Gesamtes Protokol
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett heute u. a. mit den Themen befaßt hat: Berufsausbildungsbericht 1992; Gesamtkonzept zur Beratung beim Aufbau von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft in den Staaten Mittel- und Osteuropas und der GUS; Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Fördergesetzes.
Dazu wird berichtet.
Ich erinnere an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an diese Themen selbstverständlich auch Fragen zu anderen Bereichen gestellt werden können.
Das Wort zu dem einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb.
Frau Präsidentin! Heute hat dem Kabinett der Berufsbildungsbericht 1992 vorgelegen.Wichtige Aufgaben der beruflichen Bildung, die das Jahr 1991 gebracht hat, waren: für Jugendliche in den neuen Ländern ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot zu schaffen; die Ausnahmesituation des beruflichen Weiterbildungsbedarfs in den neuen Ländern zu bewältigen; die europäische Herausforderung in der beruflichen Bildung anzunehmen; den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in den ost- und mitteleuropäischen Staaten durch gezielte Hilfen zu unterstützen.Schwerpunktaufgaben für 1992 werden in der Berufsbildungspolitik durch folgendes bestimmt:In den neuen Bundesländern muß weiterhin Vorsorge getroffen werden, daß jeder Jugendliche, der es will, einen Ausbildungsplatz erhalten kann. Gleichzeitig muß der Anpassungsprozeß der beruflichen Bildung weiter vorangebracht werden. Der notwendige Umstellungsprozeß in den neuen Ländern verlangt auch 1992 eine Fortführung der breit angelegten Qualifizierungsoffensive, in der die Instrumente vonWirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Berufsbildungspolitik noch stärker aufeinander abgestimmt und eingesetzt werden müssen.Der zunehmende Nachwuchsmangel an Fachkräften, zum Teil auch in den neuen Ländern schon erkennbar, erfordert dringend Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen Bildung. Dazu gehören neben der weiteren Modernisierung der Ausbildung und der Lehr- und Lernmethoden vor allem eine stärkere Differenzierung der beruflichen Bildung nach den individuellen Neigungen, Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten der Jugendlichen mit dem Ziel, einerseits die Begabungsreserven von Jugendlichen, die ohne Berufsausbildung bleiben, besser erschließen zu können und andererseits Leistungsstärkeren auch in der beruflichen Bildung eine attraktive Alternative zum Gymnasium bieten zu können. Hierzu trägt die 1991 erfolgreich begonnene Begabtenförderung der beruflichen Bildung bei. Dazu gehört schließlich auch die Verwirklichung der Forderung nach Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung.Lebenslanges Lernen ist für immer mehr Menschen eine alltägliche Herausforderung geworden. Der gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Wandel und nicht zuletzt die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft verlangen von bereits im Beruf Stehenden immer wieder neue berufliche Fähigkeiten und Kenntnisse. Der beruflichen Weiterbildung kommt daher eine besondere Rolle zu.Europa ist eine Herausforderung und auch eine Chance für uns alle. Maastricht hat für die berufliche Bildung neue Perspektiven eröffnet. Gleichwohl wird das deutsche berufliche Bildungswesen den europäischen Wettbewerb nicht zu scheuen haben. Wir halten am bewährten dualen System fest.Europa endet jedoch nicht an den Grenzen der Gemeinschaft. Wir sind durch die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Umbrüche in den mittel- und den osteuropäischen Staaten dringend aufgefordert, die damit verbundenen Chancen durch geeignete Hilfe auch in der beruflichen Bildung wahrzunehmen.Lassen Sie mich noch kurz auf die Herausforderungen in den neuen Ländern etwas differenzierender eingehen. In den neuen Bundesländern ist 1991 das
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6918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Bundesminister Dr. Rainer OrtlebZiel einer ausreichenden Versorgung der Jugendlichen weitgehend erreicht worden. Das Vermittlungsjahr 1990/91 ist mit 2 421 noch nicht vermittelten Bewerbern zu Ende gegangen. Dieses Ergebnis konnte jedoch nur durch die gemeinsame Anstrengung aller Verantwortlichen in der beruflichen Bildung und durch massive staatliche Stützungsmaßnahmen erreicht werden. Allein das Sonderprogramm für Kleinunternehmen hat die Einrichtung von rund 31 000 neuen Ausbildungsplätzen in Kleinbetrieben unterstützt. Zusätzlich wurden rund 38 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze durch die Bundesanstalt für Arbeit eingerichtet. Damit sind 1991, die durch Länderprogramme geförderten Ausbildungsplätze nicht eingerechnet, rund 70 000 Plätze über Bundesprogramme gefördert worden. Für 1992 ist in den neuen Bundesländern mit 140 000 bis 150 000 Nachfragern für betriebliche Ausbildungsplätze zu rechnen. Wie auch im vorigen Jahr rechnen wir allerdings damit, daß ca. 20 000 Personen ihren Ausbildungsplatz in den alten Bundesländern suchen.Erfreulicherweise wird das zu erwartende Ausbildungsplatzangebot der Betriebe nach Informationen aus der Wirtschaft um 10 000 bis 15 000 gesteigert werden können. Wir werden im kommenden Jahr maßgeblich damit rechnen müssen, daß wir das Verhältnis zwischen betrieblicher und außerbetrieblicher Ausbildung zu bessern haben. Bisher knapp 40 %) in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten untergebracht zu haben ist ein zwar hinnehmbares, aber nicht befriedigendes Ergebnis gewesen.Wir müssen in den neuen Bundesländern weiter damit rechnen, daß uns ein verstärkter Jahrgang ins Haus steht, weil nach den Bildungsgesetzen der neuen Bundesländer auch schon nach Besuch der 9. Klasse abgegangen werden kann und damit doppelte Jahrgangsstärke — Abgänger der 10. Klasse und der 9. Klasse — vorliegen kann. Jedoch sind nach bisherigen Untersuchungen und Schätzungen wahrscheinlich nicht so viele Abgänger ante portas, wie wir bisher fürchten mußten.Ich glaube, daß auch im kommenden Jahr, also im jetzt anstehenden Berufsbildungsjahr, davon ausgegangen werden kann, daß wir jedem Jugendlichen in den neuen Bundesländern ein Angebot machen können. Die Situation ist sicherlich genauso fordernd wie im vorigen Jahr. Aber ich bin genauso sicher, daß wir die Probleme lösen werden.Danke schön.
Danke schön, Herr Minister. Dazu liegt eine erste Frage von Frau Kollegin Odendahl vor.
Herr Bundesminister, zu dem während Ihrer Amtszeit ersten von Ihnen vollständig zu verantwortenden Berufsbildungsbericht möchte ich Ihnen ganz ausdrücklich gratulieren. Bitte übermitteln Sie unseren Dank auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Ihrem Hause und im Bundesinstitut für berufliche Bildung.
Für die SPD möchte ich aber auch all denen danken, die daran mitgewirkt haben, daß den Jugendlichen in den neuen Ländern durch qualifizierte Ausbildung eine Zukunftsperspektive geboten wurde. Wir hätten uns allerdings eine bessere Verzahnung von Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, auch der Treuhandanstalt, mit der Berufsbildungspolitik gewünscht.
Jetzt bringe ich meinen Finger auf das Schlimme, Herr Minister: Können Sie uns heute im einzelnen statistisch belegen, wo die bis Ende September 1991 bei den Arbeitsämtern in Ostdeutschland als Ausbildungsplatzbewerberinnen und -bewerber gemeldeten 145 993 Jugendlichen geblieben sind? Ich möchte Sie dabei bitten, nicht nur mit plausiblen Annahmen und Spekulationen über den Verbleib derjenigen Bewerberinnen und Bewerber zu operieren, über die die Berufsberatung und die sogenannte Kammerstatistik keine Angaben machen konnten. Wir suchen sie ja wohl noch immer.
Frau Odendahl, zunächst vielen Dank, daß Sie solche Anerkennung für die, die an der Arbeit beteiligt waren, gefunden haben. Ich werde das gerne weitervermitteln.
Der Berufsbildungsbericht liegt Ihnen demnächst ja auch öffentlich vor. Dort wird dieses Resultat ausführlich in Zahlen nachgewiesen werden. Mir liegen hier folgende Zahlen vor: gemeldete Bewerber: insgesamt 145 000 — ich runde etwas ab; es kommt ja nicht auf die letzten Stellen an —; davon mündeten in eine betriebliche Ausbildung 72 500, in eine außerbetriebliche Ausbildung 38 000, in berufsvorbereitende Maßnahmen 4 000, in schulische Ausbildung 14 500, in Arbeitsstellen und anderes 14 000 Bewerber ein. Wenn man dazu die rund 2 500 Unvermittelten addiert, kommt man auf etwa 145 000 Bewerber.
Ich habe noch die Meldung zu einer kurzen Zusatzfrage von Frau Kollegin Odendahl vorliegen.
Herr Minister, ich gehe davon aus — denn auch ich habe schon den Vorabdruck des Berufsbildungsberichtes gelesen —, daß die Zahlen, die Sie heute angeben, von den Arbeitsämtern so nicht belegbar sind; denn das geht nicht aus dem Bericht hervor. Deshalb hatte ich ausdrücklich nicht nur um Zahlen von Berufsberatungsstellen und aus Kammerstatistiken gebeten. Stimmen Sie mir denn zu, daß über den Verbleib von rund 14 000 bis 34 000 Jugendlichen aus den neuen Ländern weiter intensivst nachgeforscht werden muß?
Sicherlich haben wir bei all diesen Statistiken das Problem, daß sie unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zusammengestellt werden und daß sie auch auf unterschiedlichem Informationsfluß beruhen müssen. Wir wissen genau, daß beispielsweise die Bundesanstalt für Arbeit nur eine Art Geschäftsstatistik verbreiten kann. Wenn wir die Zahl niedriger ansetzen — Sie sprachen von rund 14 000 bis 30 000, wenn ich das richtig im Kopf habe —, sehen Sie, daß die Wahrscheinlichkeit, daß doch jeder unter-
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Bundesminister Dr. Rainer Ortlebgekommen ist, sehr groß ist. Ich glaube das auch aus der Stimmungslage schließen zu können.
Ich bitte, sich bei Nachfragen auf die ursprüngliche Frage zu beziehen und sich sehr kurz zu fassen.
Nun der Kollege Peter Eckardt.
Herr Minister, in den vorigen Berufsbildungsberichten ist immer von „vermittelten Arbeitsplätzen" gesprochen worden. Mir fällt auf, daß sich in dem jetzigen Bericht auch der Begriff „von den Arbeitsämtern vorgeschlagenen Ausbildungsplätzen" findet. Besteht die Absicht, etwas in der Statistik zu verändern, um damit die Zahlen derer, die einen Ausbildungsplatz vorgeschlagen bekommen haben, höher als die zu gestalten, die im Endeffekt einen Ausbildungsplatz bekommen haben?
Es ging nur um die Differenz, die, wohlgemerkt, nicht physisch, sondern in der Statistik nicht auffindbar war.
Nun Frau Kollegin Eichhorn.
Herr Minister, die Mittel für das Ausbildungsplatzförderungsprogramm Ost wurden 1991 ja ausgeschöpft. Aus der guten Erfahrung des letzten Jahres heraus, daß die — ich behaupte das jetzt, auch wenn Frau Odendahl immer noch die Auszubildenden sucht — Auszubildenden, die eine Lehrstelle wollten, alle eine bekommen haben, sagt jetzt die Handwerkskammer, daß im nächsten Jahr ein neues Ausbildungsprogramm Ost nicht mehr notwendig wäre; die Wirtschaft könne von sich aus die nachgefragten Ausbildungsplätze — wenigstens zum großen Teil — besorgen. Meine Frage an Sie: Sehen Sie dies auch so, und wie sehen Sie die Anmerkung der Handwerkskammern, daß jetzt verstärkt Mittel in den Ausbau der Berufsschulen zu fließen hätten?
Ich teile voll die Auffassung des Handwerks. Ich war schon im vorigen Jahr gut beraten, die Empfehlung hinsichtlich des Förderungsprogramms entgegenzunehmen und sie umzusetzen. Wenn dieses Jahr deutlich geraten wird, daß auf Grund der Eigeneinschätzung die Orientierung intensiver in Richtung auf Stärkung der überbetrieblichen Möglichkeiten zu erfolgen hat, kann ich dem zustimmen.
Nun der Kollege Stephan Hilsberg.
Herr Minister, Sie haben ja ein Programm zur Lehrstellenhilfe aufgelegt. Wie groß ist die Zahl derjenigen, die auf Grund der Lehrstellenhilfe tatsächlich einen Ausbildungsplatz vermittelt bekommen haben? Andersherum ausgedrückt: Die Länder haben ebenfalls ein Programm zur Lehrstellenhilfe aufgelegt, das qualitativ und quantitativ weit über das hinausgeht, was vom Bund aufgelegt wurde. Wie groß ist die Anzahl derjenigen Lehrstelleninhaber, die über diese Möglichkeit eine Lehrstelle vermittelt bekommen haben? Wie werden Sie diese Politik in Zukunft fahren? Wäre es nicht sinnvoll, daß der Bund auf Grund der Aktivitäten der Länder sein eigenes Programm hinsichtlich der Förderungsmöglichkeiten ebenfalls erweitert?
Zunächst gehen wir davon aus, daß von den 31 000 der auf diese Art und Weise in eine Ausbildung Gekommenen der Großteil sicherlich durch diese Fördermaßnahmen dorthin gekommen ist. Herr Kollege Hilsberg, Sie selber kennen die wirtschaftliche Situation von Kleinbetrieben im Osten Deutschlands. Ich kann also davon ausgehen, daß ein Mitnahmeeffekt relativ gering gewesen ist. Ich halte das der speziellen Situation in diesen Betrieben zugute.
Wenn Sie fragen, ob der Bund dieses Jahr wieder so etwas tun solle, antworte ich sehr deutlich mit Nein, und zwar aus den Gründen, die ich schon bei der Beantwortung der vorigen Frage angeführt habe: Wenn ein maßgeblicher Interessenträger, also das deutsche Handwerk, der Auffassung ist, daß jetzt die Zeit gekommen sei, das aus eigener Kraft zu tun, dann würde ich bestenfalls darauf verweisen, daß — Sie haben das mit Recht gesagt — das Engagement der neuen Länder auf diesem Gebiet erheblich war. Man sollte mehr — es ist ja praktisch ein Regierungsprinzip der Bundesrepublik, daß man mehr vor Ort entscheidet — die regionalen Besonderheiten wirken lassen. Der Bund wird sich in diesem Jahr aus dem 5 000-DM-Programm — ich drücke es verkürzt aus — heraushalten. Wir suchen aber nach anderen Möglichkeiten, wie wir hilfreich sein können.
Nun der Kollege Vergin.
Herr Minister, ich frage Sie noch einmal nach der Beteiligung des Bundes in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber. In dem Vorbericht, den wir haben, wird auf Seite 8 mitgeteilt, daß der Bund 1991 10 000 Ausbildungsplätze in den neuen Ländern angeboten habe. Mich würde interessieren, wieviel Arbeitsplätze nicht nur angeboten, sondern wie viele tatsächlich in diesem Bereich eingestellt wurden.
Auf Grund Ihres eben dargelegten harten Neins, daß sich der Bund 1992 nicht mehr beteiligt, frage ich Sie, ob Sie sich nicht doch einen Weg offenhalten wollen; denn Sie selber können noch nicht prognostizieren, wie es tatsächlich sein wird.
Das harte Nein bezog sich auf den 5 000-DM-Punkt in diesem Programm. Damit ist sicherlich ein Teil Ihrer Frage schon beantwortet.
Zur anderen Frage: Mehr als 90 % der vom Bund angebotenen Ausbildungsmöglichkeiten sind auch angenommen worden.
Gibt es noch weitere Fragen zum Berufsbildungsbericht? — Ja, bitte.
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Herr Minister, ich möchte Sie fragen, welche Maßnahmen zur Förderung der betrieblichen Berufsausbildung für die Jugendlichen, die sich 1992 um einen qualifizierten Ausbildungsplatz in den neuen Ländern bewerben, Sie vorsehen und welche Schlüsse Sie aus den Erfahrungen ziehen, die Sie im vergangenen Jahr mit dem durchgeführten Programm zur Lehrstellenhilfe gemacht haben.
Man muß zunächst sicherlich mehrere Dinge auseinanderhalten. Die normale duale Berufsausbildung wird von Berufsschulen und von betrieblichen Ausbildern getragen. Der betriebliche Ausbilder wird mehr und mehr in seine Verantwortung hineingehen müssen; das ist ein gesundes Prinzip, das sich bewährt hat.
Bei der anderen Seite, den Berufsschulen, ist mir sehr wohl bewußt, daß der Gebäudezustand bis hin zum Ausrüstungszustand in den neuen Bundesländern keineswegs den durchschnittlichen Standards der alten Bundesländer entspricht. Es ist und bleibt eine Aufgabe von Land und Kommune, sich dieser Dinge anzunehmen. Ich halte es für besser, wenn die entsprechenden wirtschaftlichen Ausstattungen seitens der Bundesländer angeboten und auch abgesichert werden, statt daß der Bund wieder mit Sonderprogrammen praktisch in die Kompetenzen der Länder hineinregiert.
Die überbetrieblichen Ausbildungsstätten — das ist das dritte, worauf ich abheben muß — sind seit eh und je vom Bund gefördert worden, und dabei wird es bleiben.
Noch eine Frage des Kollegen Vergin.
Herr Minister, wenn ich Sie eben richtig verstanden habe, will der Bund aus seiner bisher wahrgenommenen Mitverantwortung relativ weit heraus ich sage „relativ". Mich würde interessieren, welche konkreten Maßnahmen Sie aus Ihrer Bundesverantwortlichkeit heraus, die Sie bisher wahrgenommen haben, unterstützen würden, um aus den außerbetrieblichen Bildungsmaßnahmen die bisher ja stark mitgeholfen haben, herauszukommen zugunsten von Ausbildungsringen oder innerbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen.
Zunächst muß ich das „relativ weit heraus" zurückweisen; denn das einzige, was wir herausgenommen haben, ist das 5 000-DM-Programm. Das ist bei der Hineinnahme ausdrücklich als Sonderlösung und einmalig bezeichnet worden.
Überbetriebliche Ausbildungsstätten werden wir in den neuen Bundesländern natürlich fördern — das ist völlig klar —; außerbetriebliche Ausbildungsstätten werden derzeit sicherlich auch im AFG-Umfang gefördert, so daß ich eine Rücknahme der Verantwortung des Bundes eigentlich nicht sehe.
Aber notwendig ist natürlich, daß wir — möglicherweise auch als Bund — den Ländern mehr und mehr helfen, ihre Verantwortung wahrnehmen zu können. Das kann man auf verschiedene Weise tun, nicht nur durch ein sozusagen bundeseigenständiges Programm. Man muß einfach den Ländern die Möglichkeit geben, ihre Verantwortung auch tatsächlich wahrnehmen zu können.
Noch eine Frage des Kollegen Eckardt.
Herr Bundesminister, hat die Bundesregierung in bezug auf die neuen Bundesländer einen Plan, der sich etwa an den Quantitäten der alten Bundesländer ausrichtet, was die Schaffung überbetrieblicher Werkstätten und Ausbildungsstätten betrifft?
Das wird mit derselben Energie, wenn nicht sogar noch forcierter betrieben werden, wie das in den alten Bundesländern der Fall ist.
Weitere Fragen zu diesem Themenkomplex liegen offensichtlich nicht vor.
Ich darf dann fragen, ob es Fragen zu dem Themenkomplex „Aufbau von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft in den osteuropäischen Staaten und der GUS" gibt. — Kollege Weisskirchen.
— Kollege Weisskirchen ist nach unseren Regeln jetzt dran mit einer Frage. Dazu gibt es keinen Bericht der Bundesregierung. Sie dürfen diesen Bericht erfragen, und zwar mit kurzen, knappen, aber präzisen Fragen, wobei auch kurze, knappe und präzise Antworten erwünscht sind.
Herzlichen Dank für die Hilfe. — Die Bundesregierung hat der ehemaligen Sowjetunion über Hilfsmaßnahmen ja insgesamt 79 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Es wäre interessant zu wissen, ob es auf Grund des von mir gerade genannten gesamten Volumens nicht klug wäre, ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Wenn das der Fall sein sollte, frage ich Sie: Mit welchen Schwerpunkten meinen Sie, meint die Bundesregierung ein solches Gesamtkonzept entwickeln zu können?
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich beantworte Ihre Frage gern. Ich möchte kurz darstellen, was das Bundeskabinett mit der heutigen Verabschiedung des Gesamtkonzepts zur Beratung beim Aufbau von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft für die Staaten Mittel- und Osteuropas und der GUS bezweckt.Es ist in der Tat so, daß wir der Ansicht sind, daß es notwendig ist, diese Hilfen, Zusagen und Beratungskapazitäten zu koordinieren. Deshalb hat sich das Bundeskabinett heute mit dem unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellten Gesamtkonzept befaßt.Der Bericht stellt dar, daß schon bisher alle Bundesressorts in ihrer jeweiligen Zuständigkeit den genannten Staaten in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Kultur, darunter auch und besonders bei der Förderung der deutschen Sprache umfangreiche Hilfe im
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Staatsministerin Ursula Seiler-AlbringSinne des Gesamtkonzepts leisten. Es geht entscheidend um die Übertragung von Wissen. Wir wollen durch Beratung, Aus- und Weiterbildung sowie durch die Bereitstellung der hierfür erforderlichen Sachmittel Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit soll in einem länger andauernden Prozeß gesichert und gestärkt werden.Der Bericht, den wir vorgelegt haben, kommt zu dem Schluß, daß die Hilfe im Sinne des Gesamtkonzepts angesichts des großen Bedarfs gesteigert werden muß. Vorrangiger Bedarf besteht in den Bereichen Neuaufbau der Wirtschaft als Soziale Marktwirtschaft und Konsolidierung der im Aufbau bef ind-lichen Demokratie.Wir wollen uns künftig auf drei Schwerpunktfelder konzentrieren, nämlich Wirtschaft, Recht und Inneres sowie Kultur. Wir wollen Doppelarbeit vermeiden und haben deshalb beschlossen — nicht zuletzt auch, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu erhöhen —, drei interministerielle Arbeitsgruppen unter dem Vorsitz des BMWi für Wirtschaft, des BMI für Recht und Inneres und des Auswärtigen Amtes für Kultur einzusetzen. Der Koordinierungsausschuß wird unter dem Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramtes tagen.
