuregelung gewartet.Ich habe aber auch die Bitte — auch das wurde schon mehrfach gesagt —: Wenn möglich sollten die Vorschriften und Verfahren noch vereinfacht werden. Aber eines ist ganz besonders wichtig: daß wir zum Zeitpunkt der Verkündigung in den Ämtern für offene Vermögensfragen die Neufassung des Gesetzes und alle erforderlichen Arbeitsanleitungen vorliegen haben. Das ist eine weitere Herausforderung an das Bundesministerium der Justiz. Die vorgesehenen personellen Aufstockungen in diesen Ämtern, die Verbesserung der Ausstattung und die Schulung der Mitarbeiter sind ebenfalls äußerst wichtige Aspekte.Ich betone noch einmal: Die schnelle Klärung der offenen Vermögensfragen ist die erste Voraussetzung für das Gelingen des Aufschwungs Ost. Der inzwischen eingetretene empfindliche Mangel an Gewerberäumen und die dadurch bedingten unerschwinglichen Gewerberaummieten haben ihre Ursachen in diesem nicht gelösten Problem.Für die Stadt Dresden ergibt sich folgende Übersicht: insgesamt gestellte Anträge auf Rückübertragung: 40 429; sich zur Zeit in Bearbeitung befindende Anträge: 2 250; bisher entschiedene Anträge: 984. Damit sind weniger als 2,5 % der Anträge entschieden. Im Freistaat Sachsen insgesamt sieht es besser aus. Dort sind es 7,6 % der Anträge. Aber der Mittelwert für alle Bundesländer liegt bei 3,2 %. Auch das wurde schon gesagt.Der neue Gesetzentwurf verlängert die Vorfahrtsregelung für Investitionen bis zum Jahr 1995. Das ist äußerst wichtig. Die verschiedenen Vorschriften werden zusammengefaßt.Eine wichtige Regelung, die sicher nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen wird, jedoch unumgänglich ist, besteht in der zeitlichen Straffung der Anhörung der Alteigentümer. Die Alteigentümer können ihre Einwände gegen das Investitionsvorhaben eines Dritten künftig innerhalb von zwei Wochen vortragen und ankündigen, ob sie Eigeninvestitionen vorgesehen haben. Die Pläne dafür müssen innerhalb von weiteren acht Wochen vorgelegt werden. Außerdem wird für Investitionen die erforderliche Sicherheit dadurch gegeben, daß Bestandsschutz gewährt wird, wenn mit der Ausführung nachhaltig begonnen wurde und der Alteigentümer nicht innerhalb von zwei Wochen Antrag auf Erlaß einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gestellt hat. Andererseits kann der Alteigentümer die bevorzugte Herausgabe seines Grundstücks für eigene Investitionen verlangen. Hier ist jedoch zu sichern, daß vermietete Gewerberäume für Gewerbetreibende aus den neuen Bundesländern Bestandsschutz erhalten.Eine wichtige Erweiterung haben die Vorfahrtsregelungen für Wohnungen erfahren. Künftig werden die Vorfahrtsregelungen auch für den Verkauf und die Wiederherstellung einzelner Gebäudekomplexe und Wohnungen gelten. Hier sollte jedoch in den Ausschüssen gewissenhaft geprüft werden, wie mißbräuchliche Anwendungen verhindert werden können. Eine Beibehaltung dieses neuen Prinzips ist jedoch wichtig, da nach wie vor über die Hälfte der Wohnungen in einem sanierungsbedürftigen Zustand sind und die Mittel hierfür nur vom privaten Sektor aufgebracht werden können.In Dresden sind mehr als die Hälfte der 250 000 Wohnungen sanierungs- und modernisierungsbedürftig. 20 000 Wohnungen stehen leer.Die Aufträge aus dem privaten Bereich sind zur Zeit äußerst wichtig, da nach Auslaufen der Investitionspauschale und der Stagnation in der Industrie die Bauwirtschaft als Motor des Aufschwungs nur dann weiter funktionieren wird, wenn endlich auch Aufträge aus diesem Bereich kommen.Die staatliche Zwangsverwaltung von Grundstükken und anderen Vermögenswerten wird per Gesetz zum 31. Dezember 1992 aufgehoben. Es muß jedoch gesichert werden, daß dadurch keine Schwierigkeiten bei der Unterhaltung von Gebäuden entstehen.Ein weiterer Punkt liegt mir sehr am Herzen. Er wurde heute bereits mehrfach angesprochen. Herr Professor Heuer hat wieder genau in die andere Richtung gesprochen. Es kann für unsere Menschen in den neuen Bundesländern nicht oft genug wiederholt werden, daß die Sicherung des Eigentums bei redlichem Erwerb äußerst wichtig ist. Bürger in den neuen Bundesländern, die redliches Eigentum oder Nutzungsrechte erworben haben, brauchen nicht zu befürchten, von Alteigentümern vor die Tür gesetzt zu werden. Für die Alteigentümer wird es hier nur Ausgleichs- oder Entschädigungsleistungen geben.Auch alle Eigenheimbauer, die auf der Grundlage von Nutzungsrechten auf fremdem Grund und Boden gebaut haben, werden durch das zunächst bis zum 31. Dezember 1994 befristete Moratorium vor Klagen der Grundeigentümer geschützt. Bis zu diesem Zeitpunkt soll eine endgültige Bereinigung erfolgen, und
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Johannes Nitschzwar, wie es der Herr Kollege Geis bereits angedeutet hat, im Sinne der Sicherung des Eigentums.
Herr Kollege Nitsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Herr Kollege Nitsch, sicher ist es wichtig, daß wir den Grundsatz „Überprüfung auf Redlichkeit" beachten. Meine Frage: Ist es möglich gewesen, nach dem 18. Oktober bei Grundstückserwerb redlich zu handeln?
Sie kommen jetzt bereits auf den Punkt, den ich etwas später ansprechen wollte: zu der Stichtagsregelung 18. Oktober 1989. Ich betone ausdrücklich, daß ich diesen Stichtag für außerordentlich wichtig halte. Es ist sicher nicht gleich am 19. Oktober begonnen worden. Aber nicht viel später kam es zu Vorkommnissen, die vor allem die zu diesem Zeitpunkt an den Schalthebeln der Macht Sitzenden ausgenutzt haben.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Küster?
Bitte.
Herr Nitsch, gab es vor dem 18. Oktober 1989 unredlichen Grundstückserwerb?
Ich muß mich auf die Position des Justizministers zurückziehen. Das wird eine Einzelfallprüfung ergeben, aber auf alle Fälle nicht in dem Sinne, wie wir sie für die Zeit nach dem 18. Oktober 1989 vorsehen. Es hat natürlich auch vor dem 18. Oktober 1989 Begünstigungen beim Erwerb von Grundstücken gegeben. Das kann man nicht ausschließen.
Würden Sie noch eine letzte Zwischenfrage, die ich dazu zulassen würde, des Kollegen Professor Heuer beantworten?
Bitte.
Sie haben die Frage vielleicht nicht ganz beantwortet. Sie sind gefragt worden, ob danach redlicher Erwerb möglich gewesen sei. Sie haben auf Leute, die an Schalthebeln der Macht gesessen haben, hingewiesen. Was ist denn mit den Leuten, die nicht an den Schalthebeln der Macht gesessen haben? Konnten denn diese nach Ihrer Auffassung nach dem 19. Oktober noch redlich erwerben?
— Ich habe an sich ihn gefragt und nicht Sie. Aber auch Ihre Meinung interessiert mich selbstverständlich.
Es hat sicherlich auch nach dem 18. Oktober Fälle des redlichen Erwerbs gegeben. Aber die Gefahr, daß sich nach dem 18. Oktober 1989 vor allen Dingen die bedient haben, die
den Zugriff hatten — Sie wissen ja, wer das war —, ist weitaus größer als vorher. Das müssen wir ausschließen.
Ich halte den Stichtag 18. Oktober tatsächlich für äußerst wichtig. Herr Schwanitz, auch Sie haben in den neuen Ländern gelebt. Sie wissen, was dort gelaufen ist und wie die Leute angestanden haben. Es kommt immer mehr erst jetzt zutage, was dort alles geschoben worden ist.
Ich glaube, wir sollten jetzt mit der Rede fortfahren.
Damit ist das schon gesagt. — Ich möchte aber für alle Hörer in den neuen Ländern noch betonen, daß die Regelung zum Stichtag 18. Oktober 1989 beibehalten werden soll, aber in die Richtung exakter formuliert worden ist, daß auch alle vor dem 19. Oktober aktenkundigen Bemühungen um den Kauf von Grundstücken und Immobilien darunter fallen, auch wenn die Verträge erst danach abgeschlossen wurden.
Am Ende noch eine Bitte an die Bundesregierung. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß es ein schwieriges Problem ist. Trotzdem ist eine volle Wirksamkeit und eine noch weitergehende Beschleunigung bei der Klärung der noch offenen Vermögensfragen erst nach Erlaß der Ausgleichs- bzw. Entschädigungsregelungen zu erwarten. Ich bitte herzlich darum, daß die hier bereits angelaufenen Arbeiten beschleunigt werden und dem Parlament noch in diesem Jahr ein entsprechender Gesetzentwurf zur Beschlußfassung vorgelegt wird.
Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Hans-Joachim Hacker das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Dies ist die Zeit, wo auch dem letzten klar wird: Die Legende geht zu Ende, daß der Sanierungsprozeß in den neuen Ländern automatisch mit der Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft möglich sei und daß für den Umbau der Wirtschaft allein die Privatisierung der ehemaligen VEB und Kombinate der Lösungsweg sei.
So ist auch nicht zu verheimlichen, daß nicht eingetreten ist, was die Bundesregierung im Jahre 1990 prophetisch der Bevölkerung der Noch-DDR verkündete, nämlich, daß Tausende von Investoren in der Altbundesrepublik schon in den Startlöchern stehen würden, um nach der Einführung der Marktwirtschaft in die neu zu bildenden Länder zu eilen.
— Frau Präsidentin!
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7236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Sie kommen schon zurecht, Herr Kollege.
Herr Geis, ich bewundere Ihren Charme, mit dem Sie den Offenbarungseid der Bundesregierung in dem Bereich des Vermögensrechts dem Hohen Haus hier heute vorgelegt haben. Man muß sich wirklich fragen: Warum sind die Visionen des Jahres 1990 nicht Wirklichkeit geworden? Warum gestaltet sich der Umbau der Wirtschaft in den neuen Ländern, den Sie soeben angesprochen haben, so schwierig? Warum kommt der Aufschwung Ost nicht aus dem Kriechgang in ein D-Zug-Tempo?
Zum einen: Eine Wirtschaftspolitik der Bundesregierung mit mindestens auf die strukturbestimmenden Unternehmen ausgerichteten Sanierungsmaßnahmen fehlt bis heute. Auf Landesebene soweit es mein Land Mecklenburg-Vorpommern betrifftzeichnet sich im übrigen das gleiche Bild.Zum anderen: Von sicherlich greifenden steuerlichen Präferenzen abgesehen, sind die Rahmenbedingungen für Investitionen in den neuen Ländern in entscheidenden Bereichen katastrophal. Das ist keine aus der Luft gegriffene Behauptung, sondern eine Feststellung, die sich aus den Schilderungen vieler Unternehmer, Gewerkschafter und Kommunalpolitiker ergibt. Das ist auch das Ergebnis der beiden Anhörungen der SPD-Bundestagsfraktion, die wir in den Monaten Januar und März des Jahres 1992 hier im Deutschen Bundestag durchgeführt haben.Wir haben immer gesagt, Investitionshemmnis Nummer eins war und ist die komplizierte Regelung der Eigentumsfragen. Ich behaupte, das Investitionshemmnis wird weiterbestehen, wenn am Regierungsentwurf zum Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz nicht weitergehende Änderungen vorgenommen werden.
— Meine Hoffnung ist, daß Sie dabei mitmachen, Herr Geis.Die Auswirkungen der falsch angesetzten Eigentumsproblematik treffen neben der Arbeitnehmerschaft — jetzt hören Sie bitte zu, meine Damen und Herren von der Fraktion der F.D.P. — gerade den Mittelstand in den neuen Ländern, der sich nach den Verwerfungen der zentralistischen Planwirtschaft jetzt noch im Aufbau befindet.Eine Anfrage bei der Industrie- und Handelskammer Schwerin, einen Großinvestor zu benennen, der wegen Eigentumsproblemen die geplante Investition nicht realisieren kann, hat nach mehrmaligem Nachfragen zu dem Ergebnis geführt, daß im Schweriner IHK-Bezirk ein solcher Fall nicht bekannt ist.Massenhaft sind jedoch die Beschwernisse und Blockaden, die den mittelständischen Jungunternehmern bzw. heimischen Handwerks- und Gewerbebetrieben begegnen, wenn sie die bislang genutzten oder andere Immobilien zur Fortführung des Unternehmens bzw. zur Existenzgründung von den Kommunen erwerben wollen.Vorliegende Rückübertragungsansprüche an Grundstücken und Gebäuden, deren Berechtigte diese Objekte zum Teil nie mit eigenen Augen gesehen haben, blockieren die kommunalen Entscheidungen, hemmen die Unternehmerinitiative und führen am Ende zu Frustrationen.Somit erweist sich, daß die angeblich auf Förderung des Mittelstands ausgerichtete Wirtschaftspolitik der Bundesregierung, soweit sie den Mittelstand in den neuen Ländern betrifft, in Wirklichkeit auf diesem Gebiet total versagt hat.
Zur objektiven Wertung des Regierungsentwurfes gehört es, festzustellen, daß Änderungen vorgesehen sind, die von der SPD-Bundestagsfraktion auch auf der Grundlage von Anhörungen und Befragungen vor Ort seit mehr als einem Jahr eingefordert und daher mitgetragen werden.
Sie sind zum Teil angesprochen worden; ich will sie hier nur ganz kurz anreißen: Das ist die Frage der Regelung einer Ausschlußfrist, eines Moratoriums, das betrifft den Ausbau der Vorfahrtregelungen und auch die zeitliche Straffung des Verfahrensweges zur Anhörung von Anmeldern im Rahmen des Investitionsvorranggesetzes. Das unterstützen wir ausdrücklich; das sehen wir als einen positiven Schritt in die richtige Richtung.
Die Chance, zu diesen Fragen bereits im Rahmen der Verabschiedung des Hemmnissebeseitigungsgesetzes vor ungefähr einem Jahr einen Kompromiß zu finden, haben beide Koalitionsfraktionen trotz unserer Bitte nicht genutzt. Bei der Nachbesserung des Entwurfs des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes dürfen nicht wieder dringende Forderungen unberücksichtigt bleiben und an der Mehrheit des Hohen Hauses scheitern.Deshalb stelle ich an die Bundesregierung und an die sie tragenden Fraktionen folgende Fragen:Erstens. Warum rückt die Bundesregierung nicht endlich von der unhaltbaren Stichtagsregelung 18. Oktober 1989 ab, die für Tausende privater Hausund Grundstückserwerber in den neuen Ländern zu einer massiven sozialen Verunsicherung geführt, ja, vor allem im Berliner Randgebiet in den Köpfen vieler Menschen eine neue Mauer errichtet hat?
Ich denke, wir dürfen die Rechtsgrundlage doch nicht vergessen. Inhalt der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen vom 15. Juli 1990 war die Forderung — die wir unterstützen —, Veräußerungen von Grundstücken und Gebäuden, bei
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Hans-Joachim Hackerdenen frühere Eigentumsrechte ungeklärt sind und die dennoch nach dem 18. Oktober veräußert wurden, zu überprüfen — wohlgemerkt: zu überprüfen! Es war nicht die Absicht, den redlichen Erwerb dieser Grundstücke und Gebäude, falls später Rückübertragungsansprüche geltend gemacht werden sollten, durch einen Stichtag generell in Frage zu stellen.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion fordert daher erneut: Die Stichtagsregelung 18. Oktober 1989 muß weg! Sie muß durch die individuelle Prüfung von Fällen des unredlichen Erwerbs ersetzt werden, die selbstverständlich auch nach unserer Auffassung keinen Rechtsschutz genießen dürfen; darin stimmen wir mit Herrn Bundesminister Kinkel völlig überein.
Ich weiß nicht, wie die Botschaft von Herrn Nitsch an die neuen Länder bezüglich der Aufrechterhaltung des Stichtages bei den Betroffenen ankommen wird. Es wird auf jeden Fall keine hoffnungsfrohe Botschaft sein.Sehr geehrter Herr Geis, Ihre Ausführungen zur Stichtagsregelung 18. Oktober 1989 sind eine Neuauflage der fehlerhaften Diskussion über die Grundsatzfrage „Rückgabe vor Entschädigung". Sie haben sich hier heute sehr moderat dazu geäußert, daß man sich auch hätte anders entscheiden können.
Ich bitte Sie, laufen Sie in dieser Frage nicht wieder in eine Sackgasse!Herr Minister Kinkel, die philosophischen Ausführungen zum Eigentumsproblem bzw. zum Eigentum und seiner historischen Einordnung werden in weiten Bereichen auch von der SPD-Bundestagsfraktion mitgetragen. Aber mit dem globalen Vorwurf, der berechtigt ist, weil er stimmt, daß Eigentumsrechte in der ehemaligen DDR schwer beschädigt wurden, zeigen wir den Betroffenen keinen Lösungsweg auf; das verstehen die Betroffenen nicht. Ich meine, gerade auch im Bereich der Auflösung von KoKo-Firmen und bei der Klärung von Vermögensverhältnissen der Altparteien in der ehemaligen DDR hätte die Bundesregierung doch zeigen können, über welche Initiativen sie verfügt, um diese Dinge, die ja ebenfalls Eigentumsfragen betreffen, einer Lösung zuzuführen. Hier wäre ein reiches Betätigungsfeld für die Sicherung von Rückübertragungsansprüchen an den Bund, an die Länder, an die Kommunen und — das sage ich zum Schluß — natürlich nicht zuallerletzt auch an Privatpersonen gewesen.
Herr Kollege, würden Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Geis gestatten?
Aber gerne, Herr Geis.
Herr Kollege Hacker, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich in meinen Ausführungen vorhin gesagt habe, daß derjenige, der jetzt das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" noch einmal in Frage stellt, abenteuerlich handelt, auch wenn man zu einem früheren Zeitpunkt wohl darüber reden konnte, was nicht heißt, daß man es bejahen mußte?
Da haben Sie recht; das stimmt; das haben Sie so gesagt; das ziehe ich ja auch nicht in Zweifel. Ich meine nur, Sie sollten sich bei der nun anstehenden Frage bezüglich der Aufhebung des Stichtages 18. Oktober 1989 ja oder nein, die im Rechtsausschuß zu behandeln sein wird, nicht wieder ins falsche Boot setzen.
Ich komme zu dem Problem der Vermögensphilosophie zurück. Die bei der Auflösung von KoKo-Firmen und der Klärung von Fragen, die das Altvermögen der Parteien betreffen, gezeitigten Ergebnisse kann man nur als spärlich und unbefriedigend bezeichnen. Auf der anderen Seite besteht nach wie vor soziale Verunsicherung bei den Häuslebauern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Besteht nun endlich die Bereitschaft, zumindest Teilentschuldungen der kommunalen Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern durchzuführen, damit diese wirtschaftlich handlungsfähig werden?Drittens. Warum nutzt die Bundesregierung nicht die Chance, im Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes den Zwangsausgesiedelten im Bereich der ehemaligen innerdeutschen Grenze auf dem Gebiet der DDR ausdrücklich und ohne Wenn und Aber das Recht auf Rückübertragung des durch Zwangsmaßnahmen entzogenen Vermögens einzuräumen? Auch das gehört doch zur individuellen Gerechtigkeit, Herr Bundesminister Kinkel, die Sie angesprochen haben und auf die es uns ebenfalls ankommt.
Viertens. Wann legt die Bundesregierung den Entwurf eines von uns immer wieder geforderten Entschädigungsgesetzes vor, damit Alteigentümer eine echte Alternative zur Geltendmachung und Durchsetzung des Rückgabeanspruchs erhalten? Herr Geis, welche Lösungen bieten Sie an? Sie haben Bedenken sowohl in bezug auf zu hohe als auch auf zu niedrige Entschädigungen.
Da frage ich mich: Wie wollen wir denn hier Alternativen aufzeigen, wenn wir sowohl eine zu hohe als auch eine zu niedrige Entschädigung als Problem darstellen?Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern, vor allem die soziale Verunsicherung bestimmter Bevölkerungsgruppen, erfordert überlegte und rasche Entscheidungen des Gesetzgebers. Damit nicht wieder Stückwerk entsteht, fordere ich die Koalitionsfraktionen auf, die Vorschläge der SPD-Bundestagsfraktion aufgeschlossen zu prüfen und nicht wieder an ideologischen Eigentumsvorstellungen scheitern zu lassen. Wenn Sie schon wider besseres Wissen den falschen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" nicht aufzugeben bereit sind, so sollten Sie wenigstens alles Mögliche und Praktikable
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Hans-Joachim Hackerim Rahmen dieser — leider verspäteten — Reparaturgesetzgebung zusammen mit der Opposition anpakken.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Joachim Gres das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als wir Anfang letzten Jahres unmittelbar nach der Bundestagswahl und der Neubildung der Bundesregierung in einem sehr schnellen Verfahren das Hemmnisbeseitigungsgesetz beraten und verabschiedet haben, war uns allen eigentlich klar, daß die praktischen Erfahrungen aus der Umsetzung dieses Gesetzes möglicherweise dazu führen könnten, daß das Hemmnisbeseitigungsgesetz und damit das Vermögensgesetz zu novellieren sein würden. Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Ich finde, das ist auch gar nichts Schlimmes. Es ist doch unsere Aufgabe, aus praktischen Erfahrungen zu lernen und sie möglichst rasch in einer Gesetzesnovelle umzusetzen. Und genau das tun wir im Moment.
Hieraus jetzt einen Vorwuf ableiten zu wollen ist nicht zulässig; denn es ist schon darauf hingewiesen worden — das ist eines der Worte von Herrn Bundesminister Kinkel, das mir sehr gut gefallen hat —, daß wir die Wiedervereinigung in der Tat nicht proben konnten. Wir wußten nicht — auch die SPD wußte dies nicht —, welche praktischen Probleme auf uns zukommen würden. Sie hatten damals nichts anderes als einen Prinzipienstreit anzubieten. Diesen Prinzipienstreit verstehe ich deswegen um so weniger, als er im Grunde genommen mit dem Einigungsvertrag, dem Sie ja zugestimmt haben, entschieden worden ist.
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen der letzten Monate zeigen aber auch, daß die Hauptursachen für die Investitionshemmnisse eigentlich gar nicht so sehr im gesetzgeberischen Bereich liegen, sondern vielmehr bei personellen Engpässen in Grundbuchämtern, Vermögensämtern, Gemeinde-und Stadtverwaltungen und Landesverwaltungen. Dies schlägt viel empfindlicher zu Buche als das, was wir hier im Moment diskutieren. Hinzu kommt natürlich die ungewohnt schwierige Rechtsmaterie, die von den Behörden und Ämtern oftmals auch mutige Ermessensentscheidungen verlangt.
Bei nüchterner Betrachtungsweise geht es bei dem heute eingebrachten Gesetzentwurf um eine Optimierung der Aufräumarbeiten von 40 Jahren sozialistischer Mißwirtschaft und 40 Jahren SED-Unrechtsherrschaft. Daß die SPD dabei leider in Abkehrung von tragenden Grundsätzen unserer Verfassung und, wie ich finde, leichthin, Herr Hacker, und in stereotyper Wiederholung die Umkehr des Prinzips „Rückgabe vor Entschädigung" fordert, ist nicht hilfreich. Sie alle kennen die verfassungsrechtliche Problematik. Sie alle kennen die mit der Umkehrung des Prinzips verbundenen astronomischen Kosten. Jetzt — das ist vorhin in der Diskussion von Herrn Geis
eigentlich noch einmal ganz deutlich gemacht worden — immer noch nur diesen Prinzipienstreit anzuzetteln, obwohl Sie wissen, daß das Prinzip nicht mehr umkehrbar ist, halte ich für wenig hilfreich.
Frau Däubler-Gmelin hat neulich für die SPD in einer Presseerklärung deutlich gemacht, wie sie sich das vorstellt. Diese Presseerklärung stammt vom März. Heute noch will sie in Gemeinden und Städten schlechthin mit einem Federstrich — offenbar des Landes- oder des Kommunalgesetzgebers — bestimmte Sanierungsgebiete oder Gewerbegebiete oder Wohnbezirke im innenstädtischen Bereich zu kommunalem oder staatlichem Eigentum erklären und die Alteigentümer pauschal auf Entschädigungszahlungen verweisen. Eine solche Darstellung ist nicht seriös. Diese Forderung ist weder verfassungsrechtlich haltbar, noch ist sie finanziell tragbar. Sie ist im Kern populistisch und verdient deshalb meiner Ansicht nach nicht, daß wir uns hier weiter mit diesem Prinzipienstreit auseinandersetzen.
Einer der Kernpunkte des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes ist die Verbesserung der Vorfahrtregelung für Investitionen durch Einführung eines einheitlichen und inhaltlich verbesserten Investitionsvorranggesetzes.
— Herr Hacker, es tut mir leid, aber ich habe nur wenige Minuten Redezeit, weil ich der letzte Redner meiner Fraktion bin. Es wird mir ein bißchen Redezeit abgezogen.
Herr Kollege, es wird Ihnen nicht auf die Redezeit angerechnet.
Dann gerne, Herr Hakker.
Außerdem frage ich Sie, und wenn Sie mir geantwortet haben, erteile ich dem Kollegen das Wort. Es ist reizend, daß Sie mir die Arbeit abnehmen. — Herr Kollege, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Gres, Sie haben gegen den angeblichen Populismus von seiten unserer Kollegin Frau Däubler-Gmelin gewettert und gesagt, sie habe sich für die Kommunalisierung von Sanierungsgebieten eingesetzt. Ist Ihnen bekannt, daß der Bundesrat heute eine entsprechende Initiative ausdrücklich unterstützt und gebilligt hat?
Die Initiative des Bundesrats betrifft etwas anderes. Das, was Frau Däubler-Gmelin gefordert hat, wird in dieser Form von den CDU-Landesregierungen nicht getragen. Das sind zwei Paar Stiefel.
