Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Am 15. Februar ist unser Kollege Prof. Dr. Gerhard Riege aus dem Leben geschieden. Gerhard Riege wurde am 23. Mai 1930 in Gräfenrode geboren. Nach dem Abitur in Jena studierte er dort Rechtswissenschaften, legte 1953 das Staatsexamen ab und promovierte 1957 zum Dr. jur. Seit seiner Habilitation lehrte er an der Universität Jena Staatsrecht.Seit 1946 war Gerhard Riege Mitglied der SED. 1990 wurde er über die Landesliste Thüringen der PDS/ Linke Liste Mitglied des Deutschen Bundestages.Die tragischen Umstände des Todes von Gerhard Riege haben uns in erschreckender Weise die Konflikte vor Augen geführt, denen Menschen auch heute noch durch die Auseinandersetzung mit dem totalitären System der früheren DDR ausgesetzt sind. Gerhard Riege ist an ihnen zerbrochen.Wir müssen den schwierigen Weg der Aufklärung des Stasi-Unrechts weitergehen um der Wahrheit willen und aus Verantwortung gegenüber den Opfern des SED-Regimes.Doch bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung muß die Bereitschaft zur Versöhnung erhalten bleiben.Ich habe der Familie von Gerhard Riege im Namen des Deutschen Bundestages wie auch persönlich meine Anteilnahme ausgesprochen.Sie haben sich zu Ehren des Toten erhoben; ich danke Ihnen.Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.1. Aktuelle Stunde: Fortschritte und Hindernisse bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands2, Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Importverbot für Tropenhölzer aus Primärwäldern — Drucksache 12/2109 —3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Vollständige Wiedereinführung der Genfer Flüchtlingskonvention als rechtliche Grundlage in das Asylrecht — Drucksache 12/2097 —4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beschleunigung der Asylverfahren — Drucksache 12/2100 —5. Aktuelle Stunde: Stellungnahme der Bundesregierung zur Arbeitsmarktentwicklung, insbesondere in den neuen Bundesländern6. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Unterrichtung des Parlaments über die Verwertung von Material der ehemaligen NVA — Drucksache 12/2114 —7. Aktuelle Stunde: Absage der 1993 in Berlin geplanten Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen durch den Bundesminister des AuswärtigenAußerdem ist interfraktionell vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 13 nach dem Tagesordnungspunkt 11 aufzurufen und den Tagesordnungspunkt 12 im Anschluß daran zu behandeln.Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und den Zusatzpunkt 2 auf:3. Überweisungen im vereinfachten VerfahrenBeratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDAufnahme gefährdeter Tropenholzarten in das Washingtoner Artenschutzabkommen— Drucksache 12/2095 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
A usschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Liesel Hartenstein, Hermann Bachmaier, Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
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6464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthImportverbot für Tropenhölzer aus Primärwäldern— Drucksache 12/2109 —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-. ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Sind Sie auch damit einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a bis i auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprachea) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Entscheidung des Rates über ein Konsultations- und Genehmigungsverfahren für Abkommen über die Handelsbeziehungen im Luftverkehr zwischen Mitgliedstaaten und Drittländern— Drucksachen 12/210 Nr. 166, 12/1853 —Berichterstattung: Abgeordneter Ferdi Tillmannb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Dr. Peter Struck, Hans-Ulrich Klose und der Fraktion der SPDVerlängerung und Verbesserung der in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland geltenden Kurzarbeitergeld-Regelungen— Drucksachen 12/1645, 12/1917 —Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertagc) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Massen und Abmessungen bestimmter Klassen von Kraftfahrzeugen und Kraft- fahrzeuganhängern— Drucksachen 12/1449 Nr. 2.12, 12/1966 —Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Heised) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, ' Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates mit Sondermaßnahmen für Tafeloliven— Drucksachen 12/1072 Nr. 21, 12/2057 —Berichterstattung: Abgeordneter Peter Blesere) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1696/71 über die gemeinsame Marktorganisation für Hopfen— Drucksachen 12/1339 Nr. 2.8, 12/2061 —Berichterstattung:Abgeordneter Rudolf Müller
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Achtundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung— Drucksachen 12/1638, 12/2078 —Berichterstattung:Abgeordneter Peter Kittelmanng) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der BundesregierungAufhebbare Siebenundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste — Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung — Drucksachen 12/1757, 12/2079 —Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Heinrich Kolbh) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 48 zu Petitionen — Drucksache 12/2092 —i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 49 zu Petitionen — Drucksache 12/2093 —Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zunächst zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einem Vorschlag der EG zu Luftverkehrsabkommen — Drucksache 12/1853 —. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich wiederhole die Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6465
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthWir kommen zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Verlängerung und Verbesserung der Kurzarbeitergeld-Regelungen in den neuen Ländern — Drucksache 12/1917 —. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1645 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist bei einer Enthaltung angenommen.Wir kommen zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einem Vorschlag der EG über bestimmte Maßnahmen bei Kraftfahrzeugen — Drucksache 12/1966 —. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zur Beratung von zwei Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu Vorschlägen der EG zu Tafeloliven und Hopfen — Drucksachen 12/2057 und 12/2061 —. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltung der PDS/ Linke Liste angenommen.Wir kommen zur Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu Verordnungen zu Änderungen der Ausfuhrliste — Drucksachen 12/2078 und 12/2079 —. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei einer Enthaltung angenommen.Wir kommen zur Beratung der Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses — Drucksachen 12/2092 und 12/2093 —. Es handelt sich um die Sammelübersichten 48 und 49. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Die Gegenprobe. — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis c und die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:5. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens— Drucksache 12/2062 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußHaushaltsausschuß mitberatend und gemäß I 96 GOb) Erste Beratung des von den Abgeordneten Konrad Weiß und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Rechte von Niederlassungsberechtigten, Einwanderinnen und Einwanderern— Drucksache 12/1714 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß
RechtsausschußAusschuß für Bildung und Wissenschaft c) Erste Beratung des von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsstellung von Flüchtlingen
— Drucksache 12/2089 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußHaushaltsausschußZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke ListeVollständige Wiedereinführung der Genfer Flüchtlingskonvention als rechtliche Grundlage in das Asylrecht— Drucksache 12/2097 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Beschleunigung der Asylverfahren— Drucksache 12/2100 —Überweisungsvorschlag:Innenausschuß RechtsausschußHaushaltsausschußNach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über 70 % der in unser Land einreisenden Asylbewerber sind Zuwanderer, die aus wirtschaftlicher Not oder weil sie hier bessere Erwerbschancen sehen, Auf enthalt in der Bundesrepublik Deutschland nehmen wollen. Kern und Ursache der Zuwanderungsbewegung, von der in Westeuropa unser Land zu rund 60 % betroffen wird, ist das Wirtschaftsgefälle zwischen den westeuropäischen Ländern auf der einen Seite und den Staaten Ost- und Südosteuropas, aber auch der Dritten Welt auf der anderen Seite.Die Menschen, die zu uns kommen wollen, gehören in ihren Herkunftsländern überwiegend nicht zui ärmsten Schicht, sondern zu der besser qualifizierten, aufstiegsorientierten, durch Selbstinitiative und Mobilität geprägten Mittelschicht. Die Auswanderung dieser Menschen in die ökonomisch attraktiveren Staaten der nördlichen Hemisphäre, der westlichen Welt wird für die betroffenen Länder der Dritten Welt, aber auch für die Länder Ost- und Südosteuropas zu einem weiteren schweren Handicap auf ihrem mühsamen Weg zu wirtschaftlichem Fortschritt.Gerade die Erfahrungen in unseren an der Schwelle zur Marktwirtschaft stehenden Nachbarstaaten in Osteuropa zeigen, daß dynamische Mittelschichten als Fundament einer leistungsfähigen Volkswirtschaft unverzichtbar sind. Wir müssen das Wirtschaftsgefälle verkleinern, statt es durch die Aufnahme von Zuwanderern zu vergrößern.
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6466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Johannes Gerster
Eine großzügige Einwanderungspolitik unter dem falschen Etikett der Gewährung politischen Asyls ist ein untaugliches, ja sogar schadenstiftendes Mittel zur Bekämpfung der drängenden Wirtschaftsprobleme in den Herkunftsländern, zu deren Beseitigung auch die Bundesrepublik Deutschland ihren Beitrag leisten muß.Gelänge es die Asylpolitik in der Bundesrepublik Deutschland in der von mir skizzierten Richtung voranzutreiben, könnten wir Milliarden Mark, die jährlich aus öffentlichen Kassen in ein oft wirkungsloses Asylverfahren fließen, sinnvoll in die Bekämpfung wirtschaftlicher Not vor Ort investieren. Damit würden wir den Herkunftsländern mehr helfen als mit einer längst überholten und kaum mehr vermittelbaren Asylpraxis.
Vor diesem Hintergrund haben die Parteispitzen am 10. Oktober 1991 bei Bundeskanzler Dr. Kohl im Bundeskanzleramt Zielvorstellungen für ein Asylverfahrensrecht vereinbart. Es soll unterhalb der Ebene einer Grundgesetzänderung erreicht werden, daß über die Anträge von Asylbewerbern, die für eine Anerkennung als Asylberechtigte offensichtlich nicht in Frage kommen, künftig in einem Zeitraum von ca. sechs Wochen rechtskräftig entschieden und der Aufenthalt beendet werden kann. Die vorgesehenen Regelungen zielen auf eine zentrale Unterkunft von Asylbewerbern, auf eine Beschleunigung der gerichtlichen Verfahren, auf eine Beschleunigung der Verwaltungsverfahren und vor allem auf eine raschere Beendigung des Aufenthalts von offensichtlich nichtberechtigten Asylantragstellern. Außerdem sind flankierende Maßnahmen in einem großen Katalog vereinbart worden. Was die Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD Ihnen heute vorlegen, soll die Vereinbarungen vom Oktober 1991 in einem neuen Asylverfahrensrecht umsetzen.All das wurde als Ergebnis dieser Gespräche im Bundeskanzleramt vereinbart.Im Interesse der betroffenen Menschen soll gewährleistet werden, daß derjenige, der tatsächlich politisch verfolgt ist, möglichst rasch anerkannt wird. Umgekehrt muß der Antrag desjenigen, der nicht verfolgt ist, ebenso rasch abgelehnt werden.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion danke ich den Innen- und Rechtspolitikern der F.D.P. und der SPD. Wir haben in der Sache manches Mal hart, im Ablauf durchaus mühsam, aber doch immer im Bestreben, zu einem gemeinsamen Entwurf zu kommen, über Tage und Wochen konstruktiv miteinander gerungen und sind zu einer gemeinsamen Vorlage gekommen. Verbunden mit dem Dank an den Innenminister Rudolf Seiters und seinen Vorgänger Dr. Wolfgang Schäuble darf ich den Kollegen der SPD, dem Kollegen Bernrath, dem Kollegen Wiefelspütz und den anderen Kollegen, die dabei waren, etwa dem Kollegen Wartenberg, danken. Ich darf aber auch den Kollegen Hirsch, Kleinert, Lüder und den anderen Beteiligten aus der F.D.P.-Fraktion sehr herzlich danken.
— Ich hoffe, daß ich den Kollegen, die ich gelobt habe, jetzt nicht geschadet habe.
Wissen Sie, es ist schon ein Genuß, zu sehen, daß bei diesem Asylverfahrensrecht die Fronten nicht zwischen den Fraktionen in diesem Haus, sondern zwischen den Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion auf der einen und dem Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Schröder, und dem Ministerpräsidenten von Hessen, Eichel, auf der anderen Seite verlaufen.
Das ist schon eine sehr schöne Sache. Die beiden Ministerpräsidenten können in punkto Sachlichkeit viel von diesen Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion lernen.
Mit dem Gesetzentwurf bewegen wir uns auf vertrautem Gelände. Denn wir haben das Asylverfahrensrecht — das darf ich bei dieser Gelegenheit sagen — durch inzwischen sieben Asylverfahrensbeschleunigungsgesetze in den 80er Jahren beschleunigt und haben es bis heute immerhin geschafft, daß 30 % aller Verfahren — das ist lange nicht ausreichend; deswegen machen wir das neue Gesetz — auf einen Zeitraum von drei Tagen bis acht Wochen verkürzt wurden, die übrigen auf neun bis zehn Monate. Wenn man bedenkt, daß der normale Verfahrensablauf noch vor drei Jahren in der Regel zwölf Monate gedauert hat, dann kommt man zu dem Schluß, daß dies durchaus ein Erfolg ist, der sich sehen lassen kann.Lassen Sie mich auch deutlich sagen, daß der Gesetzentwurf ein notwendiger, wichtiger und richtiger Schritt auf dem Weg ist, die Verfahren weiter zu beschleunigen, daß es aber eben nur ein erster Schritt ist, dem zwei weitere folgen müssen. Dieses erste Element muß ergänzt werden durch die Ratifizierung der neuen europäischen Regelungen zum Asylrecht, die Zusatzabkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und das Dubliner Abkommen und — auch das sage ich in aller Deutlichkeit — durch eine maßvolle und sinnvolle Ergänzung der Art. 16 und 24 des Grundgesetzes, wie sie in dieser Woche von meiner Fraktion vorgelegt worden ist.
Wir müssen das eine tun und dürfen das andere nicht lassen.Denn nach diesen europäischen Vereinbarungen sind wir gehalten, Asylentscheidungen aus unseren europäischen Nachbarländern bei uns anzuerkennen. Es macht wirklich keinen Sinn, daß wir international vereinbaren, wir erkennen die Verfahren — als Beispiel — aus Frankreich an, daß aber anschließend Asylbewerber, die dort abgelehnt wurden, nach
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6467
Johannes Gerster
Deutschland kommen und wegen des Art. 16 des Grundgesetzes hier ein zweites Verfahren betreiben können.
Es wäre ein Etikettenschwindel, wenn man internationale Vereinbarungen trifft, die man dann national nicht durchsetzen kann.Deswegen brauchen wir zwei Folgen.Erstens. Asylbewerber, für die ein europäischer Partnerstaat zuständig ist, können keinen Anspruch auf ein erneutes Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland bekommen.Zweitens. Asylbewerber, die in einem europäischen Nachbarstaat bereits rechtsgültig abgelehnt worden sind, müssen diese Ablehnung auch in der Bundesrepublik Deutschland gegen sich gelten lassen. Das heißt, wir müssen eine volle Übernahme der europäischen Vereinbarungen sicherstellen und können hier nicht auf halbem Weg stehenbleiben.Lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen. Es wird immer wieder behauptet, die Erörterung dieser Themen führe zur Verdrossenheit der Bürger und vor allem zu einer Haltung gegen Ausländer.Das Asylverfahrensrecht in unserem Land funktioniert nicht. Wenn von 100 Asylbewerbern nur rund sieben anerkannt werden, aber auch lediglich 3 abgeschoben werden, dann funktioniert unser nationales Recht nicht.
Dies haben die Bürger längst erkannt.Wenn eine Regierung eine derart zentrale Frage nicht löst, ist der Normalfall, daß die Wähler dann zur Opposition überlaufen und ihr bei der nächsten Wahl die Verantwortung übertragen. Da sie in dieser Frage von der SPD und den GRÜNEN überhaupt nichts erwarten können, wird die Nicht-Lösung dieser Frage dazu führen, daß die Menschen in die radikalen Lager überlaufen, wie wir das bei den Landtagswahlen in Bremen erlebt haben.
Deswegen ist es unsere Pflicht, die Pflicht der Demokraten, diese Probleme nicht nur zu erörtern, sondern gemeinsam Lösungen zu finden, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Daher fordere ich Sie auf, in einer sachlichen Debatte heute mit dazu beizutragen,
daß wir diese Probleme in einem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz regeln,
daß wir dann aber in einem zweiten Schritt sowohl die Europäische Akte wie auch eine daraus zwingend folgende Bereinigung unseres Asylverfahrensrechts in den Art. 16 und 24 des Grundgesetzes verabschieden.Ich bitte Sie in diesem Sinne um Ihre Unterstützung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Gerd Wartenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn das schwierige gesellschaftspolitische Thema „Zuwanderung und Asyl" eines nicht vertragen kann, dann ist es Grobschlächtigkeit.
Ich meine, gerade unter dem Aspekt, daß wir uns sehr mühsam auf einige Grundsätze im Verfahrensrecht einigen wollen und zum Teil schon geeinigt haben, sollten wir wenigstens heute und hier den Versuch machen, der Öffentlichkeit die sachlichen Hintergründe eines solchen Regelungswerks, aber auch die Risiken, die darin liegen, zu erklären.
Ich bedauere — auch das sage ich jetzt in Ruhe —, daß die CDU/CSU diese Diskussion mit der Paralleleinbringung eines Antrags zur Änderung des Art. 16 unnötig belastet. Selbst wenn Sie der Meinung sind, daß der Art. 16 geändert werden muß, hätte man versuchen sollen, erst den Weg unterhalb des Art. 16 gemeinsam zu beschreiten
und abzuwarten, wieweit damit unsere Städte und Gemeinden entlastet werden können; das wäre sehr viel besser gewesen.
Zweitens müssen wir uns davor hüten, den Menschen vorzutäuschen, für das schwierige, weltweite Problem der Wanderungsbewegungen und der Fluchtbewegungen gebe es eine einfache Lösung. Sie gibt es aus zwei Gründen nicht. Die Ursachen für Wanderungsbewegungen und die Ursachen für Fluchtbewegungen nehmen zu. Dazu kommt, daß innerhalb Europas die Grenzen nicht geschlossener, sondern offener werden.Diese beiden Gründe — mehr Ursachen für Fluchtbewegungen und offene Grenzen durch die europäische Integration — bedeuten für unser Land und unsere Bevölkerung, daß wir, was für Regelungen wir auch treffen, viele Menschen werden aufnehmen müssen. Dieses Wissen muß vermittelt werden, damit die Frustration in unserer Bevölkerung nicht noch größer wird. Ich plädiere da für Ehrlichkeit und nicht für das Vortäuschen einer Abwehrstrategie, die nur ganz bedingt wirken kann.Wir sind bereit, dort mitzuwirken, wo es um Steuerungsmechanismen und auch um die Möglichkeit geht, Verfahren zu verkürzen. Das ist aus den Gesprächen im Kanzleramt als positives Ergebnis festzustellen. Aber wir sind nicht bereit, der Öffentlichkeit zu
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6468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Gerd Wartenberg
sagen, daß damit Probleme, die in Europa und der Dritten Welt strukturell angelegt sind, gelöst werden können. Darüber muß gleichzeitig gesprochen werden.
— Aber, Herr Olderog, mit Geschrei kann man Fluchtursachen und offene Grenzen in Europa nicht wegdiskutieren und nicht wegdrücken.
Wir müssen doch wohl die Realität zur Kenntnis nehmen. Nur wenn wir die Realität zur Kenntnis nehmen, können wir handhabbare und überzeugende Regelungen und Mechanismen innenpolitischer Art finden.Wenn wir erkannt haben, daß die Innenpolitik nur noch bedingt in der Lage ist, diese Fragen zu regeln, dann wissen wir, daß Regelungen auf europäischer Ebene oder die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Verfolgerstaaten oder in den Herkunftsstaaten mindestens genauso wichtig wie nationale Regelungsmechanismen sind, wenn nicht sogar noch wichtiger.
Die Einigung zwischen der SPD und den Koalitionsparteien auf ein gemeinsames Gesetzespaket zu den Verfahren ist ungewöhnlich, gerade bei einem gesellschaftlichen Thema, das so umstritten ist. Aber ich glaube, besondere Umstände, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind, lassen es zu, daß sich die Sozialdemokratie hier mit der Regierung bemüht, Regelungen zu finden, die unsere Städte und Gemeinden entlasten. Der Hintergrund unserer Bemühungen ist, daß Städte und Gemeinden mit der Zuwanderung nicht mehr fertig werden. Die Infrastruktur unseres Landes ist überlastet. Das führt dazu, daß in vielen Städten die Unterbringung nicht mehr nach den Kriterien erfolgt, die wir für wünschenswert halten.Gleichzeitig müssen wir feststellen, daß schon wegen des Umfangs der Zuwanderung auch die Verfahren, die wir für jeden garantieren wollen, nur noch unzulänglich garantiert werden können. Wir haben im Augenblick einen Rückstau von über 250 000 Verfahren. Wir kritisieren einerseits — das sage ich ohne Polemik —, daß sich der zuständige Innenminister dieser Probleme viel zu spät angenommen hat.
Andererseits zeigt es natürlich, daß bei einer Zuwanderung von 250 000 Menschen im vorigen Jahr und wahrscheinlich noch mehr Menschen in diesem Jahr auch sehr große und gut organisierte Verwaltungen tendenziell überfordert sind. Wenn wir diese Überforderung und diese Überlastung reduzieren wollen, bedeutet das, daß wir die Verfahren vereinfachen und verkürzen müssen.Der Kern der Überlegungen, die im Kanzleramt mit den Parteien angestellt worden sind, lautet: Die Geteiltheit der Verfahren, die Parallelität von zwei verschiedenen Verfahren im Verwaltungsbereich, nämlich die Anhörung beim Bundesamt und die Anhörung parallel oder, etwas zeitversetzt, bei den kommunalen Ausländerbehörden, ist unter diesen Bedingungen nicht tragbar, ja, sie ist für die Asylbewerber sogar ungünstig.Deswegen schlagen wir gemeinsam vor, daß dieses Verfahren nach dem Grundsatz: „Ein Fall, ein Beamter, eine Entscheidung" in eine einzige Hand kommt, und zwar in die Hand des Bundesamtes mit seinen Außenstellen.Hier gibt es allerdings einen ganz entscheidenden Kritikpunkt der SPD. Es gab auch keine Übereinstimmung in den Fachgesprächen, die wir vor der Einbringung dieses Gesetzentwurfs geführt haben. Wir gehen davon aus — wir sagen dies noch einmal mit aller Dringlichkeit zur CDU/CSU und zur Bundesregierung —, daß dann, wenn dieses einheitliche Verwaltungsverfahren zur Verkürzung führen soll, jeder Entscheidungsvorgang bis zur tatsächlichen Abschiebung beim Bundesamt bearbeitet werden muß, wie in den Kanzlergesprächen vereinbart.
Wer das nicht will, schafft ein neues Risiko der Verzögerung. Unser aller Ziel ist, daß diese Verzögerung möglichst reduziert wird. Ich weiß: Weil dieses Risiko im Verfahren, besonders bei der Beschaffung der Paßersatzpapiere, sehr groß ist, drückt sich jeder davor, für dieses Risiko verantwortlich zu sein.Aber ich bitte Sie ernsthaft, noch einmal darüber nachzudenken: Es darf nicht sein, daß sich die kommunale Ausländerbehörde eines Landes oder eines Landkreises weiterhin an die Botschaft von Bangladesch oder Indien wendet, um einen Paß zu bekommen. Dies muß vielmehr der Bund machen. Nur das ist sinnvoll.
Stellen Sie die Bedenken des Bundes, insbesondere natürlich der Beamten des Bundesinnenministeriums, zurück, und machen Sie den Weg frei für eine politisch sinnvolle Lösung an diesem Punkt! Das ist eine politische Entscheidung, keine Beamtenentscheidung.
Wir haben uns von der Überlegung leiten lassen, daß der Asylbewerber in den Erstaufnahme-Sammelstellen, in die er sich, wenn wir dieses Verwaltungsverfahren mit einem gestrafften Gerichtsverfahren zustande bekommen, begeben muß — er wird dort registriert, wo sein Verfahren geführt wird —, nicht länger als sechs Wochen bleiben muß. Wir wissen— auch das muß offen gesagt werden —, daß das, weil die Beschaffung von Paßersatzpapieren in manchen Fällen länger dauern wird, bis zu drei Monate dauern kann.
— Das können Sie durch nichts ausschalten.
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Gerd Wartenberg
Deswegen haben wir im Gesetz geregelt, daß der Zeitraum von sechs Wochen bis drei Monaten festgelegt wird. Die Zwischenrufe von der Union zeigen wiederum, daß Sachkenntnis nicht da ist.
Selbst wenn Sie den Art. 16 ganz abschafften, müßten die Behörden nach wie vor Paßersatzpapiere beschaffen, wenn jemand ohne dessen Inanspruchnahme bei offenen Grenzen ohne Paßersatzpapiere in unser Land kommt.
Ich bitte Sie noch einmal: Versuchen Sie bei den Punkten, in denen wir uns einig sind, doch nicht wieder Vernebelungstaktik! Das Problem ist doch allen, die verhandelt haben, deutlich geworden. Die Schwierigkeiten sind immer dann objektiv groß, wenn Voraussetzungen für die Abschiebung nicht gegeben sind, z. B. beim Fehlen der Paßersatzpapiere. Das hat nichts damit zu tun, ob wir den Art. 16 in der jetzigen Form haben oder ob wir ihn überhaupt nicht haben oder ob wir eine europäische Regelung haben. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Die Schwierigkeit der Materie zeigt sich gerade an dem Punkt der Abschiebungshindernisse selbst bei offensichtlich unbegründeten Fällen. Wir glauben aber, einen Vorschlag gemacht zu haben, mit dem man diese Probleme eingrenzen, wenn auch nicht lösen kann; lösen kann sie keiner.Diese Erstaufnahmestellen werden von vielen, vor allem von denjenigen, die in der Flüchtlingspolitik engagiert sind, kritisiert. Ich verstehe das, aber ich muß auf eines aufmerksam machen: Wenn im letzten Jahr 250 000 Menschen zugewandert sind, die einen Asylantrag gestellt haben, dann muß sich jeder, der unsere Verfahren kritisiert, fragen lassen, wie er garantieren will, daß jeder dieser 250 000 Menschen ein Verfahren überhaupt bekommen kann, wenn es auch nur ein kurzes Verfahren ist. Das geht nur über die Verkürzung. Ansonsten werden wir das Problem haben, daß immer mehr Menschen in einem Rückstau ohne Verfahren in diesem Lande sein werden, ohne zu wissen, was mit ihnen geschieht.Das heißt, die Alternative ist nicht gegeben, indem man sagt: Es bleibt alles so, wie es ist. Gerade um auf Dauer zu garantieren, daß selbst bei einem hohen Zuzug von Asylbewerbern jeder sein rechtsstaatliches Verfahren überhaupt noch bekommen kann, muß gewährleistet sein, daß das Verfahren kurz und überschaubar ist. Sonst werden unsere Verwaltungen nicht in der Lage sein, dieses Problem zu lösen.Zweitens — ein Kritikpunkt, der immer wieder genannt wird —: In diesen Erstaufnahme-Sammelunterkünften sind die komplizierten Fälle und diejenigen, bei denen von vornherein Abschiebungshindernisse gegeben sind — beispielsweise weil Bürgerkrieg in dem Herkunftsland herrscht —, in der Regel nicht länger als zwei Wochen. Das heißt, die wirklichBetroffenen kommen schnellstmöglich nach wie vor zu den Gemeinden und werden dort vernünftiger untergebracht, weil der Druck auf die Gemeinden insgesamt nachlassen wird.
— Der Druck läßt dann nach. Entschuldigung, warum stellen Sie eigentlich Ihre eigenen Regelungen, die Sie heute gemeinsam einbringen, so in Frage?
Dies sind doch die Grundsätze, auf die sich Ihre Fraktionsspitzen und Fachleute gemeinsam geeinigt haben, unabhängig von Ihrer Meinung, daß Art. 16 zusätzlich geändert werden muß.
Das Ganze wird von Ihnen doch deswegen gemacht, weil Sie genau wissen: Diese Regelung braucht man in jedem Fall. Ihr Verhalten ist mir sehr unverständlich. Es wäre gut, wenn manchmal auch Abgeordnete Gesetze, Vorlagen und ihre Begründungen lesen würden.
Uns alle erfüllt die Schaffung von Sammelunterkünften und der Aufenthalt in diesen Sammelunterkünften mit Unbehagen. Aber diese Regelung garantiert, daß die Menschen dort eine relativ kurze Zeit sein werden. Es ist nicht angenehm, Regelungen zu diskutieren und zu schaffen, die darauf gerichtet sind, Menschen schnell durch Verwaltungen zu schleusen oder zurückzuweisen. Das ist vom Grundsatz her, glaube ich, für jeden Politiker eine der Aufgaben, die zu den nicht erfreulichen gehört. Es bleibt uns keine andere Wahl, auf Grund des Drucks der Situation und auch auf Grund der Anforderungen der Gemeinden zu versuchen, diese Regelungen erfolgreich werden zu lassen.
Ich bitte alle Länder — auch diejenigen, die weitergehende Forderungen haben —, zu versuchen, das gemeinsame Papier zügig umzusetzen, weil sonst der Druck aus der Bevölkerung — zu Recht — größer werden wird und es noch schwieriger sein wird.
Meine Damen und Herren, dieses Regelungswerk wird in einem ordentlichen Verfahren im Bundestag behandelt werden. Es wird nicht durchgepeitscht werden. Wir werden eine große Anhörung durchführen. Wir werden alle diejenigen, die Kritik an dem Regelungswerk üben, ausführlich zu Wort kommen lassen, mit ihnen darüber und auch über mögliche Alternativen diskutieren. Das sind wir uns bei einer so schwierigen Materie schuldig. Wir sind uns das auch deswegen schuldig, weil das Ganze eine gemeinsame Initiative aller großen Parteien ist. Um so mehr muß mit den Kritikern außerhalb des Parlaments diskutiert werden. Ich glaube, daß man die meisten Punkte der Kritik entkräften kann.
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6470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Gerd Wartenberg
Ich hoffe, daß wir dieses Verfahren weiter gemeinsam betreiben können und daß die Störungen, die nun mit der Einbringung eines Gesetzes zur Änderung der Art. 16 und 24 des Grundgesetzes verbunden sind, nicht dazu führen, daß der Bereich der sinnvollen Regelungen auf der Strecke bleibt. Versuchen Sie, Ihre Bedenken und Ihre Vorstellungen nicht auf dieses Regelungswerk und Gesetzeswerk zu übertragen. Es wäre sehr schön, wenn das gelingen würde. Andernfalls würde die Öffentlichkeit noch irritierter werden, als sie es sowieso schon ist.Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch.
Asyl, das ungeliebte Grundrecht. Da wünscht sich mancher, er könnte es mit einem eleganten Argument und ohne großes Aufsehen abschaffen.Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen die Asylverfahren beschleunigen. Wir wollen den Mißbrauch wirksam bekämpfen, damit wir das Asylrecht erhalten können. Wir wollen eine europäische Lösung durch ein inhaltlich gemeinsames Asylrecht. Wir fordern die Bundesregierung auf, darüber mit unseren Partnern zu verhandeln, und zwar nicht gegen unsere Verfassung, sondern für ein faires Asylverfahren.
Der heutige Gesetzentwurf macht uns keinen Spaß, aber er ist notwendig. Die große Zahl der Asylbewerber erfordert besondere Maßnahmen. Wenn wir für politische Flüchtlinge das Asylrecht erhalten wollen, dann müssen wir für diejenigen, die offensichtlich keine politischen Flüchtlinge sind, dafür sorgen, daß ihre Fälle in wenigen Wochen entschieden werden können. Bei aller Anerkennung ihrer Motive und ihrer Probleme: Für sie ist das Asylrecht nicht geschaffen.
Natürlich könnten wir keinem Flüchtling ansehen, ob er anerkennenswerte Fluchtgründe hat. Also muß jeder rechtliches Gehör haben. Auch daran hält das Gesetz fest. Wir werden über alle Einzelheiten sprechen. Darum ist die Anhörung vorgesehen. Aber im Grundsatz sehen wir keine Alternative. Also machen wir, was notwendig ist.Die Heftigkeit der öffentlichen Diskussion, die Wahlkampfträchtigkeit des Themas zeigt allerdings,
daß es um mehr geht als um administrative Probleme. Ein Gespenst geht um in Europa: der Flüchtling. Die Europäische Kommission sagt es in ihren Dokumenten ohne Umschweife: Alle europäischen Länder sind Einwanderungsländer und wollen es nicht sein. Die Öffnung der westeuropäischen Binnengrenzen durch das Schengener Abkommen kompliziert das Problem.Es ist rechtlich völlig unbestreitbar, daß zur Ratifizierung eine Verfassungsänderung nicht erforderlich ist; weder in der Bundesrepublik noch sonstwo. Daraufhin ist ja ausdrücklich verhandelt worden. Die dazu von der CDU/CSU und den Ländern Baden-Württemberg und Bayern vorgestellten unterschiedlichen Verfassungsänderungen lösen kein Problem.
Bayern hat eine Verfassungsänderung eingebracht, nach der man auch politische Flüchtlinge zurückweisen kann. Kommentar überflüssig. Baden-Württemberg kommt wieder mit der Listenlösung — listig, aber unwirksam,
weil die Flüchtlinge eben aus Problemländern kommen, die niemals auf eine solche Liste gehören; die armen Teufel.Der Entwurf der CDU/CSU führt zu keinem einheitlichen Asylrecht in Europa. Im Gegenteil: Er verlängert die Unterschiedlichkeit der Asylrechte, weil der Kern dieser Verfassungsänderung die automatische Anerkennung fremder Asylentscheidungen ist. Jedes Land entscheidet dann auch in Zukunft nach eigenem Recht darüber, wer als Flüchtling in die Gemeinschaft aufgenommen und wer zurückgewiesen wird. Diese Entscheidungen sollen fast ausschließlich den uns umgebenden Vertragsstaaten zugeschoben werden.Die Behauptung, wir würden ohne eine Verfassungsänderung ein Reserveasylland, ist polemisch und offenkundig falsch.
Wir können nach unserem heutigen Asylrecht einen Flüchtling an der Grenze zurückweisen, der in einem anderen Land Zuflucht gefunden hatte, in dem er vor Verfolgung sicher war und das den Flüchtling nicht an ein Verfolgerland ausliefert. Diese Möglichkeit haben wir selbst dann — ich wiederhole: nach geltendem Asylrecht —, wenn das Asylgesuch eines Flüchtlings in dem anderen Land abgelehnt worden war. Dazu brauchen wir keine Verfassungsänderung. Das ist geltendes Recht.Nein, wir kommen um das Grundproblem nicht herum, daß wir nämlich in einem Gebiet ohne Binnengrenzen ein gemeinsames, inhaltlich übereinstimmendes Asylrecht brauchen, in dem nach gleichen Grundsätzen entschieden wird. Unsere humanitären Grundsätze können nicht danach parzelliert werden, wo der große Zeh eines Flüchtlings den Boden Europas zuerst berührt hat.
Diese inhaltliche Harmonisierung auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und unserer völkerrechtlichen Verpflichtungen ist völlig unausweichlich. Wir würden unsere Wähler täuschen, wenn wir ihnen vorgaukelten, daß ohne eine solche Harmonisierung der Asyl- und der Einwanderungspolitik
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Dr. Burkhard Hirschauch nur ein einziges damit zusammenhängendes Problem wirklich gelöst werden könnte.Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge unternimmt den kühnen Versuch, in Europa aufgenommen zu werden. Wir überlassen die sozialen Lasten und Probleme der meisten Flüchtlinge anderen, viel ärmeren Ländern.
Trotzdem flammt Haß gegen Flüchtlinge auf. Er beruht auf Angst: Angst vor ihrer Zahl, vor dem Wettbewerb um Wohnungen, Arbeit oder Ausbildung, Angst vor femden Gebräuchen, die sie „merkwürdigerweise" beibehalten wollen, Angst vor Überfremdung, was immer das sein möge. Ich füge hinzu: Angst auch vor der Erkenntnis, daß wir Europäer auf einer Insel des Wohlstandes leben und daß das nicht so bleiben wird, wenn um uns herum der Lebensstandard der Bevölkerung weiter absinkt.
Jeder Flüchtling konfrontiert uns auch mit unserem eigenen Anteil an den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen der Armut,
des Hungers, des Bevölkerungswachstums und den sich daraus ergebenden politischen Katastrophen. Dieser unser eigener Anteil ist wahrhaftig nicht klein, was Sie auch in der Enzyklika „Centesimus Annus" vom Mai 1991 nachlesen sollten.Ich sehe nicht, daß die christlichen Parteien etwas unternehmen, um diese Angst zu bekämpfen oder wenigstens die Öffentlichkeit aufzuklären
oder den Organisationen wie der Caritas zu helfen, die das sehr eindrucksvoll tun. Es ist Wahlkampfzeit.
Wer von Überfremdung spricht, der muß auch sagen, daß 60 % der Flüchtlinge aus Europa kommen und daß wir überdies dabei sind, die innereuropäische Freizügigkeit zu vergrößern, so daß kein Staat mehr die Zahl der auf seinem Gebiet lebenden Ausländer begrenzen kann.Wer von den sozialen Lasten spricht, der muß auch sagen, daß unsere Sozialsysteme ohne den Zuzug von Ausländern in 20 Jahren nicht mehr funktionieren werden
und daß unsere Wirtschaft und unser Handwerk trotz unserer eigenen Arbeitslosen schon heute auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind.
Wer von den hohen Asylantenzahlen spricht, der muß auch sagen, daß immer nur die Zahlen der Asylbewerber zusammengezählt werden, daß aber über den Verbleib der Bewerber nur Schätzungen bestehen und daß alle Personen, die mit oder ohne Art. 16 des Grundgesetzes als Flüchtlinge aufgenommen wurden, kaum 1 % unserer Bevölkerung ausmachen.Es muß auch gesagt werden, daß die Zahl der aufgenommenen Aussiedler fast viermal höher ist als die Zahl aller Asylbewerber
und daß fast der gesamte Zuwachs des vergangenen Jahres Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien sind, bei denen ich mich frage, warum wir sie überhaupt in das Asylverfahren zwingen und nicht über das Kontingentflüchtlingsgesetz aufnehmen.
Unser Asylrecht ist ein Abwehrrecht geworden. Alle — auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf verabredeten — Entscheidungen richten sich gegen Armutsflüchtlinge, gegen Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, gegen Arbeitssuchende und ihre Familien. Der Gesetzentwurf beseitigt keine Fluchtursachen.Diese Abwehrmechanismen sind die Folge der Tatsache, daß es bisher keine gemeinsame europäische oder atlantische Politik bei der Gewährung von Asyl, von Hilfe oder von Hilfe zur Arbeitswanderung gegeben hat, auch keinen gemeinsamen Versuch, den Menschen in ihren Ländern die Hoffnung zu geben, die sie brauchen, um dort bleiben zu wollen.Die konservativen Parteien weigern sich, Einwanderung und Asyl voneinander zu trennen. Uns kommt es wirklich nicht auf die emotionsgeladenen Begriffe „Einwanderungsland" und „multikulturelle Gesellschaft" an. Wir wollen endlich eine inhaltlich gemeinsame europäische Politik, die nicht nur unseren wirtschaftlichen Interessen entspricht, sondern auch unseren humanitären Traditionen.
Wir wollen die Vorstellung überwinden, Westeuropa könnte sich als eine Wohlstandsfestung erhalten und die eben gestürzte Mauer durch Paragraphen, bürokratische Mechanismen und Abschreckungsmaßnahmen ersetzen. Das wird nicht funktionieren, und wir wollen das nicht.
Natürlich können unsere Gemeinden die Last der aktuellen Probleme nicht allein tragen. Sie fordern mit Recht Abhilfe. Natürlich sind die Bürger überfordert, die ihre eigenen Probleme sehen. Darum hat die F.D.P. immer wieder Entscheidungen zur Beschleunigung des Asylverfahrens vorgeschlagen und beschlossen.
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6472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Burkhard HirschWir haben im Juni vergangenen Jahres den Kern des heute eingebrachten gemeinsamen Gesetzentwurfes vorgelegt.
Wir werden uns dafür einsetzen, daß er nach einer Anhörung und mit großer Beschleunigung abschließend beraten werden kann. Sein Ziel ist es, die offensichtlich unbegründeten Fälle innerhalb weniger Wochen zu entscheiden, sie aus den Sammelstellen nicht zu verteilen, sondern sofort abschieben zu können. Dazu brauchen wir eine dezentralisierte Bundesorganisation.Dazu brauchen wir aber auch die Mithilfe der Lander. Sie war bisher ungenügend. Ich behaupte, daß wir ohne Gesetzesänderung auskommen würden, wenn die Verwaltungen personell und organisatorisch die bestehenden gesetzlichen Regelungen ausgeschöpft hätten.
In diesem Zusammenhang gibt es wirklich empörende Versäumnisse, die ich nicht weiter ausbreiten will: Termine, Gerichtstermine auf Jahre hinaus aufgeschoben, Zustellungen über Jahre zurückgestellt aus Personalmangel, Urteilsausfertigungen, die monatelang dauern. Ich kann Ihnen die Ämter und Gerichte nennen.Der Gesetzentwurf bringt Härten mit sich: die radikale Fristenverkürzung, die äußerste Beschränkung der Rechtsmittel, die erkennungsdienstliche Erfassung aller Bewerber. Das läßt sich angesichts der Vielzahl der Fälle und der bisher festgestellten Mißbrauchsvorgänge nicht vermeiden. Einige Punkte wollen wir während der Beratung noch einmal aufgreifen.Erstens. Der Flüchtlingsbegriff des deutschen Asylrechtes sollte endlich mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention übereinstimmen. Das ist doch unser europäisches Ziel.
Zweitens. Die Abschiebungsregeln müssen klar und eindeutig sein, auch dann, wenn Asylbewerber glauben, ihren Aufenthalt für Straftaten nutzen zu können, Auch hier müssen wir mehr als bisher klare Verhältnisse schaffen.Drittens. Unsere völkerrechtlichen Verpflichtungen müssen gewahrt bleiben, und die Mitwirkung des UN-Flüchtlingskommissars am Verfahren muß ohne Einschränkung gesichert sein. Ich wüßte nicht, wer dagegen wäre.Viertens. Der Asylbewerber muß sich im Verwaltungsprozeß auch in Zukunft auf elementare Rechtsgrundsätze, die normalerweise absolute Revisionsgründe sind, berufen können.Fünftens. Es sollte eine Altfallregelung geben. Wir haben darüber gesprochen, daß diese Welle, die wir vor uns herschieben, in irgendeiner Weise erledigt werden sollte. Wir sollten hier offen sein, gemeinsam zu einem neuen Anfang zu kommen,
ein schwieriges, aber wichtiges Problem, auch im Interesse der Gemeinden.
Sechstens. Es ist zu prüfen, welche Bevölkerungsgruppen z. B. aus Bürgerkriegsgebieten nicht durch das Asylverfahren müssen, sondern auf der Grundlage des Kontingentflüchtlingsgesetzes auf Zeit aufgenommen werden könnten.Dieser Gesetzentwurf wird von ganz unterschiedlichen Erwartungen begleitet. Manche meinen, er wird nicht funktionieren, und manche hoffen das sogar. Unser Ziel ist die Erhaltung des Asylrechts. Der letzte Satz des Art. 16 unserer Verfassung lautet: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Das ist nicht nur eine Erinnerung an die Vergangenheit, vielmehr symbolisiert dieser Satz die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wir wollen ihn nicht ändern. Er ist die Freiheitsstatue im Hafen unserer Verfassung.
Wir sind nicht die einzigen, die eine solche Bestätigung des Asylrechts in ihrer Verfassung haben. Es ist nicht dieser Satz, der uns in Schwierigkeiten bringt, sondern die materielle Not, die die Welt in ihrem Kern spaltet. Sie zu überwinden, das bleibt die Lebensfrage einer zivilisierten Welt.
Es spricht jetzt der Bundesminister des Innern, Herr Seiters.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will daran erinnern, daß Mitte 1982, also vor fast genau zehn Jahren, dieses Hohe Haus das Asylverfahrensgesetz verabschiedet hat. Wir hatten es damals, 1981, mit einem Asylbewerberzugang von 49 391 Personen zu tun.
Auch damals wurde über die Frage der Ausgestaltung des Asylverfahrens zwischen den Parteien und zwischen Bund und Ländern heftig gerungen. Das im Vermittlungsausschuß erreichte Ergebnis wurde vom Bundestag und Bundesrat in der Erwartung beschlossen, daß damit die Probleme im Asylbereich längerfristig gelöst werden könnten.Wir wissen heute alle, daß sich diese Erwartungen nicht erfüllt haben. Unstreitig gehört die Frage des Asyls zu den drängendsten innenpolitischen Problemen: in den letzten Jahren weit mehr als jeweils 100 000 Asylzugänge, im vergangenen Jahr 256 112 Ausländer, die Asyl beantragt haben — eine neue Höchstzahl in der Geschichte unseres Landes —; im Januar wieder über 31 000 Personen.
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Bundesminister Rudolf SellersVon diesen Personen — das ist schon gesagt worden — ist nur der geringste Teil politisch verfolgt im Sinne des Art. 16 des Grundgesetzes. Maßgeblich dafür, daß diese Menschen zu uns kommen, ist ganz überwiegend die Hoffnung, in Deutschland eine bessere Lebensperspektive zu finden als im jeweiligen Herkunftsland. Diese Motive sind verständlich, aber es kann doch niemand ernsthaft bestreiten, wenn ich sage: Diese Motive sind eben nicht Gegenstand der Asylverheißung des Grundgesetzes.
Noch einmal — ich wiederhole, was ich hier schon einmal gesagt habe —: Ich habe Verständnis für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in unser Land kommen, und ich wehre mich dagegen, ihre Motive zu diffamieren.
Ich sehe es aber als eine Aufgabe und als eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland und dieses Parlaments an, unsere Rechtsordnung funktionstüchtig zu halten.
Ich sage ganz ruhig: Das Asylrecht, das allein den politisch Verfolgten Schutz und Sicherheit gewähren soll, ist unstreitig zum Instrument einer unkontrollierten Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen umfunktioniert worden. Dies ist der Grund, warum wir eine Krise des Asylrechts haben, und dagegen müssen wir etwas unternehmen.
Ich will auch darauf hinweisen, daß bisher alle Versuche, im Wege der einfachgesetzlichen und organisatorischen Ausgestaltung des Asylverfahrens der Probleme Herr zu werden, an ihre Grenzen gestoßen sind. Insgesamt siebenmal sind die Vorschriften des Asylverfahrensrechts mit dem Ziel verändert worden, zu schnelleren abschließenden Entscheidungen zu kommen. Fragen einer Bewältigung des Asylproblems standen in immer kürzeren Zeitabständen auf der Tagesordnung des Bundestages. Visumspflichten wurden eingeführt, auch die Pflichten für Transitvisa verschärft. Ein Arbeitsverbot für Asylbewerber wurde beschlossen, später verschärft und schließlich wieder abgeschafft. Die Planstellen beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sind im Zeitraum von 1985 bis 1992 von ca. 400 auf nunmehr 3 599 angehoben worden.Die Lösung der Asylprobleme wurde immer wieder allein in der Zauberformel Verfahrensbeschleunigung gesehen. Bisher waren immer nur kurzfristige Entlastungen möglich,
weil die Ressourcen auf Grund der stetig steigenden Asylbewerberzahlen jeweils relativ bald wieder überfordert waren.So stehen wir heute bei dieser Debatte angesichts der Tatsache, daß wir jedem dieser Asylbewerber ein aufwendiges Prüfungsverfahren garantieren müssen, verbunden mit einem vorläufigen Bleiberecht und den entsprechenden Sozialhilfeansprüchen, vor der Situation, daß wir alle miteinander im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden verfahrensmäßig solche Massenphänomene kaum noch bewältigen können.
Viele unserer Gemeinden sind mit der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber überfordert. Die Ausgaben für Flüchtlinge stiegen von 2 Milliarden DM 1985 auf 5,5 Milliarden DM 1990. Und die Zahlen steigen.Wir haben immense Bearbeitungsrückstände. Ich muß mich aber schon gegen den Vorwurf wehren, daß diese Bearbeitungsrückstände etwa allein beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vorhanden seien. Es gibt sie in gleicher Weise bei den Ausländerbehörden und Gerichten. Ich sage an die Adresse des Landes Niedersachsen, das sich in diese Auseinandersetzung besonders hervorgetan hat: In Niedersachsen mußte im vergangenen Jahr die zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber zeitweise schließen, weil das dort vom Land eingesetzte Personal mit der Entgegennahme der Anträge nicht mehr nachkam.Ich will auch noch einmal daran erinnern, daß in Bremen vor der Landtagswahl Anträge von Bewerbern aus bestimmten Herkunftsländern einfach nicht mehr entgegengenommen wurden.
Das ist doch kein Zustand, mit dem wir uns zufriedengeben können.Aus dieser Situation heraus haben CDU/CSU, SPD und F.D.P. am 10. Oktober 1991 in dem genannten Gespräch beim Bundeskanzler nach Wegen zur Lösung der Asylproblematik gesucht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Ich bin wirklich immer sehr offen für Zwischenfragen, aber ich möchte, da ich als Vertreter der Regierung spreche, jetzt gerne einmal im Gesamtzusammenhang vortragen.
Ich habe es damals gesagt, und ich wiederhole meine Meinung heute: Wir werden das Problem ohne eine Ergänzung des Grundgesetzes nicht lösen.
Aber ich lege ebenso Wert auf die Feststellung, daß ich ungeachtet dieser Auffassung alles getan habe, um das Verfahrensbeschleunigungsgesetz in fairer Weise auf den Weg zu bringen: zügig, rasch und gleichzeitig mit der gebotenen Sorgfalt. Der Gesetzentwurf, über den wir heute sprechen, ist das Ergebnis dieser Zielvorstellungen.
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6474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Bundesminister Rudolf SeitersIch möchte drei Feststellungen zu diesem Entwurf treffen. Erstens. Ich begrüße es, daß sich die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, und F.D.P. zur gemeinsamen Einbringung dieses Entwurfs durchgerungen haben. Ich bedanke mich bei den Kollegen, die lange mit uns gemeinsam darüber verhandelt und gesprochen haben.Zweitens. Ich bedauere allerdings, daß schon in der Interpretation der Zielvorstellungen in einigen — allerdings wichtigen — Fragen grundlegende Unterschiede zwischen den Koalitionsfraktionen und der SPD bestehen. Der Erfolg dieses Gesetzes hängt aber davon ab, daß alle Betroffenen, sowohl der Bund als auch die Länder, bereit sind, ihre Verantwortung im Interesse eines beschleunigten Verfahrens zu tragen, und nicht versuchen, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu Lasten des anderen nachzubessern.
— Ja, das gilt für beide Seiten. Aber weil das so ist, wende ich mich, Herr Kollege Bernrath, mit Entschiedenheit gegen alle Versuche, wie sie zuerst von den SPD-geführten Ländern Niedersachsen und Hessen unternommen wurden, entgegen den Zielvorstellungen — entgegen den Zielvorstellungen! — die Zuständigkeiten der Länder aufzulösen und sich weitgehend der politischen Verantwortung für die Asylproblematik zu entziehen.
Die Zielvorstellungen hatten nicht zum Inhalt, eine neue Bundesausländerbehörde für alle paß- und ausländerrechtlichen Entscheidungen gegenüber asylbegehrenden Ausländern und damit eine flächendekkende Ausländerverwaltung zu schaffen, ganz abgesehen davon, daß dafür auch eine Änderung des Art. 87 des Grundgesetzes erforderlich wäre.
— Frau Kollegin Däubler-Gmelin, das, was ich jetzt sage, sage ich gar nicht an die Adresse der Kollegen der SPD-Fraktion. Aber mich wundert natürlich manche Kritik an diesem Gesetzentwurf nicht, wenn ich mich daran erinnere, daß der niedersächsische Ministerpräsident Schröder Anfang Januar 1992, nachdem der Gesetzentwurf schon viele Wochen bekannt war, erklärte, er fühle sich an die Vereinbarungen vom 10. Oktober 1991 nicht gebunden, und mit ihm habe niemand geredet.Wenn der Geist der Kritik in dem deutlich wird, was der Koalitionspartner von Herrn Schröder, der Minister Trittin, gestern gesagt hat — das, was wir heute gemeinsam vorlegten, sei ein Abschreckungs- und Abschottungsgesetz gegen Flüchtlinge, und dem Grundrecht auf Asyl solle durch Verfahrensregelungen der Strick um den Hals gelegt werden —, dann muß ich darum bitten, daß Sie sich mit diesen Argumenten auseinandersetzen und sie genauso wie wir mit allem Nachdruck zurückweisen.
Drittens. Auch unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung — darüber werden wir ja in den Ausschüssen zu reden haben — sind die zusätzlichen Wünsche und Forderungen der SPD nicht akzeptabel. Für eine Verfahrensbeschleunigung ist es unerläßlich, eine klare Trennung zwischen der Abschiebungsandrohung, die erst nach gerichtlicher Überprüfung vollziehbar wird, und der Durchführung der rechtlich zulässigen Abschiebung vorzusehen.Zeitweilige Abschiebungshindernisse betreffen nicht das Ob der Abschiebung, sondern allein den Zeitpunkt. Die Frage eines zeitweiligen Abschiebungshindernisses stellt sich erst, wenn feststeht, daß der Ausländer abgeschoben werden darf. Wer etwas anderes will, nimmt Verfahrensverzögerungen sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im gerichtlichen Verfahren bewußt in Kauf.Erst recht gilt das für die weitere Forderung nach einer alleinigen ausländerrechtlichen Zuständigkeit des Bundes für alle Maßnahmen gegen Ausländer, die einen Asylantrag stellen. Eine Einbeziehung aller ausländerrechtlichen Maßnahmen in das Asylverfahren würde gegenüber dem geltenden Recht zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führen. Die zusätzliche Belastung der Asylverfahren mit der Prüfung und Entscheidung asylunabhängiger Fragen ist mit den Zielvorstellungen unvereinbar, die ja gerade eine Beschleunigung der Verfahren zum Inhalt haben.Wenn schließlich einige SPD-Länder eine Bundeszuständigkeit für die Paßbeschaffung fordern, so entspricht auch das nicht der Vereinbarung. Die Zuständigkeit des Bundes endet bei der Ausreiseaufforderung und der Abschiebungsandrohung. Im übrigen würde auch insoweit durch eine Zuständigkeitsverlagerung die Paßbeschaffung keinesfalls beschleunigt, weil die Paßausstellung vielfach nicht über die Botschaften, sondern über Konsulate und Generalkonsulate erfolgt und alle Erfahrungen gerade auch des Auswärtigen Amtes zeigen, daß die politischen Möglichkeiten der Länder, auf Konsulate einzuwirken, größer sind als die des Bundes. Die Notwendigkeit einer Zuständigkeitsverlagerung wird im übrigen auch von den Zahlen widerlegt. Im Jahre 1991 haben es die Länder nur in 129 Fällen für erforderlich gehalten, das Auswärtige Amt bei der Paßbeschaffung einzuschalten.
Das alles heißt: Die Aufgabe, alle Asylverfahren, derzeit mehr als 250 000 jährlich, bis hin zur Aufenthaltsbeendigung bzw. Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung zügig durchzuführen, kann unmöglich bewältigt werden, wenn sämtliche Zuständigkeiten beim Bund zentralisiert werden. Auf Grund der größeren Ortsnähe hinsichtlich der auf das gesamte Bundesgebiet verteilten Asylbewerber können die Länder mit ihren mehr als 700 Ausländerbehörden die ausländerrechtlichen Maßnahmen nach Abschluß des Asylverfahrens schneller und leichter durchführen als eine zentrale Bundesbehörde. Die Bündelung dieser Aufgabe bei einer ortsferneren Bundesbehörde
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Bundesminister Rudolf Seitershätte notwendigerweise einen Flaschenhalseffekt, der die Verfahren unvertretbar verzögern müßte.
Deswegen appelliere ich an die SPD-geführten Länder, sich der politischen Verantwortung für die Asylproblematik nicht zu entziehen. Ich appelliere an die Opposition hier im Hause, zu den Zielvorstellungen zurückzukehren, wie wir sie am 10. Oktober beim Bundeskanzler vereinbart haben.Meine Damen und Herren, ich habe bereits gesagt, daß ich für eine schnelle, zügige und gleichzeitig auch sorgfältige Beratung dieses Gesetzentwurfs bin, daß nach meiner festen Überzeugung dieser Gesetzentwurf aber nach allen Erfahrungen der Vergangenheit nicht ausreichen wird, das eigentliche Asylproblem zu lösen.
In einem Europa, in dem die Unterschiede zwischen arm und reich und in dem das wirtschaftliche und soziale Gefälle so groß sind, wie es sich heute darstellt, in einer Welt, in der die Unterschiede nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd so groß sind, wie wir sie heute erkennen, werden die Flüchtlingsströme und die Wanderungsbewegungen eher zu- als abnehmen.In einer Welt, in der wir offene Grenzen in Europa wollen, müssen wir damit rechnen, daß sehr viele Menschen weiterhin im prosperierenden Teil Europas und speziell in Deutschland Zukunft suchen werden. Das ist eine der großen europäischen Herausforderungen an die Innenpolitik. Die gewaltigen Risiken, die diese Wanderungsbewegungen nicht nur für unseren Wohlstand, sondern ganz unmittelbar für Sicherheit und Frieden mit sich bringen, werden wir national allein nicht bewältigen können, sondern nur in einer europäischen Dimension.
Wenn wir uns in Kürze mit der Ratifizierung der Übereinkunft von Schengen und Dublin befassen, dann werden wir alle miteinander und jeder für sich vor die Frage gestellt sein, ob wir in einem Europa der offenen Grenzen einen nationalen Alleingang gehen wollen oder aktiv zu einer Harmonisierung des europäischen Asylrechts beitragen und gleichberechtigt an allen europäischen Verträgen teilhaben wollen.
Ich sage deshalb für meine Person:
Erstens. Angesichts von 256 000 Asylbewerbern im Jahre 1991 und angesichts stetig steigender Zahlen müssen wir nach verfassungsrechtlich einwandfreien Wegen suchen, um diejenigen Personen von einem aufwendigen Asylverfahren auszuschließen, die unseres Schutzes nicht bedürfen. Darauf sollten wir uns eigentlich verständigen können.
Zweitens. Angesichts der Tatsache, daß Deutschland heute bereits mehr als 60 % aller Asylbewerber der Europäischen Gemeinschaft aufnimmt, brauchen wir beim Asylrecht in Europa gleiche Rechte und Pflichten, weil wir in Deutschland sonst — und, Herr Kollege Hirsch, ich halte dies nicht für eine polemische Bemerkung, sondern das entspricht unserer und meiner Überzeugung nach den Realitäten — zum Reserveasylland in der Europäischen Gemeinschaft werden.
Dies können wir alle miteinander vor unseren Bürgern, wie ich denke, nicht verantworten.
Drittens. Wer sich der Illusion hingibt, daß die anderen EG-Mitgliedstaaten bereit sein könnten, ein unserem Standard entsprechendes Asylrecht mitzutragen, blockiert, wenn auch ungewollt, den Prozeß der europäischen Harmonisierung. Wir kommen nämlich nicht zueinander.
Ich sage Ihnen — und wir sprechen uns ja in diesem Hause wieder —: Es wird nicht möglich sein, europaweit eine dem Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes entsprechende Regelung durchzusetzen. Alle Umfragen bei den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ergeben, daß das deutsche Asylrecht nirgendwo als Vorbild für eine europäische Lösung angesehen wird. Die EG-Kommission selbst hat die Notwendigkeit betont, daß sich ein Mitgliedstaat der EG künftig nicht mehr auf Vorbehalte des nationalen Rechts berufen darf.Ich denke, als einer der Schrittmacher in Europa sollten wir Deutsche es uns nicht leisten, in der europäischen Frage isoliert zu sein. Wer das Bekenntnis zu Europa und zu internationaler Zusammenarbeit auch bei der Bewältigung der Asyl- und Flüchtlingsströme ernst nimmt, muß auch bereit sein, nationale Regelungen aufzugeben und den europäischen Weg voll mitzugehen.
Ich weiß, daß es bei dieser Problematik nicht nur um die westeuropäischen Staaten von Schengen oder von Dublin geht. Ich weiß, daß die meisten Asylbewerber über die osteuropäischen Grenzen in unser Land kommen, über Polen und die Tschechoslowakei oder über Österreich und die Schweiz. Alle diese Staaten sind der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten. Polen hat ein multilaterales Übereinkommen mit den Schengen-Staaten abgeschlossen, betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt. Mit Österreich und der Schweiz haben wir bilaterale Vereinbarungen. Diese Vereinbarungen wollen wir verbessern. Ebenso wollen wir ein Abkommen mit der Tschechoslowakei schließen.Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn es mit allen diesen Staaten Rücknahmeübereinkommen gäbe, so erwüchsen doch daraus zunächst nur Übernahmeverpflichtungen dieser Staaten, auf Grund unserer unveränderten verfassungsrechtlichen Lage, aber nicht Abgabemöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Auch dies macht die Notwendig-
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6476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Bundesminister Rudolf Seiterskeit einer Grundgesetzergänzung aus meiner Sicht ganz klar und deutlich.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die außerordentliche Dimension dieses Problems hoffe ich, daß wir erstens das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz zügig beraten und verabschieden und daß sich zweitens alle bei uns an der Gesetzgebung Beteiligten einer sachlichen, konstruktiven Diskussion und Lösung auf europäischer Basis letztlich nicht verschließen.Ich weiß sehr wohl, daß wir das Problem auch uns erreichender weltweiter Wanderungsströme aus wirtschaftlichen Gründen mit rechtlichen Maßnahmen allein nicht aus der Welt schaffen können. Dazu bedarf es international abgestimmter Maßnahmen. Dazu bedarf es der Fortentwicklung der im September 1990 beschlossenen Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung, der Bekämpfung der Fluchtursachen an der Quelle und der Öffnung neuer Lebensperspektiven der Menschen in ihrer Heimat. Aber der Gesetzgeber muß hierzulande den dringend erforderlichen Handlungsspielraum schaffen, ohne daß dabei der Kerngehalt unseres Asylrechts in Frage gestellt wird.Meine Damen und Herren, wenn Umfragen heute die Lösung des Asylproblems in den westlichen Bundesländern als das wichtigste innenpolitische Thema ausweisen, dann ist das doch keine Erfindung von Politikern, sondern spiegelt die Empfindungen, die Sorgen und die Beunruhigung der Menschen wider. Ich möchte an uns alle appellieren, daß wir unseren Bürgern nicht das Gefühl verweigern, daß dieser Rechtsstaat ein handlungsfähiger bleibt und daß er entschlossen und fähig ist, das Asylrecht zu wahren, aber seine Mißbräuche zu beenden.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars gab es Anfang 1991 weltweit 17,3 Millionen Flüchtlinge, die nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention unter das Mandat des UNHCR fallen, sowie etwa 2,5 Millionen palästinensische und kambodschanische Flüchtlinge, die von anderen Hilfsorganisationen der UNO betreut werden.Von diesen rund 20 Millionen Menschen haben 2,4 Millionen im reichen Norden, in Europa und Nordamerika, Zuflucht gefunden. Die weitaus meisten Flüchtlinge — je nach Rechnung zwischen 80 und 90 % — sind von Entwicklungsländern aufgenommen worden. Daneben gibt es weltweit noch ca. 18 bis 20 Millionen sogenannte displaced persons, also Menschen, deren Flucht sich innerhalb des eigenen Landes vollzieht, und 80 Millionen Migrantinnen und Migranten, die nach besseren Beschäftigungsmöglichkeiten als denjenigen ihres Heimatlandes streben.In der Bundesrepublik Deutschland hielten sich Anfang 1991 rund 1,1 Millionen Flüchtlinge auf; darunter 490 000 De-facto-Flüchtlinge und 330 000 Asylbewerberinnen und Asylbewerber.Die Zuwanderer kommen aus Staaten der sogenannten Dritten Welt und aus Osteuropa nach Deutschland. Die Gründe für die Zuwanderung sind vielfältig: Da gibt es die unmittelbare Gefährdung von Leib, Leben und Freiheit im Heimatland. Viele Asylbewerber und Flüchtlinge waren in ihren Herkunftsländern in ihrer religiösen oder kulturellen Existenz bedroht, waren als Minderheiten oder Andersdenkende verfolgt oder unterdrückt. Auch soziale Konflikte, Hunger und Zerstörung der Lebensräume in der Heimat bewegen viele Menschen zur Flucht in die wohlhabenden und rechtsstaatlichen Demokratien des Nordens und Westens.In unser aller Verantwortung liegt es, die Ursachen für die weltweiten Fluchtbewegungen zu beseitigen. Es sind dies die Nachwirkungen des Kolonialismus von gestern ebenso wie die Auswirkungen der ungerechten Weltwirtschaftsordnung von heute, für die auch wir verantwortlich sind. Gegenwärtige Entwicklungspolitik ist deshalb immer auch Innenpolitik für morgen.Wanderungsbewegungen waren seit j eher auch mit dem Wunsch verbunden, die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse zu verbessern. Auch bei der derzeitigen Zuwanderung, die nach übereinstimmender Meinung aller Parteien neu geregelt werden muß, ist dieses Motiv von großer Bedeutung. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Osteuropa haben sich nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus grundlegend geändert. Die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in vielen Entwicklungsländern sind desolat. Im Gegensatz dazu stehen Wohlstand und Wachstum in den westlichen Ländern, wodurch der Anreiz zur Arbeitskräftewanderung verstärkt wird und jene Faktoren, die für das Bleiben in der Heimat sprechen, verdrängt werden.Auch künftig werden wir es mit gewaltigen Wanderungsbewegungen zu tun haben, und zwar unabhängig von unserer Bereitschaft, Flüchtlinge und Asylbewerber aufzunehmen oder nicht. Auch künftig werden wir die Frage zu beantworten haben, wie wir mit der Zuwanderung umgehen und welche Möglichkeiten es gibt, das akute — und sicher über Jahrzehnte akut bleibende — Problem möglichst human und menschenwürdig zu lösen.Deutschland und ebenso Europa haben theoretisch drei Möglichkeiten, auf die Zuwanderung aus dem Osten und Süden zu reagieren:Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland macht die Grenzen dicht. Das bedeutete völlige Isolierung. Eine solche Politik der Abschottung und der neuen Mauer — vielleicht um Europa — wäre nur unter Preisgabe des demokratischen Rechtsstaates möglich.Gerade diese Politik aber verfolgt die Bundesregierung gegenwärtig. Die angestrebten Änderungen des Asylrechts erfüllen uns mit tiefer Sorge. Die Bundesregierung mißbraucht das Asylrecht erneut für parteipolitische Zwecke. Anstatt nach Wegen zu suchen, wie Verfolgten und Flüchtlingen in der Bundesrepu-
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Konrad Weiß
blik Deutschland am besten eine Zuflucht geboten werden kann, betreiben manche in CDU und CSU eine völkische Politik der Abschottung und der Volksverwirrung. Auf die unwürdigste Weise und aus billigen wahltaktischen Gründen instrumentalisieren sie die Not von Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland Schutz vor Verfolgung und Armut suchen.
Es gibt keine Notwendigkeit, den schlichtesten und kostbarsten Satz unseres Grundgesetzes durch geschwätzige Erweiterung zu verwässern und ihn in seinem Kern außer Kraft zu setzen, wie der CDU-Entwurf dies will. Mit ihrer Absicht verrät die CDU ihre demokratische Tradition und verleugnet die bitteren Erfahrungen, die deutsche Demokraten in der Zeit des Nationalsozialismus machen mußten.
Es ist schlichtweg gelogen, wenn dies unter anderem mit der europäischen Harmonisierung begründet wird. Das Schengener Abkommen, auf das sich die Bundesregierung beruft, räumt im Gegenteil in seinem Art. 29 den Unterzeichnerstaaten die Beibehaltung des nationalen Asylrechts ein. Staatssekretär Neusel erklärte 1990 vor dem Innenausschuß ausdrücklich, daß eine Grundgesetzänderung im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Schengener Abkommens nicht notwendig ist.Meine Gruppe, Bündnis 90/GRÜNE, lehnt eine Änderung des Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes strikt ab.
Wir fordern die Bundesregierung auf, entschieden darauf hinzuwirken, daß im Zuge der europäischen Harmonisierung andere Staaten unser bewährtes und liberales Asylrecht übernehmen. Der Art. 16, Herr Minister, ist ein würdiger Exportartikel, nicht die Mauer.Die zweite theoretische Möglichkeit wäre, daß Deutschland seine Grenzen für die grenzenlose Zuwanderung öffnet. Dies klingt zwar ideal, wäre in meinen Augen aber eine Absage an eine verantwortliche Politik. Eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung, Menschenrechtsverletzungen und ökologische Katastrophen lassen sich nicht durch eine unkontrollierte Zuwanderung in die Bundesrepublik lösen.Die Zuwanderung muß sozialverträglich erfolgen. Das heißt, sie hat die subjektive Befindlichkeit der einheimischen Bevölkerung ebenso zu berücksichtigen wie die objektiven Bedingungen des Arbeitsmarktes, des Wohnungsangebotes, der nationalen Infrastruktur.Wir haben unlängst in Ostdeutschland erlebt, daß mancherorts die Akzeptanzschwelle überschritten war, daß Sozialneid und Angst vor allem Fremden zu Gewalt und Ausländerfeindlichkeit führten. Eine verantwortliche Politik muß dazu beitragen, daß dieseÄngste reflektiert und aufgebrochen werden können,
und muß solche Rahmenbedingungen schaffen, die die menschenwürdige und solidarische Aufnahme von Flüchtlingen möglich machen.Die dritte Möglichkeit, meine Damen und Herren, ist, daß wir gemeinsam versuchen, das Problem durch humane und differenzierte Gestaltung zu bewältigen.Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen versucht meine Gruppe, Bündnis 90/GRÜNE, Grundzüge einer neuen Einwanderungs- und Asylpolitik zu gestalten. Die bisher maßgeblichen Zuwanderungskriterien, so auch die deutsche Volkszugehörigkeit, haben an Bedeutung verloren. Sie müssen verändert werden nach Zuwanderungsanlaß und Aufenthaltszweck. Versucht sich ein Zuwanderer oder eine Zuwanderin einer existenzgefährdenden Not zu entziehen, so ist ihm oder ihr der Aufenthalt zu gewähren. Erfolgt die Zuwanderung aus wirtschaftlichen Gründen, so ist anhand eines Einwanderungskonzeptes mit Quotierung und anschließenden Integrationsmaßnahmen der Zugang zu steuern.Ziel einer differenzierten Einwanderungs- und Asylpolitik muß sein, den Zuzug zugunsten aller Betroffenen human und sozial zu regeln. Eine Voraussetzung hierfür ist, die Begriffe wie „Asylsuchende", „Flüchtling" oder „Einwanderer" richtig zu definieren und differenziert zu benutzen. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland ist von einer schlimmen Verwirrung der Begrifflichkeit geprägt.Nach unserer Konzeption soll es drei legale Möglichkeiten der Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland geben: erstens die Gewährung von Asyl gemäß Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes; zweitens eine Regelung für Kontingentflüchtlinge, die auf der Flüchtlingskonvention beruht und zusätzlich die Definition der OAU berücksichtigt; drittens ein Einwanderungsgesetz für die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten.Für den ersten und den zweiten Zuwanderungsweg haben wir, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, ein Gesetz über die Rechtsstellung von Flüchtlingen vorgelegt. Dieses Gesetz gilt für Flüchtlinge, die Asyl nach Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes beantragen, ferner für Flüchtlinge, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wegen ihrer politischen Überzeugung, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung sowie vor Völkermord, Krieg, Bürgerkrieg, Zwang zum Kriegsdienst, drohenden Menschenrechtsverletzungen, Todesstrafe oder Folter geflohen sind. Dieses Gesetz gilt ferner für Flüchtlinge, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik in das Bundesgebiet aufgenommen werden.Durch das Gesetz über die Aufnahme von Kontingentflüchtlingen sollen insbesondere jene aufgenommen werden, die auf Grund von Krieg oder Bürgerkrieg oder wegen Hunger- oder Umweltkatastrophen aus ihrer Heimat fliehen mußten.
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6478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Konrad Weiß
Die in unserem Flüchtlingsgesetz enthaltenen Verfahrensvorschläge sind eine wirkliche Alternative zum Gesetzentwurf von Regierungskoalition und SPD zur Neuregelung des Asylverfahrens, den wir ablehnen; denn wir wollen nicht die Liquidierung oder Verwässerung von Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes. Wir wollen keine Sammellager und keine erkennungsdienstliche Behandlung für Verfolgte und Bürgerrechtler.
Wir wollen keine allmächtige Bürokratie, die unter Einschränkung des Rechtswegs gegen Flüchtlinge und Notleidende entscheiden kann. Wir wollen keine Abschiebeschnellverfahren, die mit Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun haben.
Die Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR haben nicht jahrelang gegen die ausländerfeindliche Politik der SED gekämpft, um nun im vereinigten Deutschland restriktive Maßnahmen gegen Flüchtlinge und Verfolgte stillschweigend zu dulden.
Unsere Alternativvorschläge zugunsten der Flüchtlinge sind geprägt von der eigenen Erfahrung als Verfolgte oder Benachteiligte, als Ausgegrenzte oder Abgeschobene, sind geprägt vom Trauma der Mauer und der bitteren Ohnmacht gegenüber einem menschenverachtenden System.Zur Regelung eines dritten Wegs der Zuwanderung schlagen wir, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, ein Artikelgesetz, das Gesetz zur Regelung der Rechte von Niederlassungsberechtigten und Einwanderinnen und Einwanderern, vor.1991 lebten nach Angaben der „Zeit" in Deutschland 5 664 736 nichtdeutsche Einwohnerinnen und Einwohner. Der Anteil dieser Personen an der Gesamtbevölkerung entspricht etwa 6,5 %. Dies ist das Ergebnis eines sich kontinuierlich verfestigenden Einwanderungsprozesses. Als ausländische Arbeitskräfte von der deutschen Wirtschaft in die Bundesrepublik geholt wurden, war eine zeitlich befristete Arbeitswanderung beabsichtigt. Tatsächlich hat sich jedoch bis heute ein unumkehrbarer Einwanderungsprozeß vollzogen, der dazu führt, daß sich auch bei uns eine ethnische Minoritätsbevölkerung auf Dauer herausbildet. Damit steht die Bundesrepublik Deutschland in einer Reihe mit allen anderen westeuropäischen Ländern sowie den klassischen Einwanderungsländern USA, Kanada und Australien.Diese gesellschaftliche Realität wird bis heute geleugnet. 5,5 Millionen nichtdeutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger sind als Ausländerinnen und Ausländer einer Sondergesetzgebung, dem Ausländergesetz, unterworfen und von der vollen Partizipation an. Gütern und Rechten ausgeschlossen. Sie werden rechtlich und politisch weiterhin als Menschen behandelt, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und deren eigentlicher Lebensmittelpunkt in einem anderen Staat liegt. Ihnen werden die vollen sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rechte vorenthalten.Das bringt Nachteile für die Bevölkerungsgruppe selbst, aber auch für die deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Es wirkt sich hemmend auf die Entwicklung der politischen Kultur und der Demokratie in unserem Land aus.
Mit der kurz vor der Wiedervereinigung im Jahre 1990 vorgenommenen Novellierung des Ausländergesetzes wurde zunächst die Chance vertan, für die neue, größere Bundesrepublik ein ziviles Recht zu kodifizieren, das für Einwanderinnen und Einwanderer und auch für Flüchtlinge volle Menschen- und Bürgerrechte verwirklicht. Deshalb haben wir unseren Entwurf eines Einwanderungsgesetzes im Deutschen Bundestag eingebracht. Unser Ziel ist, daß alle, die schon eingewandert sind, und alle, die demnächst einwandern werden, in Deutschland menschenwürdig leben können.
Art. 1 unseres Gesetzentwurfs ist das Gesetz über die Niederlassung von Einwanderinnen und Einwanderern. Dieser Passus ermöglicht ein Niederlassungsrecht für die Einwanderer und Einwanderinnen nach dem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt.
Niederlassungsberechtigte haben die deutsche Vereinsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf politische Betätigung.
Art. 2, das „Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung ohne das Erfordernis der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit", bietet die Möglichkeit der Einbürgerung auf Antrag nach einem rechtmäßigen Aufenthalt von fünf Jahren im Bundesgebiet. Durch Geburt in der Bundesrepublik erwirbt das Kind ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit. In diesem Zusammenhang plädiere ich für die baldige Revision unseres Staatsbürgerrechtes.