Eine kurze Zusatzfrage.
Einer der zentralen Punkte ist ja, wie demokratische Bewegungen, Parteien, Initiativen gestärkt werden können. Sieht dieses Gesamtkonzept besonders auf diesem Sektor eine geziele Maßnahme vor?
Wir wollen gezielt in den Bereich der Demokratisierung eingreifen. Das ist einer der Bereiche, die ich Ihnen soeben genannt habe. Wir werden die dafür vorgesehenen Mittel koordinieren und entsprechend einsetzen.
Nun hat der Kollege Sielaff das Wort, gefolgt vom Kollegen Hilsberg.
Frau Staatsministerin, ich habe die Frage: Können Sie einmal sagen, wieviel an Förderungsmittel insgesamt vom AA, vom BMI, vom BML usw. für die neuen Staaten der GUS zur Verfügung stehen und wer jeweils darüber verfügt? Da Sie gesagt haben, daß das BMWi für Wirtschaft federführend ist, frage ich Sie: Ist es ausgeschlossen, daß das AA vielleicht weniger darüber weiß — Sie haben den Kulturbereich angesprochen —, und inwieweit sind die Hilfen für Deutsche in den genannten Staaten voll mit einbezogen und mit den Beteiligten vor Ort abgesprochen? Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie dazu mehr sagen könnten, denn ich habe den Eindruck, daß hier sehr viel parallel nebeneinander läuft.
Herr Kollege, der Kollege Weisskirchen hat vorhin schon den Gesamtrahmen dargestellt. Die Themenbereiche, mit denen sich dieser Bericht befaßt, sind vor allen Dingen dem Bereich der Beratung zugedacht. Hier gibt es im Jahre 1990 Mittel in
Höhe von 112 Millionen DM, aus dem Jahre 1991 in Höhe von 212,5 Millionen DM und für das laufende Haushaltsjahr in Höhe von 299,4 Millionen DM. Es gibt in diesem Bericht eine sehr differenzierte und unterteilte Aufstellung über die Hilfen, die aus den verschiedenen Haushalten der verschiedenen Ressorts geleistet werden. Ich kann Ihnen den Bericht sehr gerne zuleiten, weil es wirklich zu weit führen würde, Ihnen diese außerordentlich umfangreiche Hilfe aus den verschiedenen Ressorts, die im Verlauf der letzten Zeit und auch in der Zukunft geplant ist, vorzustellen. Ich würde Ihnen den Bericht gerne zur Verfügung stellen.
Eine kurze Zusatzfrage.
Ich möchte nur nach der Federführung insgesamt für diese Fördermittel fragen. Ist es das BMI, oder wer ist da federführend?
Das Auswärtige Amt hat das Gesamtkonzept federführend erstellt. Die Koordinierung der ministeriellen Arbeitsgruppen, die ich Ihnen eben vorgestellt habe, wird durch den Chef des Bundeskanzleramtes erfolgen.
Nun der Kollege Hilsberg, dann der Kollege Oostergetelo. Liegen zu diesem Themenkomplex noch weitere Fragen vor, weil es auch noch Wortmeldungen zu dem dritten Fragenkomplex gibt? —Ja, Herr Kollege. Jetzt erst der Kollege Hilsberg.
Aus Erfahrung weiß ich, daß nackte Zahlen im Grunde genommen nur wenig sagen, daß man Hilfe vor Ort praktisch erfahren muß. Können Sie vielleicht an Hand eines Beispiels zeigen — in meinem Interesse würde liegen, wenn Sie über einen Staat aus dem Baltikum, möglicherweise Lettland, berichten würden —, welche konkreten Maßnahmen begonnen haben? Wieviel Personal ist inzwischen beispielsweise zum Aufbau marktwirtschaftlicher Institutionen nach Lettland entsandt worden? Wieviel Personal ist beispielsweise mit dem Aufbau demokratischer Institutionen beauftragt worden, wie z. B. Parteiensysteme, Parlament usw.?
Herr Kollege, diese umfangreiche Frage werde ich Ihnen gerne schriftlich beantworten. Sie werden vielleicht Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen diese differenzierten Zahlen heraussuchen müßte. Ich würde sie Ihnen gerne schriftlich zur Verfügung stellen.
Nun der Kollege Oostergetelo.
Frau Staatsminister, Sie haben hier die Federführung dargestellt. Darf ich fragen, da es ja sehr gute Erfahrungen im Praktikantenaustausch auch bei anderen Ministerien gibt: Wird das dort voll mit abgedeckt, so daß Menschen aus diesen einzelnen Staaten bei uns ihr Praktikum machen können und sich vor Ort entscheiden können,
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Jan Oostergetelowas für sie richtig ist und was nicht? Sind auch die Maßnahmen mit beinhaltet, die z. B. jetzt im Frühjahr hier und dort, sehr wichtig sind, um überhaupt anfangen zu können, wenn Betriebe in die Eigenverantwortung gehen wollen? Wie schnell kann das gehen?
Herr Kollege Oostergetelo, wenn Sie damit einverstanden sind, liste ich Ihnen einfach einmal die Maßnahmen auf, die aus dem Bereich des BML zur Zeit geleistet worden sind. Sind Sie damit einverstanden? Zum Beispiel konzentrierte sich die technische Hilfe des BML für die MOE-Staaten auf die Aus- und Weiterbildung von Führungskräften und angehenden Leitern der land- und ernährungswirtschaftlichen Betriebe. Dafür wurden 2 Millionen DM an Haushaltsmitteln des BML bereitgestellt.
Für 1992 stehen für bereits laufende und geplante Maßnahmen der technischen Hilfe für die ehemalige Sowjetunion und MOE-Staaten insgesamt 12 Millionen DM mit 3 Millionen VEs zur Verfügung. Davon entfallen ca. 4 Millionen DM auf investive Maßnahmen, Lieferung von Ersatzteilen an baltische Staaten, Infrastrukturinvestitionen in Polen, Ungarn und Rumänien etc.
Im Rahmen des Gesamtkonzeptes konzentrieren sich die Maßnahmen des BML 1992 auf folgende Schwerpunktbereiche: Aus- und Weiterbildung von Agrarfachkräften, Aus- und Weiterbildung von Führungskräften in Verwaltung, Schulwesen und Beratungsorganisationen, wobei die inhaltlichen Schwerpunkte das Genossenschaftswesen, das Agrarkreditwesen, Unternehmensführung und Vermarktung sein werden, weiterhin Information und Beratung bei der Privatisierung und für bereits privatisierte landwirtschaftliche Unternehmen, die Beratungsleistung für die Ernährungsindustrie bezüglich der Anpassung an marktwirtschaftliche Erfordernisse und schließlich Maßnahmen zur Anpassung der Ausbildung für Wissenschaftler und Studierende der Agrarwissenschaften und zuzuordnender Bereiche, wie z. B. das Veterinärwesen.
Jetzt wissen wir alle Bescheid.
Kollege Oostergetelo zu einer Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, wir haben mit Praktikanten aus der Ukraine und Polen sehr gute Erfahrungen — das kann ich zumindest insoweit sagen, als ich es überblicken kann — mit einem Familienanschluß gemacht. Ist das irgendwo vorgesehen? Denn dadurch werden sehr viele Freundschaften entwickelt, d. h. das hat sehr positive Nachwirkungen, was im übrigen nicht unbedingt mit mehr Geld verbunden ist.
Herr Kollege Oostergetelo, auch auf diese Frage möchte ich Ihnen gerne eine schriftliche Anwort geben, weil sie sehr speziell ist. Ich sehe den Hintergrund Ihrer Frage durchaus und möchte die Frage gerne sorgfältig beantworten.
Ich bitte noch einmal, darauf zu achten, daß sich die Nachfragen auf die ursprüngliche Antwort beziehen. So wie jetzt sind sie eigentlich nicht vorgesehen, wobei ich einräumen muß, daß diese Antwort sehr umfangreich war und von daher den Raum für alle Nachfragen gegeben hat.
Nun hat der Kollege von Hammerstein das Wort.
Herr Minister Kiechle, da das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Fördergesetzes verabschiedet werden soll, bitte ich Sie, doch ganz kurz darauf einzugehen, welchen Inhalt es überhaupt hat.
Herr Kollege von Hammerstein, der Gesetzentwurf, der heute im Kabinett verabschiedet wurde, regelt folgenden Sachverhalt. Zum Ausgleich währungsbedingter Einkommensverluste haben die Landwirte bis Ende vergangenen Jahres einen dreiprozentigen Ausgleich über die Umsatzsteuer erhalten. Die Befristung bis Ende des letzten Jahres ergab sich aus dem EG-Recht.Angesichts der weiterhin schwierigen Lage der deutschen Landwirtschaft ist ein ersatzloser Wegfall dieses Einkommensausgleichs nicht zu vertreten. Koalition und Kabinett haben daher am 9. Oktober 1991 noch einmal eine volumenmäßige Fortführung dieses Ausgleichs vorgesehen.Am 18. Dezember 1991 hat die EG-Kommission einen Vorschlag verabschiedet — der Rat muß allerdings noch zustimmen —, der Deutschland die volle volumenmäßige Fortführung im Jahr 1992 ermöglicht.
Die Länder haben sich bei der bisherigen Regelung mit 35 % an der Finanzierung beteiligt. Mit diesem Anteil beteiligen sie sich auch an den laufenden Maßnahmen des soziostrukturellen Einkommensausgleichs.Nun muß ich allerdings hinzufügen: Trotz aller Bemühungen — zuletzt in Form eines Briefes des Herrn Bundeskanzlers an die Ministerpräsidenten — sind die Länder mehrheitlich jetzt nicht bereit, sich an der Finanzierung der 3 %-Folgeregelung zu beteiligen. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 12. März 1992 waren sieben CDU/CSU-geführte Länder für eine Mitfinanzierung, neun SPD-geführte Länder dagegen.Da unsere Bauern schon lange ein Signal erwarten, das zeigt, wie die Fortführung der Regelung erfolgt, ist der Gesetzentwurf jetzt eilbedürftig.Der Entwurf sieht vor: Der Bund zahlt seinen bisherigen Anteil von 65 %. Er stellt in dem Gesetzentwurf den Ländern frei, ihren 35prozentigen Anteil zu leisten. Wie ich Ihnen mitteilen kann, haben sich die Unionsgeführten Länder bereit erklärt, das auch zu tun. Die Bundesmittel stehen im Bundeshaushalt 1992 zur Verfügung. Es besteht auch gute Aussicht, daß die Entscheidung des EG-Agrarministerrates bald herbeigeführt werden kann.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6923
Bundesminister Ignaz KiechleWir werden abwarten, wie sich die Mehrheit im Bundesrat beim ersten Durchgang verhält. Das Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates.Wir versuchen, das Gesetz noch vor der Sommerpause im Deutschen Bundestag verabschieden zu lassen.
Ich habe diese Frage jetzt zugelassen, weil das der dritte Themenkomplex ist. Herr Minister Kiechle hat darauf sehr ausführlich geantwortet. Ich bitte jetzt wirklich um präzise Nachfragen.
Ich werde die Fragesteller zu diesem Bereich noch aufrufen und dann am Schluß den Kollegen Hilsberg, Frau Staatsministerin, mit seiner Zusatzfrage zur Einführung der Marktwirtschaft in den osteuropäischen Staaten.
Jetzt hat das Wort zu einer Nachfrage Kollege von Hammerstein.
Noch einmal eine Frage an Minister Kiechle: Wird es dann jetzt in den einzelnen Bundesländern zu unterschiedlichen Auszahlungen kommen: in den CDU-geführten Ländern zur Auszahlung in Höhe von 100 %, in den SPD-geführten in Höhe von 65 %?
Der deutschen Landwirtschaft wegen hoffe ich, daß sich die Bundesländer im Nachlauf dieses Gesetzes letztlich alle dazu entschließen, ihren bisherigen Anteil zu bezahlen.
Wenn das nicht der Fall wäre, würde eine unterschiedliche Behandlung wohl nicht mehr auszuschließen sein.
Nun hat der Kollege Oostergetelo das Wort.
Herr Bundesminister, es besteht zwischen uns sicher kein Unterschied in der Wertung, daß diese Anschlußregelung angesichts der jetzigen Lage, in der sich die Landwirtschaft befindet, kommen muß. Aber ist es, wenn ich den Entwurf Ihres Hauses richtig gelesen habe, noch gerechtfertigt, hier wirklich von Hilfe zu reden, wenn Kleinbetriebe mit 2 500 DM und andere mit 2 400 DM oder auch mit 1 600 und 1 500 DM vorliebnehmen müssen? Das bedeutet ja, daß hier — ohne daß ich frage, wer durch den Wegfall des 3%igen Ausgleichs die größten Verluste hatte, und ohne daß ich über Gesamteinkommen rede — wie mit der Gießkanne verteilt wird. Wäre hier nicht wenigstens eine Prosperitätsschwelle notwendig, damit auch in der Bevölkerung Akzeptanz für diese Hilfe ist, deren Notwendigkeit insgesamt von niemandem bestritten wird?
Herr Kollege, ich kann Ihre Wertung nicht nachvollziehen. Wir haben einen Mindestbetrag. Auch Betriebe, die als landwirtschaftliche Betriebe gelten, selbst wenn sie nur 5 ha hätten, erhalten eine Mindestsumme. Sie ist Ihnen bekannt. Ebenso gibt es eine Höchstsumme.
Das heißt mit anderen Worten: Es wird nach unten bevorzugt behandelt, und oben wird die Beihilfe — ab einer bestimmten Hektarzahl —, wenn man so will, abgeschnitten. Im übrigen: Der Bezug auf Hektar läßt ja auch nicht zu, daß jeder Betrieb — ob er nun 15 oder 150 ha hat völlig gleichbehandelt wird. Ich glaube, darin liegt keine Diskriminierung etwa kleinerer Betriebe, ganz im Gegenteil.
Ich lasse keine neuen Zusatzfragen mehr zu, weil wir unsere Zeit schon überschritten haben. Es werden jetzt nur noch die Fragen abgewickelt, die schon angemeldet sind.
Frau Kollegin Weyel.
Herr Minister, waren alle Landesregierungen im vorigen Jahr, rechtzeitig vor Aufstellung der Haushaltspläne, darüber informiert, daß sie entsprechende Beträge einsetzen müssen?
Die Bundesländer haben bisher — über Verzicht auf Mehrwertsteuereinnahmen und abgestimmt in einer Vereinbarung — mitfinanziert. Die Bundesländer wußten alle, daß die Weiterführung des Ausgleichs über die Mehrwertsteuerlösung von Brüssel voraussichtlich — und das wurde rechtzeitig gesagt — nicht mehr als genehmigungsfähig betrachtet würde.
Wir haben allerdings um diese Lösung gekämpft. Solange der Kampf, wenn man so will, und die Bemühungen in Brüssel angedauert haben, konnten wir hier nicht andere Lösungen vorschlagen. Erst als Brüssel eindeutig ablehnte — das war Ende August vergangenen Jahres , haben wir die Ersatzlösung, die den Ländern aber intern bekannt war, sofort auf den Weg gebracht. Die Bemühungen reichen vom 26. und 27. September letzten Jahres bis zum 18. März dieses Jahres, also bis heute. Die Bemühungen waren in dieser Zeit in fünffacher offizieller Form zwischen Bund und Ländern ständig im Gespräch: sei es auf Ministerpräsidentenkonferenzen, sei es auf Agrarministerkonferenzen.
Nun hat noch als letzter der Kollege Sielaff das Wort zu diesem Themenkomplex.
Herr Minister, Sie konnten die Wertung des Kollegen Oostergetelo vorhin nicht ganz verstehen. Meine Frage: Meinen Sie nicht, daß es doch eine eigenartige Vergabe ist, wenn derjenige, der ein hohes Einkommen hat, aus Steuermitteln zusätzlich noch 16 000 DM bekommt, obwohl er es nicht nötig hat, während die Kleinen unter Umständen nur 1 600 DM bekommen? Können Sie vielleicht sagen, warum Sie diese Wertung nicht verstehen können?
Ich kann die Wertung, die der Kollege Oostergetelo vorgenommen hat, natürlich nachvollziehen, aber ich kann sie nicht teilen. Vielleicht ist diese Formulierung für Sie verständlicher.
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6924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Bundesminister Ignaz KiechleDer Ausgleich ist zustande gekommen für Verluste, die damals durch den Abbau des Grenzausgleichs entstanden sind. 1984 gab es die Vereinbarung beim Abbau des Grenzausgleichs von 8,5 %. Die Verluste beziehen sich natürlich auf den Umsatz.Wir haben bereits damals einen vollen Ausgleich über die Mehrwertsteuer leisten können. Je größer die verkaufte Menge war, desto höher war auch der indirekt gewährte Ausgleich von zunächst 5 %, später3%.Jetzt, da wir auf Hektarprämien umschalten mußten, ist es schon etwas mehr eine durchschnittliche Ausgleichslösung. Nicht mehr der beste Produzent hat am meisten bekommen, sondern es wurde eine Obergrenze festgelegt. Es gab einheitliche Beträge als durchschnittliche Ausgleichserlöse je Hektar.Das hatte zur Folge, daß in gewissem Umfang die Leistungsfähigkeit des Betriebes, die damals herabgesetzt wurde, angemessen berücksichtigt wurde, allerdings nicht mehr voll über die Produkte, sondern über die Hektarzahlen.
Damit ist dieser Themenbereich abgeschlossen. Nun noch der Kollege Hilsberg zu dem zweiten Themenbereich.
Frau Seiler-Albring, existieren in Ihrem Ministerium ressort- oder länderbezogene Fallstudien über die Wirksamkeit der derzeit praktizierten Hilfe für die GUS-Staaten?
Zweite Frage. Für welchen Zeitraum wird Ihrer Meinung nach diese Hilfe notwendig sein?
Die verschiedenen Hilfen, die wir leisten, werden natürlich, wie in allen Bereichen der Bundesregierung, evaluiert.
Zu Ihrer zweiten Frage: Für welchen Zeitraum die Hilfen noch notwendig sein werden, ist heute sicherlich nicht zu übersehen. Wir versuchen ja gerade durch die Koordinierung dieser Maßnahmen, sie so effizient wie möglich einzusetzen, damit sie baldmöglichst das Ziel erreichen, welches wir damit verbinden, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe zu sein. Wir hoffen, daß durch die Unterstützung auch aus diesem Hause der Einsatz der Mittel in der Weise erfolgt, daß das angestrebte Ziel so schnell wie möglich erreicht werden kann.
Da wir die Zeit für die Regierungsbefragung um annähernd sechs Minuten überschritten haben, lasse ich keine Zusatzfrage mehr zu.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde
— Drucksache 12/2255 —
Wir kommen zunächst zu dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilhelm Rawe zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans-Günther Toetemeyer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß das von der Deutschen Bundespost initiierte und im Bau befindliche Frachtzentrum in Hagen-Fley nicht an die unmittelbar hinter dem Gelände verlaufende Ruhr-Siegstrecke der Deutschen Bundesbahn angeschlossen werden soll, sondern geplant ist, das gesamte Frachtaufkommen aus einem Umkreis von 150 km per LKW mitten durch Wohngebiete abzuwickeln, und steht diese Frachtabwicklung exemplarisch für sämtliche 33 Frachtzentren in der Bundesrepublik Deutschland?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin, wenn der Kollege Toetemeyer einverstanden ist, würde ich gern die Fragen 1 und 2 im Zusammenhang beantworten.
Ich wäre sehr dankbar, wenn das nicht geschähe; aus gutem Grund.
Dann bitte ich um getrennte Beantwortung.
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Ihre Zusatzfragen, Herr Kollege, wären ja nicht beeinträchtigt; aber ich folge Ihnen gern.
Herr Kollege Toetemeyer, nach Auskunft der Generaldirektion Deutsche Bundespost — Postdienste ist beim Frachtzentrum in Hagen-Fley eine spätere Option für einen Gleisanschluß geplant. In der Startphase dieses Frachtzentrums wird der Fernverkehr mittels Wechselkoffern im kombinierten Ladungsverkehr der Bahn über den Umschlagbahnhof Hagen abgewickelt. Im Einzugs- und Versorgungsbereich des Frachtzentrums erfolgen alle Transporte über die Straße.
Das für das Jahr 1996 geplante Frachtaufkommen im Ein- und Abgang des Frachtzentrums Hagen-Fley liegt bei ca. 75 000 Sendungen pro Tag.
Das neue Frachtkonzept der Deutschen Bundespost—Postdienst setzt langfristig auf die Bahn. Hierbei erfolgen die Planungen für den Transport von Sendungen gemeinsam mit der Deutschen Bundesbahn nach der Maxime „soviel Schiene wie möglich, soviel Straße wie nötig". Danach hat die Schiene im Ferntransport dann Vorrang vor der Straße, wenn der 24-Stunden-Rhythmus für Frachtsendungen sichergestellt ist.