— Sie können doch nicht Stadtsanierung nach demStädtebauförderungsgesetz und das, was Frau Däub-
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Joachim Gresler-Gmelin gefordert hat, gleichsetzen. Nach der Forderung von Frau Däubler-Gmelin soll mit einem Federstrich der gesamte Grund und Boden in bestimmten Bereichen in kommunales Eigentum überführt werden. Die jeweiligen Eigentümer sollen auf eine Entschädigung ganz moderater Art verwiesen werden. Das ist eine völlig andere Regelung als das, was der Bundesrat im Moment diskutiert.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Investitionsvorranggesetz zurück. Nach Abwägung aller Pro- und Kontra-Argumente für dieses Gesetz für den Zeitraum bis 1995 ist dieses Gesetz meiner Ansicht nach der richtige Ansatz. Wir haben damals im Vorfeld darüber diskutiert, ob dieses Gesetz dazu führen könnte, daß ein neuer Attentismus Platz greift, daß die Ämter und Behörden lange Zeit brauchen, sich mit dem neuen Gesetz vertraut zu machen. Ich glaube, daß das nicht der Fall ist, insbesondere wenn man sich überlegt, was geschehen wäre, wenn man diese Regelung des Investitionsvorranggesetzes in das bestehende Vermögensgesetz und in das Investitionsgesetz hätte einfügen wollen. Es wäre ein hochkomplexes, durch ständige Querverweise kaum noch zu lesendes und zu verstehendes Gesetz gewesen. Ich meine, daß das Investitionsvorranggesetz, wie es jetzt auf dem Tisch liegt, in guter Weise alle Vorfahrtsregelungen für Investoren im Immobilien- und Unternehmensbereich bündelt. Es ist übersichtlich. Es ist leicht verständlich. Nach meiner festen Überzeugung werden die Behörden in den neuen Bundesländern mit diesem Gesetz rasch arbeiten können.Ich begrüße außerdem die Erweiterung der Investitionsvorfahrtsregelungen auf den Verkauf bzw. die Eigeninvestitionen in einzelnen Wohnungen innerhalb von Mehrfamilienhäusern. Das war bisher nach dem Vermögensgesetz nicht möglich. Die Neuregelung wird helfen, den Altbaubestand in den Innenstädten rascher in großem Umfang Wohnzwecken zuzuführen.Ich begrüße im Prinzip auch die zeitliche und inhaltliche Straffung des Anhörungsverfahrens für die Alteigentümer, wenn ein Investor in einem Unternehmen Arbeitsplätze schaffen will oder ein marodes Mehrfamiliengebäude zu Wohnzwecken herrichten will. Allerdings müssen die kurzen Fristen von zwei Wochen für einen Einwand gegen das Investitionsvorhaben des Drittinvestors bzw. von vier Wochen zur Vorlage von entscheidungsreifen Investitionsplänen durch den Alteigentümer im Rechtsausschuß noch genau hinterfragt werden. Insbesondere werden wir zu diskutieren haben, ob diese kurzen Fristen generell für alle Investitionsobjekte gelten sollen oder ob hier nicht nach Art und Umfang der Objekte zu differenzieren ist. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß es Situationen geben kann, wo ein Alteigentümer auf ein Investitionsvorhaben eines westdeutschen Bauträgers in mehrfacher Millionenhöhe nicht innerhalb von zwei Wochen oder innerhalb von weiteren vier Wochen mit einem verbindlichen Investitionsplan antworten kann. Ich will gleichzeitig hinzufügen, daß das Investitionsvorhaben Dritter den Alteigentümer in der Regel nicht überraschen kann, weil er den Restitutionsanspruch geltend gemacht hat und seit langer Zeit weiß, daß er Investitionsüberlegungen vorzunehmen hat.
Dennoch mag es in bestimmten Fällen kritische Lagen und Härtefälle geben, über die wir noch einmal nachdenken müssen. Mehr will ich dazu nicht sagen.Es wird auch noch kritisch zu überprüfen sein, warum nur Alteigentümer ihr Investitionsvorhaben mit einer Vertragsstrafe absichern sollen, nicht jedoch investitionsbereite Dritte. Hier scheint mir eine noch nachzufragende Disparität zwischen diesen beiden Personengruppen zu bestehen.Ich begrüße ferner die Regelung, wonach künftig ein Alteigentümer die Herausgabe seines Grundstücks für Eigeninvestitionen bevorzugt verlangen kann. Hiermit wird das Rechtsinstitut der vorläufigen Einweisung bei Unternehmen auf den Immobilienbereich übertragen. Wir alle wissen, daß zahlreiche Alteigentümer bereit sind, bei rascher Klärung der Rechtslage sofort in ihre Liegenschaften zu investieren. Dieser Investitionsschub muß weiter beschleunigt werden.Ich begrüße schließlich auch die vorgesehene Regelung eines Bestandsschutzes für Investitionsentscheidungen des investierenden Dritten. Die Möglichkeit, derartige Investitionsvorrangentscheidungen vor den Verwaltungsgerichten anzufechten, hat auf der Investitionsseite zu Zurückhaltungen geführt. Diese müssen abgebaut werden.Schlußendlich ist die Aufhebung der staatlichen Zwangsverwaltung und die Erleichterung bei der Rückgabe von Grundstücken mit Althypotheken oder anderen Rechten zu begrüßen, ebenso die Fixierung des abschließenden Anmeldetermins für Rückübertragungsansprüche auf den 31. Dezember 1992. Damit wird in einer rechtsstaatlich akzeptablen Art und Weise das Kapitel Rückgabe von Unternehmen und Liegenschaften abgeschlossen. Jedermann hat bis dahin Zeit und Gelegenheit, Ansprüche geltend zu machen. Wer dies nicht tut, ist ab dem Jahre 1993 im Grundsatz von weiteren Ansprüchen ausgeschlossen.Lassen Sie mich abschließend noch erwähnen, daß ich befriedigt darüber bin, daß mit dem Gesetzesvorschlag als Antwort auf bestimmte jüngste Gerichtsurteile die Restitutionslage für die nach 1933 enteigneten Opfer des Naziregimes klargestellt wird. Es war von uns nie beabsichtigt, daß die von 1933 bis 1945 enteigneten Vermögen das sind vor allem Vermögen jüdischer Familien — nur deswegen nicht wieder zurückverlangt werden könnten, weil sie in der Zeit von 1945 bis 1949 von der sowjetischen Besatzungsmacht nochmals enteignet worden sind. Hier bestand Klarstellungsbedarf. Diese Klarstellung ist mit dem Gesetz erfolgt. Dafür bin ich außerordentlich dankbar.Auf die vielen anderen technischen Aspekte des Gesetzentwurfs will ich hier wegen der Kürze der Zeit nicht eingehen.
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7240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Joachim GresIch glaube, daß wir Veranlassung haben, diesen Gesetzentwurf im Rechtsausschuß sehr rasch, sehr konstruktiv zu bearbeiten und zu verabschieden. Ich glaube, wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern schuldig, daß dieses neue Gesetz bis zur Sommerpause verabschiedet ist. Ich hoffe, daß die SPD, die Opposition, daran mitwirken wird.Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin Christina Schenk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 12. März dieses Jahres haben hier in Bonn über 2 000 Mieterinnen und Mieter aus dem Land Brandenburg für mehr Sicherheit vor Wohnungsverlust und Mieterhöhungen demonstriert. Im Bundeskanzleramt wurden 30 000 Unterschriften überreicht.Die Forderungen liegen klar auf der Hand: Neben der Verlängerung des Kündigungsschutzes ging es vor allem darum, das Chaos zu Lasten der Nutzer und Nutzerinnen von Häusern, deren Eigentum ungeklärt ist, zu beenden.Die Lage der betroffenen Bewohner und Bewohnerinnen im Osten ist prekär. Die Grundstücke in der ehemaligen DDR sind nicht weniger als 3 Millionen privaten Rückübertragungsansprüchen ausgesetzt. Die Vermögenszuordnung bei den ostdeutschen Kommunen funktioniert nicht. Die Treuhand verkauft Betriebe, deren Käufer sich dann plötzlich Eigentumsansprüchen von Alteigentümern ausgesetzt sehen. Wohnungsbaugesellschaften können keine der so dringend notwendigen Sanierungen vornehmen, weil Erbengemeinschaften eine neue Freizeitbeschäftigung entdeckt haben, nämlich die Lektüre der Testamente ihrer Vorfahren.Private und öffentliche Investitionen werden blokkiert und die langjährigen Bewohner von Privathäusern in Angst und Schrecken versetzt. Dabei geht es den Anspruchstellern in den meisten Fällen nicht um die Rückgabe des Eigentums, sondern um den finanziellen Gegenwert — denn sonst würden ja nicht derart viele Ansprüche an Dritte abgetreten. Hier wird oft in schamloser Weise mit dem Schicksal der Menschen in den neuen Ländern spekuliert, die sich die Einheit so gewiß nicht vorgestellt haben.Angesichts der ausschließlich ideologisch begründeten, aber vernunftwidrigen Privilegierung von Alteigentümern gegenüber den Nutzern und Nutzerinnen funktioniert in der Wirtschaft der neuen Länder praktisch nichts mehr. Handwerker, die der Reglementierung des SED-Regimes entronnen sind, haben nun unter dem marktwirtschaftlichen Diktat des auf Alteigentümer zugeschnittenen Vermögensgesetzes keine Perspektive. Privatleute sehen sich massivem Druck von Alteigentümern ausgesetzt, ihre Häuser zu verlassen. Mieterinnen und Mieter wissen nicht, ob sie bleiben können und wann sie sogenannten Eigenbedarfskündigungen zum Opfer fallen. Kurzfristige Moratorien können die Existenzängste nicht beseitigen.Unter größten Mühen haben die Menschen im Osten Deutschlands ihre Häuser, ihr Nutzungsrecht redlich erworben, natürlich im Rahmen der in der DDR geltenden Rechtsordnung. Das Fehlen dieser dinglichen Ansprüche wird den Nutzerinnen und Nutzern der Häuser nun zum Verhängnis. Dem bundesdeutschen Recht ist es bekanntlich weitgehend fremd, daß Grundeigentum und Nutzungsrechte auseinanderfallen.Besondere Probleme bereitet daher der Umgang mit den vor allen Dingen im Land Brandenburg abgeschlossenen sogenannten Nutzungsverträgen. Es ist bezeichnend für die Verhandlungsführung der ehemaligen DDR-Vertreter bei der Aushandlung des Einigungsvertrages, daß sie diesen Komplex schlicht vergessen haben; Herr Krause hat da ganz offensichtlich Höheres im Sinn gehabt als die Niederungen der Nutzungsrechte im Rahmen der Überlassungsverträge.Ich bin zwar erleichtert, daß sich die Bundesregierung wenigstens zu einem Aufschub bis zum 31. Dezember 1994 durchgerungen hat, eine Lösung, meine ich, ist aber auch das nicht. Das Problem ist schon sehr lange bekannt, und es ist wirklich die Frage, warum erst jetzt mit einem solchen Moratorium statt mit einem vernünftigen Konzept geantwortet wird. Ich denke, Verunsicherung und Unsicherheit werden nur verlängert.Ich möchte hier auf unseren Vorschlag hinweisen, den wir bereits im Bundestag eingebracht haben und der gemeinsam mit Ihrem Gesetzentwurf in den Ausschüssen beraten werden wird. Wir treten ein für die Umwandlung der Überlassungsverträge in Erbbaurechte. Die Nutzerinnen und Nutzer bleiben oder werden, wie Sie wollen, Eigentümer der Häuser, während die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden unberührt bleiben.Ein weiteres, besonders tückisches Problem ist in Ihrem Entwurf ebenfalls nicht gelöst: die sogenannte Stichtagsregelung. Ob ein Grundstück volkseigen wurde oder unter Zwangsverwaltung gestellt wurde — die Bürgerinnen und Bürger konnten gar kein bürgerlich-rechtliches Eigentum erwerben, selbst wenn sie es gewollt hätten. Als es dann doch — in den Tagen der Wende — möglich wurde, schob § 4 des Vermögensgesetzes dem einen Riegel vor, indem er Eigentumserwerb nach dem Sturz Honeckers kurzerhand für unredlich und damit für rechtswidrig erklärte. In der durch nichts begründeten Annahme, alle Erwerber seien Begünstigte des alten Regimes, die noch schnell ihr Schäfchen ins Trockene bringen wollten, wurden alle Erwerber unter Generalverdacht gestellt. Immerhin so kann man jetzt feststellen — hat die Bundesregierung das Problem wenigstens erkannt. Mit aller Vorsicht sollen nun jene Erwerber und Erwerberinnen geschützt werden, die ihren Kaufwunsch schon vor dem ominösen 19. Oktober 1989 schriftlich beantragt oder sonst aktenkundig angebahnt haben.Die Regelung schützt aber nur einen Teil derer, die nach unserer Überzeugung schützenswert sind. Es waren nämlich in vielen Fällen gerade jene, die sich unter den alten Verhältnissen nicht eingerichtet hatten und die sich während des Umbruchs trauten, mit
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Christina Schenkihrem Kaufwunsch an die Behörden heranzutreten. Diesen Menschen auch in dieser Novelle weiterhin den Stempel der Unredlichkeit aufzudrücken zeigt meines Erachtens ein erschreckendes Ausmaß an Ahnungslosigkeit in der Bonner Ministerialbürokratie, zumindest was die Verhältnisse im Osten betrifft.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an dieser Stelle noch auf die von meiner Gruppe vorgeschlagene Lösung verweisen. Unser Gesetzentwurf sieht die komplette Aufhebung der Stichtagsregelung vor. Eine solche klare Lösung hat große Vorteile gegenüber dem Vorschlag der Bundesregierung, sie schafft nämlich Rechtsklarheit. Denken Sie — wenn nicht schon an die Betroffenen doch wenigstens an die Verwaltungen und an die Gerichte, die in jedem Einzelfall komplizierte Recherchen in den Verwaltungen anstellen müßten, ob der Kaufwunsch nun aktenkundig ist oder nicht. Ich rate Ihnen dringend, diese unpragmatische Überlegung fallenzulassen und sich unserem Vorschlag anzuschließen.Meine Damen und Herren, ich meine auch, Sie sollten häufiger mit den Oberbürgermeistern, den Leitungen der Wohnungsbaugesellschaften, dem Mieterbund und den vielen anderen Sachkennerinnen und Sachkennern vor Ort sprechen! Die Probleme können nicht dadurch gelöst werden, daß Sie die zweite Novelle demnächst wohl die dritte und dann auch noch die vierte Änderung — des Vermögensgesetzes einbringen. Wenn Sie glauben, all die riesigen Schwierigkeiten mit juristischen Formeln und 200 Seiten Begründung beiseite räumen zu können, die dem sogenannten Aufschwung Ost im Wege stehen, dann sind Sie auf dem Holzweg.Dringend erforderlich ist eine Verbesserung der Situation der Kommunen in bezug auf investive Zuweisungen im Sinne des Vermögenszuordnungsgesetzes. Von den nur 126 Anträgen sind nach Angaben des Bundesfinanzministers 60 wieder zurückgenommen bearbeitet wurde noch keiner.Warum haben Sie nicht die Anregung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes aufgegriffen, wenigstens den Gebietskörperschaften die Möglichkeit einzuräumen, mit Rücksicht auf die konkrete städtebauliche Planung die Rückgabe ehemals volkseigenen Vermögens für ein zu bestimmendes Planungsgebiet auszuschließen?Ich möchte zum Schluß kommen: Ihr Gesetzentwurf repariert an vielen Stellen eine Regelung, die wir bereits während der Diskussion über den Einigungsvertrag heftig kritisiert haben. Die sozialen Folgekosten angesichts des wirtschaftlichen Debakels in den neuen Ländern gehen daher auch auf Ihr Konto.Die Verbesserung der Investitionsregelungen geht in die richtige Richtung. Wir müssen uns aber in den Ausschüssen noch darüber unterhalten, ob die Vorschriften weit genug gehen und ob sie derart kompliziert sein müssen, daß sie die Verwaltungen erneut vor kaum lösbare Probleme stellen.Insgesamt wird Ihr Entwurf die Mängel der im Ansatz verfehlten Eigentumsregelung des Einigungsvertrages nicht beheben können. Der Niedergang wird sich fortsetzen. Wir werden in diesem Haus demnächst — so nehme ich an — eine neue Runde bei der nächsten Novelle des Gesetzes erleben dürfen.Abschließend die Hoffnung: Vielleicht gelingt es der neuen Justizministerin, zu einer kreativen Lösung zu kommen. Zu wünschen ist es jedenfalls, insbesondere den Bürgerinnen und Bürgern im Osten Deutschlands.Danke.
Nun hat die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Vermögensgesetz in seiner geltenden Fassung vom März 1991 hat die Weichen für die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern richtig gestellt.
Bundesjustizminister Kinkel hat das soeben sehr ausführlich und sehr präzise und zutreffend begründet.Bei den damaligen Beratungen konnten praktische Erfahrungen — Herr Gres, Sie haben darauf hingewiesen — nicht vorliegen und deshalb auch nicht berücksichtigt werden. Deshalb fließen diese Erfahrungen und Erkenntnisse in den vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Vermögensgesetzes ein und haben dort Berücksichtigung gefunden.Bei Gesprächen mit Verantwortlichen im Amt zur Regelung offener Vermögensfragen und im Grundbuchamt in Leipzig konnte ich mich davon überzeugen, daß die Behörden entgegen aller Schwarzmalerei besser funktionieren, als das vielleicht manche von ihrem Schreibtisch aus sehen möchten, daß sich auch schon die Verfahrensabläufe eingespielt haben und daß die Schwierigkeiten nicht, wie eben fälschlicherweise behauptet, allein in dem Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung liegen.Die Ursachen für ein noch langsames Tempo bei den Investitionen in den neuen Ländern sind vielmehr sehr vielfältig. Sie müssen deshalb immer wieder deutlich gemacht werden, um diese Situation so differenziert darzustellen, wie sie tatsächlich ist; mit einfachen Forderungen nach Umkehr von Prinzipien ist das nicht zu machen.
Deshalb möchte ich einige von diesen tatsächlichen Umständen noch einmal ausdrücklich erwähnen; man kann sie gar nicht oft genug in Erinnerung rufen. Der Personalbestand in vielen Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen ist noch nicht ausreichend, teilweise bei weitem noch nicht ausreichend. In Leipzig z. B. fehlen noch fast 50 % der angestrebten Endzahl von 103 Mitarbeitern. Einarbeitung, Ausbil-
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Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerdung nehmen natürlich auch gewisse Kapazität in Anspruch.
Deshalb bleibt in der Diskussion auch vollkommen unberücksichtigt, daß z. B. die Rückgabe von beweglichen Vermögensteilen, die Freigabe gesperrter Konten und auch beschlagnahmter Gelder erheblichen Bearbeitungs- und Verwaltungsaufwand verursachen. Das führt aber gerade nicht zu einem Problem bei den Investitionen in den neuen Bundesländern, sondern es ist andere Arbeit, Arbeitsbelastung, die von den Mitarbeitern in diesen Ämtern auch geleistet werden muß.Zweiter Punkt: Die richtige Flurbezeichnung und katastermäßige Zuordnung der Grundstücke sind bei weitem noch nicht vollständig erfolgt; Eintragungen fehlen. Die oft wichtige Vermögenszuordnung durch die zuständigen Oberfinanzdirektionen sind überwiegend noch nicht erfolgt, so daß gerade auch aus diesem Grunde die Stadt Leipzig bisher erst über wenig Grundstücke verfügen kann.Viel Arbeitsaufwand geht mit Detektivarbeit einher. Unpräzisen, ungenauen Anträgen muß nachgegangen werden; das betrifft z. B. das Rote Haus in der Nähe des alten Rathauses am Marktplatz.Obwohl z. B. das Grundbuchamt in Leipzig seit einigen Wochen, ein Jahr nachdem das Vermögensgesetz in Kraft getreten ist, in einem neuen Gebäude über ausgezeichnete Arbeitsbedingungen verfügt und personell relativ gut besetzt ist, liegt, weil es so lange gedauert hat, bis man diese Arbeitsmöglichkeiten hatte, ein Rückstand vor, der abgearbeitet werden muß. Es ist richtig und zwangsläufig: Jeden Tag kommen sehr viele — um die 300 , um die Grundbücher einzusehen; auch das bindet Arbeitskapazität.Es gibt auch das fand ich sehr aufschlußreich und interessant — auch Landesbestimmungen im Datenschutzbereich, die die Weitergabe von Adressen der Antragsteller an Behörden und Investoren zumindest heim Ablauf teilweise erschweren.In der Diskussion zu diesem für viele Menschen in den neuen Bundesländern existentiellen Thema dürfen diese Fakten und Rahmenbedingungen nicht unberücksichtigt bleiben und nicht geleugnet werden. Denn sie machen deutlich, daß eben nicht allein die Rechtsvorschriften zu einem bisher noch nicht so schnellen Tempo hei den Investitionen geführt haben, wie wir alle uns das seit einem Jahr wünschen und wie wir uns das hei den Beratungen im Rechtsausschuß im letzten Jahr erhofft haben.Es besteht Änderungsbedarf bei den rechtlichen Vorschriften — ich habe auch gesagt, warum er einfach bestehen muß —, deren Schwerpunkt neben einigen Regelungen mit technischem Charakter bei einer Verbesserung, Straffung und Zusammenfassung der Vorfahrtsregelung in einem neuen Investitionsvorranggesetz liegt.Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf sind wir auf dem richtigen Weg. In der jetzigen parlamentarischen Beratung muß an erster Stelle weiter der Versuchstehen, diesen Gesetzentwurf vielleicht noch etwas zu vereinfachen, zu verkürzen.
Er hat 84 Seiten Text und 212 Seiten Begründung; aber schwierige Sachverhalte können nicht auf nur zwei, drei Seiten geregelt werden. Wir werden versuchen, mit einer noch verständlicheren Spracheauch mit kurzen Sätzen — einen Text zu verabschieden, der den Mitarbeitern in den Ämtern und den zuständigen Stellen das nötige Rüstzeug gibt, um damit arbeiten zu können. Das Wichtigste ist: Sie brauchen diese Regelungen ganz schnell. Diese Regelungen dürfen nicht mehr monatelang beraten werden, sondern müssen so schnell wie möglich verabschiedet werden.
Ich darf hier noch kurz einige Vorschriften des geltenden Vermögensgesetzes nennen, bei denen eine Überprüfung wichtig und möglich ist. Das betrifft zum einen — ich habe das schon zu Anfang als ein Kriterium erwähnt — die Rückgabeansprüche der anmeldenden Alteigentümer; diese Rückgabeansprüche müssen präzise sein, man muß die Alteigentümer dazu verpflichten, sie innerhalb kürzester Zeit zu stellen. Es muß eine Befristung erfolgen, bis wann die Rückgabeanträge nur noch gestellt werden sollten; Ende 1992 ist dafür bestimmt der richtige Zeitpunkt. Ich hoffe, daß dieser Gesetzentwurf vor der Sommerpause verabschiedet sein wird.Beim Handel mit Restitionsansprüchen muß man Mißbrauch und Zweckentfremdung entgegenwirken. Die notarielle Beurkundung der Abtretung von Ansprüchen ist eine wichtige Klarstellung. Ob es darüber hinaus noch Möglichkeiten gibt, wird auch die ausführliche Beratung im Rechtsausschuß zeigen.Die Zusammenfassung und Verbesserung der Vorfahrtsregelung und ihre Straffung im Investitionsvorranggesesetz begrüße ich ausdrücklich. Es reicht dann auch nicht aus, daß der Alteigentümer allein mit einer pauschalen Aussage, er wolle dasselbe Konzept wie der Investor verwirklichen, auch wenn er es vielleicht gar nicht richtig kennt, die Investitionsentscheidung hinauszögern oder verhindern kann. Die Fristen werden natürlich verlängert; das ist richtig. Wir reagieren auf die Situation, in der wir uns befinden, und verlängern die Fristen bis Ende 1995.Es sind Maßnahmen zum Schutz von Eigenheimbesitzern vorgesehen; auch dieses sogenannte Moratorium gilt mindestens bis 1995. Auch das halte ich für ein ganz wichtiges Zeichen der Beruhigung; wir nehmen damit von einem Großteil der Bevölkerung Unruhe weg. Das ist genau das Richtige, und damit setzen wir auch ein Zeichen.
Die Stichtagsregelung in § 4 Abs. 2 Vermögensgesetz, die schon in allen Debattenbeiträgen eine Rolle spielte, muß nicht entfallen. Wir werden in den Beratungen prüfen und überlegen, ob eine Härtefall-
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Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerklausel etwas bringen kann. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Erweiterung auf den Zeitpunkt des Anbahnens der Kaufverhandlungen vor dem 18. Oktober ist richtig, ist notwendig. Ich habe mich davon überzeugen können, daß man es teilweise — auch wenn es nicht in voller Übereinstimmung mit der Gesetzesformulierung steht — heute schon so praktiziert.Meiner Meinung nach kann nur ein Fazit gezogen werden: Die Umkehrung des Grundsatzes „Rückgabe vor Entschädigung" würde zum Stillstand der Entscheidungen führen und zum Chaos in den Behörden. Das kann wohl wirklich niemand wollen.
— Ich habe dargelegt, weshalb das einfach dazu führen muß. Wir haben jetzt vorgegebene Regelungen, nach denen verfahren wird, die die Mitarbeiter inzwischen gelernt haben, mit denen sie zum großen Teil umgehen können.
— Nein, das Hauptargument habe ich zu Anfang erwähnt: weil die Weichen richtig gestellt worden sind, um die richtigen Grundlagen für eine Ordnung der Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern zu schaffen. Ich glaube, die überzeugenden Argumente für die Bedeutung des Eigentums und für die Grundlage sind heute hier zur Sprache gekommen. Daß ich dahinterstehe, das ist selbstverständlich. Das habe ich im März 1991 hier schon mehrmals ganz deutlich zum Ausdruck gebracht.