Noch gilt das jus sanguinis, das Recht des Blutes, das völkische Recht: Deutscher ist, wer deutschen Blutes ist.Das wird so ungeschminkt kaum ausgesprochen, und wer das definieren wollte, käme bald in dubiose Gefilde. Angesichts der Millionen Mitbürger und Mitbürgerinnen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder gar hier geboren sind, als Ausländer aber noch immer Menschen zweiter Klasse sind, ist es längst überfällig, das jus soli zu konstituieren, ein Recht, das bestimmt, daß Staatsbürger dann derjenige
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Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6479
Konrad Weiß
wäre, der dauerhaft im Lande lebt und in Deutschland seinen Lebensmittelpunkt hat.
Art. 3 unseres Gesetzes zur Regelung der Rechte von Einwanderinnen und Einwanderern regelt die Einwanderung auf Antrag und bietet staatliche Leistungen für die Integration. Die Zahl der jährlichen Einwanderinnen und Einwanderer soll von der Legislative festgelegt werden. Von Bundestag und Bundesrat werden mit der Hilfe eines Amtes für Einwanderung und unter Mitwirkung der zu gründenden Einwanderungsbüros im Ausland, der oder des Beauftragten für Einwanderung und multikulturelle Angelegenheiten sowie einer ständigen Kommission, in der die Organisationen der Einwanderer vertreten sind, jährliche Quoten festgelegt.Von jeder Quotierung unberührt bleiben nach unseren Vorstellungen selbstverständlich all jene, die auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 2 bzw. des Flüchtlingsgesetzes nach Deutschland kommen.
Die Bejahung der Einwanderung schließt die Selbstverpflichtung von Bund und Ländern ein, den Eingewanderten alle Hilfen zur raschen Integration zu bieten. Diese liegen offensichtlich sowohl im Interesse der Eingewanderten wie auch im Interesse der gesamten Bundesrepublik.Daher wendet unser Gesetzentwurf Leistungsverpflichtungen, die bisher durch das Bundesvertriebenengesetz nur für einen Teil der Einwanderer galten, auf deren Gesamtheit an. Wir sind uns auch bewußt, daß es einen Vertrauensschutz geben muß und daß diejenigen, die gegenwärtig noch als Aussiedler nach Deutschland kommen können, bis zum Ende des Jahrhunderts die Chance haben sollten, dies zu tun.Diesen Gesetzentwurf begleitet ein anderer Entwurf, den wir im Deutschen Bundestag eingebracht haben, ein Gesetz zur verfassungsrechtlichen Bestimmung des Bürgerbegriffs. Wir schlagen eine Neuf as-sung des Art. 116 des Grundgesetzes vor, um allen Nichtdeutschen, die länger als fünf Jahre rechtmäßig im Gebiete der 16 Bundesländer leben, das Recht zu geben, als Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte in Anspruch zu nehmen wie deutsche Staatsangehörige.Wir sind uns bewußt, daß auch unsere Konzeption Mißbrauch nicht ausschließt
und eine vollständige Lösung des Problems nicht garantieren kann. Auch wir haben kein Patentrezept. Ich glaube aber im Gegensatz zu Herrn Schäuble und Herrn Seiters, daß ein Einwanderungsgesetz gegenüber Art. 16 Abs. 2 eine wesentliche Entlastungsfunktion übernehmen könnte, auch wenn wir nicht aus diesem Grunde ein Einwanderungsgesetz vorbereitet haben.Wie Professor Bryde am 19. Januar 1992 bei unserer Anhörung in Bonn festgestellt hat, bieten unsere Entwürfe pragmatische Lösungen an, die die Interessen von einheimischer und zugewanderter Bevölkerung berücksichtigen und die ausgleichend wirken können. Das erreichen sie auf weiten Strecken, weil sie konsequent den zentralen Widerspruch der bisherigen Asyl- und Ausländerpolitik angehen, den Widerspruch zwischen dem Faktum, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist, und dem geltenden Ausländerrecht, das dieses Faktum leugnet.Ich bitte Sie, meine Damen und Herren aller Fraktionen, unsere Gesetzentwürfe zu unterstützen und so dazu beizutragen, daß Deutschland ein offenes Land bleibt, ein Land, das sich nicht abschottet, sondern Menschen in Not Zuflucht bietet, ein Land, das seine Migrationspolitik nicht dem Zufall überläßt, sondern aktiv, menschenwürdig und verantwortungsvoll gestaltet.
Herr Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hellwig?
Ja, selbstverständlich, auch wenn ich am Ende meiner Rede bin.
Herr Abgeordneter Weiß, wie hoch würden Sie nach Ihrem Gesetzentwurf die Einwanderungsquote festsetzen, und was machen Sie mit denen — dem ersten, dem zweiten, dem dritten —, die sich oberhalb dieser Quote befinden und hier Einwanderung begehren?
Führen Sie für diese ein Asylverfahren durch, oder lehnen Sie sie ohne jedes Verfahren ab?
Unser Gesetzentwurf sieht vor — wenn Sie ihn gelesen haben, wissen Sie das —, daß diejenigen, von denen Sie sprachen, auf Grund des Einwanderungsgesetzes auf eine Warteliste kommen. Sie haben die Möglichkeit, zwei oder drei Jahre zu warten.
— In ihrem Herkunftsland selbstverständlich. — Diejenigen, die im Asylverfahren abgelehnt werden, sollen drei Jahre lang nicht die Möglichkeit haben, sich als Einwanderer oder Einwanderin zu bewerben.
Gestatten Sie eine weitere Frage? — Sie gehen also davon aus, daß es sich bei diesen Einwanderungswilligen nicht um politisch Verfolgte handelt, die in ihrem Heimatland darauf warten können, bis sie nach der Quote dran sind?
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6480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Renate HellwigDas heißt, Sie werden nicht jedem unterstellen, daß er politisch Verfolgter ist?
Das betrifft das, was ich zu erklären versucht habe. Wir müssen die Begrifflichkeiten klären. Es gibt die Asylbewerber, es gibt die Flüchtlinge, und es gibt diejenigen, die aus wirtschaftlichen oder sonstigen, vielleicht familiären Gründen nach Deutschland kommen möchten
oder die vielleicht auch einfach aus Interesse an diesem Land nach Deutschland kommen möchten. Wer das bestimmt? — Das bestimmen die Menschen selbst.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 1977 wurden etwa 30 Versuche unternommen, Gesetze, Erlasse, Verordnungen so zu ändern, daß dadurch Flüchtlinge und Asylbewerber und Asylbewerberinnen abgewehrt oder sonderbehandelt werden. Die Flüchtlingsorganisation „Pro Asyl" fügt dieser Aufzählung hinzu, daß diese Vorhaben meistens gegen den Rat von Fachleuten durchgezogen worden sind. Aber nicht nur das: Sie sind meistens auch unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausgearbeitet worden.Nachdem im Sommer letzten Jahres in der BRD Pogromstimmung gegen Asylsuchende geschaffen worden ist,
wurde sowohl von den Regierungsparteien als auch von der SPD versucht, auf der Welle der Gewalt gegen Ausländerinnen und Ausländer das Asylrecht noch restriktiver zu gestalten. Für die Öffentlichkeit war es sicher keine Überraschung, daß CDU und CSU mit drakonischen Maßnahmen und knallharten Sondergesetzen gegen Asylsuchende vorgehen und ihnen die Zuflucht vor politischer Verfolgung und Bürgerkriegen versperren wollten.
— Sind Sie diejenigen, die hier Grundgesetzänderungen wollen, oder nicht?Speziell die CDU/CSU versucht mit ihrem Antrag zur Grundgesetzänderung, weitgehende Vorstellungen in Richtung „Festung Europa" durchzusetzen.
Die Abschottung von Asylsuchenden soll ohne grundgesetzliche Einschränkung betrieben werden können. Das Grundrecht auf Asyl wird kaltschnäuzig zur Disposition gestellt.
Die CDU hat in der Begründung ihres Antrags auf engstirnigste Weise den kürzesten Dienstweg vom Stammtisch zum Chefzimmer genommen. In dem Antrag wird allen Ernstes von einer „Krise des Asylrechts" gesprochen, die daher rühren soll, weil — Zitat — „zunehmend Ausländer unter mißbräuchlicher Berufung auf politische Verfolgung die Beschränkung für die Zuwanderung ... umgangen haben".Die nationalistische Begründung für das Abrücken von diesem Grundrecht ist in der CDU/CSU offensichtlich. Politiker wie z. B. Alois Glück, aber auch Sie, Herr Gerster, haben — Sie, Herr Gerster, haben es hier heute wieder getan — sehr deutlich gemacht, daß Sie im Grunde eine Argumentation führen, nach der die multikulturelle Gesellschaft angeblich die Stabilität der Bundesrepublik gefährde. Dazu kann man nur sagen, daß Rechtsextremisten und Neofaschisten sich hier nicht isoliert zu fühlen brauchen.
Viele Menschen, aber auch die Menschenrechtsorganisationen hatten von der Regierungspolitik allerdings etwas anderes erwartet, ebenso von der SPD, aber auch von Herrn Hirsch, der sich ja hier immer so gerne liberal und wortradikal gibt, in bezug auf den im Grunde aber bei allen das Asylrecht betreffenden Fragen in den vergangenen Wochen und Monaten zumindest immer die Einschränkung gesehen wurde, daß er mitverhandelt hat.Das, was in diversen Kanzlerrunden und anderen mehr oder weniger konspirativen Treffen ausgetüftelt wurde, ist ein Schlag gegen alle demokratischen Grundsätze und gegen die Menschlichkeit.Die Kritiken fielen entsprechend aus. Der „Republikanische Anwaltsverein" sprach von einem Kampfgesetz gegen die Asylbewerber und von einem Angriff auf den Rechtsstaat. Der RAV sieht nicht nur, daß mit diesem Entwurf die gefängnisähnliche Ausstattung der Sammellager betrieben wird, sondern er sieht auch Assoziationen zu Gefängnis- und Lageraufenthalten in vergangenen Zeiten, die vermutlich beabsichtigt sind.Die Rechtsberatungskonferenz der mit den Wohlfahrtsverbänden und mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zusammenarbeitenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte betrachtet den vorliegenden Entwurf als Notstandsgesetz gegen Flüchtlinge. Die Rechtsberatungskonfe-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6481
Ulla Jelpkerenz vertritt die Ansicht — Zitat —, daß es in Deutschland nicht wieder eine Lagerverwaltung mit Polizeigewalt und Festnahmerecht geben darf.Auch für „Pro Asyl" hat das Gesetz den Charakter einer Notstandsgesetzgebung. Nach dem Zeugnis von „Pro Asyl" ist der SPD „die Rechtsstaatlichkeit keine Fußnote wert".
Der „Neue Richterverein" hält den Entwurf unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für äußerst bedenklich.Meine Damen und Herren, die hier angeführten Gruppierungen sind ja nun allgemein anerkannte Organisationen. Es sind allesamt Organisationen, die auf die eine oder andere Art und Weise intensivst mit den Problemen der Asylsuchenden befaßt sind. Aber gerade sie gehören zu den Experten, auf deren Meinung locker verzichtet wird.Die scharfe Kritik ergibt sich aus dem zu behandelnden Gegenstand selber. Der Entwurf, der hier heute scheindebattiert wird, faßt im Grunde genommen alle negativen Tendenzen der bisherigen Versuche der Abschreckungspolitik zusammen.Schon im ersten Satz des Entwurfs, in der Problemschilderung, werden denn auch die wirklichen Probleme genannt und niedergemacht. Dieser Satz ist in gepflegter Bürokratensprache die Kurzfassung der monate-, ja jahrelangen Kampagnen gegen das Asylrecht und gegen Asylbewerberinnen und -bewerber. Es heißt dort — Zitat —:Die erhebliche Zunahme der Zahl der Asylbewerger im Bundesgebiet macht es erforderlich, alle legislatorischen und administrativen Möglichkeiten zur Verfahrensbeschleunigung auszuschöpfen.Beschleunigung, Straffung und Abschreckung waren in der Vergangenheit immer das Ziel der Gesetzesänderungen.Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, was „Pro Asyl" in bezug auf die Rechtsweggarantie und ihre Behandlung im Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege schreibt. Ich zitiere:Rigorose Verfahrensregelungen, die Jahre zuvor in das Asylverfahren eingeführt wurden, sollen nun in andere Rechtsbereiche übernommen werden.Auch unter diesem Gesichtspunkt der Vorreiterrolle, der sogenannten vollen Ausschöpfung der legislatorischen und administrativen Möglichkeiten ist der vorliegende Gesetzentwurf zu behandeln. Auf diese Art und Weise werden Dämme gebrochen, um andere Rechts- und Grundrechtsbereiche einschränken zu können. Es geht also keineswegs, wie die CDU, die SPD und die F.D.P. bei ihrem Streit in der Öffentlichkeit weismachen wollen, um die Frage, wer die Unterkünfte in den freigewordenen Kasernen bezahlt. Es geht gerade beim Asylverfahrensgesetz um Grundrechte, um Menschenrechte und um die Art und Weise, wie die neue Bundesrepublik und wie Europa damit umzugehen gedenken.Meine Damen und Herren, nicht umsonst ist z. B. für Amnesty International humane Ausgestaltung der Asylpolitik der Prüfungsmaßstab, mit dem die Menschenrechtspolitik besonders zu messen ist. Der Gesetzentwurf zielt darauf ab, den Asylbewerberinnen und Asylbewerbern den Kreislauf von Knast — Sammellager — Knast zu eröffnen. Dabei werden die Sammellager im Gesetz wie Internierungslager ausgestattet. Nach dem Willen der Regierungsparteien und der SPD sollen Großlager und Gettostrukturen entstehen, wobei die Lagerverwaltung mit Polizeibefugnissen und Festnahmerecht ausgestattet wird. In dem Entwurf heißt es beispielsweise:Für die Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, ist der Ausländer verpflichtet, für die zuständigen Behörden und Gerichte erreichbar zu sein.Im ursprünglichen Entwurf heißt es dazu noch:Der Ausländer ist verpflichtet, zu bestimmten Zeiten erreichbar zu sein.Genau das ist vermutlich gemeint.Per Lagerordnung kann festgeschrieben werden, daß der Ausländer z. B. von 8 bis 12 Uhr oder von 14 bis 18 Uhr anwesend zu sein hat.Aus den Erstaufnahmeeinrichtungen sind Zwangseinrichtungen geworden. So heißt es z. B.:Das Bundesamt kann einem Ausländer ... erlauben, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung vorübergehend zu verlassen, wenn zwingende Gründe es erfordern.Das heißt dann Anträge, Anträge, Anträge für ganz alltägliche Kontaktbedürfnisse oder aber Festsitzen im Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung. Vielleicht, meine Damen und Herren, kennt jemand von Ihnen die Übersetzung dieser Begriffe ins Kurdische. Die Bilder aus den Lagern sollten Sie gesehen haben, wenn kleine Kinder ihre Magnetstreifenkarten am bewachten Tor einschieben müssen, um das Tor passieren zu können. Damit können allerdings Anwesenheit und Abwesenheit umfassend registriert werden. Den Lagerrapport liefert heute der Computer auf Knopfdruck zu jeder beliebigen Tageszeit.Angeblich soll das Asylverfahren durch den neuen Entwurf entbürokratisiert und beschleunigt werden. Mit diesem Stichwort ist natürlich in der Öffentlichkeit eher Zustimmung zu organisieren.Daß die Verfahren den Charakter eines kurzen Prozesses erhalten, wie es das „Komitee für Grundrechte und Demokratie " beschreibt, wird nicht gesagt. Die Konsequenzen, die für die Asylbewerberinnen und Asylbewerber daraus entstehen, werden natürlich auch nicht aufgezeigt.Innerhalb von zwei Wochen soll das Verfahren beim Bundesamt abgeschlossen sein. Das heißt, die Anhörung des Asylsuchenden muß in der ersten Woche des Aufenthaltes in der sogenannten Ersteinrichtung, in den allermeisten Fällen einem Sammellager mit mindestens 500 Plätzen stattfinden. Alle später als nach dieser Anhörung vorgebrachten Angaben und Beweismittel bleiben unberücksichtigt. So das Gesetz: nur eine Woche und eine Anhörung. Darm
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6482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Ulla Jelpkesollen alle Angaben und Beweismittel vorgebracht werden.Es ist klar und beabsichtigt, daß dem Asylsuchenden die Möglichkeit einer auch nur halbwegs vernünftigen juristischen Beratung und Betreuung genommen werden soll. Mit eng bemessenen Fristen wird das Grundrecht auf Asyl zur Farce gemacht. Das Gesetz zielt darauf ab, dem Asylsuchenden die Chance zu nehmen, einen Asylantrag umfassend vorzutragen. Der Entwurf setzt darauf — völlig unabhängig davon, ob eine politische Verfolgung besteht —, daß Asylsuchende in einem fremden Land ohne Kenntnis der Sprache, ohne Kenntnis der komplizierten Rechtslage, ohne die Möglichkeit, in der kurzen Frist einen Rechtsbeistand zu bekommen, Fehler machen, die es ermöglichen, ihren Antrag abzuweisen.Dabei wird völlig verfassungswidrig vorgegangen und die Rechtsweggarantie beschnitten. Die Marschrichtung für die Aushebelung des Instanzenweges wurde vom Bundesinnenministerium im Begleitschreiben zum Entwurf im schlimmsten deutschen Sprachgebrauch zackig angegeben: „Ausschluß jeglicher Rechtsmittel".Mensch muß es sich einmal vorstellen. Ein Beamter, der mit der Regelung der Beihilfezahlung nicht einverstanden ist, wenn er sich eine neue Brille oder ein neues Hörgerät gekauft hat, hat sämtliche Rechtsweggarantien, d. h. alle Verwaltungsgerichtsinstanzen stehen ihm offen. Einer Asylbewerberin, bei der es um Leben oder Tod, um Folter oder Verhungern geht, wird von unserem Rechtsstaat gerade noch eine Instanz mit eingeschränktem Rechtsschutz zugestanden. Das ist genau das, was heute als institutioneller Rassismus bezeichnet werden muß.Dies wird auch beim Datenschutz für die Asylsuchenden überdeutlich: Das informationelle Recht auf Selbstbestimmung der Asylsuchenden wird von den den Gesetzentwurf tragenden Parteien mit Füßen getreten. Alle Asylsuchenden dürfen nach diesem Entwurf erkennungsdienstlich behandelt werden. Die Fingerabdrücke der Asylsuchenden sollen beim Bundeskriminalamt gespeichert und ausgewertet werden. Generalklauseln ermöglichen es dem BKA, die Daten auch zu anderen Zwecken zu benutzen, beispielsweise zur Abwehr bei erheblicher Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Die Daten aus der erkennungsdienstlichen Behandlung können selbstredend dann auch an die europäischen Sicherheitsbehörden weitergereicht werden.Das Gesetz gibt den bundesdeutschen Sicherheitsbehörden weitgehende Befugnisse für die Erhebung aller möglichen weiteren personenbezogenen Daten. Nach § 7 des Entwurfs sind diese Daten nicht nur beim Betroffenen zu erheben, sondern „dürfen auch ohne Mitwirkung des Betroffenen bei anderen öffentlichen Stellen, ausländischen Behörden und nichtöffentlichen Stellen erhoben werden ... "Der Ausländer wird nach § 15 nicht nur verpflichtet, „die vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu dulden", sondern er ist auch verpflichtet, „alle" erforderlichen „Urkunden und Unterlagen" zur „Feststellung" seiner „Identität", alle „von anderenStaaten erteilte Visa, Aufenthaltsgenehmigungen und sonstige Grenzübertrittspapiere", alle „Flugscheine und sonstige Fahrausweise", alle „Unterlagen über den Reiseweg ... " vorzulegen. Diese Mitwirkungspflicht soll dem Ausländer auch dann auferlegt werden, wenn er seinen Asylantrag zurückzieht.Haben Sie einmal überlegt, was dies für einen politisch Verfolgten oder gar für Kriegsflüchtlinge bedeutet? Ausgebombt und oft ohne Papiere haben Flüchtlinge in diesem Deutschland keine Chance mehr.Doch zurück zur Ausforschung. Zur Ausforschung der Asylsuchenden und ihrer Fluchtwege wurden die gesetzlichen Grundlagen gelegt. Sie erlauben es, unzählige Kilometer Akten innerhalb kürzester Zeit anzulegen. Es ist dies die Ausforschung von Menschen, wie man sie nur aus Unrechtsstaaten kennt. Es ist dies die Grundlage, aus der gleich mehrere Computer mehrerer Behörden bespeichert werden. Gespeist werden das Schengener Informationssystem, die einzurichtende Datei „Asylon", die einzurichtende Schlepperdatei, Ausländerzentralregister, Erkennungsdienst usw.Das ist noch durchaus ausbaufähig. Am Montag dieser Woche konnten Sie in der „taz" lesen, daß der Berliner Innensenator Asylberechtigten, Staatenlosen und Kontingentflüchtlingen, z. B. jüdischen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die einen Fremdenpaß oder einen Kinderausweis beantragen, ein Formblatt vorlegt, in dem Daten über Haarfarbe, Hautfarbe, Nasen- und Gesichtsform abgefragt werden.
— Ich habe diesen Fragebogen nicht gemacht. Er ist offenbar sehr typisch für die gegenwärtige Situation.Besonders gravierend ist natürlich, wenn durch dieses Gesetz die Handhabe dafür geliefert wird, daß Asylsuchende wegen minimalster Verstöße gegen das Ausländergesetz oder das Asylverfahrensgesetz in den Knast gesteckt werden. Allein der Umstand, daß Verstöße gegen die vorgeschriebene Aufenthaltsbeschränkung als Ordnungswidrigkeit im Erstfall und im Wiederholungsfall als Straftat mit Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe geahndet werden können, läßt Erinnerungen an Polizeistaaten aufkommen.Mit den Mitteln des unmittelbaren Zwangs wird die Weiterleitung des Asylsuchenden an die Aufnahmeeinrichtung durchgeführt. Dem Asylsuchenden werden dabei der Reiseweg und die Beförderungsmittel vorgeschrieben. Er hat — so steht es noch in dem Entwurf von November 1991 — dem unverzüglich Folge zu leisten. Auch wenn das in dem neuen Entwurf sprachlich etwas gesäubert worden ist, atmet auch dieser Entwurf den Geist des allumfassenden polizeilichen Regulierens.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6483Ulla JelpkeHier haben Bürokraten versucht, gewaltsam und schikanös das Leben von Menschen bis ins kleinste Detail hinein zu regulieren.Meine Damen und Herren, als sich am 24. Januar dieses Jahres die Regierungsparteien und die SPD auf den vorliegenden Kompromiß geeinigt hatten, versprachen einige Sozialdemokraten, daß man in den Fußnoten dieses Gesetzentwurfes noch die Frage der Finanzierbarkeit der Sammellager einbringen werde. Daß hier rechtsstaatliche und humanistische Prinzipien mit Füßen getreten werden, interessiert die SPD-Fraktion offenbar überhaupt nicht mehr.
Ihr Problem sind die reibungslose, zentralistische Umsetzung der Beschleunigung des Asylverfahrens und die Frage, wer die Unterbringung in freie oder freiwerdende Liegenschaften des Bundes zu finanzieren hat: der Bund oder die Länder. Die SPD möchte natürlich, daß die Kosten vom Bund übernommen werden.Noch einige Worte zum Bündnis 90/DIE GRÜNEN.
— Das werden Sie sich schon noch anhören müssen.
Bündnis 90/DIE GRÜNEN haben ein GesetzesSetting zur staatlich regulierten Einwanderung und Niederlassung vorgelegt. Zu begrüßen sind an diesem Gesetzespaket alle Regelungen, die die rechtliche Stellung der Ausländerinnen und Ausländer sowie der Flüchtlinge verbessern. Leider haben sich Bündnis 90/DIE GRÜNEN treffsicher dem politischen Trend in diesem Land angeschlossen. Sie haben daher folgerichtig mit der ehemals grünen Politik der offenen Grenzen gebrochen. Heute machen sie der Politik der offenen Grenzen den Vorwurf, sie würde wegen des Verzichts auf sozial verträgliche Gestaltung dem Rassismus Vorschub leisten.
In einem Punkt möchte ich die GRÜNEN besonders angreifen. Es geht um die staatlich regulierte Quotierung, die in dem Entwurf gefordert wird. Wer eine staatlich regulierte Einwanderungsquotierung fordert, kann nicht nur sagen, wer hereinkommt, sondern muß auch sagen, wer herausgeht.
Das machen wir nicht mit!Abschließend: Statt permanent Rechte für Ausländerinnen und Ausländer abzubauen, wäre eine wirkliche rechtliche und politische Gleichstellung mit den Deutschen notwendig. Dazu zählen soziale und menschenwürdige Lebensbedingungen wie auch das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Solange Ausländerinnen und Ausländer mit Sonderregelungen wie in diesem Asylverfahrensgesetz diskriminiert und kriminalisiert werden sollen, bleibt wenig Hoffnung auf ein freundschaftliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern. Wir lehnen das Asylverfahrensgesetz in jedem Punkt ab.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich folgende Zwischenbemerkung machen: Es ist in den letzten Tagen viel über Debattenkultur geredet worden. Wir können und wollen im Deutschen Bundestag nicht hinnehmen — darin waren wir uns immer einig —, daß Vergleiche gezogen werden, die hier nicht hingehören. Ich wiederhole hier, daß kein Demokrat des Deutschen Bundestages in die Nähe von Neonazis, Rechtsradikalen oder Terrorsystemen gerückt werden darf. Auch das gehört zur Debattenkultur.
Als nächster spricht der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Herr Teufel.Ministerpräsident Erwin Teufel (mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu meiner Vorrednerin nur drei Sätze: Gerade Sie von der PDS müssen vom Schutz des Grundrechts für politisch Verfolgte reden!
In keinem Land der Welt war die Kluft zwischem dem täglichen Ausrufen von Völkerfreundschaft und dem praktischen Verhalten im Alltag größer als in der früheren DDR.
Heute reden Sie von Menschlichkeit, während gestern in der DDR auf jeden Flüchtling geschossen wurde.
Meine Damen und Herren, zu Recht hat in dem Parteiengespräch beim Bundeskanzler am 10. Oktober 1991 der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Dr. Vogel, gesagt, daß Asylrecht sei ein Stück der Verfassungskultur der Bundesrepublik Deutschland.Ich stimme diesem Satz aus voller Überzeugung zu. Ein Stück Verfassungskultur ist aber das Asylrecht für politisch Verfolgte. Das war vom Verfassungsgeber in den Jahren 1948 und 1949 gemeint. Er hatte die Zeit von 1933 bis 1945 vor Augen. Er hat darauf mit dem Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte geantwortet. Daran darf überhaupt nicht gerüttelt werden. Das ist das eine.Der Parlamentarische Rat konnte aber in den Jahren 1948 und 1949 nicht die Situation der Jahre 1990, 1991 und 1992 vor Augen haben, in der Asylbewerber in großer Zahl aus Ländern kommen, in denen politische Verfolgung nicht stattfindet. Gleichwohl erhalten sie bei uns ein individuelles Prüfungsverfahren über
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6484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Ministerpräsident Erwin Teufel Monate und Jahre und ein vorläufiges Bleiberecht für diese Zeit.Wenn sie sich dann bereits teilweise integriert haben, kommen wir mit der Abschiebung, die dann in vielen Fällen in der Tat unmenschlich ist. Um Asylbewerber, die politisch verfolgt sind, von Asylbewerbern zu scheiden, die aus einem Land kommen, in dem zweifelsfrei politische Verfolgung nicht stattfindet, ist der Verfassungsgeber des Jahres 1992 gefordert, und er darf sich nicht versagen.
— Herr Kollege Hirsch, wir sind uns — das wissen wir aus vielen Gesprächen, die wir geführt haben —in der Analyse des Problems völlig einig, aber in dem Weg, der einzuschlagen ist, sind wir völlig auseinander. Sie werden das bei meinem Debattenbeitrag gleich wieder feststellen.
Sie haben leider den Schritt noch nicht getan, den beispielsweise vor wenigen Wochen Willy Brandt getan hat.
Er hat festgestellt, daß die Erfahrungen der 30er Jahre nicht mehr taugen, um die uns heute gestellten Fragen vernünftig zu beantworten.
Erfreulich ist, daß die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. nunmehr einen gemeinsamen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Asylverfahrens vorgelegt haben. Das verwirrende Hin und Her in der SPD und das Gegeneinander zwischen der Bundestagsfraktion der SPD und den SPD-regierten Ländern lassen mich allerdings die Frage stellen, ob die SPD insgesamt in dieser Frage überhaupt handlungsfähig ist.
— Herr Kollege Conradi, ich frage mit gutem Grund, ob alle in der SPD eine Vereinfachung und Beschleunigung der Asylverfahren und die Unterbringung in Sammelunterkünften überhaupt wollen. Die Bürger und die Kommunalpolitiker aller Parteien erwarten, daß über eine Lösung nicht mehr weiter diskutiert wird. Sie erwarten, daß sich der Staat in dieser Frage endlich als handlungsfähig erweist.
Meine Damen und Herren, ein Versuch der Novellierung der einschlägigen Gesetze — es wäre übrigens, wie der Bundesinnenminister zu Recht gesagt hat, der achte Versuch in wenigen Jahren — genügt in dieser Situation allein nicht mehr.Ich habe in dem Parteiengespräch beim Bundeskanzler und in der nachfolgenden Pressekonferenz gesagt, daß jede in Aussicht genommene Verfahrensbeschleunigung nützlich ist, aber nicht die Lösung des Problems bringt. Ich habe auf Grund von Erfahrungen in unserem Land gesagt, daß ein sogenanntes Sechswochenmodell ganz und gar unrealistisch ist. Jeder Fachmann sagt Ihnen, daß zwei Wochen für ein gerichtliches Verfahren eine ganz unmögliche Vorgabe sind.Es ist ein Armutszeugnis für die Politik, wenn ihr die nordrhein-westfälischen Verwaltungsrichter eine — ich zitiere — „geradezu erschreckende Unkenntnis der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten" vorwerfen müssen. Ich sage, wir geben unseren Kommunalpolitikern, die mit der Unterbringung nicht mehr fertig werden — und zwar gleichgültig, in welchem Land — Steine statt Brot.
Es geht nicht ohne eine Verfassungsänderung; das war meine Überzeugung, und das ist auch heute meine Überzeugung.
Es bedurfte nicht und es bedarf nicht der Erfahrungen mit dem sogenannten Sechswochenmodell, um vorherzusagen, daß es nicht die Lösung bringt, ebensowenig wie die vorangegangenen Versuche eine Lösung brachten. Es genügen die Erfahrungen der vergangenen Jahre.Die Entwicklung seit der Vereinbarung der Parteien beim Bundeskanzler hat meine Einschätzung bestätigt. Noch ist kein Asylbewerber durch das neue Modell gegangen. Es liegen noch nicht einmal die rechtlichen Voraussetzungen vor, geschweige denn eine flächendeckende organisatorische Infrastruktur.Trotz unserer begründeten Skepsis haben wir in Baden-Württemberg als erstes Land die Voraussetzungen für das sogenannte Sechswochenmodell geschaffen. Wir streuen also keinen Sand in das Getriebe. Wir haben nicht gesagt: Weil vorauszusehen ist, daß das Sechswochenmodell nicht funktioniert, tun wir nichts, um abzuwarten, ob es scheitert. Vielmehr haben wir bereits gehandelt. Die beiden Gesetze für die Einrichtung von Sammellagern und für die dezentrale Einrichtung von Außenstellen der Verwaltungsgerichte sind in unserem Land vom Parlament bereits verabschiedet.
Wir müssen nach der damaligen Vereinbarung 5 472 Plätze in Sammellagern schaffen. Wir haben im ersten Halbjahr 1992 11 000 Plätze zur Verfügung und werden zur Umsetzung des Modells weitere 3 550 Plätze in ehemaligen Kasernen schaffen. Wir haben im Dezember des letzten Jahres 294 neue Stellen in der Asylverwaltung und 50 neue Richterstellen geschaffen und zu einem großen Teil bereits besetzt. Soeben hat der Landtag von Baden-Württemberg 165 Millionen DM für überplanmäßige Ausgaben 1992 genehmigt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6485
Ministerpräsident Erwin Teufel
Meine Damen und Herren, wer handelt, der hat auch das Recht, Fragen zu stellen, ob dieses Modell überhaupt funktioniert.
Ich frage: Wie sieht es eigentlich mit der Realisierung in den anderen Ländern aus, die die Befürworter des sogenannten Sechswochenmodells waren? Wie viele Plätze in Sammelunterkünften stehen zur Verfügung? Wie viele Richterstellen sind geschaffen?Kein SPD-regiertes Land hat bisher eine Gesetzesinitiative ergriffen.
Kein SPD-regiertes Land hat bisher zusätzliche Planstellen in der Asylverwaltung geschaffen.
Die in diesen Ländern zusätzlich bereitgestellten Plätze in Sammelunterkünften bewegen sich ausnahmslos — Umfrage aus dieser Woche — zwischen 500 und 1 500 Plätzen.
Dies zeigt, daß die SPD hier in diesem Hause von Beschleunigung redet und ein Sechswochenmodell anbietet, aber in der Praxis der Herausforderung durch die Asylproblematik nicht gewachsen ist.
Ich empfehle der SPD sehr, sich einmal bei ihren eigenen Bürgermeistern und Oberstadtdirektoren, bei den Leuten der Basis vor Ort umzuhören, die dieses politische Versagen tagtäglich auszubaden haben. Die führenden SPD-Kommunalpolitiker in Baden-Württemberg vertreten keine andere Auffassung als die CDU-Landesregierung von Baden-Württemberg.Frau Däubler-Gmelin, Sie haben das in der letzten Debatte bestritten. Ich habe inzwischen mit den Oberbürgermeistern gesprochen, die Ihrer Partei angehören und die mit Ihnen telefoniert haben. Ich möchte Ihnen ersparen, diese Telefongespräche hier wiederzugeben.
Die Zusage für eine „schnelle Umsetzung" — ich zitiere jetzt Frau Dr. Däubler-Gmelin — „hier im Bundestag und in den Ländern", die Sie am 18. Oktober 1991 gegeben haben, ist bis zur Stunde nicht eingelöst worden. Immer wieder werden von SPDgeführten Ländern neue Probleme aufgeworfen: Größe der Sammellager, Übertragung weiterer Zuständigkeiten auf den Bund, Verlängerung der Rechtswege, keine Abschiebehaft. Ich kann nur feststellen, Frau Däubler-Gmelin, daß nicht wir, sondern die SPD die laufende Debatte „chaotisiert".
Nicht wir, wie Herr Kollege Schröder meint, sondern die SPD betreibt hier „Täuschungsmanöver". Dieser Begriff stammt nicht von mir, sondern von ihm. Deutlich wird das, wenn Herr Kollege Eichel aus Hessen sagt, er fühle sich nicht gebunden an das — ich zitiere wörtlich —, „was der SPD-Parteivorstand oder die SPD-Bundestagsfraktion aushandeln".
Meine Damen und Herren, mit sieben Versuchen der Verfahrensbeschleunigung in der Vergangenheit ist es nicht gelungen, den Asylbewerberzugang zu reduzieren: 1988 103 000 Asylbewerber, 1989 121 000, 1990 193 000, 1991 256 000.
— Meine Damen und Herren, Franz Josef Strauß hat einmal gesagt, Generale kann man anschnauzen, Zahlen nicht.
1991 wurden in Baden-Württemberg 43 000 Asylanträge gestellt. Das waren 54 % mehr als im Vorjahr. Aber die Entwicklung geht weiter. Die Zugangszahlen des Januar 1992 liegen wiederum doppelt so hoch wie die Zugangszahlen des Januar 1991; innerhalb eines Jahres von Januar zu Januar eine Verdoppelung! Wie lange soll es denn so weitergehen, bis etwas Wirksames geschieht?Alle hier im Parlament wissen, auch wenn sie es nicht offen zugeben, daß das Asylproblem ein Zugangsproblem und nicht ein Verteilungsproblem ist.
Nur wenn es gelingt, diesen Zugang in den Griff zu bekommen, können wir ein individuelles Prüfungsverfahren und das Asylrecht für die wirklich politisch Verfolgten auf Dauer sichern, und das wollen wir.Ich bin daher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankbar, daß sie eine Gesetzesinitiative zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht hat, denn nach zehn Jahren Diskussion, in denen uns in den Ländern und Gemeinden die Probleme langsam über den Kopf wachsen, ist jetzt endlich Handeln angesagt.
Ich bedanke mich bei der CDU/CSU-Fraktion, und zwar nicht nur im Namen der Landesregierung von Baden-Württemberg, sondern auch im Namen der vielen SPD-Bürgermeister und Oberbürgermeister
— ich teile sie Ihnen schriftlich mit Namen mit, wenn Sie sie haben wollen, meine Damen und Herren —, die schon seit langem auf eine rechtsstaatliche, verfassungskonforme Verhinderung des Asylmißbrauchs unter Beibehaltung des Rechts auf Asyl für politisch Verfolgte warten.Gegenläufig zum Zugang von Asylbewerbern ist die Anerkennungsquote. Auch der UN-Flüchtlingshochkommissar sieht, daß das Asylrecht zu einem beträchtlichen Teil als Einwanderungsrecht mißbraucht wird. Die Konsequenz für einen vernünftig denkenden Menschen kann daher nur sein, daß Asylbewerber, die ganz offensichtlich nicht politisch verfolgt werden, vom üblichen Asylverfahren mit Bleiberecht ausgeschlossen werden.
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6486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Ministerpräsident Erwin Teufel
Meine Damen und Herren, erst auf dieser Grundlage kann eine Verfahrensbeschleunigung zum Erfolg führen. Das Asylrecht für politisch Verfolgte — ich sage es noch einmal — darf nicht angetastet werden. Aber Asylbewerber, die aus Staaten kommen, in denen sie vor Verfolgung sicher waren, müssen zurückgewiesen werden können.
Herr Kollege Hirsch, Sie sagten vorhin, die Länderliste sei nicht wirksam. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß unsere Vorschläge drei Zielrichtungen haben, nicht aber nur eine Zielrichtung, nämlich die Länderliste, die im übrigen bis vor einem Jahr noch sehr erfolgreich gewesen wäre und die, so hoffe ich, nach dem Bürgerkrieg in Jugoslawien wieder erfolgreich sein wird.Dasselbe muß übrigens für Asylbewerber gelten, die in ihrer Heimat politisch verfolgt waren, aber in einem sicheren Drittstaat vorläufige Aufnahme gefunden haben.Dies sind die Kernpunkte des baden-württembergischen Gesetzesantrags, den wir im Bundesrat eingebracht haben. Sie decken sich auf Punkt und Komma mit dem Anliegen des Antrags der CDU/CSU-Fraktion. Dessen Verabschiedung würde uns einen großen Schritt voranbringen. Jetzt stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit des Staates. Wer sich in dieser bedrängenden Situation einer Verfassungsänderung verweigert, der lädt eine große Verantwortung auf sich.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen der SPD und der F.D.P., jetzt zu handeln, bevor rechtsextreme Gruppierungen in die Parlamente kommen, weil sie Zulauf von Protestwählern erhalten. Handeln Sie nicht erst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist! Wir müssen Antworten für die Bürger finden, die ihnen zeigen, wie die Probleme gelöst werden können, denn sonst ist sehr schnell ein Umschlagen der öffentlichen Meinung in die Ablehnung alles Fremden zu befürchten.Meine Damen und Herren, wir können uns nicht der Diskussion über eine Ergänzung des Grundgesetzes aus dem Jahre 1949 entziehen, wenn die Folgen 1992 untragbar geworden sind. Das konnte niemand voraussagen. Meine Damen und Herren von der SPD, die Menschen sind die ganze Taktiererei doch leid. Sie erwarten von uns entschlossenes Handeln, und wir sind ja schließlich auch gewählt, um geschlossen und entschlossen zu handeln. Ich sage Ihnen eines voraus: Weiteres Taktieren in der Asylfrage wird Sie in genau die gleiche Sackgasse führen, in die Sie im Steuerstreit geraten sind, in die gleiche Sackgasse!
Meine Damen und Herren von der SPD und der F.D.P., sagen Sie doch endlich den befreienden Satz, daß Sie bei einer Grundgesetzänderung mitmachen! Denn Sie wissen doch ganz genau, daß Sie diese Grundgesetzänderung mit uns beschließen, wenn nicht vor dem 5. April, dann nach dem 5. April.
Sie wissen auch ganz genau, daß alle anderen Lösungsansätze nicht die Lösung des Problems gebracht haben und die Lösung des Problems auch nicht bringen. Wie Sie es auch drehen und wenden: Ohne eine Änderung des Grundgesetzes werden wir auch in Zukunft über die weitere Steigerung der Asylbewerberzahlen diskutieren. Aber dann wird die Geduld der Bürger zu Ende sein. Dann werden sie sagen, daß „die in Bonn" über die Probleme nur reden, anstatt sie zu lösen.Meine Damen und Herren, der einzige Fortschritt der Diskussion der letzten Monate scheint mir das Bekenntnis aller Parteien zur europäischen Harmonisierung zu sein. Ich warne jedoch auch hier vor Falschmünzerei. Wenn wir eine europäische Harmonisierung anstreben, kann das nicht heißen, daß wir erwarten, daß unsere Nachbarn unser Asylrecht übernehmen. Moralische Überlegenheit wegen unseres Asylrechts gegenüber unseren europäischen Nachbarn zu demonstrieren ist sicher nicht der richtige Weg, zu einer europäischen Harmonisierung zu kommen. Ich glaube, die Tradition Frankreichs, wo Heinrich Heine, und Englands, wo Karl Marx Aufnahme gefunden haben, läßt sich durch die auch auf diesem Gebiet zu spät gekommenen Deutschen kaum übertreffen.
Der nationale Vorbehalt, den wir beim Dubliner und Schengener Abkommen angebracht haben, wirkt sicher nicht als vertrauensbildende Maßnahme für ein europäisches Asylrecht. Die anderen europäischen Staaten sind verständlicherweise nicht bereit, die Probleme des deutschen Asylrechts auf ihre Schultern abwälzen zu lassen. Die Bundesrepublik muß vielmehr ein klares Zeichen setzen, daß sie an einer europäischen Regelung mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen will und kann. Die EG-Kommission hat eindeutig klargestellt: Künftig darf sich kein Mitgliedstaat auf einen Vorbehalt nationalen Rechts berufen. Wer das deutsche Asylrecht zum Maßstab für Europa nimmt, für den ist die europäische Harmonisierung nur ein Alibi: ein Alibi für die Verhinderung jeder echten Problemlösung.
Meine Damen und Herren, das Verständnis und die Geduld der Menschen wurden in dieser Frage nun lange genug strapaziert. Die Bürger verlangen eine Entscheidung und eine tragfähige und dauerhafte Lösung des Problems. Damit haben sie recht. Niemand von uns darf ein Interesse daran haben, daß die Lösung des Asylproblems immer weiter verschoben wird, zumal auf europäischer Ebene ohne eine Grundgesetzänderung bei uns überhaupt nichts Vernünftiges zustande gebracht werden kann. Die Beschleunigung der Asylverfahren ist der erste gemeinsame Schritt. Die Grundgesetzänderung muß unser nächster gemeinsamer Schritt sein.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6487
Ministerpräsident Erwin Teufel
Meine Damen und Herren von der SPD und der F.D.P., machen Sie nun doch endlich mit, und zwar jetzt und nicht erst nach dem 5. April!
Wenn Sie von Gebetsmühle reden: Die Gebetsmühle wird nur deshalb weitergedreht, weil Sie sich einer Lösung des Problems bis zum heutigen Tage versagen.
Der Mißbrauch des Asyls bindet finanzielle Ressourcen, die wesentlich besser in der Entwicklungshilfe zur Armutsbekämpfung vor Ort eingesetzt würden. Hier bin ich wiederum mit Ihnen einig, Herr Kollege Hirsch.
Die quälende Asyldebatte bindet seit Jahren Zeit und politische Energie, die wir besser für einen realistischen Beitrag zur Ursachenbekämpfung vor Ort einsetzen sollten. Das ist eigentlich die nächste große Aufgabe, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Ich habe noch nie, auch nicht in Wahlversammlungen, über dieses schwierige Thema gesprochen, ohne daß ich über die Ursachen und über die Ursachenbekämpfung gesprochen hätte.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an die Abgeordneten von SPD und F.D.P., ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Wer dieser Aufgabe heute nicht gerecht wird, der trägt auch die Verantwortung dafür, wenn in der Bevölkerung das individuelle Grundrecht auf Asyl insgesamt zunehmend in Frage gestellt wird.
Gerade wer das Grundrecht jedes politisch Verfolgten erhalten will — und das sind wir alle —, muß jetzt entschieden handeln.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Teufel, in Baden-Württemberg ist Wahlkampf.
Leider, muß ich sagen, hat man es Ihrer Rede mehr angemerkt, als Ihrer Rede und vor allen Dingen dem Problem, um das wir heute ringen, miteinander ringen, guttut.
Ich weiß nun, daß es eine ganze Menge auch von Journalistinnen und Journalisten gibt, die mit Sorge in den heutigen Debattentag gegangen sind, weil sie gemeint haben, hier wird jetzt nur noch gebolzt, geholzt und Wahlkampf gemacht. Gerade deshalb, glaube ich, tun wir alle gut daran, übrigens auch Sie, meine Damen und Herren Kollegen aus der baden-württembergischen CDU, jetzt diesen Stil und diese Art Äußerungen zu verlassen und zu dem zurückzufinden, was wir hier zu diskutieren haben.
— Sie brauchen gar nicht zu schreien. Sie brauchen sich hier auch gar nicht mit bösen Zwischenrufen zu engagieren. Wenn Sie eine Zwischenfrage haben, hier stehen die Mikrophone; ich antworte gerne.
Herr Ministerpräsident Teufel, ich bin der Auffassung, wir sollten uns — gerade zu Beginn meiner Rede möchte ich das sagen — auf drei Grundsätze einigen können.Der Grundsatz Nummer eins ist, daß wir gerade dann, wenn wir die Zuwanderungs- und Flüchtlingsprobleme lösen wollen — und das deutsche Asylrecht, das deutsche Asylverfahren, ist ein Teil, aber auch nur ein Teil —, unterstreichen, daß wir das nur gemeinsam schaffen; wir schaffen das nur gemeinsam in Deutschland, und wir schaffen es nur gemeinsam in Europa.
Sie haben dazu manches Richtige und schrecklich viel Falsches gesagt, Herr Teufel.Was mich am meisten an dem gestört hat, was Sie zu Europa sagten, war, daß Sie den Blick immer nur nach Westen, aber nie in Richtung auf unsere östlichen Nachbarn gerichtet haben, obwohl jeder von uns weiß: Seit Anfang der 90er Jahre hat sich vieles verändert. Wir haben nicht mehr nur offene Grenzen im Westen, sondern wir haben jetzt auch offene Grenzen im Osten, nachdem der Eiserne Vorhang weg ist.
Ja. Aber das müssen wir halt auch mitbedenken.
Die Zuwanderung bei uns kommt doch nicht über die EG-Staaten, und sie kommt nicht aus den westlichen Nachbarländern. Die Zuwanderung kommt aus Südosteuropa, sie kommt aus Osteuropa, und sie kommt zu ganz großen Teilen, praktisch ausschließlich über drei unserer östlichen Nachbarn, über Österreich — das sind die Jugoslawen —, über die Tschechoslowakei und über Polen. Deswegen sage ich Ihnen — ich werde darauf nachher noch weiter eingehen —: Wer eine gemeinsame Lösung will, der muß sie nicht nur hier und nicht nur beim Asylverfahrensrecht suchen — darüber reden wir heute, da bitten wir Sie um Unterstützung, nicht um Wahlkampfgeklingel —, der muß sie in Europa suchen, in Westeuropa und in Osteuropa, meine Damen und Herren, und der darf vor allen Dingen nicht vergessen und nicht übersehen wollen, daß Zugangsprobleme, Herr Ministerpräsident Teufel, von denen Sie zu Recht reden, nur dann gelöst werden können, wenn Sie hier in Zukunft nicht mehr nur eine von zwanzig Minuten über Fluchtursachen und deren Bekämpfung reden,
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6488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Herta Däubler-Gmelinsondern wenn diese Frage hier im Bundestag und auch in Baden-Württemberg zu dem Thema gemacht wird, das es tatsächlich ist, zu einem Hauptpunkt.Herr Teufel, Sie haben in einem Punkt völlig recht — diesen Punkt betonen auch wir immer wieder
— nein, Sie haben da recht, aber das ist ein Punkt, den auch wir immer wieder betonen —: Die Bürger verlangen von uns allen, daß wir die Probleme nicht nur erkennen,
sondern daß wir sie in Angriff nehmen, daß wir sie lösen, und das geht nur gemeinsam.Meine Damen und Herren, wer den Gemeinden helfen will, darf sich nicht auf Wortgeklingel und Propagandaforderungen beschränken. Ich habe immer gedacht, nur Ihr Vorgänger, Herr Späth, sei dadurch charakterisiert gewesen, daß man ihm nachsagte, bei ihm stiegen die Luftballons laut und platzten dann leise.
Ich habe den Eindruck, daß es Ihnen, Herr Teufel, genauso geht, wenn Sie sich weiter in die Diskussion über Art. 16 versteifen, anstatt für praktische Lösungen einzutreten.
Wer den Gemeinden helfen will,
der muß doch schauen, wo die Probleme liegen.
Und Sie, Herr Ministerpräsident, brauchen gar nicht anzudeuten oder zu drohen, daß es in Baden-Württemberg Bürgermeister gebe, die Ihnen zustimmten. Sie haben hier die Freiheit, Herr Ministerpräsident, und die Möglichkeit, hier alles offen zu sagen, was Sie wollen. Nur, belassen Sie es bitte nicht bei Andeutungen oder Drohungen!Wir haben hier im Hause Kollegen — einer von ihnen ist der Kollege Vosen —, der Bürgermeister in Düren ist.
— Herr Olderog, ich weiß, Sie werden nachher noch reden. Sie können nachher doch auch sagen, was Sie wollen. Lassen Sie uns jetzt einmal ganz konkret auf die Probleme der Gemeinde Düren eingehen, die der Bürgermeister dieser Gemeinde, Herr Vosen, deutlich vorgebracht hat.
— Nein, ich rede jetzt zunächst von Düren — Sie können nachher von anderen reden —, und in Düren ist es so: „Jupp" Vosen, den Sie als Kollegen alle kennen und schätzen, hat in seiner Gemeinde mit 88 000 Einwohnern folgende Probleme: Er hat in den letzten vier bis fünf Jahren 4 200 Aussiedler aufgenommen, und 750 Flüchtlinge. Das ist für eine solche Gemeinde furchtbar viel.Aber, meine Damen und Herren, warum ist denn das so schwierig? Das ist deshalb so schwierig, weil — ich betone das — unter Ihrer politischen Verantwortung der Wohnungsbau gerade im sozialen Bereich abgebaut wurde.
Es ist deswegen so schwierig, weil Mangel an Kindergartenplätzen besteht. Das ist deshalb so schwierig, weil die Infrastruktur nicht ausreicht. Deswegen, meine Damen und Herren — da können Sie nun schreien oder nicht; das ändert am Problem gar nichts —: Wer den Gemeinden helfen will, der muß beim Bau von Wohnungen und der Verbesserung der Infrastruktur helfen,
der muß — und deswegen bestehen wir auf der Umsetzung der im Kanzleramt im Oktober letzten Jahres getroffenen Vereinbarung — die Verfahren, die darüber entscheiden, ob Flüchtlinge hierbleiben können oder nicht, mit uns rechtsstaatlich entbürokratisieren und so beschleunigen, daß die Gemeinden eine erhebliche Entlastung erfahren. Das ist dringend erforderlich.
Meine Damen und Herren, von der Union, einen weiteren Grundsatz möchte ich Ihnen mindestens genauso gründlich ins Stammbuch schreiben wie Ihnen, Herr Ministerpräsident Teufel: Wir streiten hier ganz offensichtlich über den richtigen Weg, die Flüchtlings- und Zuwanderungsprobleme zu lösen. Dieser Streit darf nicht auf dem Rücken der Menschen, der Flüchtlinge ausgetragen werden, die sich nicht wehren können.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Ich danke jedem Bürgermeister, ich danke jeder kirchlichen Gemeinde — übrigens ganz besonders der von Norderstedt —,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6489
Dr. Herta Däubler-GmelinIch danke jedem Sportverein und jedem Bürgerverein, die sich um Verständnis bemühen, die sich um Hilfe bemühen. Ich weiß, was das für Zeit und Nervenkraft kostet, Frau Roitzsch; das können Sie mir glauben. Und ich danke jedem von denen, die nicht Ausgrenzung, die nicht Angst zum Maßstab ihres Handelns machen. Die tragen nämlich wirklich praktisch dazu bei, daß Ausländerhall und Fremdenfeindlichkeit bei uns nicht entstehen können.
Meine Damen und Herren, wir hier werden gefordert, und wir sind gefordert zu handeln. Deswegen möchte ich jetzt noch auf drei Punkte eingehen, bei denen das vordringlich ist.Das ist so zum ersten bei der Bekämpfung der Fluchtursachen. Herr Ministerpräsident Teufel, ich hätte sehr gerne, daß gerade Sie in Baden-Württemberg erheblich mehr Verständnis dafür wecken, daß das Zugangsproblem, von dem Sie sprechen, daß die Zahl der Zuwanderer und Flüchtlinge eben nicht ein Problem deutscher Gesetze — welcher Qualität auch immer — ist, auch nicht eines des Art. 16, sondern ein Problem der Umstände und vor allen Dingen der Möglichkeit, jetzt nach Mittel- und Westeuropa zu kommen, nachdem der Eiserne Vorhang im Osten weg ist.Wir wissen doch: Von den 256 000 Asylsuchenden im vergangenen Jahr sind mehr als ein Drittel Jugoslawen, die mit ihren Familien gekommen sind. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die vorher Art. 16 durchgelesen haben oder wissen, was bei uns im Asylverfahrensrecht, übrigens auch nicht in seiner Beschleunigungsversion, steht. Die flüchten aus Jugoslawien, weil dort der Bürgerkrieg tobt. Sie werden es weiterhin tun, solange er tobt. Das gleiche gilt für die Türken, die Rumänen und die Bulgaren — nur mit anderen Gründen.Gerade weil das so wichtig ist, bitte ich Sie darum, ehrlich und offen mit den Bürgern darüber zu sprechen. Unser Kollege Verheugen wird das nachher in einem sehr ausführlichen Beitrag auch hier tun, eben deshalb, meine Damen und Herren, weil es nicht reicht, die Fluchtursachen sozusagen als Ritual am Ende einer Rede zu erwähnen. Vielmehr werden von Ihnen und von uns hier im Bundestag eine Menge an Entscheidungen verlangt. Es wird von Ihnen und uns — dies geht aber, glaube ich, mehr in Richtung der Union — verlangt, daß Sie in der Öffentlichkeit mehr Verständnis für die schwierige Situation erwecken; sonst kommen wir nicht weiter.
Jetzt zu den Gemeinden und zum Asylverfahrensgesetz. Sie sagen immer wieder, dieses Gesetz könne nichts bringen. Lieber Herr Teufel, das nehme ich Ihnen deshalb übel, weil ich weiß — ich nenne im Gegensatz zu Ihnen auch Namen und Stellen —, was die baden-württembergischen Verwaltungsfachleute davon halten.
— Wenn es auch die Lösung des Problems nicht vollständig bringen kann, so sind wir doch schon wieder ein Stück weiter. Ich danke Ihnen, daß Sie das sagen; wieder ein Stück weniger Wahlkampfrede; das finde ich gut.
Herr Seiters hat das übrigens noch deutlicher unterstrichen. Ich bin dafür dankbar — sonst macht es keinen Sinn, meine Damen und Herren, daß Sie den Gesetzentwurf mit einbringen —,
daß der Gesetzentwurf in weiten Bereichen das umsetzt, was wir in der Vereinbarung vom 10. Oktober des letzten Jahres wollten.Was haben wir gewollt? Herr Teufel, wir haben gewollt — und das können wir erreichen —, daß die rund 40 % der Menschen, die als Asylbewerber und Flüchtlinge zu uns kommen und bleiben können, durch die viel schnellere Anerkennung früher aus der Verfahrensmühle herauskommen und daß sie den Gemeinden nicht mehr zur Last fallen. Das ist schon ein dicker Brocken. Übrigens bringt das auch Gutes für die betroffenen Flüchtlinge selber. Ich finde es schade, daß in der Öffentlichkeit nicht auch auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen wird.Was wir weiter zu erreichen versuchen — und das geht, wenn Sie sich nicht sperren und wenn wir den Grundsatz der Gemeinsamkeit wirklich bemühen — ist, daß wir die abgelehnten Asylsuchenden in den offensichtlich einfachen Fällen, also bei offensichtlicher Unbegründetheit, wie die Verwaltungsjuristen sagen, nach kurzer Zeit — ich hätte es gerne nach sechs Wochen und halte den Versuch wirklich für wert— mit viel größerem Nachdruck und auch sehr viel größerer Wirkung auffordern können, das Land zu verlassen. Auch das ist nach kurzer Zeit viel leichter durchzusetzen als nach vier Jahren oder noch längerer Zeit.
Da liegt natürlich auch ein Gewinn für die Gemeinden, einfach deshalb, weil die Gemeinden diese Menschen anders als heute künftig nicht mehr zugewiesen bekommen.
— Kollege Marschewski, einen kleinen Moment, bitte!Die Gemeinden bekommen nur noch die restliche Gruppe dazwischen, die wahrscheinlich nicht größer sein wird — wenn wir es gescheit machen — als 20 bis 30 % der heutigen Zahlen, bei denen es nun wirklich schwierig ist und länger dauert, festzustellen, ob sie bleiben können.Lassen Sie uns als Gemeinsamkeit festhalten: Maßstab dafür, ob jemand bleiben kann, ist keineswegs
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6490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Herta Däubler-Gmelinallein Art. 16; das wissen Sie doch. Maßstab ist gleichermaßen die Genfer Flüchtlingskonvention, die bei uns als Völkerrecht gilt und die auch Sie nicht anknabbern können.
Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin — —
Letzter Satz, Herr Präsident, dann mag Herr Marschewski zu Wort kommen; er weiß das.
Maßstab sind zum dritten auch die humanitären Verpflichtungen, die wir haben. Es gibt kein Bundesland — übrigens Gott sei Dank auch nicht Baden-Württemberg —, das über diese humanitären Gründe als Abschiebungshindernisse hinweggeht.
Bitte schön, Kollege Marschewski.
Frau Kollegin, was Sie vorhin zu den offensichtlich unbegründeten Fällen gesagt haben, entspricht der derzeitigen Rechtslage. Können Sie mir sagen, warum das Land Nordrhein-Westfalen bezüglich dieser Rechtslage nicht gehandelt und die Leute unmittelbar ausgewiesen hat?
Lieber Herr Marschewski, das war nun wirklich eine hinreißende Frage,
weil Sie einerseits wissen, daß das so nicht stimmt, und weil, zum zweiten, der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen hier sitzt, der sich das bestimmt aufgeschrieben hat und Ihnen nachher sicher gerne antwortet, sofern es sich lohnt.
— Herr Kauder, Sie sind auch einer der liebenswürdigen CDU-Kollegen, der sich auf Zwischenrufe spezialisiert. Dort ist das Mikrofon, bitte schön.
Solange Sie keine Zwischenfrage haben, die ich Ihnen auch beantworten würde — ich halte es mit Carlo Schmid —, hätte ich ganz gern, daß Sie zuhören. Ich will nämlich noch ein bißchen mehr sagen, gerade zur europäischen Lösung, die wir anstreben.
Ich darf an dieser Stelle noch einmal unterstreichen, meine Damen und Herren, daß ich es gut finde, wenn jede politisch verantwortliche Partei in diesem Hause sagt: Gerade das geeinte Deutschland muß seinen Teil dazu beitragen, daß europäisch gedacht und unsere Politik darauf ausgerichtet wird.
Im übrigen geht es bei der Flüchtlingspolitik, der Zuwanderungspolitik und der Asylpolitik auch nicht anders, gerade wenn man es ernst meint mit dem Willen, die Probleme zu lösen.
1988, als sich der Binnenmarkt bereits abzeichnete und Schengen vor der Tür stand, haben wir hier im Bundestag schon einmal über alle diese Fragen diskutiert. Wir waren es, die dem damaligen Bundesinnenminister Zimmermann gesagt haben: Wir sind für den europäischen Weg. Wir haben auch erklärt — das habe damals ich ausgeführt; deshalb weiß ich es noch so gut —, für welchen europäischen Weg wir sind. Wir haben gesagt: Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention sollen die Grundlage für die — damals auf den Westen ausgerichtete — europäische Regelung sein. Das hatte übrigens das Europäische Parlament mit Zustimmung der Kollegen der CDU dort, anders als hier, längst beschlossen. Dieses gilt auch heute noch.
— Es ist gut, Herr Schäuble, daß Sie das sagen; das ist vielleicht ein kleiner Fortschritt. Das finde ich gut.
Heute hat sich in der Gesamtlage Europas einiges geändert. Die Rezepte von damals gelten zwar auch noch, aber sie reichen längst nicht mehr aus. Herr Ministerpräsident Teufel hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es viel besser ist, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen, als sie zu bekämpfen. Es gab in Deutschland im letzten Jahr 256 000 Flüchtlinge. Von ihnen sind etwa drei Viertel eben nicht über den Westen gekommen, nicht über unsere westlichen Nachbarstaaten, sondern über die östlichen Nachbarstaaten. Das ist neu seit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs und macht einen entscheidenden Unterschied, weil j eder, der heute von Europa redet, nicht mehr nur nach Westen blicken darf, sondern auch nach Osten blicken muß. Deshalb muß eine gesamteuropäische Lösung unsere östlichen Nachbarn mit einbeziehen. Das betrifft die Polen, die Tschechoslowaken, die jetzt noch nicht der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sind — ich hoffe aber, Herr Seiters, das wird bald so sein —, und natürlich auch die Österreicher.
Ich will noch einmal anführen, warum Schengen allein nicht genügt. Vielleicht erübrigt sich dann Ihre Frage, Frau Hellwig; wenn nicht, haben wir dafür später noch Zeit.
Schengen will zweierlei, nämlich zum einen, daß Doppelarbeit zwischen Staaten vermieden wird, die sich auf der gemeinsamen Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und einer gemeinsamen europäischen Anwendungsvereinbarung vergleichbar verhalten und gemeinsame Mindeststandards bei den Verfahren anerkennen. Das finde ich vernünftig, auch für uns.
Das Fragebedürfnis der Kollegin Hellwig besteht nach wie vor. Sind Sie bereit zu antworten?
Danke schön, Herr Präsident. Ich habe es mitbekommen. Ich habe sie gebeten, vielleicht noch drei Minuten zu warten — wenn Sie nichts dagegen haben —, weil ich die Unterschiede noch deutlicher machen will. Ich bin sicher, die Kollegin Hellwig interessiert das auch.Schengen geht davon aus — das ist gut, habe ich gesagt —, daß Doppelarbeit unter Staaten vermieden
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6491
Dr. Herta Däubler-Gmelinwerden soll, die auf gemeinsame Grundlagen bei der inhaltlichen Anwendung und im Verfahrensbereich der Genfer Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtskonvention aufbauen. Solche gemeinsamen Grundlagen mit den östlichen Staaten gibt es noch nicht.Und jetzt zu einem zweiten Unterschied. Das Schengener Abkommen geht davon aus, daß Flüchtlinge, die in einem dritten Staat, in einem sogenannt sicheren Staat, Aufnahme gefunden haben, zurückgeschickt werden können. Wenn man sich aber die Zahlen und die Richtung der Flüchtlingsströme zwischen West und Ost anschaut, stößt man auf folgendes Problem. Gegenüber Frankreich ginge das, vorausgesetzt, es gibt gemeinsame Grundlagen und gemeinsame Standards, weil von dort aus ganz wenige zu uns kommen. Nach Osten ist das anders. Was würde eigentlich passieren, wenn wir die mehr als 75 000 Jugoslawen, auch wenn wir es könnten, letztes Jahr nach Österreich oder in die CSFR zurückgeschoben hätten? Sie wissen ganz genau, daß das nicht gegangen wäre.Deswegen bedeutet eine gesamteuropäische Lösung in unserem eigenen und im Interesse Europas mehr, Herr Seiters, als das, was Sie in Ihrem sonst interessanten Beitrag ausgeführt haben. Es geht nicht nur um die Möglichkeit der Zurückschiebung aus deren Recht und aus unserem Recht heraus. Das, was wir brauchen — da biete ich Ihnen heute zum drittenmal unsere Hilfe an —, ist eine Vereinbarung über gemeinsame Mindeststandards und über eine europaweite Verteilung derer, die bleiben dürfen.Bitte schön, Frau Hellwig.
Frau Däubler-Gmelin, ich habe eine ganz präzise Frage, die ich Sie bitte auch ganz präzise zu beantworten.
Das tue ich immer.
Es geht um die Frage, ob dann, wenn gemäß den Abkommen von Dublin und Schengen in einem der Mitgliedstaaten der EG ein Asylbewerber rechtskräftig abgelehnt ist — ob es 10 % derer sind, die zu uns kommen, oder ob es 90 % sind, sei dahingestellt —, diese Ablehnung in allen Mitgliedstaaten der EG gilt. Sind wir jetzt das einzige Land, in dem das nicht gelten soll, ja oder nein?
Liebe Frau Hellwig, wir haben in Schengen — —
Ich habe ganz präzise nach ja oder nein gefragt: Sind wir das einzige Land, oder sind wir es nicht?
Ich verstehe die Zwischenrufe der Kolleginnen und Kollegen von der
Union so, daß ich jetzt Frau Hellwig sehr deutlich und möglichst noch unhöflich anreden soll,
aber das tue ich nicht. Vielmehr beginne ich meine Antwort so, wie ich das möchte und sage Ihnen folgendes: Liebe Frau Hellwig, Schengen ist mit Vorbehalt abgeschlossen worden. Wenn Sie hiergegen Bedenken haben, wenden Sie sich bitte an Herrn Schäuble; er hat den Vertrag abgeschlossen.
1988, als hier schon einmal dazu diskutiert wurde,
haben Herr Bundesinnenminister Zimmermann und vor allem auch der Kollege Gerster ausdrücklich betont: Wir wollen erstens keine Veränderung in Art. 16 wegen Schengen und zweitens wissen wir, daß wir die nicht kriegen. Recht haben sie.
Wissen Sie, Frau Hellwig, warum ich Ihre Frage so ausführlich beantwortet habe?
Ich sage Ihnen das gern. Ich finde es albern, das Schengener Abkommen als Frage des Art. 16 anzuführen, weil sowohl das Innenministerium als auch das Justizministerium bis Ende letzten Jahres die Meinung vertreten haben, auch dann, wenn man Doppelarbeit vermeiden wolle — das wollen Sie wie auch wir —, sei die Änderung des Art. 16 nicht nötig. Dieser Streit ist so albern und so vom Wahlkampf diktiert, daß wir beide ihn nicht verlängern sollten.
Frau Abgeordnete, auch der Herr Kollege Hirsch würde Sie gern etwas fragen.
Ja gern, aber ich möchte dann doch noch einen Schlußsatz sagen dürfen, Herr Präsident.
Wie Sie sehen, steht die Uhr schon seit eineinhalb Minuten.
Verehrte Frau Kollegin, würden Sie mir zustimmen, daß das von der Bundesregierung unterzeichnete Schengener Abkommen nicht etwa nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern für jeden Vertragsstaat den ausdrücklichen Vorbehalt des nationalen Rechtes beinhaltet?
Natürlich!
Und würden Sie mir zustimmen, daß es nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung — schon nach geltendem Recht — möglich ist, daß die Bundesrepublik Deutschland einen Flüchtling, der in einem anderen
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6492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Burkhard HirschEG-Staat abgelehnt worden ist, dahin zurückschiebt, wenn er in diesem anderen Land vor Verfolgung sicher ist?
Lieber Kollege Hirsch, ich stimme Ihnen gerne in beiden zu,
und Sie wissen das auch. Aber es ist vielleicht gut, daß wir das hier noch einmal deutlich machen.
Allerdings sollten wir nicht nur unterstreichen, daß der Streit um Schengen wirklich nur Wahlkampfgeklingel ist und deshalb nicht so sehr ernst genommen werden sollte,
sondern wir sollten auch festhalten — darum möchte ich Sie alle bitten , daß derjenige, der Europa sagt, nicht nur Westeuropa meint und nicht nur nach Westeuropa schaut, sondern sich um gemeinsame europäische Regelungen bemüht, die unsere und die Interessen unserer östlichen Nachbarn einbezieht.
Das bedeutet, wie gesagt: Die europäische Regelung muß eine einheitliche Grundlage bekommen, auf der wir aufbauen können. Das sind die Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention. Dazu brauchen wir eine Vereinbarung über die gesamteuropäische Anwendung.
In Frankreich werden die Tamilen etwa 17mal so häufig anerkannt wie in der Bundesrepublik.
Bei anderen Flüchtlingsgruppen ist das umgekehrt.
Was wir außerdem brauchen, ist, und davon lassen wir uns auch nicht abhalten: Wir brauchen gemeinsame Grundsätze für ein Verfahrensrecht, damit in einem relativ kurzen und unbürokratischen, aber rechtsstaatlichen und gerade auch auf die Rechte der Betroffenen ausgerichteten Verfahren darüber entschieden werden kann, wer bei uns in Deutschland, wer in Europa bleiben kann und wer nicht.
Das dritte ist: Wenn wir diese gemeinsame gesamteuropäische Lösung wollen, dann werden die, die dableiben dürfen, auch gesamteuropäisch verteilt werden müssen.
Herr Seiters, ich darf Sie am Schluß noch einmal ansprechen. Wir sind bereit — darauf haben wir immer gedrängt —, bei dem, was wir zur Entlastung der Gemeinden tun können, was wir zur rechtsstaatlichen Verkürzung und Beschleunigung der Verfahren tun können, mitzuhelfen. Ich glaube, es ist unangemessen, an dieser Erfolgsmöglichkeit jetzt Zweifel und Kritik anzubringen.
Ich fordere vielmehr die Bundesregierung und die Union auf, in der Auseinandersetzung zum Verfahren jetzt noch folgendes klarzustellen:
Erstens. Die Zuständigkeitszusammenführung beim Bund für das Verwaltungsverfahren muß vollständig sein. Wenn wir dazu eine Grundgesetzänderung bräuchten, würden wir die mitmachen. Das wissen auch Sie. Aber, wir brauchen sie wahrscheinlich nicht einmal da. Klar ist, daß der Streit darum, wer die Paßersatzpapiere beschafft, uns nicht weiter daran hindern darf, eine vernünftige Regelung zu finden. Das leuchtet doch jedem ein.
Zweitens. Der Bund — diese Zusage hätte ich eigentlich heute von Ihnen erwartet — muß die Bundesliegenschaften den Ländern unentgeltlich zur Verfügung stellen.
Dieser Punkt muß jetzt endlich geklärt werden.
Und drittens müssen die mehr als 260 000 Menschen, die zur Zeit noch auf eine Entscheidung des Zwirndorfer Bundesamtes warten, durch eine vernünftige Regelung bald Klarheit bekommen. Jeder weiß, es wird nur eine modifizierte Stichtagsregelung möglich sein. Wenn diese Entscheidung nicht bald getroffen wird, bevor wir das neue Verfahrensrecht in Kraft setzen, wird dann alles viel schwieriger. Deswegen muß das schnell geschehen.
Herr Bundesinnenminister, wenn Sie es wirklich ernst damit meinen, gemeinsam mit uns und den Ländern eine Verständigungslösung erreichen zu wollen, muß die notwendige Altfallregelung auch ihrem Gehalt nach darauf ausgerichtet sein. Es geht nicht an, daß zwar der Bund die Verantwortung für diese Menschen los wird, aber die Lasten bei den Gemeinden und — das sage ich in Ihre Richtung, Herr Ministerpräsident Teufel — bei den Ländern erhalten bleiben.
Frau Abgeordnete, ich habe Sie in bezug auf das Anhalten der Uhr bei Zwischenfragen wirklich großzügig behandelt. Jetzt sind Sie aber weit über eine Minute über Ihre Redezeit. Ich bitte Sie, jetzt zum Schluß zu kommen.
Herr Präsident, ich bin Ihnen geradezu unsäglich dankbar, daß Sie mich erst jetzt wieder unterbrechen. Aber ich glaube, das war es auch wert, daß ich zu Ende sprechen konnte.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam die nächsten Schritte tun: die, die in Deutschland in unserem Interesse notwendig sind ebenso wie die, die in Europa erforderlich werden.
Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, die letzte Rednerin hat in diesem Zusammenhang auch auf die Bedeutung unserer östlichen Nachbarn hingewiesen. Ich nutze jetzt die Gelegenheit, 23 Kolleginnen und Kollegen aus dem polnischen Sejm ein Wort des Grußes zu sagen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6493
Vizepräsident Hans KleinAls nächstem erteile ich dem Bundesminister der Justiz,. Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! — Herr Gallus kommt auch noch. —
Sie behandeln heute in erster Lesung den Gesetzentwurf, der die rechtlichen Grundlagen für die Umsetzungen der Zielvorstellungen in der behördlichen und gerichtlichen Praxis schaffen soll, die wir beim Herrn Bundeskanzler im Oktober des letzten Jahres beschlossen haben. Ich habe das Gefühl, daß wir doch zunächst noch ein bißchen über diesen Gesetzentwurf reden sollten. Die Diskussion hat sich sehr weit vom Thema entfernt. Der Weg bis zu der ersten Lesung, die wir hier heute behandeln, war nicht ganz einfach. Ich möchte auch deutlich sagen, daß wir uns das Geschäft manchmal gegenseitig schwergemacht haben.
Andererseits war die rechtliche Umsetzung schwieriger, als wir zunächst gedacht hatten.Ziel des Gesetzentwurfes ist es, diejenigen Asylbewerber, deren Anträge offensichtlich aussichtslos, weil unbegründet sind, schnell herauszufiltern und in einem konzentrierten Verfahren zu bescheiden. Die Stichworte hierbei sind: Sammelunterkünfte, Konzentration des Verfahrens auf eine Behörde, eine Gerichtsinstanz, Entscheidungen so weit wie möglich vor Ort und innerhalb weniger Wochen, wenn es irgendwie geht, innerhalb von sechs Wochen. Aus den Sammelunterkünften sollen dann sofort diejenigen zurückgeschickt werden, die keine echten Asylanten im Sinne des Art. 16 GG sind, weil wir auf diese Art und Weise vor allem den Gemeinden, die die Hauptlast zu tragen haben, helfen wollen. Ich bin persönlich davon überzeugt, daß wir auf diese Art und Weise Hilfe für die Gemeinden vor Ort in der Praxis erreichen können.