Die Entscheidung für ein integriertes Frachtkonzept auf Schiene und Straße ist jedoch ein Zwischenschritt. Sobald die Deutsche Bundesbahn ihr neues Bahnkonzept, das in ganz enger Abstimmung mit der Deutschen Bundespost—Postdienst geplant wird, verwirklicht hat und dem Postdienst ein leistungs- und wettbewerbsfähiges Angebot machen kann, hat die Bahn Priorität.
Die Bahn bietet in der Tat auf längeren Strecken das mit Abstand beste Verhältnis von Transportkapazität, Transportgeschwindigkeit und Flächenbeanspruchung. Im künftigen Bahnkonzept kann durch eine hohe Zahl von Direktverkehr zwischen den Frachtzentren die Belastung der Straße deutlich reduziert werden.
Zusatzfrage, Kollege Toetemeyer.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6925
Meine erste Zusatzfrage: Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Oberpostdirektion Hannover im Jahre 1987 bei der Direktion der Deutschen Bundesbahn, zuständig ist die Direktion Essen, konkret beim Bahnhof Hohenlimburg — das ist Teil der Stadt Hagen —, angefragt hat, ob es möglich sei, den zu erwartenden Verkehr über eine sogenannte Gleisharfe — jetzt ist Ihr Kollege vom Verkehrsministerium nicht da; das sind mehrere nebeneinanderliegende Gleise, die einen kleinen Bahnhof bilden — abzuwickeln. Was ist aus dem Gutachten, das von der Bundesbahndirektion Essen erstellt worden ist, geworden? Warum ist den Vorschlägen seitens der Bundespost nicht gefolgt worden?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, ich bin ganz sicher, daß Sie die örtlichen Verhältnisse in Hagen viel besser kennen als ich. Ich weiß aber ziemlich genau, daß alle Abstimmungen über das Frachtzentrum in Hagen auch in engem Einvernehmen mit der Stadt Hagen erfolgt sind. Sie wissen, wenn das Konzept zum Tragen kommen soll, daß die Deutsche Bundespost—Postdienst möglichst schnell auch im Paketverkehr wieder in schwarze Zahlen kommt, dann muß das Gesamtfrachtkonzept in drei Jahren tatsächlich stehen. Ansonsten wird es keinen Erfolg haben.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Verantwortlichen in der Stadt Hagen, wenn es denn eine bessere Lösung als die gegenwärtige gegeben hätte, nicht versucht hätten, dies in in gemeinsamer Arbeit mit der Deutschen Bundespost — Postdienst durchzusetzen.
Die zweite Zusatzfrage.
Meine zweite Zusatzfrage: Würden Sie mir einräumen, daß ich mich im Bereich der Stadtverwaltung Hagen ein bißchen besser auskenne als Sie?
Würden Sie mir dann zustimmen, daß die Stadt Hagen diesen Gleisanschluß, der technisch möglich ist, aber nicht durchgeführt worden ist, immer favorisiert hat?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, ich bin gerne bereit, auch dieser Einzelfrage noch einmal nachzugehen. Ich muß mich aber jetzt darauf beschränken, was mir die Generaldirektion Postdienst an Auskünften zu Ihrer Frage erteilt hat.
Ich habe keine weitere Frage mehr, Frau Präsidentin.
Zusatzfragen gibt es nicht.
Dann kommen wir zur Frage 2 des Kollegen Toetemeyer:
Wie verträgt sich diese Konzeption, einen rund um die Uhr arbeitenden Betrieb — einschließlich von Sonn- und Feiertagen — über Straßen zu bedienen, bei denen schon heute mit 6 000 Fahrzeugen pro Tag eine unzumutbare Belastung der
Anwohner stattfindet, um eine weitere Belastung von 700 LKW pro Tag zu erhöhen, mit der Übereinkunft der Umwelt- und Verkehrsministerien von Bund und Ländern vom Februar dieses Jahres, aus Gründen des Umweltschutzes der Schiene gegenüber der Straße absolute Priorität einzuräumen?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Toetemeyer, Zielvorstellung im neuen Frachtkonzept ist auch eine deutliche Reduzierung des Straßenverkehrs im Einzugs- und Versorgungsbereich des Frachtzentrums durch eine wesentlich bessere Logistik und durch größere Zustellfahrzeuge. Von daher ist das neue Frachtkonzept umweltschonend und energieökonomisch.
Die Betriebszeiten des Frachtzentrums liegen außer an Sonn- und Feiertagen bei täglich 20 Stunden. Geräuschemissionen vom Straßenverkehr sind dabei nur in geringem Maße zu erwarten. Bei täglich ca. 100 An- und Abfahrten — diese werden im gegenwärtigen Zeitpunkt geschätzt — verdichtet sich der Fahrzeugverkehr außerhalb der Verkehrszeiten lediglich morgens und abends.
Zusatzfrage, Kollege Toetemeyer.
Herr Kollege, ich hatte deswegen gebeten — wir haben sonst keine weiteren Probleme miteinander —, die Fragen zu trennen Sie haben das jetzt ein bißchen miteinander vermischt , weil die Frage 2 auf die Haltung der Bundesregierung abzielt. Die Bundesregierung hat ja Anfang Februar, wenn ich richtig informiert bin, als Bundesregierung im Einvernehmen mit allen Ländern gesagt: Schiene hat Priorität. Wenn in diesem Falle, wie von mir nachweisbar, diese Chance seit vier Jahren bestanden hätte, warum hat sie diese Bundesregierung nicht ergriffen?Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Ich denke, wir werden die Frage getrennt angehen müssen. Ich habe gerade gesagt, was den Einzugs- und den Versorgungsbereich angeht — da werden Sie mit mir sicher übereinstimmen , wird der Deutschen Bundespost — Postdienst nichts anderes übrig bleiben, als über die Straße zuzustellen. Wir werden wohl kaum in der Lage sein, die Zustellung für jeden Kunden über die Bundesbahn sicherzustellen. Das ist nicht machbar.Im übrigen gilt nach wie vor die Priorität, daß im Fernverkehr soviel wie nur irgend möglich mit der Bahn gefahren wird, auch jetzt, in der Startphase. Ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt: Es besteht noch immer die Option, einen Gleisanschluß zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, daß, wenn die Dinge so sind, wie Sie sie für Hagen geschildert haben, die Hagener darauf dringen werden, daß diese Option genutzt wird. Es hängt aber davon ab, ob das Konzept insgesamt greifen kann. Nach Vorstellungen der Deutschen Bundespost — Postdienst und der Deutschen Bundesbahn geht es erst ab einer bestimmten Entfernung, durch die Bahn zuzustellen. Wir sehen das in der Eifel, wir sehen das im Münsterland an vielen, vielen Punkten. Es muß die richtige Relation zwischen Entfernung und Einsatz der Bahnmöglichkeiten bestehen; dann kann man für die Umwelt und auch wirtschaftlich tatsächlich etwas erreichen.
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6926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Zusatzfrage, Kollege Toetemeyer.
Die letzte Zusatzfrage. Da wir, Herr Kollege, schon manche Probleme gemeinsam gut gelöst haben und ich über das, was Sie sagen — die Option soll erhalten bleiben —, sehr erfreut bin: Sind Sie darüber informiert, daß diese Option nicht mehr möglich ist, wenn die gegenwärtigen Baumaßnahmen unmittelbar an der Schiene durchgeführt werden, und würden Sie sich mit mir gemeinsam dafür einsetzen, daß die Option möglichst bald in Anspruch genommen wird?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Ob die Option nicht mehr möglich ist, darüber bin ich in der Tat im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht informiert. Meine Auskünfte, die ich bekommen habe das sagte ich Ihnen —, lauten dahin, daß diese Option nach wie vor in der Planung ist. Ich habe Ihnen vorhin schon zugesagt, daß ich dem gerne noch einmal nachgehen will.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Wir sind damit auch am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Ministerin Schwaetzer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 3 des Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape:
War es nicht im Interesse der Bundesregierung, durch ihre Teilnahme an der Großveranstaltung des Deutschen Mieterbundes — Mieterbund Land Brandenburg e. V., die am 12. März 1992 in Bonn stattfand, den Forderungen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder nach Rechtssicherheit und Schutz für Mieter und Nutzer von Eigenheimen Gehör zu verleihen, oder wieso hat kein Vertreter der Bundesregierung, z. B. aus dem Bundeskanzleramt, der eigentlich angekündigt war, an der Veranstaltung teilgenommen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat sich entgegen Ihrer Unterstellung intensiv mit den Forderungen der Brandenburger Mieter anläßlich ihres Aufenthalts in Bonn am 12. März 1992 auseinandergesetzt. Entsprechend dem schriftlich an mich herangetragenen Wunsch habe ich eine Delegation des Brandenburger Mietervereins zu einem mehr als einstündigen Gespräch empfangen, in dem die Anliegen des Mietervereins ausführlich besprochen wurden.
An dem Gespräch im Bundesbauministerium hat neben dem Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Günther auch der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz Rainer Funke teilgenommen. Darüber hinaus hatten die Vertreter des Brandenburger Mieterbundes auch Gelegenheit zu einem längeren Gespräch im Bundesministerium der Finanzen. Wunschgemäß wurden außerdem nach der zentralen Abschlußkundgebung Vertreter des Mieterbundes Brandenburg im Bundeskanzleramt empfangen, wo sie die gesammelten 30 000 Unterschriften übergeben haben. Außerdem hatten sie
Gelegenheit, ihre Forderungen mit Vertretern des Bundeskanzleramts im Rahmen eines ausführlichen Gespräches zu erörtern.
Vertreter des Mieterbundes Brandenburg haben das Verhalten der zuständigen Stellen der Bundesregierung anläßlich ihres Bonner Besuches positiv bewertet. Die Gespräche haben darüber hinaus gezeigt, daß die Sorgen und Nöte vieler Mitbürger in den neuen Ländern häufig die Folge eines bisher nicht ausreichenden Informationsstandes über die bestehenden rechtlichen Regelungen sind. Deshalb plant die Bundesregierung auch in diesem Jahr umfangreiche Informationsveranstaltungen in den neuen Bundesländern, um die Betroffenen vor Ort über ihre Rechte zu informieren.
Zusatzfrage, Kollege Knaape.
Frau Ministerin, Ihrer Antwort entnehme ich, daß Sie nicht meiner Auffassung folgen, daß es für Ihr Ministerium günstig gewesen wäre, wenn Sie bei dieser Veranstaltung zugegen gewesen wären, um die emotionalen Stimmungen, die dort zum Tragen kamen, entgegenzunehmen. Es dürfte Ihnen bekannt sein, daß sich bereits ein Bürger aus der betroffenen Gegend das Leben genommen hat, ein weiterer Bürger dort eine ähnliche Handlung andeutete. Um so etwas zu verhüten, wäre es nach meiner Auffassung richtig gewesen und da möchte ich Sie fragen, ob Sie dem zustimmen können —, daß auch diese Emotionen der Bürger dort an Ort und Stelle hätten entgegengenommen werden können.Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Abgeordneter, die Emotionen der Brandenburger Mieter sind nach meiner festen Überzeugung von den von diesen Mietern benannten Repräsentanten in den Gesprächen in den verschiedenen Ministerien sehr weitgehend zum Ausdruck gekommen. Darüber hinaus ist an uns, soweit ich weiß, zu keinem Zeitpunkt der Wunsch herangetragen worden, an der Abschlußkundgebung auf dem Marktplatz teilzunehmen. Außerdem ist es für uns ganz selbstverständlich, daß wir uns nicht nur hier in Bonn mit den Sorgen und Nöten von Mietern beschäftigen, sondern dies vor Ort in den neuen Bundesländern so oft wie möglich tun und dort im direkten Gespräch — nicht im organisierten Gespräch — die anstehenden Probleme mit Betroffenen erörtern. Der tragische Tod des Kreistagsabgeordneten Dalk hat uns alle zutiefst bewegt. Das ist auch in einem Beileidsschreiben des Herrn Bundeskanzler an die Witwe nachdrücklich zum Ausdruck gebracht worden.Da nach Prüfung der Rechtslage - wie wir heutewissen gerade in diesem tragischen Fall die Mieter in dem betroffenen Objekt rechtlich abgesichert gewesen sind, wird um so deutlicher — darauf habe ich bereits hingewiesen , wie wichtig es ist, so schnell wie möglich umfängliche Informationsveranstaltungen in den neuen Bundesländern über die Rechte der Mieter durchzuführen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6927
Zu seiner zweiten Zusatzfrage hat Herr Abgeordneter Knaape das Wort.
Frau Bundesministerin, vielleicht können Sie doch eine Antwort darauf geben, warum trotz telefonischer Zusage aus dem Bundeskanzleramt — wir hatten Herrn Kanzleramtsminister Bohl angeschrieben — ein Vertreter des Bundeskanzleramtes nicht bei dieser öffentlichen Veranstaltung erschien?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Abgeordneter, nach Rückfrage im Bundeskanzleramt ist von dort klar darauf hingewiesen worden, daß zu keinem Zeitpunkt eine Teilnahme an der Abschlußveranstaltung zugesagt worden ist.
Das besprochene Vorgehen — nämlich die Übergabe der 30 000 Unterschriften im Bundeskanzleramt — ist — darauf habe ich hingewiesen — nach der Abschlußkundgebung erfolgt.
Ist das eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Toetemeyer? Dann bitte ich, die Frage zu stellen.
Frau Ministerin, gehe ich zu Recht davon aus, daß der Referentenentwurf vom 7. März dieses Jahres zur Regelung der offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern in Sachen Rechtssicherheit — sprich: Stichtagsregelung — und hinsichtlich der Sicherung der Überlassungsverträge noch keine abschließende Regelung gefunden hat?
Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Abgeordneter, ein Referentenentwurf enthält — wie Sie wissen — bisher noch keine abgestimmte Meinung innerhalb der Bundesregierung noch ist er in seinen Erörterungen abgeschlossen. Dies wäre im Rahmen der Bundesregierung erst dann der Fall, wenn eine entsprechende Kabinettsvorlage vom Kabinett verabschiedet worden wäre, was aber, wie Sie wissen, nicht der Fall ist.
Die Bundesregierung prüft derzeit alle im Zusammenhang mit Nutzungsverträgen, Überlassungsverträgen, Absprachen und Verträgen ähnlicher Art stehenden Rechtsfragen. Sie prüft darüber hinaus, in welcher Weise die Stichtagsregelung zum 18. Oktober 1989 geändert werden muß, um sicherzustellen, daß alle diejenigen, die einen Antrag auf Kauf ihres Hauses oder ihres Grundstücks gestellt haben und bei denen die Entscheidung über diesen Antrag erst nach dem 18. Oktober 1989 ergangen ist, in ihren Rechten angemessen geschützt werden können.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Frau Ministerin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Die beiden vorliegenden Fragen 4 und 5 des Herrn Abgeordneten Siegmar Mosdorf werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Frage 6 des Herrn Abgeordneten Werner Schulz wird ebenfalls nach Abs. 2 Nr. 2 unserer Richtlinien schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Fragen 7 und 8 des Kollegen Bury zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Welche personellen, sächlichen oder finanziellen Hilfsmöglichkeiten gibt es nach dem Bundessozialhilfegesetz in der besonderen Notlage einer Seemannsfrau, deren Ehemann zur Zeit einer bevorstehenden Entbindung auf See ist, für die Unterbringung bzw. Betreuung ihrer weiteren kleinen Kinder, wenn Verwandte, Freunde oder Nachbarn nicht zur Hilfeleistung herangezogen werden können?
Frau Präsidentin! Frau Kollegin! Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz sind gegenüber den Verpflichtungen von Trägern anderer Sozialleistungen nachrangig. In dem geschilderten Fall kommen sonst mögliche Hilfen nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht zum Zuge, da diesen Hilfen entsprechende Leistungen nach dem Achten Buch des Sozialgesetzbuchs — Kinder- und Jugendhilfe — vorgehen, sofern die erforderlichen Hilfen nicht bereits nach den Vorschriften über die gesetzliche Krankenversicherung zu leisten sind.Wenn die von Ihnen angesprochene Seemannsfrau Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung ist, erhält sie nach § 199 der Reichsversicherungsordnung Haushaltshilfe, soweit ihr wegen Schwangerschaft oder Entbindung die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist und eine andere im Haushalt lebende Person den Haushalt nicht weiterführen kann. Kann die Krankenkasse keine Haushaltshilfe stellen oder besteht Grund, davon abzusehen, sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Haushaltshilfe in angemessener Höhe zu erstatten.Ist die Seemannsfrau nicht Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung, so kommen Leistungen nach § 20 des Achten Buches Sozialgesetzbuch — Kinder und Jugendhilfe — in Betracht.Es ist Aufgabe des örtlichen Trägers der Jugendhilfe, eine Person zur Verfügung zu stellen, die die Kinder im notwendigen zeitlichen Umfang betreut und versorgt. Kann der örtliche Träger der Jugendhilfe keine geeignete Person stellen oder wünscht der leistungsberechtigte Elternteil die Inanspruchnahme eines Angebots eines Trägers der freien Jugendhilfe, so sind ihm die Kosten für eine Betreuungsperson in angemessener Höhe zu erstatten. Einen zumutbaren Eigenanteil hat er selbst zu tragen.Diese Regelung ist allerdings bis zum 31. Dezember 1994 als Kann-Leistung ausgestaltet. Die Gewährung der Hilfe liegt daher im pflichtgemäßen Ermessen des zuständigen Jugendamtes.
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6928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Zusatzfrage, Frau Kollegin Wetzel.
Hat die Bundesregierung Aufschluß darüber, wie die Kann-Leistung in der Praxis ausgelegt wird?
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das hängt vom Charakter des Einzelfalls ab.
Die zweite Zusatzfrage.
Eine Nachfrage zum Verständnis: Betrifft diese Leistung, die als KannLeistung vorgesehen ist, die häusliche Betreuung der Kinder, also die Betreuung der Kinder im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung?
Peter Hintze, Parl. Staatssekretär: Jawohl.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht uns der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt zur Verfügung.
Die Fragen 30 und 31 des Abgeordneten Hans-Joachim Otto werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 32 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo wird entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Die Fragen 33 und 34 des Kollegen Ludwig Stiegler werden auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragen zu diesem Geschäftsbereich angelangt. Herr Staatssekretär Waffenschmidt, es ist schön, daß Sie sich hierher bemüht haben. Sie sind entlassen, freilich nicht als Staatssekretär, sondern nur aus dieser Fragestunde.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Günther zur Verfügung.
Die Frage 42 unseres Kollegen Lowack wird entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Die Frage 43 des Kollegen Göttsching wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 44 des Kollegen Dr. Uwe Küster:
Welchen zahlenmäßigen Umfang hat der durch das Asbestverbot durch Betriebsschließungen hervorgerufene Beschäftigungsabbau in den neuen Bundesländern, und in welchem Umfang sind die Entlassungen bereits erfolgt?
Frau Präsidentin, ich bitte Sie ebenso wie Sie, Herr Kollege Küster, einverstanden zu sein, daß ich die Fragen 44 und 45 zusammen beantworte.
Ich rufe zugleich die Frage 45 des Kollegen Dr. Uwe Küster auf:
Kann die Bundesregierung der Befürchtung von Beschäftigten aus Asbest-Betrieben folgen, daß sie angesichts der öffentlich bekannten Krebsrisiken in diesen Beschäftigungszweigen bei der Arbeitssuche benachteiligt sind, und welche arbeitsmarktpolitischen Schlußfolgerungen wird sie daraus ziehen?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Küster, dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung liegen keinerlei Informationen dazu vor, ob in den neuen Bundesländern wegen des Asbestverbots Betriebsschließungen vorgenommen werden müssen und in welchem Umfang daraus ein Beschäftigungsabbau resultiert.
Zu Ihrer zweiten Frage bemerke ich: Die Bundesanstalt für Arbeit hat dazu auf Nachfrage mitgeteilt, daß ihr bisher keine Fälle bekannt sind, in denen Arbeitnehmer wegen ihrer früheren Beschäftigung in asbestverarbeitenden Betrieben bei der Arbeitssuche benachteiligt wurden. Soweit dies im Einzelfall geschehen sollte, wäre das Arbeitsamt gehalten, zu prüfen, welche Möglichkeiten gegeben sind, durch vermittlerische, gegebenenfalls auch finanzielle Unterstützung die Arbeitssuche des oder der Betroffenen zu erleichtern. Eine weitergehende Auskunft dazu kann ich nicht erteilen. Es käme meines Erachtens wahrscheinlich im wesentlichen auf die konkrete Fallgestaltung an.
Sie können maximal vier Zusatzfragen stellen, Herr Kollege. Ihre erste Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Mir liegt eine Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales vor; Unterschrift: Fessmann. Darin wird im wesentlichen auf die Altersübergangsregelung vom 55. Lebensjahr an verwiesen. Aber das geht am Problem vorbei. Ich frage im Hinblick auf die jungen Kräfte, die freigesetzt werden und wegen der Asbestbelastung, die sie sicher erlitten haben, ein Risiko in sich tragen. Wenn sie sich zu anderen Arbeitgebern, sprich: in die westlichen Bundesländer, bewegen, werden sie dort abgewiesen. Darüber gibt es Informationen. Ich kann Ihnen dieses Schreiben übergeben.Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Küster, ich wäre Ihnen dankbar — deshalb habe ich zum Schluß selber die Einzelfallgestaltung angesprochen —, wenn Sie uns solche Informationen gäben, damit wir dem gezielt nachgehen und auch helfen können in Verbindung mit der Arbeitsverwaltung. Ich hatte eben schon darauf hingewiesen, daß es in bestimmten Fällen möglicherweise auch finanzielle Hilfen gibt, aber ansonsten auch alles getan werden muß, um vermeintliche oder vorhandene Benachteiligungen auszugleichen. Dazu fehlen uns aber — jedenfalls mir — im Augenblick noch die konkreten Angaben. Wenn Sie uns diese gäben, sind wir mit Ihnen und den dafür vorhandenen Institutionen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6929
Parl. Staatssekretär Horst Güntherzusammen gerne bereit, das zu regeln und zu versuchen, dort zu helfen.