Ich begrüße — und ich finde das gut in diesem Zusammenhang — auch die Bereitschaft vieler Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen, daß sie ihre Arbeit dadurch versuchen „zu privatisieren", daß sie sich verstärkt auch in die Rolle des Vermittlers begeben und versuchen, zu einer einvernehmlichen Regelung zwischen Alteigentümer und Investor zu kommen. Dies entlastet die Behörden, das ist etwas, was wir fördern wollen, was der richtige Ansatz ist. Ich glaube, man sollte die Behörden ermuntern, auf diesem Weg weiterzumachen. Sie brauchen positive Zeichen, sie bekommen sie mit diesem Gesetzentwurf.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/2480, 12/2228 und 12/2358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Eckart Kuhlwein, Doris Odendahl, Hans Gottfried Bernrath, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes
— Drucksache 12/2125 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dazu gibt es offensichtlich keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Eckart Kuhlwein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heute vorgelegten Novelle zum Hochschulrahmengesetz will die SPD-Fraktion Berufserfahrenen ohne Hochschulreife die Möglichkeit schaffen, zum Studium zugelassen zu werden. Das hat eine lange Vorgeschichte. In seinen 23 Thesen zur Hochschulreform hat der Deutsche Gewerkschaftsbund bereits 1973 verbesserte Möglichkeiten des Hochschulzugangs für Berufstätige ohne Abitur eingefordert. Er hielt Skeptikern, die damals nicht glauben wollten, daß Berufstätige ein Studium schaffen können, entgegen — ich zitiere —: „Die Qualifikation zum Studium erweist sich im Studium. "Die Bildungspolitik folgte den Forderungen der Arbeitnehmerorganisationen und vieler Bildungswissenschaftler nur zögerlich. Bis heute ist es nur in einigen Bundesländern möglich, ohne Abitur oder Fachhochschulreife, aber mit einem Abschluß im dualen System und anschließender Weiterqualifikation und Berufserfahrung ein Studium an einer Hochschule aufzunehmen. Dabei gibt es, wie auch der Zentralverband des Handwerks festgestellt hat, ein deutliches Nord-Süd-Gefälle. Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair hat noch in diesen Tagen öffentlich erklärt, die Anforderungen an Techniker oder Meister wichen doch von denen eines Studiums erheblich ab, weshalb er vor überforderten Studienabbrechern warnen zu müssen glaubte. Nun gibt es Studienabbrecher, Frau Kollegin Eichhorn, natürlich auch unter solchen, die das Abitur gemacht haben; sogar unter solchen, die das Abitur in Bayern gemacht haben.
Es ist offenbar nicht so einfach, aus der in Sonntagsreden immer wieder beschworenen Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung auch politische Konsequenzen zu ziehen. Wenn dieses Bekenntnis nur als Appell an die Gesellschaft gedacht ist, doch den Blaumann nicht geringzuschätzen, dann kann ich das nachvollziehen, aber niemand kann sich dafür etwas kaufen. Erst wenn die Gleichwertigkeit faktische Bedeutung im Sinne gleicher Zugangs- und Aufstiegsmöglichkeiten im Bildungssystem erhält, trägt sie zur Verbesserung der Chancengleichheit,
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Eckart Kuhlweinaber auch zur Öffnung und Flexibilisierung des Bildungssystems wie des Arbeitsmarktes bei.Wir Sozialdemokraten freuen uns, daß diese Überlegungen inzwischen von vielen gesellschaftlichen Kräften geteilt werden, auch und gerade aus dem Arbeitgeberlager, wo die Hochschulzulassung über den Beruf als eine Möglichkeit gesehen wird, mittlere Schulabschlüsse und eine daran anschließende Ausbildung im dualen System nicht mehr als Sackgasse im Bildungssystem erscheinen zu lassen und damit wieder attraktiver zu machen.Diese mehr pragmatische Argumentation wird ergänzt durch die selbstbewußte Feststellung, daß die modernisierte Berufsausbildung im dualen System, wo sie am beruflichen Gegenstand die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Kreativität, Sozialkompetenz und Systemdenken einbezieht, mindestens so gut auf ein wissenschaftliches Studium vorbereitet wie die herkömmliche Sekundarstufe II am Gymnasium.Das ist richtig und gilt dann erst recht, wenn es sich um erwachsene Menschen handelt, die sich nach der Lehre auch noch beruflich weiterqualifiziert haben. Ich habe wenig Verständnis für akademisch ausgebildete Minister, die ständig in den Sonntagsreden die Vorzüge des dualen Systems preisen und die dafür die Hauptschule als Zubringer gegen das Bildungsbewußtsein der meisten Eltern verhätscheln und pflegen, die aber gleichzeitig den Bereich des Bildungssystems für engagierte Aufsteiger verschließen wollen, der in der Gesellschaft noch immer die besten sozialen Positionen sichert.Ich habe auch wenig Verständnis für diejenigen, die noch immer glauben, das herkömmliche Gymnasium sei die einzige Bildungseinrichtung, die junge Menschen zur Reife führen und die die Fähigkeit zu so etwas Geheimnisvollem wie wissenschaftliches Arbeiten vermitteln könnte. Manchmal schimmern da Statusdenken und Angst vor Wettbewerb durch.Ich halte auch wenig von Hochschullehrern, die sich gestört fühlen, wenn die Zahl der Studierenden zunimmt, die andere Lebens- und Arbeitswelterfahrungen mitbringen als die Abiturienten und deshalb dann gelegentlich kritisch nach Sinn und Praxisbezug mancher Hochschullehre fragen könnten.Die SPD-Fraktion will mit der Novelle zum Hochschulrahmengesetz, die wir heute in erster Lesung behandeln, den bundeseinheitlichen Rahmen für die Gleichberechtigung von allgemeiner und beruflicher Bildung im Bildungssystem schaffen. Der Bundesbildungsminister hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das HRG den Zugang zum Studium über die berufliche Bildung nicht ausschließe. Die Konsequenz des Bundesbildungsministers jedoch, aus diesem Grund auf eine Regelung im HRG zu verzichten, halten wir für falsch. Wer den Hochschulzugang 16 verschiedenen Landesgesetzen überlassen will, fördert die Uneinheitlichkeit der Lebensverhältnisse und verabschiedet sich aus der Bundeskompetenz für die Rahmengesetzgebung. Das Hochschulrahmengesetz mag ja in manchen anderen Bereichen eine zu starke Regelungsdichte aufweisen, aber der Hochschulzugang gehört unbezweifelbar zu den Positionen, die imInteresse der Mobilität der Studierenden in einem gemeinsamen deutschen Hochschulsystem einer einheitlichen Regelung bedürfen.Der Bundesbildungsminister sollte sich wenigstens die bunte Mischung von Kriterien und Verfahren ansehen, die heute in den Ländern gelten, die Berufstätigen den Zugang zum Studium bereits erleichtert haben, bevor er in diesem Bereich endgültig auf seine Regelungskompetenz verzichtet. Ich will z. B. die Hansestadt Hamburg gar nicht dafür tadeln, daß sie ihr Angebot für den Hochschulzugang für Berufstätige ohne Abitur auf Landeskinder — oder besser: Landeserwachsene — und Mitarbeiter Hamburger Firmen beschränkt. Aber mit einheitlichen Lebensverhältnissen hat eine solche Regelung in einem Landeshochschulgesetz sicherlich wenig zu tun.Ich baue auch nicht auf die Bereitschaft der Kultusministerkonferenz, eine gemeinsame Lösung zu finden. Der Präsident der KMK, der saarländische Wissenschaftsminister Dieter Breitenbach, hat zwar im Januar angekündigt, mehr berufliche Bildungsgänge sollten künftig auch zur Studienberechtigung führen. Allein, schon diese Formulierung erlaubt allerhöchstens einen Minimalkonsens. Was Herr Zehetmair dazu gesagt hat, habe ich schon vorhin mitgeteilt. Eine wirkliche Gleichberechtigung von beruflicher und allgemeiner Bildung ohne eine Fülle neuer und unterschiedlicher Bedingungen in einzelnen Landesgesetzen dürfte in der KMK niemals einstimmig angenommen werden.Lassen Sie mich noch einen Aspekt erwähnen. Es gibt in den neuen Ländern viele erwachsene Menschen, denen aus politischen Gründen der Zugang zur Hochschule verweigert worden ist. Ich vermag nicht einzusehen, warum wir von diesen erwachsenen Menschen verlangen sollen, daß sie sich noch der schwierigen Prozedur des Nachholens des Abiturs unterwerfen, bevor sie die Bildungschancen bekommen, die andere aus vergleichbaren Jahrgängen im Westen gehabt haben.
Auch dies scheint mir ein sehr wichtiger Aspekt für eine bundeseinheitliche Regelung zu sein, weil nicht sichergestellt ist, daß in allen Landeshochschulgesetzen der neuen Länder eine entsprechende Regelung enthalten ist.Lassen Sie mich am Schluß noch zwei Einwände aus der Diskussion der letzten Monate aufnehmen: die Sorge um den Bestand des zweiten Bildungsweges und die Sorge vor einem zusätzlichen Ansturm auf die ohnehin überfüllten Hochschulen.Der zweite Bildungsweg wird durch unsere HRG-Regelung nicht überflüssig. Es wird immer noch erwachsene Menschen geben, die allgemeine Bildung im Sinne der Sekundarstufe II nachholen wollen. Uns geht es darum, daß zu allen beruflichen Kenntnissen nicht auch noch der Abiturstoff gepaukt werden muß, bevor ein Berufstätiger zur Hochschule zugelassen wird.Der zusätzliche Ansturm auf die Hochschulen wird sich in Grenzen halten, weil Erwachsene ihren Beruf unter Verzicht auf den gewohnten LebensstandardEckart Kuhlweinnicht leicht an den Nagel hängen werden. Das werden nur einige besonders Engagierte tun. Aus den Erfahrungen etwa mit den Sonderreifeprüfungen in Niedersachsen wissen wir, daß die auch selbstbewußt und abschlußorientiert erfolgreich studieren. Wir sollten als Gesellschaft solches Engagement fördern, wo wir können.Die Regelung, die wir im Hochschulrahmengesetz vorschlagen, entspricht den Anforderungen eines modernen demokratischen und offenen Bildungssystems. Wir sind bereit, über die Einzelheiten in den Ausschüssen zu diskutieren. Wir erhoffen uns am Ende die Zustimmung auch der Koalition zu unserem Vorhaben. Bekenntnisse draußen haben wir genügend gehört. Als Bundesgesetzgeber sollten wir endlich das tun, wozu wir befugt sind und was wir können.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Alois Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal muß ich meiner Freude Ausdruck geben. Die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, die den Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes vorgelegt haben, bewegen sich auf gemeinsamem Terrain mit uns von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, und zwar in einem dreifachen Sinne: erstens im Anliegen, die Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung deutlich zu machen; zweitens in der Sorge, daß die Berufsausbildung bei jungen Leuten an Attraktivität verlieren könnte, mit der Folge des Auseinanderdriftens von Bildungs- und Beschäftigungssystemen; drittens in dem Gedanken, die Hochschule deshalb für Absolventen beruflicher Bildungsgänge zu öffnen, um Berufserfahrung und Lebenserfahrung auch stärker in akademische Berufe einfließen lassen.Es gilt heute als selbstverständlich, daß junge Menschen, die das Abitur gemacht haben, auch eine Lehre absolvieren können. Beweglichkeit in Bildungsentscheidungen sollte natürlich auch umgekehrt möglich sein: daß derjenige, der erst den Hauptschulabschluß oder den mittleren Abschluß erworben hat, nach Erlangung und Ausübung eines Berufes auch einmal den Weg zur Hochschule nimmt. Ich denke, Ihren Antrag so richtig zu interpretieren, und hege keineswegs den finsteren Verdacht, Sie wollten nun auch noch den letzten Facharbeiter zur Hochschule treiben.Auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft votieren für mehr Durchlässigkeit — nicht um Meister und Gesellen zu verlieren, sondern um die Sorge von Eltern und Schülern vor einer Bildungssackgasse zu nehmen.
Nach diesem hohen Lied der Gemeinsamkeit darf ich nun aber ebenso ehrlich einige Fragen stellen, die wir im Ausschuß dann vertiefen müssen. Erstens.Brauchen wir wirklich eine rahmenrechtliche Regelung des Bundes für diese Materie, oder ist nicht vielmehr hier genau der Fall gegeben, in dem die Konkurrenz der Länder zu Ideenreichtum und Versuchsvielfalt führt, die bestmögliche Resultate erwarten hißt? Die geltende Hochschulrahmengesetzgebung steht — das haben Sie erwähnt, Herr Kollege Kuhlwein — nämlich der Öffnung für beruflich Qualifizierte gar nicht entgegen. Der Sorge um die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse könnte man an sich auch durch einen Beschluß der Kultusministerkonferenz Rechnung tragen.
Zweitens. Würde der vorgelegte Entwurf nicht Regelungen einengen, die bereits existieren oder sogar weiter gehen? Früher gab es z. B. einmal die Regelung, daß ein Hauptschüler, der mit zwei Jahren Berufsfachschule einen mittleren Abschluß erworben hatte, zusammen mit seiner abgeschlossenen Ausbildung nach zwei Vorsemestern an Fachhochschulen studieren konnte. Inzwischen sind verschiedene Formen beruflicher Vollzeitschulen und Kollegs an die Stelle dieser an sich hervorragenden Einrichtung getreten.Der Vorteil ist hier natürlich, daß sich nach Absolvierung dieser Formen, die nicht nur einfallslos Abschlüsse nachholen, der Absolvent seiner Studierfähigkeit sicher sein konnte und sie nicht erst in mehreren Probesemestern mit hohem Risiko überprüfen lassen mußte.Damit wäre ich bei der dritten Frage: Schafft der Entwurf nicht möglicherweise Unsicherheitsräume? Zwei Jahre „für die Katz" studiert, das ware schon sehr ärgerlich.
Der eigentliche Sinn von Prüfungen liegt ja nicht darin — obwohl es merkwürdigerweise in der Bildungsliteratur ständig so beschrieben wird —, zu selektieren, sondern darin, in einer demokratischen Gesellschaft für den Absolventen durchschaubar zu machen, was er mit dem Gelernten anfangen kann.
So halte ich es für eine ausgezeichnete Sache, daß in mehreren Ländern, vor allem in Bayern und Baden-Württemberg, der Gesellen- und Facharbeiterbrief bei Erreichung einer bestimmten Qualität und eines erweiterten Fächerangebotes zum mittleren Abschluß führt. Ich denke auch, daß man neben den existierenden Ergänzungsangeboten für Meister noch umweglosere Angebote schaffen könnte, um sicherzustellen, daß die Bereiche, die für die Studierfähigkeit möglicherweise fehlen, ergänzt werden können, also vertiefter Deutschunterricht, Fremdsprachenkenntnisse und Mathematik.Damit bin ich aber abschließend beim Anliegen — wohin auch immer die Beratungen im Ausschuß führen werden —, die angesprochene Thematik im Gesamtzusammenhang weiter im Auge zu behalten. Dazu folgende Fagen: Erstens. Müssen wir 28 Jahre nach Pichts Bildungskatastrophenaufsatz nicht Oberlegungen anstellen, wie Begabungsreserven auch im
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Alois Graf von Waldburg-Zeilberuflichen Bereich in Zukunft ausgeschöpft werden können?Zweitens. Heißt Gleichwertigkeit für berufliche Bildungswege schaffen nicht auch, auf Hochschulbildung ausgerichtete Wege nicht unzulässig zu privilegieren?Drittens. Sollte in beruflichen Bildungsgängen die Ausbildungs- und die Begabtenförderung nicht gleichwertiger ausgestaltet werden?Viertens. Heißt unser Anliegen ernst nehmen nicht auch, in Wirtschaft und Politik flexiblere Regelungen für berufliche Eingruppierungen und Laufbahnregelungen zu finden, um unsere immer geschlossenere „Abschlußgesellschaft" wieder in Richtung auf eine Leistungsgesellschaft zu öffnen?
Fünftens. Können die Möglichkeiten beruflicher Bildung nicht auch von der Weiterbildung her stärker verdeutlicht werden?Abschließend: Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Bildungswege endet schon heute nicht in Sackgassen. Dies muß aber in Beratung und Öffentlichkeit deutlicher werden. Auch neue Wege wie die vorgeschlagenen werden wir gemeinsam diskutieren, um hoffentlich die besten zu finden.Ich danke Ihnen.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren, meine Damen! Es ist eine wichtige bildungspolitische Zielsetzung der F.D.P., die berufliche Bildung zu einem gleichwertigen Teil des Bildungswesens auszubauen. Diese erhält, vor allem vor dem Hintergrund des zunehmenden Fachkräftemangels, neue Aktualität. Nach einer langjährigen Diskussion um die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung müssen jetzt endlich tragfähige Konzepte zur Realisierung dieser Forderung erarbeitet werden. Dazu gehört aus unserer Sicht auch die Möglichkeit des Hochschulzugangs über eine qualifizierte duale Berufsausbildung. Hier liegt der Schlüssel zur dauerhaften Stärkung der dualen Ausbildung in den 90er Jahren.
Der Gesetzentwurf der SPD behandelt also ein wichtiges Problem. Doch auch schon das geltende Hochschulrahmengesetz steht der Öffnung der Hochschulen für beruflich Qualifizierte nicht entgegen, Herr Kuhlwein.
Dafür brauchen wir keine schnelle Novellierung. Die F.D.P. bejaht also das Grundanliegen der SPD, lehnt aber die SPD-Lösung in dieser Form ab.
Gegen das Regelungsmodell „Probestudium" der SPD-Bundestagsfraktion bestehen von seiten der F.D.P. folgende Bedenken: Erstens. Die Regelung des Gesetzentwurfes ist auf Meister und ihnen vergleichbare Personen beschränkt. Andere beruflich Qualifizierte werden in dem vorgesehenen neuen Gesetzestext nicht erwähnt. Beruflich Qualifizierte sollen ohne Fortbildungsabschluß bzw. bei nicht ausreichend langer Berufstätigkeit auf Grund einer besonderen Eingangsprüfung zum Probestudium zugelassen werden. Keine der bestehenden Landesregelungen — es gibt 17 Regelungen in zehn Bundesländern — sieht eine derartige Doppelhürde vor. Es ist auch nicht ersichtlich, wieso Studieninteressierte, die eine besondere Eingangsprüfung erfolgreich absolviert haben, danach doch noch zu einem Probestudium zugelassen werden sollen. Ferner bleibt unklar, inwiefern eine Eingangsprüfung ein Äquivalent etwa zum Eignungsfaktor „Berufspraxis/Ersatzzeiten" sein kann.
Zweitens. Ebenfalls von zweifelhafter Attraktivität für im Beruf stehende junge Menschen dürfte die viersemestrige Unsicherheit sein, die sich mit einem Probestudium ohne vorherige definitive Entscheidung über die Hochschulzulassung verbindet. Andererseits ergibt sich aus dem Gesetzentwurf nicht, nach welchen Kriterien festgestellt werden soll, ob die Studienanforderungen erfüllt und die Voraussetzungen für die endgültige Zulassung gegeben sind.
Drittens. Der Gesetzentwurf eröffnet den Zugang nicht nur zu allen Studienfächern, sondern nach freier Wahl des beruflich Qualifizierten auch zu jeder Art von Hochschule.
Die bestehenden Landesregelungen sehen demgegenüber vielfach Begrenzungen auf eine fachgebundene Hochschulreife vor, die sich meist nur auf Fachhochschulstudiengänge bezieht.
Viertens. Die bestehenden Landesregelungen sehen zum Teil Zugangsmöglichkeiten für Meister und entsprechend Qualifizierte ohne Aufnahmeprüfung und ohne Probestudium vor. Der Gesetzentwurf brächte demgegenüber eine eindeutige Verschlechterung, die unter Umständen in keiner Weise gerechtfertigt wäre.
Die F.D.P. fordert statt dessen: Erstens. Die Förderung besonders Begabter in der beruflichen Bildung muß verstärkt ausgebaut werden — mehr als in den Haushalten 1991 und 1992 vorgesehen ist, obwohl da der richtige Anfang gemacht wurde —, so wie dies schon für Schüler und Studenten seit langem selbstverständlich ist.
Zweitens. Regelungen, die einen fachgebundenen Zugang zur Hochschule oder Fachhochschule auch für qualifizierte Absolventen beruflicher Ausbildungsgänge eröffnen, sind zu formulieren. Damit sollen nicht weitere Personen zu einem Studium veranlaßt werden, sondern die relativ frühe Entschei-
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Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
dung für eine berufliche Ausbildung erleichtert und ihr der Charakter eines „Wegs ohne Wiederkehr" genommen werden. Das ist besonders wichtig für Eltern, die ja die Schullaufbahnentscheidung ihrer Kinder treffen.
Drittens. Die mit der achten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz stark eingeschränkte Förderung von Fällen spezialisierter Weiterbildung muß wieder verbessert werden. Ausbildungsförderung darf es nicht nur für Studenten, Erhöhung nicht nur für BAföG geben. Die F.D.P. fordert deshalb für die anstehende zehnte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz die Wiedereinführung des Rechtsanspruchs auf Förderung von Meisterlehrgängen, eine verbesserte Förderung der Lehrgänge und die Gewährung des Unterhaltsgeldes als Teildarlehen analog der im BAföG getroffenen Regelung.
Fazit, meine Herren, meine Damen: Nach Auffassung der F.D.P. kann der Hochschulbereich nur dadurch entlastet werden, daß mit einem abgestimmten Maßnahmenbündel sowohl die Situation an den Hochschulen als auch in der beruflichen Bildung drastisch verbessert wird. Neben Bund und Ländern muß vor allem die Wirtschaft in die Pflicht genommen werden, die berufliche Bildung durch bessere Einkommensmöglichkeiten und Karrierechancen aufzuwerten. Hier muß die Gleichwertigkeit umgesetzt werden. Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sollten nicht nur reden, sondern wirklich handeln, d. h. hier ändern.
Sie sollten Vorreiterrollen z. B. für den öffentlichen Dienst spielen; denn gerade im öffentlichen Dienst, dem größten Arbeitgeber, sollten Hürden abgebaut werden. Das Laufbahnrecht, das Nichtakademikern die Einstufung in den höheren Dienst versagt, ist 1992 kontraproduktiv.
Angesichts der unterschiedlichen 17 Regelungen in zehn Bundesländern, die den Zugang zu einem Hochschulstudium aufgrund einer beruflichen Qualifikation geschaffen haben — manche erst in jüngster Zeit , ist es derzeit nicht gerechtfertigt, das von der SPD präferierte Modell „Probestudium" jetzt schon bundeseinheitlich vorzuschreiben. Wir wollen alle Erfahrungen auswerten — interessant sind im übrigen auch die europäischen Erfahrungen, nämlich aus Frankreich, Großbritannien, Schweden und den Niederlanden — und erst dann handeln.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir gewünscht, daß der Beginn der parlamentarischen Debatte über die anstehende Novellierung des HRG einen grundsätzlicheren und umfassenderen Gesetzentwurf zur Demokratisierung und Öffnung derHochschule als den vorliegenden zur Grundlage gehabt hätte.Substanz dafür hat es in der sich zuspitzenden Diskussion an den westdeutschen Hochschulen gegeben, in den Bemühungen um eine demokratische Erneuerung der ostdeutschen Hochschulen im Herbst 1989 und 1990, im Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Bildung 2000" und letztendlich auch in der Anhörung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft im Dezember vergangenen Jahres.Die deutschen Hochschulen werden, wenn sie so bleiben, wie sie sind, wohl nur sehr schwer den ihnen möglichen Beitrag zur Zukunftssicherung und Zukunftsgestaltung leisten können. Daran hindert sie auch manches des gegenwärtigen HRG; einerseits mit einer Überregelung, andererseits mit vielen weißen Flecken. Als Beispiele für zentralistische Überregelung möchte ich nur § 38, also die Zusammensetzung und das Stimmrecht in Kollegialorganen, in Ausschüssen und in sonstigen Gremien, oder die teilweise sehr engen Vorschriften im Kapitel „Organisation und Verwaltung der Hochschule" nennen.Weiße Flecken und Nachholbedarf gibt es in Fragen der Mitbestimmung der Studierenden sowie der wissenschaftlichen und der sonstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hochschulen, in bezug auf die Frauenförderung, in bezug auf die ökologischen und multikulturellen Aufgaben der Hochschulen und bei der Stärkung ihrer Autonomie.Auch die Situation an den ostdeutschen Hochschulen in Verbindung mit § 72 des Hochschulrahmengesetzes, der vorschreibt, daß bis 3. Oktober 1993 in den neuen Bundesländern HRG-konforme Landeshochschulgesetze zu erlassen sind, verweist auf die Dringlichkeit, die Novellierung des HRG nicht von einzelnen Fragen, sondern grundsätzlich und konzeptionell von einer Gesamtvorstellung künftiger Hochschulentwicklung her anzugehen.In Brandenburg wurde bekanntlich ein HRG-konformes neues Hochschulgesetz erlassen. Dagegen wird in Sachsen und Sachsen-Anhalt mit sogenannten Hochschulerneuerungsgesetzen und in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern mit Vorschaltgesetzen die Freiheit vom HRG für eine HRG-widrige personelle Säuberung mißbraucht. Sachsen tut sich dabei besonders hervor. In den 131 Paragraphen sind 71 Ermächtigungen für den Wissenschaftsminister festgeschrieben. Mir fällt es sehr schwer, darin eine demokratische Erneuerung zu sehen.In bezug auf die genannten vier neuen Bundesländer wäre also dringend eine Ausschöpfung der rahmenrechtlichen Kompetenz des Bundes angezeigt, um die personalrechtlichen Standards des HRG auch dort zu gewährleisten. In vielen Fällen ist es leider schon zu spät und kann es nur noch um Schadensbegrenzung gehen.Das im Gesetzentwurf vorgesehene Offenhalten der Hochschule und ihre rahmenrechtliche fixierte Öffnung für beruflich Qualifizierte ohne Abitur ist bestimmt eine wichtige Frage, aber natürlich nur eine unter vielen wichtigen, die zu lösen sind.
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Dr. Dietmar KellerAus den genannten Gründen halte ich die isolierte und aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöste Behandlung nicht gerade für ein glückliches Herangehen an die Novellierung. In der Sache selbst habe ich keine Einwände und würde nach entsprechender Überarbeitung dem Gesetzentwurf zustimmen.Danke.
Nunmehr erhält unsere Kollegin Maria Eichhorn das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ging die Devise um, der Mensch beginne erst beim Abitur oder Diplom. „Abitur für alle" hieß die Forderung. Hauptschule, Realschule und betriebliche Ausbildung wurden planmäßig heruntergeredet, geistige Begabung in den Himmel gehoben und praktische eher belächelt.Heute hat nahezu jeder zweite Abitur. Resultate sind Studentenflut und Facharbeitermangel. Dem deutschen Handwerk fehlen 350 000 Facharbeiter, während 85 909 Männer und Frauen mit Hochschulabschluß bereits arbeitslos sind.