Eine wirksame Beschleunigung im Sinne der Zielvorstellungen ist ohne eine deutliche Straffung der einzelnen Verfahrensabschnitte, ohne eine weitere Verkürzung von Fristen und eine Beschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten auf das rechtsstaatlich zwingend gebotene Maß und nicht zuletzt ohne ausgeprägte Mitwirkungspflichten des Asylbewerbers, gegebenenfalls auch seines Bevollmächtigten, leider nicht erreichbar. Daß dies auf der einen Seite Unbehagen und gerade auch beim Bundesjustizminister etwas Bauchschmerzen auslöst, sollte man, finde ich, in dieser Debatte sagen. Dies stößt wohl auf Verständnis. Wir werden uns darüber im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch unterhalten müssen.Ich habe aber — auch das möchte ich sagen —, selbst wenn ich von „Bauchschmerzen" rede, insgesamt keinen Zweifel daran, daß der Entwurf eine verfassungsrechtlich tragfähige Balance zwischen dem Ziel einer wirksamen Beschleunigung einerseits und den verfassungsrechtlichen Vorgaben für ein rechtsstaatliches und faires Verfahren andererseits hält. Dabei sollte uns bewußt sein, daß wir in manchen Bereichen bis an den Rand des rechtlich Vertretbaren gehen.Einige Streitfragen sind offengeblieben; diese werden wir im Gesetzgebungsverfahren regeln.Eine rasche und gemeinsame Umsetzung der Zielvorstellungen kommt uns allen entgegen. Ein Scheitern wäre — das ist heute schon verschiedentlich betont worden — ganz zweifellos ein Armutszeugnis für die Politik, bei dem eigentlich alle nur als Verlierer dastehen könnten.Nun bin ich als Bundesjustizminister für das gerichtliche Verfahren zuständig. Ich will ganz knapp etwas dazu sagen. Ein großer Teil der Asylbewerber, die beim Bundesamt keinen Erfolg gehabt haben, wendet sich anschließend an die Gerichte; das sind zur Zeit immerhin über 50 %. Mit dem Anstieg der Zahl der Asylbewerber haben deshalb auch die Eingänge bei den Verwaltungsgerichten zwangsläufig erheblich zugenommen; sie werden noch weiter steigen. 1983 hatten wir bei den Verwaltungsgerichten noch rund 11 000 Asylklagen; 1990 waren es bereits über 51 000. Allein im ersten Halbjahr 1991 war ein Zugang von 27 974 Fällen zu verzeichnen. Diese Zahl wird voraussichtlich weiter ansteigen. Hinzu kommen die Verfahren wegen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, die ebenfalls in die Zehntausende gehen. Das heißt, wir müssen, ob wir wollen oder nicht, auch in diesem Bereich Abhilfe schaffen.Die Bereitschaft der Länder -- das möchte ich ausdrücklich auch und gerade für Baden-Württemberg anerkennen —, die personellen Kapazitäten der Verwaltungsgerichte aufzustocken, ist erfreulicherweise gegeben. In diesem Jahr soll allein die Zahl der Richter, die sich mit Asylverfahren befassen, um 50 % erhöht werden. Hinzu kommt neues Personal bei Geschäftsstellen, Schreibdiensten usw.
Aber natürlich sind der personellen Aufstockung Grenzen gesetzt. Das ist ein Qualitäts- und Quantitätsproblem. Dieses Problem haben wir nicht nur in den anderen Verwaltungsbereichen, sondern natürlich auch bei den Gerichten. Das heißt, auch das Verfahren muß weiter gestrafft werden, damit wir zu einem Erfolg kommen.Ausgangspunkt war insoweit die Frage: Wo gibt es noch verfahrensrechtliche Reserven, um die jetzt und künftig knappen personellen und sachlichen Kapazitäten der Gerichte noch besser als bisher auszuschöpfen? Die Möglichkeiten des Verfahrensrechts sind begrenzt.Noch deutlicher als bisher muß zwischen den eindeutig aussichtslosen und den schwierigen Fällen unterschieden werden. Das heißt, dort, wo an der Sache — ich sage es einmal salopp — eindeutig nichts dran ist, soll künftig stets der Einzelrichter und nicht mehr die Kammer des Verwaltungsgerichts entscheiden. Rechtsmittel soll es in diesen Fällen nicht mehr
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6494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelgeben. Das ist — ich betone noch einmal: gerade mir als Bundesjustizminister fällt es schwer, das zu sagen; ich muß es aber, wenn auch mit einigem Unbehagen, erklären, — im Hinblick auf die Dimension noch vertretbar.Der Zugang zu den Obergerichten soll nur für die Fälle eröffnet werden, in denen es um grundsätzliche Fragen oder um die Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung geht. Damit können die Obergerichte ihre Arbeitskraft auf die wesentlichen Fälle konzentrieren.Darüber hinaus betont der Entwurf Mitwirkungspflichten der Asylkläger und bringt noch ein paar andere Erleichterungen im gerichtlichen Verfahren mit sich.Zusammenfassend: Die notwendige Verfahrensbeschleunigung kann erreicht werden. Zugleich wird der Anspruch auf Gewährung wirksamen Rechtsschutzes nicht in Frage gestellt. Aber es bewegt sich — das sage ich nochmals — aus meiner Sicht am Rande des gerade noch Vertretbaren.Meine Damen und Herren, ich komme zu dem wahrscheinlich wichtigeren Teil, nämlich dazu, daß ich bedaure, daß die Diskussion der vergangenen Wochen über die Notwendigkeit einer Änderung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes und die Ratifizierung des Schengener Zusatzabkommens die Aufmerksamkeit von den in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen praktischen Maßnahmen zur Beschleunigung des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens für meine Begriffe zu Unrecht zu sehr abgelenkt hat.Wir diskutieren in der Bundesregierung — deshalb muß es auch hier gesagt werden dürfen — über folgendes: Die die Bundesregierung tragenden Parteien sind nun einmal unterschiedlicher Auffassung in bezug auf eine Änderung des Asylgrundrechts. Die Position der F.D.P. ist klar: Wir wollen keine Änderung des Art. 16 zur Lösung der Asylproblematik im nationalen Bereich. Eine Grundgesetzänderung wäre — Herr Ministerpräsident Teufel, da widerspreche ich Ihnen dezidiert und klar — nach meiner Meinung und nach Meinung der F.D.P. nicht der alles lösende Königsweg.
Ich sage das mit großer Ruhe, und ich will auch versuchen, es zu begründen. Ich möchte sagen, daß dieser Auffassung, wenn ich es richtig sehe, auch die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und viele, viele andere in diesem Lande sind.Eine Änderung des Art. 16 würde in der Praxis nichts bringen; diese These stelle ich auf,
und ich weise darauf hin, daß eine Zurückweisung von Asylbewerbern an unserer Grenze auch nach einer Grundgesetzänderung aus faktischen und rechtlichen Gründen nur sehr begrenzt möglich wäre. Über 90 % der Asylbewerber, der Ausländer, die sich hier melden, stellen mit zunehmender Tendenz ihre Asylanträge erst, nachdem sie hier im Bundesgebiet sind. Der Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention gilt auch fürsolche illegal eingereisten Personen. Wir sind ihnen, ob wir wollen oder nicht, nach der Genfer Konvention ein rechtsförmliches Verfahren schuldig und können sie nicht im Schnellverfahren aus der Bundesrepublik herausbringen.Herr Ministerpräsident Teufel, ich sage deshalb in großer Ruhe und Gelassenheit — ich betone es noch einmal —: Mich würde wirklich interessieren, wie sich nach Ihrer Meinung eine Grundgesetzänderung der von Ihnen befürworteten und gewünschten Art in der Praxis auswirken würde; das würde mich wirklich interessieren. Dieser Beweis ist, wie ich jedenfalls meine, bisher nicht angetreten worden.
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihrem Wohlstand — das ist nun einmal so — ein attraktiver Magnet für wirklich Asylsuchende, aber eben auch für solche, die Armut, Elend und Bürgerkriegswirren entkommen wollen und sich hier ein besseres Leben erhoffen. Auch mit einer Änderung der Verfassung lassen sich die Elendswanderungsbewegungen in dieser Welt nicht ändern. Die Menschen werden, solange wir nicht neue Mauern an den Grenzen errichten, trotzdem zu uns kommen.Die Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung, deren Fortschreibung in diesen Tagen in Angriff genommen wird, geht deshalb davon aus, daß in erster Linie die Ursachen der Wanderungsbewegungen, das Wohlstands- und Wirtschaftsgefälle zwischen Ost und West, Nord und Süd behoben werden müssen. Die Bekämpfung der Fluchtursachen muß unser gemeinsames Ziel sein. Das ist heute schon mehrfach betont worden. Aber das können wir eben nicht allein schultern. Das bedarf einer gigantischen gemeinsamen Anstrengung aller westlichen Industrienationen.
Bei der häufig leider viel zu emotional geführten Asylrechtsdiskussion in Deutschland sollten wir uns auch und gerade unserer besonderen Verantwortung auf Grund unserer geschichtlichen Erfahrungen erinnern. Ich habe es bei der letzten Debatte im Bundestag gesagt und wiederhole es heute: Viele, viele Menschen mußten im Dritten Reich dieses Land verlassen, um ihr Leben zu retten. Sie haben Aufnahme und Asyl in anderen Ländern gefunden. Wir Deutsche haben in ganz besonderer Weise auf Grund unserer Vergangenheit eine Verpflichtung, mit Ausländern fair und human umzugehen. Wer wegen seiner Nationalität, seiner Rasse oder Religion oder einfach wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt ist, muß bei uns auch künftig Zuflucht finden können.
Ich wiederhole auch das: Wir in der Bundesrepublik können Not und Elend dieser Welt natürlich nicht alleine schultern. Aber den Menschen, die zu uns kommen und um Asyl bitten und die das nicht aus Übermut, sondern aus existentieller Not tun, müssen wir — dabei bleibe ich — mindestens ermöglichen, bei uns sagen zu können, warum sie sich politisch verfolgt fühlen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6495
Bundesminister Dr. Klaus KinkelBei den Vorschlägen, über die diskutiert wird — ich denke da an die Nichtverfolgerstaaten-Liste; Sie, Herr Ministerpräsident, haben gesagt, das sei nicht das einzige, was Sie anstrebten; das verstehe ich, und das sehe ich genauso — sehe ich die Gefahr, daß nicht einmal dies möglich bleibt und daß das Grundrecht auf Asyl fortschreitend ausgehöhlt wird.Die Mehrheit der Asylbewerber kommt heute zudem aus Ländern, die nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte kaum als verfolgungssicher eingestuft werden können.
Ist es eigentlich nicht des Nachdenkens wert — auch das wiederhole ich —, daß ein großer Teil der Menschheit von Geburt an nicht die geringste Chance hat, ein auch nur einigermaßen menschenwürdiges Leben zu führen, daß Millionen von Menschen weltweit Hunger leiden? Ist es eigentlich nicht verständlich, daß sich viele dieser Menschen, mit Illusionen und Hoffnungen versehen, auf den Weg machen, weil sie hoffen, von den Brosamen der reichen Länder etwas abzubekommen? Was täten wir eigentlich, wenn wir in einer vergleichbaren Lage wären?
Es ist nicht bequem, aus der satten Wohlstandsgeborgenheit durch das Asylantenheim in der Nähe, durch fremdartige Menschen in der Stadt, mit denen man sich wegen anderer Sitten und Gebräuche sowie wegen anderer Hautfarbe vielleicht nicht unterhalten kann, aufgerüttelt zu werden. Es ist das Gefühl der Unsicherheit — ich verstehe das —, des Andersseins, des Rücksichtnehmenmüssens, der Unbequemlichkeit und des eventuellen Teilenmüssens, das die Menschen oft zu einer ablehnenden Haltung gegenüber Ausländern bringt. Das ist im Grunde traurig; denn es geht uns allen sehr, sehr gut. Ich bleibe auch bei dem Satz, daß weder durch die Wiedervereinigung noch durch die Ausländer- oder vor allem die Asylantenfrage irgend jemand in diesem Lande wirklich, echt teilen mußte. Das ist nicht der Fall.
Dabei wären die Menschen sogar zum Teilen bereit, wenn man sie richtig anspricht. Was geschieht nicht alles an privatem Engagement, an privater Hilfe auf allen möglichen Gebieten menschlicher Not? — Viel mehr, als wir ahnen und wissen, vor allem auch und gerade im Bereich ausländischer Mitbürger.Die weltweiten Flüchtlingsströme und der Prozeß der europäischen Einigung zwingen uns zu übergreifenden Lösungen. Wir werden das mit einer nationalen Lösung nicht packen. Das ist klar.
— Herr Schäuble, darüber haben wir uns ja oft unterhalten.Europa war früher ein Auswanderungsgebiet. Westeuropa ist heute faktisch ein Einwanderungsland geworden.
Wir müssen uns daher gemeinsam um eine europäische Harmonisierung des Asylrechts bemühen. Das wollen wir ja auch tun. Dazu hat sich insbesondere die F.D.P. bekannt.In den Abstimmungsprozeß für ein einheitliches europäisches Asylrecht müssen jetzt schnell auch unsere nicht der EG angehörenden Nachbarstaaten Polen, die CSFR, Österreich und die Schweiz einbezogen werden. Ziel von Vereinbarungen mit diesen Nachbarstaaten — Herr Seiters hat es angesprochen — muß ein einheitliches, materielles und verfahrensrechtliches Recht nach der Genfer Konvention sein.Wenn wir das erreicht haben und am Ende dieses Prozesses zu dem Ergebnis kommen, daß eine Grundgesetzänderung notwendig ist, wird das — wir haben das erklärt — nicht an der F.D.P. scheitern.
Eine Einschränkung unseres Grundrechts auf Asyl vorab, aber im Zuge der Ratifizierung des Schengener Zusatzübereinkommens, ist nicht die Lösung, die wir für richtig halten. Dieses Zusatzübereinkommen und das Dubliner Asylrechtsübereinkommen stellen zwar einen ersten wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa und zur europäischen Harmonisierung des Asylrechts dar, sie regeln jedoch lediglich die Frage, welcher Staat auf der Basis seines nationalen Asylrechts für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. Damit wird noch nicht die dringend notwendige und auch von uns bejahte Harmonisierung des formellen und materiellen Asylrechts erreicht.
— Herr Schäuble, wir haben uns in den letzten Jahren über diese Themenkreise wahrhaftig oft und ausführlich unterhalten. Ich glaube, gerade wir zwei brauchen diese Diskussion nicht hier während meiner Rede zu führen.
Ich höre auch zu, wenn Sie nachher sprechen.Meine Damen und Herren, die Diskussion sollte, wie ich finde, nun ein Ende haben.
Handeln ist gefragt. Ich unterstreiche das, was hier verschiedentlich schon gesagt worden ist: Den Menschen draußen, vor allem den Bürgermeistern und den Gemeinden, ist es letztlich Wurst, wie es geregelt wird. Sie haben bloß das Gefühl, daß es nun endlich tatsächlich geregelt werden muß.
In diesem Punkt sind wir uns einig, und dazu wollen wir alle gemeinsam beitragen. Das können Sie hier in diesem Hohen Hause, indem Sie dieses Asylverfahrensgesetz, bei dem wir uns im Vorlauf so schwergetan haben, jetzt möglichst schnell auf den Weg brin-
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkelgen. Das ist ein erster wichtiger, praktischer Schritt. Die Asylrechtsproblematik muß durch praktische Lösungen gepackt werden, nicht durch eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes.
Ich erteile das Wort dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Herbert Schnoor.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung vorab zu Ihrer Rede, Herr Ministerpräsident Teufel. Sie haben gesagt, was Baden-Württemberg alles tut. Das akzeptiere ich. Aber Sie sollten nicht sagen, die anderen Länder setzten die Vereinbarung nicht um, die am 10. Oktober beim Kanzler getroffen worden ist. Das sollten Sie nicht sagen.
— Wissen Sie: Ich lasse mich durch solche Zwischenrufe überhaupt nicht stören. Sie legen es ja nur darauf an, daß man seine Rede im Grunde nicht durchführen kann. Deswegen werde ich darauf gar nicht eingehen.
Herr Ministerpräsident Teufel, wir haben die Vereinbarung umgesetzt. Wir haben über 10 000 Plätze in den Sammellagern. Wir haben die Organisation erstellt. Es gibt fünf Außenstellen des Bundesamtes, über das Land verteilt, die eingerichtet sind. Wir haben zusätzliche Abschiebehaftplätze geschaffen. Der Nachtragshaushalt ist vorgelegt, in erster Lesung beraten, mit Stellen und Planstellen, einschließlich — der Bundesfinanzminister ist nicht hier; aber er ist gut vertreten —
42 Millionen DM für Mietkosten. Der Bundesfinanzminister möchte an uns ja verdienen. Auch das kann ich Ihnen so sagen.Im übrigen: Seit Jahren liegt eine Novelle zur Beschleunigung des Asylverfahrens, und zwar des Rechtsverfahrens — Herr Bundesjustizminister, Sie wissen das —, im Bundesrat, eingebracht von Nordrhein-Westfalen. Das, was von Ihnen und vom Bundesinnenminister jetzt auf den Weg gebracht worden ist, Herr Bundesjustizminister, entspricht in dem Gerichtsteil weitgehend dem, das Nordrhein-Westfalen dem Bundesrat vor langer Zeit zugeleitet hat. Das also zur Wahrheit.Die Politik der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen ist darauf gerichtet, die Zielvorstellungen aus der Vereinbarung vom 10. Oktober konsequent und vollständig umzusetzen.
Auch ich habe so wie Sie, Herr Schäuble, und auch Sie, Herr Bundesjustizminister, persönlich viel Mühe darauf verwandt, den einen oder anderen Widerstrebenden, den es natürlich auch bei uns gegeben hat und gibt, umzustimmen. Wo gibt es diese denn nicht, meine Damen und Herren? So viel Spaß macht es uns nicht, wie Herr Hirsch zu Recht sagt, das Ganze umzusetzen.
Wir haben uns wirklich Mühe gegeben — auch ich ganz persönlich —, den einen oder anderen Widerstrebenden von der Notwendigkeit dieser Lösung zu überzeugen. Ich brauche Sie, Herr Schäuble und Herr Kinkel, nur an die gemeinsame Konferenz von Innen-und Justizministern zu erinnern. Das, was da stattgefunden hat, war wahrlich kein Zuckerschlecken. Wir haben das alle noch in lebhafter Erinnerung.Wir tragen das Konzept mit, weil wir eine Beendigung des Parteienstreits in dieser Frage wollen, weil wir eine Entlastung der Gemeinden wollen und weil wir damit auch wieder Akzeptanz in der Bevölkerung erzielen wollen.
Das, was ich hier dazu sage, sage ich nicht nur für Nordrhein-Westfalen. Das sage ich auch für die anderen Länder, also für die sozialdemokratisch regierten Länder, soweit ich für sie hier sprechen kann. Daß es da Koalitionsprobleme und Auseinandersetzungen gibt, meine Damen und Herren, das ist ganz klar. Die gibt es auch im Bundeskabinett. Ich habe im übrigen zum erstenmal erlebt, daß es auf Grund einer Kabinettsberatung zu dissenting votes kam, die es sonst nur beim Bundesverfassungsgericht gibt. Ich kritisiere das gar nicht, meine Damen und Herren, aber halten Sie uns das doch nicht vor, daß es so etwas auch in Länderkabinetten gibt.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen da nur absolute Mehrheiten empfehlen. Die sind immer besonders gut.
Dort, wo Ihr Gesetzentwurf, verehrter Herr Bundesinnenminister, nicht mit den vereinbarten Zielvorstellungen übereinstimmt, habe ich auf öffentliche Kritik verzichtet. Sie wissen das. Ich habe Sie angerufen und habe Ihnen gesagt, wo nach meiner Auffassung etwas nachzubessern ist; denn ich will hier keine öffentliche Polemik und keine öffentliche politische Auseinandersetzung. Wir sind doch alle in dieser Frage zum Erfolg und zur Zusammenarbeit verpflichtet und verurteilt, meine Damen und Herren.Deswegen will ich hier auch keinen Parteienstreit.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6497
Minister Dr. Herbert Schnoor
Allerdings: In der Vereinbarung vom 10. Oktober sind Bund und Länder Verpflichtungen eingegangen, die sich z. T. wechselseitig bedingen. Das gilt z. B. einerseits für die Verfahrensbündelung beim Bund und die Verpflichtung zur personellen Hilfe durch die Länder andererseits.
Das gilt aber auch für die Schaffung von Erstaufnahmeeinrichtungen durch die Länder und im Gegenzug für die Hilfe des Bundes bei der Bereitstellung von Liegenschaften, ohne daß der Bundesfinanzminister damit noch Geschäfte macht.
In diesem Punkt ist keine Vereinbarung bei Ihnen getroffen worden. Das hebe ich deutlich hervor. Ich meine, die Bundesregierung könnte hier etwas großzügiger sein. Es ist doch eine gemeinsame Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. Es handelt sich nicht nur um eine Aufgabe der Länder.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Däubler-Gmelin?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja.
Herr Schnoor, darf ich darauf hinweisen, daß, obwohl das in der schriftlichen Vereinbarung nicht steht, die Verständigung sämtlicher Beteiligter darauf, daß eine unentgeltliche Zurverfügungstellung der Bundesliegenschaften gemeint war, völlig klar und eindeutig war?
— Gerade mit Herrn Schäuble!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. Aus Zeitgründen möchte ich darauf nicht im einzelnen eingehen.
— Nein, nicht deshalb. Ich sehe gerade, daß ich nur noch neun Minuten Redezeit habe, und ich möchte die Großzügigkeit des Herrn Präsidenten nicht zu sehr in Anspruch nehmen.
Herr Minister, wenn eine Frage gestellt und beantwortet wird, halten wir die Uhr an.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herzlichen Dank.
— Ich bin beim Kanzlergespräch nicht dabei gewesen.
Ich weiß nur, daß dies beim Kanzlergespräch nicht vereinbart worden ist. Allerdings haben wir sowohl vorher als auch nachher immer darauf hingewiesen — Herr Kollege Schäuble, im übrigen auch, als wir in Ihrem Zimmer waren —, daß wir darauf angewiesen sind, die Kasernen vom Bund zu bekommen. Wir sind auch darauf angewiesen, daß wir sie unentgeltlich bekommen. Aber das ist ein anderer Punkt. Das ist nicht mein Hauptanliegen, über das ich hier heute sprechen möchte.Was wir wollen, und worauf es mir ankommt, ist eine Zusammenfassung der asyl- und ausländerrechtlichen Zuständigkeiten beim Bundesamt. Ich wiederhole hier das, was der Herr Kollege Wartenberg gesagt hat. Dies soll nach der Devise erfolgen: Ein Fall, ein Sachbearbeiter, eine Entscheidung und dann auch ein Rechtszug.Jeder Verwaltungspraktiker, meine Damen und Herren, wird Ihnen bestätigen können, daß in den beschleunigungsfähigen Fällen nur unter Aufgabe des bisherigen Systems dualer Zuständigkeit von Bundesamt und Ausländerbehörde die gewünschte Beschleunigung zu erreichen ist.
Mir geht es in diesem Zusammenhang nur um die Zusammenfassung.Herr Kollege Seiters, daß die Behauptung, wir wollten uns der Verantwortung entziehen, nicht angemessen ist, möchte ich durch folgenden Hinweis deutlich machen: Ich hatte im Vorfeld der Erörterungen beim Kanzler — ich glaube, Herr Schäuble weiß das auch — angeboten, auch an eine andere Möglichkeit der Bündelung der Verfahren zu denken. Ich dachte an eine Ansiedlung im Zuständigkeitsbereich der Länder. Ich habe gesagt, ich wäre bereit, alles in Landeszuständigkeit zu übernehmen. Dann ist es aber anders geregelt worden. Das akzeptiere ich. Aber bitte unterstellen Sie uns nicht, wir wollten Verantwortung abschieben.Ich will folgendes jetzt deutlich machen: Ich weiß, daß es sich um ein ausgesprochen schwieriges und kompliziertes Gesetzgebungsvorhaben handelt. Ich kritisiere auch gar nicht die lange Dauer der Bearbeitung. Das war für die Beamten Ihres Hauses, Herr Seiters, nicht ganz einfach. In vielen Punkten stimmen wir Ihnen auch zu. Aber der Entwurf wird dem Ziel der Bündelung nicht gerecht, wenn nach wie vor die Ausländerbehörden entscheiden sollen, erstens, ob eine rechtlich zulässige Abschiebung in die Herkunftsländer oder einen dritten Staat tatsächlich auch möglich ist, zweitens, ob die Abschiebung wegen einer generellen Duldungsregelung des zuständigen Landesinnenministers nach § 54 auszusetzen ist, und drittens, ob ein Duldungsgrund nach § 55 des Ausländergesetzes wegen dringender humanitärer oder persönlicher Gründe oder wegen eines erheblichen öffentlichen Interesses vorliegt.
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6498 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Minister Dr. Herbert Schnoor
Falls in diesen Fällen die Akten zwischen der Außenstelle des Bundesamtes und dem Ausländeramt hin- und hergeschickt werden müßten oder die Zuweisung des Antragstellers an eine andere Ausländerbehörde abgewartet werden müßte, vergingen mehrere Wochen, ehe das Bundesamt die Bearbeitung fortsetzen oder endgültig abgeben könnte. Man kann natürlich von einer Unterbrechung der Verfahren absehen. Dann wird aber dem Verfahren bei der Außenstelle des Ausländeramtes ein weiteres Verfahren nachgeschaltet, mit allen Konsequenzen auch für Gerichtsverfahren.Wenn der Antragsteller einer Gruppe angehört, die nach § 54 geduldet wird, müßte das Bundesamt nach der vom Bundesinnenminister vorgeschlagenen Schnittstellenlösung gleichwohl das ganze Verfahren bis zur Verwaltungsgerichtsentscheidung durchziehen, um dann das Ausländeramt feststellen zu lassen: Dieser Antragsteller soll hierbleiben. Meine Damen und Herren, das ist keine Beschleunigung des Verfahrens.
Lassen Sie mich auch ein deutliches Wort zu der Bemühung um Paßersatzpapiere sagen: In 70 % der Fälle ist eine Abschiebung nicht möglich, weil die Paßersatzpapiere nicht da sind. Zum Teil dauert es nicht nur Monate, sondern Jahre, bis wir die Paßersatzpapiere bekommen. Baden-Württemberg hat erst vor kurzem dem Bundesinnenminister in einem umfangreichen Schriftsatz dargelegt, welche Probleme wir hier haben.Nur, Sie können hier nicht auf die Länder verweisen, Herr Kollege Seiters. Wenn man das so machte, wie Sie sagten, dann müßte, nachdem der Antrag auf Gewährung des Asyls bei der Asylbehörde gestellt ist, erst die Durchführung des Verfahrens abgewartet werden, damit sich das Ausländeramt überhaupt um die Paßersatzpapiere bemühen kann. Notwendig ist es doch, daß wir uns bereits bei der ersten Antragstellung um die Paßersatzpapiere bemühen.Sagen Sie doch nicht, wir Länder könnten das besser als der Bund. Das stimmt doch nicht. Wir sind doch auf das Auswärtige Amt angewiesen.
Wir sind doch darauf angewiesen, daß notfalls auch, ich sage einmal: der Entwicklungshilfeminister Druck ausübt. Es ist doch geradezu eine Bankrotterklärung von seiten der Bundesregierung, wenn gesagt wird, dies könnten die Länder besser.
Ich sage deutlich, das ist vorher so nicht vereinbart worden. Aber das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wenn wir die Beschleunigung wollen — ich will sie —, dann müssen wir in dieser Frage zusammenarbeiten. Ziehen Sie sich dabei nicht nur auf das zurück, was Ihnen Ihre Beamten sagen.Im übrigen, Herr Bundesinnenminister, steht die Personalgestellung doch wohl in einem Sachzusammenhang mit einer Entlastung der Ausländerbehörden. Wenn die Ausländerbehörden weiterhin für viele Dinge zuständig bleiben, wie es Ihre Beamten wollen, dann können wir denen doch nicht sagen, sie sollen Personal abgeben; das kann ich doch nicht tun.Eine letzte Bemerkung zu diesem einen Punkt: Eine große Stadt in Nordrhein-Westfalen hat sich erboten, im Wege der Organleihe sowohl das gesamte Personal als auch alle Behördenräume zur Verfügung zu stellen. Diese Stadt wäre in der Lage, aus dem Stand in das Verfahren einzutreten. Da sagen Ihre Beamten allerdings: Es gibt Bedenken. Bitte lassen Sie uns diese Fragen wirklich in Ruhe ausdiskutieren. Ich bin ganz sicher, Herr Bundesinnenminister: Wenn wir beide dies politisch wollen, und wenn wir auch bereit sind, neue Wege zu gehen, dann ist es uns möglich, hier weiterzukommen.
Es ist für den Bund sicherlich etwas ungewöhnlich, mit dem Instrument der Organleihe zu arbeiten; aber für Länderverwaltungen ist das nicht unüblich. Ich denke beispielsweise an das Thema Organleihe im Bereich der Polizei; Herr Kollege Hirsch weiß das noch aus seiner Zeit als Innenminister von Nordrhein-Westfalen.Eine abschließende Bemerkung, meine Damen und Herren: Es gibt die Kritik, daß die Gesetzesnovelle zur Beschleunigung des Verfahrens die Zuwanderung aus Drittstaaten nach Westeuropa nicht verhindere. Das ist wahr. Aber das Zuwanderungsproblem wird weder durch das Schengener Abkommen noch durch das Dubliner Abkommen noch durch die Änderung des Grundgesetzes bereinigt.
— Ach, Herr Gerster. — Weder durch das eine noch das andere wird das Zuwanderungsproblem gelöst.Meine Damen und Herren, solange wir offene Grenzen haben, solange es ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit in Europa gibt, solange wir ein Wohlstandsgefälle haben, so lange kommen die Menschen hier her, wie Sie sich auch immer hierzu stellen mögen.
Herr Minister, der Kollege Kauder möchte eine Zwischenfrage stellen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bitte schön. Es wird ja nicht angerechnet.
Herr Innenminister, können Sie mir bitte sagen, wie Sie ganz persönlich zu einer Ergänzung oder Änderung des Grundgesetzes stehen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dazu sage ich Ihnen jetzt etwas. Ich habe im Bundesrat — das können Sie nachlesen, ich schicke es Ihnen gerne — den Antrag Baden-Württemberg dezidiert abgelehnt mit eingehender Begründung. Ich kann das hier nicht wiederholen. Ich müßte dazu sonst noch eine halbe Stunde sprechen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6499
Minister Dr. Herbert Schnoor Es ist ein sehr kompliziertes Problem.
— Nein, es ist ein sehr kompliziertes Problem.
— Ach, Herr Gerster. Wir haben immer unsere Händel ausgetragen. Lassen Sie das hier sein. Dafür ist das Thema zu ernst. Bei diesem Thema sollten wir den Parteienstreit im Grunde beiseite lassen.
Die Menschen sind es satt, meine Damen und Herren, daß wir uns über das Asylthema streiten. Wenn es Akzeptanzprobleme gibt, dann liegt es auch daran, daß wir seit Jahren diesen unsäglichen Streit führen, ob das Grundgesetz nun geändert werden muß oder nicht. Ich sage Ihnen hier eines zu dem Gesamtthema und möchte es damit abschließen. Ich bin dafür, daß wir eine europäische Regelung finden.
Ich bin dafür und sage Ihnen auch weshalb. Wer das gemeinsame Europa will, und ich will es, wer die europäische Union will, der kann die Frage, wer nach Europa einwandern darf, wer zuwandern darf, wer hier bleiben darf, doch nicht von der Gesamtkompetenz Europas ausnehmen.
Ich bedaure, daß wir in Maastricht, Herr Bundeskanzler, hier nicht weitergekommen sind. Das bedaure ich zutiefst.
Ich will Ihnen auch noch weiter sagen: Es kann auch nicht so sein, daß wir den Europäern vorschreiben, welches Recht in Europa zu gelten hat. Da haben Sie sehr wohl recht. Das können wir ihnen nicht vorschreiben. Aber auf der anderen Seite, kann es wohl auch nicht richtig sein, Herr Bundeskanzler, daß wir uns auf den kleinsten denkbaren Nenner in Europa verständigen, wenn es um das Asylrecht geht.
Ihnen von der CDU/CSU geht es in erster Linie darum, die Fragen des Zutrittsrechts zum europäischen Raum so zu regeln, wie andere das haben, und nicht unser Grundgesetz gelten zu lassen. Möglicherweise müssen wir Änderungen hinnehmen. Aber dann will ich wissen, wieweit Anträge geprüft werden. Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß ohne Prüfung darüber entschieden wird, ob jemand hierbleiben darf oder nicht.
Ich frage Sie, wie kommt es eigentlich, daß z. B. inFrankreich 67,5 % der Tamilen anerkannt werden.Nun kommen Sie mir nicht mit dem Zuruf: da kommenauch weniger. Es geht um Prozentsätze, es geht nicht um absolute Zahlen.
67,5 % der Tamilen werden als Asylberechtigte anerkannt. Bei uns 3,2 %. Das ist zur Zeit nur erträglich, weil wir nach § 54 des Ausländergesetzes eine Regelung für De-facto-Flüchtlinge haben. Aber die wollen Sie ja auch abschaffen. Sie wollen sie auslaufen lassen.
Hier ist eine Harmonisierung notwendig.
Wir alle sind dem Grundgesetz verpflichtet. Das Grundgesetz kann auch geändert werden. Das ist wahr. Aber das Grundgesetz enthält eine Wertordnung. Dazu gehört der Artikel 1 — Menschenwürde. Dazu gehört auch, daß Verfolgte, die Zuflucht suchen, nicht ihren Henkern ausgeliefert werden dürfen. Dazu gehört auch, daß derjenige, der sich in seinen Rechten von staatlicher Gewalt beeinträchtigt fühlt, Schutz vor den Gerichten suchen kann.
Ich meine, dieser Tradition sind wir verpflichtet. Sie haben wir in die Beratungen in Europa einzubringen. Europa selbst hat auch eine alte humanitäre Tradition. Helfen wir dabei, daß wenigstens diese gewahrt wird!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Schnoor, hat davon gesprochen, daß es bei dem Thema, das wir hier behandeln, Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung gebe. Das ist wohl wahr, obwohl es eine etwas verharmlosende Beschreibung des Problems ist. Er hat weiter davon gesprochen, daß diese Akzeptanzprobleme etwas mit der Art zu tun hätten, wie wir diese Debatte führen.
Auch dies ist wahr.
Ich habe seit 9 Uhr alle Beiträge sehr aufmerksam verfolgt, insbesondere die letzten drei Debattenbeiträge. Ich habe mir überlegt, ob unsere Mitbürger eigentlich noch verstehen, was wir hier sagen. Zu der Frage, ob Sie für oder gegen eine Grundgesetzänderung sind, Herr Schnoor, haben Sie eine lange Rede gehalten. Nur, Sie haben die Antwort verweigert.
— Nein, Sie haben die Antwort verweigert.Der Bundesjustizminister hat in beredten Worten davon gesprochen, daß für unsere nationale Verfassungspolitik eine Grundgesetzänderung nicht in Frage komme. Er hat daran anschließend längere, emotional geprägte Ausführungen gemacht, um danach zu begründen, daß wir das Grundgesetz für
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6500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Wolfgang Schäubleeine europäische Lösung ändern müßten. Meine Damen und Herren, so verwirrt man die Bürger.
Frau Däubler-Gmelin, das, was Sie gesagt haben, war so unsäglich unklar, daß es, denke ich, schon notwendig ist zu versuchen, hier noch einmal wenigstens den Kern der Problematik ganz ruhig und ganz einfach darzulegen.
— Wenn Sie so lieb wären, mir auch ein bißchen zuzuhören! Ich habe Ihnen wirklich zugehört, Frau Däubler-Gmelin. Ich höre zu, indem ich währenddessen nicht dauernd rede. Bei Ihnen geht offensichtlich beides gleichzeitig, bei mir nicht!
Herr Kollege Schnoor, zunächst einmal will ich ausdrücklich quittieren: Die Beschleunigung der Verfahren und all das, was wir am 10. Oktober verabredet haben, was zuvor und danach mühsam war, ist gut, nützlich, notwendig. Es ist gut, daß wir einen gemeinsamen Entwurf der Fraktionen haben, den wir auch so rasch wie möglich verabschieden wollen. Über Einzelfragen wird man ja auch während des Gesetzgebungsverfahrens miteinander reden können.Ich will auch ausdrücklich bestätigen, daß sich das Land Nordrhein-Westfalen jetzt mehr als manche andere sozialdemokratisch regierte Länder auf den Weg gemacht hat, das Vereinbarte umzusetzen. Ich bin auch dankbar dafür; ich anerkenne das. Sie werden es mir jedoch nicht übelnehmen, wenn ich sage, daß Sie ein wenig spät dran sind. „Spät kommt ihr — doch ihr kommt! Der weite Weg, Graf Isolan, Entschuldigt euer Säumen" — nicht, meine ich.
Aber immerhin, Herr Kollege Schnoor, auch diejenigen, die spät kommen, kommen. Nur, es wäre schön gewesen, wenn wir dann unstreitig gestellt hätten, daß das Land Baden-Württemberg schon sehr viel länger auf diesem Weg ist
und daß wir viel weniger Probleme in anderen Bundesländern hätten, wenn sie genauso gehandelt hätten. Wenn wir das außer Streit stellen, dann ist es sehr gut; dann brauchen wir auch gar nicht darüber zu streiten. Nur ist eben die Wahrheit, daß wir in Baden-Württemberg schon lange mit der Konzentration der Verfahren nach dem Karlsruher Modell gearbeitet haben und daß ich als Bundesinnenminister damals dafür geworben habe, daß man das überall macht. Sie haben viel länger als andere gebraucht, es einzurichten. Wenn wir es jetzt gemeinsam machen, ist es gut. Aber, meine Damen und Herren, alle Beschleunigung der Verfahren und auch die Einrichtung von Sammelunterkünften für die Unterbringung der Asylbewerber während der Dauer der Verfahren werden alleine nicht reichen. Das haben wir immer gesagt. Deswegen ist es übrigens auch nicht in Ordnung, wenn hiergesagt wird, ich hätte etwa bei dem Schengener Abkommen — das ich gar nicht unterzeichnet habe; man müßte wirklich wissen, Frau Däubler-Gmelin, daß dafür immer andere zuständig gewesen sind; es war immer das Kanzleramt; aber darauf kommt es nicht an —
oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt nicht darauf hingewiesen, daß wir um eine Änderung des Grundgesetzes nicht herumkommen. Das heißt nun wirklich falsch Zeugnis reden. Das sollten wir nicht, wenn wir es ernst meinen.
Jetzt will ich erklären — damit die Eiertänze in der Argumentation aufhören —, warum wir das Schengener wie das Dubliner Abkommen nicht ratifizieren können — niemand kann es verantworten —, ohne das Grundgesetz gleichzeitig oder zuvor zu ergänzen. Schengen und Dublin bedeuten, daß jeder Asylbewerber, der in den Gemeinschaftsraum kommt, in einem Land ein Asylverfahren zugesagt erhält. Übrigens sind alle Mitgliedstaaten Mitglied der Genfer Flüchtlingskonvention, Herr Kollege Schnoor. Deswegen kann man hier nicht so tun, als ob der Mindeststandard der Asylverfahren und der europäischen Rechtskultur bei der Gewährung von Schutz für politisch Verfolgte in Schengen und Dublin nicht gesichert worden sei. Ich finde wirklich, was der Ministerpräsident Teufel gesagt hat, ist zu bedenken: Wir Deutschen haben weiß Gott keinen Grund, zu sagen, daß man Schutz vor Verfolgung nur nach dem deutschen Grundrecht und nicht auch in Frankreich oder Großbritannien erfahren kann. Dazu haben wir am Ende dieses Jahrhunderts wirklich keinen Grund.
Nach Schengen und Dublin erhält jeder Asylbewerber, der in den Gemeinschaftsraum kommt, zugesagt, daß er in einem Land auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention eine Prüfung seines Schutzbegehrens erhält. Zugleich regeln diese Abkommen, welches Land für welchen Asylbewerber zuständig ist. Die Regelungen der Zuständigkeit sind ganz einfach: dort, wo man zunächst in das Gemeinschaftsgebiet hereinkommt. Herr Kollege Hirsch, wenn Sie das damit karikieren wollen, daß man nur mit einem Zeh das Land zu berühren brauche, ist das der Sache nicht angemessen. Die Regelung ist vernünftig, daß das Land im Gemeinschaftsgebiet, das man zuerst betritt, für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist im Kern die Regelung von Schengen. Dann gibt es noch die gegenseitige Anerkennung: Wenn ein Land entschieden hat, gilt diese Entscheidung auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention für und gegen alle Mitgliedstaaten.Nun, meine Damen und Herren, wenn wir das Grundgesetz nicht ändern, haben wir das Problem: Wir werden uns durch Schengen und Dublin, so wir
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6501
Dr. Wolfgang Schäubledie Abkommen in Kraft setzen und ratifizieren, verpflichten, Asylbewerber, für die wir nach diesen Mechanismen zuständig sind, von anderen Gemeinschaftsstaaten zu übernehmen. Wir würden nach diesen beiden Abkommen das Recht erhalten, Asylbewerber, für die andere zuständig sind, die sich aber bei uns aufhalten, an diese Länder abzugeben. Das aber werden wir nach Art. 16 unseres Grundgesetzes nicht tun können. Deswegen könnten wir an Schengen und Dublin nicht mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen.
Das ist der Kern. Deswegen können wir Schengen und Dublin nicht in Kraft setzen, ohne unser Grundgesetz zu ändern: weil das niemand verantworten kann.
Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Klose, hat in einem Interview gesagt
— hören Sie mir zu, wenn ich Ihnen sage, was er sagt; ihm selber hören Sie kaum noch zu, wie man inzwischen mitkriegt —,
er würde nicht raten, Schengen hinkend zu ratifizieren. Es kann in Wahrheit niemand verantworten, dem an dem friedlichen und freundlichen Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in diesem Land liegt, daß wir uns in einer Lage, in der im vergangenen Jahr 260 000 Asylbewerber nach Deutschland gekommen sind,
in der sich zwei Drittel aller Asylbewerber, ob aus Ost oder Süd, Frau Däubler-Gmelin,
die in die Europäische Gemeinschaft gekommen sind, in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, verpflichten, von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zusätzlich Asylbewerber zu übernehmen, ohne einen einzigen an ein anderes Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft abgeben zu können, weil uns daran unser Grundgesetz hindern würde.
Das ist der Punkt. Deswegen kann es niemand verantworten.Deswegen hat meine Fraktion einstimmig beschlossen, einen Antrag auf Änderung des Grundgesetzes einzubringen. Wir haben auch gesagt: Das muß im Zusammenhang mit der Ratifizierung von Schengen und Dublin behandelt und verabschiedet werden.
— In der Bundesregierung gibt es die Unterschiede zwischen den Koalitionsparteien, die ja auch hier ausgetragen worden sind. Das ist doch auch in Ordnung.
— Sie sind eingeladen, Sie sind notwendig. Ohne die Zustimmung der Sozialdemokraten gibt es eine verfassungsändernde Mehrheit weder im Deutschen Bundestag noch im Bundesrat.
— Sie können sich hier auch nicht hinter den Freien Demokraten verstecken, sondern Sie müssen handeln, Sie müssen entscheiden. Sie müssen unseren Bürgern erklären, ob Sie wollen, daß wir uns verpflichten, von Frankreich und Belgien und Dänemark Asylbewerber zu übernehmen
— in den Verträgen von Schengen und Dublin —,
Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lüder?
Ich möchte den Satz, Herr Präsident, schon gerne zu Ende reden.
... ohne daß wir in der Lage sind — wegen unseres Grundgesetzes —, an Frankreich oder Großbritannien oder Belgien oder Dänemark Asylbewerber abzugeben, was wir nach den Abkommen von Schengen und Dublin könnten.
Darum, meine Damen und Herren, geht es. Dazu werden Sie ja oder nein sagen können. Da brauchen Sie nicht soviel Redezeit — da reden Sie nämlich nur drumherum —, sondern Sie müssen antworten.
Herr Kollege Lüder.
Herr Kollege Schäuble, ich will jetzt nicht dem Debattenbeitrag nachher vorgreifen, wo wir noch einmal zur Sache und zu dem, was Sie gesagt haben, Stellung nehmen werden; ich habe nur eine Frage: Nach welchem Verfassungsverständnis hat die Bundesregierung Dublin und Schengen unterzeichnet, ohne bei der vorhergehenden Debatte und Berichterstattung, zumindest im Innenausschuß, darauf hinzuweisen, daß nach ihrer Auffassung damit eine Verfassungsänderung zwangsläufig verbunden sei?
Herr Kollege Lüder, ich finde, die Fragen sind wirklich dem Pro-
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6502 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Wolfgang Schäubleblem nicht angemessen, weil Sie es genau wissen. Sie wissen die Antwort ganz genau.
— Die Frage ist überhaupt nicht peinlich, allenfalls für den Fragesteller.
Sie wissen ganz genau, daß die Abkommen die Möglichkeit enthalten, sie in Kraft zu setzen und gleichzeitig von dem Vorbehalt nationalen Verfassungsrechts Gebrauch zu machen. Herr Kollege Lüder, es wird so sein, daß Frankreich wahrscheinlch nicht sehr beschwert ist, wenn wir auf Grund unseres Grundgesetzes darauf verzichten, von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, Asylbewerber, für die Frankreich zuständig ist, an Frankreich abzugeben. Frankreich ist daran interessiert, daß wir die Asylbewerber, die in Frankreich sind, für die wir zuständig sind, übernehmen. Dazu verpflichten wir uns mit der Ratifizierung. Das gilt dann auch; denn dagegen ist unser Grundgesetz nicht. Deswegen kann man das so machen. Deswegen hat die Bundesregierung das damals so gezeichnet. Aber wir haben nie einen Zweifel, übrigens vor allen Dingen nicht in der Koalition, daran gelassen.Und, Herr Kollege Lüder, wir, CDU/CSU und F.D.P., haben eine Koalitionsvereinbarung, in der steht, daß wir im Jahre 1992 eine europäische Lösung in der Asylpolitik anstreben, an der die Bundesrepublik Deutschland mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen will. Dieses werden wir in unserer Koalition so auch umsetzen. Das heißt eben, daß wir an einer Zusammenarbeit wie der von Schengen und Dublin mit gleichen Rechten und Pflichten nur teilnehmen können, wenn wir unser Grundgesetz entsprechend ergänzen.
Jetzt will ich noch etwas zu dem sagen, was der Bundesminister der Justiz sehr zu Recht gesagt hat, wie der Bundesinnenminister und viele andere Redner auch, insbesondere auch der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg in seiner so eindrucksvollen Rede.
— Fand ich wirklich. Wissen Sie, ich bin mit Erwin Teufel in dieser Frage schon so lange einer Meinung, daß ich das wirklich auch sagen kann. Es ist völlig wahr: Die Probleme von Hunger, Not, Elend, Umweltkatastrophen und Bürgerkriegen in Osteuropa wie in den Ländern der Dritten Welt sind durch unser Asylrecht nicht zu lösen. Sie sind auch nicht dadurch zu lösen, daß die Menschen ihre Heimat verlassen und in Westeuropa oder Nordamerika Zuflucht suchen. Sie sind nur dadurch zu lösen, daß wir erfolgreicher, als es bisher überwiegend gelungen ist, die Ursachen bekämpfen.
Wir haben beispielsweise in der Zeit, in der ich noch die Freude hatte der Bundesregierung angehören zu dürfen, Ursachen in Polen sehr erfolgreich bekämpft.Die Zahl von Asylbewerbern wie von Aussiedlern aus Polen ist in den letzten drei Jahren erfreulich zurückgegangen; sie ist fast unerheblich geworden.
Dasselbe wird gegenüber Rumänien gelingen. Und wenn der Krieg in Jugoslawien zu Ende ist, dann wird das auch gegenüber Jugoslawien gelingen. Und wenn es gegenüber den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gelingen soll, dann können wir Deutschen es nicht allein machen, sondern brauchen dazu die europäische Zusammenarbeit, zu der wir aber erst fähig werden, wenn wir die Grundgesetzänderung haben.
Die mißbräuchliche Berufung auf das Grundrecht auf Asyl und die Irreführung dieser Menschen durch kriminelle Schlepperbanden, die ihnen vorspiegeln, sie könnten auf Dauer in Deutschland und Europa sein, sind jedenfalls keine Lösung, kein Lösungsansatz für diese Probleme.Deswegen müssen wir zu einer Politik fähig werden, die der Humanität und der Vernunft gleichermaßen entspricht; denn Humanität ohne Vernunft führt uns in diesen Fragen auch nicht weiter. Und vernünftig ist es eben nicht, daß die Jungen und Starken ihre Länder, in denen wirtschaftliche Not herrscht, verlassen. Es sind ja nicht die Kranken, Alten und Schwachen, die als Asylbewerber zu uns kommen, sondern es sind die Jungen, Starken und Dynamischen, die von kriminellen Organisationen irregeleitet werden. Deswegen müssen wir diesen kriminellen Organisationen die Möglichkeit nehmen, den Menschen vorzuspiegeln, durch die Berufung auf das Grundrecht auf Asyl in Deutschland könne man eben auf Zeit und Dauer nach Deutschland und nach Europa kommen und dort bleiben. Das ist doch der eigentliche Kern des Problems!
Herr Kollege Schäuble, die Kollegin Däubler-Gmelin möchte gern eine Zwischenfrage stellen.
Herr Schäuble, Sie haben manches gesagt, was ich für völlig richtig halte. Und wir verkennen auch gar nicht die Schwierigkeiten, diese Ursachen zu bekämpfen. Das wird uns noch viele Entscheidungen und auch ganz viel an Teilen abverlangen.
Aber meine Bitte wäre: Können Sie nicht auch so nett sein und sagen, daß die Grundlage für die Entscheidung, ob jemand in Europa — auch hier in Deutschland — bleiben kann, eben nicht nur Art. 16, sondern auch die als Völkerrecht bei uns geltende Genfer Flüchtlingskonvention ist und daß sich, gerade wenn wir eine gesamteuropäische Lösung haben, zwischen dem einen und dem anderen eben nicht der Gegensatz herausbildet, von dem Sie gerade sprechen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6503
Frau Däubler-Gmelin, gerade vor etwa drei Minuten ist mir aus Ihrer Fraktion heftig widersprochen worden, als ich sagte, Schengen und Dublin sind hinsichtlich der gegenseitigen Anerkennung auch deswegen gar kein Problem, weil wir alle Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention sind.
Der Standard der Genfer Flüchtlingskonvention wird für die Frage der Entscheidung nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa der angemessene sein. Und genau nach dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention werden wir die Frage zu entscheiden haben, wer als Verfolgter Schutz vor Verfolgung bei uns findet.
Aber es geht um etwas anderes. Es geht letztlich um die Frage, ob die Menschen, die behaupten, verfolgt zu sein, ohne daß ihnen wirklich Verfolgung droht, auf Grund dieser Behauptung ein vorläufiges Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland wie in den Ländern der Gemeinschaft erfahren. Und da sage ich: Wir werden dazu kommen müssen, daß wir dieses vorläufige Aufenthaltsrecht für diejenigen, denen Verfolgung nicht droht, ausschließen.
Das ist nach der Genfer Flüchtlingskonvention möglich, nach dem Grundgesetz nicht.
Das wollen wir auch durch europäische Zusammenarbeit erreichen.
Natürlich ist es wahr, daß die Mehrzahl der Asylbewerber nicht über Frankreich und Italien, sondern eher über Polen und die Tschechoslowakei zu uns kommt, weil die Mehrzahl heute aus Ost- und Südosteuropa zu uns kommt. Aber wahr ist eben auch, daß wir mit Polen bereits eine entsprechende Vereinbarung, die dem Schengener Mechanismus entspricht, haben, daß Polen Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention ist, genauso wie wir oder Frankreich; wahr ist, daß die Tschechoslowakei ihre Bereitschaft erklärt hat, ein entsprechendes Abkommen mit uns abzuschließen und der Genfer Flüchtlingskonvention beizutreten; wahr ist auch, daß wir entsprechende Abkommen mit Österreich und der Schweiz haben, obwohl sie dem Schengener Mechanismus nicht ganz genau entsprechen. Aber ich bin ganz zuversichtlich, daß auch Österreich und die Schweiz, die Unterzeichner der Genfer Konvention sind, entsprechende Rücknahmevereinbarungen mit uns abschließen werden. Aber wahr ist eben auch, daß wir an allen diesen Regelungen mit gleichen Rechten und Pflichten nur teilhaben können, wenn wir unser Grundgesetz in dem Sinne ändern, wie es meine Fraktion beantragt hat.
Lassen Sie eine zweite Frage der Kollegin Däubler-Gmelin zu?
Ja.
Herr Schäuble, auch da ist wieder Vieles, was ich unterstreichen kann. Uns verbindet offensichtlich auch, daß wir im deutschen und im europäischen Interesse handeln wollen.
Einen Unterschied gibt es noch. Da hätte ich gerne noch eine präzise Auskunft. Hat der Herr Bundesjustizminister nicht recht mit seiner Bemerkung, daß es doch darum geht, in einem Mindestmaß an rechtsstaatlichen Verfahren darüber zu entscheiden, ob die Menschen, die hier sind, nicht nur auf Grund von Art. 16, sondern auf Grund der bei uns als Völkerrecht geltenden Genfer Flüchtlingskonvention hierbleiben können oder nicht, sowohl nach der Genfer Flüchtlingskonvention als auch nach unserem Grundgesetz ein vorläufiges Bleiberecht haben? Das sagt doch auch der Flüchtlingshochkommissar. Wenn also das richtig ist, was beide sagen, dann gibt es doch den von Ihnen beschriebenen Unterschied nicht mehr.
Herr Kollege Schäuble, lassen Sie mich bitte zwei Bemerkungen machen:
Jede Fraktion ist sich natürlich darüber im klaren, daß Zwischenfragen die Redezeit des betreffenden Redners verlängern. Das ist das eine.
Das zweite ist, daß Zwischenfragen Fragen und keine Kurzinterventionen sind.
Frau Däubler-Gmelin, ich habe immer dafür geworben, daß wir die Frage, aus welchen Ländern wir Asylbewerbern für die Dauer der Prüfung ihres Antrags kein vorläufiges Bleiberecht einräumen wollen, nicht national beantworten, sondern europäisch. Sie wissen, daß die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft dazu grundsätzlich bereit sind und daß mein Vorschlag war, dies in Abstimmung mit dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zu erarbeiten. Sie wissen auch, daß der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen dazu seine Bereitschaft erklärt hat.
— Nein, nicht „Vorsicht!"; das hat Frau Ogata öffentlich in einem Interview erklärt.Deswegen kann ich Ihre Frage so beantworten: Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit wir einem Asylbewerber oder Flüchtling ein Bleiberecht für die Dauer der Prüfung seines Begehrens nicht einräumen, müssen sorgfältig erarbeitet werden. Ich finde aber schon — ich glaube, daß auch der Bundesjustizminister mir dabei nicht widersprechen wird —, daß ein Asylbewerber aus der Schweiz oder auch aus Polen für die Dauer der Prüfung seines Asylbegehrens kein vorläufiges Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland braucht.
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6504 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Wolfgang SchäubleIn diesem Sinne werden wir auch europäische Zusammenarbeit weiterentwickeln können.
— Aber Herr Kollege Hirsch, wir schätzen uns beide, wie wir wissen, sehr. Bleiben Sie aber doch bitte sitzen, ich will Sie nur ansprechen.
— Nein, ich wollte Ihnen jetzt etwas sagen. Ich wollte nicht, daß Sie mich daran hindern, indem Sie gleich eine Frage stellen.
Herr Kollege Hirsch, Sie wissen ganz genau, daß der Hinweis auf § 2 des Asylverfahrensgesetzes ein Ablenkungsmanöver ist. Das nehme ich Ihnen bei dem Engagement, mit dem Sie sich sonst um diese Frage kümmern, übel. Sie wissen ganz genau, daß wir den Schengener und Dubliner Verteilungsmechanismus, daß also das Land des Gemeinschaftsgebiets für einen Asylbewerber zuständig ist, in das er zuerst kommt, nach der Rechtsprechung unserer oberen Bundesgerichte ohne Grundgesetzänderung nicht realisieren können.Das ist doch des Pudels Kern; das wissen Sie, Herr Kollege Hirsch. Fragen Sie mich bitte nicht noch einmal. Ich würde die Zwischenfrage nicht zulassen, weil es wirklich keinen Sinn macht. Sie wissen es wirklich besser und sollten nicht wider besseres Wissen reden.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt, weil das Thema so wichtig ist, noch einmal sagen: Wer will, daß wir Ursachen besser bekämpfen als bis heute, und wer will, daß Ausländerfreundlichkeit in Deutschland erhalten bleibt und Ausländerfeindlichkeit, die wir alle miteinander verurteilen und bekämpfen, nicht wächst, der muß nicht nur Humanität, sondern auch Vernunft walten lassen. Damit muß er den Bürgern klare Antworten geben, nicht solche, bei denen darum herumgeredet wird, wo abgelenkt wird und wo auf die Frage: Soll das Grundgesetz geändert werden? ausgewichen wird.
— Es sollte auch nicht immer gleich dazwischengerufen werden, wenn jemand versucht, drei Sätze ernsthaft hintereinander zu sagen.
Zu einer besseren Bekämpfung der Ursachen werden wir nur auf dem Wege einer europäischen Zusammenarbeit fähig. Man muß ehrlicherweise darauf hinweisen, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaft die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert hat, ihr Grundgesetz zu ändern, weil eine europäische Zusammenarbeit in der Asylpolitik mit dem Vorbehalt nationalen Verfassungsrechts, wie ihn die Bundesrepublik Deutschland geltend machen muß, ohne Änderung des Grundgesetzes nicht möglich wäre.Wer ehrlich ist, muß sagen, daß es falsch ist, daß wir im Jahr über 5 Milliarden DM für die Unterbringung von Asylbewerbern, von denen wir wissen, daß sie auf Dauer nicht anerkannt werden können, in der Bundesrepublik Deutschland aufwenden, und daß es richtig wäre, das Geld in den Ländern einzusetzen, aus denen die Asylbewerber hierherkommen.
Wenn Sie Herrn Kollegen Schnoor fragen — vielleicht außerhalb der Öffentlichkeit —, wird er Ihnen bestätigen, daß wir in diesen Fragen sehr miteinander übereinstimmen und auch sehr viel zusammengearbeitet haben und daß es viel besser ist, in den Ländern selbst zu helfen, als das Geld hier auszugeben.
— Solange Sie uns nicht handlungsfähig machen, weil Sie uns die Grundgesetzänderung verweigern, zwingen Sie uns, das Geld hier auszugeben.
Soviel haben Sie ja hoffentlich inzwischen in der Finanzpolitik gelernt, daß Sie wissen, daß man das Geld, das man hier ausgegeben hat, nicht noch einmal in den Herkunftsländern ausgeben kann, weil man jede Mark eben nur einmal ausgeben kann.Der entscheidene Punkt ist noch ein anderer. Wer bei der Debatte aufmerksam zugehört hat, hat sowohl bei den Rednern der SPD als auch bei den Rednern der Freien Demokraten herausgehört: Die Grundgesetzänderung wird kommen, weil sie völlig unvermeidlich kommen muß.
— Über die Formulierung könnten wir ja reden. Aber bis heute, Frau Däubler-Gmelin, erwecken Sie doch gegenüber einem Teil Ihrer Parteiklientel den Eindruck, als würden Sie unter allen Umständen eine Grundgesetzänderung verhindern. Das ist genau wie bei der Mehrwertsteuer.
Ich aber sage Ihnen: Wir wären schon ein ganzes Stück weiter und würden ein ganzes Stück der schädlichen Auswirkungen der Diskussion bei unserer Bevölkerung verhindern, wenn hier einmal klar und deutlich und nach den Regeln der Bergpredigt „Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein; was drüber ist, das ist vom Übel" gesagt würde, daß wir alle miteinander zu einer Grundgesetzänderung bereit sind, um in der Asylpolitik eine europäische Lösung zu erreichen.
— Doch, das wissen wir genau. Jetzt weichen Sie schon wieder aus.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6505
Dr. Wolfgang SchäubleIch sage Ihnen: Es gibt bei der europäischen Asylpolitik keine andere Lösung als die Zusammenarbeit, wie sie in Schengen und Dublin verabredet wurde.
Diese Zusammenarbeit ist auch in Ordnung, weil wir alle Mitglieder der Genfer Flüchtlingskonvention sind. Auf dieser Grundlage wollen wir die Asylpolitik in Europa harmonisieren und dazu das Grundgesetz ändern und ergänzen. Auf der Grundlage dieser Zusammenarbeit werden wir Europäer gemeinsam in Zukunft stärker die Ursachen der Fluchtbewegungen in Osteuropa wie in Asien und Afrika zu bekämpfen haben. Nur dies entspricht unserer Verantwortung, und nur dies entspricht den Geboten von Humanität und Vernunft.Deshalb fordere ich Sie auf: Reden Sie nicht lange darum herum, sondern sagen Sie in dieser Debatte ja oder nein, damit die Menschen überall in unserem Lande wissen, woran wir sind.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Hans Gottfried Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wir haben den vorliegenden Gesetzentwurf gemeinsam eingebracht. Ich gehe davon aus, daß wir damit auch gemeinsame Ziele verfolgen, sonst hätten wir es nicht gemeinsam getan.
Ich gehe auch davon aus, daß die Ausgangslage die gleiche war, beispielsweise die immer unhaltbarer werdenden Zustände in den deutschen Gemeinden und Städten. Daran können wir nicht vorbeidiskutieren; die muß man sich sehr deutlich ansehen. Ich möchte mich deshalb auch mit dem Verfahren selbst befassen und möchte — ich will das vorausschicken, weil ich meine Redezeit etwas kürzen muß —, kurz skizzieren, wie wir die Situation in den Kommunen sehen.
Für uns in den Gemeinden steht im Mittelpunkt die Notwendigkeit, ungeachtet notwendiger zäher Bemühungen um ein europäisches Asyl- und Verfahrensrecht, dazu beizutragen, daß die Gemeinden, die mittlerweile aus allen Nähten platzen, entlastet werden, daß wir ein Asylverfahren bekommen, das beschleunigt wird, das tatsächlich zu Abschiebungen führt und das damit den Gemeinden die Möglichkeit gibt, Menschen, die wirklich in Not sind, und Menschen, die verfolgt sind, auch aufzunehmen und angemessen, das heißt menschenwürdig unterzubringen.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter! Meine Damen und Herren, wenn Sie dringende Gespräche zu führen haben, tun Sie das bitte außerhalb des Plenarsaals. Es wird für den Redner sehr schwer, wenn ein solches leises Gemurmel im Hintergrund herrscht.
Ich sage das nicht zuletzt deshalb, weil die Lasten der Bürgerinnen und Bürger in den Städten ständig wachsen. Diese Lasten machen das Zusammenleben mit den Zuwanderern nicht gerade leichter, nicht zuletzt, weil wir in den Städten bereits einen hohen Ausländeranteil haben, weil wir Aussiedler aufgenommen und bereits Asylbewerber in großer Zahl in den Städten untergebracht haben.Das führt nicht zuletzt dazu, daß die Städte keinerlei Bewegungsspielraum mehr haben. Es fehlen nicht nur Wohnungen, sondern auch andere Unterkünfte und sie sind kaum noch finanzierbar. Ein Container— dieses schlimme Wort spielt ja jetzt eine große Rolle — kostet pro Quadratmeter mittlerweile 50 DM, und die Wohnungspreise steigen so, daß es in den Gemeinden Ärger über Ärger gibt. Aus diesem Grunde geht das, was wir etwas vernebelnd Konsens nennen, verloren.Die Situation in den Kommunen wird von ihren Einwohnern als ausweglos erkannt, und sie wird, hält die unkontrollierte Zuwanderung an, in der Tat ausweglos.Die unselige drastische Reduzierung des sozialen Wohnungsbaus in der Mitte der 80er Jahre hat das ihre getan, daß die Städte und Gemeinden heute dem wachsenden Bedarf an geeigneten und preiswerten Wohnungen ohnmächtig gegenüberstehen.
Ich darf auch darauf hinweisen, daß ein wachsender Unterbringungsstau in den Kommunen die Probleme potenziert. Die Städte und Gemeinden kommen nicht zu Atem. Dabei darf nicht übersehen werden, daß parallel zur Aufnahme von Ausländern — die Familienzusammenführung läuft nach wie vor — und parallel zur Aufnahme von Aussiedlern die Zahl der Obdachlosen — nicht zuletzt dank der Bundespolitik — in einem Maße zunimmt, daß wir auch diesem Problem fast ohnmächtig gegenüberstehen und nicht mehr wissen, wo wir diese Menschen unterbringen sollen. Darum auch das böse Wort von den Containerstädten, die angeblich gedankenlos geschaffen werden. Sie sind aber nichts als ein Ausweg, den die Gemeinden selbst nicht wünschen, den sie aber nicht vermeiden können.In der ohnehin sattsam bekannten politischen und gesellschaftlichen Diskussion stellen sich die kommunalen Mandatsträger und die städtischen Mitarbeiter entschieden auf unsere Seite. Sie erwarten aber auch, daß wir die gesetzlichen und die technischen Voraussetzungen dafür schaffen, daß sie mit ihren örtlichen Aufgaben fertigwerden. Sie vertrauen dabei darauf, daß Regeln für geordnete Zuwanderung und schnelle Entscheidungen über Asylbegehren kommen. Sie wissen andererseits, daß geordnete Zuwanderung mit erheblichen Vorteilen für das aufnehmende Land verbunden ist. Dies sagen wir in den Städten und Gemeinden auch der Bürgerschaft.Die meisten unserer Mitmenschen sind derselben Meinung. Sie sind auch bereit, zu teilen. Herr Minister Kinkel, Sie haben in diesem Zusammenhang gesagt, sie müßten teilen lernen. Geteilt wird bei uns über den Lohnzettel. Sehen Sie sich einmal die Abzüge an, die unsere Lohnempfänger inzwischen zahlen! Sie zahlen
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6506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Hans Gottfried Bernrathauch dafür, daß wir Menschen aufnehmen. Aber sie wollen eben auch, daß wir dafür die geeigneten Regeln zur Verfügung stellen.
Sie wissen, daß Verfolgung nicht nur politische Verfolgung ist. Auch Hunger ist ein Verfolger. Darüber sind sie sich völlig im klaren. Sie wissen, daß all das die Menschen bedrängt und die Mobilität fördert. Sie sind bereit, sie aufzunehmen, wenn in ihren Städten dafür die Voraussetzungen geschaffen sind.Ich möchte auf die Bedingungen bei den Kommunen nicht weiter eingehen. Ich sage nur noch eines ausdrücklich: Die Forderungen, die hier erhoben worden sind, unterstützen wir alle. Ich glaube, darüber gibt es auch hier im Haus keine großen Differenzen. Wir sagen aber für die Kommunen deutlich, daß die Änderung des Art. 16 GG für uns nicht im Vordergrund steht, sondern daß wir die schnelle Hilfe über das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz erwarten.Im übrigen gehen wir davon aus, daß eine dauerhafte europäische Regelung ohnehin unserer Verfassung entsprechen, also darin ihren Niederschlag finden muß.Die Aufnahme von Flüchtlingen in so großer Zahl, wie wir sie in diesen Jahren bewältigen müssen, wird in den Kommunen immer schwieriger. Sie ist in der Bevölkerung umstritten. Ich habe das angedeutet. Um die Aufnahme von Menschen, die — aus welchen Gründen auch immer — zuwandern, dauerhaft gewährleisten zu können, ist es erforderlich, ich meine: sogar unumgänglich, das Recht der Flüchtlinge auf Zuflucht auch über ein solches Gesetz so zu regeln, daß es nicht nur den Flüchtlingen und ihren Begründungen für ihre Asylanträge gerecht wird und ihren Erwartungen entspricht, sondern auch ebenso berechtigten Interessen und Bedürfnissen der deutschen Bevölkerung und der bereits hier lebenden Millionen von Ausländern gerecht wird und auch deren Wünschen entspricht. Es gibt wohl keinen Bereich des öffentlichen Lebens, bei dem wir alle mehr auf Übereinstimmung mit unseren Mitbürgern angewiesen sind, vor allem wenn wir langfristig Einwanderung wollen.Darum gibt es auch keine Alternative zu dem, was wir mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Asylverfahren tun wollen. Mit den von uns angeregten Zielen zum Asylverfahrensgesetz, die dann im Gespräch beim Kanzler Anfang Oktober 1991 den Durchbruch gebracht haben, sind wir zu den Gesprächen über den Gesetzentwurf gekommen. Wir hoffen, daß die Asylverfahren schnell Erleichterungen bringen. Sie sind unseres Erachtens auch unabdingbare Voraussetzung für die Europäisierung des Asylrechts. Denn wer hier von Änderung des Art. 16 spricht, muß wissen, daß die Änderung des Art. 16 allein überhaupt nichts bringt.
Sie erfordert nach wie vor asylverfahrensrechtliche Regelungen.
— Wir haben unsere Meinung dazu ja eben gesagt. — Europa ist dabei für uns keine unüberwindliche Hürde.Ich muß auch etwas zu Herrn Schäuble — er ist leider nicht da — sagen: Er meint, die Ratifizierung des Schengener Abkommens sei nur in der Verbindung mit der Änderung des Art. 16 durchzuführen. Herr Schäuble selbst hat noch im November den Ländern einen Entwurf zugeleitet, ohne darauf hinzuweisen, daß der Art. 16 geändert werden muß.
Daher ist das alles Wahlkampfgeklingel und nichts weiter.
Mit dem Asylverfahrensgesetz allein — da stimme ich mit Herrn Schmude überein — können wir die hohen Flüchtlingszahlen allerdings nicht verringern. Allein damit ist das Problem der abgelehnten Asylbewerber nicht zu lösen. Kein praktikabler Weg führt meines Erachtens daran vorbei, abgelehnte Asylbewerber tatsächlich abzuschieben oder durch entsprechende Aufforderung zur Ausreise zu drängen. Nur demjenigen, der dazu bereit ist, nachdem wir das Gesetz verabschiedet haben, wird es gelingen, das Asylrecht für diejenigen zu verteidigen, die wirklich aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden.Es ist auch nicht richtig, in der Asyldiskussion mit dem massenhaften Asylmißbrauch und der Berufung auf die geringe Anerkennungsquote zu argumentieren. Ich will das an dieser Stelle nur andeuten. Die Relationen, die hier genannt werden, sind ja völlig falsch. Bezögen wir sie auf begründete politische und andere Verfolgung, so würden wir sehr viel schneller feststellen, daß es einen großen Bedarf gibt, Menschen aufzunehmen, wenn wir unser Angebot aus der Verfassung ernst nehmen. Ich sage voraus, daß auch dann, wenn wir das Gesetz ändern und konsequent abschieben, nicht, wie jetzt, 7 bis 8 % der Asylbewerber hierbleiben, sondern daß 25 bis 35 % bleiben werden,
für die Gründe vorliegen, die wir anerkennen müssen und die weit über das hinausgehen, was hier gelegentlich verniedlichend als Wirtschaftstourismus oder ähnliches gekennzeichnet wird.Unser Ziel muß es darum bleiben, Regelungen für die Zuwanderung zu entwickeln, die die jährliche Aufnahme einer bestimmten Anzahl von Ausländern, Zuwanderern, oder welche Begriffe man auch sonst verwenden will, erlauben und die im Rahmen unserer Verfassung praktikabel sein werden. Verschlössen wir uns dieser Notwendigkeit, so wäre das nichts anderes als Vogel-Strauß-Politik.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6507
Hans Gottfried BernrathDer vorliegende Entwurf entspricht nach meiner Ansicht den soeben erwähnten Zielen. Er ist auch verfassungskonform; davon gehe ich nach unseren sehr sorgfältigen Beratungen aus. Er entspricht den Zielen. Ich hätte mir noch ein paar Minuten gewünscht, um das auszuführen.Ich möchte noch einmal ausdrücklich auf unseren Antrag zur Beschleunigung des Asylverfahrens zurückkommen und Sie bitten, diesen Antrag in Ihre Beratungen im Innenausschuß und später hier im Plenum einzubeziehen. Es geht dabei um das, was wir etwas technisch und nach draußen unverständlich „die Schnittstelle" nennen. Es geht also um eine tatsächliche Beschleunigung durch eine zweckmäßige Aufgabenverteilung und die Einbeziehung der Hinderungsgründe nach den §§ 53, 54 und 55 des Ausländergesetzes, um auf diese Weise in einer Hand schnell entscheiden zu können.Im übrigen ist im Gespräch beim Kanzler gesagt worden, Herr Minister, daß möglicherweise die Bereitschaft besteht, auch andere Bestimmungen zu ändern, um den Handlungsspielraum für eine solche Aufgabenabgrenzung zu bekommen.Ich will auf die kostenlose Bereitstellung der Unterkünfte nicht näher eingehen. Das wird sich regeln lassen. Aber wer eine Sache zur Nutzung zur Verfügung stellt, der muß sie in gebrauchsfertigem Zustand überlassen. Die Länder werden, um sie gebrauchsfertig zu machen, sehr viel mehr investieren müssen, als der Bund an Miete erwartet. Daher müßte sich hier ein Ausgleich erreichen lassen, der dann — ich sage das noch einmal — im gesamten Kontext auch das Klima erhält, das wir brauchen, um eine europäische Lösung ebenfalls gemeinsam zu erreichen und damit Einwanderung langfristig zu ermöglichen und zu erleichtern und um das auch unseren Mitbürgern gegenüber verantworten zu können.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte ist fortgeschritten, die meisten Argumente sind ausgetauscht; ich werde sie deshalb nicht wiederholen, sondern nur auf einige wesentliche Gesichtspunkte hinweisen, die gerade für die F.D.P.-Fraktion von Bedeutung sind.Erstens. Wir halten es für gut und bemerkenswert, daß es eine gemeinsame Initiative der drei großen Fraktionen im Bundestag zur Beschleunigung der Asylverfahren gibt. Wir müssen diese Initiative in den Ausschüssen so schnell wie möglich beraten und verabschieden, damit konkret gehandelt werden kann.Zweitens. Wir wissen natürlich, daß sich diese Debatte nicht nur mit dem befaßt, was hier eingebracht worden ist, sondern auch mit der Initiative derCDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes.
— Änderung oder Ergänzung; das ist egal. Wir alle wissen, daß es kein Zufall ist, daß das gerade zu diesem Zeitpunkt geschieht.
Das hängt natürlich mit dem Wahlkampf in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein zusammen. Trotzdem will ich ganz kurz darauf eingehen.Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Meinung, daß diese Initiative keine Chancen für eine Mehrheit, geschweige denn für eine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag oder im Bundesrat hat
und sich schon deswegen verfahrensmäßig als eine Wahlkampfinitiative erweist.
Sie ist aber auch in der Sache nicht wirkungsvoll. Sie kann nicht das bringen, was es angeblich bringen soll.Es ist — um nur einen Gesichtspunkt herauszuheben — einfach naiv, zu glauben, man könne durch eine Verfassungsänderung die Asylantragsteller an den Grenzen abweisen. Wir wissen doch heute schon, daß die meisten Asylantragsteller gar nicht an der Grenze erfaßt werden.
In einem gemeinsamen Europa der offenen Grenzen ab 1993 können sie gar nicht mehr erfaßt werden. Die Asylantragsteller treten zu 90 % nicht an der Grenze, sondern irgendwo im Inland in Erscheinung und genießen dann natürlich auch die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes. Diesen Artikel will ja auch die CDU nicht ändern.Ich meine also, wir sollten auf das zurückkommen, was gemeinsam machbar ist. Das ist eine Vereinbarung in Europa im Hinblick auf ein gemeinsames materielles wie verfahrensmäßiges europäisches Asylrecht.Herr Kollege Schäuble hat hier behauptet, die Abkommen von Schengen und Dublin bedeuteten dieses europäische Asylrecht. Das widerspricht allem, was bisher gesagt worden ist. Das widerspricht auch der Tatsache, daß gerade auf deutschen Wunsch ein nationaler Vorbehalt für die jeweiligen Länder in dem Schengener Abkommen enthalten ist.
Das beweist, daß das noch nicht das endgültige europäische Asylrecht ist.
In der Koalitionsvereinbarung haben wir miteinander festgelegt, daß wir ein solches materielles wie
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6508 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Hermann Otto So1msverfahrensmäßiges europäisches Asylrecht anstreben. Wenn das Schengener Abkommen bereits vorhanden gewesen wäre, hätten wir das ja nicht zu vereinbaren brauchen.
Wir haben festgelegt, daß dann, wenn ein solches europäisches Asylrecht geschaffen wird, die Bundesrepublik daran mit vollen Rechten und Pflichten teilnehmen wird.
— Gesamteuropäisch. Dazu müssen natürlich die Länder Polen, Tschechoslowakei, Österreich und Schweiz einbezogen werden, schon aus dem praktischen Grund, weil die meisten Asylantragsteller durch diese Länder in die Bundesrepublik einreisen.Es trifft also nicht zu, daß Schengen schon das gewünschte europäische Asylrecht darstellt. Deswegen können wir das tun, was auch vorgesehen ist: Wir können die Abkommen von Schengen und Dublin ratifizieren, so wie sie von der Bundesregierung unterzeichnet worden sind, und zwar ohne Änderung des Grundgesetzes.