Zweite Zusatzfrage.
Können Sie sich vorstellen, daß, ähnlich wie im Bergbau, für Beschäftigte in diesem Bereich eine Regelung in Kraft gesetzt wird, daß eine vorfristige Ruhestandsregelung geschaffen wird, die dann möglicherweise schon für Beschäftigte, die Mitte 40 sind, eine soziale Sicherung gewährleistet?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen, Herr Kollege Küster, dazu heute keine Zusagen geben. Wir werden aber auch in den Fällen, die Sie uns wahrscheinlich zur Verfügung stellen, den Schweregrad zu prüfen haben und daraus das Gesamtthema möglicherweise insgesamt diskutieren müssen. Aber es ist im Augenblick nicht vorgesehen — jedenfalls nicht seitens unseres Hauses —, schon jetzt eine konkrete Regelung vorzusehen.
Keine weitere Zusatzfrage.
Wir kommen damit zur Frage 46 des Kollegen Ostertag:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß in den neuen Bundesländern aufgrund der Berechnungsmodalitäten des Unterhaltsgeldes hei Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen einer Zielsetzung der aktiven Arbeitsmarktpolitik dadurch entgegengewirkt wird, daß Teilnehmer/Teilnehmerinnen von Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung von der tariflichen Entwicklung ihrer Branche abgekoppelt werden mit der Konsequenz, daß diese Teilnehmer/Teilnehmerinnen finanziell schlechtergestellt werden als ABM-Beschäftigte und im Falle von Tariflohnerhöhungen auch schlechter als die Bezieher von Kurzarbeitergeld und daher oftmals aus finanzieller Not angebotene Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, die ini Interesse des wirtschaftlichen Wandels und im Interesse des Industriestandortes dringend nötig wären, nicht in Anspruch nehmen können, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das von der tarifvertraglichen Regelung abgekoppelte und in seiner Dynamisierung der Rentenentwicklung angepaßte Unterhaltsgeld für die Teilnehmer/Teilnehmerinnen von Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen so zu erhöhen, daß die Schere zwischen den in den neuen Ländern erheblich gestiegenen Kosten der Lebensführung und dem faktisch nicht mehr den Lebensstandard sichernden Einkommen aus dem Unterhaltsgeld nicht noch größer wird?
Herr Staatssekretär.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, sind Sie einverstanden, daß ich auch hier beide Fragen zusammen beantworte? Denn es gibt ja unstreitig einen Zusammenhang.
— Vielen Dank.
Dann rufe ich auch die Frage 47 des Abgeordneten Adolf Ostertag auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Forderung nach einer finanziell verbesserten Ausstattung des Unterhaltsgeldes für Teilnehmer/Teilnehmerinnen an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen, indem beispielsweise die Dynamisierung nicht an die Rentenanpassung , sondern an die tatsächlichen Arbeitsentgelte wie beim Kurzarbeitergeld (§ 68
Abs. 1 und 2 AFG) anknüpft oder beispielsweise das Unterhaltsgeld zeitnah an die tarifliche Entwicklung der entsprechenden Branche durch einen Dynamisierungsrhythmus von einem Vierteljahr angepaßt wird, und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung außerhalb der Möglichkeiten des Arbeitsförderungsgesetzes, die Teilnahmebereitschaft an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen dadurch attraktiver zu gestalten, daß der genannte Personenkreis an der tariflichen Entwicklung teilhat?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, Teilnehmer an beruflichen Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen erhalten bei Vorliegen der individuellen Förderungsvoraussetzungen nach den Bestimmungen des Arbeitsförderungsgesetzes ein Unterhaltsgeld in Höhe von 65 %, bzw. von 73 % für die Teilnehmer mit Kindern oder pflegebedürftigem Ehegatten, des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts. Wir nennen das „pauschaliertes Nettoarbeitsentgelt" . Es liegt damit über dem Arbeitslosengeld, bei dem bekanntlich Sätze von 63 bzw. 68 % gelten.
Ebenso wie das Arbeitslosengeld wird das Unterhaltsgeld in regelmäßigen Abständen an die Lohnentwicklung angepaßt, in den neuen Bundesländern zur Zeit halbjährlich, in den alten Bundesländern jährlich. Die halbjährliche Dynamisierung in den neuen Bundesländern trägt der Tatsache Rechnung, daß die Tariflohnerhöhungen in den neuen Ländern zur Zeit ein deutlich höheres Niveau als in den alten Ländern haben.
Die Dynamisierung erfolgt auch im Interesse der Gleichbehandlung aller Bezieher von Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld, unabhängig davon, aus welchem Tarifbereich bzw. tariflich nicht geregelten Bereich der Arbeitnehmer kommt. Die Berücksichtigung der jeweiligen Tarifabschlüsse des letzten Beschäftigungsbetriebes würde die Teilnehmer benachteiligen, die aus Tarifbereichen kommen, in denen die Arbeitsentgelte nicht oder nur unterdurchschnittlich erhöht wurden. Darüber hinaus wäre bei einer solchen Verfahrensweise der Mehraufwand für die Arbeitsämter — bei, wie Sie selbst wissen, mehr als 5 000 Entgelttarifverträgen , insbesondere in der derzeitigen Situation in den neuen Bundesländern, auch gar nicht zu bewältigen.
Das Kurzarbeitergeld, das in der Regel nur ergänzend zum Arbeitslohn für die ausgefallene Arbeitszeit gezahlt wird, wird vom Arbeitgeber mit dem Arbeitslohn berechnet und ausgezahlt. Aus diesem Grund wirken Tariflohnerhöhungen beim Kurzarbeitergeld unmittelbar. Diese erfolgen jedoch im Gegensatz zur Dynamisierung des Unterhaltsgeldes, jedenfalls in der Regel, nur einmal im Jahr. Darüber hinaus beträgt das Kurzarbeitergeld wie das Arbeitslosengeld nur 63 bzw. 68 % des pauschalierten Nettoarbeitsentgeltes. Es kann daher nicht davon die Rede sein, Kollege Ostertag, daß die Bezieher von Unterhaltsgeld von der Einkommensentwicklung abgekoppelt werden bzw. sich vergleichbar wesentlich schlechter stehen.
Dazu haben Sie nun vier Zusatzfragen. Ich bitte um die gebotene Kürze.
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6930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Ja. — Meine erste Frage bezieht sich darauf, daß diese unterschiedliche Bezahlung insbesondere in ABS, also in Qualifizierungsgesellschaften, vorkommt. Dort haben wir im Grunde genommen drei Einkommensgrößen. Sieht die Bundesregierung genauso wie ich das Problem, daß es hier zu einer Demotivierung kommt, wenn es unterschiedliche Bezahlung gibt?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Ostertag, das kann im Einzelfall natürlich passieren. Aber Sie wissen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen so sind. Sie sind sicher aus gutem Grunde so geschneidert worden. Daß es bei jedem Einzelfall und jeder Hilfe, die wir nachträglich installiert haben — Sie wissen: Die ABS-Gesellschaften sind, auch durch Verträge, nachträglich institutionalisiert worden —, zu gewissen Ungleichgewichten kommen kann, liegt auf der Hand. Sie sind aber aus unserer Sicht nicht so gravierend, daß sie unbedingt demotivierend wirken müssen, insbesondere nicht bei der Sachlage, die wir in den neuen Bundesländern auf dem Arbeitsmarkt haben.
Sind Sie nicht mit mir auch der Meinung, daß die ABS-Gesellschaften in den neuen Bundesländern für längere Zeit bestehen werden und daß die Ungleichgewichte von daher noch größer werden, so daß die Motivierung derjenigen, die sich in Weiterbildungsmaßnahmen befinden oder die über Unterhaltsgeld finanziert werden, noch mehr nachläßt und daß damit die Politik der Bundesregierung, Qualifizierung zu fördern, unterlaufen wird?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Ostertag, es kann sein, daß die ABS-Gesellschaften lange existieren; die Teilnehmer sind aber immer andere. Von daher kann das, was Sie sagen, eigentlich nicht passieren. Denn es gibt bestimmte Fristen, die sowohl für Berufsbildungs- und Fortbildungslehrgänge als auch für die Verweildauer bei ABS und in solchen Fällen gelten, bei denen Kurzarbeit und ABM stattfinden. Die Fristen laufen aus, wodurch es immer wieder neue Teilnehmer gibt, so daß die Verstärkung durch ein längeres Bestehen der ABS-Gesellschaften aus meiner Sicht von daher nicht passieren kann.
Also ist es richtig, daß die Bundesregierung hier keine Nivellierung der unterschiedlichen Bezieher plant?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Zur Zeit nicht. Das ist richtig.
Eine letzte Zusatzfrage: Ist denn die Bundesregierung bereit, auf die Treuhand, die in den Fragen der Qualifizierungsgesellschaften engagiert ist, einzuwirken, daß sie eventuell Ausgleichszahlungen übernimmt?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Ostertag, ob das, auf diesen Fall bezogen, gemacht werden soll, muß sicher geprüft werden. Ich nehme Ihre Frage — wie immer bei solchen Dingen — gerne als Anregung auf. Aber zur Zeit sind wir nicht gezielt an dieser Arbeit.
Sie wissen, daß wir mit der Treuhand schon andere Absprachen getroffen haben, daß in bestimmten Situationen gezielte Hilfen für Betriebe oder für Arbeitnehmer oder für beide gegeben worden sind. Man sollte dieses Instrumentarium aber nicht überstrapazieren. Ich nehme das aber trotzdem als Anregung mit. Wir werden sicher Gelegenheit haben, auch an anderer Stelle darüber zu diskutieren.
Dazu noch weitere Zusatzfragen? — Nein.Dann rufe ich Frage 48 des Kollegen Ottmar Schreiner auf:Für welchen Zeitraum kann die Bundesregierung eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge und eine Kürzung der aus diesen Systemen finanzierten Sozialleistungen ausschließen?Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schreiner, die Einschätzung der Finanzentwicklung in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten wird zur Jahresmitte im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Rentenversicherungsberichtes überprüft. Ob 1993 eine leichte Beitragssatzanhebung erforderlich sein wird, kann zur Zeit nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden. Nach den gegenwärtigen Wirtschaftsannahmen kann der derzeitige Beitragssatz von 17,7 % bestehenbleiben. Ich sage noch einmal: nach den derzeitigen Wirtschaftsannahmen.Für die Bundesanstalt für Arbeit ist eine seriöse Einschätzung der Finanzentwicklung für 1992 nach zwei abgerechneten Monaten nicht möglich. Es läßt sich absehen, daß bei einzelnen Positionen Mehrausgaben zu erwarten sind, z. B. beim Altersübergangsgeld, z. B. bedingt durch die Verlängerung der Regelung bis zum 30. Juni 1992. Dem stehen aber u. a. auch zu erwartende Einsparungen beim Kurzarbeitergeld gegenüber. Da muß man erst einmal die Gesamtentwicklung etwas länger abwarten.Auch für 1993 und die folgenden Jahre sind Prognosen äußerst schwierig, da insbesondere die Arbeitsmarktentwicklung nicht hinreichend genau abschätzbar ist. Ein Zuschußbedarf des Bundes für 1993 ist aus diesem Grunde auch nicht grundsätzlich auszuschließen.Im Bereich Krankenversicherung geht die Bundesregierung davon aus, daß die meisten Krankenkassen 1992 keine Notwendigkeit sehen, ihre Beitragssätze anzuheben, da die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt noch über relativ hohe Rücklagen verfügt. In den neuen Bundesländern haben im übrigen auch eine Reihe von Krankenkassen seit Beginn dieses Jahres die Beitragssätze gesenkt oder beabsichtigen dies.Die Bundesregierung prüft zur Zeit, mit welchen Maßnahmen einem Anstieg der Beitragssätze entgegengewirkt werden kann. Außerdem erwartet die Bundesregierung, daß die Selbstverwaltung der Krankenkassen und Leistungserbringer durch eine beschleunigte Umsetzung der Regelungen der Gesundheitsreform zu einer Begrenzung der Ausgabenentwicklung beiträgt.Eine Kürzung von Leistungen ist derzeit nicht beabsichtigt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6931
Zusatzfrage, Kollege Schreiner.
Herr Staatssekretär, verstehen Sie mein Erstaunen über Ihre Antwort, wenn ich Ihnen mitteile, daß in der vorletzten Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ein Vertreter des Bundesgesundheitsministeriums auf eine entsprechende Frage gesagt hat, daß seiner Auffassung nach eine Beitragserhöhung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung gewissermaßen unvermeidlich sei?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wie die Formulierung des Kollegen aus dem anderen Ressort war. Ich kann Ihnen nur unsere Einschätzung sagen. Sie deckt sich im übrigen weitgehendst mit der der Kollegen aus dem Gesundheitsministerium. Daß das im Einzelfall möglich ist, habe ich dargestellt. Aber im allgemeinen, glaube ich, wird das, was ich gesagt habe, zutreffend sein.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da Sie über umfangreiches Zahlenmaterial verfügen, frage ich Sie, ob Sie mir mitteilen können, in welchem Maße die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im vergangenen Jahr über die Erhöhung etwa der Arbeitslosenversicherungsbeiträge zur Finanzierung der deutschen Einheit beigetragen haben und in welchem Maße andere Berufsgruppen, wie Freiberufler und Beamte, ihrerseits dazu beigetragen haben.
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Kollege Schreiner, diese Frage steht nicht in direktem Zusammenhang mit Ihrer ursprünglichen, und ich habe deshalb die genauen Zahlen nicht hier. Ich kann sie Ihnen aber nachliefern. Sie sind im übrigen, wie ich glaube, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung oder in anderen Diskussionen hier im Hause schon genannt worden. Ich glaube, daß die Beitragszahler insgesamt zur Finanzierung der deutschen Einheit etwa 50 Milliarden DM beigetragen haben. Die Beiträge anderer Gruppen habe ich zahlenmäßig nicht im Kopf; ich könnte sie Ihnen aber nachliefern.
Sie tendieren aber vermutlich gegen Null. Ist das falsch?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Das kann ich im Moment nicht sagen.
Das war jetzt die dritte Zusatzfrage; sie ist eigentlich zu einer Frage nicht erlaubt.
Aber die Antwort war ja noch da.
Wir sind am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 49 des Kollegen Lowack. Sie wird entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Wir kommen dann zur Frage 50 des Kollegen Gernot Erler:
Mit welchem Ergebnis, auch was die Kosten für notwendige Instandsetzungen betrifft, hat das Bundesministerium der Verteidigung eine künftige Unterbringung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes im bisherigen Stabsgebäude der Les Forces Françaises en Allemagne in Freiburg geprüft, und wie verhält sich der Aufwand für diese Lösung im Vergleich zu dem geplanten Neubau bzw. einer Unterbringung in der Villa Ingen-heim in Potsdam?
Herr Kollege Erler, das Stabsgebäude der Dritten Französischen Panzerdivision in der Friedrichstraße 39 in Freiburg wurde am 13. Februar 1992 im Hinblick auf eine mögliche Anschlußnutzung durch das Militärgeschichtliche Forschungsamt von Vertretern des Bundesministeriums der Verteidigung besichtigt.
Dabei wurde festgestellt, daß das Gebäude von seinem Raumangebot her für eine Unterbringung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes grundsätzlich geeignet wäre. Auf Grund der bereits bei dieser ersten Besichtigung erkennbaren Mängel kann aber schon jetzt festgestellt werden, daß vor einer Nutzung durch das Militärgeschichtliche Forschungsamt erhebliche Mittel zur Herrichtung des Gebäudes aufgewendet werden müßten, insbesondere für den Ersatz der Elektroinstallation, die bauliche Absicherung und den baulichen Brandschutz sowie die Anpassung der Heizungsanlage an deutsche Bestimmungen.
Eine Kostenschätzung liegt noch nicht vor. Hierzu bedarf es eingehenderer Untersuchungen, als sie im Zuge der vorgenommenen Besichtigung möglich waren. Ein Vergleich mit den Kosten, die im Falle eines Neubaus für das Militärgeschichtliche Forschungsamt bzw. der Unterbringung in der Villa Ingenheim in Potsdam anfallen würden, ist daher zur Zeit noch nicht möglich. Das Ergebnis bleibt insoweit abzuwarten.
Zusatzfrage, Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich auf einen Teil meiner Frage bezogen, indem Sie Auskunft über die noch nicht ermittelbaren Kosten bei einer möglichen Unterbringung des MGFA in diesem ehemaligen Stabsgebäude der Forces Francaises en Allemagne gegeben haben. Sie haben aber noch nicht gesagt, wie hoch die Kosten für einen Umbau oder eine entsprechende Aufbereitung der Räume in der Villa Ingenheim wären; auch das ist ja ein wichtiges Kriterium. Können Sie dazu noch Angaben machen?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, Sie haben danach gefragt, wie die Vergleichsgröße zwischen den beiden Kostenermittlungen aussieht. Da wir für Freiburg noch keine Angaben machen können, ist es natürlich schwierig, zu sagen:
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6932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Parl. Staatssekretär Willy WimmerDie Kosten stehen im Verhältnis X zu Y. Das kann ich nicht sagen, weil wir die erste Angabe nicht haben. Aber ich kann den ersten Teil Ihrer Frage dahin gehend beantworten, daß sich die Kosten, die wir für Potsdam aufzuwenden hätten, auf etwa 15 Millionen DM belaufen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich aus der Tatsache, daß Sie Kostenermittlungen für die Villa Ingenheim und jetzt auch für das Stabsgebäude der FFA in Freiburg vornehmen, schließen, daß Ihr Haus von dem Plan eines Neubaus endgültig, definitiv abgerückt ist?
Willy Wimmer, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege, der Umstand, daß wir Kostenermittlungen für zwei Standorte durchführen, macht ja deutlich, daß wir uns sachgerecht in die Fähigkeit versetzen wollen, adäquate Prüfungen vornehmen zu können.
Wir kommen nun zur Frage 51 des Kollegen Erler:
Wann und auf welche Weise wird der Bundesminister der Verteidigung Klarheit über den künftigen Standort des MGFA schaffen und damit eine bereits viele Monate dauernde Unsicherheit bei den Beschäftigten und ihren Familien beenden?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Aus den zur Beantwortung der vorhergehenden Frage genannten Gründen sowie im Hinblick auf die noch laufenden Gespräche mit dem Bundesinnenminister über den Standort des in seinem Geschäftsbereich angesiedelten Militärarchivs kann jetzt noch keine abschließende Entscheidung über den künftigen Standort des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes mitgeteilt werden. Das Ziel ist, die erforderlichen Klärungen möglichst noch im Frühjahr 1992 zum Abschluß zu bringen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stimmen Sie meiner Auffassung zu, daß, nachdem bereits mehrfach Gespräche zwischen dem BMVg und dem BMI, und zwar zu der Zeit, als Herr Dr. Schäuble zuständig war, aber auch jetzt wieder, nachdem auf Grund des Wechsels im Innenministerium Herr Seiters zuständig ist, angesetzt worden sind, aber bisher nicht stattgefunden haben, eine Entscheidung im Sinne der Beschäftigten und der betroffenen Familien längst überfällig ist und daß es nicht länger zumutbar ist, diese Entscheidung auf die lange Bank zu schieben?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, Sie wissen, daß ich Ihnen immer dann zustimme, wenn das auch möglich ist, aber in diesem Fall habe ich soeben darauf aufmerksam gemacht, daß wir uns erst eine Grundlage für Entscheidungen verschaffen müssen, indem wir die notwendigen Überprüfungen der Standorte durchführen. Wenn wir jetzt erst dabei sind, Kostenermittlungen für den Standort in Freiburg durchzuführen, was die von Ihnen angesprochene französische Liegenschaft anbetrifft, dann werden Sie bestimmt Verständnis dafür haben, daß wir nach
Abschluß aller Überprüfungen auch die weiteren Gespräche führen und die Entscheidung, wie ich soeben gesagt habe, hoffentlich noch im Frühjahr 1992 mitteilen werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie wird die Entscheidungsfindung letztendlich aussehen? Wird dazu eine Konsensbildung notwendig sein, und was plant Ihr Haus in dem Fall, daß ein Konsens mit dem Innenministerium über die Standortfrage nicht zustande kommt?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen daß wir uns im Bereich der Bundesregierung grundsätzlich verständigen.
Wir kommen dann zu den Fragen 52 und 53 der Abgeordneten Frau Renate Schmidt . Diese Fragen müssen jetzt doch schriftlich beantwortet werden, da sie wiederum präsidiert. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Herr Staatssekretär, ich werde mir die Antworten anschauen und Ihnen meine Zusatzfragen gegebenenfalls schriftlich stellen.