— Ich habe nichts gegen das Studium, aber das Ganze sollte das richtige Verhältnis haben.
Man muß das eine haben. Aber natürlich sind die Lehrlinge genauso wichtig. Wir können nicht das eine ohne das andere; denn die deutsche Wirtschaft braucht beides. Sie darf nicht zu einem griechischen Torso verkommen, nämlich zu einem Kopf, aber ohne Arme. Deswegen ist eine Umschichtung erforderlich. Wir brauchen mehr Lehrlinge und weniger Studenten.Der vorliegende SPD-Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ist meiner Meinung nach kein brauchbarer Vorschlag zur Lösung des Problems.
Gegen diesen Vorschlag gibt es zum einen rechtliche Bedenken. Der Ausweis einer Quote für Probestudenten in den zulassungsbeschränkten Fächern würde eine Benachteiligung der Studenten mit allgemeiner Hochschulreife bedeuten und ist somit wahrscheinlich nicht mit Art. 12 des Grundgesetzes vereinbar.
Gegen diesen Vorschlag gibt es auch bildungspolitische Bedenken, weil die beiden Bildungsgänge — auf der einen Seite Grundschule und Gymnasium und auf der anderen Seite Hauptschule, Lehre und Meisterprüfung — von ihrem theoretischen Gehalt her nicht gleichwertig sind. Das sagt natürlich über den tatsächlichen Wert nichts aus, kann aber nicht dazu führen, den praktisch Ausgebildeten generell die allgemeine Hochschulreife zu verleihen.Damit, meine ich, tut man auch dem Praktiker keinen Gefallen. Er sollte eine Zugangsberechtigung in seinem Fach haben. Zum Beispiel der Elektriker sollte Elektroingenieur werden können. Aber es ist nicht sinnvoll, daß er eine völlig neue Ausbildung beginnt.
Der Änderungsvorschlag sieht ein viersemestriges Probestudium mit der Begründung vor, daß jeder beruflich qualifizierte Erwachsene die Anforderungen eines Studiums selbst richtig beurteilen kann. Angesichts der langen Studienzeiten schon bei Abiturienten und des Faktums, daß jeder Student im Durchschnitt eineinhalb Semester bei einem Studienfachwechsel verliert — oftmals, weil er die Studieninhalte falsch einschätzt —, sind erhebliche Zweifel an der im SPD-Entwurf angenommenen Fähigkeit zur Selbsteinschätzung angebracht.Ich meine, es macht keinen Sinn, Studenten erst mindestens vier Semester studieren zu lassen, um ihnen dann zu sagen, daß sie für dieses Studium nicht geeignet sind. Ziel der Hochschulpolitik muß es sein, Studenten von Anfang an zu einem Studium hinzuführen, das sie danach auch abschließen und das ihnen Spaß macht.Die generelle Öffnung der Hochschulen, wie die SPD vorschlägt, ist nicht die richtige Lösung, um die berufliche Bildung attraktiver zu machen. Viele Praktiker würden im Vergleich zu bisherigen Landesregelungen schlechter gestellt, da z. B. in Hamburg heute schon weitergehende Bestimmungen erprobt werden, die für Meister und entsprechend Qualifizierte ein Studium ohne Aufnahmeprüfung und Probestudium vorsehen.
Weiterhin ist das Modell Probestudium mit der doppelten Hürde der Eingangsprüfung und viersemestriger Unsicherheit bis zur endgültigen Zulassung unattraktiver, als es die Landesregelungen sind, die nur eine Aufnahmeprüfung vorsehen.Das von Ihnen, Herr Kuhlwein, öfter zitierte Bayern hat heute bereits mit Abstand die besten Möglichkeiten, über den beruflichen Bildungsweg zum Studium zu kommen. Sie haben eben mich angesprochen. Ich selber komme über diesen beruflichen Bildungsweg und weiß, wovon ich rede.
Obwohl sich das Projekt „Praktiker an Fachhochschulen" noch in der Erprobung befindet, sollen in allen Bundesländern sofort gleiche Regelungen für einen allgemeinen Hochschulzugang festgelegt werden. Außerdem erscheint es fraglich, inwieweit wir eine einheitliche Regelung in diesem Bereich überhaupt benötigen.Die betriebliche Berufsausbildung muß wieder den Stellenwert erhalten, den sie im Ausland genießt und der ihr auf Grund der wesentlichen Bedeutung für unsere Wohlstandsgesellschaft zusteht. Die Japaner sprechen nur mit Respekt vom deutschen Meistersystem, und innerhalb der EG gibt es Versuche, Teile
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Maria Eichhornunserer betrieblichen Ausbildung ins eigene System zu integrieren.Am 3. April 1992 stand in der „Welt" — ich zitiere —: „Der deutsche Lehrling ist ... ein Qualitätsartikel — für andere." Damit er dies auch wieder für uns wird, müssen wir erstens verstärkt für Angebote in der beruflichen Fortbildung sorgen, die den Möglichkeiten der Akademiker gleichkommen. Hier sind vor allen Dingen die Betriebe selber gefordert. Wenn die Lehre Aufstieg und gutes Einkommen ermöglicht, kann sie die Konkurrenz mit dem Studium bestehen.Zweitens. Die Begabtenförderung in der beruflichen Bildung ist richtig und muß weiter ausgebaut werden.Drittens. Unser Bildungssystem muß durchlässiger werden — da sind wir uns einig —, aber nicht in der Art und Weise, wie es die SPD heute in ihrem Antrag fordert, sondern über einen direkten Zugang für Meister und Fachschulabsolventen zur Fachhochschule. Qualifizierte Berufstätige sollten nach dem Nachweis ihrer Fähigkeit die Möglichkeiten eines fachgebundenen Studiums erhalten.Dies ist unsere Position, um der beruflichen Bildung wieder einen höheren Stellenwert zu geben. Den Vorschlag der SPD in dieser Form können wir nur ablehnen.
Der nächste Redner ist Kollege Günter Rixe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Steigerung der Attraktivität der beruflichen Ausbildung wird von vielen Experten, von den für die Berufsausbildung Verantwortlichen und auch von fast allen Parteien hier im Hause für notwendig anerkannt. Selbst in dem Entwurf des Berufsbildungsberichtes 1992 wird festgestellt, daß das berufliche duale Ausbildungssystem gegenüber den konkurrierenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II, die ohne Umwege zur Hochschulreife oder zu höherwertigen beruflichen Abschlüssen führen, in den Augen vieler Jugendlicher und ihrer Eltern zunehmend weniger attraktiv ist.Die Zahlen seit 1991 belegen, daß es insgesamt mehr Studierende an den Hochschulen gibt als Jugendliche in der Berufsausbildung. Nun ist es zwar falsch, allein hierauf die Argumentation zu stützen; denn noch immer absolvieren jährlich rund 500 000 Jugendliche ihre Ausbildung; im Gegensatz dazu gibt es 150 000 Studenten. Aber die Gesamtzahl belegt eine Entwicklung, die seit langem absehbar war. Die jungen Leute stimmen mit den Füßen darüber ab, welcher Bildungsweg für ihr Leben und ihr Fortkommen der richtige ist. Abitur und Studium erscheinen Jugendlichen und deren Eltern — ich denke, das muß man immer wieder hervorheben — heute als garantierte Eingangsqualifikation. Das ist die Folge vonfalschen bildungspolitischen Weichenstellungen in der Mitte der achtziger Jahre.
— Ich sagte: Mitte der 80er Jahre! Eine höhere Schulbildung wurde für immer mehr Berufe gefordert; zu Tausenden blieben junge Menschen ohne Ausbildung. Neben dem Auseinanderklaffen der Berufs- und Einkommenschancen für Hochschulabsolventen gegenüber den übrigen Berufen fehlt es auch an der erforderlichen gesellschaftlichen Anerkennung für den Weg über die berufliche Ausbildung.Ich will in diesem Zusammenhang eine Bemerkung des Kollegen Doss aus der Debatte vom 18. März dieses Jahres aufgreifen, der gesagt hat: Die heutigen Entwicklungen haben demgegenüber nichts mit einem „Bazillus" zu tun, den angeblich die sozialliberale Regierung der Ära Brandt/Scheel in die Köpfe der Menschen gesetzt hat. — Es ging darum, Abitur und Studium seien das, was immer gefordert werde. — Nein, meine verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, daß Abitur und Studium auch für die Kinder von Arbeitnehmern, Beamten und Handwerkern möglich wurde, das hat etwas mit der Chancengleichheit und mit gesellschaftlichem Fortschritt zu tun. Für mich ist es ein Bazillus, wenn vor allem Kinder von Reichen und Beamten ihr Abitur machen und studieren können, wie die 13. Sozialerhebung des Studentenwerks jüngst bestätigt hat.Aber ich will dem Kollegen Doss auch in einem anderen Punkt zustimmen. Nach Auffassung der gesamten SPD ist der Handwerksmeister mindestens so wertvoll für die Gesellschaft wie der Philosophiedozent.
— Ich rede hier aber als Sozialdemokrat.Ich füge jedoch hinzu: Der Gesellenbrief, der Meistertitel und die Berufstätigkeit als Facharbeiter sollten nicht das Ende dieser Laufbahn sein. Wenn ich dann akzeptiere, daß die handwerklich und praktisch Berufstätigen gleichwertig und gleich bedeutsam für die Gesellschaft sind, dann muß ich auch dafür sorgen, daß die beiden Ausbildungswege durchlässig werden. Deshalb wollen wir mit unserem Gesetzesantrag den Rahmen dafür schaffen, daß auch Absolventen der beruflichen Ausbildungswege noch Aufstiegs-, Weiterbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten erhalten. Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die diesen Menschen die Chance für ihr persönliches Vorwärtskommen aufzeigen.Gerade für viele junge Menschen ist die Frage nach der beruflichen und der allgemeinen Weiterbildung und der persönlichen Weiterentwicklung angesichts der neuen Anforderungen an die Berufe auf Grund immer modernerer Technologie, der Erfordernisse umweltgerechten Handelns und der Chancen durch den europäischen Markt von hohem Stellenwert. Mit der Einführung derartiger Regelungen des Hochschulzugangs für qualifizierte Berufstätige, wie wir es in unserem Gesetzentwurf fordern, tragen wir ein
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Günter RixeStück dazu bei, daß der berufliche Ausbildungsweg für die jungen Menschen attraktiver wird. Gleichzeitig öffnen wir all denjenigen Begabungen, die sich erst im Laufe der Berufstätigkeit entwickeln, die Chance, sich auch im tertiären Bildungsbereich zu entfalten. Auf diese Weise führt die Durchlässigkeit in den Bildungsbereichen auch zur Förderung von Begabten, worüber wir ja schon lange immer wieder geredet haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir in dieser Debatte immer von Gleichwertigkeit der Bildungswege reden und versuchen, dieser Aussage ein Stück mehr Realität abzugewinnen, dann dürfen wir natürlich nicht neue Benachteiligungen schaffen. Ich meine hier die Benachteiligung von Frauen, die ihre Berufstätigkeit für notwendige Familienarbeit unterbrochen haben. Wir haben in der Begründung des Gesetzentwurfs bezüglich der Zugangsvoraussetzungen darauf hingewiesen: Zuzulassen zum Probestudium sind auch die Personen, die nach Abschluß der Berufsausbildung an Stelle von mehrjähriger Berufstätigkeit entsprechende Ersatzzeiten nachweisen können, etwa für die Erziehung von Kindern oder für die Pflege von Angehörigen. Diese anzuerkennenden Tätigkeiten, die in den allermeisten Fällen von Frauen geleistet werden müssen, müssen Berücksichtigung in diesem Gesetz finden.Vom Bundesbildungsminister war zu lesen, daß er eine Regelung im Hochschulrahmengesetz des Bundes angesichts der Regelungen in den SPD-regierten Ländern für zu früh hält. Mein Kollege Eckart Kuhlwein hat dazu einiges gesagt. Ich möchte dem nur hinzufügen, daß unser Vorschlag zur Einführung eines Probestudiums für Berufstätige im Hochschulrahmengesetz sicherstellen soll, daß in allen 16 Bundesländern der Hochschulzugang eröffnet wird und daß nicht eine abiturgleiche oder abiturähnliche Prüfung vorher erforderlich ist.
Ich meine, es geht darum, daß derjenige, der die Meisterprüfung gemacht hat, aber kein Englisch und Latein kann, jetzt nicht unbedingt Englisch und Latein lernen muß, wenn er irgendein Studium aufnehmen will. Frau Eichhorn, ich gehe davon aus, daß nicht morgen alle möglichen Meister auf die Hochschule rennen. Es sind erwachsene Menschen; sie sind 27, 28, 29 Jahre alt. Denjenigen, die es wünschen, muß diese Möglichkeit auch gegeben werden. Darum geht es!Auch hinsichtlich der Studienmöglichkeit in den Numerus-clausus-Fächern oder in den medizinischen Bereichen sind noch größere Hürden zu überwinden. Hierfür ist ja das Abitur ausdrücklich erforderlich.
Herr Kollege Rixe, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte, Herr Hansen. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Herr Kollege Rixe, da Sie so engagiert für Ihren Gesetzentwurf eintreten, wonach auch anderen als Abiturienten die Möglichkeit eingeräumt werden soll, ein Studium aufzunehmen, und da
Sie, wie Sie soeben betont haben, Gleichrangigkeit herstellen wollen, frage ich Sie: Wie ernst meinen Sie es eigentlich damit, wenn Sie die wenigen — das sei Ihnen zugestanden; ich glaube nämlich auch, daß es gar nicht solche Massen sein werden —, die diesen Schritt aus eigenem Engagement heraus wagen, durch Ihren Gesetzentwurf insofern entmutigen, als Sie ihnen sagen „Das ist nur ein Probestudium; probiert es einmal", also den in Ihrem Gesetzentwurf erhobenen Anspruch auf Gleichrangigkeit selber wieder relativieren?
Herr Kollege Hansen wollte eine Frage stellen; es ist schon ein halber Vortrag geworden, aber bitte, Herr Kollege.
Ich denke, hier ist schon einige Male gesagt worden, daß unser Gesetzentwurf so nicht verstanden werden kann. Wir sprechen zwar von einem Probestudium, aber Frau Funke-Schmitt-Rink hat ja vorhin auch gesagt, daß die Eingangsvoraussetzungen verändert werden müßten. Ich denke, wir haben ja die Möglichkeit, im Ausschuß an jedem Paragraphen unseres Gesetzes noch Änderungen vorzunehmen, Bestimmungen zurückzuziehen oder zu verbessern. Das heißt doch nicht, daß wir Sozialdemokraten nicht bereit wären, gemeinsam — die Gemeinsamkeit ist ja von allen Fraktionen heute festgestellt worden — noch Verbesserungen an diesem Gesetz vorzunehmen. Dieses Probestudium ist von uns erst einmal so in den Gesetzentwurf hineingeschrieben worden.
Herr Kollege Rixe, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein?
Aber sicher.
Herr Kollege Rixe, teilen Sie meine Auffassung, daß auch viele Abiturienten ihr Studium zunächst so angehen, als wäre es ein Probestudium, und daß viele nach dem Probieren dann auch damit aufhören?
Ja, natürlich teile ich diese Auffassung. Wir kennen ja die hohen Abbrecherzahlen gerade an den Universitäten.
Ich habe soeben auf das Medizinstudium Bezug genommen; lassen Sie mich noch einige Sätze dazu sagen. Ich kann schon heute nicht einsehen, warum eine ausgebildete medizinisch-technische Assistentin nach mehreren Berufsjahren ihre Kenntnisse und Erfahrungen nicht für ein Medizinstudium nutzen kann. Vom praktischen Talent her ist sie gegenüber jedem von der Schule ins Studium kommenden Abiturienten im Vorteil. Auch hier zu vernünftigen Regelungen zu kommen halten wir für unabdingbar, wenn wir von Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung und der allgemeinen Bildung reden.
Den Skeptikern in Sachen Studienmöglichkeit für Berufstätige seien es nun die Hochschulrektoren,
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Günter Rixe
der Philologenverband oder auch der Kultusminister aus Bayern sei gesagt: Es wird weder zu einem Ansturm auf die Hochschulen durch die Berufstätigen noch zu utopischen Konstellationen hinsichtlich Berufstätigkeit und Studienwunsch kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Ingenieur oder ein Meister aus einem technischen Beruf morgen auf den Gedanken kommt, ein Medizinstudium aufzunehmen. Darüber sollten wir doch gar nicht erst diskutieren. Das wird nicht so sein. Die Verwurzelung im Berufsleben und im Arbeits- und Familienleben wird viele davon abhalten, den Schritt ins Neue zu wagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch ein Argument benennen, das zeigt, wie dringlich es ist, daß wir zu einer bundeseinheitlichen Regelung kommen müssen. Der Bevölkerung in den neuen Bundesländern sind wir in dieser Frage besonders verpflichtet, denn in der ehemaligen DDR war der Zugang zu den Hochschulen nicht für jedermann möglich. Es gab eine umfassende Bildungsdiskriminierung, die auch diejenigen traf, die gute Schulabschlüsse aufweisen konnten. Es gibt deshalb nach unserer Auffassung in den neuen Bundesländern einen erheblichen Bedarf an Rehabilitation und ein berechtigtes Interesse an Zugangsmöglichkeiten zu Hochschulen seitens derjenigen, die nur eine berufliche Ausbildung absolvieren durften.
Meine Damen und Herren, wir alle stehen in der Verantwortung, Sie von der Koalition in der Regierung, wir in der Opposition. Ich hoffe, wir werden in den nächsten Monaten gemeinsam einen Gesetzentwurf vorlegen, der denen, von denen ich gesprochen habe, hilft.
Danke schön.
Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Gerhard Päselt.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Probleme der Bildung beschäftigen uns nicht zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode im Bundestag. Ganz im Sinne der heute vorliegenden Gesetzesänderung führte der Abgeordnete Dr. Jork am 13. Juni 1991 aus:Das Ansehen der beruflichen Bildung könnte deutlich gefördert werden, wenn die Meisterabschlüsse die Anschlußberechtigung für die Hochschulausbildung darstellten.Er hielt das „im Sinne der Akzeptanz, Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit der beruflichen Bildung für wichtig".Die Möglichkeit einer Ausbildung hat etwas mit der Verteilung von Lebenschancen zu tun. Der gesellschaftliche Stellenwert eines Menschen in Deutschland ist immer noch höher, wenn er einen akademischen Abschluß vorweisen kann. Man müßte einmal beim Sozialprestige ansetzen und einen Bewußtseinswandel herbeiführen. Es ist nicht einzusehen, warumein Handwerksmeister ein geringeres Sozialprestige haben soll
als ein Akademiker.
Wenn ein entsprechender Wandel des gesellschaftlichen Bewußtseins erreicht werden könnte hier spielt sicherlich auch die materielle Anerkennung eine Rolle , hätte das Auswirkungen auf die angestrebte Qualifikation. Mir fiel eine Entscheidung des Bundessozialgerichts von 1977 in die Hände. Dort heißt es: In der tariflichen Einstufung kommt nämlich am zuverlässigsten zum Ausdruck, welchen qualitativen Wert die am Berufsleben teilnehmenden Bevölkerungskreise, d. h. die Tarifpartner, einer bestimmten Berufstätigkeit zumessen.
Damit würde sich die Entwicklung der Studierendenzahlen über einen gesellschaftlichen Prozeß steuern. Jeder, der sich mit diesem Problem beschäftigt, weiß, daß das ein langwieriger Prozeß sein wird. Soviel Zeit, bis sich das Denken verändert hat, haben wir aber nicht. Die vorliegende Gesetzesänderung strebt einen Beitrag zur Lösung des Problems an, ohne daß ich an dieser Stelle eine Wertung vornehmen möchte. Es geht immer wieder um die Gleichwertigkeit von beruflicher und schulischer Bildung. Infolge des ausgereiften Instrumentariums, technische, ökologische und pädagogisch-didaktische Neuerungen in die Berufsausbildung einzubringen, gehört unsere Berufsausbildung zu den modernsten der Welt. Dennoch mangelt es ihr an Attraktivität gegenüber anderen Bildungswegen, weil die Eltern der Auszubildenden von der Annahme ausgehen, daß sie ihren Kindern Lebenschancen verbauen, daß mit der Berufsausbildung und der Weiterbildung im Beruf ein weiteres Vorankommen verbaut wird. Sie gehen davon aus, daß mit dem Abitur mehr anzufangen ist als mit der Berufsausbildung.Das führt dazu, daß 40 bis 50 eines Jahrgangs das Abitur ablegen wollen, und führt zu Studentenzahlen von eineinhalb Millionen, die sich nach Schätzungen — einschließlich der neuen Bundesländer — auf bis zu zwei Millionen steigern könnten. Dem steht ein Mangel an Bewerbungen in der dualen Berufsausbildung gegenüber, der sich in absehbarer Zeit zu einem Facharbeitermangel ausweiten wird. Es kann für den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht gut sein, wenn in diesem Jahr über hunderttausend Lehrstellen unbesetzt bleiben.Den Bildungspolitikern wird Konzeptmangel und Widersprüchlichkeit vorgeworfen. Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist jedoch kein Problem der inhaltlichen Identität, sondern eines der bildungspolitischen Bewertung unterschiedlicher Bildungsgänge.Die Qualität der Berufsausbildung hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Es hat die Vermittlung von Qualifikation und Wissen stattgefunden, die bisher nur den allgemeinen Bildungsabschlüssen
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Dr. Gerhard Päseltzugeschrieben wurden. Für die Vertiefung des beruflichen Wissens und die Erschließung zum Wissensgebiet wurden von Auszubildenden selbständiges Lernen, logisches und abstraktes Denken und systematisches Lernen und Arbeiten verlangt. Das heißt, wesentliche Voraussetzungen für ein erfolgreiches Hochschulstudium sind nicht mehr auf die allgemeinbildenden weiterführenden Schulen beschränkt.Die nur zögernd vorangehenden Gleichstellungsbemühungen waren in der Vergangenheit in der Praxis auf das Nachholen des Abiturs hinausgelaufen. Etwa 4 % der Studienanfänger haben diesen Zugangsweg gewählt. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich zuletzt im März dafür ausgesprochen, daß der zeitraubende Umweg des Nachholens allgemeinbildender Schulabschlüsse nicht akzeptabel ist, sondern eine vernünftige Qualifikationsanforderung festgelegt werden muß. Die Erfahrungen mit beruflich qualifizierten Studenten an den Hochschulen besagen, daß sie ihr Studium keineswegs mit weniger Erfolg absolvieren.
Sie studieren oft durch bessere Studienorganisation zügiger und effizienter.
Man sollte den Zugang zur Hochschule über die berufliche Bildung nicht als berufslenkende Maßnahme betrachten, sondern als Beseitigung von Benachteiligungen.
Die vorliegende Gesetzesänderung erhebt sicher nicht den Anspruch, das Problem lösen zu wollen; aber sie gibt uns die Möglichkeit, daß wir uns im Ausschuß damit beschäftigen und eine auch für die CDU/CSU akzeptable Form finden; denn unser gemeinsames Anliegen ist die Aufwertung der beruflichen Bildung.Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion dürfen wir eine Wertung vornehmen: Wir müssen feststellen, daß die Länder zum Teil schon weitergehende Regelungen besitzen und daß der Entwurf in mancher Hinsicht Inkonsequenzen enthält.Bedenken bestehen hinsichtlich eines Probestudiums von zwei Jahren. Mit der vorgesehenen Art eines zweijährigen Probestudiums wird die Hochschule zum Experimentierfeld gemacht.
Hinzu kommen auch Probleme für denjenigen, der ein Studium aufgenommen hat, wenn er nach zwei Jahren in seinen Beruf zurück muß, obwohl man früher hätte feststellen können und müssen, daß er das Studium nicht schafft. Dies ist aus bildungspolitischer Sicht nicht zu verantworten, da Geld und Studienplätze knapp sind.
Nach Meinung der CDU/CSU sollten Grundvoraussetzungen persönliche und fachliche Qualifikation und ein Auswahlverfahren auf der Basis fachgebundener Leistungskriterien sein. Bei der heutigen Diskussion geht es nicht um die Abwertung des Abiturs, dessen Wert unbestritten ist, sondern um einen anderen Zugang zum Studium. Die Schreckensmeldung „Studium für Maurer" ist irreführend.
Es gibt genügend Maurer, die ein Studium als Bauingenieur erfolgreich abgeschlossen haben und in der Praxis ihren Mann stehen.
Zu den Problemen der neuen Länder darf ich sagen: Sicher durften dort die, die bildungsbenachteiligt waren, auch nicht den Meister machen. In dieser Hinsicht sehe ich das Problem, daß wir dort sicher nicht über die Meisterqualifikation gehen können.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes greift eine alte Forderung der Gewerkschaften auf. Er ist aus meiner Sicht im Kern voll zu unterstützen. — An die Adresse der SPD: Das mit dem Probestudium muß allerdings raus!Er ist nicht nur deshalb zu unterstützen, weil damit ein wichtiges Element eines wirklich demokratischen Gesellschaftslebens realisiert würde, nämlich die Durchlässigkeit der Hochschulen für alle; er ist auch deswegen voll zu unterstützen, weil mit der Zulassung von Männern und Frauen mit beruflicher Ausbildung ohne Abitur zum Hochschulstudium einem wichtigen und in der Zukunft noch wichtiger werdenden Gesichtspunkt der Arbeitsmarkt- und der Technologieentwicklung Rechnung getragen wird. Was wir jetzt und in der Zukunft noch stärker brauchen, sind z. B. Kenntnisse der Bedingungen für die betriebliche Anwendung moderner Technologien. Diese Kenntnisse sind bei bereits Berufstätigen mit beruflicher Ausbildung vorhanden. Diese haben damit eine wichtige Grundlage für die Beherrschung und Anwendung moderner Technologien. Eine stärkere Berücksichtigung dieser Bedingungen in entsprechenden Hochschullehrveranstaltungen — ich sage das als Informatik-Hochschullehrer bewußt — kann im weiteren für die Hochschullehre und auch für die universitäre Forschung sogar ein ausgesprochener Gewinn sein.