Es geht aber nicht an, aus politischen Gründen die Verhandlungen in Europa zu bremsen. Sie müssen mit allem Nachdruck vorangetrieben werden, um ein solches einheitliches europäisches Asylrecht zu schaffen. Ich sage hier ganz eindeutig — was von der SPD-Fraktion gesagt worden ist, gilt auch für die F.D.P.-Fraktion —: Sollte es sich ergeben, daß wir nicht um eine Änderung der deutschen Verfassung herumkommen, um an einem einheitlichen europäischen Asylrecht mit vollen Rechten und Pflichten teilzunehmen, dann ist die F.D.P.-Bundestagsfraktion bereit, daran mitzuwirken. Aber das ist nicht unser Ziel.
Unser Ziel ist ein einheitliches europäisches Asylrecht, das die Standards, die hier durch unsere Verfassung gesetzt sind, möglichst vollkommen enthält. Deswegen kann der Weg eben nur so verlaufen.Ich muß ehrlich sagen: Mich verwundert diese Diskussion ein wenig. Der Bundeskanzler, der ja auch Parteivorsitzender der CDU ist, hat mehrfach hier im Hause wie öffentlich gesagt, für ihn sei das Asylrecht unserer Verfassung ein heiliges Recht.
Er hat damit zum Ausdruck bringen wollen, daß dieses Grundrecht eines der wichtigsten Grundrechte ist und daß man nur sehr vorsichtig mit einem solchen Grundrecht umgehen darf.Ich wundere mich deshalb, daß die politische Entwicklung nun einen anderen Lauf genommen hat und daß die eigene Fraktion dem Vorsitzenden der CDU insoweit nicht mehr folgt.
— Das Asylrecht ist ein heiliges Recht, das für uns eine ganz besondere, grundsätzliche Bedeutung hat und das man nur ändern sollte, wenn es dafür eine große Übereinstimmung bei den Bürgern und den Parteien gibt.
Deswegen hat der Verfassungsgeber vorgesehen, daß für eine Änderung des Grundgesetzes eine Zweidrittelmehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften notwendig ist. Darum hätten Sie sich, bevor Sie einen solchen Antrag einbringen, einer solchen Mehrheit versichern müssen.Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg ist — ich verstehe das — natürlich in einer anderen Situation. Es geht ihm entscheidend darum, seine Mehrheit im Land Baden-Württemberg zu sichern. Deswegen kommt ihm diese Diskussion zupaß. Wir wissen ja schon aus Goethes „Faust", daß dem Teufel nichts heilig ist, wenn Sie mir das Wortspiel erlauben.
Man sollte das so werten, wie es gedacht ist: als Wahlkampfinitiative. Man soll es nicht weiter ernst nehmen.
Ich will abschließend sagen: Bei allem gebotenen Eifer in der Sache dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, daß wir mit noch so effizienten Verfahrensregeln und selbst mit einer Grundgesetzänderung keinen einzigen Flüchtling daran hindern werden, sein Land aus Gründen politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Not verlassen zu wollen.Die Probleme in den Herkunftsländern, die zu den Wanderungsbewegungen führen, bleiben durch unsere Beratungen und Beschlüsse unberührt.Wir müssen uns also verstärkt auch um die Fluchtursachen kümmern. Am Beispiel Polens hat sich gezeigt, daß vergleichsweise bescheidene Lebenschancen im eigenen Land ausreichen, um Menschen nicht zur Flucht, sondern zum Bleiben zu veranlassen. Polen stellte in den Jahren 1986 bis 1989 die meisten Asylbewerber. Gegenwärtig gelangen nur noch wenige polnische Flüchtlinge zu uns. Wir sehen daher eine große Chance in Konzepten, durch wirtschaftliche Hilfe, gerade auch in den europäischen Herkunftsländern, die den größten Anteil der Asylbewerber stellen, die Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen.Gelingt es uns nicht, die Lebensverhältnisse in den Problemregionen zu verbessern, werden wir eine Lösung des Asylproblems nicht erreichen.
Es bleibt also bei dem, was ich schon bei der Debatte im vorigen Herbst für meine Fraktion gesagt habe: Es gibt in Wirklichkeit nur drei Wege zur wirksamen und humanen Lösung des Asylproblems: erstens entschlossene und wirksame Hilfe für die Herkunftsländer, zweitens konsequente Beschleunigung der Asyl-
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Dr. Hermann Otto Solmsverfahren und umgehende Abschiebung nicht anerkannter bzw. abgelehnter Bewerber, drittens Schaffung eines einheitlichen europäischen Asylrechts unter gleichberechtigter Mitwirkung Deutschlands.
Die F.D.P. ist entschlossen, diese drei Wege zu gehen. Das heißt nicht Grundgesetzänderung, sondern es kommt zunächst darauf an, in Europa zu verhandeln.
Ich hatte ja vorhin gesagt: Unser Ziel ist es, die deutschen Standards soweit wie möglich in einen europäischen Standard einfließen zu lassen. Wir werden abwarten, wie das Ergebnis der europäischen Verhandlungen aussieht.Vielen Dank.
Ich weiß nicht, ob der Präsident diese Bemerkung machen darf, Herr Kollege Solms; aber weil Sie den Teufel mit „Faust" in Zusammenhang gebracht haben, möchte ich Sie doch daran erinnern, daß der Stuttgarter Oberbürgermeister den Spruch losgelassen hat: „Wer an Gott glaubt, muß auch an den Teufel glauben."
Ich erteile dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen, die ich eigentlich ansprechen wollte, sind nicht mehr da. Ich sage trotzdem: Es war etwas irritierend, daß der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg hier schwere Bedenken gegen einen Gesetzentwurf vorgebracht hat, der auch von seiner eigenen Fraktion eingebracht wurde.
Der Kern der Aussage von Herrn Teufel war, daß der Deutsche Bundestag mit diesem Gesetz seiner politischen Verantwortung nicht gerecht werden würde.
Dazu haben Sie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gejubelt. Wir haben schon gelernt, daß Ministerpräsidenten nicht das machen müssen, was Bundestagsfraktionen für richtig halten.
Das ist hier noch einmal vorgeführt worden.Wenn schon von der Handlungsfähigkeit von Bundestagsfraktionen gesprochen wird, muß ich sagen: Hier hat sich heute morgen zwischen den Koalitionsparteien eine Kluft aufgetan, die so groß ist, daß man sie nur noch mit einem Raumschiff überwinden könnte. Reden Sie also nicht von der Handlungsfähigkeit anderer!Ich habe Herrn Schäuble sehr sorgfältig zugehört und auch gehört, daß er uns aufgefordert hat, diese Grundgesetzänderung mit wechselnder Mehrheit gegen seinen Koalitionspartner zu beschließen. Ich nehme an, meine Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., auch Sie haben das vernommen und werden Ihre Konsequenzen und Schlüsse daraus ziehen.
Herr Dr. Schäuble, ich habe das Neue Testament in diese Debatte nicht eingeführt. Es ist immer gefährlich, das zu tun.
Da Sie das getan haben, erlauben Sie auch mir ein Wort aus dem Neuen Testament. Es lautet: Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan; und was ihr dem geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Das dürfte vielleicht ganz gut als ein Leitmotiv für die Diskussion über die Flüchtlingsproblematik gelten.Hier ist viel darüber gesagt worden, daß wir über Fluchtursachen und über deren Bekämpfung reden müßten; aber es ist nicht geschehen. Ich will es versuchen und dem ein ganz schlichtes Leitmotiv vorausstellen, das eine allgemeine Menschheitserfahrung ist, aber in jüngster Zeit in Vergessenheit zu geraten droht, nämlich daß Fluchtursachen bekämpft werden müssen, Flüchtlinge aber nicht bekämpft werden dürfen, sondern daß Flüchtlinge jenseits aller Paragraphen Anspruch auf Schutz und Hilfe haben.
Es sollte nicht über Statistiken und Haushaltszahlen gesprochen werden, sondern über menschliche Schicksale. Der neue Blick auf das Flüchtlingsproblem, der keineswegs auf unser Land beschränkt ist, wird nicht mehr von Hilfsbereitschaft, sondern von Abwehr bestimmt. Das Bewußtsein verändert sich: Immer mehr Katastrophen, immer neue Krisen und schnell steigende Zahlen von Menschen auf der Flucht, das führt — dies kann man nachvollziehen — zu einer Mitleidsmüdigkeit, aber auch zu einem Gefühl von Bedrohung und Gefahr durch die Wahrnehmung, daß Menschen in solchen Mengen auf der Flucht sind, daß wir das nicht mehr kontrollieren können und damit nicht mehr fertig werden können.Ich lasse offen, ob diese Wahrnehmung stimmt. In jedem Fall wirkt die moralische Verurteilung eines Flüchtlings — selbst wenn er seine Heimat nur verläßt, weil er einen besseren Lebensstandard will — in unserer Gesellschaft reichlich bigott. Wir dürfen unser Glück natürlich überall suchen, auch außerhalb unserer Grenzen. Aber andere sollen das nicht tun, jedenfalls nicht bei uns.Kampfbegriffe stellen sich schnell ein: „Überflutung", „Das Boot ist voll", „anbrandende Flüchtlingsmassen" , „Scheinasylanten" und „Wirtschaftsflüchtlinge". Das sind Kampfbegriffe mit diffamierendem Inhalt.
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6510 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Günter VerheugenEin „Wirtschaftsflüchtling" wird als unanständig empfunden. Das heißt doch, vor gewalttätiger Unterdrückung darf man fliehen, nachdem man gehörig Widerstand geleistet hat; in das Schicksal wirtschaftlicher Ausbeutung und sozialer Hoffnungslosigkeit aber muß man sich ergeben.Es ist richtig, daß der herkömmliche Begriff „Flüchtling" auf den größten Teil der von Wanderungsbewegungen erfaßten Menschen überhaupt nicht mehr paßt. Wir sprechen von Arbeits- und Umweltmigranten. Dies sind insgesamt wohl eine halbe Milliarde Menschen auf der Welt mit schnell wachsender Tendenz. Diese Wanderungen spielen sich fast ausschließlich innerhalb der Länder des Südens ab. Die Betroffenen erreichen uns nicht; sie haben keine Chance dazu. Wir müssen uns überhaupt bewußt machen, daß es die ärmsten Länder sind, die die Hauptlast des Weltflüchtlingsproblems tragen.Ich empfinde Worte wie „Wirtschaftsflüchtling" oder „Scheinasylant" jedesmal wie einen Peitschenhieb. Wer einmal in den Hungerregionen Afrikas einen der Elendszüge vertriebener Menschen — vertrieben durch Krieg, Dürre und Ausdehnung der Wüsten, oder weil sie schwarz sind, oder weil sie an etwas glauben, woran andere nicht glauben — gesehen hat, der weiß, daß diese Ärmsten der Armen mit Glück ein Lager erreichen werden, wo sie wiederum mit Glück am Leben gehalten werden. Aber sie erreichen nicht uns.Sollte ein solcher von Hunger und Krankheit gezeichneter Mensch an der Pforte des Deutschen Bundestages erscheinen und hier das Wort „Asyl" stammeln — ein Wort, in dem die ganze Hoffnung seines Lebens zusammengezogen ist —, wird dann einer von uns aufstehen und sagen: Du bist ein Scheinasylant? Ich hoffe es nicht. Die Welt ist eben doch anders, als sie an Wirtshaustischen erklärt wird.Die Diskussion über Flucht- und Wanderungsbewegungen geht sehr selten von der Analyse der Fakten aus, sondern sie projiziert Erwartungen, die sich dann zu Schreckensgemälden verdichten. Es trifft zu, daß es noch nie in der Geschichte eine so große Zahl entwurzelter Menschen gegeben hat und daß es wohl noch mehr werden.
Nach den Maßstäben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge gibt es 15 Millionen Flüchtlinge, die internationale Grenzen überschritten haben. In diesem Zusammenhang sind Flüchtlinge Menschen, die vor konkreter Verfolgung oder Verfolgungsgefahr fliehen. Dazu kommen 2,5 Millionen Palästina-Flüchtlinge und 3 Millionen Flüchtlinge als Folge des Golfkriegs. Die UNO zählt weitere 18 Millionen, die keine internationale Grenze überschritten haben.Der ganz überwiegende Teil aller dieser Flüchtlinge wird in Ländern der Dritten Welt aufgenommen. Unter den 20 größten Aufnahmeländern für Flüchtlinge lag 1989 Pakistan mit 3,25 Millionen Menschen auf Platz eins; wir lagen mit 150 000 auf Platz 20. Dies hat sich in den letzten zwei Jahren etwas verändert; das gebe ich zu.Mehr Flüchtlinge als wir haben die Klein- und Kleinststaaten Malawi, Costa Rica, Burundi und Honduras aufgenommen. In den zwölf Staaten der EG leben ohne Staatsangehörige der USA, Kanadas und Japans 6,1 Millionen Ausländer aus Nicht-EG-Ländern. Das macht 2 % aus. Das Geburtendefizit in den EG-Ländern von 1975 bis 1990 betrug 15 Millionen. Das heißt also, daß trotz schnell steigender Zuwanderung das reiche Westeuropa eher mit Bevölkerungsabnahme als mit Bevölkerungszunahme konfrontiert ist. So viel zum Thema: „Das Boot ist voll."Die schnell steigenden Zahlen der letzten Jahre haben mit der Öffnung der Grenzen in ganz Europa zu tun, die wir jahrzehntelang gefordert haben. Sie haben des weiteren zu tun mit dem Bürgerkrieg in _Jugoslawien, mit der Menschenrechtssituation in der Türkei und zunehmend mit politischen Entwicklungen in Nordafrika.Aber man muß festhalten: Die zahlenmäßig weitaus größeren Wanderungsbewegungen der sog. Arbeits-und Umweltmigranten spielen sich allein in den Ländern des Südens ab. Künftige Gefahren werden vor allem in der Entwicklung der GUS und als Folge der sich schnell weiter öffnenden Schere zwischen dem Bevölkerungswachstum und dem Wirtschaftswachstum in der Welt gesehen.Die gängigste Prognose lautet, daß wir im Jahr 2000 etwa 6,2 Milliarden Menschen auf der Erde haben werden; davon 80 % in den armen Ländern und 20 % in den reichen. Die Zahl der von Wanderungsbewegungen betroffenen Menschen wird nach diesen Prognosen bei einer Milliarde liegen; jeder sechste Erdbewohner wäre dann ein Migrant, ein Flüchtling.Dieser Trend ist Ausdruck einer tödlichen Spirale aus Überbevölkerung, Armut und Umweltzerstörung; Erscheinungen, von denen jeweils die eine die beiden anderen bedingt und verstärkt.Was sind die Ursachen? An erster Stelle sind es Krieg und Bürgerkrieg. Im Jahr 1991 wurden 46, meist innerstaatliche, Kriege gezählt; davon 44 in der Dritten Welt. Die Ursachen der Kriege sind bekannt. Aber ich will sagen, warum sie möglich sind. Sie sind möglich, weil Waffen geliefert wurden und werden — auch von uns.
Wir sind der fünftgrößte Rüstungsexporteur. Deutsche Rüstungsgüter waren im Kriegseinsatz in Afghanistan, Irak, Iran, Nicaragua, Israel, Syrien, Ägypten, Indien, Sri Lanka und Südafrika.Die zweite Ursache ist Verelendung. Auch daran sind wir nicht unbeteiligt.
Daß viele Länder des Südens in den letzten zehn Jahren trotz aller Anstrengungen noch ärmer geworden sind, ist die Folge eines Weltwirtschaftssystems, das die Länder des Südens als billige Rohstofflieferanten ausbeutet.
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Günter VerheugenDie Verschlechterung der „terms of trade" kostet die armen Länder jährlich ein Vielfaches von dem, was sie an Hilfe erhalten.Dazu sind sie in der Schuldenfalle gefangen. Die Verschuldung der Dritten Welt stieg von 1970 bis heute von 80 Milliarden Dollar auf 1,34 Milliarden Dollar. Der Schuldendienst stieg entsprechend. Das Ergebnis ist ein Netto-Kapitalfluß aus dem Süden in den Norden; nicht etwa umgekehrt. Wer hilft hier eigentlich wem? Unser Reichtum stammt auch aus der Ausbeutung der Dritten Welt, und so sind wir mitverantwortlich für das Entstehen des Elends, das dann als Fluchtbewegung vor unserer Haustür erscheint.
Die dritte Ursache ist die Umweltkrise. Hier sind wir nicht Mit-, sondern Hauptverursacher.Die vierte Ursache sind Menschenrechtsverletzungen. Auch hier können wir nicht sagen, wir hätten nichts damit zu schaffen; denn allzu lange haben auch wir Diktaturen nicht nur toleriert, sondern sogar aktiv gefördert, wenn das in der Zeit der Blockkonfrontation in unserem Interesse zu liegen schien.Diese vier Ursachen treten nicht isoliert auf, sondern sie bilden einen Ursachenkomplex. Sie schaffen für mehr und mehr Menschen eine Lebenssituation, die insgesamt als so bedrückend und ausweglos empfunden wird, daß Flucht oder Auswanderung als einzige Lebensperspektive bleiben.Was die Bundesrepublik Deutschland angeht, sieht das etwas anders aus. Diese großen Fluchtbewegungen erreichen uns nur peripher. Der ganz überwiegende Teil der Asylbewerber bei uns kommt aus Europa und aus der Türkei. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen.1991 kamen die meisten aus Jugoslawien, fast 75 000; das sind über 50 000 mehr als 1990. Allein diese Zahl erklärt den Zuwachs des Jahres 1991.
Fluchtursache der Jugoslawen ist der Bürgerkrieg. Wir können die Hoffnung haben, daß nach der Stationierung der UN Protection Forces — ich scheue mich ein bißchen, das mit „Schutztruppen" zu übersetzen; Sie werden das verstehen — eine politische Lösung der jugoslawischen Krise gefunden wird und daß die meisten der jugoslawischen Flüchtlinge zurückkehren werden. In Wahrheit stagniert also der Zugang bereits.Es ist nicht in Ordnung, wenn die Opfer des jugoslawischen Bürgerkriegs gegen die übrigen Asylbewerber ausgespielt werden, wie es Herr Ministerpräsident Teufel getan hat. Bürgerkriegsopfer können nicht als Begründung für angeblichen massenhaften Asylmißbrauch hergenommen werden.
An zweiter Stelle bei den Herkunftsländern liegt Rumänien mit über 40 000 Bewerbern, Anerkennungsquote 0,4 %. Aber auch diese Zahl täuscht. In Rumänien ist die politische und wirtschaftliche Lage tief deprimierend. Das neue System kann man allenfalls als aufgeklärt stalinistisch bezeichnen. Alte Unterdrückungsstrukturen bestehen weiter, Wirtschaftsreformen finden nicht statt. Gegenüber Minderheiten besteht eine hohe Gewaltbereitschaft und ein Klima der Verunsicherung und Bedrohung. Zu diesen Minderheiten gehören die Roma, die bereits von Hause aus Migranten sind und den größten Teil der Asylbewerber aus Rumänien ausmachen.An dritter Stelle steht die Türkei: 23 000 Asylbewerber, vorwiegend Kurden. Die Anerkennungsquote ist mit 7,9 % relativ hoch. Die Kurdenfrage ist vielleicht die schwierigste von allen. Es gibt ja nicht nur Gewalt auf der Seite der türkischen Obrigkeit, es gibt auch kurdischen Terror gegen Türken und Kurden. Es gibt kurdische Verfolgte, und es gibt kurdische Verfolger.Es gibt aber auch Zeichen der Entspannung. Die neue türkische Regierung hat den Gebrauch der kurdischen Sprache erleichtert. Sie hat eine Justizreform auf den Weg gebracht. Ich weiß wohl, daß es populärer ist, auf die Türkei einzudreschen. Und ihre bisherige Kurdenpolitik ist auch unentschuldbar. Aber wäre es nicht besser, die jetzige türkische Regierung zu ermutigen, auf dem begonnenen Weg Schritt für Schritt weiterzugehen und jetzt z. B. in den Gebieten, wo Ausnahmerecht besteht, dieses abzuschaffen und Formen der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung einzuführen?Ich frage mich auch, ob wir gut beraten sind, die Türkei immer weiter aufzurüsten. Wäre es nicht besser, ihr zu helfen, das Wohlstandgefälle zwischen dem kurdischen Siedlungsraum und der übrigen Türkei einzuebnen?An vierter Stelle steht mit deutlichem Abstand Bulgarien: Anerkennungsquote 0,1 %. Es findet in Bulgarien keine politische Verfolgung statt. Die Menschen, die Bulgarien verlassen, sind echte Auswanderer, in der Mehrzahl gut ausgebildete Fachkräfte. Sie bleiben übrigens auch nicht bei uns, sondern sie gehen in Länder, wo sie wegen ihrer Fähigkeiten willkommen sind. Es ist ein echter Brain-Drain zu Lasten Bulgariens, der gar nicht gut ist für dieses Land.
Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion ist bisher gering. Ob sie die von vielen befürchteten gigantischen Ausmaße annehmen wird, ist mehr als fraglich. Die Minderheitenprobleme in den GUS-Staaten haben bereits Wanderungsbewegungen ausgelöst. Diese finden aber auf dem Territorium der früheren Sowjetunion statt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß es so bleibt.Was also können wir tun? Flüchtlingsprobleme sind nicht unlösbar. Zur Zeit laufen große Rückführungsprogramme z. B. in Äthiopien, Angola, Mosambik, Südafrika, Afghanistan, Salvador und Kambodscha. Die Vereinten Nationen haben durch die Bildung von Schutzzonen für Kurden im Irak ein völlig neues Konzept entwickelt, das Modellcharakter haben könnte.
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6512 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Günter VerheugenWir können die Fluchtursachen bekämpfen durch Abrüstung und Rüstungskontrolle, Verbot und Kontrolle von Rüstungsexporten, Schaffung von regionalen Sicherheitssystemen. Wir können die Verelendung bekämpfen durch faire Handelsbedingungen, Öffnung unserer Märkte, auf ländliche Entwicklung konzentrierte Hilfe, Einführung sanfter Technologien, Lösung der Schuldenkrise und — das füge ich ausdrücklich hinzu — auch durch Rückführung der Vermögen, die von kleptokratischen Diktatoren und ihren Cliquen beiseite geschafft worden sind und europäischen und amerikanischen Banken zu schönen Profiten verhelfen.Was wir gegen die Umweltkrise tun können, ist oft genug gesagt worden. Ich will nur darauf hinweisen, daß die Kimaveränderungen, die wir durch unseren exzessiven Energieverbrauch herbeiführen, wiederum vor allem das Elend der Dritten Welt vergrößern werden.Es bleibt das Thema Menschenrechte und Minderheiten. Das wird eine politische Aufgabe ersten Ranges. Dazu brauchen wir eine handlungsfähige Organisation der Vereinten Nationen und auch verstärkte eigene Anstrengungen.
Herr Kollege Verheugen, Sie sind schon ein gutes Stück über die Zeit.
Ich bin beim letzten Satz.
In Jugoslawien ist es notwendig, den Schutz der Minderheiten zu garantieren. Nur dann können neue Staaten anerkannt werden und können neue Staaten Hilfen bekommen. Dasselbe gilt für Rumänien.
Wir können Menschenrechte nicht durchsetzen, wenn wir Regierungen unterstützen, die Menschenrechte verletzen. Wer künftig von uns Hilfe haben will, von dem müssen wir verlangen, daß er die Menschenrechte achtet. Das wird uns auch helfen, mit dem Flüchtlingsproblem besser umzugehen und dahin zu kommen, daß wir die Menschen, die zu uns kommen und um Hilfe suchen, nicht länger als eine Last empfinden, sondern daß wir die Bereitschaft, ihnen zu helfen, aufrechterhalten können.
Das Wort hat der Abgeordnete Zeitlmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu den Äußerungen insbesondere des nordrhein- westfälischen Innenministers — ich weiß, daß er nicht mehr dasein kann möchte ich eines sagen: Mir ist als Teilnehmer der Runden beim Bundeskanzler nie bekanntgeworden, daß von seiten der SPD die Übernahme aller Funktionen angeboten worden ist. Ich bin der Auffassung, dies müßte man in der Ausschußberatung noch einmal überlegen.
Die Änderung des Asylverfahrensgesetzes ist der inzwischen achte Versuch, das Verfahren auf der Basis der bestehenden Verfassungslage zu beschleunigen. Schon diese Zahl macht deutlich, daß ein durchschlagender Erfolg kaum zu erreichen sein wird. Die Verfahrensbeschleunigung unterhalb der Grundgesetzänderung wurde vor allen Dingen von SPD und F.D.P. gefordert, obwohl ein Teil der jetzigen Regelung, wie die Einrichtung von Sammelunterkünften, schon bisher möglich war, nur von den SPD-geführten Bundesländern bisher nicht genutzt wurde.Wir alle sind grundsätzlich für jede Art der Beschleunigung. Nur ist der Spielraum angesichts unserer in Europa einzigartigen Verfassungslage nicht mehr groß. Die Verfassungslage zwingt uns, auch bei all denjenigen, die offensichtlich nicht verfolgt wurden, ein aufwendiges Asylverfahren durchzuführen und ihnen für die Dauer des Verfahrens den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.Der vorliegende Entwurf ist zwar richtig, aber für die Größe der Aufgabe nicht ausreichend.
Die überwältigende Mehrheit unserer Bevölkerung ist bereit, den wirklich Verfolgten Schutz und Hilfe zu geben. Sie hat aber kein Verständnis dafür, daß wir eine Rechtslage aufrechterhalten, die es erlaubt, das Asylrecht zum Instrument illegaler Zuwanderung umzufunktionieren.
Die CSU fordert deshalb seit Jahren, das Grundgesetz in der Frage des Asylrechts zu ändern. Wir sind dabei immer dafür eingetreten, politisch Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren. Der ständig ansteigende Zustrom von Bewerbern ist aber mit dem bestehenden Rechtssystem trotz größter Anstrengungen nicht mehr zu bewältigen.Seit Jahren liegt die Anerkennungsquote unter 10 %. Dem Großteil der Nichtanerkannten bescheinigen wir — nach zum Teil mehrere Jahre dauernden Verfahren —, daß sie in ihre Heimat zurückkehren müssen. Ich frage Sie: Ist das wirklich im Interesse dieser Menschen? Wir müssen doch vielmehr erreichen, daß diejenigen, die tatsächlich verfolgt werden, schnell anerkannt werden und damit Gewißheit über ihre Zukunft haben. Diejenigen, die aber aus rein wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen, müssen möglichst schnell wieder in ihre Heimatländer zurückgebracht werden.Die CSU verkennt nicht, daß die Ursachen für die hohe Zahl von Bewerbern vielfach Armut und schlechte Lebensbedingungen in den Herkunftsländern sind. Dies kann aber nicht der Maßstab für die Zuwanderung nach Deutschland sein. Viele der Menschen, die zu uns kommen, werden in ihren Heimatländern gebraucht. Auch die Mittel, die wir jährlich für Asylbewerber bei uns aufwenden — es ist heute genannt worden: über 5 Milliarden DM — wären in den Herkunftsländern besser eingesetzt.Deutschland ist kein Einwanderungsland und kann auch kein Einwanderungsland werden. Weder durch Einwanderung noch durch das Asylrecht können wir
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Wolfgang Zeitlmannder Not und dem Elend in anderen Ländern der Welt begegnen. Helfen können hier nur — wenn auch nicht von heute auf morgen — vermehrte Anstrengungen aller wohlhabender Staaten und der betroffenen Länder selbst, die dortigen Bedingungen zu verbessern.Der ungebremste Zustrom von Asylbewerbern in die Bundesrepublik Deutschland beunruhigt die Menschen. Viele machen sich Gedanken, ob die Folgeprobleme eines steigenden Ausländeranteils zu bewältigen sind. Sie haben Zweifel, ob die dramatischen Unterbringungsprobleme für Hunderttausende von Asylbewerbern gelöst werden können. Sie fragen nach den Ausbildungschancen ihrer Kinder in Schulen mit hohem Ausländeranteil. Sie verfolgen mit großer Sorge, daß die drängenden Probleme im Bereich der inneren Sicherheit und auf den Wohnungsmärkten weiter verstärkt werden.In dieser Situation darf eine verantwortungsbewußte Politik die Menschen mit ihren Ängsten und Befürchtungen nicht alleine lassen. Die Integrationsfähigkeit gegenüber fremden und anderen Lebensweisen ist in jeder Gemeinschaft und in jedem Volk begrenzt. Diese normale menschliche Reaktionsweise muß respektiert und berücksichtigt werden. Sie ist auch abhängig vom Grad der kulturellen und sozialen Verträglichkeit. Wer einer multikulturellen Gesellschaft das Wort redet, gefährdet die Stabilität der Bundesrepublik Deutschland.
Es ist legitim, ja sogar geboten, den Anliegen der einheimischen Bevölkerung und dem sozialen Frieden eine klare Priorität zu geben. Wenn wir beim Asylrecht nichts unternehmen, besteht die Gefahr, daß die ganz überwiegende ausländerfreundliche Haltung der Bürger in Ablehnung umschlägt.Die Ergänzung des Grundgesetzes ist auch erforderlich, um unsere Verfassung europatauglich zu machen. Im Zuge des Zusammenwachsens Europas muß das Asylrecht zwischen den Mitgliedstaaten der EG harmonisiert werden. Ein erster Schritt in diese Richtung ist das Schengener Übereinkommen.Obwohl sich alle Unterzeichnerstaaten ausdrücklich zur Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention bekennen und jedem Flüchtling ein rechtsstaatliches Asylverfahren garantiert wird, könnte die Bundesrepublik Deutschland nur die Pflichten aus diesem Übereinkommen übernehmen, nicht aber die Rechte beanspruchen. Ursache dafür ist unsere Verfassung, die jedem um Asyl nachsuchenden Ausländer eine einklagbare Rechtsposition einräumt. Eine hinkende Teilnahme am Schengener Abkommen ist für die CSU jedoch nicht akzeptabel.Ohne Grundgesetzänderung wird es mit uns deshalb keine Ratifizierung geben. Eine fortdauernde Sonderrolle Deutschlands mit seiner einzigartigen Asylgarantie hätte mit der Verwirklichung des Binnenmarkts verheerende Folgen. Schon heute nimmt die Bundesrepublik mehr als 60 % der EG-Asylbewerber auf. Ohne eine Grundgesetzänderung werden wir trotz der im Schengener Übereinkommen festgelegten Zuständigkeiten das Asylland Europas bleiben.Die CDU/CSU hat deshalb einen Antrag auf Änderung des Grundgesetzes eingebracht.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß die meisten von Ihnen den Ernst der Situation erkannt haben. Dennoch sperren sich SPD und F.D.P. noch immer gegen eine Ergänzung des Grundgesetzes.
Gerade die Äußerungen Ihrer Kommunalpolitiker müßten für Sie jedoch Anlaß zum Umdenken sein. Schließlich hat sich erst kürzlich der Oberbürgermeister Münchens, Kronawitter, für eine Änderung des Grundgesetzes ausgesprochen.Wer angesichts der europäischen Perspektive wegfallender Grenzen noch länger eine grundlegende Reform des deutschen Asylsystems ablehnt, fügt den wirklich politisch Verfolgten und unserer Gesellschaft Schaden zu.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Abgeordneten Bernd Henn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich vorweg sagen, daß ich in meiner beruflichen Praxis in den letzten 15, 20 Jahren sehr viel mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hatte und in vielen Betriebsversammlungen, Rentnerversammlungen, glaube ich, mit dazu beigetragen habe, der wachsenden Ausländerfeindlichkeit entgegenzutreten. Ich muß diese Bemerkung vorweg machen, weil ich mit manchem Argument, das ich noch vortragen möchte, doch in eine für mich etwas ungewöhnliche Nähe zur CDU/CSU komme.Wenn durchschnittlich nur 5 bis 7 % der Asylbewerber in Deutschland politisches Asyl erhalten, dann müssen Überlegungen erlaubt sein, ob und wie es möglich ist, daß der größere Teil der offensichtlich unbegründeten Anträge auf politisches Asyl gar nicht erst auf den Verfahrensweg kommt. Eine solche Fragestellung diskreditiert meines Erachtens nicht die Würdigung der Fluchtgründe der 80 bis 90 %, die nicht als politische Flüchtlinge anerkannt werden können. Ich werde am Schluß noch einmal darauf zurückkommen.Ich denke aber, Herr Kollege Verheugen, daß es durchaus richtig ist, den Begriff Wirtschaftsflüchtling beizubehalten; nur, es gilt ihn richtig zuzuordnen. Wir sind uns sicher darüber einig, daß die Unternehmungen, die in Steueroasen fliehen, durchaus als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden können. Auf sie trifft der Begriff zu. Wir sollten für den hier in Rede stehenden Sachzusammenhang richtigerweise den Begriff Elendsflüchtling wählen.Ich halte Veränderungen im Asylrecht sowohl hinsichtlich des Asylverfahrens als auch im Hinblick auf das Grundgesetz für notwendig:
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Bernd Hennzum einen wegen der zunehmenden Vergiftung des Klimas zwischen Deutschen und den ausländischen Mitbürgern, die auch durch die gegenwärtige Asylverfahrenspraxis gefördert wird. Nach meiner Lebenserfahrung ist dem nicht mit noch so gutgemeinten Appellen und Goodwill-Kampagnen beizukommen. Zum anderen, weil ich glaube, daß ohne Veränderung der Zustände auf Dauer auf diesem Gebiet das Recht auf politisches Asyl viel gefährdeter ist als bei einer rechtzeitigen Abgrenzung und adäquaten Behandlung der verschiedenen Fluchtgründe.Ich sehe im wesentlichen drei Ansatzpunkte. Erster Punkt, heute mehrfach erwähnt: Selbstverständlich müssen Kriegsflüchtlinge wie derzeit aus Jugoslawien ein vorübergehendes Bleiberecht erhalten, ohne daß sie deshalb in ein Asylverfahren gezwungen werden.
Die dann noch verbleibende Statistik würde allerdings herzlich wenig an Wahlkampfmunition übriglassen.
Zweitens brauchen nach meinem Kenntnisstand die zuständigen Behörden und Gerichte erheblich mehr Personal. Mir jedenfalls haben die Beamten vor Ort versichert, daß allein an der personellen Unterdekkung eine wesentlich zügigere Durchführung der Asylverfahren scheitert. Allerdings habe ich diesbezüglich leider nur niedersächsische Erfahrungen. Insofern weiß ich nach den Einlassungen des Herrn Minister Seiters nicht, ob sie auf andere Länder übertragbar sind.
Was die Verkürzung der gerichtlichen Asylverfahren auf eine Instanz betrifft, habe ich mit Interesse die Äußerung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts, Eberhard Franßen, zur Kenntnis nehmen müssen, der eher von einer längeren Zeitdauer der Verfahren ausgeht, wenn sich am Ende alle Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht stauen würden.Ich bin kein Jurist und kann daher auch wenig zu anderen rechtspolitischen Problemen beitragen, die in diesem Zusammenhang entstehen. Aber ich frage mich natürlich, warum die gerichtliche Überprüfung der rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Versagung eines Grundrechts nur bei einer speziellen Gruppe von Menschen auf nur eine Instanz reduziert werden soll. Ich finde dafür keine vernünftige Begründung.Für die Debatte, ob der Bund durchgängig oder ob auch die Länder für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein sollen, habe ich überhaupt kein Verständnis. Hier geht es wohl im wesentlichen um Geld. Mich würde schon interessieren, um welche Summen es geht, die zwischen Bund und Ländern strittig sind. Ich vermute aber, daß es sich eher um geringe Summen im Verhältnis zu dem handelt, was Anfang letzten Jahres im Zusammenhang mit dem Golfkrieg beschlossen worden ist.
Der dritte Bereich, in dem ich einen Ansatzpunkt sehe, offensichtlich unbegründete Asylverfahren zu vermeiden, deckt sich mit dem Vorhaben der CDU/CSU, im Grundgesetz Änderungen herbeizuführen, die es möglich machen, Asylbewerbungen aus Nichtverfolgerländern — ich glaube, das ist wohl der technische Begriff — nicht wirksam werden zu lassen. Ich glaube, es ist in diesem Hohen Hause unstrittig, daß es solche Länder gibt. Das Problem ist natürlich, daß aus den Ländern, wo es am ehesten unstrittig ist, keine Asylbewerber zu uns kommen.Allerdings stehe ich auf dem Standpunkt — das betrifft das Schengener Abkommen —, daß Flüchtlinge, die aus einem Verfolgerland kommen, aber über ein Nichtverfolgerland einreisen, bei uns einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren haben müssen, jedenfalls so lange, wie in dem Durchreiseland nicht die bei uns geltenden Normen für die Gewährung von politischem Asyl ebenfalls gelten. Mich interessiert dabei überhaupt nicht, welche Asylpraxis in den anderen EG-Staaten herrscht. Wir Deutsche haben auf Grund unserer Geschichte eine besondere Verpflichtung gegenüber politisch Verfolgten.Dennoch bleibt die Frage, ob sich nicht für bestimmte Länder, aus denen nennenswerte Flüchtlingskontingente kommen, feststellen läßt, daß sie zu den Nichtverfolgerländern gehören. Von dem Kollegen Verheugen ist gesagt worden, daß beispielsweise in Bulgarien nicht politisch verfolgt wird. Bei Rumänien wäre ich sehr unsicher. Bei der GUS bin ich auch unsicher. Ich bin aber sicher, daß es möglich wäre, in diesem Hohen Hause Gremien zu bilden, die mit hoher Informationsfülle, mit großer Sachkomptenz und Verantwortung solche Fragen entscheiden könnten.Um aber Mißverständnissen vorzubeugen: Ich könnte nie zustimmen, daß Nichtverfolgerländer durch die Regierung oder durch eine einfache Mehrheit in diesem Hause festgestellt werden. Dazu ist mein Mißtrauen gegenüber der größten Fraktion in diesem Hause viel zu groß. Für mich bleibt unvergessen, welche Nähe Spitzenpolitiker zu rechten Diktaturen gepflegt haben. Ich schließe nicht aus, daß es eines Tages irgend jemand für Internierte im Stadion von Santiago de Chile bei schönem Wetter wieder ganz schön und angenehm finden könnte.Wenn allerdings eine Kommission oder ein Ausschuß dieses Hauses oder der Bundestag in Gänze mit verfassungsgebender Mehrheit solche Feststellungen träfe bzw. umgekehrt eine qualifizierte Minderheit von einem Drittel der Mitglieder dieses Hauses die Herausnahme eines Landes aus einer solchen Unbedenklichkeitsliste durchsetzen könnte, hätte ich persönlich keine Bedenken, einem solchen Verfahren zuzustimmen. Im Gegenteil: Ich stelle mir vor, daß die Auseinandersetzung über die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Ländern in eine solche Liste jeweils eine produktive Debatte über die Menschenrechtsverhältnisse in dem jeweiligen Land auslösen könnte mit allen Folgediskussionen zu Fragen der Entwicklungshilfe, Handelsbeziehungen usw.Lassen Sie mich abschließend noch einen Gedanken zum Aufenthalt von Menschen aus Entwicklungsländern in unserem Land vortragen, Mir geht es nicht
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Bernd Henndarum, weniger ausländische Menschen hier zu haben. Abgesehen davon, daß mehr in den Entwicklungsländern selber getan werden muß — das hat heute fast jeder Redner bekräftigt —, sollten wir ständig eine große Zahl von Bürgern aus DritteWelt-Staaten einladen, sich in Deutschland für zwei bis drei Jahre in für sie wichtigen Technikbereichen qualifizieren zu lassen, damit sie dann mit dem erworbenen Wissen, den Fähigkeiten und Fertigkeiten in ihre Heimat zurückkehren, und dort die Entwicklung vorantreiben können.An der Fluchtbewegung — das ist zu Recht gesagt worden — sind zu einem großen Teil — —
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, ich komme — —
Nicht „komme", ein Satz.
Gut, Herr Präsident, ich werde einen Schlußsatz sagen.
Ich meine, wenn Industrie und Handwerk, deren Ausbildungsstätten mehr und mehr leer werden, an einem solchen Programm mitwirkten, könnten wir hier Menschen aus der Dritten Welt in der Größenordnung von mehreren 100 000 qualifizieren. Dann könnte ich es auch moralisch vertreten, daß man den Flüchtlingsstrom in unser Land auf den Kernbereich des politischen Asyls einschränkt.
Ich danke für das Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich nicht überraschend, daß wir heute über das vorliegende Gesetzespaket hinaus auch zu der europäischen Frage gesprochen haben; denn wir schöpfen mit dem Gesetzentwurf, den wir gemeinsam eingebracht haben, das aus, was national rechtlich möglich ist. Aber was hier an Märchen über Schengen und Dublin erzählt worden ist, bedarf doch einer gewissen Korrektur.Erstens. Im Schengener Abkommen gibt es keine Verteilungsregelung für Asylbewerber.
Jeder kann das nachlesen. Das ist ein offenes Abkommen, das jedermann lesen kann. Im Schengener Abkommen gibt es Verfahrensregelungen dafür, welche Behörde, welcher Staat welchen Antrag prüft. Wir werden in Deutschland nach der Ratifizierung des Abkommens von Schengen nicht anders verfahren als bisher, weil keine andere Regelung vorgesehen ist.
Verehrte Koalitionspartner, wir haben mehrere Koalitionsrunden gehabt, um diese Regelung verfassungskonform ohne die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung durchzuführen. Bei dem Wort bleiben wir.
Zweitens. Das Abkommen von Dublin regelt ebenfalls keine Verteilung von Asylbewerbern.
Dublin orientiert sich an dem, was das Schengener Abkommen vorgibt und erweitert es nur für andere.
Drittens. Herr Ministerpräsident Teufel hat meines Erachtens genau den Kern getroffen, als er sagte: „Wir drehen die Gebetsmühle weiter, bis Sie nachgegeben haben." Er hat davon gesprochen, daß die Gebetsmühle von ihm weitergedreht werde. Gebetsmühlen-artig wird die Forderung nach Verfassungsänderung wiederholt, um ein Wahlkampfthema zu haben und um die Innenpolitik erst einmal mit diesem Schwerpunkt zu belasten, nicht aus Sachgründen. Das muß meines Erachtens klar herausgestellt werden;
denn das, was mit der Verfassungsänderung gewollt ist, ändert doch nichts am Völkerrecht. Wir sind doch nach der Genfer Konvention völkerrechtlich verpflichtet, jeden Antrag zu prüfen. Wir sind verpflichtet, Individualprüfungen vorzunehmen. Wir sind auch verpflichtet, eine Prüfung durch eine zweite Verwaltungs- oder eine Gerichtsinstanz vorzunehmen. Das ist 1977 völkerrechtlich festgelegt worden. Der Justizminister hat vorhin daran erinnert.
Die Auswahl zwischen denen, die wirklich berechtigt sind, und denen, die nicht berechtigt sind, kann uns niemand abnehmen. Wir dürfen sie auch dem Grenzbeamten nicht übertragen, sowohl weil wir es ihm nicht zumuten dürfen als auch weil es völkerrechtlich nicht zulässig wäre.
Wenn wir eine einheitliche europäische Regelung des Verfahrens im Asylbereich wollen, dann muß dem der einheitliche materielle Asylbegriff vorangestellt werden, orientiert an der Genfer Flüchtlingskonvention.
Darüber muß eine europäische Verständigung erzielt werden. Europäisch heißt für mich auch: europäischparlamentarisch kontrollierbar. Es darf also nicht allein eine europäische Regierungsregelung sein. Wir haben deswegen doch alle gehofft, daß Maastricht hier mehr bringt.Wir wollen diese einheitliche europäische materielle Regelung. Dann gibt es bei uns kein Verfassungsproblem mehr, weil zur einheitlichen Regelung auch gehören wird, daß die europäischen Rechtsstaa-
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Wolfgang Lüderten — und es sind Rechtsstaaten — das Völkerrecht anwenden und auch Überprüfungen jeder ablehnenden Entscheidung vornehmen werden. Wenn das vorgesehen wird, stellt sich die Frage der Verfassungsänderung gar nicht mehr.
— Nein! Dann bringt doch bitte euren Gesetzentwurf ein, damit wir in der Anhörung Sachverständige dazu hören und bestätigt bekommen können, — —
— Der steht heute noch nicht auf der Tagesordnung. Die Bundesregierung hat das Ratifizierungsgesetz zum Schengener Abkommen nicht für besonders eilbedürftig erklärt.
— Moment! — Das Ratifizierungsgesetz zum Dubliner Abkommen hat die Bundesregierung noch nicht einmal beschlossen.
Wir werden noch öfter Gelegenheit haben, uns mit diesem Thema zu befassen, aber dann hoffentlich mit mehr Ruhe.
— Diese Bitte habe ich an alle Kollegen im Hause außer an mich selbst.
Meine Damen und Herren, als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Rolf Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Verheugen, ich glaube, wir alle machen uns die Entscheidungen in der Asylrechtsfrage nicht leicht. Ich habe diese Entscheidungen immer als äußerst schwierig und auch als persönlich belastend empfunden. Wer so lange Berichterstatter für Asylfragen gewesen ist wie ich, wer immer wieder Heime für Asylbewerber besucht und Gespräche mit Flüchtlingen geführt hat, weiß, daß hinter allen Zahlen natürlich Menschen stehen, Menschen mit ihren oft schweren, bitteren Schicksalen.Aber nach langem Nachdenken steht für mich fest: Wenn es uns nicht gelingt, den dramatisch wachsenden Mißbrauch des Asylrechts konsequent zu stoppen, dann wird es in Deutschland schon in absehbarer Zeit zu schweren Konflikten und gefährlichen sozialen Spannungen kommen, die all das, was wir an einzelnen Fällen bisher erlebt haben, in den Schatten stellen.Kann das Beschleunigungsgesetz die Probleme wirklich lösen? Gewiß, manche Fälle werden wir schneller entscheiden können. Aber den massenhaften Mißbrauch des Asylrechts zum Zwecke der Einwanderung werden wir so nicht stoppen. Alle Erfahrungen zeigen: Wenn Flüchtlinge und Einwanderer in Deutschland erst einmal aufgenommen worden sind, bleiben sie meist hier. Deshalb brauchen wir ein Recht, das Flüchtlinge und Einwanderer, die unberechtigt in die Bundesrepublik einreisen wollen, schon an der Grenze konsequent zurückweist; ein Gesetz, das auch in den Herkunftsländern von vornherein keinerlei falsche Hoffnungen und Illusionen aufkommen läßt, auch nicht bei Schlepperorganisationen.Alle bisherigen Versuche, durch Änderung des einfachen Rechts, also ohne Änderung des Grundgesetzes, Erfolg zu haben, sind eindeutig gescheitert. Das ist seit langem die feste Überzeugung aller schleswig-holsteinischen CDU-Abgeordneten und unserer Landespartei in Schleswig-Holstein. Wir haben daher, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vor allem aus Baden-Württemberg, die Initiative für eine Änderung des Grundgesetzes ergriffen, die von der Fraktion jetzt beschlossen und in den Bundestag eingebracht worden ist.Manche möchten eine Politik konsequenter Abschiebung als ausländerfeindlich abstempeln. Ich denke, das Gegenteil ist eher richtig.
Ich will nicht alle Argumente wiederholen, nur soviel: Erstens. Welche sozialen Perspektiven können wir, wenn der Zustrom so weitergeht, den Asylbewerbern bei uns bieten? Ist nicht für viele eine Existenz am Rande unserer Gesellschaft, verbunden mit der Gefahr von Drogen und Kriminalität, vorprogrammiert?Zweitens. Was bedeutet es für die Herkunftsländer, wenn Tausende, ja, Hunderttausende ihre Heimat verlassen? Ist uns bewußt, daß mit dem gleichen Geld, das wir hier für einen einzigen Asylbewerber ausgeben, dort die Existenz von 10 bis 20 Menschen gesichert werden könnte?Unsere Antwort auf die Not in vielen Ländern kann — ich unterstreiche das — nur heißen: Sicherung der Menschenrechte, massive Entwicklungshilfe, Aufbau einer funktionsfähigen Wirtschaft, mehr Hilfe zur Selbsthilfe und mehr Engagement, so füge ich hinzu, auch für die Erhaltung des Friedens — eine große Verantwortung der UN und der wohlhabenden Länder, aller Länder dieser Erde.
Drittens. Deutschland ist nach dem Verständnis der Deutschen kein Einwanderungsland und soll auch keines werden. Müssen wir nicht verstehen, daß es auch in unserem Volk Grenzen der Fähigkeit zur sozialen Integration und Grenzen der Belastbarkeit gibt — in einem so dicht besiedelten Land, das jetzt nach der Wiedervereinigung zweifellos besondere Lasten zu tragen hat?Manche meinen, die allmähliche Umwandlung der Bundesrepublik von einem vergleichsweise homoge-
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Dr. Rolf Olderognen Staat in ein Einwanderungsland sei eine Bereicherung, keine Belastung.
Natürlich bedeuten ethnische Minderheiten auch eine kulturelle Bereicherung. Alle Erfahrung zeigt aber auch: Weitgehende ethnische, religiöse und kulturelle Geschlossenheit ermöglichen Grundkonsens und Solidarität eines Volkes. Ethnische Minderheiten, religiöse und kulturelle Gegensätze schaffen Spannungen, wirken allzuoft explosiv und sind doch gerade häufig Ursache für jene Flüchtlingsströme, die wir beklagen. Schauen wir nur nach Jugoslawien oder in die ehemalige Sowjetunion!Schließlich viertens: Wenn wir nicht entschieden genug gegen den Mißbrauch des Asylrechts vorgehen, dann bedeutet dies Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen,
die mit demagogischen Parolen zum Fremdenhaß aufwiegeln und Wählerstimmen sammeln.
Meine Damen und Herren, nein, wir kommen um eine Änderung des Grundgesetzes nicht herum. Das geht nicht ohne Zustimmung von SPD und F.D.P. Wer sich verweigert, trägt schwere Verantwortung.
Ich appelliere an Sie, meine Kolleginnen und Kollegen: Nur wenn wir gemeinsam so handeln, helfen wir unserem Land.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, ich habe noch zwei Redebeiträge, die zu Protokoll gegeben werden sollen. Es handelt sich um Redebeiträge der Kollegen Erwin Marschewski und Michael Stübgen. Herrscht Einverständnis, daß wir so verfahren? Dann könnten wir diese Debatte beenden. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen ).
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/2062, 12/1714 , 12/2089, 12/2097 und 12/2100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der interfraktionelle Gesetzentwurf auf Drucksache 12/ 2062 soll außerdem zur Mitberatung und nach § 96 unserer Geschäftsordnung dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Der Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2089 soll zusätzlich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich hätte hier jetzt eigentlich folgendes zu verlesen: „Ich unterbreche die Sitzung für eine kurze Pause. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt." — Die Ereig*) Anlage 2
nisse haben aber inzwischen einen anderen Ablauf genommen, und somit rufe ich jetzt Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
-- Drucksache 12/2098 —
In der Fragestunde haben wir zunächst den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Paul Laufs zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 53 der Abgeordneten Renate Jäger auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung bei dem Konkurs von Betrieben mit Radionuklidanwendern zu verfahren, so daß eine sichere Verwahrung der Radionuklide gegeben, eine ungesetzliche Entsorgung nicht möglich ist sowie das Detailwissen für eine Entsorgung erhalten bleibt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Jäger, nach § 9a Abs. 3 des Atomgesetzes haben die Länder Landessammelstellen für die Zwischenlagerung der in ihrem Gebiet anfallenden radioaktiven Abfälle aus Industrie, Medizin und Forschung einzurichten. Die neuen Bundesländer bemühen sich zur Zeit, dieser gesetzlichen Verpflichtung so schnell wie möglich nachzukommen. Bis zur Inbetriebnahme der Landessammelstellen müssen die Abfälle bei den jeweiligen Radionuklidanwendern, d. h. den Abfallverursachern, zwischengelagert werden. Ist eine solche Zwischenlagerung beim Abfallverursacher nicht möglich, z. B. wegen eines Konkurses oder sonstiger betrieblicher Schwierigkeiten, hat die Aufsichtsbehörde des Landes die Möglichkeit, die radioaktiven Stoffe durch eine Anordnung nach § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes so aufzubewahren bzw. verwahren zu lassen, daß sich keine Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können. Von dieser Möglichkeit wurde von verschiedenen Aufsichtsbehörden bereits in einigen Fällen Gebrauch gemacht.
Zusatzfrage, Frau Kollegen Jäger, bitte.
Ist Ihnen bekannt, daß diese Zwischenlager bei den Radionuklidanwendern in den neuen Ländern überhaupt nicht existierten?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Es ist bekannt, daß in den neuen Bundesländern noch keine Landessammelstellen existieren. Deshalb ist die Zwischenlagerung bei den Radionuklidanwendern vorzunehmen.
Diese Radionuklidanwender hatten aber die Anwendung früher so organisiert, daß sie die entsprechenden Einrichtungen angerufen haben, woraufhin vom Endlager Morsleben diese Abfälle abgeholt und entsorgt wurden. Deshalb existieren zum einen überhaupt keine Zwischenlager.Zum anderen ist es so, daß in diesen Betrieben die Sicherheitsfachleute entlassen wurden bzw. in Kurzarbeit sind. Es fehlt also das gesamte Fachpersonal für
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Renate Jägerdie Entsorgung. Sowohl die Lagerstätten als auch das Fachpersonal sind nicht vorhanden. Wie verhalten Sie sich in dieser Frage?Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Jäger, wie ich Ihnen gesagt habe, können die Aufsichtsbehörden der Länder nach § 19 Abs. 3 des Atomgesetzes Anordnungen treffen. Wenn keine Landessammelstellen zur Verfügung stehen, können sich die Bundesländer bei der Erfüllung ihrer Pflichten auch Dritter bedienen, die in ihrem Auftrag radioaktive Abfälle einsammeln und an einen vom Land zu bestimmenden Ort verbringen oder in geeigneten Transport- und Lagerbehältern zwischenlagern.Das Angebot eines ausgewiesenen Wirtschaftsunternehmens liegt vor. Es ist bisher jedoch nur in ganz wenigen dringlichen Entsorgungsfällen genutzt worden.
Ich rufe nunmehr die Frage 54 der Abgeordneten Renate Jäger auf:
Welche Möglichkeiten einer Novellierung zum Staatsvertrag bzw. zum Erlaß von Nachfolgegesetzen sieht die Bundesregierung, um für die Behebung des Entsorgungsnotstandes in den neuen Bundesländern kurzfristig das existierende Endlager Morsleben wieder zu nutzen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Jäger, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Dauerbetriebsgenehmigung vom 22. April 1986 für das Endlager Morsleben nach § 57 a des Atomgesetzes auf das Bundesamt für Strahlenschutz übergegangen ist, das für die Endlagerung radioaktiver Abfälle nach § 23 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des Atomgesetzes zuständig ist.
Da das Bezirksgericht Magdeburg im Beschluß vom 20. Februar 1991 eine andere Rechtsauffassung vertreten hatte, legte die Bundesregierung im Hauptsacheverfahren zum Endlager Morsleben beim Bezirksgericht Magdeburg bereits einen Referentenentwurf zur klarstellenden Änderung des § 57 a des Atomgesetzes vor. Das Änderungsvorhaben, mit dem der gesetzliche Genehmigungsübergang auf das Bundesamt für Strahlenschutz klargestellt werden soll, wird derzeit vor dem Hintergrund des Urteils des Bezirksgerichts Magdeburg vom 27. November 1991 überprüft. Unabhängig von einer gesetzlichen Änderung betreibt das Bundesamt für Strahlenschutz die Revision beim Bundesverwaltungsgericht.
Frau Kollegin Jäger, eine Zusatzfrage, bitte.
Können Sie mir bestätigen, daß die sicherheitstechnischen Untersuchungen dieses Endlagers Morsleben keinerlei Beanstandungen ergaben, weder von den östlichen noch von den westlichen Sicherheitsbehörden?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Jäger, im Rahmen des Revisionsverfahrens wird der Nachweis zu prüfen sein, daß das Endlager Morsleben nicht nur unverzichtbar gebraucht wird, sondern auch sicherheitstechnisch verantwortbar ist. Um diese Fragen zu klären, sind umfangreiche Gutachten in Auftrag gegeben worden. Bis heute gibt es keinen Hinweis darauf, daß Ihre Aussage nicht zutrifft.
Keine weitere Zusatzfrage.
Die Frage 55 des Kollegen Manfred Hampel soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wir bedanken uns bei Ihnen, Herr Staatssekretär.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Horst Jungmann auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß der Beschluß des DPC über die gegenseitige Modernisierung und Ausrüstungshilfe, wonach aufgrund des KSE-Vertrages freiwerdendes Gerät in Randgebiete transferiert werden soll, auch angesichts der veränderten politischen Bedingungen moralisch und politisch gerechtfertigt und militärisch erforderlich ist, und, wenn ja, mit welcher Begründung?
Bitte sehr.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Jungmann, der Verteidigungsplanungsausschuß der NATO hat während seiner Sitzung am 12. und 13. Dezember 1991 einen Bericht billigend zur Kenntnis genommen, daß das NATO-Harmonisierungsprogramm für den Transfer und die Reduzierung KSE-vertragsbegrenzten Gerätes realisiert wird. Die Streitkräfte werden auch künftig politisches Instrument der Sicherheitsvorsorge bleiben. Der Erhalt kollektiver Verteidigungsfähigkeit liegt in unserem sicherheitspolitischen Interesse. Hierzu sind entsprechend ausgerüstete moderne Streitkräfte bereitzustellen, und deren Verteidigungsfähigkeit ist zu erhalten. Dazu gehört auch die im KSE-Vertrag ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, innerhalb der eigenen Staatengruppe, das heißt der NATO, Gerät zu transferieren.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Jungmann.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die Bundesregierung beabsichtigt, Transfer auch in Länder vorzunehmen, die nicht zur NATO gehören?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Im Rahmen des hier anstehenden Problemfeldes geht das schon deswegen nicht, weil ich Ihnen eben aus dem Beschluß der entsprechenden NATO-Gremien vorgetragen habe.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann sagen, warum nach mir vorliegenden Informationen beim Transfer von KSE-
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Horst Jungmann
treaty-limited-equipment das Land Thailand mit 130 Leo-1-Panzern genannt ist, ebenso Singapur und andere Länder, die nicht zum KSE-Bereich gehören?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Jungmann, Sie haben ausdrücklich nach unseren Lieferungen in die Türkei gefragt. Thailand ist in diesem Zusammenhang nicht aufgeführt.
Sie haben die Antwort der Bundesregierung gehört.
Nun hat der Abgeordnete Rudolf Bindig eine Zusatzfrage.
Ich stelle diese Frage zu der ersten der beiden Fragen des Kollegen Jungmann, die jetzt aufgerufen ist: Trifft es zu, daß vertragsbegrenztes Gerät, treaty limited equipment, an die USA ohne verbindliche Zusage der Übernahme der Reduzierungsverpflichtungen geliefert worden ist?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich werde dieser Frage nachgehen und gebe Ihnen gern eine schriftliche Antwort.
Eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Detlev von Larcher.
Welche Konsequenzen hat es, wenn vertragsgemäßes Gerät an die USA gegeben worden ist und diese keine Reduzierungsverpflichtungen übernommen haben?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Auch diese Frage wird in der gleichen Weise beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 17 des Abgeordneten Horst Jungmann :
Kann die Bundesregierung definitiv ausschließen, daß aufgrund dieses DPC-Beschlusses in die Türkei verbrachtes Gerät der Bundeswehr dort vertragswidrig in die Anschlußzone gebracht und z. B. zum Einsatz gegen Kurden benutzt wird?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung hat sich zu diesem Themenkomplex bereits mehrfach geäußert, z. B. in der Antwort auf Frage 5 der Kleinen Anfrage der Abgeordneten Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste in der Bundestagsdrucksache 12/1077.
Wie die Mitgliedstaaten des Bündnisses das ihnen zur Verfügung stehende militärische Gerät und Material nutzen, ist grundsätzlich Angelegenheit dieser verbündeten Regierungen. Die Bundesregierung hat jedoch keine Veranlassung, an der Vertragstreue des Bündnispartners Türkei zu zweifeln. Dies gilt auch für den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, der am 19. November 1990 unterzeichnet wurde.
Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß Deutschland vor Unterzeichnung des KSE-Vertrages der Türkei im Rahmen der Golfhilfe 80 Kampfpanzer Leopard und 350 Mannschaftstransportwagen M 113 geliefert hat, die in das später vom KSE-Vertrag nicht erfaßte türkische Gebiet gegangen sind.
Seit dem 19. November 1990 wird gemäß KSE-Vertrag von der Bundesrepublik an die Türkei geliefertes, durch diesen Vertrag begrenztes Gerät nach Abschluß der Lieferung den anderen KSE-Vertragstaaten notifiziert und zählt dann zu den den nationalen Anteilshöchstgrenzen unterworfenen türkischen Beständen im Anwendungsgebiet des KSE-Vertrages, deren Verbleib nachgewiesen werden muß. Die Verbringung in die Anschlufizone kann definitiv nicht ausgeschlossen werden, da es der Türkei freisteht, TLE-Gerät, allerdings ohne Anrechnung auf die Reduzierungsverpflichtung, dorthin zu verlagern. Der Bundesregierung liegen für eine solche Absicht oder ein solches Verhalten der Türkei aber keinerlei Erkenntnisse vor.
Zusatzfrage des Kollegen Jungmann.
Herr Staatssekretär, in Anbetracht der Diskussion, die wir heute vormittag über Asyl- und Flüchtlingsprobleme geführt haben, und auch in bezug auf das Kriegswaffenkontrollgesetz verstehe ich Ihre Aussage nicht, daß irgendein Staat, z. B. die Türkei, in den wir Waffen liefern, mit diesen Waffen tun und lassen kann, was er will, und sie weiterexportieren kann. Ich denke, wir haben gesetzliche Vorschriften, nach denen bei solchen Regelungen Endverbleibsklauseln berücksichtigt werden müssen. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob in den Verhandlungen und in den Verträgen mit der Türkei Endverbleibsklauseln festgeschrieben werden.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, meine Antwort bezog sich in Anbetracht Ihrer Fragestellung — darauf mache ich aufmerksam — auf das gesamte türkische Staatsgebiet. Wir haben keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß die Türkei entsprechend der getroffenen Vereinbarung mit diesem Gerät auch so umgeht, wie es beschlossen und vereinbart worden ist. Uns liegen keine Anhaltspunkte darüber vor, daß sich die Türkei in Zusammenhang mit den von Ihnen angesprochenen Gerätschaften nicht vertragsgemäß verhält. Wenn Sie Erkenntnisse darüber haben, nehmen wir sie gerne entgegen.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Jungmann.
Herr Staatssekretär, es gibt ja nicht nur die Waffenlieferungen an die Türkei, nach denen in dieser Frage gefragt worden ist. Sie haben vorhin ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es auch vorher schon Waffenlieferungen gegeben hat. Auch im Zusammenhang mit der Verwertung des NVA-Materials, das jetzt nichts mit dem Limitierungsgerät zu tun hat, sind rund 200 000 Maschinenpistolen und andere Dinge geliefert worden. Hat denn die Bundesregierung auch für diese Geräte zumindest die Zusage der Türkei, daß sie nicht weitergegeben werden und nicht menschenrechts-
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Horst Jungmann
widrig gegen Minderheiten in der Türkei eingesetzt werden?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, in der Fragestunde vom 16. Oktober des vergangenen Jahres hat der Kollege Schäfer vom Auswärtigen Amt, ausdrücklich auch auf diese Fragestellungen hin, Antworten gegeben. Ich will insoweit nur auf die entsprechenden Antworten, die im Protokoll festgehalten sind, verweisen. Sie sind ausdrücklich und entsprechend nachhaltig.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Bindig.
Auch ich habe eine Frage zu dem vor Abschluß des KSE-Vertrags gelieferten Gerät: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Verdacht vorsätzlicher Umgehung bei der Lieferung von 642 Panzern und Mannschaftstransport-wagen an die Türkei kurz vor Abschluß des KSE-Vertrages nicht auszuschließen ist?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir können gegenüber einem vertragstreuen Partner wie der Türkei
nur dann etwas nicht auschließen, wenn wir entsprechende Nachweise haben, die auf ein nicht vertragskonformes Verhalten hinauslaufen. Solange uns diese Erkenntnisse nicht vorliegen oder nicht zugänglich gemacht werden, gehen wir davon aus, daß sich die Türkei, zu der wir seit Jahrzehnten hervorragende Beziehungen unterhalten, absolut vertragskonform verhält.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, keine Diskussion — Fragestunde!
Ich rufe die nächste Frage, nämlich die Frage 18 der Abgeordneten Margot von Renesse, auf:
Trifft es zu, daß bei den Kämpfen in Berg-Karabach gegen die armenische Minderheit Waffen verwendet werden, die aus Beständen der NVA bzw. des Bundesministeriums der Verteidigung stammen und an die Türkei geliefert wurden?
Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, der Bundesregierung sind keinerlei Hinweise bekannt, daß Waffen, die aus Beständen der Nationalen Volksarmee bzw. des Bundesministeriums der Verteidigung stammen und an die Türkei geliefert wurden, gegen die armenische Minderheit verwendet werden.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin von Renesse.
Herr Staatssekretär, wären es für Sie Anhaltspunkte, wenn in armenischen Zeitungen oder in Zeitungen aus Berg-Karabach selber Interviews etwa mit sowjetischen Politikern auftauchten, die Derartiges bestätigten und insbesondere von 200 000 Schnellfeuerpistolen oder -gewehren — ich bin darüber nicht so genau informiert — aus NVA-Beständen berichteten, die an Aserbaidschan geliefert worden sind?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Verehrte Frau Kollegin, wir würden jedem ernstzunehmenden Vorwurf dieser Art mit Sicherheit nachgehen. Aber ich glaube, daß sich diese Frage dann an ein anderes Ressort der Bundesregierung richten müßte.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin von Renesse.
Ist Ihnen bekannt, daß es Militärhilfe bzw. militärische Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Aserbaidschan gibt?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das, was zwischen der Türkei und ihren nördlichen Nachbarstaaten geschieht, ist für uns nur dann von Interesse, wenn es mit den Sicherheitsinteressen unseres eigenen Landes oder des Bündnisses nicht in Übereinstimmung steht und wenn vor allen Dingen das hier in Rede stehende von uns gelieferte Material in diesem Zusammenhang eine irgendwie geartete Erwähnung fände.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Horst Jungmann, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mit absoluter Sicherheit ausschließen, daß vor der deutschen Vereinigung militärisches Gerät auch mit Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung durch das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung der damaligen DDR in die Krisenregionen, die hier angesprochen sind, nämlich Aserbaidschan, Berg-Karabach und Armenien, gelangt ist?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß Ihre Fragestellung, ob man mit absoluter Sicherheit etwas ausschließen kann, a priori schwierig ist. Sie wird noch schwieriger, wenn es sich um Fragestellungen handelt, die den Verantwortungsbereich einer anderen Regierung betreffen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß es in den letzten Wochen eine rege Reisediplomatie der Türkei und anderer islamischer Länder in die sogenannten mittelasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion gab und daß dabei auch über Waffenhilfe gesprochen worden ist?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, uns ist natürlich, allein schon aus der Zeitungslektüre, bekannt, daß sich die Türkei intensiv darum bemüht, Beziehungen besonderer Art mit den türkisch sprechenden Völkern auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR aufzunehmen. Das äußert sich auch darin, wenn ich das bei dieser Gelegenheit sagen kann, daß man bestrebt ist, daß das lateinische Alphabet an die Stelle des kyrillischen gesetzt wird. Von daher kann ich nicht ausschließen, daß im Rahmen der nationalen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6521
Parl. Staatssekretär Willy Wimmertürkischen Verantwortung auch Dinge besprochen werden, die nicht in den Zeitungen stehen. Aber solange uns die Türkei nicht offiziell darüber unterrichtet, und zwar allein deshalb, weil es nicht in unseren Verantwortungsbereich fällt, ist es schwer, auf diese Fragen Antworten zu geben.
Meine Damen und Herren, die Fragen 19 und 20 der Abgeordneten Uta Zapf sollen ebenso schriftlich beantwortet werden wie die Fragen 21 und 22 des Kollegen Joachim Tappe. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 23 des Abgeordneten Adolf Ostertag:
Was gedenkt die Bundesregierung angesichts des ungesetzlichen Zustandes zu tun, daß Tausende von Kriegsdienstverweigerern bis zu einem Jahr oder länger auf die Anerkennung oder Ablehnung ihres Antrags warten, obwohl die Erledigung des Verfahrens in maximal sechs Monaten gesetzlich vorgeschrieben ist, und wie beurteilt die Bundesregierung die Tätigkeit der zur Beschleunigung der Verfahren zusätzlich herangezogenen pensionierten Ausschußvorsitzenden, die in vielen Fällen nicht zum Abbau des Antragsberges beigetragen, sondern die Laufzeiten der Verfahren noch verlängert haben, da sie, anstatt in dem ihnen rechtlich zustehenden Umfang ohne Anhörung nach Aktenlage zu entscheiden, auf eine persönliche Befragung der Antragsteller immer weniger verzichten möchten?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Bundesregierung hat dem gesetzlichen Gebot einer unverzüglichen Entscheidung über Kriegsdienstverweigerungsanträge angesichts der seit dem Golfkrieg sprunghaft angestiegenen Zahl von Anträgen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer dadurch Rechnung getragen, daß die Ausschüsse für Kriegsdienstverweigerung umgehend durch zusätzliche Vorsitzende und Geschäftsstellenpersonal verstärkt wurden. Hierfür wurden Bedienstete unter vorübergehender Freistellung von ihren sonstigen Aufgaben eingesetzt sowie im Ruhestand befindliche Volljuristen mit befristeten Zeitverträgen eingestellt.
Diese Personalverstärkungsmaßnahmen sowie der Umstand, daß die Ausschüsse in Beachtung einer Verfügung des Bundesamtes für Wehrverwaltung vom 5. Oktober 1990 in einem immer stärkeren Ausmaß von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, über Anträge grundsätzlich nach Aktenlage und nicht mehr erst auf Grund persönlicher Anhörung der Antragsteller zu entscheiden, haben dazu beigetragen, daß von den 1991 zur Entscheidung anstehenden 68 312 Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung, für deren Entscheidung die Ausschüsse für Kriegsdienstverweigerung zuständig sind, 61 227 neue Anträge im Jahre 1991 sowie ein Überhang von 7 085 Anträgen aus 1990 erledigt werden konnten.
Durch die beabsichtigte Fortsetzung der bisherigen Personalverstärkungsmaßnahmen sowie durch die jetzige Spruchpraxis, vermehrt nach Aktenlage zu entscheiden, dürfte in Verbindung mit der inzwischen zurückgehenden Zahl von Anerkennungsanträgen sichergestellt sein, daß ein kontinuierlicher Abbau der Rückstände in den nächsten Monaten erreicht wird.
Bei den Verfahren mit einer Bearbeitungsdauer von sechs Monaten und länger handelt es sich vorwiegend um Anträge älterer Reservisten aus der Zeit des
Golfkrieges, für die eine Einberufung zu Wehrübungen nicht mehr in Betracht kommt. Die Entscheidung über diese Anträge wurde vielfach, ohne daß dadurch schutzwürdige Interessen der Antragsteller berührt wurden, im Interesse eilbedürftiger Verfahren von Soldaten, Einberufenen sowie Vorbenachrichtigten zurückgestellt.
Der Bundesregierung liegen im übrigen keine Erkenntnisse vor, daß die bereits im Ruhestand befindlichen Honorarvorsitzenden zu einer längeren Verfahrensdauer beitragen. Vielmehr entscheiden auch sie wie die anderen Vorsitzenden in der Regel nach Aktenlage und nicht erst nach einer persönlichen Anhörung der Antragsteller. Das hat im Ergebnis dazu beigetragen, daß ca. 70 % aller getroffenen Entscheidung en Entscheidungen nach der Aktenlage waren.
Zusatzfrage, Herr Kollege Ostertag? — Nein.Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 24 des Kollegen Adolf Ostertag:Wie viele Personen wurden in den letzten fünf Jahrgängen zur Bundeswehr eingezogen, obwohl sie einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben, und wie beurteilt die Bundesregierung Berichte zum Beispiel aus der Presse oder von einer wachsenden Zahl westfälischer KDV-Pfarrer, wonach eine wachsende Zahl von eingezogenen, aber noch nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerern schikaniert wird?Herr Staatssekretär, bitte.Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Abgeordneter, eine Einberufung zum Wehrdienst ist nach § 3 Abs. 2 Satz 1 des KDV-Gesetzes unzulässig, solange der Antrag auf KDV nicht unanfechtbar oder rechtskräftig abgelehnt oder zurückgenommen worden ist. Deswegen können Angaben darüber, ob und wie viele Wehrpflichtige in den letzten fünf Jahrgängen trotz eines noch nicht entschiedenen Antrages auf KDV zur Bundeswehr einberufen wurden, natürlich nicht vorliegen.Es liegen jedoch ohne Trennung nach Geburtsjahrgängen Angaben vor, in welcher Zahl Wehrpflichtige nach ihrer Einberufung oder der Vorbenachrichtigung, daß sie als Ersatz für Ausfälle einberufen werden können, eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beantragt haben, nämlich 1987: 868 Anträge, 1988: 1 134 Anträge, 1989: 1 722 Anträge, 1990: 5 569 Anträge und 1991: 17 749 Anträge.Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse über Schikanen gegen zum Grundwehrdienst Einberufene, aber noch nicht anerkannte Kriegsdienstverweigerer vor. Soweit mit dem Begriff „Schikane" wegen Dienstvergehen verhängte Disziplinarmaßnahmen gegen Soldaten, die einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt haben, gemeint sein sollten, wie dies vereinzelt in Presseberichten verlautet, kann eine solche Bewertung natürlich grundsätzlich nicht geteilt werden.Solange über den Antrag eines Soldaten auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer nicht unanfechtbar entschieden ist, hat er die ihm während des Wehrdienstes obliegenden soldatischen Pflichten zu erfüllen. Das steht in beiden Gesetzen, im Kriegsdienstverweigerungsgesetz und im Soldatengesetz.
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6522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Parl. Staatssekretär Willy WimmerVerweigert er die Erfüllung dieser Pflichten, liegt es im pflichtgemäßen Ermessen des Disziplinarvorgesetzten, gegebenenfalls auch die gebotenen disziplinaren Maßnahmen gegen den Soldaten zu verhängen.
Zusatzfrage des Kollegen Ostertag? — Nein.
Dann kommen wir zur Frage 25 unseres Kollegen Gernot Erler:
In welchem Umfang, aufgeschlüsselt nach Mengen und Anwendungszwecken, kommt in der Bundeswehr und in der deutschen Rüstungsindustrie FCKW zur Anwendung?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Erler, im Bereich der Bundeswehr werden 780 t Halon als Feuerlöschmittel bevorratet, und zwar 700 t Halon 1 211 und 80 t Halon 1 301. Die Mengen, aufgeschlüsselt nach Anwendungszweck, stellen sich wie folgt dar — Schätzungen in Tonnen —: Panzer — Halon 1 211: 253 t, Halon 1 301: 9 t. Ich kann Ihnen das gerne nachliefern. Sonst müßte ich das alles hier vorlesen. Wenn Sie einverstanden sind, tue ich das. Sie bekommen es sofort.
Der Verbrauch beträgt zur Zeit 20 t pro Jahr gegenüber 60 t pro Jahr im Jahre 1990, mit weiter fallender Tendenz.
Jetzt komme ich zu den Kältemitteln. Die Gesamtmenge der in der Bundeswehr eingesetzten FCKWhaltigen Kältemittel in geschlossenen Systemen beträgt 24,2 t. Eine weitere Aufschlüsselung nach Mengen und Anwendungszwecken ist angesichts der Vielzahl der Anlagetypen derzeit nicht möglich.
Zu den Reinigungsmitteln: In der Bundeswehr werden 6 t FCKW-haltige Reinigungsmittel in geschlossenen Systemen im Kreislauf verwendet.