Wir kommen dann zu Frage 54 des Kollegen Dr. Klaus Kübler:
Welche militärische Funktion übt die Flugüberwachungsstelle der US-Streitkräfte auf dem Melibokusberg in Bensheim-Auerbach in Zukunft aus, und wann wird die Bundesregierung die konkrete Freigabe durch die US-Streitkräfte anfordern?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, die Liegenschaft Melibokus in BensheimAuerbach wurde den amerikanischen Streitkräften für die Errichtung und den Betrieb einer Richtfunkverbindungsstelle nach den Bestimmungen des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut zur ausschließlichen Benutzung überlassen. Die amerikanischen Streitkräfte haben bisher nicht erklärt, daß ihr Bedarf für diese Liegenschaft entfällt. Sollte dies eintreten, wären sie gehalten, die Liegenschaft an die Bundesrepublik Deutschland zurückzugeben. Bei einer Fortdauer des militärischen Bedarfs ist nicht vorgesehen, die Freigabe der Liegenschaft zu verlangen.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung ihrerseits nachfragen, ob die Amerikaner noch weiteren Bedarf haben, und werden Sie für die Bundesregierung eine eventuelle Bedarfsanmeldung in dem Sinne — ich will jetzt nicht das Wort „prüfen" gebrauchen — beurteilen, ob dieser Bedarf auch notwendig ist?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, wir haben eigentlich ein sehr gut eingefahrenes Verhältnis zu den amerikanischen Streitkräften, was die Nutzung von Liegenschaften anbetrifft. Solange die amerikanischen Streitkräfte diese Liegenschaft für den vorgesehenen Zweck nutzen, gehen wir davon aus, daß uns die amerikanischen Streitkräfte darüber in Kenntnis setzen, wann diese Nutzung gegebenenfalls zu Ende geht. Solange dies
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6933
Parl. Staatssekretär Willy Wimmernicht der Fall ist, gehen wir davon aus, daß ein Bedarf gegeben ist. Wir haben nach dem jetzigen Stand der Dinge keine Veranlassung, eine Freigabe dieser Liegenschaft zu verlangen, weil wir einen eigenen Bedarf hätten.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich stelle diese Frage natürlich nicht zufällig, sondern auf Grund einer Stimmung in der Bevölkerung, die einfach danach fragt, ob hier noch ein Bedarf besteht. Ich würde es für gut halten, wenn die Bundesregierung solche Fragen der Bevölkerung aufgriffe und ihrerseits, da die Bevölkerung diese nicht unmittelbar stellen kann, sondern Verhandlungspartner ja die Bundesregierung und die Regierung der Vereinigten Staaten sind, diese Frage weitertrüge, ob da noch ein weiterer Bedarf bestehe.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, Sie wissen, daß sich die amerikanischen Streitkräfte, die in Deutschland stationiert sind, wirklich um einen sehr engen Kontakt zur örtlichen Bevölkerung bemühen. Es gibt nach meinem Kenntnisstand nichts aus der örtlichen Diskussion, was sie nicht selber zur Kenntnis genommen hätten. Wir wissen beide, daß sie sich im wesentlichen immer darum bemühen, wenn es geht, Lösungen selber mit zu formulieren. Wir haben also einen Zustand der optimalen Kooperation mit den amerikanischen Streitkräften. Ich glaube, daß das auch im Blick auf das Verhältnis zur Bevölkerung zu sagen ist.
Wir haben derzeit keine Veranlassung, in der von Ihnen angesprochenen Weise tätig zu werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Ich rufe dann die Frage 55 des Kollegen Dr. Klaus Kübler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die US-Streitkräfte nachdrücklich anzuhalten, daß die Nutzung des Standortübungsgeländes Viernheimer/Lampertheimer Wald nur im Rahmen des Nutzungszweckes, also nur für Übungen der in Mannheim stationierten US-Einheiten, erfolgt, und dafür zu sorgen, daß ab sofort die massiv darüber hinausgehende Nutzung durch außerhalb des Standortes Mannheim stationierte US-Streitkräfte eingestellt wird?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, der Standortübungsplatz Viernheimer/ Lampertheimer Wald wurde den amerikanischen Streitkräften ebenfalls für die Dauer ihres militärischen Bedarfs zur ausschließlichen Benutzung überlassen. Nach geltendem zwischenstaatlichem Recht ist die Nutzung nicht auf bestimmte militärische Einheiten oder auf Einheiten aus einem oder mehreren bestimmten Standorten beschränkt. Vielmehr obliegt die Feststellung der nutzenden Einheiten den zuständigen Dienststellen der amerikanischen Streitkräfte.
Bei der bestehenden Rechtslage und angesichts des Interesses der Bundesregierung, den in der Bundesrepublik stationierten verbündeten Streitkräften die Erfüllung ihres Auftrages zu ermöglichen, ist nicht vorgesehen, auf eine Beschränkung der Nutzung des
Standortübungsplatzes Viernheimer/Lampertheimer Wald durch bestimmte militärische Einheiten hinzuwirken.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, daß nach Meinung der Bundesregierung im Viernheimer/Lampertheimer Wald, der nach bisheriger, für mich völlig unstrittiger Auffassung als Standortübungsgelände für Kasernen in Mannheim benutzt werden konnte, z. B. auch Einheiten aus Würzburg oder Einheiten aus Aschaffenburg oder Einheiten aus Kaiserslautern üben dürfen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe eben zum Ausdruck gebracht, wie die Verfahrensweise im Zusammenhang mit der Nutzung dieser Standortübungsanlagen ist und daß von uns aus kein Einfluß auf die Nutzung durch bestimmte Einheiten ausgeübt wird.
Sie wissen, daß wir im Zusammenhang mit militärisch relevantem Übungsgelände — das ist eine grundsätzliche Überlegung — auf dem Territorium der alten Bundesländer ohnehin in einer entsprechenden Situation sind. Das heißt, wenn wir eine solche Liegenschaft haben — das gilt auch für verbündete Streitkräfte —, dann nutzen wir sie alleine schon deshalb, um von bisherigen Übungen im freien Gelände Abstand nehmen zu können. Das ist der Hintergrund dieser Überlegungen.
Zweite Zusatzfrage.
Darf ich den Herrn Staatssekretär fragen, ob er eventuell der Schwierigkeit unterliegt, die Begriffe Standortübungsgelände und Truppenübungsplatz miteinander zu vermengen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in Anbetracht des für militärische Übungen nutzbaren Geländes auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland wissen wir sehr wohl auseinanderzuhalten, welche Übungsflächen wofür herangezogen werden können, als Standortübungsanlage oder als Truppenübungsplätze. Da gibt es natürlich einen Unterschied. Aber ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß wir für militärische Übungen im wesentlichen die festen Plätze nutzen wollen. Da haben wir eben Standortübungsanlagen und die Truppenübungsplätze. Das gilt für deutsche und alliierte Verbände in gleicher Weise.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Vergin.
Herr Staatssekretär, was wollen Sie der Bevölkerung antworten, die jetzt nach Entlastung des deutschen Territoriums insgesamt durch amerikanische und andere ausländische und verbündete Streitkräfte feststellen muß, daß in diesem Ballungsgebiet Mannheim im Viernheimer Wald wesentlich mehr Unruheelemente durch die zusätzlichen Bewegungen von auswärts auftreten? Diese Antwort interessiert mich sehr, weil auch ich die
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6934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Siegfried VerginFrage der Bevölkerung gegenüber beantworten muß.Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glauben, die Bundesregierung wird den Weg auch über Sie natürlich gerne nutzen, um das an die betroffene Bevölkerung weiterzugeben. Aber wir regeln das auch eigenständig im Dialog mit den Betroffenen selber. Von daher können wir uns darüber verständigen, welchen Weg wir derzeit bzw. in Zukunft nutzen wollen.Ich bin gerne bereit, Ihnen die entsprechenden Antworten zur tatsächlichen und zur von Ihnen angesprochenen künftigen Nutzung auch noch schriftlich zukommen zu lassen, damit man die Relationen sieht.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Jüttner.
Herr Staatssekretär, haben Sie Zahlen über das Verhältnis der Nutzung des Geländes durch ortsansässige Truppen und der Nutzung durch Truppen, die von außerhalb kommen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe bereits dem Kollegen, der eben eine entsprechende Frage gestellt hat, die entsprechede Antwort gegeben. Ich stelle selbstverständlich auch Ihnen die Antwort zu.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Bevor ich die nächsten Fragen aufrufe, möchte ich Ihnen gerne eine Information nicht vorenthalten, über die ich mich wahrscheinlich genauso wie Sie freue. Ich habe sie gerade von meinem Kollegen Toetemeyer bekommen, der sie wiederum von der deutschen Botschaft in Kapstadt in Südafrika hat. Die bisherigen Ergebnisse der Volksbefragung über die Fortsetzung der Reformpolitik in Südafrika sehen so aus — es fehlt nur noch die Auszählung von 15 Stimmkreisen —, daß das Nein zur Apartheid bisher eine Mehrheit von 70,2 % gefunden hat.
Ich glaube, daß sich Präsident de Klerk, der heute Geburtstag hat, damit selber ein wunderschönes Geburtstagsgeschenk gemacht hat. Wir sollten ihm auch von hier aus alle gemeinsam gratulieren.
Die Fragen 56 und 57 des Kollegen Jungmann werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 58 und 59 des Kollegen Kubatschka werden entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Ich rufe Frage 60 der Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast auf:
Geht nach Auffassung der Bundesregierung von den Altlastenverdachtsflächen auf Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften in Schleswig-Holstein eine Gefährdung für die in der Umgebung wohnenden Menschen aus?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, die Erfassung der Altlastenverdachtsflächen auf Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften ist in den westlichen Bundesländern durch die Standortverwaltungen beendet, und eine erste Bewertung des Altlastenverdachts ist durch Geologen der Bundeswehr weitgehend durchgeführt worden. Nach den Ergebnissen dieser Erstbewertung liegt in Schleswig-Holstein zum jetzigen Zeitpunkt bei keiner Verdachtsfläche ein Anhalt für akute Gefahr für die menschliche Gesundheit vor.
Die Bundeswehr hat im Februar 1992 die Finanzbauverwaltung mit der Gefährdungsabschätzung der Altlastenverdachtsflächen auf den Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften in den westlichen Bundesländern beauftragt.
Eine Zusatzfrage.
Wenn Sie von Erstbewertung sprechen, darf ich Sie fragen, wann wir mit einer Zweit- oder Endbewertung rechnen dürfen.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wenn die Gefährdungsabschätzung vorhanden ist, werden wir Ihnen diese Bewertung natürlich auch vorlegen können. Das geht bei uns eigentlich immer nach dem Motto „ohne schuldhaftes Verzögern". Aber ich bin gerne bereit, Ihnen eine schriftliche Einschätzung darüber zu geben, wann das ansatzweise der Fall sein wird.
Eine weitere Zusatzfrage.
Da Sie bei der Beantwortung früherer Fragen von einem Dialog mit den Bürgern sprachen, würde mich auch in diesem Fall interessieren, ob es mit den eventuell betroffenen Anwohnern auch einen Dialog über diese Problematik gibt.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß wir bei all den Dingen, die wir im Zusammenhang mit dieser Altlastenproblematik zu präsentieren haben, natürlich zunächst einmal einen Dialog mit den anliegenden Gemeinden führen werden; denn das ist für die kommunalen Gebietskörperschaften ja von einem nicht zu unterschätzenden Interesse. Wenn es dann darüber hinaus zu dem kommt, was Sie angesprochen haben, werden wir da sehr offen sein.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.Wir kommen dann zur Frage 61 der Kollegin Antje-Marie Steen:Welche Maßnahmen plant oder hat die Bundesregierung bereits ergriffen, um eine Gefährdung der in der Umgebung wohnenden Menschen durch Altlasten aus Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften in Schleswig-Holstein auszuschließen?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die Erfassung der Altlastenverdachtsflächen auf Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften, Frau Kollegin — das habe ich eben gesagt —, ist in den westlichen Bundesländern
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6935
Parl. Staatssekretär Willy Wimmerbeendet, und die Erstbewertung — wie auch schon gesagt — des Altlastenverdachts durch Geologen der Bundeswehr ist weitgehend durchgeführt worden. Nach den Ergebnissen dieser Bewertung liegt in Schleswig-Holstein — ich muß mich da wiederholen — zum jetzigen Zeitpunkt bei keiner Verdachtsfläche ein Anhalt für akute Gefahr für die menschliche Gesundheit vor.Aussagen über Art und Umfang der tatsächlichen Kontaminationen auf diesen Flächen und somit über gegebenenfalls erforderliche Sicherungs- und Sanierungsmaßnahmen können erst nach Durchführung der von mir eben auch bereits angesprochenen Untersuchungen im Zuge der Gefährdungsabschätzung gemacht werden.Die Bundeswehr hat im Februar 1992 die Finanzbauverwaltung mit der Gefährdungsabschätzung der Altlastenverdachtsflächen auf den Bundeswehr- und NATO-Liegenschaften in den westlichen Bundesländern beauftragt. — Insoweit ist die Antwort auf diese Frage weitgehend eine Dublette zu der Antwort auf die vorherige Frage.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, beziehen Sie in die Altlastenverdachtsflächen auch die Flächen ein, die z. B. im Bereich der Ostsee liegen? Ich denke etwa an den Standort Putbus, der ein Schießübungsfeld auf die Ostsee hinaus unterhält. Wird auch diese Fläche untersucht, ist sie in dieses Raster mit einbezogen? Haben Sie Erkenntnisse über Art und Umfang des Gefährdungspotentials dieser Fläche?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, da ich jetzt keine spezifischen Ortskenntnisse über diesen Platz habe, habe ich mich gerade vergewissert, wie Ihre Frage beantwortet werden kann. Wir prüfen das und geben Ihnen eine schriftliche Antwort.
Vielen Dank. — Herr Staatssekretär, darf ich Sie in Fortsetzung der Fragen meiner Kollegin Frau Dr. Sonntag-Wolgast weiter fragen: Ist beabsichtigt, daß auch die umliegenden Kommunen in die Planung der Sanierungsmaßnahmen mit einbezogen werden und auch von sich aus eine Bewertung abgeben können?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Es ist vorgesehen, daß die Bauverwaltung, die diese Dinge für uns macht, die Landesdienststellen einbezieht. Und darüber — davon gehe ich aus — wird auch der Dialog mit den Kommunen geführt werden.
Damit ist die Fragestunde geschlossen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt auf: Aktuelle Stunde
Stärkung des dualen Systems beruflicher Bildung auf dem Hintergrund eines drohenden Facharbeitermangels
Die Aktuelle Stunde zu dem vorgenannten Thema ist von der CDU/CSU-Fraktion beantragt worden.
Als erstem erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Rainer Jork.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Anliegen der von der CDU/CSU beantragten heutigen Aktuellen Stunde ist von hoher wirtschaftlicher und sozialer Aktualität. Die Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt zeigen bereits, daß es zuwenig Facharbeiter gibt und weiterhin geben wird. Das Institut für Wirtschaftsforschung, Ifo, ermittelte, daß 1990 5 % Verlust am Sozialprodukt in der Bundesrepublik durch Fachkräftemangel auftraten; die entsprechenden 140 Milliarden DM mögen das deutlicher machen.In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, daß 1991 einem Überangebot von ca. 140 000 Ausbildungsplätzen bei der dualen Berufsbildung dem Arbeitskräftebedarf entsprechend — ein Defizit von etwa 900 000 Studienplätzen gegenüberstand. Das Problem besteht also vor allem darin, daß keine ausreichende Überdeckung von Bildungssystem — bzw. Absolventen — und Beschäftigungssystem bzw. Arbeitsplätzen — erreicht wird. Hinzu kommt, daß in ca. 6 Jahren um ein Drittel weniger junge Leute auf dem Arbeitsmarkt sein werden als vorher. Das wiederum wird vorwiegend zu Lasten der Auszubildenden bzw. Lehrlinge gehen, wenn keine grundsätzlichen Änderungen erreicht werden.Das Gütesiegel deutscher Produktion „Made in Germany" war und ist vor allem durch die Leistungsfähigkeit des deutschen Facharbeiters, seine Fertigkeiten und Fähigkeiten und durch seine Einsatzbereitschaft geprägt. Disproportion in Handwerk, Mittelstand und Industrie hinsichtlich einer entsprechenden Beschäftigungsrelation zuzulassen bedeutet, einer starken Wirtschaft ein instabiles Fundament zu geben, ihr die Füße wegzuhacken.
— Nachdenken hilft, auch bei Ihnen.Hier sind Reaktionen von Wirtschaft und Politik, und zwar über alle Fraktionen hinweg, erforderlich, wenn wir unseren Facharbeiterbedarf nicht aus dem Ausland auffüllen wollen. — Sie sehen, das stand auch in meinem Konzept. — Die Lösung ergibt sich nicht durch staatliche Steuerung, sondern durch Regelungsalgorithmen des Marktes und seiner Entwicklung. Für diese Regelung sind die Soll-Werte durch die Kammern, Verbände, Gewerkschaften und die Gesetzgeber vorzugeben.Bei den Soll-Werten, von der Wahl des individuellen Bildungsweges bis zu den Eingruppierungsvoraussetzungen in Tarifgruppen und Laufbahnen, sind Korrekturen gefragt. Die Eltern von Jugendlichen, die vor der Entscheidung zum Bildungsweg bzw. Beruf ste-
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6936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Dr.-Ing. Rainer Jorkhen, sollten sich schon fragen, ob es nicht sinnvoll ist, zuerst nach der durch Eignung und Interessen geprägten Ausbildung zu suchen, ehe der vermeintlich höchste Bildungsweg gewählt wird.
Wir hatten eben in einer Anhörung Gelegenheit, zusammen mit Ihnen, werte Kollegen von der SPD, uns von Sachverständigen informieren zu lassen.Natürlich wird ein Beruf, ein Bildungsweg geprägt durch Erwartungen zum Einkommen, zu Laufbahn- und Prestigevorstellungen sowie zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Ansehen. Aufgabe einer verantwortungsbewußten Bildungspolitik muß es sein, auch solche Soll-Werte in Frage zu stellen.Eine wesentliche Voraussetzung für sozialen Frieden ist erreichbar, wenn die genannte Diskrepanz zwischen Absolventenstruktur und Beschäftigungsstrukturen minimiert wird. Aus meiner Sicht wird die Freiheit zum Bildungsweg dann zum Betrug, wenn sie in eine nicht realisierbare Illusion zum Arbeitsplatz mündet, der Berufswunsch also nicht realisiert werden kann.Drohenden Facharbeitermangel beheben zu wollen erfordert, die Zusammenhänge im gesamten Bildungssystem zu sehen, die sich durch die Wege, die Dauer und die Übergänge ergeben.
Lösungsansätze gegen einen drohenden Facharbeitermangel müssen also die Soll-Werte für alle Bildungswege hinterfragen, Maßnahmen in allen Bildungsbereichen berühren. Vor allem ist der Diskrepanz zwischen aufgeprägtem und empfundenem Berufswunsch durch Beratung Rechnung zu tragen.Meine Kollegen werden im folgenden auf weitere Vorstellungen zur Behebung dieses Mißstands eingehen.Ich danke.
Meine Damen und Herren, bevor ich der Frau Kollegin Odendahl das Wort gebe, darf ich Ihnen mitteilen, daß auf der Diplomatentribüne Gäste des Deutschen Bundestages Platz genommen haben, nämlich eine Delegation des Haushaltsausschusses des indonesischen Parlaments, die ich hiermit sehr herzlich begrüße.
Das Wort hat unsere Kollegin Doris Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie hätten sich heute diese Aktuelle Stunde ersparen können, wenn Sie sich ständig mit der Situation des dualen Systems beschäftigen würden. Es genügt nämlich nicht, alljährlich bei der Debatte des Berufsbildungsberichts Schönmalerei zu betreiben und die sich seit langem abzeichnenden Probleme des dualen Systems zu verdrängen.Wenn der Herr Kollege Glos — wo ist er denn? —, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ganz plötzlich das wirtschaftspolitisch ungesunde Verhältnis zwischen beruflicher und akademischer Bildung entdeckt und beklagt, hat er ganz sicher den Bericht der Enquete-Kommission überhaupt nicht zur Kenntnis genommen und die Entwicklung insgesamt verschlafen.Wie sieht denn nun die von Herrn Glos als wirtschaftspolitisch ungesund bezeichnete Entwicklung aus? Seit Herbst 1991 gibt es mehr Studenten als Jugendliche in der Berufsausbildung. Diese Entwicklung war seit langem absehbar, und die Gründe dafür waren es auch: der Eintritt der geburtenschwachen Jahrgänge in den Sekundarbereich II bzw. in die berufliche Bildung, attraktivere Berufs- und Einkommenschancen für Hochschulabsolventen, fehlende Durchlässigkeit z. B. beim Laufbahnrecht und Gleichwertigkeit — deswegen haben wir ja auch die Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Berufstätige beantragt — und steigende und veränderte Anforderungen des Beschäftigungssystems; siehe Gutachten von IAB und Prognos.Weil wir gerade dabei sind, die neue Verfassung für das geeinte Deutschland zu erarbeiten, verweise ich auch auf das Grundrecht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte, das Sie doch wohl nicht in Frage stellen wollen.Nun hat der Herr Kollege Glos als Handwerker auf die drohende Facharbeiterlücke hingewiesen, über die insbesondere das Handwerk klagt. Das Handwerk hat in den 80er Jahren zur Bewältigung der quantitativen Ausbildungsprobleme — um in der von Ihnen gewählten Formulierungsform zu bleiben: bei der damaligen Ausbildungsplatzlücke; welch eine Lükkendiskussion! — überdurchschnittlich viel ausgebildet;
zum einen aus Eigeninteresse zur Sicherung des Nachwuchses, zum anderen, um dem Appell der Bundesregierung und der allgemeinen Erkenntnis zu folgen, irgendein Ausbildungsplatz sei immer noch besser als keiner.Den Jugendlichen wurde dann aber oft nach der Ausbildung keine sichere Beschäftigung im erlernten Beruf geboten. An den Folgen solcher Fehlqualifizierungen leiden wir noch heute.
— Das ist kein Quatsch, das ist so.
Es ist falsch, von der statistischen Gleichheit der Zahl der Auszubildenden und der Studenten zu sprechen. Wichtiger ist der Blick auf die Zahl der Absolventen der beruflichen Bildung in Betrieben, Vollzeitberufsschulen und Hochschulen. Jährlich absolvieren etwa 150 000 Studenten ihr Studium, aber knapp 500 000 Auszubildende ihre Ausbildung. Halten Sie sich doch einmal diese Zahlen vor Augen!