Eine Beeinträchtigung des Lehrprozesses und seiner Ergebnisse ist dabei ausgeschlossen, da Studentinnen und Studenten mit beruflicher Ausbildung im Studium nachweisen müssen, wie im übrigen alle Studierenden, daß sie den Anforderungen des Studiums, wie es sich eben entwickelt, gewachsen sind.
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Dr. Ulrich BriefsDarüber hinaus kann eine solche Regelung dazu beitragen, Frauen z. B. nach Jahren der Kindererziehung, wieder einen Einstieg in die qualifizierte Berufswelt zu geben. Das gleiche gilt für viele Opfer des wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandels.Die Arbeitswelt verlangt — gelegentlich allerdings, wie bei der Schichtarbeit, der Nachtarbeit und der Wochenendarbeit, in wenig humanen Formen — nach mehr Flexibilität. Die Durchlässigkeit der Hochschulausbildung für alle, auch und gerade für die, die aus der beruflichen Praxis kommen, entspricht im Grunde dieser Forderung. Das Beharren auf dem Abitur als unabdingbarer Voraussetzung ist dagegen lebens- und zukunftsfeindlicher Strukturkonservatismus, der gelegentlich, so hat man den Eindruck, insbesondere von Leistungsneurotikern hochgehalten wird. Zu Recht lehnen wir, etwa in den Diskussionen der Fachgruppe Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im DGB, diesen Strukturkonservatismus ab.Ein letzter Punkt: Die Bundesrepublik könnte mit diesem Gesetzentwurf — modifiziert, wie ich angedeutet habe —, zugleich dem EG-Memorandum folgend, einen Beitrag zu einer fortschrittlichen Regelung im Europa der Zukunft leisten.Danke sehr.
Meine Damen und Herren, nunmehr erhält der Parlamentarische Staatssekretär Torsten Wolfgramm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich begrüße diese Debatte außerordentlich; denn sie zeigt, daß wir uns hier im Hause und in der Regierung über die Bedeutung der beruflichen Bildung völlig einig sind. Die berufliche Bildung hat nicht den Stellenwert, den sie verdient; sie verdient wirklich einen höheren Stellenwert. Ich meine, daß wir alles dafür tun müssen — und auch dafür tun werden —, um die Situation zu verbessern.Ich erinnere daran: Professor Ortleb hat zum erstenmal Stipendien für den Bereich der beruflichen Bildung, für in der beruflichen Bildung besonders Qualifizierte, vergeben. Das haben wir früher immer nur für Studenten gehabt. Damit steht die Inanspruchnahme eines Stipendiums erstmals auch jenen offen, die eine berufliche Bildung absolvieren. Wir wollen damit Eltern, Lehrern und natürlich auch denjenigen, die letztlich für sich selbst entscheiden müssen, also den Schülern, zeigen, daß berufliche Bildung „gleichwertiger" werden muß.Dazu gehört aber natürlich auch die Änderung der Tarifverträge, und dazu gehört die Änderung der Stellenpläne im öffentlichen Dienst.
Denn es kann ja nicht angehen, daß jemand, der einequalifizierte berufliche Ausbildung absolviert hat,nach den Kriterien des öffentlichen Dienstes schlechter eingestuft wird als derjenige, der eine Allgemeinbildung absolviert hat.
— Darum müssen wir uns alle bemühen. Wenn ich es recht sehe — ohne daß ich das jetzt ex cathedra sagen will —, hat die Opposition vielleicht einen besseren Zugang zu den Gewerkschaften und könnte damit im Bereich der beruflichen Bildung vielleicht zusätzlich Gutes bewirken. — Also, die Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und Allgemeinbildung ist für die Bundesregierung ein besonders Ziel.Die Frage ist nun: Wie durchlässig kann und muß das Bildungssystem sein? Das Ziel sehen wir zwar einmütig, aber die Wege sind, wie auch der Entwurf zeigt und wie das beschrieben worden ist, außerordentlich verschieden. Immerhin sind zehn Bundesländer dabei, auf unterschiedliche Weise Erprobungen durchzuführen — übrigens ganz anders, als der Entwurf es vorsieht. Unter den erwähnten Ländern sind auch eine Reihe von sozialdemokratisch regierten Ländern. Meine Kollegin Frau Funke-Schmitt-Rink hat schon beschrieben, wie unterschiedlich die Situation in den Ländern ist, daß man sich hier aber z. B. auf den Meisterbereich beschränkt. Wie sieht es mit anderen qualifizierten Absolventen der beruflichen Ausbildung aus? Ich will das nicht wiederholen; die Zeit ist sehr knapp. Aber wir begrüßen die Initiativen der Länder. Denn wir haben insgesamt lange über diese Fragen diskutiert und meinen, daß die Zeit der Erprobung nun gekommen ist. Wir haben da eine Fülle von Möglichkeiten.Übrigens, Herr Kollege Keller, hier von einer Schadensbegrenzung für den Bundesstaat zu sprechen, das halte ich nun wirklich für sehr weit hergeholt. Wir sind ein föderaler Staat, und wenn der Föderalismus von seinen Rechten Gebrauch macht, dann wollen wir das akzeptieren.Von den in den Ländern geltenden Regelungen kann die eine oder andere für die Zukunft sehr gut Modellcharakter haben. Bevor wir jedoch entscheiden können, welche der Zugangsmodelle für eine breite Umsetzung in Betracht kommen, müssen wir ausreichende Erfahrungen sammeln. Die Entscheidungen können wir gerade im Bereich der Ausbildung nicht übers Knie brechen; das wäre fatal. Dies ist nämlich keine technische Angelegenheit, bei der man die Sache mit ein paar Versuchen im Labor herstellen kann, sondern es geht hier um Menschen und um ihre Möglichkeiten, zu einer besseren Ausbildung, Zusatzausbildung und Weiterbildung zu kommen.Nach Auffassung der Bundesregierung ist es deshalb noch verfrüht und sachlich nicht zu rechtfertigen, ein bestimmtes Modell zum Gegenstand einer bundesrahmenrechtlichen Vorgabe zu machen, zumal das geltende Hochschulrahmengesetz der Öffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte nicht entgegensteht.Graf Waldburg-Zeil hat in seinem Beitrag die einzelnen Bedenken sehr intensiv vorgetragen. Aber ich möchte doch noch einmal festhalten: Die Länder sind
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Parl. Staatssekretär Torsten Wolfgrammbemüht, das Ihre zu tun. Es kann nicht auf Dauer 17 Lösungen geben. Es kann nachher nur eine geben.
Aber wir müssen diese 17 Möglichkeiten — lieber Kollege Rixe, ich habe Ihrem engagierten Vortrag sehr ernst zugehört — bewerten können.Lassen Sie uns deswegen im Gespräch mit den Ländern die Auswertung der Erfahrungen vornehmen. Ich habe übrigens — und ich möchte Ihnen das nicht vorenthalten im letzten Jahr auf einer Tagung in Venedig am Schluß einer Art lyrischer Anmaßung eine kleine Anmerkung für den Kollegen de With, als wir uns über Bildungsfragen unterhielten, gemacht: Das Ziel ist klar, aber der Weg verschwimmt im Nebel guter Ratschläge. 17 gute Ratschläge haben wir. Wir müssen auswählen. Die Bundesregierung wird in Abstimmung und in Gesprächen mit den Ländern eine bundeseinheitliche Regelung vorschlagen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/2125 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es noch anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Bevor ich Tagesordnungspunkt 5 aufrufe, will ich darauf aufmerksam machen, daß wir zu dieser ungewöhnlichen Zeit am Mittwoch eine Plenarsitzung abhalten, während draußen sieben Ausschüsse tagen. Ich will das deswegen hier festhalten, weil mangelnde Besetzung des Plenums bei einem so wichtigen Thema häufig Gesprächsgegenstand ist. Aber da wir die Tagesordnung — Plenum und Ausschüsse — nicht anders regeln konnten, haben wir heute diesen Zustand.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, des Bundesversorgungsgesetzes und des Lastenausgleichsgesetzes
Drucksache 12/2219 —Überweisunqsvorschlag:
Ausschuß für Familie und Senioren Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß gemäß § 96 CO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Bundesministerin Hannelore Rönsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Als erstes darf ich mich für Ihre Eingangsbemerkung, Herr Präsident, bedanken; denn ich weiß, daß sehr, sehr viele Kollegen in ihren Wahlkreisen wegen des Problems, auf das ich jetzt eingehen werde, unmittelbar angesprochen wurden. Die heute mangelnde Präsenz hat nichts damit zu tun, daß dieses Thema die Kollegen nicht interessieren würde.Seit dem 1. Januar 1991 zahlen die Krankenkassen für Schwerpflegebedürftige auf Antrag nun endlich monatlich 400 DM Pflegegeld.
Voraussetzung dafür ist, daß die Pflegebedürftigen selbst dafür sorgen können, daß die Pflege gewährleistet ist.Anders als durch die Gesundheitsreform beabsichtigt, verzichten die meisten Schwerpflegebedürftigen— es sind immerhin über 90 % — auf eine Ersatzkraft in der häuslichen Pflege und nehmen stattdessen die 400 DM in Anspruch.
— Darüber werden wir auch noch reden müssen, wenn wir die Pflegeversicherung endlich haben.
Tatsache ist jedenfalls, daß sich in der Praxis Unklarheiten in den Fällen eingestellt haben, in denen Pflegebedürftige neben der Leistung der Krankenkasse ein Pflegegeld von der Sozialhilfe erhalten haben. Die Sozialhilfe gewährt nämlich dann kein Pflegegeld, wenn der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhält.Die Geldleistung der Krankenkasse dient ebenso wie das Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz im wesentlichen dazu, den Pflegeaufwand abzugelten. Deshalb muß grundsätzlich das Pflegegeld der Krankenkasse vom Pflegegeld der Sozialhilfe abgezogen werden, damit Doppelleistungen für denselben Zweck vermieden werden. In der Praxis hat sich dann die Anrechnung der Geldleistung der Krankenkasse auf das Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz unterschiedlich entwickelt.Die Entscheidung im Einzelfall, ob bzw. inwieweit zwei Leistungen gleichartig sind, trifft der Sozialhilfeträger. Sie können sich vorstellen, daß dadurch in jeder Kommune andere Entscheidungen gefallen sind. Wenn der Sozialhilfeträger die Gleichartigkeit bejaht, führt dies oft dazu, daß die Krankenkassenleistung als vorrangige Leistung dann auf das Pflegegeld anzurechnen ist.Trotz der vielfältigen Bemühungen in der Vergangenheit — wir haben schon mit den Vertretern der Bundesländer gesprochen — war es aber nicht möglich, eine einheitliche Linie herbeizuführen. Überwiegend wird nur die Hälfte der Leistung der Krankenkasse — also 200 DM — auf das Pflegegeld der Sozialhilfe angerechnet, wie dies der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge empfohlen hat.Es gibt aber auch eine Reihe von Sozialhilfeträgern, die die Kassenleistung entweder gar nicht, voll oder zu
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Bundesministerin Hannelore Rönscheinem anderen pauschalen Anteil anrechnen; die Differenz beträgt dann bis zu 400 DM im Monat. Für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ist das ein nicht unerheblicher Betrag, der ihnen in der einen Stadt zur Verfügung gestellt werden kann, und in der Nachbarstadt ist es möglich, daß nichts gezahlt wird.Diese Situation der betroffenen Bürger können wir natürlich keinem richtig erklären. Wir müssen deshalb Abhilfe schaffen; aus diesem Grund bringen wir heute die Änderung ein. Auch die Mitglieder im Petitionsausschuß haben in den vergangenen Wochen und Monaten leidvoll erfahren müssen, daß die Bürger kein Verständnis für die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Kommunen haben.
Die inzwischen ergangenen Gerichtsentscheidungen sind ebenso unterschiedlich wie die dargestellte Verwaltungspraxis. Ein Gericht hält es z. B. für Rechtens, die Kassenleistung überhaupt nicht anzurechnen. Andere Urteile lauten, daß 10 % und 50 % der Kassenleistung nicht berücksichtigt werden sollen.Trotz der gezielten Bemühungen reichen bloße Empfehlungen heute nicht mehr aus, um hier schnell eine einheitliche Rechtsanwendung zu erreichen.Wir sind zum Handeln aufgerufen, und wir haben es auch getan. Aus sozialpolitischen Gründen halte ich die vorgeschlagene gesetzliche Regelung für notwendig. Die Hälfte der Leistung der Krankenkassen — also 200 DM — soll in Zukunft von der Anrechnung freigestellt werden. Dies dient dem Rechtsfrieden und ist auch für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einsehbar und erkennbar, auch wenn sich mancher natürlich mehr wünscht.
— Na klar, mancher wünscht sich mehr. Aber das müßten sie natürlich dann auch erst einmal den Kommunen vermitteln.Gegenüber der bestehenden Praxis werden — soweit überschaubar — insgesamt keine Mehrkosten entstehen. Für weitergehende, auch an uns herangetragene Forderungen — nämlich den vollen Verzicht auf die Anrechnung — ist kein Raum. Beide Leistungen uneingeschränkt nebeneinander zu gewähren, wäre auch mit dem Nachrangprinzip der Sozialhilfe, auf das ich gleich noch einmal zurückkomme, nicht vereinbar.Das von mir heute vorgeschlagene Gesetz ist nur als eine Übergangsregelung gedacht. Damit komme ich auf Ihren Einwurf zur Pflegeversicherung zurück: Ich hoffe, daß die Pflegeversicherung bis zum 31. Dezember 1994 in Kraft getreten ist. Deshalb werden wir diese gesetzliche Regelung über die Anrechnung auch bis dahin befristen.
Wir werden hier im Bundestag noch sehr umfänglich über die Pflegeversicherung diskutieren. Es unterscheidet uns ganz erheblich von Ihnen, daß wirWünsche, die wir natürlich auch haben, auf eine solide Finanzierungsbasis stellen.Wir werden zu einer Regelung der Pflegeversicherung kommen; auch dafür stehe ich als Ministerin für Familie und Senioren. Nur muß ich Ihnen sagen: Die Forderungen, die Sie erheben, und der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, sind natürlich auf die Finanzierbarkeit hin zu überprüfen. Wenn man der Bundesregierung angehört, hat man — anders als Mitglieder der Opposition — eine Verantwortung für die Sozialpolitik insgesamt. Man hat dann auch eine Verantwortung für den Gesamthaushalt insgesamt. Wir werden überprüfen müssen, welche Leistungen finanzierbar sind. Wir wollen keine Pflegeversicherung, die unser Sozialsystem in einem Jahr oder in zwei Jahren zusammenbrechen läßt. Hier liegen die ganz wesentlichen Unterschiede zwischen Ihnen und uns.Jetzt, meine sehr geehrten Damen und Herren, möchte ich noch einmal auf den eingebrachten Gesetzentwurf zurückkommen. Wir werden — wie gesagt — dieses Gesetz bis zum 31. Dezember 1994 befristen. Für den Zeitraum danach werden wir eine neue Lösung vorschlagen.Bei der Neuregelung der Absicherung gegen das Pflegekostenrisiko wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß entsprechend dem Grundsatz der Nachrangigkeit der Sozialhilfe die neu zu schaffenden Leistungen voll auf die Sozialhilfe, die Kriegsopferfürsorge und den Lastenausgleich, der in die Regelung einbezogen war, angerechnet werden.Auch der Grundgedanke der notwendigen Absicherung gegen das Pflegekostenrisiko spricht für die Einhaltung des Nachrangprinzips, denn es muß schließlich unser Ziel sein, durch die Pflegeversicherung möglichst viele Pflegebedürftige vollständig aus der Sozialhilfe herauszuholen. Dafür, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht diese Bundesregierung.
Wir werden noch sehr oft Gelegenheit haben, über die Pflegeversicherung, aber auch über die wirtschaftlichen Daten zu diskutieren. Ich sage heute noch einmal: Gerade dann, wenn man den Politikbereich Familie und Senioren vertritt, hat man eine ganze Reihe von zusätzlichen Wünschen und Ansprüchen. Diese sind aber nur dann zu realisieren, wenn das Ganze auf einem soliden finanziellen Fundament geschieht. In diesem Punkt gibt es einige Unterschiede zur Opposition.Ich hoffe allerdings, daß wir uns heute bei der Zustimmung zu der von uns vorgeschlagenen Anrechnung des Pflegegeldes nicht unterscheiden, daß Sie also diesem Gesetz zustimmen; denn auch Sie wissen, daß die Bevölkerung draußen auf diese Klarstellung wartet.
Meine Damen und Herren, die nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Brigitte Lange.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Rönsch, eine solide Finanzierung setzt natürlich auch solide Versprechungen voraus. Genau dabei kommen Sie ins Gedränge.
Die Pflegegeldregelung, die ein Glanzstück des jämmerlich verunglückten Gesundheits-Reformgesetzes sein sollte und die so total zerrissen worden ist, wie es sich im Sinne der Betroffenen selbst die SPD nicht erhofft hatte, ist gründlich mißraten. Nachdem Herr Blüm immer darauf hingewiesen hat, daß die Einsparungen auch dazu verwendet werden sollten, einen Einstieg in die Pflegeversicherung zu finden, und daß die 400 DM Pflegegeld eine zusätzliche Anerkennung der Leistung, über deren eminente Bedeutung wir uns hier nicht zu unterhalten brauchen — im ersten Satz des § 55 BSHG steht das Wort „ergänzen" —, sein sollten, hat niemand unter den Sozialhilfeempfängern geglaubt, daß er von den 400 DM nichts oder nur wenig behält. Das ist das Problem, über das wir reden. Das war die größte Enttäuschung.Es gab darüber hinaus schrittweise mehrere kleine Enttäuschungen. Wenn man einen Antrag stellte, merkte man erst, wie klein der Kreis derer ist, die überhaupt in den Genuß dieser 400 DM kommen.
Ein Betroffener hat es so ausgedrückt: Man muß schon blind, taub, stumm und scheintot sein,
erst dann hat man vielleicht die Chance, in diesen Kreis überhaupt aufgenommen zu werden.
Man muß es wohl so formulieren: Wer in den Genuß dieses Betrags kommt, muß rund um die Uhr gepflegt werden.Als zweites waren die Eingangshürden, nämlich die Vorversicherungszeiten, so hoch, daß viele schon daran scheiterten. Das hat sich Gott sei Dank etwas gebessert.Die dritte Hürde, jedenfalls bei uns in Hessen, wo es gut ausgebaute Sozialstationen gibt, war: Alle, die vorher unentgeltlich die Dienste der Sozialstationen wahrnahmen, täglich vorbeischauten und bei der häuslichen Hilfe unterstützten, sagten: Wenn Ihr 400 DM bekommt, dann bezahlt uns bitte die Stunden! Die Stunde kostet 30 DM. Man kann sich ausrechnen, was das bei einer 24-Stunden-Pflege für die Angehörigen bedeutet.Ich sage noch einmal: Das Wort „Glaubwürdigkeit" wurde so sehr mißbraucht, daß man es nicht mehr in den Mund nehmen mag. Aber im menschlichen und im finanziellen Bereich, wo es spürbar wird, tragen wir alle nichts dazu bei, diesen Begriff wieder mit dem Inhalt zu füllen, der für uns Politiker notwendig ist.
Die „Krönung" war die unterschiedliche Anrechnung der 400 DM. Es wurde hier schon gesagt: Je nachdem, wo man wohnte, wurde entweder alles oder ein Teil oder nichts angerechnet. Ich sage Ihnen: Mit dieser Regelung haben Sie alle enttäuscht, die bisher400 DM erhalten haben und nun als Konsequenz nur noch 200 DM bekommen.
— Ja. Er ist nicht da.Wie ist es zu diesem Desaster gekommen? War es vorhersehbar? Ich erinnere Sie daran, daß bei der Diskussion über die Gesundheitskostenreform bereits darauf aufmerksam gemacht worden ist, in welche Klemme die Bundesregierung hier kommen werde. Damals ist eine Klarstellung verlangt worden, wieweit die betreffenden Paragraphen im BSHG und im SGB V vergleichbar sind, um eine klare Regelung zu schaffen. Man hat es damals nicht getan.Warum hat man es nicht getan? Weil dann offenkundig geworden wäre, daß man nach zwei Seiten Versprechungen abgegeben hat: zum einen gegenüber den Pflegebedürftigen und zum anderen gegenüber den Kommunen, die man darüber hinwegtrösten wollte, daß durch diese hervorragende Gesundheitskostenreform die Sozialhilfeträger erneut belastet würden, und denen man deshalb gesagt hat, sie würden durch diese 400-DM-Regelung entschädigt werden.Als dieser phantastische Spagat nicht mehr durchzuhalten war, hat man gesagt: Gut; wir teilen die Rollen auf. Der Herr Seehofer darf weiterhin behaupten: Das BSHG ist nachrangig. Der Herr Blüm hat einen freundlichen Brief geschrieben und sich auf die Stellungnahme des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge zurückgezogen und gesagt: Liebe Kommunen, seid nicht so stur und bezahlt wenigstens zur Hälfte! So ist das gelaufen.Interessanterweise hat er den Ämtern für Lastenausgleich diesen Brief nicht geschickt. Die bezahlen nämlich aus Bundesmitteln und haben immer schön die 400 DM angerechnet, was ich ganz gut fand.Nun sage ich Ihnen: Die kommunalen Träger der Sozialhilfe werden diese Regelung gar nicht gern hören. Ich muß auch sagen: Zu Recht. Einigen wird, selbst wenn der Bundestag zustimmt, der Glaube fehlen, daß alles so richtig ist.Ich nehme noch einmal das auf, was der Bundesrat in seiner Stellungnahme gesagt hat: Es ist unbedingt wichtig, diese Bundesregierung daran zu erinnern, daß das BSHG nach dem Prinzip der Nachrangigkeit angelegt ist und daß es das letzte System der sozialen Sicherheit ist, wenn alles andere nicht greift.Diese Bundesregierung behandelt das BSHG, als wäre es ein Schweizer Emmentaler: Je mehr Löcher er hat, um so besser ist es für die Bundeskasse; jedes Loch ist ein Plus in der Bundeskasse.
Den Kommunen werden immer mehr Aufgaben zugeschustert, und sie erhalten keine Bezahlung dafür; zugleich sind die Kommunen für das soziale Umfeld verantwortlich, das sie um so mehr schaffen müssen, je schlechter diese Politik hier ist.
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Brigitte LangeIch erinnere Sie nur daran, daß sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Es gibt jetzt hier ungefähr 3,8 Millionen und in den östlichen Bundesländern geschätzte 500 000. Für die Sozialhilfeleistungen müssen 31,5 Milliarden DM aufgebracht werden. Ein Viertel davon sind Nebenkosten. Da kann ich verstehen, daß sie sich sehr zurückhalten, selbst wenn es sich hier nur um einen geschätzten Betrag von 125 Millionen DM handelt, und daß Sie sagen: Ständig gibt es ein weiteres Loch in diesem Käse; wir machen nicht mehr mit.Ich sage Ihnen einmal als Kommunalpolitikerin: Wenn man so einen Haushalt vor sich hat, dann hat man vielleicht ein Prozent des gesamten Haushalts als sogenannte freie Spitze. Mit diesen Mitteln kann man dann versuchen, diese ganzen mobilen Dienste, die wir wollen, die ganzen sozialen Einrichtungen und die Beratungsstellen zu finanzieren. Es ist heute in den Ländern bereits so, daß wir gar nicht mehr Geld an die Beratungsstellen geben können, die ohnehin mit einem ganz schmalen Etat arbeiten. Und das bedeutet, wenn wir ihnen nicht mehr geben können, wenn wir den alten Standard halten, daß sie bereits abbauen müssen, daß sie ihre Leistungen einschränken müssen. Und das ist genau konterkarierend zu dem, was wir brauchen.Insofern bin ich mit Ihrer Regelung nicht so hundertprozentig einverstanden, Frau Rönsch. Sie gehen den geringsten Weg. Sie regeln die Rechtssicherheit überhaupt nicht, obwohl Sie das mit Ihrer Presseinformation angesprochen haben, daß Sie die Rechtsunsicherheit beseitigen wollen, sondern Sie übernehmen hier Schlichtweg den Vorschlag des Deutschen Vereins. Ich hoffe nur, daß das einigermaßen hält. Ich empfehle Ihnen sehr nachdrücklich, einen erneuten Versuch zu unternehmen, damit Sie es schaffen, Ihren ohnehin etwas verwirrten Koalitionspartner F.D.P. dazu zu kriegen, endlich die einzige und praktikable Lösung zu finden, nämlich eine Pflegeversicherung.
Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Normalerweise ist es in diesem Hause so gewesen: wenn Sozialpolitiker unter sich sind, wird um die Sache gerungen und nicht polemisiert. Aber es hat sich offensichtlich etwas geändert.
Das Titelblatt zum vorliegenden Gesetzentwurf sagt eigentlich alles, was notwendig ist, über das Gesetz aus. Ich sage das mal verkürzt: Die bundesweit uneinheitliche Verwaltungspraxis bei der Anrechnung der Krankenkassenleistung auf die Sozialhilfe belastet den Rechtsfrieden. Gesetzgeberisches Handeln ist geboten. Die Lösung sagt, daß die Geldleistungen mit 200 DM einheitlich anzurechnen sind. Unter Buchstabe C — das ist eigentlich die Begründung — heißt es, daß eine einheitliche Rechtspraxis auf demVerwaltungsweg nicht machbar ist. Und dann kommen die Kosten.Damit könnte man eigentlich schon aufhören. Das sagt nämlich alles, was zu sagen ist. Wir wollen hier Einheitlichkeit einführen, und das erreicht dieses Gesetz.Aber ich meine, daß man dazu etwas mehr sagen muß. Ich will versuchen, die erste Lesung dazu zu benutzen, vielleicht etwas Nachdenklichkeit zu schaffen, weil ich glaube, daß die Sache komplizierter ist.Zu meiner sehr verehrten Kollegin, die vor mir gesprochen hat, möchte ich sagen: Wenn Sie Ihre Rede nachlesen, werden Sie selbst feststellen, vor allem nach dem Beispiel mit dem Schweizer Käse, daß Sie offensichtlich auch nicht ganz wußten, ob Sie für oder gegen die Anrechnung sprechen sollten. Denn einmal haben Sie sich auf den Standpunkt der Betroffenen gestellt,
und einmal haben Sie sich auf den Standpunkt der Kommune gestellt. — Die Kollegin nickt, sie hat das offensichtlich schon so gemeint, wie ich das verstanden habe.