In den Unternehmen der Rüstungsindustrie sind 1985 rund 89 t FCKW verbraucht worden. Die Menge reduzierte sich bis 1990 auf 65 t, also um 27 %. Die Tendenz ist weiter fallend. Ich mache darauf aufmerksam, daß das FCKW für die Reinigung elektronischer Geräte verwendet wird.
Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.
Kann ich meine Zusatzfragen vielleicht nach Beantwortung meiner zweiten Frage stellen?
Willy Wimmer, Pari. Staatssekretär: Ich bin damit sehr einverstanden.
Dann rufe ich Frage 26 des Kollegen Erler auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen bzw. wird sie ergreifen, um den Einsatz von FCKW bei der Bundeswehr und bei der deutschen Rüstungsindustrie einzuschränken oder gänzlich durch andere Stoffe zu ersetzen?
Bitte sehr.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Die Bundeswehr hat den Einsatz und die Verwendung von FCKW in neu zu beschaffendem Wehrmaterial bereits im Oktober 1989 grundsätzlich verboten, während die FCKWHalon-Verbotsverordnung erst im August 1991 in Kraft trat.
Schon seit 1988 hat die Bundeswehr auf FCKW als Treibmittel in Lackspraydosen verzichtet. Dies macht das besondere Bemühen der Bundeswehr im Umweltschutz auch auf diesem Gebiet deutlich. Das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung hat einen Studienauftrag mit dem Ziel erteilt, Substitute für das Löschmittel Halon zu entwickeln.
Die Bundeswehr verzichtet auf die Benutzung von Halon-Handfeuerlöschern und ist dabei, sie gegen andere, nichthalonhaltige Handfeuerlöscher auszutauschen. Die Halonlöschanlagen an Bord von Schiffen werden in Friedenszeiten nicht eingesetzt. Die Innenräume von gepanzerten Fahrzeugen sollen so verändert werden, daß man auf den Brandschutz verzichten kann. Dazu werden demnächst Brandversuche durchgeführt. Für Luftfahrzeuge der Bundeswehr, bei denen Halone z. B. zur Löschung von Triebwerksbränden benutzt werden, wird ebenfalls an der Entwicklung von Substituten gearbeitet.
Die Bundeswehr beschafft kein Halon mehr, sondern nutzt die vorhandenen Halonreserven ausschließlich für die Fälle, in denen auf Halon zum Schutz von Leben und Gesundheit des Menschen nicht verzichtet werden kann. Die weitere Verwendung von Halon als Löschmittel in Waffensystemen der Streitkräfte ist bei Gefahr für Leben und Gesundheit der Soldaten gegeben. Dies kann insbesondere auf Luftfahrzeuge und Kriegsschiffe, insbesondere U-Boote, der Bundeswehr zutreffen. Die FCKWHalon-Verbotsverordnung, die am 1. August 1991 in Kraft getreten ist, sieht in § 6 Abs. 2 ausdrücklich derartige Regelungen vor.
Darüber hinaus werden zur Zeit koordinierte und organisationsübergreifende Regelungen erarbeitet, die die rechtskonforme Anwendung der FCKWHalon-Verbotsverordnung in der Bundeswehr, insbesondere den rechtzeitigen Ausstieg aus FCKWs und Halonen, entsprechend den vorgegebenen Übergangsfristen sicherstellen.
In der deutschen Rüstungsindustrie ist die Verwendung von FCKW als Reinigungs- und Lösungsmittel im Rahmen der entsprechenden Verbotsverordnung bis zum September 1992 gestattet. Umweltfreundliche Ersatzstoffe ohne Gefährdungspotential für die Ozonschicht sind vorhanden und werden bereits jetzt eingesetzt. Das in stationären Feuerlöschanlagen enthaltene Löschmittel Halon darf bis Ende 1993 verwendet werden. In Entwicklung befindliche Ersatzsysteme werden bereits vor diesem Zeitpunkt einen Verzicht auf das entsprechende Löschmittel ermöglichen.
Jetzt eine Zusatzfrage des Kollegen Erler, bitte.
Herr Staatssekretär, in beiden Antworten haben Sie sich auf die Benutzung von FCKW in der Bundeswehr beschränkt. Meine Fragen bezogen sich aber auch auf die Rüstungsindustrie. Können Sie mir sagen, warum Sie mir zu diesem Frageteil keine Antwort gegeben haben?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6523
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß darauf aufmerksam machen, daß ich in der Beantwortung beider Fragen, was z. B. die Reinigung von Geräten in der Rüstungsindustrie und vor allen Dingen die Ausnahmesituation bis 1992 anbetrifft, auf die Rüstungsindustrie eingegangen bin. Ich sehe also keine Veranlassung, das noch einmal zu wiederholen, es sei denn, Sie haben den Wunsch, daß ich das tue.
Kollege Erler, eine weitere Zusatzfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Diesen Wunsch habe ich nicht. Darf ich Sie aber so verstehen, daß FCKWs außer bei den Einsätzen, die Sie genannt haben, in der deutschen Rüstungsindustrie nicht zur Anwendung kommen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Da sich die Frage ausdrücklich darauf bezog, auf welchen Anwendungsgebieten dieses Mittel in Betracht gezogen wird, kann ich davon ausgehen, daß die entsprechende Beantwortung hier ordnungsgemäß erfolgt ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Erler, bitte.
Herr Staatssekretär, in den letzten Wochen hat sich ja die Diskussion um die Anwendung von FCKW durch Nachrichten dramatisiert, die wir über die Gefährdung der Ozonschicht bekommen haben. Sieht die Bundesregierung eine Veranlassung, ihre bisherige Reduktionspolitik hinsichtlich der Anwendung von FCKW in der Bundeswehr und in der Rüstungsindustrie zu verschärfen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, ich habe bereits soeben darauf aufmerksam gemacht, daß wir, bevor andere auf diesem Feld tätig geworden sind, bereits im Jahre 1988 tätig wurden. Das heißt, im Bereich des Bundesministeriums der Verteidigung ist immer mit größtem Augenmerk auf diesen Feldern gearbeitet worden. Als Mitglied des Verteidigungsausschusses wissen Sie sehr gut, daß Umweltschutz eine unserer vornehmsten Aufgaben ist, gerade in Anbetracht der Problemstellung, die sich in den Streitkräften nun einmal ergibt. Ich glaube, daß wir jede Gelegenheit nutzen, um so schnell es geht, von diesen Stoffen wegzukommen. Unsere Forschungsprogramme sind auf diesen Umstand ausgerichtet.
Letzte Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die Ansicht vertreten, daß die Bundesregierung auf dem Gebiet der Reduzierung der Anwendung von FCKW in den beiden genannten Bereichen vorbildlich ist und daß ihre Anstrengungen auch angesichts der veränderten Gesamtlage nicht mehr zu steigern sind?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, Sie wissen, daß wir alle immer steigerungsfähig sind. Das gilt natürlich auch in diesem Feld für unsere Auf gabengebiete.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Jungmann.
Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, daß auf Grund bestimmter Sicherheitsmaßnahmen in der Bundeswehr in Zukunft auch über 1994/95 hinaus auf die Anwendung von FCKW und Halonen nicht verzichtet werden kann?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich habe ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß es sich um jene Bereiche handelt, in denen auf dieses Mittel, und zwar wegen seines effektiven Schutzes für Leib und Leben von Besatzungsmitgliedern, nicht verzichtet werden kann, und zwar im Rahmen von in sich geschlossenen Systemen, d. h. ohne Außenwirkung.
Wir kommen jetzt zur Frage 27 des Kollegen Heribert Scharrenbroich:
Haben Berufssoldaten, die gemäß § 2 des Personalstärkegesetzes nach dem 30. März 1992 einen Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung stellen, die gleiche Chance auf Berücksichtigung ihres Antrages wie Berufssoldaten, die einen solchen Antrag vor dem 30. März 1992 stellen?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Scharrenbroich, in Abhängigkeit vom jeweiligen Zurruhesetzungsbedarf, der von Laufbahn, Geburtsjahrgang und Verwendungsbereich abhängig ist, können sich die Chancen der Soldaten, die ihren Antrag nach dem 31. März 1992 stellen, verringern. Die Vorgabe in den vorläufigen Ausführungsbestimmungen zum Personalstärkegesetz, daß Anträge bis zum 31. März 1992 gestellt werden sollen, beinhaltet aber keine Ausschlußfrist. Spätere Anträge werden im Rahmen des dann bestehenden Zurruhesetzungsbedarfs Erfolg haben können.
In sehr vielen Fällen wird eine Auswahl erforderlich sein. Sie muß u. a. wegen der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben früh durchgeführt werden und soll gleichzeitig auf möglichst breiter Basis erfolgen. Dies ist aber nur möglich, wenn bis zu dem genannten Termin hinreichend viele Anträge vorliegen.
Zusatzfrage des Kollegen Scharrenbroich.
Herr Präsident, kann ich zunächst die Antwort auf meine zweite Frage hören?
Ja, wir verfahren wie vorhin.Ich rufe die Frage 28 des Kollegen Heribert Scharrenbroich auf:Können Soldaten, die vor dem 30. März 1992 einen Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung stellen, von diesem unter bestimmten Umständen wieder Abstand nehmen?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Scharrenbroich, Soldaten, die einen Antrag auf vorzeitige Zurruhesetzung gemäß § 2 des Personalstärkegesetzes stellen, können diesen bis zur
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6524 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Parl. Staatssekretär Willy WimmerAushändigung der entsprechenden Verfügung ohne Begründung zurücknehmen.
Jetzt Zusatzfrage des Kollegen Scharrenbroich, bitte.
Herr Staatssekretär, was würden Sie dann Soldaten empfehlen, die einer Einheit angehören, über die das Stationierungskonzept lediglich sagt, daß eine Verlegung in ein neues Bundesland nach 1994 erfolgt, die also nicht genau wissen, zu welchem Zeitpunkt die Verlegung erfolgt? Das heißt, die Verlegung könnte auch 1997 erfolgen. Das wäre dann für die betroffenen Soldaten nicht mehr interessant.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Scharrenbroich, persönliche Entscheidungen von denjenigen, die einem Gesetz insoweit positiv oder negativ unterworfen sind, können von diesen Betroffenen selber in voller Würdigung der entsprechenden Gesetzesbestimmungen natürlich nur höchst persönlich getroffen werden.
Ich habe soeben darauf aufmerksam gemacht, in welchem Umfeld derartige Anträge zu stellen bzw. zurückzunehmen sind. Ich glaube, daß ausreichende Klarheit für diejenigen gegeben ist, die vor eine Frage gestellt sind, wie Sie sie angesprochen haben.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Scharrenbroich.
Herr Staatssekretär, könnten Sie sich vorstellen, daß es einen Sinn gibt, wenn diese Soldaten ihren Antrag auf vorzeitige Zurruhestellung mit der Bemerkung konditionieren: unter der Bedingung, daß meine Einheit vor dem Jahre x verlegt wird?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Anträge können naturgemäß nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen gestellt werden. Daran müssen sie sich orientieren.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Scharrenbroich.
Ich muß nachbohren: Wie können Soldaten, denen durch diese Festlegung im Stationierungskonzept zweifelsohne ein Nachteil erwächst, diesem Nachteil begegnen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß wir im Rahmen der Fürsorgeverpflichtung, die wir als Dienstherr haben, sicherstellen müssen, daß durch Versetzungen innerhalb des Bundesgebiets für keinen ein Nachteil entsteht. Das ist, glaube ich, die oberste Verpflichtung, die für einen öffentlichen Dienstherrn gegeben ist. Insoweit ist Ihre Fragestellung eigentlich ohne jede Grundlage.
Keine weitere Zusatzfrage.
Wir kommen zur Frage 29 unseres Kollegen Hans Wallow:
Was sind Art und Umfang des Einsatzes von Soldaten der Bundeswehr in Kambodscha?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege, seit Mitte November 1991 befinden sich zwei Sanitätsoffiziere und ein Sanitätsunteroffizier der Bundeswehr als UNAMIC-Medical-Team in Kambodscha. Mitte Januar 1992 wurden Teile des Personals ausgetauscht und planmäßig um einen Sanitätsoffizier mit der Berufsbezeichnung Arzt und um zwei Sanitätsunteroffiziere ergänzt. Am 16. Februar 1992 reisten neun weitere Angehörige des Sanitätsdienstes der Bundeswehr nach Kambodscha, drei Sanitätsoffiziere mit der Berufsbezeichnung Arzt, vier Sanitätsunteroffiziere und zwei Sanitätssoldaten. Sie werden in Kambodscha bis zum Ende von UNAMIC bleiben, d. h. ca. sechs Monate. Damit befinden sich zur Zeit 15 Angehörige des Sanitätsdienstes der Bundeswehr in Kambodscha, sechs Sanitätsoffiziere mit der Berufsbezeichnung Arzt, sieben Sanitätsunteroffiziere und zwei Sanitätssoldaten. Alle Soldaten sind Zeit- oder Berufssoldaten.
Die Angehörigen des Sanitätsdienstes haben folgende Aufgaben: Sicherstellung der sanitätsdienstlichen Versorgung der UN-Angehörigen, die im Rahmen von UNAMIC in Kambodscha tätig sind. Zur Zeit sind 400 Personen medizinisch zu betreuen. Nach Abschluß der Verstärkung UNAMIC werden es bis zu 2 000 Personen sein. Das Hauptquartier der Vereinten Nationen ist in Phnom Penh. Weitere Stützpunkte der Vereinten Nationen befinden sich im Nordwesten von Kambodscha an der Grenze zu Thailand. Die Vereinten Nationen planen ab April/Mai 1992, UNAMIC in UNTAC zu überführen und mit einem Personaleinsatz von ca. 15 000 Angehörigen der Vereinten Nationen weiterzuführen.
Es ist noch nicht entschieden, ob und gegebenenfalls wie sich die Bundeswehr an UNTAC beteiligen wird.
Zusatzfrage des Kollegen Wallow.
Herr Staatssekretär, auf Grund welcher innerstaatlichen Rechtsgrundlage tun die Soldaten dort ihren Dienst?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Auf Grund der Gesetzeslage der Bundesrepublik Deutschland.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Wallow?
Meine Frage ist nicht beantwortet. So kann man doch eine Parlamentsfrage wirklich nicht beantworten.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich von einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch erwarten kann, daß er die Gesetzeslage unseres Landes kennt.
Ich muß Ihnen sagen, Herr Kollege Wallow, daß es der Bundesregie-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6525
Vizepräsident Helmuth Beckerrung überlassen bleibt, wie sie die gestellten Fragen beantwortet.
Zusatzfrage, Herr Kollege Jungmann.
— Sie haben bereits zwei Fragen gestellt.
— Das ist auch schon ganz schlimm.
Einigen wir uns darauf, daß Sie noch eine Zusatzfrage stellen dürfen.
Tun die Soldaten dort ihren Dienst in Uniform?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ja, ich gehe davon aus.
Kollege Jungmann, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es nicht so, daß diese Soldaten im Rahmen der humanitären Hilfe und der Anforderung durch die UNO ihren Dienst dort zum Aufbau der UNAMIC und der UNTAC tun, und ist in diesem Zusammenhang das Begehren der Vereinten Nationen an die Bundesregierung gestellt worden, die medizinische Versorgung von in Kambodscha aufzubauenden Sanitätszentren oder Feldlazaretten der UNTAC-Truppe von 15 000 Mann zu übernehmen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß wir Mitgliedstaat der Vereinten Nationen sind und daß wir im Rahmen der vertraglichen Grundsituation, die wir ja haben, bei Bitten der Vereinten Nationen, die uns über das Auswärtige Amt zugänglich gemacht werden, entsprechend tätig werden. Im Rahmen dieser Fragestellung der Vereinten Nationen werden wir diese Dinge auch abwickeln.
Zusatzfrage des Kollegen Freimut Duve, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben meinen Kollegen Wallow zu Recht getadelt, daß er nicht das gesamte Rechts- und Gesetzeswesen der Bundesrepublik Deutschland kennt. Auch ich selber muß mich diesem Tadel aussetzen: Ich kenne es ebenfalls nicht und stelle deswegen an Sie die Frage: Auf welcher konkreten Rechtsgrundlage innerdeutschen Rechts sind denn diese Soldaten tätig? — Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich es nicht so präsent habe wie Sie, der Sie ja auch Kollege im Deutschen Bundestag sind.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, wir werden immer auf Grund der Vertragsgrundlage der Vereinten Nationen tätig, die entsprechende Anfragen an Mitgliedsstaaten vorsieht. Die praktische Tätigkeit der Soldaten der Bundeswehr begründet sich aus dem Soldatengesetz, das Ihnen ja zugänglich ist.
— Herr Kollege, ich stelle Ihnen den Text gerne zur Verfügung.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Bindig.
Sie haben uns eben dargelegt, was die UN weiterhin plant, um ihr Engagement in Kambodscha auszuweiten. Meine Frage lautet: Hat die Bundesrepublik Deutschland die Absicht, im Rahmen dieser Ausweitungen des Engagements der Vereinten Nationen auch den Einsatz der Bundeswehr dort auszuweiten?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es sich in Kambodscha um einen sanitätsdienstlichen Auftrag handelt. Wenn uns durch die Vereinten Nationen entsprechende Wünsche vorgetragen werden, wird nach einer entsprechenden Abstimmung im Bereich der Bundesregierung zu entscheiden sein, ob wir solchen Wünschen der Vereinten Nationen nachkommen.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Verheugen.
Herr Staatssekretär, ist meine Beurteilung zutreffend, daß die Mitwirkung von Angehörigen der Bundeswehr in Uniform an „peace keeping missions" der Vereinten Nationen jetzt in Kambodscha eine absolute Neuigkeit im Einsatzspektrum der Bundeswehr darstellt, und bedeutet das eine Änderung der bisherigen Staatspraxis?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie wissen, daß Soldaten der Bundeswehr seit Jahrzehnten an Missionen der Vereinten Nationen z. B. auf dem Gebiet des Lufttransportes auch in Uniform beteiligt gewesen sind. Ich sage einmal mit Blick auf eine jahrzehntelange Praxis im Bereich der deutschen Streitkräfte: Ich glaube, daß es eine der vornehmsten Aufgaben überhaupt — nicht nur im Bereich der sanitätsdienstlichen Versorgung — ist, wenn Soldaten der Bundeswehr insoweit an humanitären Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt sind. Ich meine, daß wir auf Grund dieser jahrzehntelangen Praxis aus gutem Grund weltweit ein sehr positives Ergebnis feststellen dürfen.
Herr Staatssekretär, die Frage, die jetzt erörtert worden ist, ist bezüglich der Rechtsgrundlagen allgemein beantwortet worden; das ist völlig klar. Aber häufig macht die Bundesregierung, vertreten durch die Beantworter, hier das Angebot, das noch etwas genauer zu erläutern und diese Erläuterung schriftlich nachzureichen.
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6526 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Das habe ich getan. Ich habe dem Kollegen Duve ausdrücklich gesagt: Ich werde die genaue Rechtsgrundlage natürlich nachliefern.
I lerzlichen Dank.
Dann kommen wir zur Frage 30 des Abgeordneten Günter Verheugen:
Ist es zutreffend, daß der Bundesminister der Verteidigung nun doch beabsichtigt, daß entgegen der beschlossenen Standorteplanung die Standortverwaltung Bayreuth weiterbestehen soll und die Verlegung des Standortes nach Ebern nicht mehr vorgesehen ist?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Vor der abschließenden Entscheidung, Herr Kollege Verheugen, zur Neuorganisation der territorialen Wehrverwaltung und des Rüstungsbereiches vom 3. Dezember 1991 wurden alle Vorschläge zur Änderung des Ressortkonzeptes vom 20. September 1991 eingehend geprüft und bewertet. Hierbei waren neben den rein organisatorischen auch regionale und strukturpolitische Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
Nachdem Ebern im Zuge der militärischen Standortplanung durch die deutliche Reduzierung bereits hart betroffen wurde, kam den von der Bayerischen Staatsregierung vorgebrachten strukturpolitischen Argumenten besonderes Gewicht zu. Dem Wunsch nach Erhalt der Standortverwaltung Ebern konnte gefolgt werden, weil auch von Ebern aus die sachgerechte Aufgabenerfüllung im gesamten Zuständigkeitsbereich gewährleistet ist, zumal 144 Dienstposten auch künftig im ehemaligen Bereich Bayreuth verbleiben.
Es ist nicht beabsichtigt, diese Entscheidung abzuändern. Die Standortverwaltung Bayreuth wird mit der Standortverwaltung Ebern in Ebern zusammengelegt. Es wird geprüft, ob in Bayreuth eine Außenstelle der Standortverwaltung Ebern eingerichtet werden kann.
Zusatzfrage des Kollegen Verheugen?
— Danke.
Dann kommen wir zur Frage 31 des Abgeordneten Arne Fuhrmann:
Ist vor der am 16. Dezember 1991 nicht öffentlich bekanntgemachten Teilinbetriebnahme der Schießbahn 7 auf dem Truppenübungsplatz Munster-Nord berücksichtigt worden, daß die Schießbahnen 1, 2 und 3 geschlossen wurden, weil ihre Schußrichtungen — genau wie die der Bahn 7 — auf die mit Arsen stark belastete Platzmitte ausgerichtet sind, und wieweit sind auf Truppenübungsplätzen Sicherungsmaßnahmen in ähnlichen Fällen getroffen worden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Fuhrmann, der Truppenübungsplatz Munster-Nord wurde im Februar 1990 vorsorglich vorübergehend für die Nutzung gesperrt, weil bei
Probeuntersuchungen an einigen Stellen das Platzes erhöhte Arsenwerte festgestellt wurden. Nach flächendeckenden Probeentnahmen und dem gleichzeitigen Suchen und Räumen von Kampfstoffaltlasten, die noch aus der Zeit des Kaiserreiches und des Dritten Reiches stammen, konnten im Laufe des Jahres 1991 wieder Übungsräume und Schießbahnen des Platzes für die militärische Nutzung freigegeben werden. Hierzu gehört auch die Schießbahn 7, die am 16. Dezember 1991 in Betrieb genommen wurde. Dieses Schießen ist der Bezirksregierung Lüneburg und damit der Öffentlichkeit am 13. November 1991 angezeigt worden.
Die im Westteil des Platzes gelegenen Schießbahnen 1 bis 3 bleiben vorerst gesperrt, um die in diesen Teilen noch weiterhin erforderlichen Such- und Räumungsarbeiten nicht zu verzögern. Wie alle Schießbahnen ist auch die Schießbahn 7 mit Hauptschußrichtung auf die Platzmitte ausgerichtet. Arsenbelastete Flächen im Platzinnern werden zwar vom Gefahrenbereich der 20-mm-Waffen noch erreicht, aber nicht direkt beschossen.
Durch die bewaldete Geländestruktur ist nicht zu erwarten, daß Geschosse diese Flächen erreichen und deren Oberflächenstruktur zerstören. Auf anderen Truppenübungsplätzen stellt sich das Problem nicht, weil auf diesen Plätzen keine Altlasten dieser Art bekannt sind.
Zusatzfrage des Kollegen Fuhrmann, bitte.
Herr Staatssekretär, selbst wenn, so wie Sie sagen, die 20-mm-Geschosse die Platzmitte nach menschlichem Ermessen nicht erreichen aber Sie wissen genauso wie ich auch, daß menschliches Ermessen immer das eine ist und die Realität das andere —: Was geschieht, wenn eine 20-mm-Granate genau in diesen Bereich einschlägt, den wir ja auf Grund Ihrer Schilderung als zur Zeit zumindest äußerst bedenklich ansehen müssen?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich zähle wie Sie auch nicht zu denen, die Dinge definitiv ausschließen können. Wenn etwas Derartiges gemeldet würde, dann müßten wir zu einem entsprechenden neuen Nachdenken kommen.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Fuhrmann, bitte.
Gesetzt den Fall — ich bin da penetrant , Sie müßten zu neuem Nachdenken kommen, was bedeutet dann zur Zeit die Definition der Teilinbetriebnahme der Schießbahn 7 im Zusammenhang mit möglichen neuen Überlegungen? Ich bitte Sie, mir dies sehr präzise im Zusammenhang mit den möglichen Erkenntnissen zu beantworten.Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, würde ich dem Herrn Kollegen gern ein Gesprächsangebot unterbreiten, damit wir uns an Hand der entsprechenden Kartenlage sachverständig an anderer Stelle unterhalten können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6527
Ich höre, Herr Kollege Fuhrmann ist einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Frage 32 des Kollegen Arne Fuhrmann auf:
Hat bisher eine ausreichende Prüfung stattgefunden, die darüber Aussagen macht, inwieweit das obere Lopautal zum Naturschutzgebiet erklärt werden kann, und in welcher Weise das Quellgebiet der Lopau durch den Betrieb auf der Schießbahn 7 — Munster-Nord beeinträchtigt wird, und in welcher geeigneten Form wird Wasserschutz auf Truppenübungsplätzen durchgeführt?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Herr Kollege Fuhrmann, zur Frage der Prüfung, ob das obere Lopautal zum Naturschutzgebiet erklärt werden kann, ist festzustellen, daß nach § 38 des Bundesnaturschutzgesetzes Flächen, die ausschließlich oder überwiegend Zwecken der Landesverteidigung dienen, durch Naturschutz und Landschaftspflege nicht in ihrer bestimmungsgemäßen Nutzung beeinträchtigt werden dürfen. Es ist daher nach geltendem Recht ausgeschlossen, daß ohne Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung Flächen, die Zwecken der Landesverteidigung dienen, zu Naturschutzgebieten, in denen gemäß § 13 des Bundesnaturschutzgesetzes ein besonderer Schutz von Natur und Landschaft gewährleistet wird, erklärt werden. An der militärischen Nutzung der Schießbahn 7 und damit des Lopautales besteht weiterhin ein dringender Bedarf. Sie ist für die Zwecke der Landesverteidigung auch bei einem reduzierten Personalumfang der Bundeswehr von großer Bedeutung.
Die Frage der Beeinträchtigung des Quellgebietes der Lopau durch den Betrieb der Schießbahn 7 ist vor Ort durch die örtliche Standortverwaltung in Zusammenarbeit mit der zuständigen Naturschutzbehörde, der Truppenübungsplatzkommandantur und dem zuständigen Bundesforstamt zu untersuchen. Die Initiative dazu ist von der örtlich zuständigen Naturschutzbehörde zu ergreifen.
Zum Wasserschutz auf Truppenübungsplätzen haben der Arbeitskreis „Militärische Übungen und Liegenschaften der Streitkräfte in Wasserschutzgebieten" im Ausschuß „Wasserschutzgebiete" und Vertreter des Bundesministeriums der Verteidigung gemeinsam ein entsprechendes Merkblatt vom April 1991 zu dem Thema „Militärische Übung und Liegenschaften der Streitkräfte in Wasserschutzgebieten" erarbeitet. Dieses Merkblatt, das ich Ihnen gerne zustelle, wenn Sie es nicht haben, ist für die Bundeswehr verbindliche Grundlage. Es enthält alle Auflagen, die zum Zwecke des Gewässerschutzes erforderlich sind und an die sich die Bundeswehr selbstverständlich hält.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Fuhrmann, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich bemüht, meine Frage umfangreich zu beantworten. Ich glaube allerdings, daß die Beschreibung der Tatsache fehlt, daß Kontrollen von einer anderen Behörde einzuleiten sind. Ich frage im Zusammenhang mit der Teilinbetriebnahme der Schießbahn 7: Wieweit ist mit der Unteren Wasserschutzbehörde Übereinstimmung in bezug auf das
Quellgebiet der Lopau und die Tatsache erzielt worden, daß die Lopau bisher Trinkwasserqualität hat?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie werden bestimmt verstehen, wenn ich darauf aufmerksam mache, daß ich hier in Anbetracht der entsprechenden Beantwortung Ihrer Frage keine Gesprächsergebnisse präsentieren kann, die sich auf Gespräche im nachgeordneten Bereich beziehen. Wenn Sie Detailfragen dazu haben, bin ich im Rahmen des vorhin gemachten Angebots gerne bereit, mit Ihnen ein umfassendes Gespräch zu diesem Themenkreis zu führen. Ich mache aber darauf aufmerksam, daß sich das, was ich hier in Beantwortung Ihrer zweiten Frage vorgetragen habe, in erster Linie auf die Möglichkeit bezieht, ein entsprechendes Naturschutzgebiet einzurichten bzw. entsprechende Flächen einer besonderen Qualität zu unterstellen. Im wesentlichen darauf bezog sich die Antwort auf Ihre zweite Frage.
Herr Kollege Fuhrmann, haben Sie noch eine Frage?
Kollege Jungmann zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, da das Übungskonzept der Bundeswehr für die Bundesrepublik Deutschland dem Parlament bisher noch nicht vorliegt und der Bundesminister der Verteidigung noch nicht darüber entschieden hat, frage ich Sie: Kann es sein, daß der Truppenübungsplatz Munster-Nord in diesem Übungskonzept gar nicht mehr enthalten ist?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, Sie machen zu Recht darauf aufmerksam, daß wir noch keine Entscheidung über das Übungsplatzkonzept in Deutschland getroffen haben. Deswegen wäre das eine Vorwegnahme von Möglichkeiten, die ich hier nicht vornehmen kann.
Wir sind damit am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Herr Staatssekretär, wir danken Ihnen, daß Sie hier waren und die Fragen zum Teil — das will ich noch einmal ausdrücklich betonen — sehr umfangreich beantwortet haben. Ich will aber noch einmal das Grundprinzip für die Fragestunde in Erinnerung bringen. In der Geschäftsordnung steht: „Die Fragen müssen kurz gefaßt sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen." Das ist unser Grundprinzip.Nun kommen wir zum nächsten Geschäftsbereich, nämlich zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation.Die Fragen 56 und 57 unseres Kollegen Dr. Dietrich Mahlo und die Frage 58 des Herrn Abgeordneten Hans Wallow sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Wir kommen sodann zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht uns
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6528 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Vizepräsident Helmuth BeckerHerr Parlamentarischer Staatssekretär Jürgen Echternach zur Verfügung.Ich rufe Frage 59 des Kollegen Horst Kubatschka auf:Verstößt nach Ansicht der Bundesregierung die Installation von Solaranlagen auf Schrebergärtenhäuschen gegen das Bundeskleingartengesetz, und wird sie gegebenenfalls eine derartige umweltpolitisch unsinnige Gesetzeslage ändern?Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Kubatschka, das Bundeskleingartengesetz regelt die Zulässigkeit von Solaranlagen in Kleingärten nicht ausdrücklich. Nach dem Gesetz sind nur diejenigen Ver- und Entsorgungsanlagen zulässig, die für eine kleingärtnerische Nutzung, d. h. die Gewinnung von Gartenbauerzeugnissen und die Erholung, notwendig sind.
Die Zulässigkeit des Einsatzes von Solaranlagen in Kleingärten ist erst kürzlich in den Ausschüssen der Arbeitsgemeinschaft der Bauminister der Länder, der ARGEBAU, beraten worden. Die ARGEBAU kam zu dem Ergebnis, daß Solaranlagen in Kleingärten aus kleingartenrechtlichen und baurechtlichen Gründen unzulässig sind, weil Gartenlauben keine Wochenend- oder Ferienhäuser seien und ausschließlich der kleingärtnerischen Nutzung dienten. Die Bundesregierung teilt diese Auffassung der ARGEBAU.
Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Herr Staatssekretär, die Wirklichkeit sieht aber doch so aus, daß in diesen Anlagen Flüssiggas, Autobatterien oder Einwegbatterien verwendet werden. Halten Sie diese Energiearten für umweltfreundlicher als Solarenergie?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, es kommt nicht auf die Quelle der Stromerzeugung an. Der Anschluß von Kleingartenlauben an das öffentliche Stromnetz ist unzulässig. Hier geht es darum, die Tendenz zu vermeiden, daß aus Kleingartengebieten, die ja Grünflächen und keine Baugrundstücke darstellen, etwa Wochenendhausgrundstücke werden. Das wäre mit den Grundzügen des Kleingartenrechts und insbesondere mit der sehr niedrigen Pacht nicht zu vereinbaren.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Kubatschka.
Bestünde nicht über die Nutzung von Sonnenkollektoren die Möglichkeit der besseren Markteinführung?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Kollege Kubatschka, das kann nicht im Rahmen des Kleingartenwesens gelöst werden. Sie müssen auch die sozialen Aspekte sehen. Es kann sonst in der Praxis dazu führen, daß bei einem Pächterwechsel die Pächter die Übernahme der Solaranlage und eine Ablösesumme verlangen würden. Das könnte gerade für sozial schwächere Kreise den Zugang zu einem solchen Garten erschweren.
Wir kommen nunmehr zur Frage 60 des Kollegen Brunnhuber:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Fertigbauindustrie in ihrem Werbeorgan „FERTIGBAU-FORUM" Nr. 1/92 für ihre Fertighäuser wie folgt wirbt: Bauministerium: „Fertigbau preiswerter als Architektenhaus"?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Brunnhuber, ich möchte gerne, wenn Sie einverstanden sind, Ihre beiden Fragen wegen des Zusammenhangs gemeinsam beantworten.
Der Kollege ist einverstanden. Wir können so verfahren. Ich rufe also die Frage 61 des Kollegen Georg Brunnhuber auf:
Hält die Bundesregierung dies nicht für eine Diskriminierung Tausender freier Architekten und des gesamten mittelständischen Bauhandwerks, dem durch diese Formulierung unterstellt wird, daß die in Deutschland überwiegend übliche Verhaltensweise für die Erstellung von Wohngebäuden durch Einschaltung von Architekten und Bauhandwerkern nicht preisgerecht sei?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank. — Die von Ihnen angesprochene Ausgabe der Zeitschrift „Fertigbau-Forum" des Bundesverbandes Deutscher Fertigbau e. V. liegt der Bundesregierung vor, Herr Kollege. Die Zeitschrift beruft sich auf die vom Bundesbauministerium herausgegebene Broschüre „Der Weg zum eigenen Heim", die allerdings die von Ihnen zitierte apodiktische Aussage nicht enthält. In der Broschüre heißt es vielmehr, daß Fertighäuser „meist preiswerter als Architektenhäuser" seien. Um jeden Anschein zu vermeiden, als bevorzuge das Bundesbauministerium eine bestimmte Hausform, wurde bereits im vergangenen Jahr veranlaßt, daß in der Neufassung der Broschüre der entsprechende Satz geändert wird. Die im letzten Dezember herausgegebene 2. Auflage der Broschüre enthält den beanstandeten Satz nicht mehr.
Zusatzfrage, Herr Kollege Brunnhuber, bitte.
Unternimmt die Bundesregierung etwas, um die Werbung der Fertigbauindustrie in dieser Ausführung — ich habe sie hier — zu unterbinden?
Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Brunnhuber, wir haben die entsprechende Broschüre, auf die hier Bezug genommen wird, insoweit verändert und liefern von seiten des Bundesbauministeriums nur die veränderte Broschüre aus. Da in der Tat der Satz, der in der Broschüre enthalten ist, zum Gegenstand der Berichterstattung dieser Zeitschrift gemacht worden ist, können wir nicht bestreiten, daß ein solcher Satz in der 1. Auflage der Broschüre enthalten gewesen ist.
Keine weiteren Zusatzfragen.Damit sind wir am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Echternach, wir bedanken uns, daß Sie hier waren.Nun rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung steht
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6529
Vizepräsident Helmuth Beckeruns Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.Die Frage 62 des Abgeordneten Ortwin Lowack soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.Wir kommen zur Beantwortung der Frage 63 der Frau Abgeordneten Margot von Renesse:Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung -- evtl. in Kontakt mit der Regierung des NATO-Partners Türkei — ergriffen bzw. wird sie ergreifen, um die Massaker an den christlichen Armeniern in Berg-Karabach zu verhindern?Frau Staatsminister, bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident. — Frau Kollegin, am 12. Februar ist eine KSZE-Berichterstatterdelegation nach Nagornyj-Karabach, Baku und Eriwan gereist. Wir erwarten, daß der Bericht der Delegation, der bis zum 21. Februar 1992 ergehen und anschließend bei einem Sondertreffen im Ausschuß Hoher Beamter erörtert werden soll, Perspektiven für ein weiteres Herangehen an den Konflikt aufzeigen wird.
Weiter hält es die Bundesregierung für hilfreich, daß sich Rußland, das durch die ehemals sowjetischen Truppen in dieser Region mittelbar involviert ist, vermittelnd eingeschaltet hat. Nach unserer Kenntnis hat das russische Außenministerium eine Einladung an die Regierungsdelegationen Aserbeidschans und Armeniens gerichtet, heute, am 20. Februar 1992, zu Verhandlungen über die Regelung von Fragen im Zusammenhang mit der Lage in Berg-Karabach nach Moskau zu kommen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin von Renesse.
Könnte sich die Bundesregierung angesichts ihrer eigenen militärischen Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner Türkei ernsthaft vorstellen, daß man mit der Türkei als einer Art Vermittler zwischen Aserbeidschan und Armenien rechnen kann?
Frau Kollegin, man wird sicherlich Diskussionen und Foren nutzen müssen, und zwar alle, die wir haben, um hier zu einer Regelung und zu einer Konfliktlösung beizutragen. Aber ich empfehle wirklich, daß wir den Bericht der KSZE-Delegation abwarten, daraus dann unsere Schlüsse ziehen und mit unseren Verbündeten überlegen und uns abstimmen.
Noch eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin von Renesse.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß sich gerade heute eine Delegation aus Berg-Karabach, auch eine Delegation des britischen Oberhauses mit Baronesse Cox in Bonn aufhält, auch bei CDU-Abgeordneten und SPD-Abgeordneten, um über die aktuelle Situation in Berg-Karabach zu berichten?
Mir ist dieses Zusammentreffen heute nicht bekannt, Frau Kollegin.
Eine letzte Zusatzfrage des Abgeordneten Freimut Duve, bitte.
Frau Staatsminister, teilen Sie meine Auffassung, daß wir alles tun müssen, auch gegenüber der türkischen Regierung, um zu verhindern, daß ein Riß nach Glaubensgruppen durch die Freundschaften mit der Türkei in Europa entsteht? Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen und wird auch von türkischen Politikern gesehen, daß wir entlang der zwei Religionen Gruppierungen in Europa bekommen. Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, auch in diesem Sinne die Türkei zu bewegen, sich möglicherweise eher als Mittler, denn als einseitiger Partner darzustellen?
Herr Kollege Duve, selbstverständlich teile ich Ihre Ansicht, daß wir als Bundesrepublik Deutschland, das Parlament und auch die Regierung, alles tun müssen, um diesen Konflikt nicht weiter einreißen zu lassen, ihn sich nicht weiter vertiefen zu lassen. Ich bin sicher, daß der Bundesaußenminister — auch ich werde dieses gern morgen bei einem entsprechenden Gespräch tun — unsere türkischen NATO-Partner bittet, das in ihrer Möglichkeit Stehende zu tun, hier vermittelnd einzugreifen und zu helfen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Frau Staatsministerin, vielen Dank, daß Sie hier waren.
Die restlichen Fragen aus diesem Geschäftsbereich werden nach der Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Das gilt auch für alle Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Stellungnahme der Bundesregierung zur Arbeitsmarktentwicklung, insbesondere in den neuen Bundesländern
Diese Aktuelle Stunde hat die Fraktion der SPD verlangt.
Ich erteile als erstem unserem Kollegen Adolf Ostertag das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vereinten Deutschland gibt es wieder Großflugtage. Zuständig ist nicht, wie man meinen könnte, der Verteidigungsminister, nein, der Arbeitsminister, Sie, Herr Blüm, hat die Verantwortung, wenn allmonatlich mehrere hunderttausend Männer und Frauen aus den Betrieben fliegen und in die Arbeitslosigkeit abstürzen. Weder die Versprechungen des Kanzlers — „Es wird niemandem schlechter gehen" — noch die Politik dieser Regierung verhinderten die arbeitsmarktpolitische Katastrophe.
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6530 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Adolf OstertagDer 31. Dezember, so schreiben die Zeitungen, ist zum schwärzesten Tag seit der Vereinigung geworden.
Wenn diese Regierung nicht umsteuert, wird es für die Arbeitnehmer noch schlimmer kommen.In Ostdeutschland existieren bestenfalls noch die Hälfte aller früheren Arbeitsplätze. Arbeitslos sind schon jetzt 1,34 Millionen Menschen. Über 1,5 Millionen Frauen und Männer sind in Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Umschulungen. Sie sind ebenfalls von Arbeitslosigkeit bedroht, wenn diese Regierung so weitermacht.
In Westdeutschland haben wir nach wie vor Massenarbeitslosigkeit, 1,88 Millionen Menschen sind arbeitslos, darunter 144 000 Frauen und Männer, die im Januar — nur im Januar! — aus den Betrieben flogen. Insgesamt beziehen über 5 Millionen Menschen ihr Geld von der Bundesanstalt in Nürnberg.Das zentrale Arbeitsmarktproblem im Westen ist die Langzeitarbeitslosigkeit. Auch wenn die Zahl in den letzten Jahren zurückging, 450 000 Frauen und Männer sind erschreckend viel. In den ostdeutschen Ländern wird sich dieses Problem in den nächsten Jahren rasant entwickeln. Schon im November 1991 waren 230 000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos.Angesichts dieser schlimmen Situation kappt die Bundesregierung gerade jetzt die Mittel für aktive arbeitsmarktpolitische Instrumente:
die Mittel für die Sonderregelung für Kurzarbeiter, die Sachmittelzuschüsse für AB-Maßnahmen in Ostdeutschland und die Arbeitsbeschaffungsmittel in Westdeutschland. Für die nächsten drei Jahre sind jeweils 560 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf dem Subventionsaltar von Möllemann geopfert worden. In Wahrheit ist es eine Plünderung des Beitragsaufkommens der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, der monatlich eingezahlten Beiträge in die Solidarkasse.
Mit dieser Streichung von 1,7 Milliarden DM torpediert die Bundesregierung das Instrument, das sich gerade die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen zum Ziel gesetzt hat. Denn Arbeitslose ohne abgeschlossene Berufsausbildung, arbeitslose Jugendliche und ältere Arbeitslose brauchen Hilfen durch ABM und kein Abschieben in die Sozialhilfe, was die Folge sein wird. 1,7 Milliarden DM weniger für ABM bedeuten mehr Arbeitslose und damit höhere Kosten für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit; der Einspareffekt ist gleich null. Das hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt kürzlich genau vorgerechnet. 1,7 Milliarden DM weniger für ABM gefährden all die mühsam erarbeiteten Programme und langfristig aufgebauten Träger strukturen für die Durchführung arbeitsmarktpolitischer Projekte.
Sie, Herr Blüm, müßten doch wissen, daß viele öffentliche Beschäftigungsprogramme insbesondere ohne die freien Träger, ohne die Mitarbeit in Initiativen, Vereinen und Verbänden nicht erfolgreich sein können.
Wenn Sie es nicht wissen, kommen Sie zu mir in den Wahlkreis; ich lade Sie ein. Ich habe mit dem von der evangelischen Kirche organisierten Regionalverbund der Arbeitsloseninitiativen im Ennepe-Ruhr-Kreis am Montag lange diskutiert.
Diese Gruppen haben in den letzten Jahren in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt eine sehr erfolgreiche Arbeit geleistet. So konnten z. B. in der Stadt Hattingen 30 % aller Langzeitarbeitslosen in AB-Maßnahmen in eine normale sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufgenommen werden. Diesen Initiativen, Herr Arbeitsminister, sollten Sie für ihr Engagement danken, anstatt ihnen die Mittel rigoros zu streichen.
Ihre unsoziale Streichungs- und Sparoperation zerstört tausendfache Chancen und Hoffnungen der besonders Benachteiligten.
Um Subventionen abzubauen, machen Sie aus der Arbeitsbeschaffung im Westen einen Trümmerhaufen. Wir befürchten, daß es im Osten genauso kommt,
durchgesetzt von einem Bundeswirtschaftsminister, dessen soziales Gewissen wahrscheinlich noch dünner ist als die Seite einer Tageszeitung, und hingenommen von einem Arbeits- und Sozialminister, der Anwalt der Schwachen sein sollte.
Herr Kollege Ostertag!
Ich komme zum Schluß. — Meine Damen und Herren von der Regierung und der Koalition: Möllemann muß gerupft werden, nicht die Arbeitslosen und die Beitragszahler. Hören Sie auf den Rat aller Bundesländer, folgen Sie den Warnungen der Wohlfahrtsverbände und den Bitten der Arbeitsloseninitiativen: Nehmen Sie die Mittelkürzungen schnellstens zurück!
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6531
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal darauf aufmerksam machen: Redebeiträge bis zu fünf Minuten, nicht über fünf Minuten.
Nun rufe ich den nächsten Redner auf, der sich hoffentlich daran hält. Es ist unser Kollege Heinz-Adolf Hörsken.
Deswegen stelle ich mich ja hier hin. —
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeitslosenzahl in den fünf neuen Bundesländern und in Ostberlin stieg im Januar 1992 um 305 000 auf 16,5 %.
Das ist eine dramatische Zahl. Aber in einer solchen Situation, meine Damen und Herren, insbesondere von der Opposition, dürfen wir nicht in Panik und Stimmungsmache verfallen.
Das hilft den Menschen drüben nicht. Ebensowenig hilft es, Schönfärberei zu betreiben; beides hilft nicht.
Ich will mich hier deshalb mit Fakten beschäftigen. Fest steht, daß die Probleme in den neuen Bundesländern gerade auf dem Arbeitsmarkt nicht gelöst sind; dies wissen wir alle miteinander, wußten dies aber auch vorher. Fest steht auch, daß unsere offensive Arbeitsmarktpolitik erheblich dazu beigetragen hat, den sozialen Frieden zu wahren.
• Angesichts des rapiden Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft und der damit verbundenen Auswirkungen ist der offensive Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten vorübergehend notwendig. Es erweist sich in einer Zeit, wo die alten Arbeitsplätze notwendigerweise wesentlich schneller wegfallen als neue Arbeitsplätze entstehen können, als äußerst schwierig.
Mit unserer Arbeitsmarktpolitik können wir wesentliche Akzente setzen und vielfach schmerzlichen Beschäftigungsabbau in den neuen Bundesländern abfedern; mehr geht mit Arbeitsmarktmitteln nicht.
In diesem Jahr setzen wir fast 36 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern ein. Zum Vergleich, meine Damen und Herren: Dies ist so viel wie im Jahre 1991 für die alten und neuen Bundesländer zusammen ausgegeben wurde.
Allein für die berufliche Bildung sind in diesem Jahr 11 Milliarden DM vorgesehen, fast 6 Milliarden DM mehr als im letzten Jahr. Für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden 10 Milliarden DM veranschlagt, das sind 5 Milliarden DM mehr als im vergangenen Jahr. Wir wissen alle, daß wir ohne diese aktive Arbeitsmarktpolitik mit Regelungen für Kurzarbeiter und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Fortbildungs-und Umschulungsmaßnahmen sowie Vorruhestandsregelungen etwa 2 Millionen Arbeitslose mehr hätten. Wenn dies nicht aussagekräftige Zahlen sind, dann weiß ich es nicht.
Trotz dieser gewaltigen Dimensionen dürfen wir nicht übersehen, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausschließlich eine Brückenfunktion haben. Sie sind dafür da, daß echte Beschäftigungsverhältnisse entstehen.
Ich verstehe sehr gut die Ungeduld der Menschen in den neuen Bundesländern in dieser Umstellungsphase, doch ich finde es unverantwortlich, daß die Opposition der Versuchung unterliegt, daraus Kapital schlagen zu wollen.
Trotz des gewaltigen Ausmaßes der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme ist keinem gedient, wenn nachweisbare Erfolge kaputtgeredet werden. Jetzt ist keine Polarisierung gefragt, wir brauchen vielmehr Realisten und Mutmacher zur Vorbereitung auf den modernsten Industriestandort in Europa und einem der bedeutendsten in der gesamten Welt.
Da darf sich keiner aus der Verantwortung stehlen: weder die Unternehmer noch die Gewerkschaften, noch die Politik.
— Auch die Regierung nicht.
Was wir jetzt dringend brauchen, meine Damen und Herren, sind handfeste Taten und die Unterstützung aller, damit wir die einmaligen Chancen am Ende der kommunistischen Herrschaftsdiktatur in Europa nutzen können.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, Zwischenrufe sind gestattet. Ich bitte aber doch, soweit Ruhe herzustellen, daß jeder seine Argumente vortragen kann, ob sie dem einen oder anderen gefallen oder nicht.
— Oder auch Meinungen.
Jetzt hat unser Kollege Heinz Hübner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für jeden, der hier anwesend ist, ist wohl klar, in welche Richtung der Arbeitsmarkt, im Moment insbesondere die
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6532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Heinz Werner HübnerEntwicklung des Arbeitsmarktes Ost, geht. Diese Erkenntnis hat auch seitens der Bundesregierung, seitens der Koalitionsfraktionen zum ständigen aktiven Handeln geführt.Das, was wir gehört haben, die Bilanzen über die Arbeitslosenzahlen, sind zugegebenermaßen keine positiven Bilanzen. Positiv muß man trotzdem werten, daß z. B. die Zahl der Null-Kurzarbeiter auf Null zurückgegangen ist, was wesentlich dazu beitragen wird, daß marode Betriebe nicht weiterbetrieben werden und Gelder in Millionenhöhe verschlingen.
Damit sind endlich Arbeitnehmer freigesetzt für neue Aufgaben innerhalb einer neu entstehenden Infrastruktur.
Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung, von der ich eingangs sprach, läge die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern bei deutlich über 30 %.
Was diese Arbeitsmarktpolitik betrifft, so ist es natürlich — das sollten Sie immer wieder bedenken und nicht nur darüber reden — eine Arbeitsmarktpolitik, die so schnell wie möglich zum Ende geführt werden muß, um nicht den Aufschwung, die Entwicklung des ersten Arbeitsmarktes zu behindern oder gar massiv zu gefährden.
Aber all diese Initiativen müssen noch stärker als bisher so konzipiert werden, daß es nicht dazu kommt, daß kleinen und mittleren Unternehmen dadurch Aufträge entgehen, daß sich ein zweiter Arbeitsmarkt etabliert und verstärkt, der nicht marktwirtschaftlichen Orientierungen folgt, daß keine Perspektiven bestehen, daß ABM-Stellen in normale Arbeitsplätze überführt werden, und daß Ergebnisse der ABM-Tätigkeit keiner Kontrolle seitens der Träger, auch seitens der Arbeitsämter, unterliegen.Der Zentralverband des Deutschen Handwerks charakterisiert z.B. die gegenwärtige Größenordnung der ABM-Programme als wirtschaftsfeindlich. Ich zitiere:Sie gefährden die Entwicklung marktwirtschaftlicher Strukturen und behindern einen zügigen Aufbau des ersten Arbeitsmarktes ... über Zeiträume angelegt, die über eine begrenzte Brükkenfunktion weit hinausreichen.Das aber kann nicht sein; sie kann nur begrenzt sein.
Ich zitiere weiter:Die besondere Brisanz des Volumens der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen liegt in der Gefahr, die Grundsätze einer staatlichen Beschäftigungsgarantie des ehemaligen DDR-Staates fortzuschreiben. Inwieweit eine solche Arbeitsmarktpolitik die Mentalität der betroffenen Arbeitnehmer beeinflußt, zeigt der Umstand, daß Kurzarbeiter auf Grund der nach wie vor äußerst komfortablen Kurzarbeitergeldregelung weitgehend nicht bereit sind, in Arbeitsverhältnisse überzuwechseln oder Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen aufzunehmen.
Die gegenwärtige Praxis der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen reicht nicht aus, sie geht in die falsche Richtung. Besser wäre es — das sagte ich an dieser Stelle bereits —, den als Träger für ABM fungierenden Bürgermeistern und anderen Hilfen für die Kommunen zur Unterstützung ortsansässiger Privatbetriebe und direkte finanzielle Hilfen zu geben.Ein letzter Gedanke: Für die Arbeitslosen — Herr Ostertag hat es angesprochen — und für diejenigen, die noch in Arbeit sind, wird es noch schlimmer kommen, wenn wir die konkurrenzunfähigen Betriebe in Staatsholdings umwandeln und eine sozialistische Arbeitsplatzerhaltungspolitik forcieren.
Von sicheren Arbeitsplätzen in der Zukunft kann dann keine Rede mehr sein. Aber das scheint Sie nicht zu interessieren. Scheinarbeitsplätze auf jeden Fall, koste es, was es wolle, Kollege Schreiner, das ist wohl die Devise.Meine Bitte an Sie, die Opposition, lautet: Bremsen und blockieren Sie weniger, treten Sie mit uns aufs Gas!
Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Petra Bläss. Bitte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der gebetsmühlenhaft vorgetragene Aufschwung Ost bleibt nicht nur aus, sondern verkehrt sich in eine bedrohliche Talfahrt, deren Ende kaum noch absehbar ist. Die Bilanz der jüngst veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen für Ost und West ist dafür ein drastischer Beleg. Ein Zuwachs an Arbeitslosen von knapp einer halben Million Menschen allein im Januar, die zu einem übergroßen Teil aus ostdeutschen Betrieben entlassen wurden, macht das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels zur Legende.
Es ist schon ziemlich zynisch, wenn die Bundesbank — so jedenfalls die „Frankfurter Rundschau" von gestern — diesen Umstand nicht als eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage gewertet wissen will, sondern erklärt, der Zuwachs sei im Gegenteil geringer ausgefallen, als nach dem Auslaufen der Kurzarbeiterregelung erwartet worden sei.Die im Februar veröffentlichten Zahlen sind immer noch eine schöngefärbte Variante des tatsächlichen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6533
Petra BlässAusmaßes. Offiziell sind 1,34 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Realistischerweise müssen dieser Zahl etwa 1,9 Millionen Menschen hinzugefügt werden, die durch staatliche Transfers aus unterschiedlichen Töpfen über Wasser gehalten werden.
— Hören Sie bitte erst einmal zu! — 850 000 sind in Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen bzw. in ABM beschäftigt. Über 750 000 erwerbstätige Bürgerinnen und Bürger sind in den vorzeitigen Ruhestand übergewechselt. Außerdem befinden sich immer noch knapp eine halbe Million Männer und Frauen als Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter in Beschäftigungsverhältnissen, davon mindestens zwei Drittel in sogenannter Null-Stunden-Kurzarbeit. Auch diese Menschen werden bald dem Heer der Arbeitslosen zuzurechnen sein oder mit dem Bezug von Altersübergangsgeld endgültig vom Erwerbsleben Abschied nehmen müssen — für viele übrigens eine schlimme Drucksituation, die jetzt durch die Befristung dieser Regelung auf Mitte 1992 entstanden ist.Die Frauen sind hier — wie von mir schon vielfach angezeigt — von der Arbeitsmarktsentwicklung besonders hart getroffen. Sie stellen bereits 62 % der Arbeitslosen, regional mit riesigen Schwankungen nach oben, und bei ihnen sind all jene nicht mitgerechnet, die in die sogenannte stille Reserve abgedrängt werden, weil sie entweder keinen Anspruch auf Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit haben oder aber wegen kleiner Kinder dem Arbeitsmarkt nicht voll zur Verfügung stehen — wie es immer so schön heißt — und sich resigniert zurückgezogen haben.Der Arbeitsplatzkahlschlag — das läßt sich absehen — wird auch 1992 fortgesetzt, und zwar in beachtlichen und zugleich bedrohlichen Größenordnungen. Allein aus Treuhandbetrieben sollen weitere 300 000 Menschen entlassen werden, und wenn der ostdeutsche Markt weiter im gleichen Maße zusammenbricht wie bisher — so die Prognose der Treuhandoberen —, wird es eine gleiche Anzahl von Entlassungen auch außerhalb des Treuhandbereichs geben.
Wenn Herr Möllemann mit seinen Plänen, auch AB-Maßnahmen im Osten auf seine Subventionsabbauliste zu setzen, durchkommt, stehen dort weitere Dramen bevor. Nicht nur die Ende 1992 ohnehin auslaufenden Stellen werden mit dem Miniangebot von 150 000 neuen Stellen nicht aufgefangen, sondern auch den auf diese Mittel angewiesenen Beschäftigungsgesellschaften droht das Aus. Und die oftmals groß herausgestellten Existenzgründungen gehen weiter zurück. Bereits Ende 1991 kamen auf tausend Neuanmeldungen 550 Abmeldungen.Spätestens seit den Februarzahlen wissen wir, daß auch in den westlichen Bundesländern die Arbeitslosenzahlen wieder ansteigen. Expertinnen und Experten rechnen 1992 mit durchschnittlich 1,9 Millionen, die einen Job suchen. Sie machen aber auch deutlich, daß die Arbeitslosenzahlen leicht über die 2-Millionen-Marke schnellen können, wenn eintritt, was insbesondere von den großen Konzernen angekündigt wird. BMW will bis zum Jahresende 3 000 Arbeitsplätze abbauen, IBM 1 000 Arbeitsplätze und Daimler Benz hält Personalabbau für unumgänglich. So wußte jedenfalls die „Wirtschaftswoche" vom 14.2. zu berichten. Auch die Kürzung der ABM-Mittel Ende 1991 blieb nicht ohne arbeitsmarktpolitische Konsequenzen. Allein in Nordrhein-Westfalen fielen ihr 6 000 ABM-Stellen zum Opfer.Abgesehen davon, daß hier mit Zehntausenden von Menschenschicksalen gespielt wird, hat diese Entwicklung für die Haushaltspläne von Bund und Ländern, aber auch für die Sozialkassen fatale Folgen. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung kostet jeder zusätzliche Arbeitslose die Bundesanstalt für Arbeit 16 300 DM.Die Konsequenz des weiteren Anstiegs bedeutet also die Aufstockung des Etats der Bundesanstalt für Arbeit oder aber eine weitere Verschiebung der jetzt bereitgestellten 85,2 Milliarden DM zugunsten von Lohnersatzleistungen; die dann für eine aktive Arbeitsmarktpolitik verbleibenden Beträge sind ein Tropfen auf dem heißen Stein.Auch die für 1992 angekündigten Privatinvestitionen von etwa 20 Milliarden DM werden keine Trendwende hervorbringen, geht man von den gängigen Kosten von etwa 200 000 DM für einen neuen Arbeitsplatz aus. Es bleibt also auf absehbare Zeit ein riesiges Potential von Menschen ohne Arbeit mit all den erschreckenden sozialen und psychischen Folgen.
Die Langzeitarbeitslosigkeit wächst rasant, verbunden mit sozialem Abstieg, mit der Tendenz zur Verarmung und mit psychischer Not. Ich denke, heute ist es wichtiger denn je, Beschäftigungsförderprogramme zu entwickeln und zwar zum einen solche, die einen Schwerpunkt in der Spezifik der jeweiligen Region haben, und zum anderen spezielle Maßnahmen zur Förderung besonders gefährdeter Personengruppen bringen, und da denke ich zu allererst an die Frauen, die hier die großen Verliererinnen sind. Bis das geschieht, ist es notwendig, zumindest an den Brükken der Arbeitsmarktpolitik festzuhalten. Sprich: keine Kürzung in Sachen ABM und Fortsetzung der Kurzarbeiterinnenregelung!
Meine Damen und Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wirkliche Lage auf dem Arbeitsmarkt in den fünf neuen Bundesländern ist wesentlich schlechter, als das die Statistik und die aktuellen Zahlen aus Nürnberg ausweisen.
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6534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Werner Schulz
Sie wissen das alle, und falls Sie das ignorieren,
werden Sie ständig durch die Kommentare und Hinweise von Politikern aus allen Parteien in den neuen Bundesländern darauf hingewiesen. Es ist mehr ein Trick, Arbeits- und Erwerbslose aus der Statistik herauszunehmen, die in absehbarer Zeit eigentlich gar keinen Arbeitsplatz erwarten. Es gibt Ortschaften im Osten Deutschlands, wo jeder zweite keinen Arbeitsplatz hat. Es gibt ganze Regionen, in denen im Moment die große Gefahr besteht, daß das Humankapital abfließt.Wenn ich eine jüngste Studie des DIW richtig auslege, dann sind mittelfristig 5 % der jungen Arbeitskräfte bereit, dort wegzugehen; langfristig — das hängt allein davon ab, ob sie demnächst wirklich Arbeitsplätze erkennen werden — trifft dies sogar auf weit mehr als 50 % zu. Jetzt erst beginnt der Exodus, jetzt erst beginnt das Schiff zu kippen, also das, vor dem Sie 1990 gewarnt haben, falls alle auf die gleiche Seite laufen. Ich denke, das ist jetzt die Gefahr.Herr Hörsken, da nützt eine Arbeitsmarktpolitik wenig, bei der die eine Hälfte aus Psychologie und die andere Hälfte aus Selbstbetrug besteht.Auch dieses Sprücheklopfen, Herr Hübner — „Gas geben!" und der gleichen —, nützt nichts. Ich würde mich ja gerne anschließen, wenn nicht gerade Ihre Partei der Gashebel wäre
und wenn ich sicher wäre, daß dann mehr herauskäme als nur Abgas.
Ich denke, das ist blanker Zynismus. Das nützt uns im Moment nichts. Das gilt auch für dieses „Ärmel hochkrempeln! " und „Freisetzen von Arbeitskräften". Auch Herr Blüm hat diese besondere Naivität bei seiner Argumentation.
Ich sehe im Osten Menschen, die die Ärmel bis zum Hemdkragen hochgekrempelt haben und an diesem Krempelärmel zu ersticken drohen. Das ist die reelle Situation.Die psychosomatische Schädigung dieser Menschen ist außerordentlich groß; denn der Wert der Arbeit war im Osten ein anderer als der Umgang mit ihr hier. Viele haben die Arbeit tief verinnerlicht, sind nie davon ausgegangen, daß sie überhaupt jemals ihre Arbeit verlieren könnten, hatten immer mit der Möglichkeit zur Arbeit gerechnet. Diese Depression, die sich breitmacht, hat also auch damit etwas zu tun. Gerade für viele Frauen — die Frauenerwerbslosigkeit ist außerordentlich hoch: 62 bis 65 % — ist das ein niederschmetterndes Problem, weil es ganze Familien, ganze Haushalte betrifft.
— Ich komme noch zu Vorschlägen. Aber ich will mich zunächst mit der Demagogie beschäftigen, daß das allein die Arbeitslosen der SED seien. Ich glaube, das ist nicht richtig.Diese Entwicklung ist nicht nur die Freisetzung von verkappter oder verdeckter Arbeitslosigkeit. Die hat es zweifellos gegeben; ich weiß genau, wovon ich spreche.
Aber ich denke, daß es auch die Arbeitslosigkeit einer Strukturkrise ist, eines Umbruches, den Sie in keiner Weise konzeptionell begleitet haben.Ich habe gesehen mit welcher Naivität man damals im Hause Haussmann an die Herstellung der Wirtschaftsunion herangegangen ist, in diesem naiven Glauben vom Markt, der alles richten wird, in dem Glauben, daß diese Heilkräfte von selbst wirken und man da gar nicht allzuviel machen muß. Daß Sie da vieles verschlafen haben, wirkt sich jetzt fatal und verhängnisvoll aus.
Wir müssen in die Situation kommen, daß auch die Märkte geteilt werden, daß also nicht nur im Westen Überstunden und Sonderschichten gefahren werden, so daß die Lieferzeiten für viele Artikel auf sechs und mehr Wochen steigen, obwohl man sich im Osten natürlich an dieser Arbeit beteiligen könnte. Es müssen gezielt öffentliche Aufträge vergeben werden, die diesen strukturschwachen Regionen nutzen.Ich denke, man sollte mehr über die Sanierungspolitik der Treuhand reden — meine Zeit reicht dafür nicht aus — und das mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik verzahnen. Aber das lehnen Sie ja rigoros ab. Sie wollen Ihre Privatisierungspolitik zu Ende bringen, egal, auf welchen Knochen Sie das austragen.
Hier liegt der fatale Fehler.Ich meine, das bisherige Instrumentarium reicht nicht aus. Es muß fortgesetzt und ausgeweitet werden, statt diesen Kurswechsel zu vollziehen, AB-Maßnahmen zu kürzen, die Sachmittel zu kürzen und zu beschränken. Das alles sind untaugliche Beiträge. Ich meine, daß wir eine aktive Arbeitsmarktpolitik brauchen.Meine Redezeit ist zu Ende. Ich danke Ihnen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6535
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der erste Redner in dieser Debatte, der Kollege Ostertag, hat diese Debatte mit dem Vorwurf begonnen, der Bundesarbeitsminister sei schuld an der Arbeitslosigkeit. Herr Kollege Ostertag, ich heiße nicht Honecker; ich war nicht Mitglied der SED; ich war nie Mitglied des Zentralkomitees.
— Das Argument gilt so lange, bis Sie endlich einmal akzeptieren, wer die Verursacher sind. Sie können diejenigen, die die Dämme bauen, nicht für die Überschwemmung verantwortlich machen.
Ich möchte noch eines hinzufügen. Es ist uns gemeinsam, Herr Kollege Ostertag, daß wir nie SED-Mitglied waren und nie im Zentralkomitee waren. Ich füge allerdings hinzu: Ich hatte auch nie Sympathie für die Planwirtschaft. Das trennt uns wieder.
Meine Damen und Herren, ohne unsere AB-Maßnahmen, ohne Qualifizierung, ohne Kurzarbeit und ohne Altersübergangsgeld hätten wir 2 Millionen Arbeitslose mehr. Daher können Sie sich nicht hierhin stellen und sagen, wir hätten nichts gemacht. Ohne diese Maßnahmen hätten wir 2 Millionen Arbeitslose mehr.Es wäre mir sehr viel lieber, wir könnten hier in der Tat eine differenzierte Debatte führen. Denn die Sorgen der Menschen nimmt doch jeder von uns ernst. Es gibt hier ja niemanden, der sagt, es sei alles in Ordnung und wir könnten zur Tagesordnung übergehen. Herr Kollege Ostertag, es wäre sehr viel besser, wir würden uns gemeinsam für die Weiterentwicklung dieser Maßnahmen und für Hilfen einsetzen.Aber, Herr Schulz, Sie können, wenn ich gleich darauf eingehen darf, auch nicht sagen, wir seien diejenigen, die kürzten. Ausweislich des Haushaltes haben wir die Mittel für F und U, für Fortbildung und Umschulung, von 5,2 Milliarden DM im Jahre 1991 auf 11,1 Milliarden DM in diesem Jahr erhöht; wir haben sie verdoppelt. Wie können Sie eine Verdopplung zur Kürzung erklären?Wir haben die Mittel für ABM von 5,5 auf 10,2 Milliarden DM erhöht. Sie können ja im Detail kritisieren und sagen, wie man es besser machen kann. Aber Sie können nicht eine Verdoppelung zur Kürzung erklären. Das ist wider die Logik.
Wir erhöhen die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern von 27 auf 36 Milliarden DM. Laßt uns darüber diskutieren, was wir besser machen können, aber doch nicht mit dem Rundumschlag, wir kürzten und täten nichts. Das sind die Nebelwerfer, die den Menschen nicht helfen, sondern die Problemlage verdecken. Das ist die Wahrheit.
Wir haben allein 420 Millionen DM für die Einrichtung von Weiterbildungsplätzen eingeplant. Ist das alles nichts?Laßt uns auch vor Ort und nicht nur hier in Bonn und nur mit Paragraphen helfen, Investitionshindernisse a bzubauen und Eigentumsverhältnisse zu klären, damit investiert werden kann. Laßt uns der Verwaltung helfen. Ich nehme die Sorgen ernst. Denn in der Tat — das ist richtig —: Der Strukturwandel ist härter, als er in den Arbeitslósenzahlen zum Ausdruck kommt.3 Millionen Arbeitsplätze sind in zwei Jahren weggefallen. Um zu ermessen, was das bedeutet, müßte man das einmal auf westdeutsche Verhältnisse übertragen. Es ist so, als wären in der alten Bundesrepublik in zwei Jahren 10 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. Dadurch sieht man erst einmal, welchen Strukturwandel die Bevölkerung in den neuen Bundesländern auszuhalten hatte.
— Wenn Sie mich einen Moment anhörten, könnten Sie vielleicht den Sinn meiner Sätze verstehen.Sie haben darauf geantwortet: 400 000 sind in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegangen. Die sind also nicht auf dem Sofa sitzengeblieben, sondern haben sich gegen ihr Schicksal gewehrt. 890 000 sind in einem Jahr in Fortbildung und Umschulung eingetreten. Da kann ich doch nur mit großem Respekt vor den Mitbürgern in den neuen Bundesländern sagen: Erstens, in einem Jahr so viel Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu schaffen,
ist eine sehr große organisatorische Leistung, ist ein großer Wille der Bevölkerung, gegen Arbeitslosigkeit anzugehen.
Ich verteidige ausdrücklich — auch gegen viele Kritik — ABM, weil auch ich glaube, wenn wir schon Geld ausgeben müssen, geben wir es besser für Arbeit aus.
Wir geben es besser für Arbeit aus als für Arbeitslosenunterstützung.Ich füge hinzu: Natürlich haben ABM auch ihre Grenzen. Wenn ABM das einzige und das Patentrezept wären, dann müßte man die ganze ehemalige DDR-Wirtschaft auf ABM umstellen. Wir hätten dann nur die alte Planwirtschaft als Beschäftigungsgesell-
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6536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Bundesminister Dr. Norbert Blümschaft fortgeführt. Trotzdem, ich verteidige ja 400 000 ABM-Stellen. Das ist doch eine Zahl, die wir in der alten Bundesrepublik nie erreicht hatten. Da hatten wir als Höhepunkt einmal 115 000 Stellen. Zu Ihrer Regierungszeit — Herr Schreiner, schreiben Sie sich das gleich auf, damit Sie darauf antworten können — gab es im Jahr
1982 1,8 Millionen Arbeitslose; mehr als heute. Damals hatten Sie 29 000 ABM-Plätze. Jetzt haben wir 83 000 bei geringerer Arbeitslosigkeit. 1,7 Millionen Arbeitslose hatten wir, Sie hatten 1,8 Millionen. Wir haben 83 000 ABM-Plätze, und Sie hatten 29 000.Nun weiß ich auch um die Sorge, daß mit ABM Mißbrauch getrieben wird. Ich fordere alle auf, mit solchen Behauptungen auch die Beweise zu liefern. Natürlich gibt es auch Mißbrauch. Den werden wir bekämpfen. Aber ich stelle fest, daß die Klage umgekehrt proportional zu den Beweismitteln steht. Wenn nicht nur Klagen vorgelegt werden, sondern auch Beweise, gehen wir jeder Klage nach. Wir haben ja Unbedenklichkeitserklärungen der Handwerkskammer. Es nutzt nichts, in den neuen Bundesländern „Schwamm drüber" zu machen und in Bonn die Klage anzumelden. Ich sage das nach allen Seiten.
— Ach, seien Sie doch mal ruhig. Laßt doch endlich einmal die Arbeitnehmer in ABM zufrieden! Verunsichert sie doch nicht pausenlos!
Denn immerhin machen doch viele — —
— Herr Präsident, ich kann ja kaum noch reden.
IIerr Minister, ich wollte gerade sagen, wir wissen alle, daß Sie viel aushalten. Aber es muß wenigstens noch möglich sein, daß sich der Herr Minister hier verständlich macht. Ich bitte, die Zahl der Zwischenrufe jetzt wirklich zu begrenzen. Bitte, Herr Minister.
Herr Präsident, mit den Argumenten komme ich ja zurecht, aber mit der Lautstärke nicht. Das ist mein Problem.
Ich will also ausdrücklich sagen, daß wir diesen Klagen nachgehen. Es wäre auch verwunderlich, eine so riesengroße Anstrengung, 400 000 ABM-Plätze in zwölf Monaten. Daß da auch manches in den Sand gesetzt ist, dem gehen wir nach.
— Nicht sehr viel. Deshalb bitte ich, die ABM in Frieden zu lassen, damit die, die dort wertvolle Dienste leisten, die Umweltschäden beseitigen, Industrieansiedlung vornehmen und soziale Dienste aufbauen, in Ruhe arbeiten können. Das ist ja erstens für den
einzelnen und zweitens für die Volkswirtschaft ein Stück Hoffnung.
Ich will nun zu dem statistischen Vorwurf etwas sagen. Herr Schulz, der stimmt nun ganz und gar nicht. Wissen Sie, warum, Herr Schulz? Wenn es um Statistik ginge, hätten wir die Null-Kurzarbeit fortgesetzt. Denn die Null-Kurzarbeiter waren ja nicht arbeitslos. Wenn es uns um Statistik ginge, dann würde man mit diesem Etikettenschwindel arbeiten. Weil ich aber für die Ehrlichkeit hin, ist Null-Kurzarbeit keine Kurzarbeit, sondern, wie der Name sagte, Arbeitslosigkeit.
Da muß man das Kind beim Namen nennen.
Wenn es uns um Statistik ginge, würden wir alle zu Kurzarbeitern erklären und hätten überhaupt keine Arbeitslosen. Aber das kann nicht in Ihrem Sinne und in meinem Sinne sein.
Ich will auch noch etwas zur westdeutschen Arbeitslosigkeit sagen. Das hat der Kollege Ostertag ja auch vorgetragen. Lieber Kollege Ostertag, vergessen haben Sie, daß unser Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit erfolgreich ist, daß wir in zwei Jahren die Zahl — —
— Nein, die Zahl hätten Sie nennen sollen. Sie sind etwas salopp darüber hinweggegangen. Die Zahl ist von 680 000 auf 450 000 zurückgegangen.
Das sind immer noch 450 000 zuviel. Denn ich glaube auch, daß wir uns gerade auf die sehr konzentrieren müssen, die jahrelang keine Chance zur Arbeit hatten, damit sie den Weg zurückfinden. Das wird nicht nur mit Geld geschehen können. Hier brauchen wir auch psychologische Betreuung. Deshalb haben wir dieses Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit aufgelegt.
Ich schließe meinen Beitrag mit folgender Berner-kung. Ich weiß, daß die Talstrecke für viele Menschen ganz schwer ist. Aber ich bin ganz sicher, daß wir die andere Seite des Tales erreichen. Das Gebiet der fünf neuen Bundesländer war vor 50 Jahren die Kernzone der deutschen Wirtschaft. Da lag die Produktivität 10 % über der Produktivität des restlichen Reichsgebiets. Dort waren die Junkers-Werke. Das war das Werk, das zum erstenmal den serienreifen Dieselmotor gebaut hat. Da war Zeiss Jena, das zum erstenmal eine Taktstraße gebaut hat. Da waren die Automobilwerke in Zwickau. Die Menschen sind doch noch dieselben. Die Landschaft ist dieselbe. Nur: Über diese Landschaft und Gesellschaft ist der sozialistische Sandsturm hinweggegangen. Diesen Sand gilt es wegzuräumen, damit aus unserem Land wieder ein blühendes Land wird.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Ottmar Schreiner.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6537
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Blüm, wenn Sie uns so darstellen, als hätten wir in den vergangenen Monaten und Jahren keine Alternativen, keine Vorschläge gemacht, wie es bessergehen soll, dann lügen Sie sich im günstigsten Fall selber in die Tasche. Die SPD hat seit 1990 unentwegt darauf hingewiesen, daß das zentrale Investitions- und Beschäftigungshindernis im Osten die blinde Eigentumsideologie der Bundesregierung nach dem Motto ist: Rückübertragung vor Entschädigung. Seit über zwei Jahren tragen wir das unentwegt vor.
Zwischenzeitlich haben etliche Kollegen aus der Ost-CDU diese Argumentation aufgegriffen.Wir tragen seit zwei Jahren unentwegt vor, daß die Treuhandanstalt mit einer aktiven Sanierungsstrategie befaßt und betraut werden muß: bis zur Stunde erfolglos. Sie können doch nicht so tun, als ob die Sozialdemokraten in dieser Frage nicht fortgesetzt eigene Vorschläge gemacht hätten.Worum es hier heute geht, ist etwas völlig anderes: Es geht um die dramatischen Verschlechterungen gegenüber dem, was mit auf unseren Druck hin in den letzten Monaten und Jahren erreicht worden ist.