Deshalb ist auch der vom Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion in den Raum gestellte Vergleich von 1,7 Millionen Studenten zu 1,5 Millionen Auszubildenden und das Beispiel aus Bayern, daß es genauso viel Maurer wie Architekten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6937
Doris Odendahlgebe, völlig falsch und von keiner Sachkenntnis getrübt. Das ist aber leider so.Es ist auch völlig abwegig, die Berufsausbildung gegen die wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen auszuspielen. Herr Jork, da sind wir uns völlig einig. Sie schüren damit den Verdacht, daß Sie die Studienplatzlücke durch besondere Auswahlverfahren und damit wohl eine Beschränkung des Hochschulzugangs steuern wollen.
— Sie haben auch in der Erkenntnis viele Lücken.
Erforderlich ist die Qualitätsverbesserung in allen Bildungsbereichen. Dies erfordert u. a. die Fortführung der Neuordnung der Berufe im Konsens zwischen den Sozialpartnern und eine überregionale Studienreform im Hinblick auf die Tätigkeitsanforderungen des Beschäftigungssystems.Die Arbeitgeberverbände haben im Januar 1992 in einer gemeinsamen Erklärung zur Bildungspolitikdaran war bestimmt auch das Handwerk beteiligt — selbstkritisch drei Forderungen erhoben: erstens Anerkennung beruflicher Abschlüsse beim Zugang zu den Hochschulen, zweitens Ausbau der Allgemeinbildung in der beruflichen Bildung — siehe die Empfehlungen der Minderheit in der EnqueteKommission — und drittens bessere Berufs- und Einkommenschancen für Absolventen des beruflichen Systems.In diesem Sinne betrachte ich die heutige Aktuelle Stunde als Nachhilfestunde zu den von mir angesprochenen Lücken in der Bildungspolitik. Wenn es Ihnen hilft, soll es mir recht sein.
Ich erteile dem Kollegen Dirk Hansen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde ergibt sich manchmal auch dann, wenn die Zustände als akut bezeichnet werden können oder die Zustände zu Notständen erklärt werden müssen.
Im vergangenen Jahr sind entgegen allen Unkenrufen — ich schaue bewußt in eine bestimmte Richtung doch große Erfolge in der Lehrstellenbilanz erzielt worden. Ich will nicht darauf eingehen.
Diese quantitativen Erfolge des vergangenen Jahres sind jetzt für 1992 noch einmal besonders drängend.
— Ich meine Sie doch nicht persönlich. Oder schaut
momentan jemand in den Spiegel? Ich glaube nicht.
Entschuldigung, Herr Kollege, ich muß dem Kollegen Müntefering doch sagen, daß die Aufforderung, in den Spiegel zu schauen, nicht unparlamentarisch ist.
Vielen Dank, Herr Präsident. Es ist übrigens angeraten, daß jedermann von Zeit zu Zeit in denselben schaut.Ich will darauf hinaus: Die quantitativen Probleme, die sich jetzt auf Grund der Schulpflichtregelung für 1992 in noch intensiverer Form als im vergangenen Jahr stellen, führen aber auch die Frage nach der Qualität der Ausbildung mit sich. Die Stärkung der beruflichen Bildung ist in vielfacher Hinsicht in allen Bundesländern, natürlich ganz besonders in den neuen, auf der Tagesordnung.In den gewerblich-handwerklichen Berufen stellt sich die Frage, ob insgesamt überhaupt noch genügend Bewerber den angebotenen Ausbildungsplätzen entsprechen können. Der Überhang des Lehrstellenangebotes ist ja ganz evident.In der Diskussion der letzten Wochen stellte sich durchaus die Frage, inwieweit die Entwicklung richtig ist, wenn heute festgestellt werden muß, daß jedenfalls im jetzigen Jahrgang die Schulabgänger mehr eine akademische denn eine unmittelbare berufliche Ausbildung anstreben; dies unabhängig von den Zahlenspielen, die die Situation manchmal verzeichnen, aber doch deutlich machen.Mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage, ob dieses erfolgreiche duale System wir haben uns ja in den letzten Zeiten angewöhnt, dieses System als Exportschlager und als besonderen Wert des deutschen Bildungssystems insgesamt zu bezeichnen — überhaupt noch genügend Anerkennung findet. Die Frage des Stellenwertes der beruflichen Bildung im dualen System ist keineswegs getrennt von den immer stärker auseinanderdriftenden Schulsystemen in den Bundesländern. Es ist in diesem Zusammenhang denn doch darauf hinzuweisen, daß man im bundesdeutschen Bildungsdschungel — ich denke etwa an die letzten Diskussionen in Nordrhein-Westfalen — neue Schulformen — ich denke manchmal: mit heißer Nadel — zu stricken beginnt und damit eigentlich nur Verwirrung in die Diskussion der Schulfrage hineinbringt, wenn man andererseits die Hauptschule immer wieder als den Hauptlieferanten für diejenigen betrachtet und, wie ich denke, weiterhin betrachten sollte.
Die Frage nach den Aufstiegsmöglichkeiten und der finanziellen Bewertung beim Durchlaufen der dualen Ausbildung muß gestellt werden. Welche Chance haben Facharbeiter und Angestellte innerbetrieblich im Vergleich zu den schulisch oder akademisch Qualifizierten?
Insofern stellt sich die Frage nach der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung konkret. Sie muß operationalisiert werden. Die Bundesregierung hat mit der Begabtenförderung immerhin einen
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6938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Dirk HansenAkzent gesetzt. Doch das ist, denke ich, nicht die alleinige Antwort. Die Wirtschaft selber und auch der öffentliche Dienst — ich nenne das A-13-Syndrom als Stichwort, das Beamtenlaufbahnrecht als weiteres Stichwort — müssen darüber nachdenken, ob man sich durch die starren Regelungen von gehobenem und höherem Dienst nicht selber einengt. Die Praxis nach der Berufsausbildung sollte Indiz für die individuellen Karrieren und Lohnchancen sein.Die Öffnung der Fachhochschulen und Hochschulen für beruflich besonders Qualifizierte mag ein weiterer Schritt sein; aber es darf auch nicht nur eine Vermehrung der Zahl der Studierwilligen stattfinden, vielmehr muß die Optionsmöglichkeit nach beiden Seiten hin verstärkt werden.
Über diese Grundfragen hinaus will ich nur noch kurz auf einige wenige Einzelaspekte hinweisen.Berufsschulen in den neuen Ländern! Wo sind die Milliarden des Gemeinschaftswerks Ost geblieben, die doch auch für die Modernisierung und Sanierung der Berufsschulen gedacht waren? Ein Austausch der Ausbilder von Ost nach West, aber auch umgedreht, sollte möglich sein, um in Blöcken oder bei bestimmten Projekten das duale System zu fördern. Auf das erfolgreiche Lehrstellenprogramm des vergangenen Jahres sei nur hingewiesen.
Herr Kollege, damit sind Sie am Ende Ihrer Zeit.
Ein letzter Hinweis. Der Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten, der vorgenommen wird, ist zu begrüßen. Allerdings muß auch gesehen werden, inwieweit auf diese Art und Weise hier die Säulen des dualen Systems durch den Ausbau der außerbetrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten eigentlich doch ein bißchen konterkariert werden, wenn das duale System die schulische und die betriebliche Ausbildung gleichwertig und parallel nebeneinandersetzen will. Wir brauchen ein Maß, das Gesellschaft und Volkswirtschaft vertragen kann.
Herr Kollege, Sie sind weit über der Zeit.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Ich muß die bei Aktuellen Stunden obligatorische Bemerkung machen: Wenn jeder fünf Minuten hat und jemand bei den fünf Minuten die Zeit um eine Minute überschreitet, dann hat er 20 % mehr Zeit in Anspruch genommen als die anderen Kollegen, die sich an die Zeit halten.
— Ob Sie es glauben oder nicht, Herr Müntefering, diese Zeit habe ich ihm abgezogen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU hat am 2. Januar 1992 — das weiß sie ja — eine Kleine Anfrage zur Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung eingereicht, und die Bundesregierung hat einen Monat später in ihrer Antwort ganze 30 Seiten vollgeschrieben.
— Das Ergebnis ist leider nicht hervorragend, sonst würden Sie heute keine Aktuelle Stunde beantragen müssen. Mir scheint es für Sie doch nachdenkenswert, was die Ursachen dafür sind, daß Sie heute in diese Situation gekommen sind, diese Aktuelle Stunde beantragen zu müssen. Das ostdeutsche Problem— und die PDS vertritt natürlich vor allen Dingen ostdeutsche Probleme —
ist nicht Ihr Problem, ist nicht drohender Facharbeitermangel, sondern die Arbeitslosigkeit von Hunderttausenden Facharbeitern und Ingenieuren. Das ostdeutsche Problem ist nicht ein Überschuß an Lehrstellen für Facharbeiter, sondern ein gravierender Mangel an qualifizierten Ausbildungsplätzen.
— Wissen Sie, es gibt unterschiedliche Informationsquellen. Ob Ihre stimmen oder ob meine stimmen, das ist noch nicht entschieden.
— Ich muß dazu nicht zum Handwerk gehen; es gibt genügend Bundesstellen, die offizielle Statistiken verbreiten. Wenn Sie als CDU gegen diese offiziellen Statistiken sind, dann müssen Sie das als Regierungskoalition ändern, aber Sie können nicht irgendwelchen Schnee erzählen, mit dem man bestimmte Probleme vom Tisch wischen kann.
— Wenn Sie etwas wollen, dann gehen Sie ans Mikrophon, dann können Sie mich fragen. Wenn Sie mich aber ansprechen, muß ich Ihnen ja wohl eine Antwort geben.Diese deutsch-deutsche Schieflage, die Sie produziert haben, ist nicht das Ergebnis von 40 Jahren Geschichte; diese Schieflage ist Ihr Problem, und mit diesem Problem müssen Sie zurechtkommen und langsam fertig werden. Zu dem, was Sie angeboten haben, um das Problem, soweit es die ostdeutschen Länder betrifft, zu lösen, sage ich Ihnen: Es hat noch nicht gegriffen. Auch wenn man versucht, es sehr, sehr positiv zu interpretieren — es hat noch nicht gegriffen.Was die Altbundesländer angeht, so war ja angesichts der anhaltenden Bildungsexpansion, die sich vor allem in dem Drang eines immer größeren Teils von jungen Menschen zum Abitur und zum Studium
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Dr. Dietmar Kellermanifestierte, unschwer vorauszusehen, daß die Berufsausbildung und in der Folge das Angebot an qualifizierten Facharbeitern dabei Schaden nehmen mußte. Da brauchen Sie nicht überrascht zu sein.Ich kann vielen Vorschlägen, die hier geäußert worden sind, beipflichten und denke, daß eine Reihe von Lösungsvarianten akzeptabel ist. Aber ich bitte Sie, zu beachten — sonst reden wir auch im nächsten Jahr und im übernächsten Jahr weiter über dasselbe Problem —: Es geht nicht um partikuläre Lösungen, sondern um ein Gesamtkonzept für die Reform des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Gesamtkonzept sollte nicht für zwei, drei Jahre Gültigkeit haben, sondern mit einem Blick auf das nächste Jahrzehnt erarbeitet werden.Das zu fordernde gesamtdeutsche politische Nachdenken und Handeln muß dringend eine Neu- und Umverteilung der Arbeit in Deutschland einschließen. Solange es im Osten Deutschlands durch Eigentumsregelungen und die Privatisierungspolitik der Treuhand erschwert oder verhindert wird, daß Arbeit zu den in Ostdeutschland reichlich vorhandenen und auch zur Weiterbildung, Umschulung und Nachqualifizierung bereiten Arbeitskräften kommt, wird die deutsch-deutsche Schieflage in dieser Frage anhalten.Wir werden auch in den kommenden Jahren vor spezifisch westdeutschen Problemen wie dem drohenden Facharbeitermangel und spezifisch ostdeutschen Problemen wie der Arbeitslosigkeit von Facharbeitern stehen, wenn wir nicht langfristig greifende Konzeptionen dazu erarbeiten. Die müssen Sie als Regierungskoalition und als stärkste Fraktion in diesem Parlament auf den Tisch legen.Danke.
Herr Abgeordneter Keller, nur damit es hier keine parlamentarische Schieflage gibt: In Aktuellen Stunden sind Zwischenfragen nicht zugelassen. Ob jemand allerdings auf Zwischenrufe eingeht, ist immer Sache des Redners selbst.
Ich erteile dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Herrn Professor Dr. Rainer Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Trends der Bildungsorientierung Jugendlicher und ihrer Eltern lassen sich heute schlagwortartig als „Streben nach möglichst hohen Abschlüssen" charakterisieren. Der Grund liegt in der Vermutung, daß solche Abschlüsse günstige Optionen für den weiteren Bildungsweg eröffnen und aussichtsreiche Berufskarrieren versprechen.
Diese Bildungsorientierung macht die duale Ausbildung gegenüber konkurrierenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II, die ohne Umwege zur Hochschulreife oder zu höherwertigen beruflichen Abschlüssen führen, in den Augen vieler Jugendlicher und ihrer Eltern zunehmend weniger attraktiv.
Unter den wirtschaftlichen Bedingungen der Bundesrepublik brauchen wir ein ausgewogenes Verhältnis zwischen beruflich ausgebildeten Fachkräften und Hochschulabsolventen. Wenn sich der gegenwärtige Trend im Bildungswahlverhalten fortsetzt, könnte diese Ausgewogenheit über kurz oder lang verlorengehen. Über diesen Überlegungen sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, daß auch Hochschulabsolventen Fachkräfte sind, die wir brauchen.Aus solchen Überlegungen darf allerdings nicht der falsche Schluß gezogen werden, man müsse den Zugang zu den Hochschulen administrativ einschränken oder erschweren. Auch auf diesem Feld wäre staatliche Bewirtschaftung nicht der richtige Weg, vielmehr müssen wir die berufliche Bildung und die Berufsperspektiven der Fachkräfte so attraktiv machen, daß die berufliche Bildung im Wettbewerb der Bildungswege zur gleichwertigen Alternative wird.
Erlauben Sie mir, bei aller Betonung, daß sich jetzt die Kurven gekreuzt haben, daß wir also mehr Studenten haben als Auszubildende, doch auch einmal eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung anzuführen. Dort stellt man nämlich fest, daß man im Jahre 1987 23 % Ungelernte hatte und 11 % Akademiker. Für das Jahr 2000 prognostiziert man 16 bis 17 T. Ungelernte und 15 bis 16 % Akademiker. Man sieht also, die Sache ist vom Endergebnis her nicht so gravierend. Das ändert aber nichts daran, daß wir dafür sorgen müssen, daß der notwendige Anteil an Fachkräften auch ausgebildet wird. Deshalb muß die berufliche Bildung, muß das bewährte duale System attraktiv bleiben. Wir müssen weiter den Anteil Ungelernter verringern und auch diese Gruppe erschließen für eine entsprechende Bildung.
Um den Fachkräftenachwuchs langfristig zu sichern, muß die Berufsbildung im Bewußtsein junger Leute als eigenständiger Bildungsweg einen höheren Stellenwert gewinnen. Entscheidend ist, daß leistungsfähige junge Leute sich durch berufliche Bildungsinhalte in jeder Hinsicht auch intellektuell ähnlich gefordert und gefördert fühlen wie ihre Altersgenossen, die sich für den allgemeinen Bildungsweg entscheiden. Das kann durch differenzierte und leistungsfördernde Lehr- und Lernmethoden, anspruchsvolle, fachbezogene und fachübergreifende Qualifizierung und stärkere Gewichtung allgemeiner Fähigkeiten in der beruflichen Bildung erreicht werden. Zugleich müssen die Betriebe und Verwaltungen leistungsfähigen und weiterbildungsaktiven jungen Fachkräften auch ohne Studium ähnliche Entwicklungsmöglichkeiten bieten wie Hochschulab-
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Bundesminister Dr. Rainer Ortlebsolventen. Denn Gleichwertigkeit und Attraktivität von Bildungswegen ist nicht nur eine Frage von zusätzlichen Zertifikaten und Berechtigungen. Damit erreicht man wenig, wenn die Betroffenen nicht den Eindruck gewinnen, daß die an sie gestellten Anforderungen und ihre Leistungen wirklich gleichwertig sind und im Beruf und Gesellschaft auch tatsächlich als gleichwertig anerkannt werden.Differenzierte Angebote und Strukturen erhöhen aber nicht nur die Attraktivität der Berufsbildung für Leistungsstarke, sondern haben positive Wirkung für die gesamte Berufsbildung. Das gilt auch für die jungen Leute, denen das Lernen schwerfällt. Für sie sind ebenfalls differenzierte Fördermöglichkeiten und Zugänge zu Ausbildungsabschlüssen, die ihre Beschäftigungschancen verbessern, notwendig. Auch ihre Qualifizierung ist notwendig, um den gegenwärtigen und zukünftigen Fachkräftebedarf zu decken. Dies gilt natürlich auch für ausländische Jugendliche. Denken Sie bitte an die Zahlen, die ich Ihnen genannt habe! Das sind die Trends, die wir zu beachten haben.Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Stephan Hilsberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man begrüßt als Bildungspolitiker jederzeit die Gelegenheit zum öffentlichen Diskurs. In der Bildung liegt manches im argen, nicht nur die Facharbeiterknappheit. Insbesondere auch im Osten haben wir manche Schwierigkeiten. Nun ist aber die Facharbeiterknappheit im Osten nicht das eigentliche Problem.Die berufliche Bildung in der DDR war formal gesehen nicht schlecht. Wir hatten so etwas ähnliches wie ein duales Bildungssystem mit Verantwortung für die Wirtschaft. Aber man darf dabei nicht vergessen — das muß ich zu Ihnen sagen, Herr Keller —, daß die Protagonisten dieses Systems es selber waren, die die berufliche Bildung in der DDR zerstört haben, und zwar genau in der Wendezeit, in dem Moment nämlich, als sie begannen, auf Weisung von oben mit Schlips und Kragen in ihren Betrieb zu marschieren. Es waren aber die gleichen Leute, die 20, 30 Jahre die Betriebe geführt hatten, die nun ihre gesamte Lehrstellenausbildung an die Kommunen weitergaben, die überhaupt nicht darauf vorbereitet waren und die zum Teil noch Maschinenstürmerei dabei betrieben haben.Durch den Crash der Wirtschaft, der durch die Währungsunion folgte — der Zusammenbruch des Marktes tat sein übriges —, haben wir eine Situation, die in der Tat in keiner Art und Weise befriedigend sein kann, auch wenn man froh sein muß über mancherlei Lückenbüßerei, die dort gegriffen hat. Aber wenn zur Zeit nach wie vor ein Viertel der Lehrlinge keine Lehrstelle des dualen Systems bekommen haben, sondern über das AFG finanziert werden, dann ist das als Krücke des Lehrstellen-systems anzusehen.
— Es ist eine Krücke des Systems, die so schnell wie möglich abgeschafft werden muß.Es gab auch eine Lehrstellenhilfe, die vom Bund finanziert wurde. Aber die Tatsache, daß die Länder, was die Qualität und Quantität betrifft, mit ihren Programmen weit über das Bundesprogramm hinausgingen, zeigt, wie mangelhaft das Bundesprogramm an dieser Stelle war.Es gibt zur Zeit Ausbildungsringe — ich sprach schon darüber —, die über das AFG finanziert werden. In der Stellungnahme des BiBB wird dazu eindeutig Stellung genommen. Von Ulf Fink, Landesvorsitzender der CDU in Brandenburg, wird dazu ausgeführt — ich bitte zuzuhören —:Bedauert werden muß, daß die Arbeitgeberseite bei der Beratung der Stellungnahme im BiBB-HA nicht bereit war, auf die Problematik der gleichen tariflichen und sozialen Schutzrechte für Jugendliche in den Ausbildungsringen einzugehen.Nun ist die Ausbildung in Ausbildungsringen aber nicht einfach nur qualitativ schlechter. Sie ist auch noch viel teurer, als wenn man sie im dualen System finanziert hätte. Von der Größenordnung, der Anzahl der Lehrstellen, die geschaffen wurden, lassen sich diese beiden Programme vergleichen. Aber über das AFG müssen dafür bis zu 760 Millionen DM bereitgestellt werden, während die Ausbildung, die auf andere Art und Weise unterstützt wird, sehr viel billiger ist. Auch hier ist die Frage, ob man dieses Programm des Bundes jetzt ausbauen sollte, statt es abzuschaffen oder zurückzufahren.Die Problematik der Ausbildung, der Lehrstellen und der beruflichen Bildung, im Osten ist sehr schwierig, und sie wird teuer sein. Im Westen gibt es Begabtenförderung. Die SPD ist nicht gegen Begabtenförderung. Aber sie fragt, welchen Sinn Begabtenförderung im Westen im jetzigen Moment, bei den großen Schwierigkeiten im Osten, hat.
— Ja, sicherlich. Aber dies ist eine Frage der Herstellung gleicher Lebensbedingungen für alle. Wir müssen natürlich die gesamtdeutsche Situation betrachten. Das ist eine ganz klare Angelegenheit. Ich kann nicht alleine den Osten herausgreifen. Jetzt aber haben wir im Osten schlechtere Bedingungen und im Westen Facharbeitermangel. Die Jugendlichen müßten ja mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie, diesem Druck folgend, nicht in den Westen gingen. Dies aber will keiner, weil dies auf Dauer für den Osten wieder schlechte Folgen hat. Ich will darauf deswegen zu sprechen kommen, weil ich mir vorstellen kann, daß es unter diesen Bedingungen sehr schwierig ist, teure Programme aufzulegen, die das duale System im Osten tatsächlich aufzubauen helfen, während wir hier im Westen Facharbeiterknappheit haben.Ich denke, wir müssen an dieser Stelle noch unheimlich viel tun. Sie haben unsere Unterstützung.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6941
Frau Abgeordnete Maria Eichhorn, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wäre jetzt natürlich sehr reizvoll, auf das einzugehen, was der Kollege Hilsberg gesagt hat. Aber ich denke, ein Teil der Problematik wurde vorher in der Regierungsbefragung sehr eindeutig von Bundesminister Ortleb angesprochen.