— Die Kollegin nickt mir zu, die hat das wohl auch so sagen wollen, wie ich es verstanden habe. Da will ich ansetzen und für etwas Nachdenklichkeit werben, und zwar Nachdenklichkeit bei uns allen, nicht nur bei der Koalition, sondern auch bei der Opposition.Es ist richtig, das Subsidiaritätsprinzip bedeutet Nachrangigkeit. Wenn wir dieses Subsidiaritätsprinzip verletzen — ich greife das Beispiel von dem Schweizer Käse auf, wir haben das an verschiedenen Stellen wirklich verletzt —, dann führt dies leider zu einem Gesetz, das in sich nicht mehr konsequent ist. Die Verletzung dieses Prinzips wurde von allen Fraktionen hier mehrmals vorgenommen, und zwar unter dem Jubel und der Begeisterung der Betroffenen, weil sie zunächst nur darauf geschaut haben, wieviel Geld habe ich auf der Hand, und man hat nicht gedacht, daß damit in den Grenzbereichen neue Ungerechtigkeiten entstehen.Ich meine, wir müssen uns Gedanken machen, ob das Subsidiaritätsprinzip, so wie wir es bisher haben, Bestand haben kann, ob wir uns nicht in der Frage der Anrechenbarkeit Neues überlegen müssen. Ich meine — und das ist meine Bitte an alle in dieser ersten Lesung —, daß wir das in die Beratungen der Ausschüsse mitnehmen, daß wir uns bei dieser Sache noch einmal gründlich sachkundig machen und beraten, ob für dieses Sozialhilfegesetz insgesamt eine neue Überlegung angestellt werden sollte.
Ich sage gleich dazu: Auch wenn dieses Gesetz nur befristet ist, betrifft es mehreres: Es betrifft z. B. die Anrechnung beim Erziehungsgeld, es betrifft die immer wieder geforderte Anrechnung oder Nichtanrechnung beim Kindergeld und der Sozialhilfe. Es geht nach einem Prinzip, das mittlerweile löchrig geworden ist.
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Norbert Eimer
Sie fragen: „Welche?" Ich könnte Ihnen einige Anregungen geben, aber die Uhr zeigt nur noch wenige Minuten Redezeit.
Die Zeit ist dazu leider nicht ausreichend. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: In der Obleutebesprechung heute habe ich die Bitte geäußert, daß wir uns für diesen Teil etwas mehr Zeit nehmen. Sie nicken, Herr Kollege. Ich darf Sie einladen, bei der Ausschußsitzung dabei zu sein. Dort werde ich dazu Näheres sagen, mehr als dazu heute Zeit ist.Ich wollte nur, obwohl dies ein etwas kompliziertes Gebiet ist, darauf hinweisen, daß diese Regelung nicht ganz so einfach ist, wie wir es uns in der Polemik auf der einen oder anderen Seite machen. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir das einsähen und wenn wir uns in den Beratungen der Ausschüsse etwas mehr Mühe gäben, als das in der heutigen Beratung möglich ist und als das heute der Fall war, obwohl es auch heute etwas seriöser hätte behandelt werden können.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Ortrun Schätzle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Familie leistet heute den größten Pflegedienst der Nation. Rund 80 % der Pflegebedürftigen — es ist immer wieder eindrucksvoll, diese Zahl zu hören — werden zu Hause gepflegt. Die über 80jährigen machen dabei den größten Anteil der Pflegebedürftigen aus. Doch finden sich unter 100 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unter 40 Jahren ebenso acht, die infolge Krankheit oder Behinderung rund um die Uhr gepflegt werden müssen. Diese acht machen nur 0,7 % dieser Gruppierung aus. Aber ich glaube, jeder Fall hat seine eigene Schicksals- und Leidensbiographie und ganz eigene individuelle Ansprüche an sein Pflegeumfeld.Die Pflegedienste in der Familie sollten in der Öffentlichkeit stärker anerkannt werden. Da sind wir uns alle einig. Sie sollten aber auch in den Medien realitätsorientierter dargestellt und von den einzelnen Familienmitgliedern partnerschaftlicher mitgetragen werden. Denn noch immer bleibt es meist den Frauen überlassen, Pflegedienste zu übernehmen.Die Pflegedienste belasten die Familien zum Teil außerordentlich stark. Immer wieder auftauchende Behauptungen, Familien erhielten vom Staat keinerlei Hilfe bei der Pflege eines Angehörigen, muß widersprochen werden. Denn gerade mit den Neuregelungen im Gesundheits-Reformgesetz, die wir eben gehört haben, ist den Familien tatsächlich vielfältige Unterstützung zugeflossen.
Ich nenne hier noch einmal die häusliche Pflegehilfe durch qualifizierte Fachkräfte, bis zu 25 Stunden und 750 DM im Monat. Dazu kommen ersatzweise die 400 DM Pflegegeld, die mancher Nachbarin doch sehr willkommen waren, und — was noch nicht erwähntwurde auch die jährliche Urlaubsvertretung fürinsgesamt vier Wochen und maximal 1 800 DM. Dazu kommt seit dem 1. Januar dieses Jahres die mögliche Anrechnung der Pflegezeiten im Rentenrecht. Das ist meiner Meinung nach ein Durchbruch in der Anerkennung der Pflegeleistung.Der größte Durchbruch, vor allem für die Pflegebedürftigen selber, wird mit der Einführung der Pflegeversicherung erreicht werden. Sie wird die soeben genannten Hilfen zur Unterstützung häuslicher Pflege ablösen. Sie ist auch Hintergrund für die oft schon diskutierte Befristung unserer Neuregelung, die die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf soeben durch Frau Ministerin Rönsch vorgestellt hat. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Krankenversicherungsleistung — 400 DM Pflegegeld — nach § 57 SGB V zu 50 % auf das Pflegegeld anzurechnen, das als Leistung der Sozialhilfe, der Kriegsopferversorgung und des Lastenausgleichs für Pflegebedürftige gewährt wird. Dabei gilt nach gültiger Rechtsprechung und allgemeiner Ansicht derjenige als pflegebedürftig, der infolge Krankheit oder Behinderung die normalen täglichen Verrichtungen wie beispielsweise das An- und Ausziehen, das Aufstehen, das Essen, das Waschen und das Gehen usw. allein nicht durchführen kann und nicht nur vorübergehend der Hilfe bedarf.
Das Pflegegeld soll Aufwendungen für Pflegedienste abgelten, es soll Pflegende unterstützen und entlasten, es soll aber auch Anreiz sein, bereit zu werden, die häusliche Pflege zu übernehmen, um die weitaus kostspieligere und von den Pflegebedürftigen auch abgelehnte Heimunterbringung zu vermeiden. Dabei darf aber im Hinblick auf die Altersentwicklung der Pflegebedürftigen und der hochbetagten Familienangehörigen die Grenze der Belastbarkeit nicht übersehen werden. Dabei müssen wir vor allem berücksichtigen, daß die Pflegenden so unterstützt werden, daß sie nicht die Pflegebedürftigen von morgen werden.Zur Zeit wird die Anrechnung dieser Krankenkassenleistung sehr uneinheitlich gehandhabt. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Anrechnung ganz oder gar nicht erfolgt oder zu unterschiedlichen Prozentsätzen. Das zieht ungleiche soziale Folgen nach sich, die den Betroffenen nicht zu vermitteln sind. Aber eine gerichtliche Klärung steht kurzfristig nicht an. Bei dieser Sachlage hat die Bundesregierung gesetzgeberischen Handlungsbedarf erkannt. Er wird mit der Einbringung des Gesetzentwurfs heute erfüllt.Noch ein Wort zur Stellungnahme des Bundesrats. Er hat ausdrücklich auf das Prinzip der Nachrangigkeit der Sozialhilfeleistungen hingewiesen. Erst wenn alle eigenen Hilfsmaßnahmen ausgeschöpft sind und das Netz vorrangiger sozialer Absicherungen nicht hält, dann soll die Sozialhilfe greifen. Das ist auch ein Gesichtspunkt, den wir immer wieder neu verdeutlichen müssen. Die von den Krankenkassen zum 1. Januar 1991 an zu erbringende Geldleistung nach § 57 SGB in Höhe von 400 DM darf deshalb auch nur zur Hälfte auf das Pflegegeld angerechnet werden. Die Geldleistung der Krankenkasse darf als vorrangige Leistung nicht zur Gesamtbelastung der
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Ortrun SchätzleSozialhilfe werden, zumal sie auch keine gleichartige Leistung darstellt. Sie würde dazu den Sozialetat unserer Gemeinden zusätzlich belasten.
Gleichartigkeit — noch ein Wort dazu — besteht zwar darin, daß die Geldleistungen dem gleichen Personenkreis zustehen und die zugrunde liegende gesetzliche Norm die gleiche Zielsetzung verfolgt; aber: die Gleichartigkeit erstreckt sich nicht im Hinblick auf den Leistungsinhalt. Aus diesem Grunde hoffe ich, daß wir mit der Regelung der Pflegeversicherung auch den Anspruch, den wir in Familien finden, in der Pflegeleistung unterstützt zu werden, durch die Pflegeversicherung tatsächlich erfüllen können.Ich äußere zum Schluß den dringenden Wunsch an die Bundesregierung, den Bedarf nach einer Absicherung des Pflegerisikos so rasch wie möglich zu erfüllen.
Als nächster hat der Abgeordnete Gerd Andres das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ist im weitesten Sinne unter die Reparaturmaßnahmen zum sogenannten Gesundheits-Reformgesetz einzuordnen. Es ist bedauerlicherweise so, daß Frau Rönsch hier der völlig falsche Ansprechpartner ist, auch wenn sie ressortmäßig jetzt für diesen Gesetzentwurf verantwortlich ist. Die eigentliche Diskussion müßte man mit denjenigen führen, die damals die Pflegeleistungsregelungen im GRG vorgenommen und getroffen haben.Als Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung kann ich mich noch sehr lebhaft an die entsprechenden Debatten im Jahre 1988 erinnern. Ich denke, es ist notwendig, sich hier zu erinnern. Massive Leistungseinschränkungen, Leistungskürzungen und höhere Selbstbeteiligung — im weitesten Sinn Sozialabbau in der gesetzlichen Krankenversicherung — sind damals vom Bundesarbeitsminister mit zwei zentralen Positionen begründet worden. Die eine Position war die, daß es eine erhebliche Absenkung bei den Lohnnebenkosten durch Begrenzungen in diesem Bereich und durch gesetzgeberische Maßnahmen gebe. Die zweite Position war die, daß von ihm vorgetragen wurde, es sei mit diesem Gesetzentwurf gelungen, völlig neuartige Pflegeleistungen einzuführen.Es wurde der Eindruck vermittelt, daß mit diesem ersten Einstieg vielen Menschen, die schwerstpflegebedürftig sind, massiv geholfen wird. Frau Schätzle hat die Maßnahmen, die im Gesetz vorgesehen sind, entsprechend aufgezählt. Das Erwachen bei vielen Betroffenen war ganz traumatisch, weil sie natürlich die Erfahrung gemacht haben, daß nach den Regelungen des Gesetzes und nach den Vorschriften der Krankenkassen genau das eintritt, was meine Kollegin Lange hier schon vorgetragen hat, daß nämlich nur ein sehr eingegrenzter Personenkreis überhaupt in den Genuß dieser Pflegegeldleistungen kommt.Die zweite Erfahrung, die man gemacht hat, ist wie auch in manchen anderen sozialen Bereichen — das hat Herr Eimer völlig zu Recht aufgezählt —, daß jede neue gesetzgeberische Leistung, die in diesen Bereichen gewährt wird, häufig wegen der Nachrangigkeit der BSHG-Leistungen aufgerechnet wird, so daß unter dem Strich für die Menschen ganz enttäuschende Resultate zustande kamen.Also ist hier festzustellen, daß der Versuch unternommen wird, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in bestimmter Art und Weise Rechtssicherheit herzustellen. Da teile ich das, was Sie vorgetragen haben, Frau Ministerin. Nur der Punkt ist natürlich, daß das weder im Sinne der Betroffenen noch im Sinne derer, die für die Sozialhilfeleistungen aufzukommen haben, eine angemessene Lösung ist.Ich habe extra die Begründung des damaligen Gesetzentwurfes zum GRG mitgebracht. In der Drucksache 200/88 findet man eine interessante Formulierung, die damals der BMA in dieses Gesetz geschrieben hat. Es war klar, daß den Sozialhilfeträgern zugesichert wurde: Diese neue Pflegeleistung wird eingeführt, um euch in bestimmten Bereichen — § 69 BSHG und ähnliches — zu entlasten, da gleichzeitig mit diesem Gesundheits-Reformgesetz ganz massive Mehrbelastungen auf die Sozialhilfeträger zukommen.Ich will Ihnen einige nennen: Es sind durch die Übernahme der neuen Leistungen zur Förderung der Gesundheit und zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten in die Sozialhilfe 25 Millionen DM auf die Sozialhilfeträger zugekommen. In der Begründung des Gesetzentwurfes steht auch noch die nette und zutreffende Formulierung, daß durch die Leistungsausgrenzungen im Rahmen der Krankenversicherung Mehrbelastungen bei den Sozialhilfeträgern entstehen. Sie werden auch noch aufgezählt: Dies gilt z. B. für Zuzahlung bei Arznei- und Heilmitteln, wenn Festbeträge dort nicht festgesetzt werden, für die Frage des Sterbegeldes und für viele andere Dinge mehr.Das, was hier vorliegt, ist im Grunde genommen also eine gesetzgeberische Notmaßnahme, um die Zusagen von damals sowohl gegenüber den Betroffenen als auch gegenüber den Sozialhilfeträgern auf einer mittleren Ebene, nämlich auf dem Mittelweg, einzulösen.Nun kommt der zweite Punkt, zu dem man etwas sagen muß. Sie haben dankenswerterweise hier für die Bundesregierung in, wie ich finde, bemerkenswerter Klarheit die Katze aus dem Sack gelassen.
In der Stellungnahme des Bundesrates wird in Ziffer 3 gefordert, die zeitliche Befristung dieses Gesetzes „bis zum 31. Dezember 1994" zurückzunehmen. Weiterhin wird der Gesetzgeber darauf verwiesen, daß seit Sommer des vergangenen Jahres ein Gesetzentwurf zur Regelung des Pflegerisikos im Bundesrat vorliegt und bei einer zügigen Beratung dieser gesetzgeberische Vorgang, den Sie hier jetzt vorlegen, im Grunde genommen damit überflüssig wird.
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Gerd AndresDas heißt — und das muß für uns alle hier festgehalten werden —: Die eigentlich vernünftige und zureichende Lösung wäre dann erreicht, wenn man die Pflegeversicherungslösung endlich anpackt und hiermit vernünftige Regelungen für die Betroffenen schafft.Die Bundesregierung hat in der Begründung sehr lapidar gesagt, die zeitliche Begrenzung würde überhaupt nichts besagen, wenn diese Regelung käme.Ihre Begründung war eine andere. Sie haben nämlich sehr dezidiert gesagt, daß hoffentlich ab 31. Dezember 1994 eine andere gesetzliche Regelung greift.
Das heißt für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ganz eindeutig — ich nehme ja an, Sie sprechen für die Bundesregierung , daß eine gesetzgeberische Regelung des Pflegerisikos vorher nicht zu erwarten ist.Damit bin ich beim dritten Teil, sehr geehrte Frau Minister. Ich denke, das, was Sie zur finanziellen Solidität und zu anderem im Zusammenhang mit der Regelung einer Pflegeversicherung gesagt haben, ist natürlich über weite Strecken inhaltlich und sachlich überhaupt nicht haltbar; denn der Gesetzentwurf, den die SPD vorgelegt hat und der sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag zur Beratung ansteht, regelt die Pflegeversicherung nach dem Prinzip der Sozialversicherung. Die Kosten, die auf den Bund zukommen, sind, wie Sie sicherlich zugeben müssen, außerordentlich minimal.Wenn Sie die gleiche finanzielle Solidität, die Sie hier in Anspruch genommem haben, für das Haushaltsgebaren des Bundes in Anspruch nehmen würden, für die Neuverschuldung oder beispielsweise für die Diskussion des Projektes Jäger 90, dann hätte das längst dazu geführt, daß diese Bundesregierung beispielsweise vom Projekt Jäger 90 Abstand genommen hätte und die dort veranschlagten Mittel beispielsweise für vernünftige Regelungen im Sozialbereich benutzt hätte. All dies findet nicht statt, und das ist sozialpolitisch skandalös.Ich denke, man muß die Beratungen abwarten. Es kommt jetzt darauf an, dafür Sorge zu tragen, daß die famose Koalition, die die Mehrheit für die Bundesregierung zu erbringen hat, bei ihren Verhandlungen zur Regelung einer Pflegeversicherung endlich in die Pötte kommt. Das, was man dazu öffentlich hört, läßt nicht sehr hoffen.Meine Position dabei ist immer die gewesen — ich denke, das wäre auch für die Betroffenen, für die Sie Ihren Gesetzentwurf durchbringen wollen, sinnvoll —, daß die Beteiligten auf seiten der Koalition aus ihren ideologischen Schützengräben heraus müssen
und daß dieses unglaubliche Pflegeproblem in unserer Gesellschaft einer gesetzgeberischen und einer sozialversicherungsrechtlichen Lösung zugeführt wird. Das, was ich dazu aus den Koalitionsverhandlungsgruppen der F.D.P. und der Union wahrnehme, geht nicht besonders weit.Ich befürchte, daß wir — wie in anderen sozialpolitischen Bereichen auch — irgendwann in absehbarer Zeit möglicherweise mit einem Verlängerungsgesetz zu dem Gesetzesvorschlag konfrontiert werden, den Sie heute vorgelegt haben. Wenn es nicht gelingt, daß sich Ihre Koalition in Fragen der Pflegeversicherung entsprechend bewegt und hier zu Regelungen kommt, ist natürlich auch das Datum 31. Dezember 1994 nur ein fiktives. Sie werden dann das haben wir in der Vergangenheit schon bei vielen anderen Gesetzen erlebt — mit einem Verlängerungsgesetz entsprechend arbeiten müssen, wenn Sie nicht wollen, daß die betroffenen Menschen, für die diese Regelungen vorgesehen sind, ab 1. Januar 1995 ins Bodenlose fallen und der alte Zustand wiederhergestellt wird.Ich denke, es ist vernünftig — das muß man sagen —, mit diesem Gesetz Rechtssicherheit herzustellen. Ich habe mir vorher eine längere Liste von Gerichtsentscheidungen angesehen. Es ist unhaltbar, daß Menschen in einer Region, nur weil sie sich bei verschiedenen Sozialhilfeträgern und in verschiedenen Regelungsbereichen befinden, von der absoluten Nichtanrechnung bis hin zur Anrechnung von Teilbeträgen, von 325 DM, von 200 DM und anderen Teilbeträgen, betroffen sind. Deswegen ist es vernünftig, ein solches Gesetz zu machen.Aber ich denke, Sie könnten die zeitliche Befristung wegfallen lassen, und Sie könnten sich massiv dafür einsetzen, daß die Pflegeversicherung auf den Weg gebracht wird. Dann ist diese Regelung, die Sie hier getroffen haben,
mittelfristig absolut überflüssig.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen letzten Punkt sagen: Ich bedauere es eigentlich, daß wir hier als Diskussionspartner nicht Norbert Blüm haben, weil er an all diesen Stellen, wie ich mich erinnern kann, immer sehr vollmundig darüber geredet hat, was die Bundesregierung mit ihrem GRG alles geregelt hat.Im übrigen möchte ich Sie darauf hinweisen, daß auch dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung ja offensichtlich ebenfalls unzureichend war. Die Tatsache, daß Sie drei Punkte des Bundesrates einfach übernehmen und beispielsweise die Beihilferegelung völlig vergessen haben, spricht nicht für die besondere Qualität des urprünglichen Entwurfs. Auch hier gilt aber die Devise, daß Norbert Blüm für die vielen Missetaten, die er im Zusammenhang mit dem GRG und mit dem dadurch nur unzureichend erfüllten Reform- und Regelungsbedarf begangen hat, leider kaum noch gegriffen werden kann, weil durch die Ressortaufteilung andere Zuständigkeiten geschaffen wurden. Man kann jetzt sehr schön sehen, wie die Frau Gesundheitsministerin einerseits an den Erblasten des GRG, aber andererseits auch an ihrer eigenen Unfähigkeit, entsprechende Regelungen zu treffen, gescheitert ist. Das ist ein Tatbestand. Deswegen bedauere ich hier außerordentlich, daß man sich über das vorliegende gesetzgeberische Projekt nicht mit Norbert Blüm auseinandersetzen kann. Auch hier gilt,
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Gerd Andreswie so häufig, der Spruch oder die Weisheit: Wohin man im Sozialbereich auch greift, Norbert Blüm kneift.Ich denke, wir werden bei den weiteren Beratungen des Gesetzentwurfs unsere Position dazu noch einmal deutlich machen und auch darauf drängen, daß die zeitlliche Befristung zurückgenommen wird.Herzlichen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Herbert Werner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst zwei Vorbemerkungen, eine an Sie, Frau Lange. Es war nun wirklich, so wie Norbert Eimer gesagt hat, eindrucksvoll, Ihnen zuzuhören und dabei festzustellen, wie Sie sich, eigentlich nach allen Seiten offen, rhetorisch gedreht und gewunden haben, aber nirgendwo einen Ansatz für eine eigene Lösungskonzeption haben erkennen lassen, geschweige denn auch nur einen Hinweis darauf, wie Sie kostenwirksame Entscheidungen, sei es Richtung Kommunen, der Länder oder auch des Bundes, gegebenenfalls gestalten oder tragen wollen.
Herr Andres, Sie sagten: Blüm kneift.
Dies kann man natürlich nur dann sagen, wenn man sich gleichsam an jemandem fortgesetzt reiben will und muß und dies offenbar auch nötig hat. Denn daß der Minister nicht bei jedweder Diskussion hiersein kann, ist, glaube ich, klar.
Ich finde, Sie sollten seitens der SPD jetzt nicht bereits erneut mit einer Verunsicherungskampagne anfangen. Wenn Sie nun schon über mögliche Verlängerungsgesetze spekulieren — denn Ihrer Meinung nach wird es ja nicht gelingen, bis Ende 1994 ein Pflegegesetz auf den Weg zu bringen —, wenn Sie also jetzt schon hier damit operieren,
dann macht dies deutlich, daß Sie eigentlich nichts anderes tun wollen, als die Bevölkerung und die betroffenen Pflegebedürftigen, aber auch jene, die aufopferungsvoll pflegen, zu verunsichern.
Denn eines ist doch ganz klar: Sie können es sich mit Ihrem Gesetzentwurf sehr einfach machen und haben es sich sehr einfach gemacht,
indem Sie u. a. — da könnt ihr schreien, wie ihr wollt, liebe Freunde zur Linken — nichts anderes getan haben, als zunächst einmal jene Punkte, die u. a. auch Leute wie Norbert Blüm in die Diskussion gebracht haben und die wir, die CDU/CSU, in jeweiligen Grundsatzpositionen beschlossen haben, in einen großen Topf zu bringen und das herauszunehmen, was im Augenblick besonders opportun erschien. Nein, liebe Freunde, so, glaube ich, kann man es nicht machen.
Man muß über die Pflegeversicherung hier ernsthaft diskutieren. Ich meine, wir werden dabei sicherlich auch die offenen Fragen, die wir in der Koalition haben,
miteinander zügig einer Entscheidung zuführen.
Dies ist die beschlossene Absicht, und dies werden wir durchführen. Denn wir, die wir die Koalition bilden, wissen beide um die besondere Bedeutung, die eine entsprechende Lösung für die Öffentlichkeit und auch für die Betroffenen mit sich bringen wird.
Ich möchte im Hinblick auf das Gesetz aber auch noch eines sagen: Wir sollten gerade dieses Gesetz in dem auch von Frau Schätzle angesprochenen Gesamtzusammenhang sehen. Ich möchte jedoch noch etwas darüber hinausweisen: Wir müssen mit diesem Gesetz verhindern, daß sich der Sog weg von der häuslichen Pflege hinein in die Pflegeheime womöglich verstärken könnte. Deswegen lege ich auch besonderen Nachdruck auf die häusliche Pflege. Dies wird sicherlich auch schon richtungweisend im Hinblick auf die innere Ausgestaltung eines Pflegeversicherungsgesetzes sein müssen.Wenn wir von der Verstärkung der häuslichen Pflege sprechen, dann muß man im Zusammenhang mit dem jetzt vorgelegten Gesetz sehen, daß hierzu auch die Verstärkung der ambulanten Betreuung, der offenen Pflege gerade für jene gehört, die sich noch in häuslicher und familiärer Umgebung betreut wissen wollen.Hier — Herr Andres, ich gebe das ganz offen zu — wird es Anstrengungen von allen Seiten bedürfen. Ich denke an die Frage der Schaffung gerontopsychiatrischer Zentren, und zwar sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Betreuung und Behandlung. Dies muß sich, angefangen von der Kreisebene, der unteren Verwaltungsebene, bis hin zur Ebene der Hochschulen, der Universitäten fortsetzen, wo der Forschungscharakter in Richtung Geriatrie und Gerontologie stärker in den Vordergrund treten muß. Aber ich glaube — auch in diesen Gesamtzusammenhang gehört das Gesetz hinein —, wir müssen verstärkt zur Kenntnis nehmen, daß es wechselseitig aus beiden Richtungen jeweils fließende Übergänge von der häuslichen Betreuung, von der eigenen Wohnung hin zur Altenwohnung, zum Altenheim und schließlich zum Pflegeheim, geben kann.
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7262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Herbert Werner
Wir müssen also einen Verbund, ein integriertes Gesamtkonzept für die Betreuung der alten Menschen schaffen. Als eine, allerdings sehr wichtige Maßnahme im Rahmen dieses Konzepts stellt sich dieses Gesetz dar, mit dem wir jetzt die schon mehrfach angesprochene Rechtssicherheit festschreiben und sichern wollen.
Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie Sie seitens der SPD hier in dieser saloppen Art und Weise argumentieren können, was durch Ihre Zwischenrufe immer wieder deutlich wird.
Das zeigt die saloppe Weise, in der Sie offenbar mit dem Problem umgehen. Sie meinen, daß ausschließlich der ernsthafte Umgang möglich und geboten ist, der da lautet: Das, was Sie mit heißer Nadel gestrickt haben, muß blindlings übernommen werden. — Genau dies ist kein ernsthafter Umgang. Deswegen werden wir den einfachen Weg, den Sie uns heute so schnell aufreden wollen, nicht gehen, sondern wir werden nach reiflicher Überlegung unseren eigenen Gesetzentwurf — auch in Richtung Pflegeversicherung — vorlegen.Vielen Dank.