Die „Frankfurter Rundschau" vom 7. Februar schreibt:Drastischer Geburtenrückgang: Kinder werden im Osten LuxusSprunghafter Anstieg von Sterilisationen in den neuen Bundesländern/Soziale Gründe für viele Frauen ein HauptmotivIch will es kurz machen, obwohl ich dazu längere Ausführungen machen wollte, weil ich der Meinung war, daß wir uns in der Debatte zu § 218 alle einig waren, daß die sozialen Ursachen für Abtreibungen beseitigt werden. Hier werden auf Grund der Entwicklung in Ostdeutschland massenhaft neue soziale Ursachen gesetzt, damit diese Gesellschaft noch kinderärmer wird, als sie sowieso schon ist. Gibt uns zumindest das nicht zu denken?Zweiter Gesichtspunkt: In einer Zeit, in der in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit weiterhin dramatisch, in einigen Regionen weit über 20 %, ansteigt und in Westdeutschland ebenfalls wächst,
amputiert die Bundesregierung in dieser Situation — das ist der zentrale Punkt, Herr Blüm — in beiden Teilen Deutschlands bewährte arbeitsmarktpolitische Instrumente. Das ist der zentrale Vorwurf.Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Koalition, ist finanzpolitisch töricht, weil sie keine Gelder einspart, sondern nur verlagert. Ihr Beschluß, ab 1992 im Rahmen des sogenannten Subventionsabbaus die AB-Mittel im Westen um jährlich 560 Millionen DM zu kürzen, ist finanzpolitisch reine Augenwischerei, da entsprechende Mehrausgaben im Bereich der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe aufzubringen sind. Tatsächlich führt dieser Beschluß in Westdeutschland zu einer Halbierung der Arbeitsplatzbes chaffungsmaßnahmen.Ihre Politik fördert die Entsolidarisierung, weil nach der Logik der Bundesregierung die Schwächsten der Schwachen in Westdeutschland dafür herhalten müssen, notwendige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen im Osten zu finanzieren. Zehntausende von Langzeitarbeitslosen, Behinderten und vor allem auch ältere Arbeitnehmer werden von der arbeitsmarktpolitischen Brücke in das eiskalte Wasser der Arbeitslosigkeit gestoßen. Einziger Grund: die Gesichts- und Imagepflege von Wirtschaftsminister Möllemann,
dem Sie, Herr Blüm, im Kabinett nichts mehr entgegenzusetzen haben.
Ihre Politik ist zudem eine gewaltige Verschwendung individueller und gesellschaftlicher Ressourcen, da Sie unproduktive Arbeitslosigkeit alimentieren, anstatt insbesondere in Ostdeutschland den bitter nötigen Aufbau durch die Verknüpfung von aktiver Arbeit, Umweltsanierung und Verbesserung der Infrastruktur zu fördern.Ihre Politik vertieft die soziale Spaltung in Deutschland, weil ein Teil unserer Gesellschaft immer wohlhabender, ein wachsender Teil aber aus dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, nämlich der Erwerbsarbeit, ausgegrenzt wird. Ihre Politik hat jedes Maß für sozial ausgewogene Proportionen verloren. Wer unermüdlich z. B. die Absenkung der Vermögensteuer propagiert und gleichzeitig die Massenarbeitslosigkeit verschärft, gefährdet leichtfertigt den sozialen Frieden.Ihre Politik ist schließlich auch menschenverachtend, weil sie insgesamt von einer erschütternden Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Millionen von Menschen zeugt. In einer Leistungsgesellschaft führt Arbeitslosigkeit das wissen Sie zu besonderen Gefährdungen bei den Ausgegrenzten: Alkohol- und Drogenprobleme, Aggressivität in der Familie und anderswo und Gefühle des Versagens, die in nicht wenigen Fällen zur Selbsttötung geführt haben und führen.Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, sehr geehrter Herr Bundesminister Blüm, Millionen von arbeitslosen Menschen brauchen von Ihnen nicht schöne Worte; sie wollen Taten sehen.
Wie sagten Sie vor einiger Zeit: Marx ist tot, und Jesus lebt. Sie sollten hinzufügen: und Blüm ist mit seinem Latein am Ende.
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6538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege HeinzJürgen Kronberg.
Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Vizepräsident! Ich habe in meinem Wahlkreis in Thüringen vier Regionalkreise. Ein Kreis davon, der Kreis Apolda, hat eine derzeitige Arbeitslosenquote von 25,1 %.
Dazu kommen als Arbeitssuchende noch Arbeitnehmer in ABM, in Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen und die Kurzarbeiter. Das heißt, daß heute zwei von fünf Arbeitnehmern auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit für ihre Zukunft sind. Deswegen halte ich es für richtig, daß wir hier in dieser Aktuellen Stunde über die Problematik des Arbeitsmarkts diskutieren. Gleichwohl bewerten über 50 % der Thüringer ihre persönliche Zukunft zunehmend als positiv. Dieser Trend zeigt sich in allen neuen Bundesländern.
Die Menschen dort haben entgegen vielen anderslautenden Meldungen die Kraft, über die derzeitige Lage hinauszublicken und sich dem Umbruch in ihrem Leben zu stellen. Gerade wegen der Zukunftsfähigkeit der neuen fünf Länder habe ich mir deshalb gewünscht, daß die SPD bei der Ansetzung dieser Aktuellen Stunde noch den positiven Aspekt der Standortvorteile im Osten herausgestellt hätte,
den es für Unternehmen gibt, die wirklich vernünftig investieren wollen. Die Investoren im Osten Deutschlands bekommen von der EG, vom Bund und von den Ländern starke finanzielle Anreize.
Förderfibeln, in denen die Programme verzeichnet sind, haben inzwischen Telefonbuchformat. Ich würde mir wünschen, daß Unternehmer in Deutschland so strategisch denken, wie es viele ausländische Investoren schon heute tun.
Meine Damen und Herren, mein Kollege Hörsken hat vorhin ausgeführt, daß die Bundesregierung mit den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten immer nur die Symptome bekämpfen kann. Es ist vor allem die Aufgabe der Wirtschaft, zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Die Wirtschaft muß von ihrer Praxis der verlängerten Werkbank im Osten Deutschlands ablassen und die Investitionen spürbar erhöhen.
Die Bereitschaft dazu ist bisher nicht ausreichend; denn die 23 Milliarden DM an Investitionen im letzten Jahr sind zuwenig für unsere neuen Länder. Gewinne der Unternehmer aus der Vereinigung Deutschlands müssen in die jungen Bundesländer zurückfließen. Anders funktioniert es nicht.
Natürlich bleibt auch der Bundeswirtschaftsminister aufgefordert, ein stimmiges Gesamtkonzept für eine Strukturentwicklung zu schaffen und bisherige Entscheidungen kritisch zu prüfen.
In meinem Wahlkreis haben die Kommunen eine zusätzliche Palette an Investitionsanreizen geschaffen. Neben den landes- und bundesweiten Fördermaßnahmen und den steuerlichen Hilfen bieten wir das erschlossene Gewerbeland für 20 DM je Quadratmeter an. Der Selbstkostenpreis dagegen liegt bei ca. 45 DM. Wir sind aktiv beim Ausbau unserer Infrastruktur und werben bei jeder sich bietenden Gelegenheit für neue Betriebe. Zugelassen werden aber wegen der eingangs beschriebenen hohen Arbeitslosigkeit nur Investoren, die pro Hektar mindestens 50 Arbeitsplätze schaffen können. Gewerbegebiete bei uns sind nicht für großflächige Dienstleistungsunternehmen oder großflächige Verkaufsunternehmen. Wir setzen auf produzierendes Gewerbe.
Dies zeigt: Die ostdeutschen Kommunen sitzen nicht wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern zeigen Kreativität und Phantasie. So überlegen wir derzeit, wie wir eine erhöhte Förderung für Frauenarbeitsplätze erreichen können. In Apolda haben wir es inzwischen geschafft, daß die Hälfte der derzeitigen Arbeitslosen in der Region wieder einen Arbeitsplatz mit Perspektive haben werden.
Dieser Anteil wird sich in nächster Zeit noch erhöhen.
Niemand hat allerdings Verständnis für die überzogene Tarifforderung im alten Bundesgebiet.
Bei uns arbeiten die Menschen im Schnitt für 58 bis 60 % des Lohnes der alten Bundesländer. Die Gewerkschaften hier gehen mit Forderungen von 9 bis 10 % in die Tarifrunde. Um am Jahresende das Ziel von 70 % der Löhne zu erreichen, bedeutet dies, daß es einer 28 %igen Lohnerhöhung bedarf. Diese Steigerungsrate ist nur schwer zu bewältigen, vor allen Dingen für die alteingesessenen Betriebe.
Die SPD bleibt aufgefordert, bei der Umsetzung der Strukturpolitik weiter mitzuwirken. Der Versuch, West gegen Ost auszuspielen, wird sich für niemanden auszahlen.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich erteile j etzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Arbeitsmarktentwicklung, vor allem in den neuen Bundesländern, war schon öfter Thema einer Aktuellen Stunde im Bundestag. Dies gibt uns Gelegenheit, auf aktuelle Daten einzugehen und dabei die generelle Linie der Bundesregierung in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu überprüfen.Der Deutsche Bundestag tut gut daran, die wirtschaftliche Entwicklung sehr genau, sehr kritisch und sehr teilnahmsvoll zu verfolgen. Was sich im Osten
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Dr. Gisela Babelvollzieht, ist atemberaubend. Innerhalb von zwei Jahren ging rund ein Drittel der Arbeitsplätze verloren. Die Zahl der Beschäftigten sank von 9,5 Millionen auf 6,5 Millionen. Das bedeutet einen gigantischen Zusammenbruch der Wirtschaftsstrukturen, und für drei Millionen Menschen stellt der Verlust von Arbeit eine enorme psychische Belastung dar.In ähnlicher Größenordnung haben Bundesbürger der alten Bundesländer noch nie eine Wirtschaftskrise erleben müssen. Ich sage: Es ist staunenswert, wie gefaßt und ruhig das in vielen Städten und Dörfern hingenommen wird. Nach 40jähriger Mißwirtschaft und Ausbeutung trifft diese Bürger der neuen Bundesländer nun das harte Schicksal der Arbeitslosigkeit gleich in den ersten Monaten des wiedervereinigten Deutschlands. Tun wir Bundespolitiker genug, und tun wir das Richtige?Zunächst einmal ein Blick auf das Ressort des Bundesarbeitsministers. Das Ausmaß der eingesetzten Instrumente zum Auffangen der Arbeitslosen ist beeindruckend: 660 000 Arbeitnehmer im Vorruhestand, 400 000 Arbeitnehmer in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und 892 000 Eintritte in berufliche Bildung. Das bedeutet im letzten Fall eine Verdoppelung der Beträge für diesen Bereich. Mehr als die Hälfte der gesamten Finanzmittel der Bundesanstalt für Arbeit geht in die neuen Bundesländer mit der Folge, daß für 1,8 Millionen Menschen die Arbeitslosigkeit vermieden wird. Aus diesen Zahlen läßt sich ablesen, daß die Arbeitsmarktpolitik mit ihren stützenden, sozial abfedernden Hilfen auf Hochtouren gebracht wurde und läuft. Hier ist sicher auch ein Wort der Anerkennung an alle Verantwortlichen — auch an den Bundesarbeitsminister angebracht.
Mit Qualifikation und AB-Maßnahmen in strukturverbessernden Aufgaben leistet die Arbeitsmarktpolitik auch einen Beitrag zur Verbesserung der Wirtschaftsstandorte.Aber: Meine Damen und Herren, das ganze soziale Stützgerüst, das wir in der Sozialen Marktwirtschaft entwickelt haben, kann Arbeitsplätze nicht schaffen. Es kann die Voraussetzungen für die Entstehung von Arbeitsplätzen nur verbessern. Das eigentliche geschieht durch Verbesserung der bestehenden Betriebe, durch Investitionen, durch die Gründung neuer Betriebe und durch Privatisierung der bei der Treuhand angesiedelten verwalteten Unternehmen, meine Damen und Herren.Hier stehen wir an einem kritischen Punkt. Zwar heißt es, daß 70 % der noch verbleibenden Betriebe sanierungsfähig und damit wohl auch privatisierbar sind; aber Sanierungsbemühungen und Privatisierungsabsichten der Treuhand können auch miteinander in Widerstreit geraten. Je länger die Zukunft sanierungsfähiger Betriebe durch Verhandlungen mit wechselnden, meist der Konkurrenz angehörenden Interessenten, im unklaren bleibt, Verträge mit Kunden und Lieferanten in der Luft hängen und Vertrauen verlorengeht, desto geringer werden die Chancen des Fortbestands. Auch erfahrene Manager lassen sich unter diesen Umständen für solche Aufgaben kaum gewinnen.
Es ist, um das ganz deutlich zu sagen, für die F.D.P. klar, daß Unternehmen, die nicht privatisiert und nicht saniert werden können oder bei denen die Sanierung nicht zum Erfolg führt, stillgelegt werden müssen. Die Übernahme durch die öffentliche Hand und die Dauersubventionierung kommen für die F.D.P. nicht in Frage.Bei Unternehmen, die aber sanierungsfähig sind, sollte differenziert vorgegangen werden. Hier gibt es sicher Fälle, in denen ein Sanierungskonzept mit festen zeitlichen und finanziellen Vorgaben aufgestellt und mit einem eigenen Management durchgeführt werden sollte. Hier sollte ständiges Verhandeln mit möglichen Erwerbern so lange unterbleiben, bis eine positive Entwicklung die Privatisierung rechtfertigt, meine Damen und Herren.
Ich glaube, daß wir mit einem solchen differenzierten Programm die Existenz vieler gerade regional bedeutsamer Unternehm en langfristig sichern können.Ich fasse zusammen: Die positive Arbeitsmarktentwicklung ist Folge wirtschaftlicher Blüte. Wir sehen, die Arbeitsmarktpolitik tut heute das Ihre und nimmt ihre Brückenfunktion wahr. Was immer die SPD in einem Presto furioso, Herr Schreiner, zu dieser Politik gesagt hat: Eine Alternative haben Sie nicht geboten.Ich bedanke mich.
Nun erteile ich der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Sie von der Opposition heute hier fast eine Stunde lang gehört hat, dann muß man sich fragen, ob diese Aktuelle Stunde nur wegen der Polemik einberufen wurde. Meine Damen und Herren, wir ignorieren nichts, und ich kann genauso, wie ich es Ihnen zugestehe, die bitteren Gefühle jedes einzelnen gut verstehen, wenn er nach langjähriger Tätigkeit in einem Betrieb plötzlich nicht mehr gebraucht wird.In einzelnen Regionen beträgt die Arbeitslosenquote heute 30 oder 40 %; ich habe einen solchen Wahlkreis. Ich habe nicht den Eindruck, daß jeder im Westen vollkommen versteht und sich vergegenwärtigt, was das für die Menschen in den neuen Bundesländern bedeutet.
Besonders schwer trifft es die Familien, in denen beide Ehepartner plötzlich ohne Arbeit sind und womöglich der Sohn und die Tochter auch noch.
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Bundesministerin Dr. Angela MerkelGerade dann — das können wir verstehen — macht sich Resignation breit. Genau deshalb werden wir in den nächsten Jahren noch Solidarität mit den neuen Bundesländern benötigen.
Wir nehmen die Probleme sehr ernst. Wir gehen zu den Menschen und sprechen mit ihnen; aber wir müssen auch über die Ursachen mit ihnen sprechen. Die Ursachen der jetzigen Situation liegen nicht in der Demokratie, sie liegen in 40 Jahren völlig verfehlter Kommando- und Planwirtschaft.
Deshalb habe ich die ganz dringende Bitte an Sie: Versuchen Sie nicht, eine bestimmte Situation auszunutzen und so zu tun, als ob die einen in populistischer und polarisierender Weise nur über die Sorgen und Nöte der Menschen sprechen dürfen, während die anderen allein für die Lösung der Probleme zuständig sind. Tun Sie es mit uns gemeinsam! Ansonsten kann ich kein solidarisches Verhalten entdecken.Wir stehen alle — Regierung und Opposition, Bund und Länder, die Tarifparteien und gesellschaftlichen Gruppen — in der Verantwortung. Deshalb müssen wir alle gemeinsam genau beachten, welche Auswirkungen Tarifabschlüsse im Westen für die Menschen im Osten haben.
Deshalb möchte ich hier noch einmal sagen: Es ist mir unverständlich, wenn der Kollege Schreiner von einer menschenverachtenden Politik spricht. Ich bitte Sie wirklich, wählen Sie Ihre Worte vernünftig. Es könnte sein, Menschen hören Ihnen zu.
Der Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt — das wissen wir alle -- betrifft die Frauen besonders hart. In Branchen, in denen Frauen stark vertreten sind, gab es besonders viele Entlassungen: im Textil- und Bekleidungsgewerbe, in der Chemie- bzw. Leichtindustrie und vor allen Dingen in der Landwirtschaft. Der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit liegt bei über 60 %. Frauen haben es auch schwerer, einen neuen Arbeitsplatz zu finden; daran gibt es keinen Zweifel.Die Frauenarbeitslosigkeit — darin ist sich die Bundesregierung einig — muß weiterhin genauso ernsthaft bekämpft werden wie die Arbeitslosigkeit von Männern. Auf meine Initiative hin wurde zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeit festgelegt, daß Frauen entsprechend ihrem Arbeitslosenanteil einen Anteil an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bekommen sollen. Dieser Anteil liegt heute nur bei etwa 40 %. Das reicht nicht aus; hier müssen wir weitere Anstrengungen unternehmen.Sie wissen aber genau, daß Frauen gute Voraussetzungen haben, um an der Umstrukturierung teilzuhaben. 90 % der Frauen haben einen Berufsabschluß, viele haben Weiterbildungserfahrungen, und die Qualifizierungsmaßnahmen werden von Frauen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit genutzt.Es zeugt auch von gesundem Selbstbewußtsein, daß viele Frauen in den neuen Bundesländern den Schritt in die Selbständigkeit wagen. 41 % der Selbständigen in Ostdeutschland sind Frauen; im Westen sind es nur 33 %. Dieser Trend unterstreicht für mich den Mut und die Fähigkeit der Frauen, sich an dem gesellschaftlichen Wandel aktiv zu beteiligen.Vier Punkte erscheinen mir wichtig:Erstens: Jetzt, wo die Arbeitsplätze knapp sind, dürfen nicht alte Vorurteile gegenüber der Erwerbstätigkeit von Frauen obsiegen. Frauen haben ebenso wie Männer ein Recht auf einen Arbeitsplatz.
Zweitens. Wir müssen bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sicherlich auch darüber nachdenken, ob das Gießkannenprinzip langfristig ausreicht. Schwerpunkte müssen gebildet werden. Ich denke, in einem sind wir uns auch einig: Die beste Arbeitsmarktpolitik ist die Förderung von Investitionen. Aber Sie wissen wie wir, Investitionen brauchen Zeit. Ich konnte bei der SPD nicht erkennen, als wir Beschleunigungsmaßnahmen im Bereich der Verkehrspolitik beschlossen haben, daß Sie diesen Beschleunigungen zugestimmt hätten. Dort haben Sie Investitionen verhindern und verlangsamen wollen.
— Selbst Herr Stolpe und Brandenburg haben diesem Beschleunigungsgesetz nicht zugestimmt. Wie Sie das vor den Menschen in Brandenburg verantworten können, weiß ich nicht.
Eines ist richtig: Investitionen erfolgen zunächst nicht in den Bereichen, in denen Frauen Arbeitsplätze finden.
Ich hoffe deshalb besonders auf die Unterstützung der Gewerkschaften, auch wenn ich weiß, daß die Branchen-Gewerkschaften, die in Branchen mit einem hohen Frauenanteil tätig sind, längst nicht so ein starkes Gewicht im Deutschen Gewerkschaftsbund haben, wie Gewerkschaften in Branchen, in denen vorrangig Männer beschäftigt sind.
Drittens. Die Treuhandanstalt hat in ihrer Politik einen wichtigen Akzent gesetzt. Sie hat eine Frauenbeauftragte eingesetzt, die sich speziell der Beschäftigungsinteressen von Frauen annimmt. Ich denke, daß damit gewährleistet ist, daß sich auch die Treuhandanstalt verstärkt den Problemen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt zuwenden wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6541
Bundesministerin Dr. Angela MerkelViertens. Mit allen Mitteln müssen wir verhindern, daß Frauen vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Die Gleichstellungsbeauftragten haben hervorragende Arbeit in den vergangenen Jahren geleistet.
— Ich bitte Sie wirklich, daß Sie mich ohne Beleidigungen hier aussprechen lassen.Frauenbeauftragte in Kommunen und Ländern haben im vergangenen Jahr Hervorragendes geleistet, um die Beschäftigungschancen von Frauen zu verbessern. Hier müssen wir darauf achten, daß die Möglichkeiten der Gleichstellungsbeauftragten auch weiterhin erhalten bleiben.Frauen verdienen unser aller Unterstützung — die der Regierungsparteien, aber auch die der Opposition.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Küster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute ein besonderes Jubiläum. Ich möchte daran erinnern. Vor zwei Jahren wurde gesagt: Keinem geht es schlechter, vielen wird es besser gehen; blühende Landschaften. — Ich hätte das gern geglaubt und mit mir viele andere, wenn wir diesen Anlaß, zu dem wir heute zusammengekommen sind, vermieden hätten.
Frau Bundesministerin Merkel, wir wissen sehr wohl, wer für 40 Jahre Mißwirtschaft in der DDR verantwortlich ist. Da müssen Sie uns nicht belehren. Aber wer für zwei Jahre verfehlte Arbeitsmarktpolitik verantwortlich ist, das wissen wir auch.
Nach dem Licht am Ende des Tunnels und den blühenden Landschaften schaut man im Halbjahresabstand aus. Man schiebt diesen Punkt — wann sehen wir denn die Landschaften? — immer weiter nach vorne.
Mit den gleichen halbjährlichen Rhythmen werden auch die arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten verändert, man doktert daran herum, und der Bundesminister stochert mit der Stange im Nebel.
Die Arbeitsmarktzahlen zeigen 3,2 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Im Osten 16,5 %. Ich wage da einen Zweifel: Sind denn die Zahlen wirklich korrigiert? Sind denn die richtigen Zahlen für die Erwerbsfähigen darin erfaßt, oder ist wieder vergessen worden, etwas herauszukorrigieren? Im Westen 6,3 %: Erschreckende Zahlen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
65 % Arbeitslosenanteil der Frauen und steigende Tendenz. Das ist natürlich kein Punkt, den wir hier gut finden können.Es gibt Voraussagen: Die Anmeldung für die Massenentlassungen, die jetzt schon bei den Arbeitsämtern eingehen, zeigen eindeutig: Die Arbeitslosenquote am Ende des ersten Quartals 1992 liegt weit oberhalb von 20 %. Was heißt das?
— Gut zuhören. — Im Osten findet nach wie vor der Arbeitsplatzabbau wesentlich schneller statt als Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die nüchterne Tatsache, die wir daraus ableiten müssen. Auf eine offene Stelle kommen mehr als 50 Bewerber.Das wahre Ausmaß der Misere zeigt sich, wenn man den Arbeitslosen noch die Menschen hinzurechnet, die von der Altersübergangsregelung Gebrauch gemacht haben. Das sind Menschen, die an der Umgestaltung teilnehmen wollten und die jetzt von der Teilnahme ausgeschlossen sind. Es ging ihnen nicht nur um eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, sondern sie wollten auch an der Veränderung teilhaben. Das können sie nicht mehr. Die Quote derjenigen, die kurzarbeiten, an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung teilnehmen, liegt jetzt schon bei über 30 %; diese Quote beträgt in einigen Regionen schon jetzt mehr als 50 %.Die Schlußfolgerung lautet: Die Deindustrialisierung im Osten schreitet fort. Die 5 Weisen haben in ihrem Gutachten festgestellt, daß im Osten — im Vergleich der Jahre 1990 und 1992 — 2,84 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden sind, während die Zahl der Arbeitsplätze im Westen hingegen um 1,13 Millionen anstieg. Welche Schlußfolgerung soll man daraus ziehen? Man kann ganz einfach die Schlußfolgerung daraus ziehen, daß der Ost-West-Gegensatz dadurch weiter verstärkt wird. Insofern wird die Bundesregierung ihrer Aufgabe, gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen, nicht gerecht.Was sind die Ursachen dafür? Ich sage: die falschen Prinzipien der Treuhandpolitik, für die die Bundesregierung, speziell der Bundesfinanzminister, verantwortlich ist. Die Betriebe, denen Sanierungsfähigkeit bescheinigt wurde, werden nur sehr langsam saniert. Privatisierung vollzieht sich in Filetstück-Politik. Ich halte es für wichtig, daß in bezug auf Betriebe, denen Sanierungsfähigkeit bescheinigt wurde, schnell gehandelt wird. Hier muß schnell investiert werden, um zu verhindern, daß diese Betriebe hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit nicht noch weiter hinter den Konkurrenzunternehmen sowohl im Westen Deutschlands als auch in der gesamten Welt zurückfallen. Das heißt: Wir brauchen schnelle Entscheidungen zugunsten von Investitionen in diese Treuhandunternehmen. Solche Betriebe, die nicht mehr saniert werden können, müssen natürlich stillgelegt werden. Ich fordere Sie also auf, in der Treuhandpolitik umzusteuern.
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6542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Uwe KüsterIch komme zu einem weiteren wesentlichen Punkt, der hier schon genannt wurde. Es zeigt sich immer wieder — darin sind sich die Sozialdemokraten mit den Ministerpräsidenten im Osten, mit den Industrieverbänden, mit den Verbänden der Handwerker, mit den Verbänden der Selbständigen einig —, daß Ihnen die Eigentumsregelung, für die Sie sich im Einigungsvertrag eingesetzt haben, jetzt auf die Füße fällt. Es wird Zeit, an diesem Problem nicht bloß wieder einmal — wie vor einem Jahr — herumzudoktern, sondern jetzt muß eine ordentliche Eigentumspolitik gemacht werden, die zeigt, daß Investitionen wichtiger sind als Rückgabe. Das ist der Punkt!
Die Kosten für die sozialen Belastungen, die durch die Langzeitarbeitslosigkeit im Osten entstehen, haben sich innerhalb eines Jahres schon verdreifacht. Sie machen in einer Stadt schon jetzt 3 % des Haushaltsansatzes aus. Mehr hat der Kämmerer dafür nicht zugebilligt. Die Vorausschau zeigt aber, daß es 5 % sein werden. Ich sage: I lier kommen Ausgaben auf uns zu, mit denen indirekt Arbeitslosigkeit und nicht Arbeit finanziert wird. Ich fordere Sie auf: Herr Bundesminister, tun Sie etwas für Arbeit, aber nichts für Arbeitslosigkeit.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Laumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich doch sagen, daß ich es sehr bedauerlich finde, daß die politische Führung des Wirtschaftsministeriums nicht anwesend ist, während das Parlament über den Arbeitsmarkt diskutiert.
Soweit ich sehe, ist nicht einmal ein Mitarbeiter des Hauses anwesend. Arbeitsmarktpolitik hat auch eine ganze Menge mit Wirtschaftspolitik zu tun.
Von daher bin ich der Meinung, daß die Niederschrift dieser Sitzung möglichst schnell ins Wirtschaftsministerium gebracht werden muß, damit die Herren dort einmal nachlesen können, was wir hier besprochen haben.
Meine Damen und Herren, wir konnten hier in der alten Bundesrepublik Deutschland seit 1983 eine sehr erfolgreiche Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik miterleben. Wir haben im Westen die Rekordzahl von 29 Millionen Erwerbstätigen überschritten. 3 Millionen Arbeitsplätze sind seit 1983 geschaffen worden. Wir konnten die Zahl der Arbeitslosen in den letzten drei Jahren um rund eine halbe Million Personen absenken. Auch wenn Sie von der SPD dies nicht wahrhaben wollen, aber dies sind Fakten. Daher ist es auch ganz normal, daß die Menschen im Westen und im Osten uns, der CDU/CSU, am ehesten zutrauen, mit den Problemen auf dem Arbeitsmarkt fertigzuwerden.
Die Probleme, die durch Arbeitslosigkeit entstehen, sind nur zu bewältigen, indem wir neben einer guten Wirtschaftspolitik natürlich auch arbeitsmarktpolitische Instrumente sowohl in Ost- wie in Westdeutschland einsetzen. Es sollte aber für uns Westdeutsche eine Selbstverständlichkeit sein, daß wir die Probleme in Ostdeutschland sehen. Da die Probleme in Ostdeutschland größer und dringlicher sind als bei uns in Westdeutschland, ist es wichtig und auch richtig, daß die Bundesanstalt für Arbeit ihren Hauptschwerpunkt auch im Ausgabenbereich in Ostdeutschland sieht. Wir sorgen uns sicherlich alle um die Frage: Wie können wir Problemgruppen in den Arbeitsmarkt integrieren? Langzeitarbeitslosigkeit ist nach wie vor ein großes Problem. Von 455 000 Menschen, die im September 1992 länger als ein Jahr arbeitslos waren, waren 244 000 über zwei Jahre arbeitslos.Bei der Bekämpfung dieses Problems war das Programm der Bundesregierung, Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose, ein gutes Programm. Alleine durch dieses Programm ist es gelungen, von Juli 1989 bis Ende 1991 73 000 Langzeitarbeitslose in eine Dauerbeschäftigung zu bringen. Daher begrüßen wir von der CDU/CSU ausdrücklich, daß dieses Programm fortgeführt wird.
Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, zum Schluß noch ein Wort an die SPD. Ich muß Ihnen sagen, daß ich es unerträglich finde, daß in vielen Regionen Westdeutschlands Ihre Freunde dagegen polemisieren, daß die Bundesanstalt für Arbeit gezwungen war, die ABM-Mittel hei uns im Westen um 560 Millionen DM zu kürzen. Das war deswegen notwendig, um die Probleme in Ostdeutschland bewältigen zu können.
Ich bin der Meinung, daß das auf Grund der Beschäftigungssituation bei uns in Westdeutschland auch vertretbar ist.
Ich möchte Sie wirklich bitten, Herr Gilges, Sie und Ihre Freunde: Hören Sie auf, die Interessen der Arbeitslosen in Westdeutschland gegen die Interessen der Arbeitslosen in Ostdeutschland auszuspielen.
Uns von der CDU/CSU geht es darum, den Menschen zu helfen, egal, wo sie leben. Wir haben auch die Pflicht, an den Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit zu denken
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Karl-Josef Laumannund mit dem Geld, das er einbezahlt, sorgsam umzugehen. Denn stabile und möglichst niedrige Arbeitslosenbeiträge sind auch ein Mittel der Arbeitsmarktpolitik.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Jäger.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Merkel, wenn Sie die Opposition mit dem ersten Satz, den Sie begrüßt haben, der Polemik bezichtigen: Ich glaube, Ihrer war nicht minder polemisch gemeint.
Wenn Sie eine Frauenbeauftragte, die in der Treuhandanstalt eingesetzt wird, schon mit Erfolg bekrönen, bevor irgendeine Verhinderung von Frauenarbeitslosigkeit eingetreten ist, kann ich das genau-sowenig akzeptieren.
Meine Damen und Herren, die Zahl der ABMBeschäftigten im Januar dieses Jahres beträgt zirka 394 000. Das ist in etwa die Zahl, die die Bundesregierung im vergangenen Jahr als erreichbares Ziel angegeben hatte. Im Herbst 1991 lag jedoch die geschönte Arbeitslosenquote bei zirka 11 %, während sie im Januar auf 16,5 % stieg und in den nächsten Monaten nach ganz eindeutigen Berechnungen 25 % zu erwarten sind. Ungeschönt heißt das aber, daß durchschnittlich 35 % der Menschen in den neuen Bundesländern ohne festen Arbeitsplatz sind. Die IG Metall-Bezirksleitung Küste schätzt die reale Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern mit fast 50 % ein. Nahezu jeder zweite Bürger ist arbeitslos. Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, meine Damen und Herren, was das in solchen Regionen bedeutet?
Nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist „die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ... in eine äußerst kritische Phase geraten.... Ein durchgreifender, von Marktkräften getragener Aufschwung ist ... nicht in Sicht".
Diese wirtschaftliche Situation macht eine grundlegende Änderung der praktizierten Arbeitsmarktpolitik notwendig. Nach den §§ 1 und 2 Arbeitsförderungsgesetz hat die Bundesanstalt für Arbeit neben der Beseitigung von Arbeitslosigkeit auch die Verpflichtung, für deren Vermeidung, d. h. für einen hohen Beschäftigungsgrad, zu sorgen. Damit hat sie auch Verantwortung für wirtschaftliche Strukturverbesserungen.
Angesichts der derzeitigen Lage auf dem Arbeitsmarkt tut sich innerhalb des AFG ein nahezu unlösbarer Widerspruch für die Arbeit der Bundesanstalt auf. Entweder erfüllt sie die eben genannten Aufgaben oder sie kann mit den herkömmlichen Instrumenten nur noch Arbeitslosigkeit verwalten. Letzteres geschieht momentan.
Es bedarf unkonventioneller Regelungen zur Lösung des Problems. Vorschläge liegen genügend auf dem Tisch. Ich denke dabei an arbeitsmarktpolitische Strukturanpassungsleistungen oder Strukturförderprogramme. Ich denke an Beschäftigungsgesellschaften, die mit der Zielsetzung Schaffung von Dauerarbeitsplätzen ins Leben gerufen werden müssen. Ich denke an eine grundlegend geänderte Regierungspolitik in Sachen Treuhandanstalt, an eine Umkehr in der Eigentums- und Altlastpolitik. Anderes wäre noch zu nennen.
Der Widerspruch im AFG setzt sich fort in dem Erlaß des Bundesarbeitsministers vom 20. Dezember vergangenen Jahres. Auch er geht an der Realität vorbei. Was bedeutet denn die Limitierung der ABM-Stellen auf monatliche Kopfzahlkontingente angesichts dieser Steigerung der Arbeitslosenzahlen? Die Höchstzeitbegrenzung von einem Jahr sollte umgekehrt werden auf mindestens ein Jahr. Gegenwärtige Praxis ist die Genehmigung von Halbjahres-ABM. Übergangschancen von ABM-Projekten in Dauerarbeitsplätze sind so kaum realisierbar. Es kommt zu Brüchen und Diskontinuität. Auch Forschùngs-ABM für ältere Wissenschaftler sind damit kaum noch möglich. Hemmend wirkt sich hier das Kriterium der Zusätzlichkeit aus, obwohl das Bundesforschungsministerium mit dem Arbeitsministerium eine eindeutige Orientierung festgelegt hat.
Sachkostenzuschüsse als verzinste Darlehen können sich finanzschwache Kommunen kaum noch leisten. Bodensanierungen, die zur Verbesserung von Privatisierungschancen von Betrieben dienen, sind als ABM nicht mehr erlaubt. Dienen sie denn nicht der Schaffung von Arbeitsplätzen?
Meine Damen und Herren, lösen wir doch endlich diese Widersprüche, die trotz zweijähriger Regierungsarbeit größer anstatt kleiner geworden sind.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ramsauer.
Wir haben, Gott sei Dank, jede Menge Lichter, im Gegensatz zu Ihrer Fraktion. Ich habe heute in der Zeitung gelesen, was der Kollege Horn über die SPD gesagt hat. Der sprach davon, daß der Fisch vom Kopf in Richtung Schwanz stinke. Seien Sie froh, daß Sie nicht stinken.Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über die Entwicklung des Arbeitsmarktes in den neuen Ländern sprechen, muß auch ein Blick auf die spezifischen Kosten der auf neuen Arbeitsplätzen geleisteten Arbeit geworfen werden. Trotz der vielen guten Gründe, ja Zwänge zum schnellstmöglichen Abbau des Lohngefälles zwischen West und Ost muß bei Arbeitsplätzen der eherne Zusammenhang gesehen werden zwischen dem Lohn, der Produktivität und der Bereitschaft, diese Arbeitsplätze überhaupt einzurichten und dafür zu investieren.Die Tarifabschlüsse des Jahres 1991 in den neuen Ländern haben sich in der Regel zum Ziel gesetzt,
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Dr. Peter Ramsauerhundert Prozent der vergleichbaren Westlöhne in den Jahren 1993 bis 1996 zu erreichen.Die Produktivität Ost, gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, beträgt derzeit aber nur 36 % der Produktivität West. Wegen dieses Nachhinkens der Produktivität müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die bereits gewährten bzw. geplanten Lohnsteigerungen als Vorleistungen der Unternehmen auf das künftige Produktivitätswachstum anzusehen sind.Meine Damen und Herren, je größer nun die Begierde der Gewerkschaften nach Lohnsteigerungen im Westen ist, desto schwieriger wird die Aufholjagd im Osten für nichttarifgebundene Bereiche — und dies sind große Bereiche —, weil der Westen zu schnell davoneilt.
Niemand braucht sich dann darüber zu wundern, wenn sich die Lust an der massenweisen Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht noch schneller ausbreiten will. Man kann die Belastbarkeit einer Wirtschaft nicht prüfen, bevor sie sich überhaupt richtig eingerichtet hat. Deshalb muß auch aus dieser Debatte heraus der eindringliche Appell an die Tarifpartner gerichtet werden, in der laufenden Tarifrunde Vernunft und Augenmaß walten zu lassen.Überaus schädlich wirkt es sich gerade für die mittelständische Wirtschaft aus, von der insgesamt ein besonders großer Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaftslage und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze erwartet wird, wenn durch öffentlich subventionierte Wirtschaftsbereiche und deren Arbeitgeber — wie zuletzt in der Stahlindustrie — überzogene Abschlüsse eingegangen werden, die dann zur unerfüllbaren, erdrückenden Meßlatte für mittelständische Unternehmen mit dem entsprechenden Bumerangeffekt für neue Arbeitsplätze in diesem Bereich werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nach diesen tarifpolitischen Aspekten doch noch ein Wort zu den heftigen Auseinandersetzungen um angebliche Mißbrauchsfälle im Rahmen von ABM und daraus angeblich resultierende Diskriminierungen gerade mittelständischer Betriebe sagen. — Ich tue das, weil Sie sich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bei der entsprechenden Einlassung des Ministers Blüm vorhin so haben aufregen müssen. — Diesen Vorwürfen ist in einer Vielzahl von Fällen — ich möchte sagen: in allen Fällen —, die in der Presse und in einschlägigen Wirtschaftsmagazinen veröffentlicht worden sind, nachgegangen worden.
Der Vorwurf des Mißbrauchs hat sich dabei in aller Regel nicht bestätigt.Ausnahmen mögen die Regel bestätigen. Aber es soll sich doch niemand der Illusion hingeben, daß dieBewältigung solch gigantischer, nachrevolutionärer Umwälzungen ohne den einen oder anderen Mißbrauch, quasi als steriles Uhrwerk, ablaufen würde.
Es hat sich als erfolgreich erwiesen, den Gefahren und Befürchtungen eventuell wettbewerbsverzerrender Wirkungen von ABM durch intensiven Kontakt zwischen der Arbeitsverwaltung, den Organisationen des Handwerks und der mittelständischen Wirtschaft zu begegnen und zugleich die positiven Anstoßwirkungen von ABM für Handwerk und mittelständische Wirtschaft darzustellen. Das „ Unbedenklichkeitsbescheinigungsverfahren " hat sich — trotz des entsetzlichen Klangs dieses Wortes — im großen und ganzen bewährt.Eines, meine Damen und Herren, muß bei dieser ganzen Debatte deutlich herausgestrichen werden: Die Arbeitslosigkeit und die Arbeitsmarktprobleme in den neuen Ländern sind keineswegs — wie es immer versucht wird — der Marktwirtschaft anzulasten, sondern sie sind Ausdruck der in der sozialistischen Planwirtschaft versteckt gewesenen Überbeschäftigung, Ineffizienz und Vergeudung wirtschaftlicher Ressourcen. Es ist, im Gegenteil, eine großartige Leistung, Herr Kollege Schulz — jetzt ist er weg —, daß die Soziale Marktwirtschaft die Mittel und die Kraft hat, die beispiellosen Probleme sozialistischer Hinterlassenschaft, dieser so verursachten Strukturkrise und des Übergangs aufzufangen und abzufedern.
Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Abgeordneten Feilcke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde begann mit der wirklich sehr dämlichen Bemerkung, der Bundesarbeitsminister sei an der Arbeitslosigkeit schuld. Ich sage zum Abschluß der Aktuellen Stunde: Bundesarbeitsminister Blüm ist ein Spezialist in der Anwendung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.
Die Jahre 1990 und 1991 erzwangen geradezu die Anwendung und auch die Entwicklung von Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik. 1992 allerdings schlägt die Stunde der Wirtschaftspolitik.
In einer Phase struktureller Umwälzungen, meine Damen und Herren, müssen wir die herkömmlichen Arbeitsmarktinstrumente daraufhin überprüfen, ob
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Jochen Feilckesie noch zeitgemäß, ob sie effektiv sind und ob sie wirken.
Schließlich sind sie ja einmal in einer Phase konjunktureller Schwäche entwickelt worden, und jetzt müssen sie sich in einer Phase unglaublicher struktureller Umwälzungen bewähren. Ich fordere uns alle auf, darüber nachzudenken, ob die bisherigen Instrumente ausreichen oder — anders ausgedrückt — ob sie noch ihre Brückenfunktion erfüllen, ob das Tal der Arbeitslosigkeit tatsächlich überbrückt wird, ob die Brücke lang genug ist.
Die Verknüpfung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen z. B. mit Bildungsmaßnahmen muß einen noch höheren Grad an Effizienz und Qualität erreichen. Es ist doch geradezu atemberaubend, zu sehen, wie groß der Bildungswille und die Bildungsanstrengungen unserer Landsleute in den östlichen Bundesländern sind. 920 000 Eintritte in Qualifizierungsmaßnahmen allein im Jahre 1991. Das ist ein Qualifizierungswunder!
Ebenso, meine Damen und Herren, muß es doch möglich sein, allen ordnungspolitischen Bedenken zum Trotz für einen befristeten Zeitraum die Instrumente des Arbeitsförderungsgesetzes deutlicher auf den ersten Arbeitsmarkt auszurichten. Kurzfristig muß deshalb geprüft werden, ob eine Verknüpfung und Verzahnung der Arbeitsmarktpolitik auch mit der Beschäftigungsförderungspolitik möglich ist.Als einen kleinen Ansatz in dieser Richtung rege ich ausdrücklich an, das in den westlichen Ländern bewährte Instrument der Förderung von Langzeitarbeitslosen auch in den östlichen Ländern zum Laufen zu bringen. Die Langzeitarbeitslosigkeit, also Arbeitslosigkeit von mehr als einem Jahr, ist auch dort inzwischen in großer Zahl vorhanden. Im übrigen, glaube ich, ist es ein Instrument, das gerade auch in Mittelbetrieben zu einer hervorragenden Anwendung kommen kann.Im übrigen bin ich der Meinung, muß darauf hingewirkt werden, daß die Fördermittel eher durch direkte Auftragsvergabe an den ersten Arbeitsmarkt laufen als über das meistens zu komplizierte Räderwerk von AFG-Leistungen, die mit hohen Effizienzdefiziten und Bürkratiekosten verbunden sind.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß dieser Debatte noch folgendes sagen. Ich glaube, daß wir uns bei aller Polemik darüber im klaren sind, daß es riesige Probleme gibt. Um so erfreulicher ist es, daß wir die richtigen Leute haben, um mit diesen Problemen fertig zu werden.Am erfreulichsten ist aber, daß trotz aller dieser Nöte insgesamt gesehen die Stimmung im Osten besser und nicht schlechter wird. Einer Veröffentlichung im „Spiegel" dieser Woche ist zu entnehmen: Im Westen bezeichnen weniger Befragte als früher die Lage als sehr gut oder gut. Im Juni vorigen Jahres waren es 76 %, in diesem Monat 47 %. Umgekehrt nennen weniger Ostdeutsche als früher die dortige Lage schlecht oder sehr schlecht. — Ich glaube, das ist ganz ermutigend.Ich halte es für verantwortungslos und für wirklich unhistorisch, ja fast gemeingefährlich, wenn die Ministerin Hildebrandt die heutige Situation mit der Weimarer Situation vergleicht. Das ist wirklich falsch. Ganz im Gegensatz dazu finde ich es begrüßenswert, wenn der Minister Bräutigam aus demselben Bundesland sagt, daß wir zahlreiche bedeutende Ansiedlungen haben und durch eine sich rasch entwickelnde mittelständische Wirtschaft erfreuliche Erfolge verzeichnen können. Die brandenburgische Wirtschaft befindet sich im Aufbruch — nicht nur dort. So soll es auch bleiben.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde, und ich kann den Tagesordnungspunkt 6 aufrufen:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen
— Drucksache 12/1754 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/2074 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Eylmann
Dr. Eckhart Pick
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eckhart Pick, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erhöhung und periodische Anpassung der Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen und der Prozeßkostenhilfe-Freibeträge
— Drucksachen 12/883, 12/2074 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Eylmann Dr. Eckhart Pick
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Debatte eröffnen und erteile zunächst einmal dem Abgeordneten Eylmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zur Zeit geltenden Pfändungsfreigrenzen in der Zivilprozeßordnung, die bei Lohnpfändungen eine erhebliche Rolle spielen, sind zuletzt 1984 angehoben worden. Seitdem haben sich die Lebenshaltungskosten nach
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Horst Eylmannden geltenden Indexzahlen um gut 15 % erhöht. Es war deshalb an der Zeit, die Pfändungsfreigrenzen, also die Beträge, die einem Schuldner, der mit einer Lohnpfändung überzogen wird, bleiben, der zwischenzeitlichen wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen. Das geschieht nunmehr mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen, das am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten wird.Nun haben wir uns bei der Anhebung dieser Freigrenzen nicht nur an der Steigerung der Lebenshaltungskosten orientiert, sondern wir haben auch die Sozialhilfesätze dabei ins Auge gefaßt, und zwar aus folgendem Grunde: Aus dem im Grundgesetz zum Ausdruck gekommenen Sozialstaatsprinzip folgt das Gebot, dem Bürger aus dem selbsterzielten Einkommen das sogenannte Existenzminimum zu belassen. Nicht nur im Steuerrecht gilt dieses Gebot, es gilt auch bei einer Lohnpfändung. Dieses Existenzminimum wird für denjenigen, der nicht über ein entsprechendes Einkommen verfügt, durch die Sozialhilfe gewährleistet, deren Aufgabe es ist — so heißt es in § 1 des Bundessozialhilfegesetzes —, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.Daraus wiederum folgt zwingend, daß die Pfändungsfreibeträge auf Dauer nicht niedriger sein dürfen als die Sozialhilfe, denn sonst würde ja der Pfändungsschuldner für den nicht gedeckten Rest des Existenzminimums Sozialhilfe in Anspruch nehmen können. Letztlich würde das bedeuten, daß die Gesamtheit der steuerzahlenden Bürger einspringen müßte, damit auf der anderen Seite der Gläubiger des Schuldners im Wege der Zwangsvollstreckung zu seinem Geld kommt. Das kann aus fiskalischen Gründen nicht hingenommen werden.Dieses Junktim zwischen Existenzminimum und Pfändungsfreibetrag erfordert es nun allerdings, vor einer Neufestsetzung der Pfändungsfreibeträge zu erklären, wie hoch denn nun das durch die Sozialhilfe zu sichernde Existenzminimum ist. Das ist leichter gesagt als getan; denn die Sozialhilfeleistungen sind nicht schlechthin aus einer Tabelle abzulesen, sondern richten sich nach der individuellen Situation des Empfängers. Dabei sind regional unterschiedlich ausgeprägte Bedürfnisse ebenso zu berücksichtigen wie besondere Elemente der Familienstruktur.Es müssen also Durchschnittssätze gebildet werden. Das scheint schwierig zu sein, denn die Bundesregierung führt in der Begründung ihres Gesetzentwurfs selbst aus, daß die durchschnittliche Bedarfsschwelle der Hilfe für Bedürftigkeit bei einem Alleinstehenden in den verschiedenen Berechnungen zwischen 973 DM monatlich und 1 153 DM monatlich schwankt. Das überrascht ja auf den ersten Blick, aber wer sich einmal mit den in Bund und Ländern geltenden Sozialhilfevorschriften beschäftigt hat, für den ist dies kein Wunder, denn diese Materie ist für den Normalbürger beinahe überhaupt nicht mehr und auch für den Juristen kaum noch zu durchschauen. Nur ausgesprochene Fachleute vermögen dieses Gebiet noch zu beherrschen.Die Skepsis gegenüber den unterschiedlichen Festlegungen der Bedarfsschwelle wächst noch, wenn man sich vergegenwärtigt, daß außerhalb der Sozialhilfe offensichtlich noch ganz andere Beträge als ausreichend für die Deckung des Lebensbedarfs angesehen werden. Im Unterhaltsrecht siedeln die Gerichte den Unterhaltsbedarf eines nicht im Hause der Eltern wohnenden Studenten oder Auszubildenden, der ja wegen seiner eigenen Haushaltsführung als Alleinstehender gilt, bei 850 DM monatlich an.Logischerweise müßte also der Student, der mit diesem Betrag auskommen muß, was ja wegen der stark gestiegenen Mieten insbesondere in den Ballungsgebieten schwierig ist, noch Sozialhilfe in Anspruch nehmen können, jedenfalls als Ergänzung seines Unterhaltsanspruchs. In anderen Gebieten gelten wieder andere Bedarfsschwellen.Sie sehen: Wenn man mit einfachen Grundsätzen der Logik an dieses Gebiet herangeht, dann stößt man auf Fragen, die sich nicht so schnell beantworten lassen.
— Für das Sozialhilferecht ist nicht der Rechtsausschuß federführend zuständig.Dabei muß man beim Unterhalt sagen, daß der Unterhalt eines Studenten nicht das Existenzminimum sichern soll, sondern den gesamten Lebensbedarf umfaßt. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der gesamte Lebensbedarf ist nicht identisch mit dem Existenzminimum. Dennoch ist das Existenzminium im Sozialhilferecht höher als der Lebensbedarf eines Unterhaltsberechtigten. Es ist wirklich merkwürdig und nicht einfach zu erklären.Man könnte daraus nun schließen, daß die Bedarfsschwelle im Sozialrecht vielleicht zu hoch angesetzt ist. Oder sind die Unterhaltssätze zu niedrig? Beim Sozialrecht ist noch zu beachten, daß in der Sozialhilfe seit 1984 die Sätze etwa doppelt so stark gestiegen sind wie die Lebenshaltungskosten.Der Ausschuß für Familie und Senioren hat eine weitere Zweifelsfrage angesprochen. Er hat gefragt: Ist das Lohnabstandspostulat noch gewahrt? Bei der Festlegung der Sozialhilfesätze ist nämlich nach § 22 des Bundessozialhilfegesetzes darauf zu achten, daß sie unter dem durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelt unterer Lohngruppen zuzüglich Kindergeld und Wohngeld bleiben. Nun gibt es seit langem Zweifel daran — das kann man immer wieder nachlesen —, ob denn nicht findige Sozialhilfeempfänger besser dastehen als die etwas dümmlichen Leute, die noch ihr Geld in den unteren Lohngruppen mit Arbeit verdienen. Diese Zweifel sind schon vor zehn, fünfzehn Jahren geäußert worden.
Wenn man sich mit den Sachbearbeitern auf den Sozialhilfeämtern unterhält, bekommt man natürlich zum einen diese Fälle vorgetragen, die wir alle kennen: Es gibt Sozialhilfeempfänger, die ihr Geld mit dem Mercedes abholen. Diese Fälle sind sicherlich nicht zu verallgemeinern. Seriöser wäre es, wenn man sich einmal von einem Sachbearbeiter ausrechnen
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Horst Eylmannließe — ich habe das schon einmal machen lassen —, was eine Familie, die von Sozialhilfe lebt, monatlich erhält, oder auch im Jahresdurchschnitt, und dann geteilt durch zwölf — das ist die bessere Berechnung —, und dagegen hält, was zum Beispiel ein städtischer Arbeiter im Gartenamt im Jahr nach Hause bringt. Da stellen Sie fest, daß fast kein Unterschied besteht. Manchmal scheint sogar der Sozialhilfeempfänger besser dazustehen.Ich vermag das nicht abschließend zu beurteilen, aber ich meine, daß wir hier solide Zahlen brauchen. Ob die Statistik sie uns liefern kann, ist zweifelhaft angesichts der Kompliziertheit unseres Sozialhilferechts.Immerhin müssen wir feststellen, daß im Augenblick eine erheblichen Differenz in den verschiedenen Berechnungen des Existenzminimums besteht. Die Pfändungsfreigrenze für einen Arbeiter oder Angestellten, der keine Unterhaltspflichten zu erfüllen hat, legen wir jetzt bei 1 209 DM fest, statt bisher 754 DM. Das ist eine ganz erhebliche Steigerung. Dagegen beträgt der Unterhaltsanspruch, wie gesagt, 850 DM. Diese Differenz von 350 DM scheint mir zu groß zu sein.Lassen Sie mich zum Schluß also noch einmal betonen: Wir brauchen erstens dringend eine einigermaßen einheitliche Festsetzung des Existenzminimums in den verschiedenen Rechtsbereichen. Denn diese Unterschiede können wir dem Bürger nicht klarmachen. Wir brauchen zweitens eine solide und nachvollziehbare Ermittlung dessen, was das Existenzminimum — das soziokulturelle Existenzminimum, wie wir es nennen — ausmacht, wo es liegt. Und wir brauchen drittens — darauf deutet das hin, was auch von den Ausschüssen verlangt wird — eine Straffung und Vereinfachung unseres Sozialhilferechts.Mir kam gerade heute eine Presseerklärung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts auf den Tisch. Ich will mit Erlaubnis des Präsidenten daraus einige Sätze zitieren. Er hat von einem Wohlstandsverwaltungsrecht in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen, das mittlerweile zu einer so erheblichen Verfeinerung der Rechtsanwendung geführt habe, daß sie gelegentlich schon die Überschaubarkeit der Rechtsmaterie zu gefährden droht. — Eine sehr vornehme, zurückhaltende Ausdrucksweise!Er fährt fort:Damit verbunden war in den letzten Jahren ein immer stärker gewordenes Streben nach Einzelfallgerechtigkeit. Wir empfinden ein solches gewissermaßen allen Nuancen und Verästelungen Rechnung tragendes Rechtskalkül inzwischen als den selbstverständlichen Ausdruck unseres guten Rechts. Andere sehen darin eher ein Zeichen für einen überzogenen Individualismus.Was hier der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts für die Verwaltungsrechtsprechung feststellt, das gilt durchaus auch für die Gesetzgebung auf manchen Gebieten. Natürlich ist das Ziel lobenswert. Wir wollen individuelle Gerechtigkeit verwirklichen, aber wenn wir das zu fein ziseliert tun, dann bringen wir nicht mehr Gerechtigkeit, sondern wir schaffen neue Ungerechtigkeit. Denn wenn ein Rechtssystem nicht mehr überschaubar ist und der einzelne Bürger nicht mehr weiß, was ihm eigentlich zusteht — ich nehme als Beispiel das Sozialhilferecht —, dann entsteht die grobe Ungerechtigkeit, daß ein Teil der Bürger die Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, ausnutzt, der andere Teil aber nicht. Dieser Gefahr muß man sich immer bewußt sein.Weil es, wie gesagt, aus den von mir dargelegten Gründen mir zur Zeit sehr zweifelhaft erscheint, wo die Bedarfsschwelle liegt, können wir auch dem Vorschlag der SPD nicht folgen, für die Zukunft eine stärkere Koppelung zwischen den Sozialhilfesätzen und den Pfändungsfreibeträgen vorzusehen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nunmehr Professor Dr. Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Name des Gesetzes und die Bezeichnung des Antrages der SPD, über die wir heute entscheiden wollen, klingen sehr sachlich, um nicht zu sagen technisch-bürokratisch. Hinter dem Titel „Sechstes Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen" verbirgt sich viel mehr, nämlich die finanzielle und die soziale Bedrängnis vieler Tausende von Menschen, die, auf Grund welcher Umstände auch immer, ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten.
Die Zwangsvollstreckung zugunsten der Gläubiger ist in diesen Fällen auf Grund eines rechtskräftigen Titels, meist eines Urteils, bereits im Gange.Eine Pfändungsfreigrenze heißt nichts anderes, als die Summe dessen, was im Falle der Zwangsvollstrekkung dem sogenannten Schuldner von Gesetzes wegen verbleibt. Der Gläubiger, also derjenige, der die Zwangsvollstreckung vornimmt, nimmt im allgemeinen nicht von selber darauf Rücksicht, daß der Schuldner seinen notwendigen Lebensbedarf bestreiten muß. Man kann Gläubigern auch nicht verdenken, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen, daß sie sich bemühen, im Wege der Pfändung so viel wie möglich zu realisieren. Aber ich denke, dem kann der Sozialstaat und der Rechtsstaat nicht tatenlos zusehen. Er hat nicht nur wegen entsprechender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, sondern schon auf Grund des Sozialstaatsgebots die Verpflichtung zum Einschreiten, wenn die Not auf Grund der Zwangsvollstreckung existentiell wird.Meine Damen und Herren, wir hatten als Fraktion der SPD schon in der letzten Legislaturperiode den Antrag gestellt, die Pfändungsfreigrenzen angemessen zu erhöhen. Warum ist dies notwendig? Der Herr Kollege Eylmann hat schon auf einige Gesichtspunkte hingewiesen. Ich sage noch einmal: Die Pfändungsfreigrenzen sind zuletzt am 1. April 1984 angehoben worden. Inzwischen haben sich die Lebensverhältnisse ganz entscheidend verändert, nicht nur die
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6548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Eckhart PickRegelsätze bei der Sozialhilfe. Die Lebenshaltungskosten haben sich erheblich zu Lasten der Bürgerinnen und Bürger verändert. Die Geldentwertung, die Explosion der Mieten und sicher auch das Thema der Aktuellen Stunde, was wir vorhin behandelt haben, nämlich die zunehmende Arbeitslosigkeit, sind zu berücksichtigen. Das sind die Ursachen dafür, daß wir uns mit diesem Problem besonders beschäftigen müssen.Trotzdem haben sich Regierung und Koalition nicht bereitgefunden, der sozialen Not der Betroffenen zeitnah abzuhelfen. Unsere Initiative ist in der letzten Legislaturperiode nicht aufgenommen worden, offensichtlich deswegen, weil sich die Koalition nicht einig war in der Frage, ob man diese Grenzen für die alten und neuen Bundesländer gleichmäßig festsetzen sollte. Das ist der Grund gewesen.Dies hat dazu geführt, daß dieser Streit letztlich auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen worden ist. Wie sieht das in der Realität aus? — Im ungünstigsten Fall verbleibt dem Schuldner nach der Zwangsvollstreckung, wenn er alleine lebt, ein Betrag von 754 DM im Monat. Das muß man einmal wiederholen: 754 DM bleiben ihm zur Bestreitung seines Unterhalts. Das liegt natürlich weit unter dem Minimum dessen, was für das Leben erforderlich ist.Dieser Betrag muß deshalb regelmäßig durch die Sozialhilfe ergänzt werden. Das führt — Herr Eylmann hat es ja angedeutet — zu dem schizophrenen Ergebnis, daß es der Staat privaten Gläubigern ermöglicht, ihre Forderungen weitgehend zu realisieren, daß er aber andererseits die entstehende Lücke durch die Sozialhilfe wieder auffüllen muß. Wer dafür zuständig ist, das wissen wir, nämlich die Gemeinden, auf die das als die Träger der Sozialhilfe wieder zurückschlägt. Man kann es auch so ausdrücken: Der Staat übernimmt freiwillig die Garantie der Realisierung privater Forderungen und sozialisiert die Differenz zum notwendigen Lebensunterhalt.Diese Schieflage der jetzigen Regelung wird auch in folgender Konsequenz deutlich: Man muß sich ja fragen, welcher Schuldner kann denn ein Interesse haben, sich um Arbeit zu bemühen, wenn ihm noch nicht einmal das Existenzminimum verbleibt. Ich denke aber, daß es auch im Interesse der Gläubiger ist, wenn sich ein Schuldner bemüht, durch regelmäßiges Einkommen seine Schulden zu begleichen.Damit, meine Damen und Herren, kommen wir zu einer zentralen Frage, die mit unserem Thema verknüpft ist, nämlich zu dem dringenden Problem der Überschuldung privater Haushalte.
Wir wissen aus der Diskussion über den modernen Schuldturm, daß die Lage viel dramatischer ist, als sie sich gemeinhin in der Öffentlichkeit darstellt. Wir haben hier in diesem Hause darüber gesprochen, zuletzt im Zusammenhang mit unserem Antragducher"Verbraucher" und auch mit dem Verbraucherkreditgesetz. Wir wissen, daß dies ein ganz zentrales Thema der Sozialpolitik geworden ist.Meine Damen und Herren, heute gehen wir das Problem eigentlich von rückwärts an. Die Hilfe kommt ja erst, wenn das Kind sozusagen in den Brunnen gefallen ist. Anstatt allerdings in schwieriger finanzieller Situation besser zu beraten oder für ein faires Verfahren zur Entschuldung zu sorgen, widmen wir uns bei dieser Frage dem Katastrophenfall. Es wäre sicher sinnvoller, im Vorfeld, präventiv, tätig zu werden.
Trotzdem — das sagen auch wir — gibt es zur Erhöhung der Pfändungsfreigrenzen keine Alternative, weil sie ökonomisch und sozial vernünftig ist. Jetzt wird der pfändungsfreie Betrag — ich nenne nur die Zahl für den Alleinstehenden, der keine Unterhaltsverpflichtungen hat — auf 1 209 DM erhöht. Damit liegt er in der Tat etwas über den Regelsätzen der Sozialhilfe. Aber wir setzen den pfändungsfreien Betrag auch auf diese Höhe fest, meine Damen und Herren, damit wir nicht bereits im nächsten Jahr wieder über eine Erhöhung zu befinden haben. Es ist schon besser, man schafft hier einen gewissen Spielraum.Wir begrüßen diese Regelung, und wir stimmen den Erhöhungen zu. Sie entsprechen übrigens auch dem, was der Bundesrat in der letzten Legislaturperiode gefordert hat.Herr Eylmann, Sie haben eine Bemerkung zu unserer Forderung nach der periodischen Anhebung dieser Freibeträge gemacht. Das ist in der Tat in dem Gesetz nicht vorgesehen. Aber wir geben uns im Moment mit der Aussage im Rechtsausschuß zufrieden, daß alle zwei Jahre eine Überprüfung erfolgt und daß dann entsprechend reagiert werden kann.Wir sehen es auch als richtig an, daß die Bundesregierung zugesagt hat, die höchst unterschiedlichen Berechnungssformen des Existenzminimums im Steuer-, Familien-, Sozial- und Prozeßrecht auf ihre Berechtigung und Stimmigkeit zu überprüfen. Ich denke, dabei muß man jedem einmal klarzumachen versuchen, worauf diese Unterschiede eigentlich beruhen. Das ist aber meist nicht sehr erfolgreich. Kein Mensch weiß, wie diese Zahlen eigentlich zustande kommen.Wir sehen es nicht nur als Erfolg an, daß sich der Bundestag nunmehr des Problems der pfändungsfreien Beträge überhaupt angenommen hat, sondern wir begrüßen ausdrücklich, daß der Bundestag im Gegensatz zum Vorschlag der Bundesregierung diese Regelung sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern zur Geltung bringen will. Ich denke, es wäre fatal gewesen, meine Damen und Herren, erneut zweierlei Recht zu schaffen und sich unter den Zwang zu setzen, die ungleichen Lebensbedingungen ständig zu ermitteln, zu begründen und zu rechtfertigen. Ich denke, entscheidend sollte das Schutzbedürfnis der Menschen sein, egal, ob sie in den alten oder den neuen Bundesländern leben.Unser weitergehender Antrag, auch die Freibetragsgrenzen der Prozeßkostenhilfe zeitnah anzuheben, ist mit diesem Gesetz noch nicht erledigt. Wir haben vereinbart, daß unser Antrag insoweit nicht
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Dr. Eckhart Pickerledigt ist, sondern im zuständigen Ausschuß weiter beraten wird. Auch hier sind wir der Auffassung, daß die Anwendung der jetzigen Freibeträge zu Härten führt, die mit dem sozialen Rechtsstaat nicht mehr zu vereinbaren sind.Meine Damen und Herren, die SPD stimmt diesem Gesetzentwurf zu, weil er weitgehend unseren Anforderungen entspricht. Er trifft aus unserer Sicht eine gerechte Abwägung der Interessen, also zwischen den Interessen des Gläubigers und des Schuldners. Wir denken, daß diese Regelung für die nächste Zeit eine tragfähige und sozial ausgewogene gesetzliche Regelung darstellt.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.Detlef Kleinert , (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Kollege Pick hat eine Fülle von Kritik angebracht. Aber wir haben uns dann alle wieder entspannt, als wir feststellten, daß Sie doch wenigstens zustimmen sollen und es dann so schlimm mit Ihren Bedenken nicht sein kann. Wir nehmen das dankbar zur Kenntnis. Es handelt sich ja trotz aller Bemerkungen, welche die Vorredner verdienstvollerweise gemacht haben, um eine zunächst einmal technische Frage einer Angleichung im Zuge anderer Angleichungen.Daß wir bei dieser Gelegenheit feststellen mußten, daß eigentlich niemand weiß und niemand eine Übersicht hat, wie sich die durchaus zueinander gehörenden Einkommensgrenzen, Hilfegrenzen und dergleichen zueinander verhalten, ist ein Nebenprodukt der Debatte, das ich für bemerkenswert halte. Denn ein Unternehmen, das die wesentlichen Zahlen des Unternehmens nicht ständig kennt, befindet sich auf einem ungewöhnlich gefährlichen Wege.
Das scheint für die Volkswirtschaft dieser Bundesrepublik mit verhältnismäßig leichter Hand hingenommen zu werden. Ich bin nicht der Meinung, daß man das so hinnehmen kann, und bin deshalb auch dankbar — die Kollegen haben es bereits angesprochen —, daß wir jedenfalls — obwohl vielleicht nicht in erster Linie im Rechtsausschuß des Hauses zuständig — uns der Frage noch einmal mit, wie ich hoffe, ungewöhnlich tatkräftiger Unterstützung der Bundesregierung werden annehmen können.Nun ist es sicherlich hoch bedauerlich, wenn vollstreckt wird, obwohl die Betroffenen nicht oder nicht recht leistungsfähig sind und dann vielleicht auch Umschichtungen zu Lasten der Öffentlichen Hand stattfinden. Ich möchte aber mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß es auch unzuträglich ist, daß in dieser Republik Urteile ergehen, die rechtskräftig werden— ich glaube übrigens im Gegensatz zu Herrn Pick, daß es sich in der Masse der Fälle nicht um Urteile, sondern um Vollstreckungsbefehle handeln dürfte, aus denen dann zur Vollstreckung übergegangen wird — und daß solche Urteile und Vollstrekkungsbefehle, also rechtskräftige Titel, nicht vollstreckt werden können. Das ist genauso mißlich. Der Rechtsstaat muß sich ja nicht nur in irgendwelchen deklamatorischen Äußerungen niederschlagen, sondern er muß tatsächlich auch im Vollzug der Urteile seiner Gerichte zu einem Ergebnis für die streitenden Parteien, also hier zur Begleichung der Forderung des Obsiegenden, führen.In diesem Zusammenhang darf man wohl auch darauf hinweisen, daß es ein besonders gut gehütetes Geheimnis vieler deutscher Unternehmen ist, nach welchen geheimnisvollen Regeln sie vollstrecken, nicht vollstrecken, manchmal vollstrecken, nach gewissen Schlüsseln vollstrecken, um einerseits nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, man könne sich sowieso auf dem Sektor alles erlauben, weil wegen der völligen Unverhältnismäßigkeit zwischen den entstehenden Kosten und den Chancen, Ergebnisse einzubringen, ohnehin niemand mehr vollstrecken würde, und andererseits natürlich diese Kostenlast für die Unternehmen in halbwegs vertretbaren Grenzen zu halten.Daraus ergeben sich Systeme, die klugerweise hier und auch in der Diskussion im Rechtsausschuß im einzelnen nicht dargestellt werden und die weit von der Idee entfernt sind, es ginge nach dem Grundsatz: hätten wir erst ein Urteil, oder einen Vollstreckungsbefehl, dann werde vollstreckt, und dann komme Geld. Diese Idee ist angesichts der Rechtswirklichkeit geradezu abwegig.Wenn ich nun lobende Bemerkungen über die Nebenergebnisse der Beratungen im Rechtsausschuß gemacht habe, müßte man eigentlich sagen, wir könnten mit dem bisherigen Zustand, daß von Zeit zu Zeit durch Gesetzesänderung die veränderten Verhältnisse berücksichtigt werden müssen, zufrieden sein, weil wir dann ja auch gründlich beraten und dabei zu bemerkenswerten Erkenntnissen kommen.Ich glaube aber nicht, daß das richtig ist. In Wirklichkeit handelt es sich hier um den typischen Fall einer Verordnungsermächtigung, daß es nämlich, solange sich nicht strukturelle Veränderungen ergeben haben, die durch gesetzliche Entscheidungen berücksichtigt werden müssen, solange man vielmehr lediglich der allgemeinen Entwicklung von Kaufkraft und Einkommen folgen muß, im wesentlichen um einen technischen Anpassungsvorgang geht, der durch eine Verordnungsermächtigung der Regierung anheimgegeben werden könnte.Diese allerdings — die Kollegen wissen genau, worauf ich jetzt hinsteuere — setzt voraus, daß die Regierung so liebenswürdig ist, das Bedürfnis des Parlaments anzuerkennen, auf die Sache, wenigstens bevor sie im Bundesanzeiger veröffentlicht wird, noch einmal draufzugucken, so daß man sich also nur auf dem Weg über die sogenannte Jojo-Verordnung entschließen würde, die Sache aus der Hand zu geben, in der Gewißheit, daß man sie im Ernstfall wieder an sich ziehen kann. Das wäre eine sehr vernünftige Regelung für alle vergleichbaren Fälle und besonders für diesen Fall.
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Detlef Kleinert
Man muß hier für alle Male sehen, daß sich das Parlament um so eher von Verordnungsermächtigungen trennen wird, je mehr es gewiß sein kann, daß es sich im Ernstfall noch einmal wird beteiligen können. Sonst gibt es die Möglichkeit der Gesetzgebung eben nicht aus der Hand. Dann führen wir mindestens alle zwei Jahre die heutige Debatte noch einmal.Ich habe nun allerdings gute Hoffnung, daß wir nach dem sehr unglücklichen Streit aus Anlaß der Fachgebietsbezeichnungen für Rechtsanwälte, der kürzlich mit einer Notlösung beendet worden ist, in diesem Punkt ein für alle Male Klarheit erreichen werden und daß wir dann auch diese Materie vernünftigerweise den sachkundigen Beamten, die ja auch die Vorlage, die wir heute verabschieden können, dankenswerterweise mühsam und sorgfältig erarbeitet haben, für die Zukunft im Weg einer solchen Jojo-Verordnungsermächtigung anvertrauen können, so daß wir uns in diesem Hause vielleicht nicht so bald über denselben Gegenstand zu unterhalten brauchen.Danke schön.
Herr Abgeordneter, ich möchte nicht versäumen, mich sehr herzlich dafür zu bedanken, daß Sie und damit auch ich diesmal kein Problem mit der Redezeit hatten.
Nun spricht Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen sollen diese entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 dem Existenzminimum des betroffenen Schuldners angepaßt werden.Die Grundlage der neuen Begrenzung ist nach der Begründung der Bundesregierung die Entwicklung der Lebenshaltungskosten und des durchschnittlichen Sozialhilfebedarfs des Schuldners. Die Bundesregierung ist sich, wie sie schreibt, darüber im klaren, daß die neuen Freibeträge nicht immer das Niveau der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem zweiten Abschnitt des Bundessozialhilfegesetzes erreichen. Dazu hat vorhin schon Herr Professor Pick gesprochen.Aber auch bei den Regel- und Mehrbedarfssätzen nach dem Bundessozialhilfegesetz verbleibt den Betroffenen nur das Nötigste zum Leben, kaum etwas, um die spezifisch menschlichen Bedürfnisse nach Unterhaltung, Bildung, Kultur und Körperpflege zu befriedigen. Es ist richtig, was die Fraktion der SPD in der Begründung ihres Antrags vorträgt:Das geltende Pfändungsschutzrecht sichert überschuldeten Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen nicht einmal das für ein menschenwürdiges Leben unzulängliche Sozialhilfeniveau.Ein Schuldner in der Bundesrepublik Deutschland kann also auch nach den von der Bundesregierung vorgeschlagenen neuen Pfändungsgrenzen in eine soziale und menschliche Katastrophe, nämlich in die Führung eines menschenunwürdigen Lebens, geraten.Dies gilt bereits für Millionen von überschuldeten Menschen in den alten Bundesländern. Völlig überschuldet, d. h. überhaupt nicht mehr in der Lage, mit dem gegebenen Einkommen die Schulden zurückzuzahlen, werden viele dieser Menschen bis an ihr Lebensende mit diesem entwürdigenden Dasein zurechtkommen müssen.In den neuen Bundesländern sind weitere Millionen überschuldeter und dauerhaft verarmter Menschen zu erwarten.Auch der SPD-Antrag zeigt hier keine Abhilfe. Die SPD bleibt bereit, die Schuldner einseitig den Interessen der Gläubiger auszuliefern.Dabei ist es aus unserer Sicht gerade wegen der ständig steigenden Überschuldung und damit auch Verarmung von Menschen angezeigt, über neue Formen einer menschenwürdigen sozialen Absicherung und eines Schuldnerschutzes nachzudenken — auch das ist hier heute schon gesagt worden —, eines Schuldnerschutzes insbesondere gegenüber Banken und Kreditinstituten, die mit den Überschuldungen von Bürgern ihre Gewinne in ungeahnte Höhen treiben.In unserer Gruppe hat dazu eine intensive Diskussion über neue soziale Grundsicherungssysteme begonnen, die den Staat für eine von ihm zunächst geduldete Massenarbeitslosigkeit in die Pflicht nehmen und deshalb nicht nur die unmittelbare Existenz, sondern auch kulturelle und ähnliche Bedürfnisse absichern sollen. In Zahlen ausgedrückt, würde dies für Einzelpersonen in städtischen Ballungsgebieten die Garantie eines Mindesteinkommens von etwa 1 500 DM bedeuten. In diesem Rahmen müßten sich auch die Pfändungsfreigrenzen bewegen.Nach der Neufassung des § 850f Abs. 1 ZPO soll der Schuldner nun über die Pfändungsfreigrenzen hinaus besondere Bedürfnisse geltend machen können. Wir unterstützen diese Regelung. Diese Fassung läßt jedoch völlig offen, welche Bedürfnisse gemeint sind, so daß wiederum restriktive Interpretationen möglich sind.Wir begrüßen ausdrücklich, daß der Rechtsausschuß beschlossen hat, die Streichung des Art. 3 des Gesetzentwurfs, also die besondere Regelung für die ehemalige DDR, zu empfehlen.Gestatten Sie mir am heutigen Tage noch wenige persönliche Worte zum Tode meines Freundes und Genossen Gerhard Riege. In der Zeit vor 1989 kannten wir uns vor allem aus der wissenschaftlichen Literatur. Seit dem 18. März 1990, der Wahl der letzten Volkskammer, waren wir eng verbunden. Sicher unterschiedlich in Charakter und Erfahrung, kamen wir — beide Rechtswissenschaftler — einander immer näher, im Bestreben, die Vergangenheit zu begreifen und uns die Möglichkeit einer Zukunft zu bewahren. Die Unterordnung von Recht unter Politik ereilte uns erneut.Gerhard Riege hat dem Haß, den er immer wieder erfuhr — ich erinnere an die Bundestagssitzung vom
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Dr. Uwe-Jens Heuer13. März 1991 unter Leitung des Präsidenten Hans Klein —, keinen Widerstand mehr leisten können. Ihn und mich hat es auch getroffen, daß die Welle der nachträglichen moralischen Zerstörung der DDR selbst in den eigenen Reihen Wirkung gezeigt hat.Im Rechtsausschuß haben mir mehrere Kollegen ihr Mitgefühl versichert und ihren Wunsch nach mehr Fairneß, Nachdenklichkeit und Menschlichkeit bekundet.Ich weiß nicht, ob es gelingt, der sozialen Gewalt absatzhungriger Medien und rachedurstiger Sieger Einhalt zu gebieten. Ich bin da eher skeptisch. Ich wünsche mir, daß gerade von der politischen Kultur dieses Hauses eine Gegenwirkung ausgehen möge.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stehe nicht an, festzustellen, daß ich die Betroffenheit meines Kollegen Heuer voll teile. Gerade sie sollte uns aber ein Anlaß sein, unsere Gesetzgebungsarbeit in Verantwortungsbewußtsein und als Demokraten, die einander keine schlechten Gedanken und Absichten unterstellen, weiterzuführen.