Aber nun zum eigentlichen Thema. Drei Schlagzeilen aus den Veröffentlichungen der letzten Wochen möchte ich herausgreifen: „ Zu viele Studenten studieren zu lange", „Bildungswesen hat Gleichgewicht verloren", „Bildungswesen braucht Radikalreform". Tatsache ist: Während immer mehr betriebliche Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, leiden die Hochschulen unter der zunehmenden Zahl der Studierenden. Die Bildungs- und die Wirtschaftspolitik sind gefordert, gegen das offensichtliche Ungleichgewicht anzugehen. Auch Wirtschaft und Verbände müssen sich der Herausforderung stellen.
Patentrezepte gibt es nicht. Aber über eines sind sich alle im klaren, die sich mit diesem Thema beschäftigen: Das berufliche Bildungswesen muß noch attraktiver werden. Daß sich das duale System hervorragend bewährt hat, steht außer Zweifel. So wurde vor kurzem in der „Wirtschaftswoche" Professor Porter von der Harvard-Universität zitiert:
Durch das einzigartige duale Lehrlingssystem sind deutsche Arbeiter auf Spezialgebieten nicht nur besser ausgebildet als ihre Kollegen in den meisten europäischen Ländern, sondern besitzen auch eine bessere theoretische Grundlage, auf der sie sich weiterbilden können.
Wir brauchen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, sowohl die erstklassig ausgebildeten Akademiker als auch junge Frauen und Männer mit erstklassiger Berufsausbildung.
Was können wir tun, damit wieder mehr Jugendliche eine Berufsausbildung abschließen? — Erstens. Wirtschaft und öffentlicher Dienst sind gefordert. Nur wenn die Lehre Karriere und gute Einkommenschancen eröffnet, kann sie die Konkurrenz mit dem Studium bestehen. Nicht nur Abschlüsse dürfen zählen; die Leistung muß mehr in den Vordergrund gestellt werden.
Daher müssen berufliche Eingruppierungen und Laufbahnregelungen überdacht werden, ob sie den heutigen Anforderungen noch gerecht werden.
Zweitens. Derzeit kommen zwischen 9 und 14 % der Jugendlichen eines Jahrgangs nicht zum Berufsabschluß. Die Hälfte davon beginnt nicht einmal eine Ausbildung. Hier sind Reserven, die es zu gewinnen gilt. In der Berufsausbildung dürfen nicht nur leistungsstarke und begabte Jugendliche eine Chance haben. Auch Leistungsschwächere brauchen Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten.
Erfahrungen haben gezeigt, daß praxisnahe Berufsvorbereitungsangebote die Chancen erhöhen. Eine gezielte und intensive Förderung während der Ausbildung helfen, eine Berufsausbildung mit Erfolg abzuschließen. Dabei sind die ausbildungsbegleitenden Hilfen nach § 40c AFG eine wirksame Unterstützung.
Eine weitere Möglichkeit, lern- und leistungsschwache Jugendliche zu fördern, besteht in der Schaffung besonders praxisorientierter Ausbildungsgänge. Warum soll man Auszubildende mit Theorie überfrachten, wenn dies nicht unbedingt erforderlich ist? Hier gilt es, Anforderungsprofile zu überdenken und Ausbildungsordnungen speziell für diesen Personenkreis weiterzuentwickeln.
Drittens. Der eingeschlagene Weg der Begabtenförderung in der beruflichen Bildung ist richtig und muß ausgebaut werden. Es reicht nicht, wenn wir die Leistung junger Fachkräfte nur in Reden würdigen. Sie haben den gleichen Anspruch auf Förderung wie Studenten.
Viertens. Wir brauchen ein gut ausgebautes, mehrgliedriges Schulwesen, das den Einstieg in die berufliche Ausbildung attraktiver macht. Die Aufwertung der Hauptschule ist dabei dringend erforderlich. Baden-Württemberg und Bayern gehen hier den richtigen Weg, indem sie die Möglichkeit anbieten, über den Bildungsgang der Hauptschule und der anschließenden Berufsausbildung einen mittleren Schulabschluß zu erwerben.
Fünftens. Unser Bildungssystem muß noch durchlässiger werden. Der bayerische Kultusminister, Hans Zehetmair, sagt zur Aufwertung der Hauptschule und der beruflichen Bildung — ich zitiere —, Frau Odendahl: „Jede Schulform ist letztlich so attraktiv wie die Berechtigungen und Zukunftschancen, die sie verleiht. " Zwar kann man heute bereits über den beruflichen Bildungsweg zur Hochschulreife gelangen. Doch dieser Weg ist nicht einfach und erfordert zeitraubende Umwege. Daher fordern die Verbände der Wirtschaft zu Recht, Meistern und Fachschulabsolventen den direkten Zugang zur Fachhochschule zu ermöglichen. Allerdings kann dieser Zugang nicht uneingeschränkt gewährt werden.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon überschritten.
Ich komme sofort zum Schluß.
Durch eine Eignungsprüfung sollten qualifizierte Berufstätige die Möglichkeit eines fachgebundenen Studiums erringen können.
In der Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland hat unser Bildungssystem einen wichtigen Stellenwert.
Frau Kollegin Eichhorn, Sie müssen schließen.
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6942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Es ist den Bildungssystemen anderer Industriestaaten weit überlegen. Dies muß auch in Zukunft so bleiben.
Danke schön.
Nein, es soll bitte in Zukunft nicht so bleiben, daß dann, wenn der Präsident sagt, daß die Redezeit zu Ende sei, noch eine halbe Seite vorgelesen wird.
Ich erteile als nächstem dem Abgeordneten Josef Grünbeck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich melde mich als ein Unternehmer zu Wort, der über 40 Jahre lang berufliche Ausbildung in der Praxis vor Ort betreibt.
Ich habe nachgelesen, daß Sie das gemacht haben. Dennoch muß ich Ihnen sagen: Den Vorwurf, daß wir Lücken hätten, müßte ich eigentlich zurückgeben. Was haben Sie hier eigentlich vorgetragen? — Frau Odendahl, bei allem Respekt: Sie haben auf der einen Seite das Handwerk dafür gelobt, daß es über Plan ausgebildet habe. Aber Sie haben es anschließend dafür kritisiert, daß es die über Plan ausgebildeten Menschen nicht beschäftigt habe. Dann müßten Sie als Konsequenz doch sagen: Man darf eine Lehrstelle nur dann schaffen, wenn man dem Betrieb gleichzeitig die Pflicht auferlegt, den Auszubildenden nach seiner Ausbildung weiterzubeschäftigen.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das ist doch die Entfremdung von jeglicher Praxis. Ich habe manchmal das Gefühl, daß wir bei der ganzen öffentlichen Diskussion über das berufliche Bildungssystem immer mehr mit Leuten zu tun haben — Sie sind nicht dabei —, die von der Schulbank in die Hochschulbank und von dort in die Parteibank gehen. Dann sitzen sie in der Fraktionsbank und der Parlamentsbank und haben noch keine Drehbank gesehen. Aber vielleicht bleibt ihnen die Bank für Gemeinwirtschaft als letzte Zufluchtsstätte.
Dazu kann ich nur sagen: So darf die berufliche Bildung nicht aussehen.Sie kritisieren den Kollegen Glos völlig zu Unrecht. Wir nehmen die Schere zwischen den Studierenden und den Auszubildenden sehr ernst. Dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen; der Bildungsminister hat darauf hingewiesen. Deshalb ist die Aktuelle Stunde aktueller als je zuvor. Die Schere öffnet sich immer mehr; wir haben immer mehr akademisch ausgebildete Leute.Ich sage Ihnen als einer, der in der Technik drinsteht: Wir sind nicht mehr weit weg davon, daß wir einen mikroprozessorgesteuerten Wasserleitungshahn bekommen, aber daß es niemanden mehr gibt, der ihn einbauen oder reparieren kann. Das kann nicht das Ziel einer beruflichen Bildung sein.
Herr Minister, ich habe die große Bitte, daß Sie darauf hinwirken, daß die Berufsberatung geändert wird. Ich habe noch keinen Menschen in Deutschland getroffen, der mir bislang sagen konnte, daß er etwas Brauchbares aus der Berufsberatung mit nach Hause nehmen konnte.
Wir geben über 10 Milliarden DM aus — über 10 Milliarden DM!Wir sollten einmal den Begriff der Berufsfindung einführen. Eltern, Lehrer, das Handwerk und der Handel sollten in gemeinsamer Arbeit dem jungen Menschen klarmachen, wo seine Neigungen, wo seine Chancen, wo seine Möglichkeiten liegen.
Sie brauchen nur einmal zu lesen, was der Rechnungshof über die Berufsberatung schreibt. Sie können mir glauben oder nicht; ich will Sie gar nicht überzeugen. Ich schicke Ihnen aber gerne einmal den Rechnungshofbericht, wenn Sie mir das nicht glauben. Dann sehen Sie, daß 10 Milliarden DM für ein Monopol ausgegeben werden, das im Grunde genommen dringend einen Wettbewerb braucht. Dann können wir weiterdiskutieren.
Ich hätte noch eine Bitte; Herr Minister, ich weiß, daß ich da bei Ihnen offene Türen einrenne: Wir glauben alle auch aus der heutigen Debatte geht hervor, als sei das so —, daß man, wenn man eine Ausbildung abgeschlossen hat, fertig ist und nichts mehr zu lernen braucht. Aber bei der schnellen Entwicklung in dieser Welt verändern, verbessern sich Produkte im Durchschnitt innerhalb von drei bis fünf Jahren. Das heißt, daß sich auch der Mensch, der 30, 40 oder 50 Jahre alt ist, diesen Entwicklungen anpassen muß und sich auf ein lebenslanges Lernen einstellen muß. Das müssen wir hier in der Politik, das müssen wir in der Wirtschaft, und das müssen wir mit Sicherheit in ganz besonderer Weise in der Berufsschule.Ich sage Ihnen das als einer, der die berufliche Bildung seiner 60 Lehrlinge ernst nimmt. — Gestatten Sie mir den Ausdruck „Lehrlinge"; man darf ihn ja eigentlich nicht mehr sagen; aber der Ausdruck „Azubi" fällt mir so schwer; das erinnert mich eher an ein japanisches Motorrad als an einen deutschen Auszubildenden.
Ich sage Ihnen noch einmal: Es ist ganz wichtig, daß wir uns an das lebenslange Lernen gewöhnen; denn dieser Prozeß ist nicht mehr aufzuhalten, man kann ihm nicht ausweichen. Wer sich dem Wettbewerb nicht stellt, der wird ihn verlieren.
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Josef GrünbeckFür die konjunkturelle Weiterentwicklung in der Bundesrepublik, in den alten und in den neuen Bundesländern, ist für uns die entscheidende Frage: Erzielen wir den qualitativen Vorsprung, den wir brauchen, um als eines der größten Exportländer den weltweiten Wettbewerb zu bestehen? Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.Herr Minister, ich glaube, Sie verdienen mit Ihren Ansätzen unser ganzes Vertrauen. Wir werden Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es würde mich reizen, Ihre sprachlichen Versuche im Zusammenhang mit den Bänken noch zu ergänzen: von der Schulbank zur Regierungsbank. Das haben Sie vergesssen; über die Reihenfolge könnten wir dann noch streiten.
— Wenn wir regieren, machen wir das natürlich genauso; das ist völlig klar.
Wer sich politisch mit beruflicher und akademischer Bildung beschäftigt, muß natürlich wissen, daß es zwischen den Anforderungen des Beschäftigungssystems und des Ausbildungssystems zwingende Zusammenhänge gibt. Aber diese zwingenden Zusammenhänge sind natürlich nicht so beschaffen, daß die Zahl der Studentinnen und Studenten mit der Zahl der Auszubildenden in irgendeinem starren Verhältnis stehen muß. Wie Sie wissen, steht dem auch die Verfassung entgegen.
Horrormeldungen, die die Bundesregierung verbreitet, die Zahl der Studierenden sei in Deutschland erheblich zu hoch, sollen natürlich auch davon ablenken, daß sie damit für die Attraktivität der beruflichen Bildung in der Vergangenheit wenig getan hat. Selbst in den eigenen Werbeprospekten wird ein hoher Forschungs- und Handlungsbedarf in diesem Bereich angemahnt. Wir fragen: Warum hat die Regierung außer dieser Aktuellen Stunde in der Vergangenheit nicht schon längst Aktivitäten in dieser Richtung an den Tag gelegt?
Neue Technologien, übrigens auch geänderte Hierarchiekonzepte in den Betrieben, veränderte Formen der Arbeitsteilung haben schon seit den frühen 80er Jahren nach quantitativen Veränderungen der Ausbildungssysteme gerufen. Solange es die CDU aber zuläßt, daß diese Veränderungen auf dem Kenntnisstand — mir tut das leid — des Kollegen Michael Glos in der „Neuen Osnabrücker Zeitung" behandelt werden, der „Made in Germany" in Gefahr sieht und sich ein „ Volk von Direktoren" vorstellt, das nicht mehr arbeiten will, ist das natürlich bedenklich. Michael Glos glaubt übrigens auch, an der Zahl der Abiturienten die Klugheit einer Generation beweisen zu können. Die Höhe der Ausbildungsvergütung ist für ihn ein Kriterium der Attraktivität. Ich frage: Warum eigentlich haben wir dann so wenige Auszubildende im Bauhauptgewerbe und so viele im Friseurgewerbe, wenn das und anderes stimmen sollte?
Hier wird Unkenntnis, Vorurteil, auch Ignoranz und, was ich für besonders schlimm halte, biologische Begabungs-Ideologie benutzt, um davon abzulenken, daß es in der jetzigen Regierung an einer systematischen und konzeptionellen Vorstellung der Begabtenförderung fehlt.
Ich denke, solche Konzepte müßten, wie es im Berufsbildungsbericht merkwürdigerweise auch steht, „im Kern auf eine Verbreiterung und Vertiefung der Inhalte " und auf erweiterte Zusatzqualifikationen abzielen. Zwei Sätze vorher aber heißt es: „Die Strategie einer differenzierten Berufsausbildung ist der geeignete Versuch, die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen" zu verbessern. Welch ein Widerspruch, wenn gleichzeitig mit Recht behauptet wird, die Facharbeiterqualifikationen hätten sich quantitativ und qualitativ höherwertig verändert.
Wenn Sie von der Regierung versuchen sollten, mindere Facharbeiterqualifikationen als Berufsausbildung zu organisieren, legen Sie die politische Axt an den Kern unseres Ausbildungs- und Beschäftigungssystems. Das Ansehen der Berufsausbildung wird sinken, anstatt zu steigen. Sozialdemokraten werden dem Widerstand entgegensetzen. Ich möchte Sie auch ganz herzlich bitten, in diesem Bereich ideologische Verdächtigungen zu unterlassen.
Verstärkt zu kümmern haben wir alle uns um Ungelernte, Lernunwillige und Lernbeeinträchtigte. Das AFG muß endlich in Muß-Regelungen umgeändert werden. Wir müssen lernunterstützende und sozialintegrative Benachteiligtenprogramme für Abbrecher und Resignierte entwickeln. Ich denke, dazu steht Vernünftiges im Berufsbildungsbericht.
Nur, Taten müssen dem folgen. Nicht Differenzierung nach allen Seiten und in allen Stufen ist bildungspolitisch gefragt, sondern die Aktivierung aller verfügbaren menschlichen Fähigkeiten und Kenntnisse. Volkswirtschaftlich sinnvoll ist dies übrigens auch.
Das, denke ich, nennt man Chancengleichheit und Förderung unterschiedlicher Begabungen und Eignungen. Eine Differenzierung in Ihrem Sinne erfordert das nicht. Das Draufhauen auf Studentenzahlen hilft da übrigens erst recht nicht.
Danke schön.
Herr Kollege Hansjürgen Doss, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Das Aufzeigen eines Mißstandes ist mit Sicherheit kein Draufhauen. Es muß doch noch möglich sein, daß wir Zahlen zur Kenntnis nehmen. Michael Glos, ein Ausbilder, ein Müllermeister, der aus dein Handwerk kommt, hat halt sehr viel Praxisnähe. Vielleicht ist das Ihr Problem als Politologe, der Sie ja, wenn man so will, Politik second hand weiter-
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Hansjörgen Dossgeben und damit vielleicht doch nicht so den Bezug zu der Realität haben, aus der wir kommen. Auch ich bilde seit 27 Jahren aus,
und ich entschuldige mich dafür, daß ich doch über einige Sachkenntnisse aus der Praxis verfüge.Lehrlings- und Facharbeitermangel wird zur Wachstumsbremse für unsere Volkswirtschaft. Das stellen wir gemeinsam fest. Das ist eine schlimme Entwicklung. Das Handwerk allein im Westen sucht 400 000 Fachkräfte es ist ja wieder ein Draufschlagen, wenn man Zahlen nennt — und über 200 000 Lehrlinge. Auch das müssen wir zur Kenntnis nehmen. 130 000 Handwerksbetriebe in den neuen Bundesländern suchen zur Zeit 30 000 bis 40 000 Fachkräfte. Die Zahl der Lehrlinge geht ständig zurück, von 700 000 Mitte der 80er Jahre auf heute 450 000. Das Mißverhältnis von 1,7 Millionen Studenten zu nur 1,5 Millionen Lehrlingen ist nach meinem Dafürhalten schon alarmierend und sollte uns alle aufschrekken. Die Zahl der Akademiker auf dem Arbeitsmarkt hat sich zwischen 1980 und 1989 um 750 000 auf rund 3 Millionen ausgeweitet. Der Anteil der Akademiker an der Zahl der Erwerbstätigen ist von 8,5 % 1980 auf 11 % 1989 angewachsen. Das sind die Fakten, mit denen wir es zu tun haben.Trotz der Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft braucht die Wirtschaft auch in Zukunft vorwiegend Arbeitnehmer im gewerblich-technischen und im sogenannten primären Dienstleistungsbereich. Ihr Anteil wird mindestens noch für die nächsten 20 Jahre ungefähr 60 % aller Beschäftigten ausmachen.Unsere ganze Arbeitskultur, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht auf dem Spiel, wenn wir hier nicht tätig werden. Wir wollen solide Ausbildung und gesicherte Arbeitsverhältnisse, keine Ex-und-HoppGesellschaft. Wir haben ein Überangebot an Theoretikern, einen Mangel an Praktikern, die mit Kopf und mit Händen arbeiten können.Neben der demographischen Entwicklung, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind die falschen politischen Ziele der Sozialdemokraten für diese Entwicklung verantwortlich. Ihre verheerende Bildungspolitik der 60er und 70er Jahre mit ihren utopischen Bildungsidealen führten zur Verklärung des akademisch gebildeten Menschen und zur damit verbundenen Abwertung der Hauptschule und der handwerklichen Tätigkeit.
— Sie können das doch gar nicht bestreiten. Sie werden sich erinnern; so weit muß doch Ihr Gedächtnis langen.In der Ära Brandt wurde der Arbeiter erst durch das Abitur zum Menschen. Falsche Prognosen der Herren Dahrendorf und Co taten ihr Übriges.
Abitur und Studium wurden zu einem erstrebenswerten und für alle erreichbaren Bildungsziel gemacht, unabhängig von dem akademischen Bedarf in Wirtschaft und Verwaltung.Die Folgen dieser falschen Weichenstellung sind jetzt offensichtlich. Aber die Sozialdemokraten sind unverbesserlich und haben nichts hinzugelernt. Das haben wir auch heute wieder gehört.
— Auch Zwischenrufe müssen einem gewissen Anspruch genügen.Beispiel Engholm, der im Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein von Ottfried Hennig auf das Übergewicht der akademischen im Vergleich zur beruflichen Bildung angesprochen wurde. Die Antwort Engholms: Das ist eine typisch konservative Ideologie:
Bildung nur für eine Elite, während der Arbeiter im Blaumann nur mit Anerkennung abgespeist werden solle. — Auch Engholm, meine Damen und Herren, hat nichts hinzugelernt.
Es ist leider so feststellbar.Was wir meines Erachtens brauchen, ist ein Umdenken in der Gesamtgesellschaft. Handwerkliche Ausbildung muß einem akademischen Bildungsziel gleichgestellt werden.
Selbst mein Sohn folgt solchen Verlockungen, weil auch seine Freunde meinen, studieren zu müssen.
— Ich entschuldige mich vor Ihnen mit Sicherheit nicht.Ich habe ihn dringend gebeten, einen handwerklichen Beruf auszuüben, und wollte ihm dabei helfen. Aber es sind eben diese Bazillen, meine Damen und Herren, die Sie mit einer völlig falschen Weichenstellung in die Köpfe der jungen Menschen gesetzt haben. Der Handwerksmeister, meine Damen und Herren, ist für die Gesellschaft mindestens so wertvoll wie der Philosophiedozent, der nach 40 Jahren die Endlichkeit des Seins in ihrem ganzen Ausmaß definieren kann.
Das Problem eines tropfenden Wasserhahns löst man nicht, indem man akademische Betrachtungen anstellt, sondern erst dadurch, daß der Handwerker ihn abstellt. Deswegen: Mehr Praxis tut not, auch im Bereich der Bildungspolitik.
Herr Kollege Doss, um aus den Bazillen nichts Gefährliches werden zu lassen: Die Bundesrepublik Deutschland hat feierlich auf die Produktion von A-, B- und C-Waffen verzichtet.
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Klaus Beckmann, das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6945
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Berufliche Bildung hat über die bildungspolitische Zielsetzung hinaus wichtige wirtschaftspolitische Bedeutung. Die Qualifikation der Beschäftigten und ihre daraus folgende Leistungs- und Innovationsfähigkeit ist ein unbestreitbarer Standortvorteil. Herr Kollege Grünbeck hat darauf eben richtigerweise hingewiesen.