Der Kollege Eimer hat das Wort zu einer Zwischenbemerkung erbeten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen! Ich halte mich immer gern an die Tagesordnung und weiche nicht gerne vom Thema ab, und die Pflegeversicherung stand heute nicht auf der Tagesordnung.
Aber nachdem mich vor allem die Kollegen der Opposition immer wieder zu einer Stellungnahme aufgefordert haben, nehme ich natürlich gern Stellung.
Ich will Ihnen sagen: Die F.D.P. hat eigene Vorstellungen.
— Warum fragen Sie dann? — Die Leistungen, die wir in unserem Gesetzentwurf vorsehen, sind ganz bewußt auf die gleiche Höhe wie die Leistungen nach dem Blüm-Gesetz festgesetzt worden,
damit man sie vergleichen kann.
Wenn Sie die Fachöffentlichkeit hören, dann wird einiges deutlich:
Unabhängige Fachleute — z. B. die Bundesbank — beurteilen unser System wesentlich günstiger als das der Opposition oder als das unseres Koalitionspartners. Das ist so. Eine Reihe von Betroffenenverbänden hat ihre ursprüngliche Kritik an unserem Gesetz mittlerweile relativiert.
Sie sehen das mittlerweile anders.
Ich meine, wenn wir in der Pflegeversicherung weiterkommen wollen, dann sollten wir etwas ehrlicher miteinander umgehen.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt der Abgeordneten Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich sollte der Titel eines Gesetzes auf dessen Inhalt hinweisen. Doch der vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, des Bundesversorgungsgesetzes und des Lastenausgleichsgesetzes" verschweigt geflissentlich, daß es um die Pflege geht, daß es sich um eine Weichenstellung für die Pflegeversicherung handelt.Vielmehr begründet die Bundesregierung diesen Entwurf damit, den „belasteten Rechtsfrieden" gesetzgeberisch entspannen zu müssen, indem sie in der „bundesweit uneinheitlichen Verwaltungspraxis bei der Anrechnung der Krankenkassenleistungen bei Pflegebedürftigkeit" Gleichheit herstellen will. Was für eine Gleichheit ist das? Eine Gleichheit, die nicht Gerechtigkeit für Menschen, sondern eine Entlastung für öffentliche Kassen darstellt. Warum gibt es denn Sozialleistungsträger, die — trotz zugegeben angespannter Situation ihrer Kassen — Leistungen der Krankenkassen zur Pflege nicht anrechnen? Sie sehen diese Leistungen nicht als konkurrierende Leistungen an, weil eben beispielsweise die Sozialhilfe laut § 69 des Bundessozialhilfegesetzes als „Hilfe zur häuslichen Pflege" gewährt wird, wenn der- oder diejenige mit den eigenen Möglichkeiten nicht den notwendigen Bedarf decken kann.
— Frau Präsidentin, trotz der geringen Anwesenheit im Parlament vermögen es die anwesenden Parlamentarier, reichlich Unruhe zu erzeugen.
— Wenn Sie zuhören würden, wäre es vielleicht nicht verkehrt. Gewisse Menschen können lernen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7263
Sie haben selbst aufgefordert, und wir hoffen, daß gefolgt wird.
Die Versicherungsleistung von 400 DM Krankenkassenpflegegeld wird also jedem Schwerpflegebedürftigen gewährt. Während sie dem in vermögenden Verhältnissen Lebenden zusätzlich zur Verfügung steht, soll sie dem finanziell minderbemittelt Lebenden gegen andere Ansprüche angerechnet werden. Es geht also wieder auf die Ärmsten der Armen. Auf die Lösung der wirklichen Probleme pflegebedürftiger Menschen wird kein Gedanke verwandt. Im Gegenteil: Ausbauwürdige Staffelungen von Pflegegeldsätzen, wie sie im Bundesversorgungsgesetz vorhanden sind, werden ausgehebelt, indem die Vorstufen der Schwerstpflegebedürftigkeit, die Eingangspflegegelder, eliminiert werden. Ein Gesamtsystem differenzierter Leistungen wird zerstört.
Anliegen des Gesetzentwurfes ist also, daß erstmalig Versicherungsleistungen gegen soziale Leistungsgesetze gegengerechnet werden sollen.
Zum Argument, nach dem Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes, das das Pflegegeld der gesetzlichen Krankenkassen einführte, seien nicht alle zuständigen Sozialleistungsträger der Logik gefolgt, dadurch gleichartige Leistungen vor allem nach dem Bundessozialhilfegesetz und dem BVG zu ersetzen, d. h. gegenzurechnen, muß gesagt werden: Diese Logik mag damals in der Diskussion im Gesetzgebungsverfahren eine Rolle gespielt haben, mag Wunsch gewesen sei. Rechtlich fixiert ist sie nicht. So weist weder der Kommentar zum § 57 des SGB V darauf hin, noch verlangt das Sozialhilferecht beim Nachrang der Sozialhilfe eine Abgrenzung zwischen GKV und § 69 des Bundessozialhilfegesetzes.
Als einen durch Beiträge erworbenen Leistungsanspruch gewähren folglich einige Länder das Kassenpflegegeld neben anderen Leistungsarten. Der Gesetzentwurf ist ein Angriff auf die Ländergesetzgebung. Länder, die — nach dem föderalen Prinzip — im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit für die Sozialhilfe unterschiedlich gehandelt haben, sollen — im Rahmen einer Rechtsstaatlichkeit auf niedrigstem Niveau — auf das Niveau der sparsamsten Länder gezwungen werden. Tatsächlich soll also dieses Bundesgesetz progressive Landesgesetze, wie sie die Pflegegeldgesetze von Rheinland-Pfalz, Bremen und Berlin darstellen, brechen. Sie sollen neutralisiert werden.
Es wird behauptet, daß der größere Teil der Sozialleistungsträger bereits die im Gesetz vorgeschlagene Regelung praktiziert. Wir sagen, es fehlen dringend Angaben über die Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die seit dem 1. Januar 1991, d. h. seit fast anderthalb Jahren, beide Leistungen nebeneinander erhielten und jetzt eine Kürzung um 200 DM hinnehmen sollen. Diese Gegenrechnung kann für einzelne zu einer 30%igen Kürzung des Pflegegeldes führen. Was sind dagegen 5 % Kürzung der Ministergehälter?
Resümee: Der Gesetzentwurf ist eine Weichenstellung für die anvisierte Pflegeversicherung und Bestandteil des strategischen Umbruchs der Verwendung des Bruttosozialprodukts, der rechtliche Rahmen für weiteren Sozialabbau. Deshalb lehnt die PDS/Linke Liste diesen Gesetzentwurf ab.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/2219 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Stiftung für die Opfer ausländerfeindlicher Übergriffe
— Drucksache 12/2084 —
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/2084 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
— Drucksache 12/2021 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Innenausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Conradi, Freimut Duve, Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
EG-Klage gegen das Zweite Gesetz zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
— Drucksache 12/2214 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Innenausschuß
Nach der interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dazu gibt es keinen Widerspruch.
Die Aussprache wird eröffnet durch Herrn Dr. Albert Probst.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wenden uns nun einem besonders wichtigen Fach zu,
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7264 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Dr. Albert Probstnämlich der Filmförderung. Film ist ja oft erst eine Spätvorstellung.Das Filmförderungsgesetz vom 22. Dezember 1967 ist am 1. Januar 1968 in Kraft getreten. Es ist inzwischen mehrmals, zuletzt im Jahre 1986, novelliert worden. Das Gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung endet nach sechsjähriger Laufzeit am 31. Dezember 1992.Die unbefriedigende wirtschaftliche Lage des deutschen Films macht die Fortführung der wirtschaftlichen Fördermaßnahme auf Bundesebene unerläßlich. Man darf sich keinen Illusionen hingeben: Ohne Weiterführung des Filmförderungsgesetzes gäbe es keinen deutschen Film in nennenswerter Größenordnung mehr. Den Ausführungen des ehemaligen Bundesministers Lahnstein anläßlich des jüngsten Filmtheaterseminars des Hauptverbandes Deutscher Filmtheater in Baden-Baden — ich zitiere —, man solle den Mut haben, sich längerfristig eine deutsche Filmwirtschaft vorzustellen, für die es wirtschaftliche Förderungen nicht mehr gibt, vermag ich nicht zuzustimmen. Der Anteil des deutschen Films auf dem inländischen Markt bewegt sich in den letzten Jahren ohnehin nur in der Größenordnung zwischen 10 und 23%.Im übrigen sollten wir nicht außer acht lassen, daß auch die anderen europäischen Filmländer mit den gleichen Problemen befaßt sind. Wir konkurrieren mit ihnen. Nicht nur in den kleinen europäischen Nachbarländern wie Österreich und der Schweiz, sondern auch in Frankreich und Italien muß der einheimische Film finanziell massiv unterstützt werden. In Frankreich betragen die wirtschaftlichen Förderungsmaßnahmen sogar ein Vielfaches der gesamten Förderungsmittel des Bundes und der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.
Von allem Anfang an hatte das Filmförderungsgesetz das erklärte Ziel — ich zitiere —, „die Qualität des deutschen Films auf breiter Grundlage zu steigern und die Struktur der Filmwirtschaft zu verbessern sowie für die Verbreitung und marktgerechte Auswertung des deutschen Films im In- und Ausland zu wirken". Es kann nicht bestritten werden, daß dieses Ziel bis heute nicht in ausreichendem Maße erreicht worden ist. Der Gesetzentwurf setzt daher — bei grundsätzlicher Beibehaltung der bisherigen Fördertatbestände — einen verstärkten wirtschaftlichen Akzent in Richtung Strukturverbesserung des deutschen Films. Dabei soll an dem bewährten Grundsatz festgehalten werden, daß alle, die vom deutschen Film wirtschaftlich profitieren, auch einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung des deutschen Films zu leisten haben.Neben anderen Änderungen, über die in den Ausschüssen zu beraten sein wird, möchte ich auf folgende neuen Akzente des Gesetzentwurfs hinweisen:Erstens. Der Schwerpunkt der Produktionsförderung deutscher Filme soll in Zukunft bei der umgestalteten Referenzfilmförderung liegen. So sollen 50 % — nicht wie bisher 40 % — des Mittelaufkommens der Filmförderungsanstalt dafür verwendet werden.Zweitens. Maßgebendes Kriterium für eine Förderhilfe soll künftig allein die von einem Film erreichte Besucherzahl sein, und zwar werden Förderhilfen entsprechend der Besucherzahl — mit einer Mindestzahl von 50 000 und einer Obergrenze von 1 Million Besuchern — gewährt. Bei Dokumentar-, Kinder- und Jugendfilmen beträgt die Besucherschwelle 25 000. Die Höchstfördersumme soll auf 4 Millionen DM erhöht werden.Drittens. Zur Strukturverbesserung der deutschen Filmproduktion soll beitragen, daß der Hersteller 20 v. H. der ihm zustehenden Referenzmittel zur Verbesserung seiner Eigenkapitalbasis oder für besondere Stoff- oder Drehbuchentwicklung verwenden kann.Viertens. Die Verleihförderung wird von 10 % auf 15 % des Mittelaufkommens erhöht. Die Darlehensbeträge werden im Einzelfall auf bis zu 250 000 DM, in besonderen Fällen auf bis zu 500 000 DM angehoben.Fünftens. Entsprechend der Förderung der Filmtheater, die im bisherigen Umfang beibehalten wird, und des Filmverleihs sowie im Interesse der Akzeptanz der Videowirtschaft soll eine Förderung von Videotheken, die für Kinder und Jugendliche geeignet sind, eingeführt werden.Auf der Einnahmenseite — ebenfalls nur einige Schwerpunkte — werden erstens die Umsatzfreigrenzen für die Filmtheater von 80 000 DM auf 100 000 DM erhöht.Zweitens. Die Abgabe der Videowirtschaft wird künftig in Höhe von 2,5 % des Umsatzes auf der Ebene der Programmanbieter, d. h. der Inhaber der Lizenzrechte, und nicht mehr auf der Ebene der Videotheken erhoben.Drittens. Es soll künftig wie bisher bei einem freiwilligen Beitrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verbleiben. Ebenso soll es auch bei den Fernsehveranstaltern privaten Rechts bei einem freiwilligen Beitrag für den deutschen Film verbleiben, wobei die Bundesregierung erwartet, daß mit der Filmförderungsanstalt entsprechende Abkommen mit einem angemessenen Finanzvolumen abgeschlossen werden.Einen gewissen Widerspruch sehe ich darin, daß im Gesetzentwurf der Förderhöchstbetrag im Bereich der Projektfilmförderung von derzeit 1 Million DM auf 2 Millionen DM verdoppelt wird, andererseits aber die Mittel für die Projektförderung von derzeit 16 % auf 10 % reduziert werden sollen. Ein gewisser Ausgleich könnte meines Erachtens dadurch geschaffen werden, daß die Zuwendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten für die Projektförderung in dem künftigen Film-Fernseh-Abkommen deutlich erhöht werden. Das gilt auch für einen entsprechenden Vertrag mit den privaten Fernseheinrichtungen.Ich begrüße es, daß dieser Gesetzentwurf nunmehr vorliegt. Er wird in den nächsten Wochen in den Ausschüssen beraten werden. Ich hoffe, daß diese Beratungen zügig vorangehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7265
Dr. Albert ProbstDanke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Peter Conradi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jahren wird lamentiert, der deutsche Film sei tot. Dieses Jahr sind für den Deutschen Filmpreis 116 Filme eingereicht worden: Krimis und Komödien, Filme über die deutsche Einheit, Musikfilme, Kunstfilme, Dokumentarfilme, Heimatfilme — gute Filme und nicht so gute Filme.
Der deutsche Film ist gewiß nicht tot,
aber er tut sich verdammt schwer gegen die Übermacht der amerikanischen Filme. Das ist genauso mit den englischen, französischen und italienischen Filmen: Überall ist die Marktmacht der amerikanischen Filmindustrie so groß, daß sich die eigene Filmindustrie kaum halten kann.Die Polemik gegen das System der Filmförderung — uns ist oft gesagt worden, wir sollten sie abschaffen — ist falsch; denn ohne die deutsche Filmförderung, die Förderung der Länder, die Förderung durch die Filmförderungsanstalt und die Förderung durch den Bundesinnenminister, gäbe es keinen deutschen Film mehr.
In England hat die Thatcher-Regierung die Filmförderung auf Null heruntergeschrieben; in England werden kaum mehr Filme gemacht. Frankreich steckt enorm viel Geld in die Filmförderung und hat sich damit eine nationale Filmkultur erhalten.Nach dem Filmförderungsgesetz verlangen wir von den Kinobesitzern eine Abgabe in Höhe von ungefähr 10 bis 20 Pfennig pro Kinokarte, egal um welchen Film es sich handelt; das kann auch ein chinesischer Film sein. Zu dieser Abgabe kommt eine Abgabe der Videohändler und eine freiwillige Abgabe der Fernsehanstalten. Mit diesem Geld fördert die Deutsche Filmförderungsanstalt den deutschen Film.Das ist ein eigenartiges Verfahren. Man stelle sich einmal vor, wir belegten jeden Käufer eines Autos, also auch eines amerikanischen, französischen, italienischen oder japanischen Autos, mit einer Abgabe und würden die dann Daimler-Benz, Volkswagen, Opel zukommen lassen; das würde nicht gehen.
— Richtig, beim Kohlepfennig gibt es das Verfahren, Herr Kollege.Sicher gibt es in der Filmförderungsanstalt bürokratische Auswüchse, viel zu große Gremien und viel zu kleine Töpfe; darüber wollen wir im Ausschuß reden. Aber am Grundprinzip der Filmförderung wollen wir nicht rütteln. Wir meinen, der Film sei mehr als ein Wirtschaftsgut, er sei ein Kulturgut.Der Film sagt etwas über unsere Träume, über unsere Ängste, über unsere Freuden. Wir lachen im Kino, wir weinen, wir staunen manchmal. Der Film prägt unser Bewußtsein, er prägt Bilder. Das alles hat mehr mit Kultur als mit Wirtschaft zu tun. Ich liebe amerikanische Filme. Aber ich möchte in deutschen Kinos nicht nur die Welt amerikanischer Regisseure sehen, nicht nur ihre Träume und Bilder, ich möchte auch das Lebensgefühl, die Geschichten und Ideen deutscher Filmemacher sehen; das hat mit Kulturchauvinismus nichts zu tun.Nun beanstandet die EG, daß wir den deutschen Film an der deutschen Nationalität von Regisseuren, Drehbuchautoren und Schauspielern festmachen. Wir werden das ändern: Wir werden den deutschen Film zukünftig an der deutschen Sprache definieren. Ich halte das auch für vernünftig. Ich habe mich z. B. gewundert, daß „Homo Faber", ein großer deutschsprachiger Roman, mit Schauspielern verfilmt wurde, die kein Wort Deutsch reden können. Das halte ich für einen Irrweg.
— Das war trotzdem ein guter Film.Wir wollen nicht den europäischen „Pudding-Film" mit einem spanischen Regisseur, einer deutschen Produzentin, einem englischen Hauptdarsteller und einem französischen Kameramann, sondern wir wollen die Vielfalt nationaler Filmkulturen. Wir wollen dafür sorgen, daß der deutsche Filmbesucher nicht nur 90 % amerikanische und 8 % deutsche Filme, sondern auch mehr europäische Filme sehen kann.Strittig wird es nun beim Filmförderungsgesetz, wer und wie gefördert wird. Da werden wir, Herr Kollege Probst, noch miteinander reden müssen. Die einen sagen: Da muß geklotzt werden, weil gute Filme Geld kosten. Die anderen sagen: Da muß auch gekleckert werden, damit die Leute, die Ideen haben, die jungen Filmemacher, eine Chance haben. Teuer ist ja nicht automatisch gut; billig auch nicht.
Wir sind der Meinung, die Filmförderungsanstalt bekommt insgesamt viel zuwenig Geld. Sie haben es eben angedeutet, ich sage es in Zahlen: Die Franzosen geben 250 Millionen DM im Jahr aus der Filmförderungsabgabe und der Abgabe der Fernsehanstalten aus, wir 40 Millionen DM, wozu noch die Förderung durch die Länder und durch das BMI kommt. Deswegen sollten wir die Filmförderungsabgabe deutlich erhöhen.Wir wollen auch nicht alleine an die Zuschauerzahlen anknüpfen. Sonst kämen wir auf den Weg des Fernsehens. Wir wissen, wie beim Fernsehen unter dem Diktat der Einschaltquoten das Niveau gesunken ist. Auch ein Film, der nur eine geringere Zuschauerzahl bekommt, der aber anspruchsvoll ist und einen Filmpreis bekommt, soll bei der Referenzförderung berücksichtigt werden.Übrigens war das Ansehen des deutschen Films in der Welt in den 70er Jahren am größten, als die Zuschauerzahlen hier in Deutschland am niedrigsten
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7266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Peter Conradiwaren. In der ganzen Welt hat man damals von deutschen Film geredet, nur in Deutschland wollte ihn fast niemand sehen. Wir werden also Ihrer Tendenz, der Förderung vor allem den Erfolg der Kinokassen zugrunde zu legen, nicht folgen.Strittig wird sein, ob und wie wir das Fernsehen beteiligen. Das Fernsehen tut viel für den Film, aber das Fernsehen profitiert auch vom Film, vor allem die Privaten. Die Filme sind für das Fernsehen in der Regel billiger als die eigenen Unterhaltungssendungen, vor allem wenn die Sender dann noch bei der Filmförderungsanstalt, beim Bundesinnenminister und bei den Ländern mitkassieren.Die öffentlichen und privaten Fernsehanstalten zahlen zur Zeit zusammen rund 15 Millionen DM für die Filmförderung, ein lächerlicher Betrag. 15 Millionen DM kostet heute ein guter Film; "Schtonk" hat 16 Millionen DM gekostet.Jetzt drohen die Fernsehanstalten uns mit dem Bundesverfassungsgericht. Wir sind erschrocken! Die Videohersteller drohen uns auch und sagen: Wenn ihr uns da einbezieht und das Fernsehen nicht, gehen wir nach Karlsruhe. Wir sehen uns also in jedem Fall in Karlsruhe, egal was wir beschließen.Ich meine, wir sollten uns als Gesetzgeber schon überlegen, ob wir es uns gefallen lassen, daß uns eine mächtige Institution mit dem Bundesverfassungsgericht droht. Wenn die Bundesregierung vor dem Fernsehen in die Knie geht, habe ich dafür Verständnis; aber wir müssen das nicht auch tun. Wenn wir vor dem Fernsehen in die Knie gehen, weil die Anstalten uns mit Karlsruhe drohen und einen Ablaßbetrag zahlen, muß man fragen: Wo kommen wir hin, wenn das Schule macht?Da könnte ich mir manche große deutsche Institution — z. B. eine bestimmte Firma in Stuttgart — vorstellen, die durch Drohungen mit Karlsruhe und mit Ablaßzahlungen Gesetzesabwendungsinitiativen starten würde. In Karlsruhe wird man immer klüger; Karlsruhe ist immer für Überraschungen gut. Ich neige dazu, es darauf ankommen zu lassen und die Fernsehanstalten gesetzlich in die Abgabe einzubeziehen. Wenn wir es nicht machen, sollten wir auf jeden Fall darauf drängen, daß sie sehr viel mehr zahlen als bisher.
In einigen Köpfen gibt es Ideen über eine ganz neue, unbürokratische, kulturell fordernde und staatsferne neue Filmförderung, geradezu eine Revolution der Filmförderung. Ich fürchte, es liegt am zunehmenden Alter, daß ich von der Revolutionsfähigkeit deutscher Institutionen nicht mehr so viel halte. Wir wollen deshalb das Filmförderungsgesetz auf sechs Jahre verlängern; wir wollen es verbessern. Aber niemand ist gehindert, uns bei den Anhörungen und Beratungen ganz neue, ganz tolle Vorschläge zu machen. Wir wollen niemandem seine Träume nehmen, schon gar nicht beim Film.Wenn ich gelegentlich im Kreis der Kolleginnen und Kollegen abends von einem Film erzähle, der mir gut gefallen hat, dann gucken die mich ganz schräg an und sagen: Mein Gott, der hat wohl keine Arbeit, daßer ins Kino gehen kann. Ich möchte Ihnen trotzdem empfehlen, ab und zu ins Kino zu gehen, denn Sie erleben dabei etwas, was viele junge Menschen bei uns im Land bewegt, was unsere Kinder bewegt, und Sie sehen manches, was auch Sie bewegen könnte.Ich meine, es lohnt sich nicht nur, den deutschen Film zu fördern, wir sollten ihn auch anschauen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Josef Grünbeck.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Anschluß an die beiden Vorredner darf ich feststellen, daß es erfreulicherweise zu dieser grundsätzlichen Entscheidung keine nennenswerten Differenzen gibt. Herr Probst hat die technischen Konditionen sehr gut dargestellt. Ich finde mich bei Ihren Auffassungen zur Bedeutung des Films, Herr Conradi, wirklich gut aufgehoben. Wir werden in den Ausschüssen sicher noch darüber zu reden haben. Wir sind uns einig über das Ziel, nämlich über die Verbesserung der Struktur und der Leistungsfähigkeit der deutschen Filmwirtschaft.Notwendig ist sicher auch mehr Qualität. Ihren Ausführungen über das Fernsehen kann ich mich nur anschließen.Ich bin etwas in Sorge um die Entwicklung unserer Fernsehstruktur. Es geht bezüglich der ganzen Gewaltmentalität, der ganzen Kriminalität in allen Bereichen eigentlich schon so weit, daß unsere Gesellschaft, gerade die aufnahmefähige Gesellschaft, die junge Generation, in erheblichem Maß durch diese unqualifizierten Darstellungen zu besten Sendezeiten immer wieder beeinflußt wird. Ich muß sagen: Hier wäre es eigentlich notwendig, die Fernsehwirtschaft mit gestalten und mit beeinflussen zu können. Das, was sich da manchmal abspielt, auch mit der Zwischenschaltung geschmacklosester Werbung, kann nicht die deutsche Kultur sein. Da muß ich Ihnen voll beipflichten. In der Debatte in den Ausschüssen sollten wir uns darüber unterhalten.Die Lösungen sind klar aufgezeigt, nämlich zum einen die Produktionsförderung. Es ist die Frage, ob die Bewertungskommission aufgelöst werden muß oder nicht. Zur Erleichterung von europäischen Koproduktionen sagen wir ja. Ich stimme auch der Verstärkung der Verleihförderung zu. Ich bitte dringend darum, die Förderung von Videotheken für Kinder und Jugendliche vorzunehmen. Es ist ganz dringend notwendig, da etwas umzustellen.Zum Schluß möchte ich etwas zur EG sagen. Die EG hat ein Verfahren wegen der angeblichen Diskriminierung von Angehörigen der EG-Staaten angekündigt. Meine Damen und Herren, es kann doch wohl nicht die Zukunft des kulturellen Europas sein, daß wir die Vielfalt unserer nationalen Kulturen in Frage stellen und in der Vielfalt gleich eine Diskriminierung der anderen sehen. Ich meine, wir sollten dazu aufrufen, die Vielfalt der kulturellen Strukturen und nicht
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Josef Grünbeckdie Einfalt der EG-Bürokraten zu fördern. Anders kann es doch nicht sein.
Ich glaube, wir können zuversichtlich in die Ausschußberatungen gehen. Ich schöpfe meine Redezeit heute nicht aus, weil Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen besteht.Vielen Dank.