Als ich hörte, wie Herr Eylmann anfing, zu reden, dachte ich: Wie gut, Punkt eins deiner Rede kann entfallen; denn der Kollege Eylmann hat auf die Dringlichkeit dieser Sache eingehend hingewiesen. Als er aber weitere Ausführungen machte, dachte ich, dem muß ich widersprechen; denn das klang so, Herr Eylmann, als wollten Sie den Gesetzgeber total entmutigen, hier irgend etwas zu tun. Zu dieser Ansicht kam ich, als Sie uns die großen Schwierigkeiten der Berechnung des Existenzminimums vorgeführt haben. Ich glaube, man muß berechnen, und man tut es auch. Darum sollten wir prozedieren und Ihrem ersten Appell der Dringlichkeit auf jeden Fall folgen.
Dies gilt vor allem für die Empfehlung des Rechtsausschusses, dem Argument der Regierung nicht zu folgen, die noch nicht geschehene Angleichung der Lebensverhältnisse zum Anlaß zu nehmen, die Anhebung der Pfändungsfreibeträge zu spalten. Ich glaube, das Argument der Regierung spricht für die einheitliche Regelung. Der Markt im Bereich Handel, Dienstleistungen und Mieten hat sich drastisch verändert und in den Ostländern teilweise völlig angeglichen, so daß die Schutzbedürftigkeit der Bevölkerung der ehemaligen DDR eher größer als kleiner geworden ist.
Der Mercedes-Fall, Herr Eylmann, ist ein sehr eindrucksvolles Beispiel. Trotzdem möchte ich auf einen ganz anderen Aspekt hinweisen. Wir wollen das Schuldenmachen nicht begünstigen, müssen uns aber doch bewußt sein, daß Schulden eben nicht nur Ergebnis individuellen Verhaltens sind, sondern ebensosehr eines sozialen Anpassungsdrucks. Sie haben die Studenten erwähnt; ich könnte die Eltern mit Schulkindern erwähnen, die nicht schlechter gekleidet sein wollen als alle anderen Klassenkameraden.
Leider ist der Kollege Kleinert entschwunden. Ich wollte mit einer Frage schließen. Ich weiß wirklich nicht, ob das, das wir hier tun, etwas rein Technisches ist. Es geht ja um das Existenzminimum. Das Existenzminimum ist auch so etwas wie das Minimum der Menschenwürde. Beim Minimum der Menschenwürde geht es um das Ganze der Menschenwürde.
Also geht es bei unserem Anpassungsgesetz auch darum, den Menschen — ich glaube, nicht nur denen in der früheren DDR — zu zeigen, daß die schmerzliche Frage, daß wir „Gerechtigkeit erwarteten und den Rechtsstaat bekamen", vielleicht auch durch solche technischen Regelungen beantwortet werden kann, so daß der Rechtsstaat doch ein Impuls und eine Kraft der Gerechtigkeit sein kann, sein muß — im Interesse des Existenzminimums und folglich des Minimums der Menschenwürde.
Danke.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf steht wie das gesamte Vollstreckungsrecht — darauf hat ja besonders der Kollege Kleinert hingewiesen — im Spannungsfeld zwischen Gläubigerinteressen und Schuldnerinteressen. Der Gläubiger hat das Recht auf die notfalls zwangsweise Realisierung seines titulierten Zahlungsanspruchs. Sein Recht findet aber seine Grenze am Sozialstaatsprinzip und am Recht des Schuldners auf ein menschenwürdiges Leben. Das Existenzminimum des Schuldners muß daher pfandfrei bleiben. Dies sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben, über die, glaube ich, weitgehend Einigkeit besteht.Der Streit beginnt dort, wo dieses Existenzminimum in konkrete Zahlen gefaßt werden muß. Wir haben — dies ist ja auch Gegenstand der Ausschußberatungen gewesen — eine Fülle von Gesetzen, die Regelungen zur Existenzsicherung enthalten. Ich denke dabei z. B. an das Bundessozialhilfegesetz, das mehrmals erwähnt worden ist, aber auch an die im Steuerrecht gewährten Freibeträge; in diesem Zusammenhang gibt es ja auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts.Das Kuriose und auf den ersten Blick nicht Einleuchtende ist, daß in den Regelungen das Existenzminimum nicht einheitlich bemessen wird und im übrigen — auch darauf ist ja aufmerksam gemacht worden — die Regeln des Bundessozialhilfegesetzes in den jeweiligen Kommunen unterschiedlich betrachtet werden, je nachdem, ob es eine Großgemeinde wie beispielsweise Hamburg oder eine Gebietskörperschaft auf dem Land ist.Dies führt bei den Pfändungsfreigrenzen dazu, daß sie von vielen betroffenen Bürgern mit den Leistungen der Sozialhilfe verglichen werden. Grundtenor der Meinungsäußerung ist dann: Die Beträge, die nach einer Lohnpfändung übrig sind, blieben weit hinter dem zurück, was nach dem Bundessozialhilfegesetz als unpfändbare Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt
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Parl. Staatssekretär Rainer Funkewird; Arbeiten lohnt sich nicht mehr; Arbeitslosigkeit und ein Leben mit der Sozialhilfe sind daher vorzuziehen, wenn nicht sogar anzustreben.Im politischen, vor allem im sozialpolitischen, Raum wird daraus gefolgert: Pfändungsfreibeträge müssen eigentlich die Sozialhilfesätze übersteigen, sich aber zumindest mit ihnen decken. Das war im Grunde genommen auch der Tenor des Beitrages von Herrn Professor Pick.Ich meine, der Vergleich zwischen Sozialhilfeleistungen und Pfändungsfreigrenzen krankt bereits an dem unterschiedlichen Ziel beider Gesetze. Sozialhilfeleistungen sind nur an den Grundrechten des Bedürftigen und dem Sozialstaatsprinzip zu messen. Lohnpfändung als Zwangsvollstreckung hat dagegen auch das Gläubigerrecht zu berücksichtigen, worauf der Kollege Kleinert — der gerade vom Kollegen Weng abgelenkt wird — schon aufmerksam gemacht hat.Bedenken Sie bitte auch, daß sich der Wert eines oft über mehrere Instanzen mit hohen Kosten erstrittenen Titels erst in der Zwangsvollstreckung zeigt. Der Staat verbietet es dem Bürger, sein Recht selber zwangsweise durchzusetzen. Als Ergänzung des bei dem Staat konzentrierten Gewaltmonopols trifft ihn dann aber auch die Pflicht einer effizienten Zwangsvollstreckung.Die neuen Pfändungsfreigrenzen werden im Regelfall ausreichen, um dem Schuldner und seinen unterhaltsberechtigten Angehörigen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Dort, wo es im Einzelfall nicht möglich sein wird, gibt es auch noch den geänderten § 850f Abs. 1 ZPO mit einer flexiblen Handhabung zur Schaffung individueller Gerechtigkeit. Hierauf ist bislang nicht aufmerksam gemacht worden.Lassen Sie mich zuletzt darauf hinweisen, Herr Professor Pick: Wir wollen bei der Insolvenzrechtsreform die Restschuldbefreiung einführen. Insoweit wird es besonders den überschuldeten Haushalten möglich sein, hier eine angemessene Regelung zu finden. Die Insolvenzrechtsreform wird ja demnächst in den Ausschüssen beraten.Wir halten dieses Gesetz für außergewöhnlich wichtig und sind dankbar für die schnelle Verabschiedung.Danke schön.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzesentwurf auf Drucksachen 12/1754 und 12/2074.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Lesung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzes zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Ich kann feststellen, daß der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist.
Der Rechtsausschuß empfiehlt unter dem Buchstaben b seiner Beschlußempfehlung, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/883 insoweit für erledigt zu erklären, als er die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzentwurf zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen vorzulegen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den Unterrichtungen durch die Bundesregierung
a) Zweiter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation
b) Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestvorschriften zur Verbesserung der Mobilität und der sicheren Beförderung von in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigten Arbeitnehmern auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte
— Drucksachen 11/4455, 12/399 Nr. 3.18, 12/1943 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. — Das Haus ist damit offensichtlich einverstanden. Dies ist so beschlossen.
Ich eröffne die Debatte und erteile dem Abgeordneten Schemken das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dem vorgelegten Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung in der Rehabilitation sollte für uns zunächst ein Anliegen sein, recht herzlichen Dank denen zu sagen, die sich der Verantwortung stellen, Verantwortung tragen und bei den Bemühungen um die Integration von Behinderten in der Gesellschaft ihren Dienst leisten.Der wesentliche Ansatz bei der Integration behinderter Menschen ist die Einbindung in das Berufsleben, aber auch in die vielfältigen Aktivitäten in Bildung, Kultur, Sport und Freizeit in unserer Gesellschaft. Wir alle sollten in unseren Bemühungen nicht nachlassen, behinderte Menschen an allen Lebensbereichen teilhaben zu lassen. Es ist zu begrüßen, daß noch in dieser Wahlperiode das Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht in das Sozialgesetzbuch IX als weiteres Buch in der Sozialgesetzgebung übersichtlich neu gefaßt wird.Ziel muß es dabei sein, daß sich behinderte Menschen noch besser in Beruf und Gesellschaft einbringen können und daß sie der Würde des Menschen
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Heinz Schemkenentsprechend gefordert werden, und zwar in Zusammenarbeit der Träger und in Abstimmung der einzelnen Leistungen im medizinischen, im beruflichen und im sozialen Bereich.Den Behinderten soll die Inanspruchnahme ihrer Rechte erleichtert werden. Dies gilt auch für die psychisch Kranken. Insbesondere bedarf es noch einer Fortentwicklung gerade auf diesem Felde der Behinderung durch die Schaffung weiterer Rehabilitationsmöglichkeiten. Auch mit der Lage der Behinderten in den Werkstätten werden wir uns in nächster Zeit befassen. Dies gilt sowohl für die Entlohnung als auch für die Rechtsstellung und Mitwirkung.In den neuen Bundesländern stehen wir vor einer besonderen Herausforderung, wenn es um die Situation der Behinderten geht, zum einen wegen der wirtschaftlichen Umstrukturierung, zum anderen wegen des Fehlens und der Unzulänglichkeit von Einrichtungen.Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung fordert deshalb, daß die Behinderten durch diesen Umgestaltungsprozeß in den kommenden Jahren keine Nachteile erleiden dürfen. Deshalb muß in allen Teilen Deutschlands auf die Herstellung gleichwertiger Eingliederungschancen hingewirkt werden. Es ist deshalb zu begrüßen, daß auf dem Gebiet des beruflichen Einstiegs und der beruflichen Eingliederung Behinderter in den neuen Bundesländern zügig Rehabilitationseinrichtungen geschaffen werden, die deren Qualität und vor allem Angebotsdichte den Einrichtungen der bisherigen Bundesländer entsprechen.Grundsätzlich wird in jedem neuen Bundesland ein Berufsförderungs- und Berufsbildungswerk aufgebaut. Hinzu kommen drei Spezialeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte sowie für Hör- und für Sprachgeschädigte. Dies sind sieben Berufsförderungswerke mit 2 500 Plätzen, acht Berufsbildungswerke mit 1 800 Plätzen und eine bedarfsgerechte Anzahl von Werkstätten für Behinderte mit rund 30 000 Ausbildungsplätzen und Arbeitsplätzen.Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung hat hierfür 175 Millionen DM in den Jahren 1990 und 1991 zur Verfügung gestellt. Hinzu kommen Mittel in Höhe von rund 77 Millionen DM von der Bundesanstalt für Arbeit. Die mittelfristige Finanzplanung des Bundesarbeitsministeriums sieht für Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation jährlich rund 150 Millionen DM Haushaltsmittel vor. Hinzu kommt aus dem Ausgleichsfonds eine Summe von 100 Millionen DM für die neuen Bundesländer. Die Bundesanstalt für Arbeit stellt weitere 200 Millionen DM Haushaltsmittel in 1992 zur Verfügung. Die Rentenversicherungsträger und die Berufsgenossenschaften legen über 170 Millionen DM hinzu.Dies ist sicher ein bemerkenswerter Kraftakt, auf den wir gemeinsam stolz sein dürfen, und auch ein wichtiger Beitrag zur Solidarität mit den Behinderten in den neuen Bundesländern.In diesem Zusammenhang fordern wir die Bundesregierung auf, im nächsten Bericht auf die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation in den neuen Bundesländern einzugehen.Dabei geht es vor allem um folgende Probleme: erstens Entwicklung und Einsatz von Rehabilitationsmöglichkeiten zur Vermeidung und Verminderung von Pflegebedürftigkeit im Alter; zweitens Hilfe beim Übergang aus der Ausbildung in das Berufsleben; drittens Verbesserung der Lage der Werkstätten für Behinderte; viertens Ausstattung der Hauptfürsorgestellen mit Personal — das ist eine ganz entscheidende Frage —, fünftens — aber nicht zuletzt — verstärkte Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst. Zu dem letzten Punkt muß ich anmerken, daß die Beschäftigungsquote der Behinderten im Jahre 1990 weiter zurückgegangen ist.
Dieser bedauernswerte Vorgang ist darauf zurückzuführen, daß die Zahl abhängig Beschäftigter gestiegen ist. Ich darf sagen: Umgekehrt wird daraus ein Schuh, Herr Urbaniak. Natürlich ist dies auch ein Parallelfall zur weiteren Arbeitslosigkeit. Aber prozentual ergibt sich der Effekt, daß wir mehr Menschen in Arbeit gebracht haben. In den letzten Jahren waren es immerhin rund 3 Millionen. Damit schwächt sich die Prozentzahl ab.Ich möchte deshalb von hier aus alle Verantwortlichen in der Wirtschaft, der Verwaltung und den Gebietskörperschaften auffordern, den Verpflichtungen der gesetzlichen Vorgabe von 6 % gerecht zu werden. Es ist ein bedauerlicher Vorgang, daß bei steigender Beschäftigung zumindest in den westlichen Bundesländern Behinderte nicht prozentual in gleichem Maß in Arbeit gebracht werden. Dies gilt im übrigen auch für die Bundesdienststellen, die z. B. durch die Einbeziehung der Deutschen Reichsbahn unter die Beschäftigungsquote von 6 % geraten sind.Die Lage der Behinderten spielt auch im Rahmen der europäischen Integration eine Rolle: So soll gemäß dem Ziel des Richtlinienvorschlages der EGKommission mobilitätsbehinderten Arbeitnehmern durch Anpassungsmaßnahmen im öffentlichen Verkehr und durch andere Maßnahmen der Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz erleichtert werden. Das gilt auch für behinderte Arbeitnehmer in der Bundesrepublik.Zu diesem Zweck sollen die EG-Mitgliedstaaten eine ausreichende Verfügbarkeit von Verkehrsmitteln, die für behinderte Arbeitnehmer zugänglich sind, gewährleisten; ich denke hierbei an behindertengerechte öffentliche Verkehrsmittel. Es werden weiterhin vom Arbeitgeber bereitgestellte Fahrdienste und „Sonderfahrdienste" von öffentlichen und privaten Einrichtungen genannt.
— Nun, es gibt Behinderte und Verhinderte; das wissen auch Sie.Auch in Europa brauchen wir Standards — das möchte ich abschließend sagen —, die den Behinderten über die Grenzen der Länder hinweg Chancen des Miteinander auf dem Arbeitsmarkt, in Gesellschaft,
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Heinz SchemkenBildung und Kultur eröffnen. Der gemeinsame Binnenmarkt ab 1993 wird in seiner sozialen Dimension sicher auch daran gemessen werden, wie wir mit den behinderten Menschen umgehen. Dies ist ein hoher Anspruch für den gemeinsamen Binnenmarkt. Ich glaube, darin sind wir uns einig.Ich bitte deshalb um Zustimmung zu der Beschlußempfehlung und zu dem Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den beiden Unterrichtungen durch die Bundesregierung und danke ausdrücklich allen, die daran mitgewirkt haben.Schönen Dank.
Nun hat die Abgeordnete Frau Rennebach das Wort.
Das Interesse des Plenums ist sehr groß. — Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Richtlinienentwurf der EG „Sichere Beförderung von in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigten Arbeitnehmern" regelt klar nur Mindestvorschriften für behinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit sie ihren Arbeitsplatz überhaupt erreichen können.Behindertengerechte Ausstattung von öffentlichen Verkehrsmitteln sowie ein einzurichtender Fahrdienst, von wem auch immer er bezahlt werden soll, sind die Mindestvoraussetzungen dafür, überhaupt den Willen deutlich zu machen, Behinderte nicht aus der Arbeitswelt auszugrenzen. Die Richtlinie bietet für alle Länder Europas einen guten Ansatz.Im Zusammenhang mit der Richtlinie sehen wir aber auch deutlich die Situation von behinderten Menschen im allgemeinen. Der aus dem Jahr 1989 stammende Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation ist eine Schilderung aus Zeiten der alten Bundesrepublik Deutschland. Er behandelt eine „Lage", die von uns Sozialdemokraten als, vorsichtig ausgedrückt, verbesserungswürdig angesehen werden kann.Er ist aber nicht nur wegen der drei Jahre, sondern in erster Linie wegen der Situation der behinderten Menschen in den neuen Ländern veraltet. In den alten Bundesländern stagniert die Zahl der behinderten Beschäftigten. Der Anstieg ist so minimal, daß wir ihn kaum merken. In den neuen Ländern sinkt sie katastrophal und proportional auch stärker als die Zahl der übrigen Beschäftigten.Nun gilt die Richtlinie zur verbesserten Beförderung von behinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der gesamten Republik. Das heißt, die Richtlinie muß schwerpunktmäßig in den neuen Ländern so schnell wie möglich verwirklicht werden, was gleichzeitig aber auch bedeutet, daß in Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Berlin und Brandenburg behindertengerechte Arbeitsplätze erhalten bzw. verstärkt neu geschaffen werden müssen. Sicher werden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß sowohl ein behindertengerechter Arbeitsmarkt als auch die Verwirklichung der Richtlinie stattfinden muß.Niemand darf — so stellt es sich für mich dar — in Zukunft bei der Planung und Verwirklichung neuer Verkehrskonzepte die Richtlinie vergessen. Selbstverständlich ist es immer dann leichter, sie zu berücksichtigen, wenn sowieso etwas neu geschaffen werden muß. Also, es macht Sinn: Wenn wir es den Behinderten schon ermöglichen, einen Arbeitsplatz sicher zu erreichen, dann müssen diese auch in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellt werden. Von daher kann man den EG-Richtlinienentwurf von der Arbeitsmarktsituation behinderter Menschen nicht trennen.Im Moment klingt das vielleicht in Ihren Ohren, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die heute mehrheitlich leider nicht anwesend sind, wie „Im Himmel ist Jahrmarkt" . Aber hier ist Handeln notwendig. Und Handeln setzt Absicht voraus, und zwar die Absicht, trotz aller Schwierigkeiten mit dem Arbeitsmarkt Ost die Instrumente zur Bewältigung der Probleme besonders auf die Menschen auszurichten, die in unserer sogenannten Sozialen Marktwirtschaft geringere oder gar keine Chancen haben.
Wenn ich zu Beginn gesagt habe, daß die Beschäftigtenzahl der Behinderten in der alten Bundesrepublik stagniere, klingt das erst einmal gar nicht so schlecht. Es bedeutet aber im Umkehrschluß, daß immer mehr behinderte Menschen arbeitslos sind. Die Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht durch die Arbeitgeber ist eine Ursache hierfür.Die Sonderprogramme der Bundesregierung zur Eingliederung von Schwerbehinderten haben nicht ausgereicht. Das Instrumentarium zur beruflichen Eingliederung der Schwerbehinderten ist nicht wirksam genug gestaltet. Nur die Ausgleichsabgabe im Einigungsvertrag nochmals zu erhöhen hat die Chancengleichheit Schwerbehinderter nicht verbessert. In diesem Sinne stimmen die Sozialdemokraten zwar dem vorliegenden EG-Richtlinienentwurf zu. Wir fordern aber gleichzeitig die Bundesregierung auf, für die in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur einen sicheren Weg zu verwirklichen, sondern ihnen auch ein Ziel, in diesem Falle qualifizierte Arbeitsplätze, zur Verfügung zu stellen.Zum Schluß zusammengefaßt ein paar Thesen, damit das Problem auch wirklich auf den Punkt gebracht wird. Erstens: schnelle Verwirklichung der Mindestvorschriften aus der EG-Richtlinie und perspektivisch natürlich darüber hinausgehend; wenn es geht, wirklich eher, als die Vorschriften es verordnen, und zwar besonders in den neuen Ländern.Zweitens: Schaffung von behindertengerechten Arbeitsplätzen; auch das schwerpunktmäßig in den neuen Ländern bzw. in allen strukturschwachen Bundesländern.Drittens: verbesserte Rehabilitation und Qualifizierung von behinderten Menschen und eine Verbesserung der Qualifizierung von Menschen, die behinderte Menschen qualifizieren müssen.
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Renate RennebachViertens: einen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte, der auch wirklich einen Schutz darstellt, was natürlich bedeutet, daß das Schwerbehindertengesetz noch einmal novelliert werden muß, und dann bitte schön diesmal als Fortschritt für die zu beschützenden Menschen und nicht als Fortschritt für die, die diese zu beschützenden Menschen gar nicht in ihren Betrieben haben wollen.Fünftens: endlich eine Politik betreiben, die dafür sorgt, daß Unternehmer nicht nur in Festreden das Soziale an unserer Marktwirtschaft preisen, während sie sich gleichzeitig durch Abgaben von sozialem Handeln freikaufen können. Vielmehr brauchen wir eine solche Politik, die die Verantwortung für eine soziale Gestaltung unserer Gesellschaft in dieser neuen, größer gewordenen Bundesrepublik Deutschland nicht ausschließlich der Solidargemeinschaft von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern überläßt.In diesem Sinne danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Nun erteile ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Verhülsdonk das Wort.
— Herr Abgeordneter Schreiner, ich habe Wortmeldungen von drei Parlamentarischen Staatssekretären vorliegen und muß das entsprechend aufteilen.
Frau Staatssekretärin, Sie haben nun das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Vertreterin des Bundesministeriums für Familie und Senioren, das für die soziale Rehabilitation und die Eingliederung behinderter Menschen in die Gesellschaft zuständig ist, will ich heute aus dem breiten Spektrum von Themen, die der Bericht anspricht, einen Aspekt herausgreifen, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat und die Weiterentwicklung der Behindertenpolitik immer stärker beeinflußt: das Ziel der selbständigen Lebensführung der behinderten Menschen unabhängig von Art und Schwere ihrer Behinderung, die Normalisierung ihrer Lebensverhältnisse sowie die volle Teilnahme am Leben in unserer Gesellschaft. Diese Forderung wird auch international immer stärker in den Vordergrund der Diskussion gerückt.Wir werden zum Abschluß dieser Debatte eine Entschließung verabschieden, die dieses Ziel besonders hervorhebt und damit implizit das Recht behinderter Menschen auf gesellschaftliche Teilhabe, und zwar in allen Lebensbereichen, betont. Ich bin sicher, daß in diesem Hause kein Dissens über dieses Ziel besteht, allenfalls über die Möglichkeit seiner Verwirklichung. Die bisherigen Einlassungen der großen Fraktionen haben das eigentlich schon bestätigt.Die Bundesregierung unterstützt vielfältige Bemühungen um soziale Integration und selbständige Lebensgestaltung. Wir haben darüber oft in den Ausschüssen berichtet. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür schafft der Grundsatz „Ambulant vor stationär", den wir bereits vor Jahren im Bundessozialhilfegesetz berücksichtigt haben. Mit dem Instrument der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege für viele behinderte Menschen und ihre Familien ist dieser Grundsatz zunehmend realisierbar geworden.Bei den jetzt anstehenden Planungen zum Sozialgesetzbuch IX, mit dem das Behindertenrecht vereinheitlicht und transparent gemacht werden soll, wird es entscheidend darauf ankommen, den Vorrang ambulanter Hilfe in allen Lebensbereichen noch deutlicher zu betonen. Damit soll die Notwendigkeit der stationären und teilstationären Einrichtungen keinesfalls in Frage gestellt werden.
Ich weiß — und sicherlich wissen das auch Sie —, daß auch in diesen Bereichen seit vielen Jahren Ideen entwickelt und realisiert werden, die Selbstbestimmung der Betroffenen und Mitsprache in ihren eigenen Angelegenheiten zum Ziel haben.Wir sind uns bewußt, daß bei allen Fortschritten, die wir im Hinblick auf die Rechte und Lebensbedingungen der behinderten Menschen zu verzeichnen haben, weiterhin viel zu tun bleibt. Durch die Vereinigung Deutschlands sind gerade auch in der Behindertenpolitik neue und äußerst schwierige Aufgaben auf Bund, Länder und Gemeinden zugekommen.
— Und auch neue Chancen, ganz sicher.Die Umstellung auf unser gegliedertes Sozialleistungssystem ist das eine Problem. Ein Problem sind aber auch die vorher grundlegend anderen Zielvorstellungen der Behindertenpolitik, mit denen wir es zu tun haben. Das hat Schwierigkeiten aufgeworfen, und es sind viele Mißstände, insbesondere in den neuen Ländern, deutlich geworden.
— Auch dort gibt es noch welche, aber mit Unterschieden, denke ich.Mit dem Soforthilfeprogramm der Bundesregierung konnte in diesen ersten zwei Jahren seit der Wiedervereinigung der dringlichste Alltagsbedarf der Behinderten- und Alteneinrichtungen gedeckt und beim Aufbau ambulanter Hilfestrukturen sicherlich eine spürbare Starthilfe geleistet werden. Mehr war nicht möglich.Nun wird es darauf ankommen, dem großen Nachholbedarf gerecht zu werden. Die Bundesregierung wird sich mit großem Engagement dieser Aufgabe zuwenden, insbesondere auch unser Haus. Dabei wollen wir aber das Ziel der vollen Teilhabe aller behinderten Menschen in Ost und West nicht vernachlässigen.
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Parl. Staatssekretärin Roswitha VerhülsdonkIch danke Ihnen.
Nunmehr spricht die Abgeordnete Frau Dr. Eva Pohl.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Debatte über und für die Belange der Behinderten in der Bundesrepublik Deutschland haben wir Gelegenheit, uns einerseits allgemein mit der Lage der Behinderten und der Entwicklung der Rehabilitation seit dem ersten Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre 1984 auseinanderzusetzen. Andererseits geht es speziell darum, mit dem Ihnen vorliegenden Richtlinienvorschlag der EG-Kommission die Mobilität und die sichere Beförderung von in ihrer Bewegungsfreiheit beeinträchtigten Arbeitnehmern auf dem Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu verbessern.
Der Zweite Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation zeigt: Die derzeitige Behindertenpolitik der Bundesregierung ist — im Entwicklungszeitraum 1985 bis 1989 — auf fruchtbaren Boden gefallen. Er erlaubt uns die Feststellung: Es geht aufwärts.
Danken müssen wir für diesen Erfolg im besonderen den verschiedenen Behindertenorganisationen und allen anderen Menschen, die sich speziell in der Vergangenheit für die Lösung der Probleme und die Linderung der Nöte unserer Behinderten aufopfernd eingesetzt haben.
Die Fortschritte bei den Bemühungen um die Vermeidung und Verminderung von Behinderungen und Schwerstbehinderungen bei unseren Mitbürgern verdanken wir nicht unerheblich der Tatsache, daß ein wesentlicher Schwerpunkt im Behindertenwesen auf Maßnahmen der Vorsorge und Früherkennung gelegt worden ist. Gezielte Vorsorge für alle Altersgruppen, z. B. für Säuglinge und Kleinkinder, und andere Maßnahmen sind für uns alle von großem Interesse; denn vorbeugen ist besser als heilen. Die Bundesregierung will — ich begrüße das außerordentlich — dieses bewährte Vorsorgesystem weiter vorantreiben und Vorsorgeuntersuchungen auf ihre Wirksamkeit überprüfen.
Gestatten Sie mir als Ärztin in diesem Zusammenhang einen kurzen Exkurs in die neuen Bundesländer, auch wenn der vorliegende zweite Bericht die Situation der Behinderten und der Rehabilitation in den neuen Bundesländern sozusagen aus historischen Gründen nicht berücksichtigt. Es geht um das Toxoplasmose-Screening bei Schwangeren, ein in der ehemaligen DDR angewandtes und bewährtes System zur Früherkennung von Erstinfektionen mit dem Erreger der Toxoplasmose, die, wenn keine Behandlung stattfindet, in ca. 50 % der Fälle auf das Kind übergeht. Die Folge: vorwiegend schwere zerebrale Schäden. Der Erhalt dieser Errungenschaft der medizinischen Vorsorge in den neuen Bundesländern
sowie deren Einführung in den Altbundesländern als Teil des Maßnahmenkatalogs der Mutterschaftsrichtlinien gerade im Zusammenhang mit der Früherkennung von geistigen Behinderungen erscheinen unbedingt erwägenswert.
Für den Bereich der durchgeführten Rehabilitationsmaßnahmen zeigt der zweite Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Rehabilitation im Grundsatz gute Ergebnisse auf, wobei er es nicht versäumt, auch Mißstände offen darzulegen. So muß dem Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege" mehr Geltung verliehen werden. Denn nur eine zielorientierte Rehabilitation ermöglicht die schnelle Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß. Letztendlich kann nur der Wiedereinstieg in den offenen Arbeitsmarkt dieses positive soziale Engagement nach außen hin signalisieren. Arbeit ist nicht nur Lebensunterhalt, sondern bedeutet ganz speziell für die Betroffenen auch gesellschaftliche Integration und Selbstbestätigung.
Die Beschäftigungssituation Schwerbehinderter aber — auch insofern ist dem Bericht zuzustimmen — läßt, gelinde gesagt, zu wünschen übrig. Hier muß etwas geschehen. Rund 70 % aller Arbeitgeber kommen ihrer Beschäftigungspflicht, ab 16 Arbeitnehmern wenigstens 6 % Schwerbehinderte zu beschäftigen, nicht oder nicht in vollem Umfang nach.
Frau Abgeordnete, entschuldigen Sie, wenn ich kurz unterbreche. Ich glaube, die Abgeordnete Frau Höll möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte gern, Herr Präsident, meinen Gedanken erst einmal zu Ende bringen.
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
In diesem Zusammenhang sollten wir im Hinblick auf die Entwicklung der Arbeitslosenquote bei Schwerbehinderten gemeinsam über eine Flexibilisierung der Ausgleichsabgabe — seit dem Einigungsvertrag 200 DM monatlich pro nicht besetztem Schwerbehindertenarbeitsplatz — nachdenken. Ich halte das für einen gangbaren Lösungsweg.Inhaltlich zuzustimmen ist dem Behindertenbericht der Bundesregierung auch insofern, als er die Situation der in Werkstätten für Behinderte beschäftigten Behinderten schildert. Hier werden Menschen für ein monatliches Entgelt von ca. 220 DM beschäftigt, die das Los der Behinderung ganz besonders schwer getroffen hat. Sie können auf Grund der Art oder der Schwere ihrer Behinderung nur unter großen Problemen Zugang zum offenen Arbeitsmarkt finden. Ihnen muß unsere besondere Hilfe und Aufmerksamkeit gelten.
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Dr. Eva PohlZum einen geht es darum, Konzepte zu entwickeln — hier sind weitere Bemühungen erforderlich —, die diese Behinderten besser motivieren und die ihnen den Übergang in das Arbeitsleben mit Nichtbehinderten erleichtern. Zum anderen weiß ich aus Anschreiben der Behindertenorganisationen von Sorgen, die die geringe Entlohnung dieser Menschen in den Werkstätten betrifft. Im Rahmen des finanziell Machbaren — letzteres möchte ich ausdrücklich betonen — sollte einmal darüber nachgedacht werden.Als einen weiteren positiven Schritt in Richtung der Verbesserung der Lebensbedingungen der Behinderten im Arbeitsleben sehe ich den Richtlinienvorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Ziel dieses Vorschlags ist, für den Bereich der Mitgliedstaaten durch ausreichende Zurverfügungstellung behindertengerechter Verkehrsmittel die Mobilität behinderter Arbeitnehmer auf ihrem Weg zu und von der Arbeitsstelle zu verbessern. Ich halte dies für eine der unabdingbaren Voraussetzungen unseres gemeinsamen Ziels, behinderte Menschen in das alltägliche Arbeitsleben umfassender zu integrieren.Die Bereitstellungsverpflichtung trifft gleicherweise die kommunalen Gebietskörperschaften, die Arbeitgeber wie auch weitere private und öffentliche Einrichtungen. Den Mitgliedstaaten ist es dabei anheimgestellt, unter diesen Möglichkeiten zu wählen. Ich begrüße die Alternativität des Richtlinienvorschlags.Als besonderen Vorteil sehe ich auch, daß nach der Zielsetzung des Vorschlags Personal in öffentlichen Verkehrsmitteln im Hinblick auf die Beförderung der Behinderten besonders geschult werden muß. Hier kommt den Behinderten auch individuelle Hilfe zuteil.
Insgesamt begrüße ich die Zielsetzung dieser Richtlinie und bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, deren zügige Umsetzung zu unterstützen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Abgeordnete, wenn Sie jetzt noch die Frage beantworten wollen? — Bitte sehr, Frau Höll.
Verehrte Kollegin, darf ich Ihre Äußerung so verstehen, daß Sie es unterstützen würden, die obligatorische kostenlose Toxoplasmose-Untersuchung auch in den neuen Bundesländern wieder einzuführen? Im Jahre 1989 wurde das im wesentlichen durch eine junge Kollegin — wenn ich das so sagen darf — der F.D.P. vorangetrieben, die selbst davon betroffen war. Es wurde dann noch in der DDR als obligatorische kostenlose Untersuchung eingeführt, inzwischen aber wieder abgeschafft.
Dazu kann ich Ihnen sagen, daß ich mich speziell für dieses Toxoplasmose-Screening — das lesen Sie bitte nach — eingesetzt habe. Ich habe deswegen auch an die Bundesregierung selbst geschrieben.
Diese Untersuchung war kostenlos; wir wissen ja, daß das DDR-systematisch war. In den neuen Bundesländern gibt es Kassen, die dies auf Wunsch übernehmen, und zwar ist das die Deutsche Angestelltenkrankenkasse und auch einige andere Krankenkassen. Es geht darum, daß alle Kassen einbezogen werden. Ich halte das für unwahrscheinlich wichtig, weil wir jetzt schon nachweislich sagen können — das kann ich wissenschaftlich belegen —, daß schon einige Kinder erkrankt sind.
Ich speziell setze mich dafür ein. Ich glaube, daß auch die Bundesregierung die Thematik noch einmal aufgreifen wird.
Nunmehr hat der Parlamentarische Staatssekretär Gröbl das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik für Behinderte — das ist Auftrag und Verpflichtung für uns alle, in gleicher Weise natürlich auch für die gesamte Bundesregierung. Deshalb ist es mehr als gerechtfertigt, daß sich drei Ressorts zu diesem Thema äußern.
— Vielleicht in Ihren Augen, Herr Kollege.Die selbstverständliche Teilnahme von Behinderten und anderen mobilitätseingeschränkten Personen an den Verkehrsangeboten des öffentlichen Personenverkehrs, aber auch der individualen Verkehrsmittel ist ein wichtiges Ziel unserer Verkehrspolitik. Dies kommt unter anderem in dem Bericht des Bundesverkehrsministers über Fortschritte bei der behindertengerechten Gestaltung des öffentlichen Verkehrs vom 21. Dezember 1989 zum Ausdruck.Gleichzeitig begrüßen wir, daß sich auch der EGVerkehrsministerrat mit diesem Thema befaßt und die Kommission zu einem Bericht im Herbst diesen Jahres aufgefordert hat.Bei all diesen Maßnahmen, die in Deutschland insgesamt einen Personenkreis von etwa 20 bis 30 % der Bevölkerung umfassen, gehen wir vom Prinzip der geschlossenen Transportketten aus, die in der Wohnung und im Wohnumfeld beginnen. Ordnungspolitisch haben wir durch Behindertenklauseln in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung, in der Verordnung über den Bau und Betrieb von Straßenbahnen und im GVFG dafür gesorgt, daß die Rechte der Behinderten schon beim Bau von Verkehrsanlagen berücksichtigt werden. Die Straßenverkehrsordnung enthält eine Reihe von Park- und Haltesonderrechten für Behinderte. Die jüngste Regelung stammt von 1991 und betrifft das Parken in verkehrsberuhigten Bereichen.Bundesbahn und Reichsbahn sind von uns beauftragt, ein Gesamtkonzept für Maßnahmen zugunsten
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Pari. Staatssekretär Wolfgang Gröblvon Behinderten vorzulegen. Die Bundesbahn hat in den vergangenen Jahren für alle IC-, EC- und ICE-Züge behindertengerecht ausgestattete Wagen zur Verfügung gestellt. Aber auch im Interregio-Bereich ist eine Verbesserung des Wagenangebots für Behinderte erreicht worden.Schwachpunkte sind dennoch die Zugänge zu den meisten Bahnsteigen und der Einstieg in die Züge. 1992 stattet deshalb die Deutsche Bundesbahn rund 200 Bahnhöfe mit Hubliften und Rampen aus. Viele S-Bahnhöfe konnten in der Vergangenheit durch Finanzhilfen nach dem GVFG behindertenfreundlich nachgerüstet werden. Wir prüfen derzeit, ob bei neuen S-Bahn-Zügen eine Wagenfußbodenhöhe von 1 000 mm über Schienenoberkante verwirklicht werden kann. Das entspricht dann der Höhe der Bahnsteige.Durch den Beschluß des Bundesrates vom letzten Freitag — entgegen Ihrem Willen, meine Damen und Herren von der Opposition — können wir im GVFG Länder und Gemeinden über das bisherige Maß hinaus in die Lage versetzen, die Belange mobilitätseingeschränkter Fahrgäste zu berücksichtigen; denn die Berücksichtigung behinderter, alter Menschen und anderer mobilitätseingeschränkter Personen ist jetzt eine Voraussetzung für die Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Dagegen haben Sie sich ausgesprochen. Wir erwarten von dieser Möglichkeit, vor allem von der technologischen Neuerung der Niederflurtechnik, entscheidende Verbesserungen.Im Rahmen des Forschungsprogramms Stadtverkehr hat mein Haus eine Reihe von Forschungsprojekten zugunsten eines behindertengerechten Verkehrs initiiert und finanziert. Dies zeigt sehr deutlich, daß wir noch viel vor uns haben, um unser Ziel, nämlich die selbständige Nutzung der Verkehrsmittel durch Behinderte, zu erreichen.Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich, daß sich so viele Ministerien verantwortlich fühlen. Ich hoffe, daß sich das dann auch in der praktischen Politik auswirkt.Menschen mit Behinderungen haben nun einmal erhebliche Nachteile im Leben. Eine wichtige Aufgabe in der Politik besteht darin, diese Nachteile auszugleichen. Ich denke, Behindertenberichte sollten analytisch aufzeigen, wo die Nachteile liegen und wie sie ausgeglichen werden können.In diesem Zusammenhang erlaube ich mir gleich die Bemerkung an die Kollegin Rennebach, daß es natürlich auch darum geht, die Beratung von Behinderten durch Behinderte zu ermöglichen und zu verbessern. Es ist nicht nur entscheidend, diejenigen zu qualifizieren, die etwas für uns tun, sondern selber etwas zu tun ist das Entscheidende.Ich möchte nun auf einige Aspekte des Berichts genauer eingehen, d. h. darauf, worin die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs bestehen. Da sehe ich zunächst die Frage des Arbeiten-Könnens. Arbeit ist nicht nur — wenn natürlich auch — Mittel zum Broterwerb, Arbeit ist viel mehr. Der Kollege Schulz hat vorhin in der Aktuellen Stunde ausdrücklich darauf hingewiesen. Eine praktische Maßnahme besteht meines Erachtens darin, die Ausgleichsabgabe drastisch zu erhöhen. Ich bin der Ansicht, sie muß mindestens auf die Höhe eines durchschnittlichen Tariflohns gebracht werden und darf steuerlich nicht mehr absetzbar sein. Denn dann wird jeder Arbeitgeber lieber einen Menschen mit Behinderung einstellen, der vielleicht nur 30 % der Leistung bringt und entsprechend bezahlt wird, als 100 % Strafe zu zahlen.Arbeit muß aber auch den Angehörigen von Menschen mit Behinderungen ermöglicht oder erhalten werden. Das sind nämlich die Menschen, die gegenwärtig 95 % aller Pflegeleistungen erbringen. Es sind diejenigen, die „bestraft" werden; denn sie haben weder eigene Rentenansprüche noch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn die Pflege eines Tages nicht mehr erforderlich ist. Ich denke, hier gibt es einen dringenden Handlungsbedarf.Hier komme ich zu dem Erfordernis eines steuerfinanzierten Pflegeleistungsgesetzes. Ich nenne es Pflegeassistenzgesetz. Lassen Sie doch den Etikettenschwindel mit den verschiedenen Versicherungsvarianten. Jeder weiß, daß das nur dazu beiträgt, daß zwar alle Menschen einzahlen müssen, daß aber am Ende die Pflegebedürftigen doch auf Sozialhilfe angewiesen sind — zwar ein bißchen weniger als zuvor, aber immerhin. Entwürdigung bleibt Entwürdigung, egal ob sie 30 % oder 50 % beträgt.Ich möchte aus Zeitgründen nur noch wenige Aspekte kurz erwähnen. Es ist unbedingt erforderlich, daß Menschen mit Behinderungen menschenwürdig wohnen können. Hier gibt es ein gutes Beispiel, das durchaus auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland anwendbar wäre. Nutzen wir doch die Erfahrungen der DDR. Bezeichnen wir doch beispielsweise 10 bis 12 % des Familienbruttoeinkommens als Maximalgrenze dessen, was für die Miete aufgewendet werden muß — in der DDR waren es übrigens 5 bis 7 % —, wenn ein Familienmitglied behindert ist.Ein anderer Aspekt ist, daß das Tempo der Integration im Bildungswesen viel zu gering ist. Ich bin nicht für übereilte Gleichmacherei, aber ich bin dafür, daß ein breites Spektrum unterschiedlicher Bildungsmaßnahmen integrativen Charakters angeboten wird mit der Tendenz zu immer weiterer Integration.Über Mobilität wurde schon viel gesagt. Ich denke, neben der Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs muß genauso das Angebot spezieller Fahrdienste gewährleistet werden. Der Kauf und die Unterhaltung eigener Kraftfahrzeuge müssen gefördert werden.All das und weitere Aspekte sind gewaltige Aufgaben. Um sie zu lösen, bedarf es energischer Schritte. Innerhalb der Behindertenbewegung wird deshalb der Ruf nach einem Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz ähnlich dem der USA immer
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Dr. Ilja Seifertlauter. Dieses Gesetz muß Verfassungsrang haben; ansonsten würde es nicht genügend bringen.Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, greifen Sie gleich der PDS diese Anregungen der Betroffenen auf. Falls Sie mir noch nicht glauben sollten, wie wichtig uns das ist, sehen Sie einmal am 5. Mai, am Europatag, auf die Straßen in Ihren Städten. Dort werden wir humpeln, rollen oder auch geführt werden, und Sie werden es hören. Wir brauchen ein Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz. Auch wir sind das Volk.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Hans-Eberhard Urbaniak.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Vertreter eines Ministeriums sagt, es sei ein Ereignis, daß sich drei Ministerien um eine wichtige Sache kümmern, dann ist das geradezu abenteuerlich; denn die gesamte Bundesregierung ist doch wohl verpflichtet, gerade auf dem Felde der Behindertenpolitik alles zu tun, was nur denkbar ist.
Wir unterstützen die Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft, die hier zur Abstimmung steht; sie fordert allerdings lediglich, einen Standard herbeizuführen, den wir in vielen Bereichen schon haben und den wir gemeinsam natürlich ganz entscheidend verbessern werden. Wir wollen die Lebenssituation der behinderten Menschen im täglichen Ablauf ihres Bemühens, mit den Problemen, die sie nun einmal haben, fertig zu werden, verbessern. Zudem garantiert uns die Richtlinie vor allen Dingen, daß wir unseren erreichten Standard — ich benutze diesen technischen Begriff der Europäer — nicht abzusenken brauchen. Also: Europa kann hier nachholen. Wir aber müssen weiter voran. Darum kann man diesem Vorschlag selbstverständlich die Zustimmung erteilen.
Im Bericht, den uns die Bundesregierung vorlegt, ist der Grundsatz der Finalität geäußert. Ich kann mich noch erinnern, wie wir darum gekämpft haben, diesen Begriff durchzusetzen und diesen Punkt besonders hervorzuheben; denn es gab in früheren Zeiten andere Grundlagen zur Feststellung der BehindertenEigenschaft. Diese Entwicklung ist eines der größten Verdienste von Walter Arendt, der sich um diese Dinge damals besonders bemüht hat. Dies wollte ich selbstverständlich besonders herausheben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Problematik der behinderten Menschen, ob jung, ob alt, ob im Bereich der Kindergärten, der Erziehung in den Schulen oder in anderen Lebensbereichen, ist uns hinreichend bekannt. Es ist zunächst einmal erfreulich, daß sich ein stärkeres Bewußtsein für die Behinderten entwickelt hat. Dies ist gut für unsere Gesellschaft, in der ja oftmals der private Vorteil im Vordergrund steht. An dieser Entwicklung muß weiter ganz entscheidend gearbeitet werden. Wir müssen vorankommen bei der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder, vor allen Dingen in den Kindergärten, weil dabei das Verständnis für die Situation der Behinderten schon im Kindesalter so geschaffen wird, daß es sich mit den Jahren zu einem positiven Selbstverständnis entwickelt. Darauf muß auf jeden Fall geachtet werden.
Nun kennen wir die Beschäftigungssituation der Behinderten, und wir kennen die Beschäftigungsquote im öffentlichen Dienst: 6 %, Stand 31. Dezember 1989. Diese Quote entspricht dem Gesetz. In der Privatwirtschaft sind es lediglich 4,3 %. Nur 73 % aller Arbeitgeber kommen ihrer Beschäftigungspflicht nach. Es sind immerhin mehr als 320 000 Pflichtplätze nicht besetzt. Dies ist nicht in Ordnung. Da muß man den Arbeitgebern sagen, daß auch sie alles zu tun haben, um diese Menschen in Beschäftigung zu bringen. Das ist ein ganz wichtiger Vorgang!
Nun gibt dieser Bericht aber auch ganz klar Auskunft darüber, wie die Beschäftigungssituation in den Landesverwaltungen aussieht. Auf der Skala steht das Land Baden-Württemberg mit 3,61 % ganz unten. Es steht ganz unten!
— Kollege Schreiner, das Saarland hat mit 6,39 % die höchste Quote.
Es wäre gut, wenn alle Landesverwaltungen auf diesem Stand wären.
Da die Strukturen in Baden-Württemberg wegen der Vielfältigkeit des Landes doch weit gefächert sind, dürfte es doch keine Schwierigkeit sein, sich stärker um die Beschäftigung von Behinderten im Arbeitsleben zu bemühen.
Der Vertreter des Verkehrsministers hat hier dargestellt, was auf dem Gebiet der entlastenden Maßnahmen bei der Deutschen Bundesbahn alles gemacht wird.
— Sie möchten eine Frage stellen? — Sie sind schon ganz aufgeregt.
Bitte, Herr Kollege Laumann.
Herr Kollege Urbaniak, ich bin nicht aufgeregt. Aber da Sie die Beschäftigungsquoten in den Ländern nennen, möchte ich Sie einmal fragen, ob Ihnen denn die Quote der in den Ministerien und Behörden des Landes Nordrhein-Westfalen beschäftigten Behinderten bekannt ist. Wenn Sie sie kennen, möchte ich Sie bitten, dem Hohen Hause diese Zahl nicht vorzuenthalten.
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Aber selbstverständlich! Wir haben im Durchschnitt eine Beschäftigungsquote von 4,7 %. In Nordrhein-Westfalen beträgt sie 5,5 %. Ich kann Ihnen also sagen: Dieses Land liegt weit über dem Durchschnitt.
Ich bin sehr froh darüber, daß wir gerade auch durch das Einwirken der Bundesregierung — das sage ich ganz offen — auf die Verkehrsträger, sei es die Bundesbahn, sei es der ÖPNV und was wir sonst noch alles kennen, Gott sei Dank zu erheblichen Verbesserungen für unsere Behinderten kommen. Da wird glücklicherweise alles getan, vor allen Dingen bei Neubaumaßnahmen,
Im alten Strukturbestand hingegen ist natürlich ein hoher Nachholbedarf vorhanden. Es müssen Ansatzpunkte gefunden werden, um auch hiermit fertigzuwerden; das ist ja wohl ganz selbstverständlich. Ich wünschte mir sehr, daß man in bezug auf technische Hilfen zur Eingliederung von Behinderten und den Einsatz neuer Technologien wirklich gründliche Überlegungen darüber anstellt, wie wir z. B. bei der Rehabilitation von Hörgeschädigten, z. B. durch Kommunikationshilfen, oder von Körperbehinderten vorankommen können. Die Technik bietet ganz wichtige Ansatzpunkte, um diesen Menschen ihr Lebenslos wesentlich zu erleichtern.
Der Bericht der Bundesregierung ist eine hochinteressante Arbeitsgrundlage für die Parlamentarier und für Menschen, die sich besonders dabei engagieren, Behinderten zu helfen, die Rehabilitation als Ganzheit betrachten und in den Mittelpunkt der Behindertenpolitik stellen. Dazu braucht man natürlich auch eine entsprechende Finanzierung. Wir haben ja immer wieder vorgeschlagen, die Nichterfüllung der Pflichtquote mit einer höheren Abgabe zu belegen. Aber Sie haben das abgelehnt. Das ist nicht in Ordnung; dies will ich hier noch einmal besonders herausstellen.
Meine Damen und Herren, der Bericht, der uns heute vorliegt, wird in den kommenden Monaten und Jahren dieser Legislaturperiode noch Initiativen auslösen müssen. Die Regierungsfraktionen haben sich in der Koalitionsvereinbarung ja wohl nur darauf verständigt, daß eine Zusammenfassung des Behindertenrechts vorgenommen wird. Das ist weitaus zuwenig. Wir meinen, daß weitere Aktivitäten notwendig sind, die vor allen Dingen dazu beitragen, daß wir in bezug auf die Pflichtplatzfrage zu günstigeren Zahlen kommen, als wir sie bisher haben,
Besondere Aktivitäten der Bundesregierung auf dem Felde der Behindertenpolitik sind in dem Bericht nicht zu erkennen. Das ist uns selbstverständlich zuwenig. Wir werden unsere alten Forderungen — meine Kollegin hat ja eine ganze Reihe davon schon vorgetragen — wieder in die politische Debatte bringen. Also raten wir der Bundesregierung, nicht nur Statistik und Zusammenfassung von einzelnen Gesetzen zu machen, sondern eine aktive Behindertenpolitik, damit das Los der Behinderten in unserer Gesellschaft ganz entscheidend verbessert werden kann.
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Horst Seehofer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Urbaniak, ich denke, Sie haben meinen Kollegen Wolfgang Gröbl bewußt mißverstanden, Er hat nämlich die Gesamtverantwortung der Bundesregierung dadurch unterstrichen — das hat er auch so gesagt —, daß sich drei Parlamentarische Staatssekretäre heute mit diesem Bericht beschäftigen und darüber hinaus auch noch der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten anwesend ist.
Meine Damen und Herren, ich freue mich zunächst einmal darüber — das sollte man gerade nach der letzten Rede nicht ganz vergessen —, daß wir zum Bericht über die Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation einen parteiübergreifenden Konsens haben, der auch in der einstimmigen Ausschußempfehlung zum Ausdruck kommt. Ich denke, das ist ein Signal, das ist eine Ermutigung für die Behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen in allen Teilen Deutschlands. Es ist deshalb ein gutes Signal, weil keine der im Ausschuß vertretenen Parteien versucht war, Parteipolitik auf dem Rücken der Behinderten zu betreiben,
Das kann man nicht hoch genug veranschlagen.
Die Beschlußempfehlung selbst ist nach meiner Auffassung Mahnung und Ansporn zugleich, Mahnung insbesondere bei dem von allen Rednern behandelten Thema „Beschäftigung der Schwerbehinderten" . Ich unterstreiche voll, was der Kollege Heinz Schemken dazu gesagt hat.
Nur zweierlei möchte ich dazu ergänzen. Wir alle miteinander sollten nicht immer diejenigen feiern, die ihre Beschäftigungsquote von 6 % erreicht haben. Diese 6 % sind eine Mindestquote,
und sie sollte eigentlich überschritten werden.
Man sollte sich vielleicht ein gutes Beispiel an unserem Ministerium nehmen. Das Bundesarbeitsministerium erfüllt nicht nur die Quote. Wir beschäftigen
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Parl. Staatssekretär Horst Seehofer
einschließlich der Dienststellen 11 % Schwerbehinderte.
Ich finde, das kann für die Wirtschaft, für andere Ministerien, auch für die Länderministerien, für die Länderverwaltungen ein gutes Beispiel sein.
Herr Kollege Seehofer, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ottmar Schreiner gestatten?
Der hat ja heute einen neuen Namen bekommen, Frau Präsidentin.
Ich habe es noch nicht mitbekommen. Würden Sie mich aufklären?
„Furioso" wurde er heute genannt.
Das ist eine zutreffende Bezeichnung für den Kollegen. Gestatten Sie nun die Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Das war aber nur die halbe Wahrheit, verehrter Herr Staatssekretär.
Ja, ich habe Sie als Doktor Furioso verstanden.
Na gut, lassen wir es beiseite. Es war eine doppelte lateinische Namensgebung, wie ich die Kollegen von der F.D.P. verstanden habe.
Meine Frage ist: Sie haben soeben zu Recht darauf hingewiesen, daß sich das gegenwärtige Arbeitsministerium noch in der Tradition des von der SPD geführten Arbeitsministeriums befindet und die Behindertenquote deutlich über 6 % liegt. Können Sie dem Hohen Haus mitteilen, welche Bundesministerien die vom Gesetzgeber geforderte Beschäftigungspflichtquote von 6 % nicht erfüllen?
Im Durchschnitt haben alle Bundesministerien eine Beschäftigungsquote von 5,9 %. Wenn ich die Durchschnittsbetrachtung von Herrn Urbaniak anstelle, dann liegen die Bundesministerien im Durchschnitt über dem Wert von Nordrhein-Westfalen.
— Ja, so ist die Realität.
Frau Dr. Pohl, ich habe eines mit Interesse gehört: daß aus Ihrer Sicht die Differenzierung der Ausgleichsabgabe ein Mittel wäre, zu mehr Beschäftigung zu kommen. Nun weiß ich aus der Verhandlung über den Einigungsvertrag, wie schwer es war, mit der F.D.P. die Ausgleichsabgabe von 150 DM auf 200 DM zu erhöhen. Deshalb bin ich sehr gespannt darauf, ob wir bei der anstehenden Gesetzgebungsarbeit zu Buch IX des Sozialgesetzbuches Ihre Gedanken aufgreifen dürfen. Denn Differenzierung kann ja nur Erhöhung bedeuten. Sonst hätten wir im Ergebnis nichts erreicht. Ich werde gerne darauf zurückkommen. Nur, mir fehlt etwas der Glaube, ob wir das auch in die Realität umsetzen können.
Noch eine Zwischenfrage. Sie gestatten auch die?
Ja, Frau Präsidentin.
Kollege Urbaniak, bitte.
Herr Kollege Seehofer, ich habe ja die Extremzahlen genannt: Baden-Württemberg, Saarland. Ich habe auch den Durchschnitt genannt. Ich frage Sie jetzt: Wo liegt denn Baden-Württemberg mit seiner Zahl? Haben Sie dort eine durchschnittliche Zahl, oder sind Sie das Land mit der geringsten Beschäftigungsquote von Schwerbehinderten?
Wissen Sie, ich halte überhaupt nichts von Durchschnittsbetrachtungen.
Da gibt es in Bayern eine schöne Begebenheit, die ich, Frau Präsidentin, gerne erzählen möchte. Wenn zwei ins Hofbräuhaus gehen und der eine vier Maß Bier trinkt, während der andere zwei Hähnchen ißt, hat im statistischen Durchschnitt jeder zwei Maß Bier getrunken und ein Hähnchen gegessen. Tatsächlich hat der eine einen Mordsrausch und der andere einen Riesendurst.
Kollege Seehofer, ich glaube, der Kollege Urbaniak ist mit dieser bayerischen Geschichte noch nicht ganz zufrieden.
Ich sehe das seiner Mimik an. Ich lehne eine Durchschnittsbetrachtung generell ab. Deshalb lehne ich auch die Beantwortung der Frage nach einer Durchschnittsbetrachtung ab. So einfach ist das.
Ich möchte noch zwei Gedanken ansprechen: Der Bericht, den wir jetzt behandeln, stammt bekanntlich aus dem Jahre 1989; mittlerweile haben wir aber eine
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Parl. Staatssekretär Horst Seehoferganz andere Welt, was Sie, Frau Rennebach, angesprochen haben. Deshalb möchte ich darstellen, was seit der Sozialunion und der deutschen Einheit in den fünf neuen Bundesländern alles als aktive Politik für die Behinderten getan wurde, insbesondere, Herr Urbaniak, bezüglich der beruflichen Eingliederung Behinderter:
Unsere politische Zielsetzung, daß wir nämlich in jedem neuen Bundesland je ein Berufsförderungsund Berufsbildungswerk aufbauen wollen, ist weitgehend realisiert. Hinzu kommen drei Spezialeinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte sowie für Hörund Sprachgeschädigte.Mittlerweile ist es immerhin gelungen, sieben Berufsförderungswerke mit rund 2 500 Plätzen und entsprechenden Internatsplätzen aufzubauen. Acht Berufsbildungswerke mit rund 1 800 Plätzen und entsprechenden Internatsplätzen, eine bedarfsgerechte Anzahl von Werkstätten für Behinderte mit rund 30 000 Plätzen sowie angeschlossenen Wohnstätten für Behinderte haben ihren Betrieb auf genommen. Ich räume ein: Natürlich ist noch nicht alles perfekt ausgebaut. Aber in allen von mir genannten Einrichtungen wird schon gearbeitet.Wir sollten nicht ganz vergessen, daß neben Umschulung und Ausbildung von Behinderten in modernen, arbeitsmarktorientierten Berufen pro Einrichtung außerdem etwa 100 bis 150 Dauerarbeitsplätze für kochqualifiziertes Lehr- und Betreuungspersonal geschaffen werden.Neben diesen beruflichen Eingliederungsmaßnahmen haben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen eingeleitet, damit Behinderte in den neuen Bundesländern endlich das erhalten, was ihnen vier Jahrzehnte vorenthalten wurde, nämlich soziale Sicherheit und umfassende Hilfen zur Eingliederung.So werden beispielsweise seit 1. Juli 1990 von der Arbeitsverwaltung volle Leistungen zur beruflichen Rehabilitation gewährt. Seit 3. Oktober 1990 ist das Schwerbehindertengesetz auch in den neuen Bundesländern wirksam. Ich füge gleich hinzu: Hier werden wir noch große Anstrengungen leisten müssen, damit die Rechtsansprüche, die im Gesetz stehen, in der Praxis in absehbarer Zeit auch umgesetzt werden, insbesondere was die Ausstellung der Schwerbehindertenausweise betrifft.Die Behinderten haben jetzt in den neuen Bundesländern besonderen Kündigungsschutz und können Steuervergünstigungen in Anspruch nehmen. Schwerstbehinderte haben nun auch in den neuen Bundesländern das Recht auf eine unentgeltliche Beförderung in öffentlichen Verkehrsmitteln im Nahverkehr.
Des weiteren ist eine zusätzliche Vereinbarung mit der Deutschen Reichsbahn getroffen worden, wodurch den Schwerstbehinderten außerdem 50 % Fahrpreisermäßigung für jeweils zwei Einzelfahrkarten im Fernverkehr gewährt werden.Dies alles ist schon im Bereich aktiver Politik für die Behinderten in den neuen Bundesländern geschehen, Herr Kollege Urbaniak.Ich möchte eine große zweite Aufgabe ansprechen, die vor uns steht.
— Weil ich nur noch zwei Minuten habe, möchte ich jetzt meinen Gedanken zu Ende führen.
— Ich war mit Zwischenfragen wirklich großzügig.Ich möchte meinen zweiten Gedanken ausführen: Vor uns steht noch eine ganz gewaltige Aufgabe für Deutschland insgesamt, nämlich die Kodifizierung des Rehabilitationsrechts. Herr Kollege Urbaniak, hier geht es sicher darum, mehr Transparenz zu schaffen. Aber es geht auch darum, den Behinderten die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verstärkt zu ermöglichen. Wir wollen behinderten und alten Menschen eine möglichst unabhängige, weitgehend selbständige Lebensführung ermöglichen. Auch aus diesem Grunde brauchen wir die Kodifizierung des Rehabilitationsrechts und des Schwerbehindertenrechts noch in dieser Legislaturperiode. Das ist auch Absicht der Koalition.Die entsprechende Koalitionsarbeitsgruppe ist gebildet. Sie wird ihre Arbeit aufnehmen. Dabei geht es neben der Aufgabe der gesellschaftlichen Eingliederung insbesondere darum, das Leistungsrecht transparenter und übersichtlicher zu machen, den Zugang zu den bestehenden Leistungen zu erleichtern und zu gewährleisten, daß alle Betroffenen die ihnen zustehenden Hilfen auch erhalten. Dies ist insbesondere im Moment — ich sagte das — ein großes Problem bei der Ausstellung der Schwerbehindertenausweise in den fünf neuen Bundesländern, wo die Zahl der eingehenden Anträge im Moment täglich höher ist als die der neu ausgestellten Schwerbehindertenausweise.Herr Kollege Urbaniak, wir werden bei dieser Kodifizierung an den drei Grundpfeilern des Schwerbehindertenrechts und des Rehabilitationsrechts festhalten, nämlich erstens: Rehabilitation vor Rente, zweitens: Teilnahme am gesellschaftlichen Leben statt Isolierung und drittens der Grundsatz der Finalität. Ich denke, gerade dieser Grundsatz war der größte Fortschritt im Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht.
Aber es wird auch zu prüfen sein — deshalb ist das eine große Aufgabe —, wie wir die Eingliederung psychisch Behinderter künftig gestalten können und wie wir die Rechtsstellung Behinderter in den Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation stärken können.Meine Damen und Herren, insgesamt sollten wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen, alles zu tun, daß die behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Gesellschaft voll integriert werden. Ich denke, dies ist ein gemeinsamer Auftrag. Dazu sind wir alle miteinander eingeladen. Ich würde mir wün-
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Parl. Staatssekretär Horst Seehoferschen, daß es bei den weiteren Bemühungen zum gleichen Konsens kommt wie bei der Beurteilung des heute vorliegenden Behindertenberichts; denn immerhin ist die Behandlung der behinderten Mitmenschen ein Spiegelbild für die Humanität unserer Gesellschaft.Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf der Drucksache 12/1943? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland
Drucksache 12/1773 —Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Frau Kollegin Professor Roswitha Wisniewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland — so die Bezeichnung — ist mit Sicherheit eine wichtige Arbeitsgrundlage für die Bemühungen in diesem Bereich. Er zeigt, wie weit verzweigt die Aktivitäten sind und wie zahlreich die Einrichtungen und Verbände sind, die dafür sorgen, daß eine möglichst breite Wirkung in allen Teilen und — das entspricht demokratischem Selbstverständnis — gemäß den vielfältigen Ausformungen pluralistischer Meinungsbildung entsteht. Allen, die daran beteiligt sind, sei daher zunächst ein Wort des Dankes für ihren Einsatz gesagt.Als am 8. Mai 1989, also an einem historisch bedeutsamen Tag, der Innenausschuß und der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft gemeinsam eine vielbeachtete Anhörung durchführten, stellte sich als Hauptergebnis heraus — das wurde von allen Sprechern, gleich welcher politischen Überzeugung, betont und beklagt —, daß in breiten Kreisen der Bevölkerung ein Defizit an politischem Grundwissen vorhanden ist. In den Schulen, so hieß es damals, wird zu wenig Zeit auf die Vermittlung elementaren Wissens über die rechtlichen und verfahrensmäßigen Grundlagen unserer freiheitlichen Demokratie verwendet. Dieses schulische Defizit kann später, so hieß es, durch freiwillige Teilnahme an den Weiterbildungsangeboten der Volkshochschulen und anderer Bildungsstätten nur schwer und nur zu einem geringen Teil abgebaut werden. Politische Grundsatzfragen können dort fast nur über den Umweg aktueller und punktueller Fragestellungen behandelt werden.Bestürzt nahm man in j ener Anhörung zur Kenntnis, daß sich — das hatte das Allensbacher Institut ermittelt — nur 17 % der unter 30jährigen Bundesbürger als „überzeugte Demokraten" bezeichneten. Inzwischen wird man davon ausgehen können, daß dieser erschreckend geringe Prozentsatz durch den Zusammenbruch des totalitären Sozialismus in den ehemaligen Ostblockstaaten gestiegen ist. Zu deutlich war die Wertung bzw. die Abwertung im Wettkampf der politischen Systeme durch die Geschichte. Aber die Zahl mahnt auch heute noch, daß Politik darauf bedacht sein muß, die Grundlagen freiheitlicher Demokratie überall und immer bewußt zu halten; denn ohne die Verankerung dieses Bewußtseins in der Mehrheit der Bevölkerung kann das politische System der freiheitlichen Demokratie, das auf freien Wahlen und damit auf Beurteilung gegründet ist, nicht bestehen. Deswegen ist es von Wichtigkeit, daß auch der vorliegende Bericht feststellt:Untersuchungen in den letzten Jahren haben eine hohe Korrelation zwischen mangelnder politischer Bildung und der Neigung zum Extremismus nachgewiesen.Dies sei all denen ins Stammbuch geschrieben, die meinen, daß politische Bildung eine Nebensache ist. In den Ausschußberatungen wird diese Grundfrage das Fundament für finanzielle und organisatorische Überlegungen bilden müssen.Die geringe Zahl der jüngeren Bundesbürger, die sich 1989 als „überzeugte Demokraten" bekannten, macht auch klar, wie wenig wir hier in den alten Bundesländern darauf vorbereitet waren, das Grundwissen über das freiheitliche System der Bundesrepublik den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern zu vermitteln, als wir, gleichsam über Nacht, vor diese Aufgabe gestellt wurden.Der folgende Bericht läßt erkennen, wie die Träger politischer Bildung auf diese große Herausforderung zu reagieren versuchten. Die Anstrengungen sind beachtlich, und die schnelle finanzielle Hilfe der Bundesregierung, die es erlaubte, z. B. Informationsmaterial, das in großen Mengen plötzlich benötigt wurde, herzustellen und die so dringend notwendigen Begegnungsseminare durchzuführen, sei anerkennend erwähnt. Es läßt sich aber gleichzeitig erkennen, wie erheblich die Schwierigkeiten dieses Anfangs waren und auch offenbar immer noch sind.Jeder, der daran mitgewirkt hat, wird erfahren haben, wie schwierig es oft ist, die Grundlagen unseres in der Freiheit der Person gegründeten politischen Denkens verständlich zu machen. Das gilt doppelt dann, wenn man Menschen anspricht, die seit mehr als 40 Jahren in einem Staat lebten, in dem der gesamte Bildungsbereich wie auch alle anderen
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Dr. Roswitha WisniewskiLebensbereiche der Menschen einer Doktrin unterworfen waren, die in in dem Dogma von der ausbeutungsfreien klassenlosen Gesellschaft und dem Volk als dem alleinigen Besitzer der Produktionsmittel wurzelte, in Wahrheit aber die Herrschaft einer Partei und ihres Funktionärsapparates waren.Es muß unser Anliegen sein, die entscheidenden Unterschiede zwischen totalitärem und freiheitlichem Denken sichtbar zu machen. Es gilt, dies alles intensiver als bisher sichtbar zu machen, an die Menschen im Osten wie im Westen heranzutragen und immer erneut zu klären, worum es geht. Wege und Mittel hierzu zu finden und zu schaffen muß im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen. Dazu bietet — wie bereits gesagt — der vorliegende Bericht eine Grundlage. Ein Aktionsprogramm, das aufzeigt, wie das im einzelnen geschehen kann und soll, ist er nicht und kann er auch nicht sein. Es wird aber unsere Aufgabe sein, ein solches Aktionsprogramm zu fordern, dafür Vorschläge und Anregungen zu unterbreiten und die Regierung zu weiteren Schritten in dieser Richtung zu mahnen.
Um nicht mißverstanden zu werden: Indoktrination ist keineswegs gewollt. Viele von uns haben daran noch sehr frische und abschreckende Erinnerungen. Aber es müssen, wie gesagt, verstärkt Wege zu lebendiger Vermittlung und zu fundierter Auseinandersetzung gesucht werden. Offenbar mangelt es hieran.Das hört man häufig auch aus den Schulen, die trotz aller Versuche immer noch nicht mit dem Ergebnis zufrieden sein können. — Der Bundeselternrat hat hierzu interessante Bemerkungen und Vorschläge gemacht.Mir selbst ist z. B. ein sogenannter Polittag in einer Mannheimer Schule in bester Erinnerung, wo Vertreter der Landeszentrale für politische Bildung und Politiker in die Schule hineingingen und mit Schülern der Oberstufe über verschiedene politische Themen diskutierten.Es müssen vor allem bessere Wege gesucht werden, um die freien Träger einzubeziehen und ihnen die Vermittlung des notwendigen Grundlagenwissens zu erleichtern.Das Problem der Einbindung des politischen Grundlagenwissens in Weiterbildungsveranstaltungen und die Verknüpfung mit Spezialthemen etwa im Bereich der beruflichen Fortbildung muß dringend erörtert und neuen Lösungen zugeführt werden. Neue Konzeptionen sind notwendig, und es ist dringend eine finanzielle Aufstockung zumindest der Projektmittel nötig, vielleicht aber auch bezogen auf andere strukturelle Organisationen.
Von den vielen Einzelproblemen, die der Bericht anspricht, möchte ich nur die Frauenproblematik herausgreifen. Aus dem Bericht läßt sich einerseits entnehmen, daß die Gleichstellung von Frauen und Männern offenbar als eines der zentralen Zukunftsthemen angesehen wird und in der Bevölkerung auch weitgehend so verstanden wird. Andererseits stellt man fest, daß der Anteil der Frauen an dem pädagogischen Personal der Einrichtungen der politischen Bildung nur bei 30 % liegt. Vor allem stellt man fest, daß die Teilnahme von Frauen an Veranstaltungen der politischen Bildung zu gering, viel zu gering ist, ja daß es kaum Spezialveranstaltungen für Frauen im Bereich der politischen Bildung gibt. Dies hat sich gerade im letzten Jahr etwas gebessert; aber offenbar kann man global mit dem Angebot immer noch nicht zufrieden sein.Der Vorsatz der Bundesregierung, zu prüfen, wie die Angebote für Frauen attraktiver gestaltet werden können, ist höchst löblich; aber es fehlt hier noch an ganz konkreten Vorschlägen.Wer die Qualifizierung und nicht die Quote als Vehikel der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau sieht und dafür eintritt,
muß das Problem besonders energisch anpacken; das sage ich auch zu unserer eigenen Partei.Frauen sind bekanntlich in den Familien überaus wichtige geistige Multiplikatoren.
— Die Männer auch; das ist keine Frage. Nur, wie gesagt, hier geht es um das Defizit bei der Berücksichtigung der Frauen. Hier müssen wir offenbar stärker als bisher versuchen, eine Verbesserung zu erreichen.Insgesamt soll dieser Bericht — das sollten wir alle, die wir in den Ausschüssen über ihn diskutieren und den ganzen Bereich aufarbeiten werden, uns vornehmen — ein Beitrag dazu sein, den der politischen Bildung zukommenden Stellenwert zu dokumentieren. Das ist mehr noch als bisher für ein freiheitliches politisches System notwendig, das seine Überzeugungskraft nun ohne das negative Gegenbild des Kommunismus oder des totalitären Sozialismus bewahren und in die Länder des ehemaligen Ostblocks tragen muß.Wir stimmen der Überweisung in die Ausschüsse zu.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat unsere Kollegin Angelika Barbe das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Baustadtrat von Berlin-Hellersdorf berichtete vor zwei Wochen folgendes: Ein Dreizehnjähriger hatte um einen Termin bei ihm gebeten. Der Stadtrat war ziemlich gespannt darauf, was der Junge ihm vorzutragen hätte und staunte nicht schlecht, als der ihn im Namen einer Gruppe Gleichaltriger darum bat, doch bitte eine Skateboardbahn einzurichten und einzuplanen. Der Junge hat den Stadtrat überzeugen können. Die Skateboardbahn wird gebaut.
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Angelika BarbeVom Hellersdorfer Jugendamt wird ein Projekt gefördert, das es Elfjährigen ermöglicht, eine Seite der Stadtteilzeitung journalistisch zu gestalten — in Eigenverantwortung unter Mithilfe von Journalisten.Lange waren die Kinder auf der Suche nach Mitteln. Und wie viele Kinder und Jugendliche sind es noch heute, denen eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen dadurch verwehrt wird, daß sie keine Räume, keine Mittel, keine Unterstützung von denen bekommen, die über die Umverteilung von Macht und Geld in Deutschland entscheiden.Meine Damen, meine Herren, was haben diese beiden Episoden mit politischer Bildung zu tun
und mit dem Bericht, den die Bundesregierung — nach Ermahnung der Opposition — endlich vorgelegt hat? Man könnte meinen, die Welt sei fast in Ordnung, die junge Generation Ostdeutschlands sei schon auf dem Demokratiekurs, die großen Stiftungen und kleinen Bildungsträger hätten schon all das Neue transportiert, was wir politische Laien im Osten an Kenntnissen brauchen würden. Jedenfalls muß die Bundesregierung zu dieser Einschätzung gekommen sein, um die Mittelkürzungen zu begründen. Doch das ist leider nicht der Fall. Die lange Debatte heute morgen über die Beschleunigung des Asylverfahrens hat gezeigt, welche Probleme dann auftauchen, wenn sich nicht — wie in Hellersdorf — Politiker dazu bereit finden, die Teilnahmemöglichkeit an demokratischen Prozessen gerade bei Jugendlichen zu fördern.