Die Bundesregierung teilt die Auffassungen der fünf Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft — des BDI, BDA, DIHT, HDE und ZDH —, dargestellt in dem bildungspolitischen Positionspapier vom Januar dieses Jahres. Diesen Standortvorteil gilt es zu erhalten und auszubauen.
Ich denke, daß der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Jahresgutachten zu Recht schreibt — ich zitiere —: „Die Qualitätspflege des Standorts Bundesrepublik bleibt Dauerauftrag an die Akteure der Wirtschaftspolitik. "
Seit jeher steht der deutsche Facharbeiter für den Qualitätsbegriff „Made in Germany". Dieser Begriff darf nicht in Frage gestellt werden.
Die aktuellen Daten zeigen — noch ohne die neuen Bundesländer —, daß es im Bereich der dualen Berufsausbildung bei einer Gesamtzahl von rund 710 000 Lehrstellen rund 130 000 unbesetzte Ausbildungsplätze gibt, vor allen Dingen in den Metallberufen und bei den Waren- und Dienstleistungskaufleuten. Dem steht auf der anderen Seite — wie mehrfach beklagt — die Überfüllung unserer Hochschulen gegenüber.
Diese Lage ist nicht plötzlich entstanden. Insofern pflichte ich Ihnen bei, Herr Kollege Doss. Sie ist vor allen Dingen eine Folge des erheblichen Vorsprungs an Sozialprestige der akademischen Berufe, aber auch anderer Faktoren, z. B. der hohen staatlichen Förderung im Hochschulbereich.
Eine entsprechende Entwicklung ist auch bei den allgemeinbildenden Schulen zu verzeichnen: Von 1970 bis 1990 stieg die Zahl der Schulabgänger mit Hochschulreife von 91 500 auf 275 000. Die Zahl von Abgängern mit Hauptschulabschluß fiel von 350 000 auf 200 000.
Allerdings zeigt sich inzwischen auch bei vielen Ausbildungsberufen, daß der Anteil der Lehrstellen-bewerber mit Abitur zunimmt. Das hängt auch zum Teil mit dem gestiegenen Anspruchsniveau bei vielen Ausbildungen zusammen.
Aus meiner Sicht stellt sich in dieser Situation die Frage, ob künftig genügend Fachkräftenachwuchs auch in den Ausbildungsberufen zur Verfügung steht; denn hier geht es um die Zukunftssicherung der Wirtschaft. Deshalb, meine ich, liegt es auch primär in der Verantwortung der Wirtschaft, die duale Ausbildung attraktiv genug zu gestalten. Daß die Wirtschaft Herausforderungen dieser Art bewältigen kann, hat sie ja zu Beginn der achtziger Jahre in der umgekehrten Situation bewiesen, als es gelang, die stark angewachsene Zahl der Lehrstellenbewerber durch zusätzliche Ausbildungsaktivitäten aufzufangen. Ich erinnere dabei vor allem an die Anstrengungen des Handwerks, das einen großen Beitrag zur Lösung der damaligen Probleme geleistet hat.
Ich bin auch zuversichtlich, daß sich die damals gezeigte Initiative und auch die Flexibilität jetzt erneut bewähren werden, wenn es darum geht, mehr junge Leute als Auszubildende zu gewinnen und ihnen das duale System schmackhaft zu machen.
Meine Damen und Herren, ich will aber auf eins noch hinweisen: Dabei spielen sicherlich auch die Ausbildungsbedingungen eine große Rolle.
Die Tarifpartner sollten ihr Augenmerk verstärkt darauf richten. Es darf nicht dahin kommen, daß die Ausbildung im dualen System als eine Sackgasse empfunden wird.
Daher ist es auch wichtig, Karrierechancen und Arbeitsentgelte marktgerecht auszugestalten.
Ich will auch eins hervorheben: Die Besserbewertung des Meisterbriefs gegenüber dem Hochschuldiplom ist eine Forderung dieser Stunde. Hierüber müssen wir mit allen Beteiligten intensiv nachdenken. Dazu gehört auch eine Reform des öffentlichen Dienstrechtes und des Besoldungsrechtes.
Wenn die Ausbildung den sich wandelnden Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten gerecht werden soll, dann müssen die Ausbildungsinhalte sowohl für die Betriebe als auch für die Berufsschulen mit den Veränderungen Schritt halten. Die Überarbeitung von Ausbildungsordnungen erweist sich aber leider immer wieder als schwierig und zeitraubend, weil der Abstimmungsprozeß zunächst zwischen den Sozialpartnern, deren Mitwirkung am Neuordnungsprozeß ja von größter Bedeutung ist, und dem Verordnungsgeber oft sehr aufwendig ist. Wenn es gelänge, die dort liegenden Hemmnisse wenigstens teilweise abzubauen, könnte die Ausbildung den wirtschaftlichen und technischen Erfordernissen insgesamt rascher folgen. Die Ausbildung im dualen System würde damit attraktiver, die Leistungskraft der Wirtschaft würde gestärkt werden, und uns allen wäre geholfen.
Vielen Dank.
Herr Kollege Gerd Andres, Sie haben das Wort.
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6946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen es Bäckermeistern vorbehalten war, nur Auszubildende zu nehmen, die Abitur hatten. In Zeiten, in denen Ausbildungsplätze nicht mehr besetzt werden können, ändern sich auch die Voraussetzungen dafür.Herr Doss, ich frage mich, was Ihr Jammern hier soll. Sie haben doch die politische Mehrheit, die Macht, zu handeln und hier etwas zu tun. Tun Sie es doch endlich, machen Sie es doch! Setzen Sie doch Konzeptionen um, und sorgen Sie dafür, daß die berufliche Bildung attraktiver wird! Nur, so einfach, wie Sie das hier geschildert haben, wird das leider nicht funktionieren. Das hängt sehr stark mit dem zusammen, was der Kollege Beckmann hier zu Recht gesagt hat. In bestimmten Bereichen bekommt man deswegen keine Auszubildenden und keine Fachkräfte mehr, weil die jeweiligen Arbeitsbedingungen, Bezahlungen und künftigen Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten inakzeptabel sind. Die Betroffenen werden — wie bei Ihrem Sohn — mit den Füßen entscheiden, unabhängig davon, was Sie ideologisch erzählen.
Die Bundesregierung hat in ihrem heutigen Beschluß darauf hingewiesen, daß zur Ausschöpfung von Begabungsreserven bei Jugendlichen, die bisher ohne Berufsausbildung geblieben sind, Anstrengungen unternommen werden müssen. Nun will ich Sie, damit das nicht völlig untergeht, auf eine Gruppe hinweisen, die mir besonders am Herzen liegt, nämlich die ausländischen Jugendlichen, Jungen wie Mädchen.
Ihr Anteil an der vergleichbaren Bevölkerungsgruppe liegt zwischenzeitlich bei 12 %. Jeder achte Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland hat einen ausländischen Paß, aber nur 5,4 % unserer Auszubildenden sind ausländische Jugendliche. Da wäre die Frage zu stellen: Was tun wir eigentlich, um in diesem Bereich mit attraktiven Programmen, mit Fördermaßnahmen mit dazu beizutragen, daß diese Position, die die Bundesregierung völlig zu Recht beschrieben hat, nämlich Begabungsreserven abzuschöpfen und mitzuhelfen, daß Zugänge zum beruflichen Bildungssystem geschaffen werden, auch verwirklicht wird?Mein Eindruck ist, daß die Bundesregierung nur eine Begabtenförderung eingeführt hat. Da interessiert es mich brennend, einmal zu erfahren, wie viele dieser begabten und geförderten Auszubildenden später ein Studium aufgenommen haben.
Und auch der Praktiker Grünbeck wird mir zustimmen, wenn ich feststelle: Viele Betriebe, mit denen ich zu tun habe, sagen mir, daß sie große Probleme damit haben, zunächst Jugendliche hoch zu qualifizieren, diese dann aber versuchen, ein Ingenieurstudium oder ein Studium in sonstigen Fachbereichen zu beginnen. Das Problem sozusagen schlicht zu sehenund die Auszubildenden auf der einen und die Studenten auf der anderen Seite gegeneinander auszuspielen zeugt meiner Auffassung nach von einer völlig falschen Sicht der Dinge.Ich will Sie auf ein paar Daten im Zusammenhang mit jugendlichen Ausländern hinweisen: Etwa 80 % dieser Jugendlichen kommen aus den ehemaligen Anwerbestaaten Griechenland, Italien, Jugoslawien, Portugal, Spanien und der Türkei. Ich denke, es wäre eine große Anstrengung wert, hier den Versuch zu unternehmen, bei diesen jugendlichen Ausländern ähnliche Ausbildungsquoten hinzubekommen wie bei den deutschen Jugendlichen. Darin könnte ein Stück weit eine Perspektive liegen. Aber dafür reichen die bisherigen Sonderprogramme und Benachteiligtenprogramme, die wir gemacht haben, meiner Einschätzung nach nicht aus.Eine ganz wichtige Erfahrung, die ich in diesem Zusammenhang gesammelt habe, ist, daß man sowohl bei den Eltern für Berufsausbildung — das ist ein ganz großes Problem — als auch im Bereich der Wirtschaft dafür werben muß, daß ausländische Jugendliche als Auszubildende genommen werden.
— Ich weiß, im Handwerk z. B. gibt es eine höhere Quote von auszubildenden Ausländern. Aber wenn man einmal genauer hinschaut, wird man feststellen, daß ein ganz großer Teil im Bereich Friseuse — was ich nicht abqualifizieren will —
und ein anderer Teil im Bereich Kfz-Handwerk landet.
— Herr Grünbeck, ich weiß, worüber ich rede. Ich denke, daß ich mich da auskenne, weil ich damit viele Jahre, wie Sie sicherlich wissen, beruflich zu tun hatte.Meine Forderung ist, hier dafür zu sorgen, daß Durchlässigkeit und bessere Chancengleichheit auch für benachteiligte Gruppen hergestellt werden. Das ist eine Grundvoraussetzung. Sie haben beispielsweise die ganzen Benachteiligtenprogramme in das Arbeitsförderungsgesetz abgeschoben. Sie haben damit dafür gesorgt, daß die Beitragszahler dies bezahlen dürfen und es aus der Finanzierung des Bundes herausgenommen wird. Daran kann man ein Stück weit Ihre Bewertung erkennen.Es gibt sehr schöne Modellversuche und -programme. Beispielsweise gibt es in Köln eine Beratungsstelle der Industrie- und Handelskammer sowie der Handwerkskammer für die Qualifizierung und die Ausbildung jugendlicher Ausländer. Sie hat hervorragende Erfolge. Herr Ortleb hat darüber eine Broschüre herstellen lassen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6947
Herr Kollege Andres, Sie schauen nach rechts und sehen nicht, daß links seit langem das rote Licht leuchtet.
Sorgen Sie dafür, daß solche Modellprojekte flächendeckend in der Bundesrepublik möglich sind. Dann wird auch die Chance von jungen Ausländern, ins Berufsbildungssystem zu kommen, steigen. Damit werden auch Schwierigkeiten behoben.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hubert Hüppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Schwerte, einer Stadt in meinem Heimatkreis Unna, kämpfen zur Zeit 650 Schüler für den Erhalt ihrer Berufsschule. Eine Stadt mit über 50 000 Einwohnern droht von der beruflichen Bildung abgekoppelt zu werden. Durch die Schließung dieser Schule wird aber auch die berufliche Bildung selbst wieder ein Stück unattraktiver werden. Viele Eltern werden sich in Zukunft überlegen, ob sie ihren Kindern noch einen mehrstündigen Anfahrtsweg zur nächsten Berufsschule zumuten können.
— Die SPI).
Sie werden statt dessen ihren Kindern nahelegen, einen anderen Abschluß zu erreichen, obwohl dieser für sie unter Umständen eigentlich weniger geeignet ist.
Bemerkenswert ist, daß noch vor einem Jahr in Schwerte eine Gesamtschule errichtet wurde. Der gemeinsame Kampf der Schüler und Eltern gegen die Schließung der Berufsschule wird auf Grund des schon jetzt zu verzeichnenden Rückgangs der Schülerzahlen wahrscheinlich erfolglos bleiben.
Meine Damen und Herren, dieses konkrete Beispiel zeigt, daß die berufliche Bildung nicht isoliert betrachtet werden kann. An dem genannten Fall ist eine gesamtbildungspolitische Fehlentwicklung zu erkennen. Wir müssen uns die Frage stellen, ob zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem noch eine ausreichende Verknüpfung besteht oder ob nicht beide Bereiche immer weiter auseinanderdriften. Die deutsche Wirtschaft vom BDI — bis zum Handwerk — sagt: ja.
Aber auch der DGB sieht inzwischen die Gefahr des drohenden Facharbeitermangels. Jeder normal denkende Mensch kann aber auch ohne große volkswirtschaftliche Spezialkenntnisse erkennen, daß es nicht richtig sein kann, wenn es mehr Architekturstudenten als Azubis für das Bauhandwerk gibt.
Natürlich hat Bildung immer auch einen Eigenwert. Das Ziel der Persönlichkeitsentfaltung muß aber mit den Erfordernissen des Arbeitsmarktes ausbalanciert werden. Es hilft niemandem, wenn wir viele Studenten nach über 20 Jahren Ausbildung auf den Arbeitsmarkt entlassen, wo sie dann vielleicht zunächst arbeitslos sind oder einen Beruf annehmen müssen, den sie auf andere Weise viel schneller und auch qualifizierter erreicht hätten.
Meine Damen und Herren, eine Stärkung der beruflichen Bildung ist nur im Kontext mit Veränderungen im Schul- und Hochschulsystem möglich, denn letztendlich entscheidet die Konkurrenz zu anderen Bildungseinrichtungen darüber, ob der Weg zur beruflichen Bildung eingeschlagen wird oder nicht.
Was ist also zu tun? Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung war die Einführung der Begabtenförderung; Frau Eichhorn ist darauf schon eingegangen. Dieses Programm muß auch in Zukunft weiter ausgebaut werden. Es sollte nicht nur 0,5 % aller Auszubildenden oder Berufstätigen erfassen. Es muß genauso wie bei den Studierenden auf mindestens 1 % erhöht werden. Auch das ist ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit.
Darüber hinaus müssen wir den Zugang zu den Fachhochschulen auch für diejenigen öffnen, die sich zunächst für die berufliche Bildung entscheiden. Eltern und Kinder müssen wissen, daß die Berufsschule nicht das Ende der beruflichen Laufbahn bedeutet, sondern daß auch hier Alternativen offenbleiben.
Wir müssen deswegen den Weg zu den Fachhochschulen öffnen. Dies geht natürlich nur durch Eignungstests. Der bisher mögliche Weg über die Nachholung des Abiturs, der weiterhin bestehenbleiben soll, ist für sich allein zu schwierig und verlängert im übrigen wiederum die Ausbildungszeit. Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und Hochschulstudium bedeutet aber auch, daß wir den Hochschulen das Recht geben, bei Mangelfächern ebenfalls Zugangstests zu machen.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht richtig sein, daß viele an Fachhochschulen nicht ankommen, weil dort Mangelfächer mit Numerus clausus belegt sind, und dann an die Hochschule gehen, wo es diesen Numerus clausus nicht gibt.
Unsere Bemühungen können letztendlich nur dann Erfolg haben, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Dazu gehört die Wirtschaft, die private Wirtschaft, dazu gehört aber auch der öffentliche Dienst. Wir müssen uns vor Augen führen, daß diejenigen, die jetzt in der Ausbildung sind, bereits im Jahre 2005 ins Berufsleben eintreten. Wer also heute nicht die notwendigen Konsequenzen zieht, wer die Weichen nicht richtig stellen will, der muß sich auch vor denen verantworten, deren Zukunft dann, in 10 oder in 13 Jahren, verspielt ist.
Vielen Dank.
Herr Kollege Wolfgang Meckelburg, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in einer Aktuellen Stunde noch schwungvoll aufzutreten ist
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6948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992
Wolfgang Meckelburgmanchmal schwierig. Ich aber will den Versuch wagen.
— Natürlich, schönen Dank für die Ermutigung.Ich will mich nicht verführen lassen, auf die Situation in den neuen Bundesländern einzugehen; denn darüber haben wir mehrfach gesprochen.Ich möchte vielleicht nur eines erwähnen, was Herr Hilsberg gesagt hat, der leider schon gegangen ist: Wenn wir AFG-Maßnahmen in den neuen Bundesländern, wie er gesagt hat, als Krücke gebraucht haben, finde ich diese Regelung besser, als die gesamte Krücke des alten Bildungssystems zu übernehmen, wo alles staatlich geregelt war, wo verteilt wurde. Wir wollen ja gerade das duale System einführen.
Aber zum Thema selber: Ich will all die Fakten gar nicht mehr darstellen. Frau Odendahl, es reizt, die Zahlen, die Sie genannt haben, noch einmal zu wiederholen. Es gibt in der Tat einen Facharbeitermangel. 130 000 Lehrstellen sind nicht besetzt, 400 000 Facharbeiter fehlen. Auch in den neuen Bundesländern fehlen bereits 30 000 bis 40 000 Facharbeiter. Auch da ist der Trend erkennbar. Deswegen ist dies ein Thema, mit dem man sich dringend beschäftigen muß. Das Thema heißt in der Tat: Stärkung der beruflichen Bildung. Es ist ernsthaft zu diskutieren: Wie kriegen wir es hin, eine Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Ausbildung in die Tat umzusetzen?
Wir müssen von den einseitigen Pfaden wegkommen. Sie haben am Ende Ihrer Rede wieder etwas zum Studium gesagt. Wir müssen Anreize schaffen, damit nicht jeder im Hinterkopf hat: Ich bin nur dann ein vollwertiger Mensch, wenn ich am Ende mit einem Studium dastehe. Das darf nicht das Ziel sein.
Wir müssen die Vorstellung der Eltern aus den Köpfen herausbekommen, daß ihre Kinder in die Gymnasien müssen; dies sind rund 50 %. Dies kann am Ende nicht ganz vernünftig sein. Wir müssen eine vernünftige berufliche Ausbildung, die am Ende viel mehr Möglichkeiten als bisher öffnet, in die Hochschulen zu kommen, in die Köpfe hineinbekommen, damit es uns gelingt, für diesen attraktiven Bereich Bewerber zu bekommen. Wenn wir das gemeinsam schaffen, sind wir ein Stück weiter.
Statt ausgetrampelter Pfade müssen neue Wege beschritten werden. Wir müssen über den Meisterbrief als Zugangsberechtigung für Fachhochschulen nachdenken. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie Absolventen beruflicher Bildung Zugangsmöglichkeiten zum Hochschulsystem bekommen.Betriebliche Berufsausbildung und Studium sind zwei Gleise, die an vielen Stellen zueinander führen können. Wir müssen auch berufliche Eingruppierungen und Laufbahnregelungen flexibler gestalten. Das heißt, daß im öffentlichen Dienst durchaus darüber nachgedacht werden muß — Herr Hansen hat dies angesprochen —, wenn Dinge blockiert werden. Norbert Blüm hat auf unserem Landesparteitag gesagt, da könne man viel mehr marktwirtschaftlich regeln als bisher. Auch die Privatwirtschaft ist natürlich gefordert, in vielen Bereichen attraktive Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen.
Ich habe eben in einem Zwischenruf schon gesagt: In manchen Fällen können wir es gar nicht machen, weil z. B. das Land Nordrhein-Westfalen — ich komme aus diesem Land — viel zu stark beteiligt ist. Dieses Land blockiert gerade in diesem Bereich viel zuviel.
Ein Beispiel, die Berufsakademien in Baden-Württemberg: Trendsetter scheitern einfach daran, daß gerade in diesem Bereich nicht genügend darüber nachgedacht wird, ob es nicht bundesweit weitergebracht werden könnte.
Der notwendige Aufbau einer Begabtenförderung, den wir jetzt angepackt haben, wird hier ständig in Zweifel gezogen. Herr Hilsberg hat ja die Frage gestellt: Warum Begabtenförderung? Simple Antwort: Weil Begabte da sind, müssen wir diese auch im beruflichen Bereich fördern; völlig klare Sache.
Da gibt es kein Nacheinander, sondern da gibt es ein paralleles Abarbeiten. Begabtenförderung ist genauso da wie die Breitenförderung und genauso wie der Bereich der Benachteiligtenförderung. Alles muß gemeinsam und parallel geschehen, nicht eines nach dem anderen; denn die Leute sind jetzt da und wollen jetzt eine Förderung haben.Insgesamt muß also gesagt werden: Wir müssen unser Bildungssystem mehr differenzieren. Wir müssen mehr Durchlässigkeit, mehr Durchstiegsmöglichkeiten schaffen; denn damit wird die berufliche Bildung attraktiver und erhält neuen Glanz. Handwerk ist ja auch an vielen Stellen goldende Kunst.Eine letzte Anmerkung: Ich komme aus einem Wahlkreis, der im Ruhrgebiet liegt. In Gelsenkirchen — wir sind ja in einer Kohleregion — ist die Frage der Arbeitsplätze schon ein Thema. Dort wird dieses Thema zur Zeit von Sozialdemokraten so ein bißchen nach Schickimicki-Manier behandelt: High-Tech,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 84. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. März 1992 6949
Wolfgang MeckelburgVision, Utopie usw. sind so die Schlagwörter, die sich auftun. Ich sage mal einfach: Wir brauchen auch da ein bißchen mehr Blaukittel, Blaumann statt weißen Kittel. Ich glaube, dann hätten wir den jungen Leuten auch eine Zukunft geboten. Unsere Devise heißt also: Stärkung beruflicher Bildung. Daran müssen wir wirklich arbeiten.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit auch am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 19. März 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.