Damit hat gleich als nächster das Wort der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich für die Bundesregierung dieser fraktionsübergreifenden Übereinstimmung sehr gern anschließen. Es tut dem Deutschen Bundestag gut, auch einmal Gesetzentwürfe zu diskutieren, die ein einheitliches Votum erfahren können.Diese erfreuliche Übereinstimmung zwischen fast allen Fraktionen betrifft die Akzeptanz der Fortführung des bisherigen Systems der deutschen Filmförderung, nämlich der Erhebung einer Filmabgabe von den Filmtheatern und der Videowirtschaft und der Beibehaltung eines angemessenen freiwilligen Beitrags des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und des privaten Fernsehens zur Förderung des deutschen Films in den nächsten Jahren.Über die Qualität der Filme hat sich der Bundesminister für Wirtschaft nicht zu äußern. Der von allen Fraktionen geäußerten Kritik an dem, was dem deutschen und sonstigen interessierten Publikum von den öffentlich-rechtlichen und den privaten Fernsehanstalten geboten wird, möchte ich mich persönlich in vollem Umfang anschließen.Ich habe den Eindruck, daß eine große Übereinstimmung über die geänderte Zielrichtung bei der Anwendung der Filmfördermittel besteht, nämlich daß die Förderung der Filmproduktion stärker auf eine Verbesserung der Struktur und der Leistungsfähigkeit der Filmproduzenten ausgerichtet werden soll. Soviel zu erkennen ist, bestehen gegen diese Akzentverschiebung zugunsten der Referenzfilmförderung und zu Lasten der Projektfilmförderung sowie gegen die vorgesehene verstärkte Förderung der Verleihfirmen keine Bedenken.Ich bin sicher, daß wir bei der umstrittenen Zahl der maßgeblichen Zuschauer, welche die Bundesregierung mit 50 000 veranschlagt, einen vernünftigen Kompromiß zwischen den unterschiedlichen Auffassungen finden werden und daß auch der Gesichtspunkt der Qualität der Filme bei der Referenzfilmförderung angemessen berücksichtigt werden kann. Ich glaube, dieser Gesichtspunkt kann eigentlich auch nur dort angemessen berücksichtigt werden.Ich glaube ferner, daß Übereinstimmung darüber besteht, daß die Videoabgabe in Zukunft auf derEbene der Videoprogrammanbieter und nicht auf der Ebene der einzelnen Videtoheken erhoben werden soll.
Auch wenn die Video-Wirtschaft hiergegen Widerstand und auch Verfassungsklage angekündigt hat, meine ich, daß es bei der vorgesehenen Erhebung auf der Ebene der Programmanbieter bleiben muß. Die Höhe des Abgabesatzes wird in den Ausschüssen sicher sorgfältig zu prüfen sein.Ich freue mich, auch hinsichtlich des zweiten strittigen Punkts der Novelle in diesem Hohen Haus Übereinstimmung festzustellen, nämlich hinsichtlich des Verfahrens nach Art. 92 Abs. 3 des EWG-Vertrags, das die EG-Kommission gegen die Bundesregierung angestrengt hat.Ein Wort an die Opposition: Ich stimme voll und ganz mit dem Anliegen Ihres Entschließungsantrages überein, daß wir eine neue Definition des deutschen Films finden müssen, die nicht, Herr Kollege Conradi, an die Staatsangehörigkeit eines der Filmmitwirkenden anknüpft. Die Amerikaner wären ja „weit" gekommen, wenn sie sich — um es mit einem nicht ganz passenden Vergleich zu sagen — nur auf amerikanische Schauspieler und Regisseure beschränkt hätten.Ich kann Ihnen mitteilen, daß die Gespräche, die das Bundesministerium für Wirtschaft mit der EG-Kommission geführt hat und die vorher auch mit der Filmwirtschaft abgestimmt waren, vorläufig zu einem positiven Ergebnis geführt haben. Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag eine Definition des deutschen Films vorschlagen, bei der Staatsangehörige der EG-Mitgliedstaaten den Deutschen und den Beteiligten aus dem deutschen Kulturbereich gleichgestellt werden. Ferner wird als allgemeines weiteres Kriterium für die Feststellung, ob ein Film Förderungshilfen erhalten kann, das Element eingeführt, daß der Film in Deutschland oder auf einem sogenannten A-Festival als deutscher Film uraufgeführt worden sein muß.Die Kommission hat im übrigen erkennen lassen, daß sie gegen eine solche Änderung der §§ 15 bis 17 des Filmförderungsgesetzes keine weiteren Einwendungen erheben wird.Ein Punkt, den die Kommission nachgeschoben hat, ist allerdings mit der Kommission noch streitig, nämlich die Behandlung internationaler Koproduktionen. Hier muß es, glauben wir, bei dem Hinweis auf nationale Beteiligte bleiben. Die Frage wird aber mit der Kommission weiter zu klären sein.Wichtig ist für die Bundesregierung, daß es bei den bisherigen Bestimmungen des § 15 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 und auch des § 18 des Filmförderungsgesetzes bleiben kann — das betrifft das Ziehen der Kopien in einer deutschen Kopieanstalt — und daß sich die Kommission nicht gegen das deutsche Filmförderungssystem als solches wendet.Wir wollen eine Fortsetzung der nationalen Filmförderung. Denn der Reichtum der europäischen Kultur besteht ja gerade in der Vielfalt nebeneinander
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7268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Parl. Staatssekretär Dr. Erich Riedlexistierender nationaler und auch regionaler Kulturen und nicht in einer Harmonisierung der nationalen Förderinstrumente.Ich hoffe, daß wir mit den Beratungen der FFG-Novelle zügig vorankommen und daß es bei den weiteren Beratungen zu möglichst einvernehmlichen Lösungen in diesem Haus kommen wird.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.
Die Frau Kollegin Dr. Enkelmann hat gebeten, ihren Redebeitrag zum Tagesordnungspunkt 13 zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall* ).
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2021 und 12/2214 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. — Damit sind Sie einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen.
Wir kommen zum letzten Teil der Tagesordnung der heutigen Sitzung. Ich rufe die Zusatzpunkte 1, 2 und 3 auf:
ZP1 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 148 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1977 über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigung, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen
— Drucksache 12/2447 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 162 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1986 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest
— Drucksache 12/2448 —Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP3 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 167 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1988 über den Arbeitsschutz im Bauwesen
— Drucksache 12/2472 —
*) Anlage 2
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
Interfraktionell ist für die Beratung eine halbe Stunde vorgesehen. — Es gibt keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über drei Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation zu Fragen des Arbeitsschutzes. Dies gibt Gelegenheit, ein paar Worte zum Stand des Arbeitsschutzes zu sagen.Die Bundesrepublik Deutschland gehört inzwischen unter den 154 Mitgliedsländern der IAO zu der Spitzengruppe der 15 Staaten, die die meisten Ratifikationen vorgenommen haben. 90 % der Staaten haben weniger Übereinkommen ratifiziert. Das heißt, wir sind aktiv dabei, wenn es darum geht, die Qualität des Arbeitsschutzes zu gestalten.
Dies gilt noch sichtbarer im EG-Bereich.
— Da braucht man gar nicht „Donnerwetter" zu rufen, sondern da braucht man nur den gemeinsamen Beschluß von Oppositions- und Regierungsfraktionen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung nachzulesen, wo amtlich festgestellt wurde, daß der Deutsche Bundestag diese Aktivitäten der Bundesregierung begrüßt.Das gilt, und das sage ich noch einmal, noch sichtbarer für den EG-Bereich. Für uns ist nämlich eines ganz klar: Die Verwirklichung der sozialen Dimension des Gemeinsamen Marktes verlangt insbesondere die Implantierung gemeinsamer Arbeitsschutznormen. Seit der Einheitlichen Akte 1987 hat die Regierung Kohl konsequent eine ganze Reihe von EG-Richtlinien initiiert und maßgeblich daran mitgewirkt, daß es zu der Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz gekommen ist. Seitdem sind immerhin 21 wichtige Richtlinien bereits umgesetzt, und eine größere Zahl ist im aktuellen Beratungsstadium.Dies hat für die Anhebung der Qualität des Arbeitsschutzes in Europa große Bedeutung. Dies bringt aber auch eine weitere Aktionsebene, nämlich die europäische, und sollte im Blick auf die IAO zu einem möglichst koordinierten europäischen Vorgehen führen.Man darf deshalb durchaus, und dies ganz deutlich, auf den hohen Standard des deutschen Arbeitsschutzrechts hinweisen. Ich halte überhaupt nichts davon, bei der europäischen Diskussion den Erhalt des hohen Standards ständig zu fordern und daheim so etwas wie Weltuntergangsstimmung zu verbreiten.
— Wir werden ja noch sehen, wie das in den nächstenMonaten aussieht, wenn wir die Diskussion weiterführen. Einen Vorgeschmack hat uns der Kollege Schrei-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7269
Hans-Joachim Fuchtelner vor kurzem durch eine Presseerklärung bereits gegeben.
— Das ist Ihre Beurteilung; ich möchte mich aus kollegialen Gründen enthalten.Unser Arbeitsschutzsystem genießt im Ausland höchstes Ansehen. Das hat die CDU/CSU aber niemals veranlaßt, die Hände in den Schoß zu legen. Es ist vielmehr eine dauernde Aufgabe, den Arbeitsschutz weiterzuführen, ein Gebot der Humanität und der volkswirtschaftlichen Vernunft.
— Wenn Sie „zehn Jahre" sagen, dann möchte ich Ihnen einmal in Erinnerung rufen: Sie haben 1981 nach fast zehn Jahren Regierungszeit endlich versucht, eine einheitliche neue Linie zu finden, und es ist Ihnen in Ihrer Regierungszeit dann nicht mehr gelungen. Das ist die Tatsache, und sonst nichts.Meine Damen und Herren, die Zahlen zeigen aber auch, daß man hohe Aufwendungen seitens der Gesetzlichen Unfallversicherung hat, die 1990 für arbeitsbedingte Unfälle 15,6 Milliarden DM ausgeben mußte. 1970 waren es 4,9 Milliarden und 1950 0,5 Milliarden. Diese Zahlen — das sage ich auch noch einmal bezugnehmend auf die Äußerungen des Kollegen Schreiner vor kurzem in der Öffentlichkeit — lassen aber aus verschiedenen Gründen nicht die Schlußfolgerung zu, mit dem Arbeitsschutz in Deutschland gehe es bergab. Man kann daraus nämlich und das ist für die Diskussion wichtig — keinen Vergleich mit anderen EG-Staaten ableiten, denn einen einheitlichen Begriff des Arbeitsunfalls gibt es in der EG bisher nicht.Arbeitsschutz ist für uns ein Thema mit besonderer Sensibilität. Denn in erster Linie geht es um den Menschen. Hinter den nüchternen Zahlen verbergen sich menschliche Schicksale und menschliches Leid, das soweit wie möglich verhindert werden muß und das ganz sicher nicht dazu geeignet ist, um mit politischen Emotionskanonen zu schießen.Meine Damen und Herren, zu den Fortschritten des Arbeitsschutzes gehören auch die heute vorliegenden IAO-Abkommen. Das Übereinkommen Nr. 148 behandelt den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigungen, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen.An diesem Gesetzentwurf kann man übrigens exemplarisch soziale Weiterentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland aufzeigen. Bis zum Jahre 1984 — ich sage dies an die Adresse derjenigen, die heute ganz große Bäume ausreißen wollen — war für keinen der drei Gefahrenbereiche eine Ratifizierung möglich. Zwar entsprachen die innerstaatlichen Luftreinhaltungs- und Lärmvorschriften schon damals den Anforderungen des Übereinkommens, sie galten aber nicht umfassend für alle Wirtschaftsbereiche einschließlich der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Unsere Bundesregierung hat 1986 die neue Gefahrstoffverordnung und damit Vorschriften bezüglich der Luftreinhaltung geschaffen, die auf alle Arbeitnehmer anwendbar sind, insbesondere auf die des öffentlichen Dienstes. Damit wurde dieses Hindernis aus der Welt geräumt.Hinsichtlich der Gefahrenart Lärm ist die Bundesrepublik Deutschland ebenfalls auf Grund von EG-Recht verpflichtet, Schutzvorschriften für denselben umfassenden Personenkreis zu erlassen. Auch hier haben wir die Hindernisse aus dem Weg geräumt.Hinsichtlich der Gefahrenart Vibration sind in Kürze innerstaatliche Normen verfügbar. Deshalb kann das Übereinkommen auch bezüglich dieser Gefahrenart bereits jetzt ratifiziert werden.Das Übereinkommen Nr. 162 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest enthält Grundsätze für die Verhütung und Begrenzung von Gesundheitsgefahren infolge des Umgangs mit Asbest. Diese betreffen einerseits die Information und Aufklärung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und andererseits bestimmte Schutz- und Verhütungsmaßnahmen sowie die Überwachung der Arbeitsumwelt und der Gesundheit der Arbeitnehmer.Meine Damen und Herren, in der langen Geschichte des Arbeitsschutzes ist Asbest eine vergleichbar neue Herausforderung. Es ist daher sehr zu begrüßen, daß sich die Regierung Kohl dieser Problematik so nachdrücklich frühzeitig gestellt hat.
Deshalb entsprachen die in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Bestimmungen zu Asbest mit einer einzigen Ausnahme schon seit geraumer Zeit den Regelungen des Übereinkommens. In vielen Bereichen gibt das bei uns geltende Recht sogar eine bessere Schutzmöglichkeit als im Übereinkommen vorgesehen.
Die noch nicht geregelte Zulassung von Fachfirmen zur Durchführung von Abbrucharbeiten wird durch eine entsprechende Vorschrift in der Gefahrstoffverordnung erst umgesetzt werden.Das Übereinkommen Nr. 167 regelt den Arbeitsschutz im Bauwesen. Die Anforderungen dieses Übereinkommens werden in der Bundesrepublik Deutschland durch die bestehenden Arbeitsschutzvorschriften bis auf einen Punkt bereits erfüllt.Die CDU/CSU begrüßt die Ratifizierung dieser drei Übereinkommen deswegen und wird ihnen zustimmen und bedankt sich vor allem bei der Bundesregierung und den Verhandlungsführern vor Ort für die Vorarbeit.
Diese Übereinkommen sind weitere größere und kleinere Schritte auf dem kontinuierlichen Weg, nicht nur den Arbeitsschutz in der Bundesrepublik zu verbessern, sondern das national Erreichte auch durch
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Hans-Joachim Fuchteldas Eingehen internationaler Verpflichtungen zu bekräftigen.
— Lieber Kollege Andres, seien Sie vorsichtig, sonst zitiere ich wieder einmal Ihren Diskurs in der FAZ aus dem Jahre 1988.Meine Damen und Herren, dies liegt im Interesse der Menschen und der Volkswirtschaft. Wir wollen einen ständig verbesserten Arbeitsschutz, nicht nur im nationalen Rahmen der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch auf internationaler Ebene, wie die nunmehr zur Ratifikation vorgelegten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation verdeutlichen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manfred Reimann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Drei Einzelregelungen stehen heute zur Debatte und geben Anlaß, den zentralen Punkt der Arbeitssicherheit in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu rücken endlich einmal in den Mittelpunkt zu rücken!Nach Angaben der EG-Kommission verursachen mehr als 4,5 Millionen Arbeitsunfälle im Jahr Sozialkosten von mehr als 45 Milliarden. Die EG-Kommission weiß also, Herr Fuchtel, warum sie das Jahr 1992 zum Jahr des Arbeitsschutzes ausgerufen hat. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf die Vorstellungen meiner Partei zum Arbeitsschutz generell hinzuweisen, also europaweit und national. Ich erwähne hier unsere Drucksache 12/2412 Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches — vom 1. April 1992.Geleitet von dem von der Kommission vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit habe ich die Chance, auf die Forderung des DGB nach einem Grundgesetz des Arbeitsschutzes in der EG hinzuweisen. Alle übrigen arbeitsschutzrechtlichen Einzelrichtlinien, also auch die, die wir heute behandeln, sollten dann von dieser Rahmenrichtlinie abgeleitet werden.In dieser Rahmenrichtlinie sollten vor allem rechtlich verbindliche Bestimmungen über die Pflichten der Arbeitgeber beim Gesundheitsschutz, die Kontrolle der Einhaltung der Schutzmaßnahmen und die Schaffung institutioneller Voraussetzungen für die Umsetzung des Arbeitsschutzes geregelt werden. Die auf dem EG-Vertrag beruhende Überlagerung nationalen Rechts durch EG-Recht darf nicht zu Verschlechterungen der Arbeitsschutzsituation in der Bundesrepublik führen.
Dies ist der klare Auftrag an die Bundesregierung.
— Nur noch bis zum 31. Dezember können Sie dem nachkommen, denn dann läuft die Frist ab. Bis dahin hat die Bundesregierung Zeit, dafür Sorge zu tragen, daß ein einheitliches Arbeitsschutzgesetz für alle Beschäftigten in allen Arbeitsbereichen gilt.Die ursprüngliche Absicht der Bundesregierung, die vorliegenden Gesetzentwürfe im Schnellschußverfahren ohne Beratung und Aussprache im Parlament auf den Weg zu bringen, ist somit nicht mehr möglich. Sie wird der eminenten Wichtigkeit des Themas Arbeitsschutz auch in keiner Weise gerecht.Nun zu den von der Bundesregierung heute eingebrachten Gesetzentwürfen, erstens: Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 148 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1977 über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Berufsgefahren infolge von Luftverunreinigung, Lärm und Vibrationen an den Arbeitsplätzen; zweitens: Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 162 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1986 über Sicherheit bei der Verwendung von Asbest; drittens: Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 167 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. Juni 1988 über den Arbeitsschutz im Bauwesen — bleibt festzustellen, daß sich die Bundesregierung die Arbeit sehr leicht gemacht hat. Sie hat nämlich lediglich eine Rahmenkonstruktion um einen EG-Entwurf gebastelt und ein paar einleitende Worte und als Anhang eine Denkschrift, die lediglich einzelne Artikel des EG-Entwurfs erklären soll, festgehalten.Meine Damen, meine Herren, im Grunde genommen ist dies ein Armutszeugnis, gemessen an der Bedeutung dieses Arbeitsschutzrechtes.
Die bundesdeutsche Gesetzgebung im Arbeitsschutz kann sich doch nicht mit Minimalleistungen in Europa zufriedengeben. Es bedarf der Konkretisierung der Arbeitsschutznormen, damit diese auch wirksam sein können. Wie sollen wir denn jeweils die sozialen Probleme in unserem Land — von einer europäischen Lösung ganz abgesehen in den Griff bekommen, wenn nicht endlich die Arbeitsschutznormen an die veränderten Realitäten der Arbeitswelt europaweit angepaßt werden? Bei einer ausreichenden Prävention im Arbeitsleben für die allerdings eine ganz andere Gesetzgebung vonnöten ist — ließen sich nicht nur Millionen, sondern Milliarden einsparen, nicht zuletzt bei den ausufernden Kosten im Gesundheitswesen; abgesehen von dem sozialen Elend — das haben Sie zu Recht erwähnt, Herr Fuchtel —, das man den arbeitenden Menschen ersparen könnte.
Wenn die Gesetzentwürfe in der vorliegenden Form verabschiedet werden, hat die Bundesregierung im Grunde genommen eine Chance vertan, nämlich die, Herr Staatssekretär, dabei mitzuwirken, daß der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992 7271
Manfred ReimannArbeitsschutz im europäischen Sozialraum auf einem höchstmöglichen Niveau abgesichert wird.Ich wiederhole: Das ist der Auftrag der Bundesregierung. Als ein hochentwickeltes Industrieland könnte Deutschland hier in der Tat Maßstäbe für ein innovatives und fortschrittliches Arbeitsschutzrecht in Europa setzen.
Es darf keine Minderung des Niveaus im Arbeitsschutz geben. Daß die Bundesregierung mit diesen zentralen Fragen so weit hinterherhinkt, liegt daran, daß sie dem einstimmigen Beschluß des Bundestages, die in diversen Verordnungen und Richtlinien verstreuten Einzelregelungen zum Arbeitsschutz inzwischen sind es weit über 1 000 — in einem einheitlichen, grundlegenden Gesetz zusammenzufassen, nicht folgt.Von der SPD hinterlassene Referentenentwürfe, Herr Fuchtel — darüber hatten Sie sich soeben ein bißchen aufgeregt; das sage ich Ihnen jetzt noch einmal zu Ihrer Erinnerung —, waren im Grunde genommen eine gute Ausgangsbasis, auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten. Seit zehn Jahren, so mein Zwischenruf, ist in der Tat Funkstille in diesem Haus und von dieser Bundesregierung auf dem schwerwiegenden und schwierigen Gebiet des Arbeitsschutzes. Zehn Jahre nichts getan!Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt, Herr Fuchtel. Ich kann es Ihnen wirklich sagen: Sie haben Probleme mit Ihrer Klientel, Sie haben Probleme mit Ihrem Umfeld. Es gibt beachtliche Gegner dieser Arbeitsschutzregelungen in Ihren Reihen. Auf diese Schwierigkeiten weist auch die Presse in den letzten Tagen besonders hin.Wir sind dabei, diese Lücke zu schließen: Unsere Große Anfrage „Arbeitsschutz" vom 5. Juli 1989 und weitere Vorbereitungen haben dazu geführt, daß ab Dezember 1991 in einer Bund-Länder-Kommission an der Erstellung eines Arbeitsschutzgesetzbuches gearbeitet wird. Das erklärte Ziel dieses Vorhabens ist es, ein umfassendes Regelwerk zu schaffen, welches das geltende Arbeitsschutzrecht vereinheitlicht und grundsätzlich reformiert.Ich kann auch hier noch einmal die Zahl in Erinnerung rufen, die so traurig ist wie nur irgend etwas, daß noch immer von allen Menschen im Arbeitsleben ein Drittel vor Erreichen der normalen Altersgrenze wegstirbt, ein Drittel in die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit geht und nur ein Drittel das normale Ausscheiden aus dem Arbeitsleben erreicht. Das heißt, zwei Drittel der Menschen erreichen das normale Ausscheiden aus dem Arbeitsleben nicht. Das, meine ich, ist doch bedenklich.
Wenn man dort mit ein bißchen mehr Mut Zeichen setzen könnte, dann, so glaube ich, würde sich das Parlament einheitlich einen Dienst erweisen.Ich möchte abschließend sagen: Es sollte unser Ziel sein, so die Voraussetzungen für das körperlich-seelische und soziale Wohlbefinden der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz zu schaffen, indem wir die Voraussetzungen schaffen, möglichst allen berufstätigen Menschen einen Ruhestand ohne berufsbedingte und, wenn möglich, ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen zu sichern. Ich glaube, nach einem schweren und langen Arbeitsleben hat der Mensch noch ein paar Jahre Ruhe bei bester Gesundheit und möglichster Eintracht verdient.
In diesem Sinne begrüße ich es, daß wir diese Debatte jetzt endlich in den nächsten Monaten in diesem Parlament haben, und ich hoffe, daß wir zu gemeinsamen Lösungen kommen. Denn dieses Thema eignet sich ausnahmsweise nicht zur kontroversen Auseinandersetzung und zum Konflikt. Hier sollten möglichst einheitliche, übereinstimmende Regelungen und Wege gefunden werden.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde.
Als nächste hat die Abgeordnete Frau Dr. Gisela Babel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema dieser Debatte ist Arbeitsschutz. Ich darf noch einmal klarstellen: Arbeitsschutz ist nicht Schutz vor der Arbeit, sondern der Schutz während der Arbeit. Um meine Kollegen aufzuklären: Es geht um Gesundheitsschutz. Die Gesundheit der Arbeitnehmer ist ein hohes und schützenswertes Gut.Wir begrüßen besonders im europäischen Jahr des Arbeitsschutzes diesen Vorstoß auf nationaler und internationaler Ebene, den Arbeits- und Gesundheitsschutz weiter zu verbessern. Ich stelle auch fest, daß diese Aufgabe nicht nur im Interesse des einzelnen Arbeitnehmers liegt, sondern daß sie auch im Interesse der gesamten Volkswirtschaft, der Sozialversicherung und der Gesellschaft liegen muß.Die heute hier vorliegenden ILO-Abkommen 148, 162 und 167 sind ein weiterer Schritt zu mehr Arbeitssicherheit im internationalen Bereich. Aber sie machen zweierlei deutlich. Die Bundesrepublik verfügt über ein gutes, hochentwickeltes Arbeitsschutzsystem. Viele in diesen Übereinkommen geforderte Maßnahmen und Regelungen entsprechen schon heute bei uns geltenden Rechtsnormen und der Praxis. Wir haben einen hohen Standard.
Nichts ist aber so gut — da stimme ich Ihnen zu —, daß es nicht noch verbessert werden könnte. Auch auf Grund dieser Übereinkommen könnten einzelne nationale Regelungen ergänzt und noch bestehende Lücken geschlossen werden. So soll z. B. der Abbruch und die Entfernung des Teufelszeugs Asbest nur noch von besonders qualifizierten, zugelassenen Firmen durchgeführt werden.Eine andere Gefahrenart ist die Vibration. Das betrifft den Landwirt auf dem Traktor, den Waldarbeiter an der Motorsäge, den Straßenarbeiter mit dem
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7272 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 88. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. April 1992
Dr. Gisela BabelPreßlufthammer. Wer ihnen länger bei der Arbeit zusieht oder diese Arbeiten selber kennt, wird sich die Gesundheitsgefährdungen vorstellen können. Die von den Geräten ausgehenden Schwingungen übertragen sich auf Gelenke und Rückgrat und führen oft zu großen Beschwerden.In diesem Punkt stellen nach Auffassung der F.D.P.-Bundestagsfraktion die Abkommen einen Beitrag zu mehr Arbeitssicherheit dar. Es wird also darum gehen, solche belastenden, gefährlichen und schweren Tätigkeiten zunächst einmal durch Technisierung abzubauen. Hier sollte die Maschine arbeiten und nicht der Mensch. Wo das nicht gelingt, wo der Mensch nicht ersetzt werden kann, müssen die Geräte verbessert und die Schwingungen gemildert werden.Schließlich müßte festgelegt werden, wie lange Arbeitnehmer mit solchen gesundheitsgefährdenden Geräten arbeiten können oder z. B. verunreinigter Luft ausgesetzt werden dürfen. Es müssen also sogenannte Expositionsgrenzwerte festgelegt werden.Es bleibt also die Fortentwicklung eines zeitgerechten Arbeitsschutzes eine dauernde Aufgabe vor Ort, in den Betrieben, in der Verwaltung und auch für Gesetz- und Verordnungsgeber.Vielleicht noch ein letzter Hinweis, meine Damen und Herren: Der Deutsche Bundestag sollte bei seinenBauten, seinen technischen Einrichtungen und Büros beim Schutz der Arbeitnehmer mit gutem Beispiel vorangehen.Ich bedanke mich.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/2447, 12/2448 und 12/2472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich nehme an, Sie freuen sich, daß wir es vor 21 Uhr geschafft haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 30. April 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.