Noch rechtzeitig zur Debatte kam heute mittag der Bericht eines kleinen unabhängigen Bildungsträgers auf meinen Schreibtisch. Das „Europa-Zentrum Meißen" sieht seine künftige Arbeit „ernsthaft gefährdet" . Es fehlt an ABM-unabhängiger personeller Grundausstattung. Was ist, wenn die ABM-Kräfte gestrichen werden? Für die Mitarbeiterweiterbildung fehlen Mittel, für den Geschäftsbetrieb ebenfalls. Ich zitiere die ernst zu nehmenden Klagen: In den neuen Bundesländern können auf lange Zeit nur geringe Teilnehmerbeiträge erhoben werden. Für die Ostund Mitteleuropäer, die wir zu den Seminaren dazuladen, müssen sogar Zuschüsse beantragt werden. So erhalten seit kurzem diejenigen geringere Zuschüsse, die kein Haus haben, sondern Räume anmieten müssen. — Ich frage, warum?Der DGB schickte ein ähnliches kritisches Papier. Er bestätigte, daß der Hauptmangel zur Zeit in der unzureichenden Perspektive bei der Trägerförderung besteht. „Da können die kleinen unabhängigen ostdeutschen Bildungsstätten, die gerade im Aufbau stecken, in einem Wettbewerb um Ressourcen mit Stiftungen und Bildungswerken nicht bestehen", schreibt das Europa-Zentrum Meißen. Es ist für mich völlig unverständlich, daß hier nicht sofort geholfen wird.Die Forschungsgruppe Jugend und Europa am Institut für Politikwissenschaft der Uni Mainz legte im Dezember 1991 eine Studie vor zur Frage: Wie stehen Jugendliche in den neuen Bundesländern zu Europa?Das auffälligste Ergebnis der Befragung war die Tatsache, daß ostdeutsche Jugendliche Europa viel stärker gesamteuropäisch begreifen als westdeutsche. Sie beziehen nämlich die osteuropäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion bis zum Ural ein. Sie äußern aber auch Bedrohungsängste und sehen ausländerfeindliche Auseinandersetzungen im Zuge der europäischen Einigung auf sich zukommen — zitiert aus der „Union" vom 3. Dezember 1991.Hier liegt eine wichtige Aufgabe der politischen Bildung beim Bund, nämlich den Trägern mehr Mittel für Begegnungsseminare, für Spracherwerb und neu belebte Sprachmotivation für ein erfahrenes Europa bereitzustellen. Nur dann werden die politischen Schlagworte auch von den Menschen verstanden werden können, wenn Begegnung und Jugendaustausch nicht an den Mitteln scheitern. Politische Bildung, das ist vor allem Begegnung, das sind Seminare, das sind Tagungen, und das ist durch Gespräche zu erreichen.Woran sofort gespart werden kann, das sind viele der nichtssagenden bebilderten Broschüren, die bei uns keiner liest, vor allem nur wenn sie Behördeneigenlob enthalten.Vieles ist doch schon in der öffentlichen Anhörung zum Thema „Politische Bildung" am 8. Mai 1989 von den Sachverständigen geäußert worden. Ralf Dahrendorf sagte kurz und klar:Politische Bildung ist Information und Überzeug ung. Information vermittelt Kenntnisse über Institutionen, Organisationen, Prozesse. Ohne solche Kenntnisse ist wirksame Teilnahme nicht möglich. Überzeugung dient der inneren Teilnahme, der Zustimmung zu dem Geist der Gesetze ... Die Ausprägung der Demokratie, also Art und Grad der Teilnahme hat mit politischer Bildung zu tun.Er sagte aber auch:Politische Parteien waren einmal ein Vehikel der Teilnahme. Soziale Bewegungen sind heute zum Teil ein besserer Versuch der „Öffentlichkeit als Parteien".Hat er nicht recht, wenn wir uns Umfragen ansehen und Forschungsergebnisse studieren?Die neue Umfrage des FORSA-Instituts im Auftrag der „Berliner Morgenpost" bestätigt nur, was sich seit der Wende abzeichnet: Die Parteienverdrossenheit bei uns in den neuen Ländern nimmt immer mehr zu; mehr als 50 % der Befragten trauen keiner Partei die Lösung der anstehenden Probleme zu.Vergleichende Befragungen des Instituts für Soziologie und Sozialpolitik in Ost-Berlin zur Rolle der Frau in der politischen Bewegung Ostdeutschlands zeigen niederschmetternde Ergebnisse für uns Politiker und Politikerinnen:Erstens. Zu der Frage, welche Chancen für den demokratischen Neuaufbau in den neuen Bundesländern gesehen werden, äußerten sich im Sommer 1990 noch 60 % der Befragten positiv, während es im Frühjahr 1991 nur noch 40 % der Befragten waren.
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Angelika BarbeZweitens wurde nach der aktiven Mitgestaltung gefragt. Im Sommer 1991 waren es noch 26 %, während im März 1991 nur noch 4 % der Befragten aktiv in der Politik übrigblieben.Drittens. Die Frage, wie wichtig es ist, in einer Gesellschaft mit pluralistischem Parteiensystem zu leben, beantworteten 1990 80 % der Befragten mit „wichtig bis sehr wichtig" und 1991 nur noch 50 % mit „wichtig bis sehr wichtig". Schon vor einem Jahr war die Enttäuschung über die geringe Durchsetzungskraft von Parteien groß, und sie wächst ständig. Ich sage das, weil Sie nach der heutigen Situation fragten.Viertens wurde die Frage gestellt, wie groß denn das eigene Bemühen sei, sich zu beteiligen. 1990 waren noch über 50 % der Befragten interessiert und bemüht, sich zu beteiligen. 1991 blieben 7 % Bemühte übrig. Ihre Einflußmaßnahme auf die Parlamente schätzten die Befragten zu 78 % vor einem Jahr schon mit „gering" ein.Der Umbruch in den neuen Bundesländern ging so schnell vor sich, daß der Zustand der politischen Entmündigung durch den Versorgungsstaat DDR noch gar nicht überwunden werden konnte. Erschrekkend für uns ist doch, daß sich in den Ergebnissen der Glaubwürdigkeitsverlust von Politik und Politikern zeigt.Der Verlust der Arbeitsplätze, die unsicheren Wohnverhältnisse, die unsicheren Zukunftschancen der jüngeren Generation, die verlorenen Möglichkeiten der Älteren — all das sind mehr als genug Motive, um zu resignieren. Ich nenne weitere Beispiele — wir haben hier gerade davon gehört —: Statt einer gerechten Kindergelderhöhung für jedes Kind kam es nur zur Erhöhung des Kinderfreibetrages, der den Erwerbslosen bei uns nichts nützt, sondern nur denen, die gut verdienen.Im Untersuchungsausschuß kann sich der Fraktionschef der CDU, Herr Schäuble, an nichts erinnern. Modrow verweigert beim Berghofer-Prozeß die Aussage und denkt nicht daran — trotz politischer Verantwortlichkeit —, sein Bundestagsmandat endlich aufzugeben, obwohl seine Kollegin Jutta Braband ihm ein Beispiel gab.Es geht hier um den Rest an Glaubwürdigkeit, um das Vertrauen, das die Menschen uns noch entgegenbringen. Ich habe Angst um die Akzeptanz von Demokratie, wenn die heißersehnte Gewaltenteilung jetzt den Tätern nützt. Zum Beispiel darf der Unrechtsrichter Wetzenstein-011enschläger jetzt in der Verkleidung des Verteidigers auftreten und den erbärmlichen Mielke verteidigen.Die Verfassungsgrundsätze zur Machtverteilung müssen uns Ostdeutschen bekannt sein, damit das Rechtsbewußtsein wachsen kann, und dazu soll die politische Bildung beitragen. Elisabeth Noelle-Neumann sagte in der Anhörung: „Der Mangel an Grundverständnis der Demokratie führt zur Teilnahmslosigkeit, Enttäuschung, fehlgeleitetem Engagement. " Ich möchte heute hinzufügen: Auch die millionenfach gemachte Erfahrung von Ungerechtigkeit führt zu diesen Ergebnissen, und zwar durch Arbeitsplatzverlust, Unsicherheit und Angst. Politik muß Lebenszusammenhänge stiften und darf sie nicht zerstören, äußerte Professor Wilhelm Heitmeyer in der Anhörung.In den Studien und den Anhörungen sind mehrfach Konsequenzen aus all dem gefordert worden. Unehrlichkeit und Opportunismus bei den Politikern werden zu Recht kritisiert. Die alte indianische Grundregel, daß jede Entscheidung auch auf die Folgen in der siebten Generation nach uns geprüft werden muß, sollte Maxime des Handelns aller Politiker und Politikerinnen werden.Der Bielefelder Psychologe Klaus Hurrelmann fordert, daß 16jährige die volle Wahlbeteiligung an Kommunal-, Landes-, Bundestags- und Europawahlen erhalten sollen: „Es besteht kein Zweifel, daß die Bereitschaft und die politische Kompetenz hierfür in diesem Alter vorhanden ist. " — Diese Forderung unterstütze ich. Die Hellesdorfer Kinder, die schon mit elf und dreizehn Jahren mitreden wollten und es dank verantwortungsbewußter Politiker auch können, beweisen es.Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Dirk Hansen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist friedlich im Saal. Aber ich denke, es ist etwas faul in der Republik. Das hat mit der politischen Kultur zu tun, mit der politischen Bildung insofern auch. Das hat mit uns zu tun, mit den Parteien. Frau Barbe hat das eben vollkommen zu Recht angesprochen. Es hat mit dem zu tun, was im Bundestag passiert, in der Gesellschaft insgesamt, während der Wahlkämpfe, aber natürlich auch außerhalb. Sonthofener Strategien erleben wir auch außerhalb von Wahlkämpfen, in den letzten Wochen ganz besonders, als es um die Steuergesetzgebung ging, um den Vermittlungsausschuß, um das Ringen um Parteistimmen im Bundestag und im Bundesrat. Soll da zugunsten parteipolitischer Optik etwas instrumentalisiert und nicht zugunsten der Sache gestritten werden? Es finden Verteilerkämpfe statt. Man spricht vom Verbändestaat. Die Interessenvertretung, der Lobbyismus, nimmt zu. Egoismus herrscht allenthalben. Bürgerinitiativen vertreten ihre Prinzipien, sehr oft nach dem Floriansprinzip. Schließlich kommen wir zu einem Extremismus, der hier im Saale überhaupt nicht artikuliert wird. Hier geht es immer sehr moderat zu. Aber außerhalb des Hauses geht es viel extremer zu. Der Kollege Erwin Horn hat vor wenigen Tagen zu Recht gesagt: Wer die extremste Position vertritt, erhält den Zuschlag. — Er hat etwas zu den Auseinandersetzungen in einer Fraktion dieses Hauses gesagt.Es geht keineswegs nur um die Auseinandersetzung im Parlament. Was machen die Medien, was macht die Presse mit der Politik? Wir leben geradezu in einer Mediokratie. Kalte Schauer laufen mir über den Rücken, wenn im „Report"-Magazin rasiermesserscharfe und vernichtende Urteile über Personen
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Dirk Hansengefällt werden, die im Grunde auf der Suche nach der Wahrheit sind. Ich finde, da sind wir beim Kernproblem. Ich sagte bereits: Es ist etwas faul in dieser Republik. Oder, vielleicht weniger dramatisch, diese Personen sind auf der Suche nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit.Wir zeigen zu oft auf den anderen und erkennen nicht, daß wir in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung seit dem Herbst 1991 viel häufiger in den Spiegel zu schauen hätten. Durch das, was uns mit der Offenlegung von Stasi-Akten täglich geradezu überrollt, wird uns ein Spiegel vorgehalten, und zwar uns allen, in den alten wie in den neuen Bundesländern. Mit dem eigenen Antlitz konfrontiert, sollten wir lernen, mit dem Urteil zurückhaltender zu sein, und uns nicht dem anheimgeben, was ich Mediokratie nenne, die Zuspitzung auf kurze, undifferenzierte Statements, auf Schlagworte einerseits, die extreme Personalisierung und Reduzierung auf ganz wenige Personen andererseits, auf die reale Entfremdung zwischen Bürgern und Politik.Die Politik selber trägt dazu bei, Erwartungen der Bürger immer höher zu schrauben. Zugleich wächst aber nicht die Erkenntnis, daß Politik nicht alles und schon gar nicht etwas schnell oder gar sofort erledigen oder erfüllen kann. Das Werbewort „I like Genuß —sofort" scheint von manchen Genußmitteln auf die Politik übertragen zu werden. Die Erwartung, politische Forderungen müßten sofort realisiert werden, kann gar nicht erfüllt werden. Frau Barbe hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der Frust zunimmt, auch die Enttäuschung in der Gesellschaft, die Enttäuschung über die Politik, das heißt natürlich auch: die Enttäuschung über die redenden und handelnden Politikerinnen und Politiker. Der Glaubwürdigkeitsverlust nimmt zu. Hier entsteht eine Lücke. Frau Wisniewski hat Prozentzahlen genannt, wieweit noch Zustimmung zur Demokratie vorhanden ist. Defizite sind unübersehbar.In diesem Rahmen, denke ich, stellt sich die Frage nach der politischen Bildung, ihren Zielen, ihren Aufgaben und Herausforderungen.In einer offenen Gesellschaft, in der wir leben, in der pluralistischen Struktur, die wir doch bejahen, die täglich neu errungen und legitimiert sein soll, stellt sich die Frage: Was ist Demokratie denn? Demokratie ist keine statische, sondern eine dynamische Angelegenheit, sie ist nicht Zustand, sondern Prozeß und tägliche Aufgabe. Dieses bedeutet, daß die Einsichtnahme in die gesellschaftlichen Konfliktfelder, die Mitarbeit und die Mitverantwortung der Bürger immer neu geleistet werden müssen.Der Bericht der Bundesregierung macht meines Erachtens insofern klar, daß sich in diesem Kontext gerade seit dem Herbst 1989 die politische Bildung neu zu orientieren hat. Die Probleme, die sich aus dem Zusammenbruch der kommunistischen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in der DDR und im Bereich des Warschauer Paktes ergeben haben, müssen aufgearbeitet werden. Die politische Bildung muß ihren Beitrag leisten, um die geistige Einheit, die gesellschaftliche Integration in der gesamten Republik zu erreichen. Die gemeinsame politische Kultur ist die Aufgabenstellung, und vor diesem Hintergrund großer sozialer, ökonomischer und ökologischer Krisenzeichen wächst auch die Aufgabenstellung der politischen Bildung.Dabei ist mir durchaus klar — um mit dem schon zitierten Dahrendorf zu reden —, daß der Bestand der Demokratie nicht an der politischen Bildung hängt, sondern am, wie er sagt, Funktionieren der Institutionen. Ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß wir, die wir selber im täglichen politischen Geschäft stehen, nicht unerheblich dazu beitragen, daß das Funktionieren dieser Institutionen durchaus in Frage zu stellen ist, jedenfalls dann, wenn man die Demokratie als streitige Angelegenheit einerseits begreift und andererseits den Diskurs aufgibt, die Auseinandersetzung immer insofern auf die Basis eines Konsenses, wenn Sie so wollen: des Minimalkonsenses, zu stellen, der darin liegt, wie Habermas es formuliert hat, daß er einem „Verfassungspatriotismus" gleichkommt. Hier, so sagte Dahrendorf in der Anhörung 1989, hat die politische Bildung ihren wichtigsten Ort. Aber ich glaube, Frau Barbe, er hat nicht nur von der Information gesprochen, sondern auch von der Persuasion. Es ist mehr zu verlangen als nur Kenntnisse.Ich möchte hier einen der Altmeister der Didaktik der politischen Bildung zitieren, Hermann Giesecke aus Göttingen.
Ich möchte ihn insofern zitieren, als ich darauf hinweise, daß für die politische Bildung ein Bildungswissen erforderlich ist, daß z. B. mit sprachlichen Fähigkeiten, die ja mit Denkfähigkeiten korrespondieren, sowohl politische Vorstellungskraft und politische Phantasie zusammenhängen, und eben dieses Bildungswissen als eine Grundlage hinführt zu einem Orientierungswissen, das den einzelnen in einen politisch-gesellschaftlichen Raum hineinstellt und dann die eigene politische Standortbestimmung erlaubt. Über dieses Orientierungswissen hinaus ist dann zu einem Aktionswissen zu führen, wie er es nennt, das angesichts der ständigen Konflikte in der Gesellschaft das politische Wissen hinführt zum Entscheidungswillen und sich dabei des Orientierungswissens bedient und für die eigene Entscheidung eine Begründung liefert. Erst dieser Zusammenhang der verschiedenen Ebenen, die historische mit gegenwärtigen Kenntnissen und Verhaltensweisen verbinden, schafft dann den politisch mündigen Bürger.Es ist Gott sei Dank festzustellen, daß es im politischen Unterricht, sei es in den Schulen, sei es in den Seminaren der freien Träger, längst nicht mehr um die bloße Affirmation des Bestehenden geht. Aber andererseits ist dennoch die kritische Frage zu stellen, ob man in unserer Demokratie den jungen Bürgern mit teils ideologischen, teils windigen, vielfach nur aufgelesenen Schlagzeilen unsere Gesellschaftsordnung leicht mieszumachen versteht und schließlich eben dadurch dem Bürger die Chance nimmt, die demokratische Gesellschaft kritisch beurteilen zu lernen.Insofern ist dann doch festzustellen, daß angesichts vor uns liegender Probleme friedliche Lösungen keineswegs nur von der Klugheit der Regierenden abhängen, sondern in hohem Maße auch vom politi-
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Dirk Hansenschen Bewußtsein derer, die Politik vermitteln, in die Bevölkerung tragen, und daß sich dann die Frage stellt, inwieweit die Regierenden von der Bevölkerung noch getragen werden, wenn sie unpopuläre, aber als notwendig erachtete Maßnahmen treffen.
Was ist konsensnotwendig? Was ist unstrittige Basis des politischen Alltags? Der Bericht der Bundesregierung macht deutlich, denke ich, daß im Konfliktfeld zwischen Vorurteilen, Propaganda und staatlicher Indoktrination einerseits und dem Ziel des friedlichen Miteinander in Deutschland, Europa und der Welt andererseits die politische Bildung gefordert ist. Die Verarbeitung und Aufarbeitung der Geschichte von Nationalsozialismus und Kommunismus sind weiterhin zu fordern. Christian Meier hat in der gestrigen Ausgabe der „FAZ" — ich denke, scheinbar rhetorisch — gefragt: „Vergangenheit ohne Ende?" — Nein, der Bericht macht klar, daß wir in diesem Bereich weiter wirken müssen, daß gewissermaßen nicht ein Feld abgehakt ist und wir uns neuen Ufern zuwenden. Die alten Probleme, die Geschichte, so gesehen, lassen uns nicht los. Sie sind weiterhin Aufgabenfeld für die verschiedenen Aktivitäten politischer Bildung.Die „quasi vorbeugende Aufgabe politischer Bildung", wie in dem Bericht formuliert wird, muß Argumentationshilfen und Verhaltenstraining anbieten. Dabei ist im kognitiven und im affektiven Bereich der Einsatz neuer Medien gefordert. In einer Welt, in der immer mehr mit dem Auge wahrgenommen wird, muß sich auch die politische Bildung notwendigerweise darauf einstellen.Dabei ist mir bewußt, was Odo Marquard in der Anhörung 1989 gesagt hat:In dem Maße, in dem neue Medien an Gewicht und an Macht gewinnen, eine alte individuelle Fertigkeit gleichzeitig an Macht gewinnt, nämlich die Mündlichkeit.Insofern begrüße ich ganz besonders die Ausführungen des Berichtes, in denen auf die Umstellung hingewiesen wird, mit der die Bundeszentrale für politische Bildung verstärkt Begegnungsseminare organisieren und fördern will, um den mündlichen Austausch, den Dialog, die unmittelbare kommunikative Begegnung von Bürgern, von Multiplikatoren und Schülern zu ermöglichen; Frau Barbe hat darauf hingewiesen. Also: Nicht so viel Printmedien, statt dessen Begegnungen.Dabei ist die Vielzahl der Aktivitäten der Bundesregierung erstaunlich. Ich will nur noch kurz einige andeuten: Im BMFJ haben wir einen Bundesjugendplan, der ganz besonders auch internationale Begegnungen fördern will, weit über das erfolgreiche Deutsch-Französische Jugendwerk hinaus. Nunmehr sollen auch verstärkt Begegnungen in Richtung Polen, CSFR, Ungarn und Länder der ehemaligen Sowjetunion stattfinden.Erstaunlich ist auch der unglaublich hohe Anteil an, wenn man so will, Finanzen oder Aktivitäten im Bereich des Bundesverteidigungsministeriums. § 33 des Soldatengesetzes macht die politische Bildung, die staatsbürgerliche Bildung zur Pflichtaufgabe. Insofern könnte man fast sagen: Für Zehntausende junger Menschen ist, was die politische Bildung angeht, die Bundeswehr eine „Schule der Nation".
— Ich weiß sehr wohl, daß der Begriff belastet ist. Deswegen habe ich auch „insofern" gesagt. Ich bitte, das auch zu verstehen und nicht zu überhören, meine Kollegen.Im BMBW gibt es einzelne projektbezogene, mediengeschichtlich orientierte Aktivitäten. Auch das BMZ ist im Rahmen der Aktivitäten der Bundesregierung zu nennen.Aber der Schwerpunkt liegt dann doch beim Innenministerium bzw. bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Haushaltsansätze haben sich im Laufe von 20 Jahren verdoppelt. 1990 und 1991 sind jeweils rund 40 Millionen DM für die sogenannte operative politische Bildung veranschlagt worden. Das war eine große Leistung.Die sogenannte operative politische Bildung konnte sehr schnell umgesetzt werden. Das ist sehr dankenswert. Wir sollten daher allen daran Beteiligten — nicht nur denen auf der Regierungsbank, sondern auch denen auf den Zuhörerbänken, wo ich den einen oder anderen sehe — herzlich dafür danken, wie flexibel — und insofern außerhalb gewohnter Bahnen — hier politische Arbeit geleistet worden ist. Und es ist sehr zu begrüßen, daß die Bundeszentrale für politische Bildung dabei ist, eine neue Konzeption zu erarbeiten und demnächst — hoffentlich auch den Gremien, nicht zuletzt dem Kuratorium selber — vorzustellen. Wir sollten da sehr zügig „in die Hufe" kommen und diese Aufgabe — nach verschiedenen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Wechsel im Ministerium — angehen.Ein Wermutstropfen — letzte Bemerkung — ist aber nicht zu übersehen; die Stellungnahme des Arbeitsausschusses für politische Bildung macht dies deutlich. Entgegen dem einstimmigen Votum im Bildungsausschuß sind speziell die Mittel für deutschlandpolitische Bildungsarbeit gekürzt worden.Einen weiteren Wermutstropfen möchte ich hier noch ansprechen, von dem in der Stellungnahme des Arbeitsausschusses die Rede ist: die Ungleichgewichtigkeit der Förderung. Politische Stiftungen und Parteien sollten bei der Mittelvergabe meines Erachtens nicht privilegiert werden.Abschließend möchte ich anregen, daß die Bundeszentrale weiterhin, wie in den vergangenen zwei Jahren, es als Schwerpunktaufgabe begreift, in den fünf neuen Bundesländern die politische Bildung zu betreiben, zu intensivieren.Es müssen aber die Förderungsmodalitäten wohl doch überprüft werden. In den neuen Ländern gibt es noch nicht die uns geläufige Infrastruktur. Es stellt sich sehr die Frage, ob vielleicht für eine Übergangszeit — mit allen Problemen, die Provisorien bekanntlich haben — nicht doch strukturschaffende Förderungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden können.Europazentrum Meißen ist ja schon zitiert worden; wir alle haben das bekommen. Es ist nur ein Beispiel,
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Dirk Hansenman könnte auch Chemnitz nennen. Ich denke, hier liegt ein Bedürfnis zur Prüfung vor, wie weit die Bereitstellung von Mitteln über die Projektförderung hinaus möglich ist.Abschließend erlauben Sie mir als Vorsitzendem eines kommunalen Volkshochschulbeirats auch die Anregung, ob bei den Volkshochschulen nicht eine stärkere Verbindung von politischer und allgemeiner Bildung möglich ist. Genausowenig sollte es ein Tabu sein, die politische mit der beruflichen Bildung in einen Zusammenhang zu stellen.
Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Wir stimmen der Überweisung des Berichts natürlich zu.
Nun hat unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die europäische und die deutsche Einigung sind ein kultureller Prozeß, einer von der Größenordnung der Völkerwanderung am Übergang der Antike zum Mittelalter, zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert, ein Prozeß, der auch wieder von Wanderungsbewegungen, diesmal von Ost nach West und von Süd nach Nord, begleitet ist. Der Bundespräsident und auch der sächsische Ministerpräsident haben schon mehrfach auf den kulturellen Aspekt dieser Prozesse verwiesen.Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht über Stand und Perspektiven der politischen Bildung gibt Anlaß und Gelegenheit, uns Rechenschaft darüber zu geben, wie ernst wir die kulturellen Aufgaben dieser Vereinigungsprozesse nehmen.Das ganze Ausmaß der Aufgabe wird deutlich, wenn man sich anhand der Anlagen des Berichtes vergegenwärtigt, wie unglaublich gut wir in deutschen Landen für sie ausgestattet sind. Welch ein Reichtum an staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen im Bereich der politischen Bildung!Unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen in Osteuropa werden uns angesichts einer solchen Ausstattung nur beneiden können. Wie aber sieht die Bilanz dessen aus, was wir aus diesen Mitteln machen? Ich denke, daß diese Bilanz im Ganzen nicht unerfreulich ist. Ich möchte die Bundeszentrale in Erinnerung daran, wie sie sich im Herbst 1989 und im Frühjahr 1990 schon eingeschaltet hat, ausdrücklich dankbar erwähnen.Vor allem stellt man jetzt, wenn man den Bericht liest, überrascht und erfreut fest, daß das Eingehen auf Kultur und Bildung Aspekte der Politik sichtbar macht, die sonst eher unbeachtet oder gar verdrängt bleiben. Viel klarer als sonst, im Rahmen der weitverbreiteten Neigung, Gewalt und Extremismus allein im Blick auf erforderliche Ordnungsmaßnahmen der Polizei zu diskutieren, macht der Bericht über politische Bildung aufmerksam auf den durch Untersuchungen evident gewordenen Zusammenhang zwischen mangelnder politischer Bildung und der Anfälligkeit zum Extremismus der Gewalt.Ebenso bemerkenswert sind an diesem Bericht die Ansätze zur Würdigung der kulturellen Polyphonie Europas, so, wenn darauf hingewiesen wird, welchen Anteil Osteuropa an der Entwicklung der europäischen Kultur hat.Das hat zwei bemerkenswerte Konsequenzen, die weit über das Normalmaß der Regierungspolitik hinausgehen. Erstmalig wird in diesem Bericht kritisiert, daß weithin Probleme der Aussiedler mit denen von Asylsuchenden vermengt werden. Wie lange schon wird vom Bündnis 90/GRÜNE darauf hingewiesen, daß es unzulässig ist, das Grundrecht auf Asyl heranzuziehen, wenn es um die Lösung der weltweiten Flüchtlingsfrage geht! Für innenpolitisch bahnbrechend halte ich es, wenn die Bundeszentrale für politische Bildung im Inland lebende Ausländer Bundesbürgern gleichstellt. Da kann man nur sagen: Weiter so!Trotz dieser positiven Bilanz bleiben zwei wichtige Desiderate: die Frage nach der aktiven Beteiligung von Bürgern und Bürgerinnen an der politischen Bildung und die Frage nach dem Beitrag der Kunst. Mit Recht wird auf das Mißtrauen hingewiesen, das der politischen Bildung von seiten derer begegnet, die sich jahrzehntelanger ideologischer Indoktrination ausgesetzt sahen. Natürlich ist es sachgemäß, solchem Mißtrauen Dialogbereitschaft entgegenzusetzen, wie das im Bericht gefordert wird.Aber, meine Damen und Herren, reicht das aus? Der Bericht selbst verfällt streckenweise in eine Diktion, die nur zu geeignet ist, jenes Mißtrauen zu nähren.
„Dein Bürger muß deutlich werden" heißt es z. B. auf Seite 10 des Berichts. Die Möglichkeit, daß Bürgern und Bürgerinnen irgend etwas viel deutlicher ist als der berichterstattenden Regierung, wird offenbar gar nicht erst erwogen — und dies, obwohl auf derselben Seite sehr schön gesagt wird, die erfolgverheißendste integrationspolitische Maßnahme sei das gemeinsame Lösen der wirtschaftlichen und umweltpolitischen Probleme.Richtig so, aber das kann doch für die politische Bildung nur heißen, Bürger- und Bürgerinnenaktivität einen ganz anderen Stellenwert anzuweisen, als das im Bericht der Bundesregierung der Fall ist.
Politische Bildung ist zuallererst Bildung. Bildung aber ist ein Prozeß. Nun sage ich, liebe Kollegin Barbe, trotz des berühmten Namens Dahrendorf: Es ist ein Prozeß nicht der Information und natürlich schon gar nicht der Indoktrination — da sind wir uns einig —, sondern ein Prozeß der Integration und der Sozialisation. Lernen durch Tun, das gilt auch hier.Aktive und partizipative Demokratie muß fördern, wer Zuschauer-, Stammtisch- und Fernsehsesseldemokratie zurückdrängen und politischer Bildung den Weg bereiten will.
Unionsparteien und Liberale sollten im Lichte dieser Einsichten ihre Ablehnung partizipativer Demokratie überdenken und sich fragen, ob es nicht am Ende dem Parlament und damit auch der Parteiende-
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Dr. Wolfgang Ullmannmokratie zugute käme, den von den Bürgerbewegungen geforderten Elementen von partizipatorischer Demokratie Verfassungsrang einzuräumen.
Wie viele äußerst aktive Glieder etwa hat die CDU in den östlichen Bundesländern aus den Reihen des Neuen Forums gewonnen! Was würde es gegen die Politikverdrossenheit in Ost und West bedeuten, wenn Bürgern und Bürgerinnen das Recht auf Begehren, Initiativen und Entscheide bundesweit zustünde — ein unerschöpfliches Lernfeld politischer Bildung.
Ganz am Schluß und am Rande erwähnt der Bericht auch die Kunst als Impuls politischer Bildung. Das ist eine Marginalisierung, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Man denke an die Rolle der Kunst im Widerstand gegen die kommunistischen Diktaturen Osteuropas, deren lebendigster Zeuge noch heute Präsident Havel in Prag ist. Im Herbst 1961 mußte in Berlin Beethovens „Fidelio" verboten werden, weil diese Musik zu laut gegen den Mauerbau protestierte. Die unwiderlegbarste zeitgenössische Entlarvung der blutigen Tyrannis Stalins steht in der Lyrik Ossip Mandelstams. Das muß doch Folgen für die politische Bildung haben.
Künstler, und seien sie noch so unbequem, sollten nicht mehr nur als Hofnarren der Gesellschaft, sondern als Lehrer politischer Bildung ernst genommen werden,
gerade dort, wo sie Dinge sagen, die in niemandes politisches Konzept passen; denn Kunst ist nicht Ornament des Wohlstands, sondern lebensnotwendiger Ausdruck menschlicher Freiheit, des Wahrnehmens, des Sprechens und des Gestaltens.Wenn es beispielsweise gelänge — damit möchte ich schließen, meine Damen und Herren —, die Künstlerin Bärbel Bohley zur Mitwirkung in der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit" zu gewinnen, wäre das nicht nur förderlich für die Arbeit dieser Kommission, sondern ganz gewiß auch ein unschätzbarer Impuls für die Arbeit der politischen Bildung in unserem Lande.
Und nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Sollen die Ostdeutschen endgültig plattgemacht werden? " — So fragte der SPD-Fraktionsvorsitzende im Wittenberger Stadtrat, Pfarrer Friedrich Schorlemer, in der Zeitung „Express" vor einigen Tagen.„Sollen die Ostdeutschen endgültig plattgemacht werden?" Ich frage: Ist das in Ordnung, wenn den Menschen in den neuen Bundesländern „plattmachen" angekündigt wird. Ist das nicht ein fahrlässiger Umgang mit ihren Ängsten und Unsicherheiten in einer Zeit der Umstellung, einer schönen aber für viele Menschen auch schwierigen Zeit? Frau Barbe hat Vertrauen für die Politik eingefordert. Können Jugendliche Vertrauen in die Politik gewinnen, wenn ihnen Politiker mit der Frage begegnen, ob sie wohl endgültig plattgemacht würden? Ist das nicht unbeabsichtigte Nahrung für den rechtsradikalen Mob, der ja gerade auf die Minderwertigkeitsgefühle von Menschen setzt? Wenn es ein Beispiel für die Notwendigkeit von politischer Bildung gibt, denke ich, so ist dies eines.Eine zweite Beobachtung: Im Verhältnis zur Politik nehmen immer mehr Menschen eine Zuschauerrolle ein. Der Fernsehapparat wird zum Sinnbild unseres Zeitalters, und die Langeweile der Zuschauergesellschaft ist die Drohung der Zukunft.Die Demokratie lebt nicht vom Zuschauen, sondern vom aktiven Engagement, und die politische Bildung fördert die Begegnung von Menschen, das Gespräch und das Weiterleben der Mündlichkeit, wie es Kollege Hansen eben so schön formuliert hat.Und eine dritte Beobachtung: Politische Bildung meint weit mehr als Institutionenkunde. Deshalb ist es aus meiner Sicht so wichtig, daß politische Bildung noch stärker — der Bericht spricht das an — auf das Thema Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingeht. Die deutsche Einheit hat der Gleichberechtigungspolitik insgesamt neuen Schwung gebracht.
Wir brauchen diesen Schwung, um unserem Ziel einer auf Partnerschaft beruhenden gerechten Gesellschaft näherzukommen. Frauen wollen nicht länger auf überholte Rollen festgelegt werden. Sie wollen sich frei entscheiden, ob und wie sie Beruf und Familie miteinander verbinden. Dabei kommt den Angeboten der politischen Bildung eine wichtige Unterstützungsfunktion zu.
— In der Tat, auch die Angebote der Parteien sind hier gefordert.Die politische Bildung muß sowohl praktische, auf die jeweilige Lebenssituation abgestellte Angebote für Frauen machen als auch zur Bewußtseinsbildung und zum Bewußtseinswandel beitragen — vor allen bei den Männern.Darüber hinaus kann und soll politische Bildung bei den Frauen Interesse und Mitwirkung fördern. Wir brauchen mehr Frauen in der Politik, und deshalb ist dies auch eine Aufgabe, der sich die politische Bildung stellen muß.Leider ist es immer noch so — das macht der Bericht der Bundesregierung deutlich —, daß der Frauenanteil an den Veranstaltungen weit unter dem der Männer liegt. Das darf nicht so bleiben.
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Parl. Staatssekretär Peter Hintze— Das stimmt! Es gibt auch erfreuliche Gegenbeispiele.Politische Bildung sollte in ihren Tagungen in der Themenwahl und bei der Durchführung so gestaltet sein — das gilt auch für die Arbeit unserer eigenen politischen Partei —, daß sie auch für Frauen genügend attraktiv ist. Das ist nicht nur eine Frage der Auswahl der Inhalte und des didaktischen Konzepts, dazu gehören auch die organisatorischen Voraussetzungen wie zum Beispiel die Kinderbetreuung. Es geht um den Beitrag der politischen Bildung zu einer modernen, zu einer gerechten und ich möchte zum Schluß sagen auch zu einer gleichberechtigten Gesellschaft in unserem Lande.
Und nun hat die Kollegin Edith Niehuis das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, der vorliegende Bericht hat durchaus etwas Gutes, weil hier nämlich versucht wird, politische Bildung in ihrer Komplexität darzustellen und zugleich auch aufgezeigt wird, aus wie vielen Töpfen bei uns politische Bildung finanziert wird. Doch wenn man dieses Bemühen um Vollständigkeit sieht, dann fällt natürlich auch ganz besonders auf, was fehlt.Als wir hier vor vier Jahren über politische Bildung debattierten — jene Debatte, aus der der Auftrag für diesen Bericht erstmalig hervorging —, standen ganz wesentlich im Mittelpunkt der Debatte die Auswirkungen der wissenschaftlichen, technischen und ökologischen Entwicklung in der hochindustriellen Gesellschaft auf die politische Bildung.Verantwortungsbewußtsein der Menschen wurde gefordert, und das war der Auftrag für politische Bildung. Diese Komplexität der Aufgabenstellung macht natürlich einen weiten Begriff von politischer Bildung erforderlich, erfordert aber auch eine Verzahnung von politischer und beruflicher Bildung.Nun wissen wir, daß die Bundesanstalt für Arbeit schon immer viele Bildungsmaßnahmen, insbesondere berufliche, aber nicht nur, gefördert hat, und daß diese Bildungsarbeit nun in den neuen Bundesländern explosionsartig ausgeweitet wurde. Doch über den Bildungshaushalt der Bundesanstalt für Arbeit über das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung verliert der Bericht der Bundesregierung kein einziges Wort. Und das, denke ich, ist erheblich zu kritisieren.Ich denke dabei besonders an die jungen Menschen, die ihre Hoffnungen in den neuen Bundesländern in die wirtschaftliche Entwicklung setzen und sich bemühen, ihre Qualifikationen den Anforderungen der hochindustriellen Gesellschaft anzupassen. Soll diese Bildungsarbeit gut werden, dann gehört dazu die politische Bildung, die Aufklärung nicht nur über die Chancen, sondern auch über die Risiken von technischen und ökonomischen Entscheidungen.Gerade mit Blick auf die neuen Bundesländer gilt es doch auch hier, ein neues Bewußtsein zu schaffen, denn wir wissen doch, daß aus der DDR-Erfahrung die alte polytechnische Ausbildung und die stereotype politische Indoktrination ganz negativ befrachtet sind. Wir dürfen dann nicht zulassen, daß aus dieser Erfahrung eine Ablehnung von Modellen von Integration von politischer und beruflicher Bildung folgt. Wegen dieser ganz besonderen Situation in den neuen Bundesländern hätte das Thema Integration von politischer und beruflicher Bildung ein Schwerpunkt in dem Bericht der Bundesregierung sein müssen. Ich bedauere sehr, daß diese Chance verpaßt wurde.Zu Recht weist der Bericht der Bundesregierung, Herr Staatssekretär Hintze, auf die Bedeutung der politischen Bildung Jugendlicher hin. Sie zu erreichen und zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Politik und politischen Institutionen zu motivieren ist in Ost und West gleichermaßen wichtig und von zentraler Bedeutung für die Zukunft unserer Demokratie.Umfragen sagen uns, Jugendliche in Ost und West machen sich ernste Gedanken über die Zukunft; die einen mehr über die wirtschaftliche Zukunft, die andere mehr über Kriegsgefahren und Umweltzerstörung. Und sie hegen beide Zweifel, ob Politiker und Politikerinnen oder das politische System in der Lage sein werden, mit diesen Problemen fertigzuwerden.
In den neuen Bundesländern gibt es daher eher eine Skepsis gegenüber dem System der Bundesrepublik Deutschland, in den alten Bundesländern eher eine Skepsis gegenüber den politisch Handelnden. In beiden Fällen sind wir aufgefordert, diese Auseinandersetzung ernst zu nehmen und Perspektiven aufzuzeigen, damit Gefühle und Ohnmacht nicht obsiegen. Immer wieder aufflammender Rechtsextremismus, Gewaltbereitschaft und auch Gewaltaktionen mahnen uns, diese Aufgabe nicht zu vernachlässigen.Darum ist es gut, daß der Bericht der Bundesregierung darauf eigens eingeht. Aber zwischen dem Erkennen und dem Benennen und tatsächlichem Tun klafft bei dieser Bundesregierung in der Tat noch ein breiter Graben.
Ich hätte ganz gerne gehabt, wenn Herr Staatssekretär Hintze auch ein wenig zu der Politik des Ministeriums für Frauen und Jugend gesagt hätte. Er hat es versäumt, also werde ich es tun.
Die Bundesregierung hebt in ihrem Bericht die politische Jugendbildung als wichtig hervor und betont die Bedeutung der freien Träger in einer pluralen Gesellschaft. Doch wie sieht die ganz konkrete politische Praxis aus?Schon im Mai 1989 bei der Sachverständigenanhörung der Ausschüsse Innen, Bildung und Wissenschaft zur politischen Bildung hat der Deutsche Bundesjugendring als Dachorganisation vieler Jugendverbände eine verläßliche Förderung der freien Träger angemahnt und vor weiteren Sonderprogrammen gewarnt. Gemeint war die Entwicklung des auch von
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Dr. Edith Niehuisder Bundesregierung im Bericht als wichtig bezeichneten Bundesjugendplans.
Doch entgegen dieser Aussage verordnet die Bundesregierung dem Bundesjugendplan, was die institutionelle Förderung anbetrifft, seit Jahren ein Null-Wachstum. Das bedeutet ganz konkret, daß die Haushalte der Jugendverbände von den steigenden Personal- und Sachkosten aufgefressen werden. So ist das Null-Wachstum in Wahrheit ein Minus-Wachstum mit der Folge, daß immer weniger Geld für die praktische Jugendarbeit übrigbleibt. Das heißt, die Kohl-Regierung, die einerseits freie Träger lobt, schwächt auf der anderen Seite die freien Träger, anstatt sie zu stärken. Das ist ein verhängnisvoller Trend.Anstatt grundständige Jugendpolitik zu machen, gebärt diese Regierung eine Eintagsfliege nach der anderen. Wir alle wissen, daß der Austausch zwischen deutschen Jugendlichen in Ost und West eine wichtige Sache ist. Doch was kam als erstes heraus? — Der „Sommer der Begegnung" als einmalige Veranstaltung. Das hat zur Folge gehabt, daß keine Strukturen aufgebaut werden konnten, sondern sich viel eher alte Seilschaften bedient haben.Die nächsten Eintagsfliegen: das Programm „Prävention gegen Gewalt" und insbesondere das einjährige Programm zum Aufbau freier Träger, das so dubios ist, daß sogar der Haushaltsausschuß da sind die Mehrheiten genauso wie hier im Bundestag — fast die Hälfte der Mittel gesperrt hat. Das Loblied auf freie Träger wird dann endgültig absurd, wenn die Fördersätze für Veranstaltungen innerhalb dieser Sonderprogramme ungleich höher sind, als im Bundesjugendplan für freie Träger vorgesehen. Das ist eine systematische Mißachtung der freien Träger und ihrer Forderungen. Dem möchten wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht gerne zustimmen.Wir haben vor diesem einjährigen Programm zum Aufbau freier Träger eindringlich gewarnt, weil wir meinen, durch eine anständige Erhöhung der Mittel aus dem Bundesjugendplan wäre eher der Aufbau solider Trägerstrukturen in den neuen Bundesländern eher möglich und auch eine Grundstruktur der politischen Jugendbildung herzustellen gewesen. Es zeigt sich schon jetzt, daß wir recht hatten. Denn alle, auch das Ministerium für Frauen und Jugend, sind in der Schnelle überfordert, das zum Aufbau freier Träger gedachte Einjahresprogramm zu organisieren. Bis heute liegen noch keine klaren Aussagen darüber vor, von wem über welche Antragsschiene zu welchen Bedingungen gefördert werden soll — und das bei einem Programm, das schon zum Ende des Jahres wieder ausläuft!Angesichts der Bedeutung der politischen Jugendbildung in den neuen Bundesländern und angesichts der Bedeutung der freien Träger in einer pluralen Gesellschaft kann ich nur nochmals an die Bundesregierung, hier dann speziell an die Ministerin Merkel, appellieren, von der Politik der Eintagsfliegen zu lassen und zu einer soliden Jugendpolitik zurückzukehren.
Zu Recht stellt die Bundesregierung fest, daß Frauen an der politischen Bildung nach wie vor zu wendig teilnehmen. Eine wesentliche Ursache dafür ist die Lebenssituation der Frauen. Eine intensive Teilnahme an politischen Veranstaltungen macht bei vielen Frauen aus der Doppelbelastung, Beruf und Familie, eine Dreifachbelastung. Weil sich Männer immer noch vor der Kinderbetreuung in der Familie drücken, sollten Seminarangebote stets die Möglichkeit der Kinderbetreuung einschleißen. Das darf man nicht nur sagen, das müssen die Förderrichtlinien des Bundes dann auch mit beinhalten. Da gibt es noch einiges zu tun.Wie in der Jugendarbeit gibt es auch in der Frauenarbeit eine plurale Verbandsstruktur. Ich will hier ausdrücklich loben, daß die Bundesregierung ein zweijähries Sonderprogramm zur Bildung von Frauenverbandsstrukturen in den neuen Bundesländern aufgelegt hat. Durch die professionelle Arbeit des damit befaßten Deutschen Frauenrates erwarte ich von diesem Programm gute Ergebnisse. Doch ich kann eine Bemerkung nicht unterdrücken: Um Frauenverbandsstrukturen aufzubauen, hat der Bundeshaushalt im Jahre 1991 3,8 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Um Jugendverbandsstrukturen aufzubauen, sind für 1992 50 Millionen DM bereit gestellt worden. Dies ist ein krasses Mißverhältnis. Wir werden dann zum Ende des Jahres sicherlich Gelegenheit haben, die Programme und die Seriosität einer solchen Haushaltspolitik zu überprüfen.Frauenverbände leisten in der Bundesrepublik eine hervorragende Arbeit. Sie klagen nicht über das „Minuswachstum" im Bundesjugendplan. Das hat eine ganz einfache Ursache: Frauenverbände haben in der Bundesrepublik überhaupt keine institutionelle Förderung. Obwohl die Bundesregierung weiß, daß die Förderung nach einem Bundesfrauenplan seit Jahren auf dem Tisch liegt, wird dies im Bericht der Bundesregierung mit keinem Wort erwähnt. Durch dieses Totschweigen eines ganz wichtigen Anliegens wird die Bundesregierung der guten Arbeit der Frauenverbände nicht gerecht.
Hier erwarten wir, gerade um mit der politischen Bildung mehr Frauen zu erreichen, mehr Engagement seitens der Regierung.Als der Parlamentarische Rat unser Grundgesetz beriet, spielte die politische Bildung, Herr Ullmann, eine große Rolle in der Diskussion, weil die Menschen über sie zur Wahrnehmung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten in der Demokratie motiviert werden können.Wir sind in einer erneuten Verfassungsdiskussion, und ich denke, wie Sie, Herr Ullmann, auch in dieser Verfassungsdiskussion sollten Kultur und Bildung eine wichtige Rolle spielen.
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Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Wolfgang Meckelburg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der im Dezember von der Bundesregierung vorgelegte Bericht kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem Deutschland auf dem Wege ist, eine 40jährige Teilung zu überwinden und zusammenzuwachsen. Politische Bildung muß Teil dieses Zusammenwachsens sein. Dabei ist es verständlich, wenn die Bürger aus den neuen Bundesländern auf Angebote der politischen Bildung zunächst einmal skeptisch reagieren. Es ist nachzuvollziehen, wenn viele mit politischer Bildung auf Grund ihrer DDRErfahrung zunächst sozialistische Kaderschulung und penetrante ideologische Indoktrination verbinden.
Wir wollen und müssen zeigen — das ist unser Auftrag —, daß politische Bildung, so wie sie sich in den letzten vier Jahrzehnten in Westdeutschland entwickelt hat, etwas anderes ist, daß ihre Angebote einen Teil lebenspraktischer Hilfen darstellen, daß man sich hier für die aktive Teilnahme an der Demokratie fitmachen kann, daß hier ein Instrumentarium angeboten wird, das freiwillig gewählt werden kann und bei dem keine politischen Nachteile entstehen, wenn man sich nicht beteiligt. Wir wollen zeigen, daß mit den Angeboten der politischen Bildung 40 Jahre kommunistische Diktatur und erlebte politische Realität aufgearbeitet werden können. Die mühseligen Diskussionen über die Stasi-Vergangenheit in diesen Wochen und Monaten machen deutlich, wie wichtig das ist.
Wollen die Träger der politischen Bildung — in gewisser Weise sind wir alle damit gemeint — dieses Anforderungsprofil erfüllen, bleibt als stete Aufgabe die Schaffung von neuen Formen, Methoden und Akzenten. Vor diesen Akzenten darf es keine Scheu geben. Wir brauchen eine neue Lebendigkeit der Didaktik für die politische Bildung. Denn lediglich ein Absitzen von Weiterbildungsmaßnahmen gilt es zu verhindern. Das Anregen von aktiver Gestaltung des gesellschaftlichen Umfeldes benötigt unkonventionelle und unverbrauchte Seminare und Programme. In einer Welt der Medienvielfalt, des ausgeprägten Freizeitkonsums und der zunehmenden Vereinzelung von Lebensbiographien wollen und müssen wir zeigen: Politische Bildung kann auch anders sein. Neue Formen sind gefragt, um politische Bildung attraktiver zu machen.
Neben der Haptaufgabe der Schaffung einer gemeinsamen politischen Kultur im vereinten Deutschland und den aktuellen politischen Themen, die selbstverständlich immer zum Repertoire der politischen Bildung gehören, sind aus meiner Sicht vor allem Themenkomplexe wie Europa, Aussiedler, Ausländer, Industriegesellschaft, Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Gleichstellung von Mann und Frau und Gewalt Themen, die zu behandeln sind. Ein Gebiet liegt mir dabei besonders am Herzen. Ich will dazu noch ein paar Ausführungen machen.
Angesichts der zunehmenden Gefahr der Fremdenfeindlichkeit — auch diese ist im Bericht angesprochen worden — müssen wir Verständnis für die ausländischen Bürger und ihre Situation in Deutschland wecken. Auch das ist eine Aufgabe der politischen Bildung. Es geht, wie es der Bericht der Bundesregierung ganz schlicht und prägnant ausdrückt, um die Herstellung von Kommunikation und darum, Begegnung zu schaffen. Auch da sind neue Begegnungsformen und neue Formen der politischen Bildung möglich.
Für die neuen Bundesländer ist in diesem Zusammenhang auch die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus erforderlich. In der alten DDR ist die Analyse des Dritten Reiches zu knapp geraten. Die SED hat sich allzuoft schnell mit dem Begriff ,,Antifaschismus" aus der geschichtlichen Verantwortung gezogen und hat ihn lediglich zur Begründung des eigenen, sozialistischen Systems mißbraucht.
Heute, nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes, trägt dieser Begriff nicht mehr. Mit dem Protest gegen die Diktatur ist er als staatlich verordnete Haltung auch in Verruf geraten. Politische Bildung muß heute zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit kommen und zu einer innerlich selbständig erworbenen Ablehnung des Rechtsradikalismus führen. Eine solche innere Einstellung ist dann auch tragfähig zur Abwehr rechtsradikaler Parolen und rechtsradikaler Ansinnen, die es auch heute wieder gibt.
Lassen Sie mich am Ende noch ein Wort zu den Finanzen sagen. Die Forderung nach einer Verstetigung der Mittel hören wir schon lange. Ich will auch hier sagen: Man sollte heute keine Absage erteilen. Nur gewinne ich, wenn ich mir z. B. die bunte Palette der Angebote anschaue, die inzwischen in vielen Städten und Gemeinden vorhanden sind, oft den Eindruck, daß der zuweilen enge Finanzrahmen nicht unbedingt qualitätsmindernd sein muß und Zeiten knapper werdender Mittel auch durchaus kreativitätsfördernd sein können, was uns als Politiker natürlich nicht aus aller Pflicht entläßt.
Dieselbe Flexibilität, die von den Trägern der politischen Bildung bei ihrer Tätigkeit zu erwarten ist, müssen auch wir zeigen, wenn es darum geht, bei den Haushaltsberatungen die jährlich notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies wird uns um so einfacher g elingen, wenn mein persönlicher Wunsch — das ist ja wohl Wunsch aller Diskussionsredner — in Erfüllung geht, daß nämlich die Seminare und Programme zur politischen Bildung in ganz Deutschland von möglichst vielen Teilnehmern wahrgenommen und besucht werden. Ich glaube, das ist auch ein Stück Druck, den wir nötig haben, um die Kraft zu finden, das zur Verfügung zu stellen, was wir brauchen.
Schönen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Siegfried Vergin das Wort.
Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesregierung über Stand und Perspektiven der politischen Bildung bedarf drin-
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Siegfried Vergingend der Nachbesserung durch den Deutschen Bundestag. Nachbesserung ist nötig, weil dieser Bericht ungenügend ist. Besonders interessant ist er in dem Teil, der nicht enthalten ist. Dort, wo konkrete Antworten auf die Herausforderungen der veränderten politischen Situation gefragt sind, liefert die Regierung nur Überschriften und Allgemeinplätze.
Auf die vom Parlament im Oktober 1990 beschlossenen Vorgaben geht der Bericht gar nicht ein. Die Auseinandersetzung mit den im Anhang erfreulicherweise dokumentierten Stellungnahmen der Träger ist mehr als dürftig. Ihre Fragen und Forderungen werden, wenn sie überhaupt aufgenommen werden, weder ausreichend diskutiert noch beantwortet. Die Ergebnisse der Anhörung zu Fragen der politischen Bildung im Mai 1989 sind an der Bundesregierung offenbar spurlos vorübergegangen. Wir Sozialdemokraten werden diese Versäumnisse bei den Beratungen in den Ausschüssen detailliert auf den Tisch bringen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, immer noch liegt die überregionale Federführung für den Bereich politische Bildung beim Bundesinnenministerium. Dies halte ich für unsinnig.
Dabei berufe ich mich unter anderem auf die bereits erwähnte Anhörung zur politischen Bildung. Ich zitiere:Umfassende Bildung ist eben nur möglich in Verbindung von allgemeiner, beruflicher und politischer Bildung. Ein solcher Bildungsansatz ist Voraussetzung für gesellschaftliche Reformpolitik und für die weitergehende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche.Dies ist ein Kernpunkt der Inhalte wie der Organisation politischer Bildungsarbeit, der im Bericht der Bundesregierung vernachlässigt wird. Wir brauchen ein integratives Konzept, das allgemeine, berufliche, politische und kulturelle Bildung zusammenführt und verzahnt. Deswegen, meine Damen und Herren, für übergreifende Bildungsaufgaben ist das Bildungsministerium zuständig. Dort muß die Koordination zwischen den einzelnen Fachressorts stattfinden. Dort muß natürlich in enger Zusammenarbeit mit den Ländern und den Trägern selbst eine übergreifende Konzeption erarbeitet werden.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, der von uns seit fünf Jahren verlangte Bericht versagt völlig, wenn es gilt, finanzielle Perspektiven aufzuzeigen. Die postulierten Ziele und Ideale können nur erreicht werden, wenn dafür auch die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Wir Sozialdemokraten werden in den Ausschußberatungen den Finanzbedarf auch der freien Träger und die derzeit gültigen Richtlinien zur Vergabe von Fördermitteln zum Thema machen.Heute nur so viel: Eine Verstetigung der Haushaltsansätze ist notwendig, um sowohl den Beschäftigten eine größere Arbeitsplatzsicherheit zu bieten als auch den Trägern politischer Bildung ein Minimum an Planungssicherheit zu geben.Auf die sich in den neuen Bundesländern entwikkelnden Träger werden wir unser besonderes Augenmerk richten. Nur so kann eine Pluralität der Träger, die auch die Bundesregierung postuliert, langfristig erhalten bleiben. Gleichzeitig muß die qualifizierte Weiterbildung des Personals in der politischen Bildung gesichert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung braucht Nachhilfe, weil sie in ihrem Bericht nicht gebührend auf konzeptionelle Überlegungen für die alten und die neuen Länder eingeht.
Es fehlen Hinweise auf die Beziehungen zwischen schulischer und außerschulischer politischer Bildung, vor allem auch für die berufliche Erstausbildung. Interkulturelle Erziehung ist für diese Bundesregierung offenbar kein Thema. Europäische Bildung, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt werden nur oberflächlich angesprochen.
— Oh doch!Wir müssen uns überlegen — die Bundesregierung hat dies offenbar nicht getan —, wie wir die Medien sinnvoll nutzen und in Zusammenarbeit und ständiger Kommunikation mit ihnen strategische Allianzen bilden können, um der politischen Bildung größere Breitenwirkung zu verschaffen.Wie die Antwort der Bundesregierung auf die von mir gestellte schriftliche Frage zeigt, scheint sie immer noch nicht begriffen zu haben, daß neue Konzepte für die politische Bildung in der neuen Bundesrepublik von den Befindlichkeiten, den konkreten Lebensbedürfnissen und Erfahrungen der Menschen in beiden Teilen des aus zwei Systemen zusammengewachsenen Deutschland ausgehen müssen. Hier hätten wir von dem Bericht mehr Hilfe erwartet.Ich fordere Sie, Herr Staatssekretär, auf, das Personal so aufzustocken und die Bundeszentrale für politische Bildung so zu strukturieren, daß Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den neuen Ländern als gleichberechtigte, gestaltende Partner in ihr arbeiten können.
Im Gegensatz zur Bundesregierung bin ich nicht der Meinung, daß sich politische Bildung nur als Angebot für interessierte Bürger verstehen darf. Der Rückzug in die Privatsphäre kann nicht akzeptiert werden. Gerade politische Bildung muß sich Gedanken darüber machen, wie sie die Menschen erreichen kann, die nicht von vornherein ein Interesse an Politik mitbringen oder die sich offen oder verdeckt gegen den demokratischen Staat und seine Repräsentanten richten. Politikverdrossenheit, Rechtsextremismus und Antisemitismus sind hier für mich die Stichworte.Politische Bildung darf keine Berührungsängste haben; sie muß den Dialog suchen und einen Rahmen für Dialoge schaffen. Das gilt in den neuen wie in den alten Bundesländern. An diesem Dialog müssen mög-
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Siegfried Verginliehst viele Menschen beteiligt sein. Sie müssen lernen, sich einzumischen, mitzureden, mitzuentscheiden, am Interessenausgleich und an friedlichen Konfliktlösungen mitzuwirken, um so unseren Staat zu gestalten.
Politische Bildung darf nicht schönreden, nicht Gesinnung verordnen bzw. verurteilen und nicht nur Institutionen beschreiben.Die Bundesregierung beginnt ihren Bericht mit den schönen Worten — ich zitiere —:Der demokratische Staat und die ihn tragende Gesellschaft sind auf das Engagement und die Kompetenz ihrer Bürger angewiesen.Ich möchte hinzufügen: Die Träger politischer Bildung sind auf das Engagement und die Kompetenz der Bundesregierung angewiesen. Leider ist von diesen beiden in dem Bericht wenig zu spüren.Die SPD-Fraktion stimmt der Überweisung an die Ausschüsse zu.
Meine Damen und Herren, ich habe noch die Rede unseres Kollegen Dr. Fritz Schumann vorliegen. Er möchte diese Rede zu Protokoll geben. Das ist eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Ich bitte Sie einverstanden zu sein, daß wir dem entsprechen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.*)
Nun erteile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Eduard Lintner, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß der Deutsche Bundestag heute über einen Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven politischer Bildung in unserem Lande eine Plenardebatte führt, freut mich sehr. Das ist leider ein sehr seltenes Ereignis. Vor mehr als zwei Jahrzehnten, genauer gesagt: am 15. November 1968, war sage und schreibe die letzte Debatte dieser Art.
Auch ihr lag ein Bericht der Bundesregierung zugrunde.Ich möchte, um Wiederholungen zu vermeiden, nun nicht noch einmal grundsätzliche Ausführungen zu Zielen und Grundelementen politischer Bildung machen. Die Auffassung der Bundesregierung hierzu geht aus dem vorliegenden Bericht klar hervor. Sie können sie dort nachlesen. Ich möchte statt dessen die Zeit nutzen, auf einige wenige, besonders wichtige Punkte hinzuweisen.Das eine ist die Fülle und Breite der aktuellen Aufgaben, vor denen die politische Bildung heute steht. Dies unterscheidet im übrigen die Situation im*) Anlage 3Jahre 1992 grundlegend von der früherer — aus der Rückschau ist man versucht zu sagen: ruhigerer Jahre. Immer neue Themen werden zu dringenden Aufgaben politischer Bildung. Ich nenne hier nur das Thema Umweltschutz, das Asylrecht und die damit zusammenhängenden Probleme, die Beziehungen zwischen armen und reichen Ländern, das Scheitern des Sozialismus und Auseinanderbrechen des Ostblocks und der Sowjetunion und die damit verbundenen, im einzelnen noch gar nicht absehbaren Folgen.Hinzu kommen die Probleme innerhalb unserer Gesellschaft. Hier möchte ich nur auf die Bemühungen um die Gleichstellung der Frau hinweisen. Auch die allgemeinverständliche Aufklärung über die Prinzipien des Rechtsstaats, des Föderalismus oder auch des Sozialstaats im Ostteil unseres Landes ist eine anspruchsvolle Aufgabe, und die Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen.Auf den zuletzt genannten Aspekt möchte ich noch näher eingehen, nämlich auf die Aufgaben politischer Bildung im Zusammenhang mit der deutschen Einigung. Seit dem 3. Oktober 1990 ist auch für die politische Bildung eigentlich nichts mehr, wie es war. Die innere Einigung der Deutschen ist zu der Aufgabe der vor uns liegenden Jahre geworden. Sie erfordert ein Umdenken auch der Bürger in den alten Bundesländern, eine weniger egozentrische Denkweise, mehr Verständnis für diejenigen Bürger, die vier Jahrzehnte in der ehemaligen DDR leben mußten und deshalb einen Nachholbedarf an politischer Bildung und Information haben.Die Veränderungen greifen tief in das Alltagsleben der Menschen in den neuen Bundesländern ein. An die Stelle von Enge, Mangel und Bevormundung, aber auch Überschaubarkeit ist jetzt ein Leben getreten, das eigenständiges Handeln und Risikobereitschaft erfordert, noch dazu innerhalb eines diesen Menschen nicht vertrauten politischen und gesellschaftlichen Systems. Beim Verkraften dieses Wandels zu helfen, Vorurteile in Ost und West abzubauen und über die Jahre die innere Einigung zu bewirken ist heute d i e herausragende Aufgabe der politischen Bildung.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält es daher für angemessen, auch nach der Auflösung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen und des Gesamtdeutschen Instituts weiter von einer deutschlandpolitischen Bildungsarbeit im Sinne eines integrativen Wirkens zu sprechen und dieser noch für einige Jahre einen besonderen Rang einzuräumen.
Dazu ist gefragt worden, wieviel Bewohner der neuen Bundesländer denn in der Bundeszentrale für politische Bildung tätig und dort mit konzeptionellen Aufgaben betraut seien. Nach meiner Meinung ist das viel zu äußerlich gesehen.
Es kommt nicht darauf an, wo oder von wem der Sachverstand aus der ehemaligen DDR genutzt wird, sondern daß er genutzt wird.
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerDas geschieht im übrigen auf vielfache Weise und nicht nur durch die zahlreichen Mitarbeiter des Gesamtdeutschen Instituts, die jetzt zur Bundeszentrale gehören.Erfreulicherweise hat sich seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit auch eine enge Zusammenarbeit zwischen der Bundeszentrale und dem früheren Gesamtdeutschen Institut auf der einen und den neu entstehenden Landeszentralen für politische Bildung in den neuen Bundesländern auf der anderen Seite entwickelt; eingeschlossen sind zugleich umfangreiche materielle Aufbauhilfen seitens des Bundes.
Zu der Anhörung, die das Bundesministerium des Innern in Königswinter im Vorfeld der Erstellung des Berichts der Bundesregierung zur politischen Bildung durchgeführt hat, waren beispielsweise selbstverständlich auch die neuen Landeszentralen bereits eingeladen.
— Immerhin haben Sie das vorhin kritisiert. Demzufolge darf ich das ja wohl herausstellen,Meine Damen und Herren, urn Material für alle konzeptionellen Überlegungen zu gewinnen, hat die Bundesregierung aber noch ein weiteres getan. Parallel zur Erstellung dieses Berichts wurde eine empirische Bedarfsanalyse beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegeben. Durch eine repräsentative Befragung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern sollen die Ansatzpunkte für eine möglichst effektive politische Bildungsarbeit gefunden werden.
Dazu gehören z. B. Fragen der Nutzung von Fernsehen, Hörfunk und Video ebenso wie etwa Fragen der Struktur der inhaltlichen Nutzung im Hinblick auf politische Magazine, Spielfilme, Unterhaltungssendungen usw. Ferner werden das Freizeitverhalten im Hinblick auf die Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen oder kulturellen Veranstaltungen sowie die Einstellung der Bevölkerung zu den Kräften, die zu den Schrittmachern der Wende gezählt werden, untersucht.Eine Sekundäranalyse repräsentativer Umfragen seit März 1990 soll Aufschluß über weitere für die Konzipierung staatlicher politischer Bildungsarbeit in den neuen Ländern wichtige Fragestellungen geben. Die Analyse umfaßt z. B. folgende Themenfelder: politisches Interesse und Partizipation, Orientierungsbedarf und Orientierungswissen, Informations- und Kommunikationsverhalten, Verarbeitung des Systemwechsels, Akzeptanz des demokratischen Systems und Stimmungslage sowie Zukunftsperspektiven.Ein weiterer Teil der Umfrage behandelt den für die politische Bildungsarbeit wichtigen Bereich der Multiplikatoren und Meinungsführer in den neuen Bundesländern. Untersucht werden hier z. B. deren Informationsbedürfnisse, Themeninteressen, bevorzugteInformationsquellen, Bedarf an Informationsmaterial sowie deren Urteil über ausgewählte Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung. Die endgültigen Ergebnisse der einzelnen Teile der Umfrage werden in Kürze vorliegen. Sie sollen veröffentlicht werden und stehen selbstverständlich auch den freien Trägern für die Planung und Orientierung der Bildungsarbeit in den neuen Ländern dann zur Verfügung.Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Geld: Es heißt ja oft — vorhin war es wieder zu hören —, die Haushaltsmittel für die politische Bildung seien gekürzt worden. Zu diesem Ergebnis kann kommen, wer die im Jahr 1991 für die Bundeszentrale und aus dem Etat des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen aufgewandten Haushaltsmittel mit den für die Aufgaben der Bundeszentrale — also auch die deutschlandpolitische Bildungsarbeit im Jahr 1992 — vorgesehenen Mitteln vergleicht. 1991 war insoweit ein Ausnahmejahr, das als Vergleichsbasis sinnvollerweise nicht herangezogen werden kann. Immerhin stehen 1992 auch 67,5 Millionen DM zur Verfügung; im Vergleich zu 70,4 Millionen DM im Jahr 1991. Sie sehen also: Trotz der Besonderheit des Jahres 1991 ist die Kürzung für 1992 sehr, sehr gering a usgefallen.Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, dabei aber zu bedenken, daß ein großer Teil der Aufgaben des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen — man muß feststellen: erfreulicherweise — entfallen ist.Für 1993 gilt: Die heutige Plenardebatte soll — schon dadurch, daß sie stattfindet — in der Öffentlichkeit für die politische Bildung werben. Vielleicht hat sie diese Wirkung ja auch bei unseren Kollegen im Haushaltsausschuß, die wir gemeinsam brauchen, wenn wir mehr Mittel zur Verfügung gestellt bekommen wollen.Ich danke Ihnen.
Ich schließe damit die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 47 zu Petitionen
— Drucksache 12/1993 —Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für dieses Thema eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. — Dazu gibt es ebenfalls keinen Widerspruch. Dann ist das so besprochen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6577
Vizepräsidentin Renate SchmidtIch eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Professor Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde heute nachmittag hat deutlich gezeigt, daß die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern dramatische 16 % erreicht hat. In manchen Regionen in Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern ist die Marke von 30 überschrillen.Die soziale Verantwortungslosigkeit im Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft kann die Zustimmung zur deutschen Einheit, so fürchte ich, in Teilbereichen ins Wanken bringen. In den alten Bundesländern kann die Zustimmung zu einem Prozeß des Zusammenwachsens beeinträchtigt werden, insbesondere wenn die Belastung steigt.„Keinem soll es schlechter gehen, den meisten aber besser" wer kennt nicht das Zitat? — war die Ideologie, mit der die notwendigen Übergangsprozesse angegangen werden sollten, wie die Bundesregierung immer wieder betonte. In Wahlkampfreden und in Glanzbroschüren wird man diese Behauptung auch noch zwei Jahre nach Beginn des Umstellungsprozesses in der ehemaligen DDR ohne Widerspruch aufstellen können,Wenn Sie aber, Kolleginnen und Kollegen, als Mitglied des Petitionsausschusses tagtäglich Akten zur sozialen Lage in großen Teilbereichen unserer Gesellschaft lesen müssen, erleben Sie eine Realitätsdichte, die ich bisher in vielen Debatten zur sozialen Situation in Deutschland, in den Reden des Bundestages vermißt habe und, ich ergänze noch: von denen ich vorher in meinem privaten Leben nie geglaubt habe, daß es so etwas gibt.Nicht nur ist die Zahl der Petitionen ein guter Gradmesser für die soziale Befriedung in unserem Lande, auch die Gebiete, zu denen Petitionen eingehen, zeigen, wo den Bürgern der Schuh drückt und wo es an der sozialen Absicherung der Schwachen in dieser Gesellschaft mangelt.Wenn in kurzer Zeit zur Beantragung von Arbeitslosenhilfe von den neuen Bundesbürgern die Bedürftiqkeit nachgewiesen werden muß, urn weitere Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit zu beziehen, ist sozialer Unfriede mit Sicherheit zu erwarten.Bei der Petition, die heute als Änderungsantrag meiner Fraktion zur Diskussion steht, geht es nicht um die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit und deren sinnvollen Einsatz in den neuen Bundesländern, sondern auch um die Aufbringung der Prämien, die die Kassen der Bundesanstalt füllen bzw. füllen sollen.Die Wirtschaftsstruktur der ehemaligen DDR und ihre Umstellung auf die Marktwirtschaft ist, so meinen wir, eine Aufgabe von nationaler Verpflichtung. Sie ist eng verbunden mit einer Strukturpolitik zum Erhalt einer traditionellen Industrie und moderner Dienstleistungen, die über die erschütterungsfreie Weiterexistenz unseres Landes in hohem Maße entscheiden wird.Es wäre die moralische und politische Pflicht der Bundesregierung gewesen, den Bürgerinnen und Bürgern nicht nur deutlich zu machen, daß die Aufgabe der Sanierung der neuen Bundesländer viel Geld kostet, sondern auch deutlich zu zeigen, daß es sich bei den politischen Aufgaben in den neuen Bundesländern um eine wirtschaftliche und soziale Aufgabe neuer Qualität handelt, deren Finanzierung von allen Mitgliedern der Gesellschaft und nicht nur von den Arbeitnehmern und Arbeitgebern über die Sozialversicherung, die Arbeitslosenkasse, weniger über die Krankenkasse, aber vor allen Dingen über die Rentenversicherung getragen werden muß.Diese Ansicht vertreten auch die Absender der Petition aus Eisenach, die als Arbeitnehmerinnen die bisherigen Regelungen, nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber an den sozialen Kosten der deutschen Einheit zu beteiligen, für zutiefst ungerecht halten.
Nun sind seit Bestehen dieser Republik gerade bei wirtschaftlichen Krisen die Argumente für die Beteiligung auch von z. B. Beamten und Selbständigen zur Genüge ausgetauscht. Meine Fraktion hat dazu immer wieder Initiativen ergriffen, die immer wieder von der F.D.P. und der CDU/CSU abgelehnt wurden. Eine Arbeitsmarktabgabe paßte und paßt offensichtlich nicht in die Ideologie dieser Regierung.Die Bedenken der Verfassung und der politischen Systematik können meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Sie überzeugen übrigens auch die Petentinnen nicht. Ja, in den neuen Bundesländern ist man vielerorts der Meinung, daß es sehr unkollegial sei, nur die Kolleginnen und Kollegen, die im Osten und im Westen Arbeit haben, an den Kosten der Arbeitslosigkeit zu beteiligen. Nicht nur die Sozialpartner sind zur Solidarität gefordert. Die Defizithaftung des Bundes nach § 187 AFG, die immer wieder angeführt wird, ändert an dieser Tatsache, daß das Grundprinzip der solidarischen Bewältigung des Einigungsprozesses nicht gegeben ist, vermutlich auch nicht gewollt war.Der befristete Solidarbeitrag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, der immer als zweites Argument vorgetragen wird, ist, denke ich, kein Ersatz für diesen grundsätzlichen Mangel der Verteilung der Solidaritätslasten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben in den letzten Jahren Leistungen in zweifacher Milliardenhöhe aufgebracht. Die Verzögerung der Beamtenbesoldung von Monaten ist kein Äquivalent, das die grundsätzliche Frage beantwortet. Es ist sozial verwerflich, die Gruppe der Selbständigen und Beamten nicht an der Finanzierung der deutschen Einheit zu beteiligen.
Sie ist auch eine soziale und wirtschaftspolitische Frage, da sich alle Bürgerinnen und Bürger an der deutschen Einheit beteiligen. Wo soll sich neue deutsche Identität stiften, wenn nicht an einer gemeinsamen Sozialität?Ich weiß nicht, ob Sie von der Regierungskoalition argumentieren wollen, den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den neuen Bundesländern könne es schließlich egal sein, wer in welcher Höhe ihre Arbeitslosigkeit bezahlt; Hauptsache sei, sie werde
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6578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Dr. Peter Eckardtbezahlt. Aber am Tropf derer zu hängen, die in den alten Bundesländern nicht zu den Wohlhabendsten gehören, ist besonders dann nicht zu akzeptieren, wenn über die bisherigen Mittel weitere Milliarden notwendig werden, um den Aufschwung in den neuen Bundesländern weiter zu finanzieren, der ja real eintreten muß und nicht herbeigeredet werden kann, wie manche in der Regierung offensichtlich meinen.Die Petentinnen aus Thüringen haben mit ihrem Wunsch eine bemerkenswerte Realität gezeigt, die dokumentiert, daß eine Arbeitsmarktabgabe eine sinnvolle sozialpolitische Forderung ist, die den Grundprinzipien unseres Grundgesetzes nach Solidarität und eines allgemeinen Füreinanderstehens entspricht.Ich bitte Sie herzlich darum, entgegen dem Votum des Petitionsausschusses die vorgelegte Petition als Änderungsantrag der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen.Ich bedanke mich.
Nun hat das Wort der Kollege Franz Romer.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Diskussion im Petitionsausschuß über die vorliegende Sammelübersicht 47 hatte meines Erachtens eindeutig geklärt, daß die derzeitige Form der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik die richtige ist. Eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige stellt keinen Fortschritt dar und ist rechtlich fragwürdig. Daher erscheint mir die heutige Aussprache zu diesem Thema überflüssig wie ein Kropf.
Man fragt sich unwillkürlich: Was will die Opposition damit bezwecken?Doch zunächst zur Sachlage. Es war klar, daß die Bundesanstalt für Arbeit den Neuaufbau des Arbeitsmarkts in den neuen Ländern nicht aus den vorhandenen Mitteln finanzieren konnte. Daher wurde entsprechend dem Solidarprinzip am 1. April 1991 der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte erhöht. Die durch die Erhöhung entstandenen Mehreinnahmen kamen den neu hinzugekommenen Bundesbürgern im Osten zugute. Das Solidarprinzip der Sozialversicherung verlangte also die Umlegung der Belastungen auf die Leistungsberechtigten. Es wurde daher keinesfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, wie uns die Opposition glaubhaft machen will. Mittlerweile wurde der Beitragssatz wieder um 0,5 auf 6,3 % gesenkt. Bei einer günstigen Entwicklung besteht auch nach § 174 Abs. 2 AFG
die rasche Handlungsmöglichkeit einer weiteren Herabsetzung.In einigen Petitionen war zu lesen, die Bundesregierung habe die Bundesanstalt für Arbeit finanziell im Stich gelassen. Das Gegenteil ist wahr: Die Bundesregierung hat der Bundesanstalt für Arbeit bereits im Haushaltsjahr 1991 einen Zuschuß von 2,3 Milliarden DM eingeräumt. Darüber hinaus hat sie für aktive Arbeitsmarktpolitik im Osten für das Jahr 1992 36 Milliarden DM eingesetzt. Sie hat die Bundesanstalt und deren Beitragszahler dadurch entlastet, daß der Vorruhestand in den fünf neuen Ländern vollständig aus Bundesmitteln, also aus Steuergeldern, bestritten wird. Dafür sieht der Haushalt 1992 4,8 Milliarden DM vor.Die deutsche Einheit und große Veränderungen in der Weltpolitik haben schwerwiegende finanzielle Belastungen für die Bundesrepublik mit sich gebracht. Sie zu tragen ist die Aufgabe aller Deutschen.
— Hören Sie einmal zu, dann werden Sie es hören. — Aus diesem Grunde wurde am 1. Juli vergangenen Jahres der Solidaritätszuschlag für ein Jahr eingeführt. Ferner wurde die Besoldungsanpassung für Beamte um zwei Monate verzögert. Dadurch wurde eine allgemeine solidarische Beteiligung aller an den Sonderlasten erreicht.
Es ist also falsch zu behaupten, es gebe Ungleichgewichte und Ungleichbehandlungen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wissen dies wohl auch, aber Sie verfolgen offenbar wieder Ihre berühmte Doppelstrategie: Auf der einen Seite verweigern Sie sich— mit der rühmlichen Ausnahme von Ministerpräsident Stolpe — bei dringend notwendigen solidarischen Maßnahmen wie dem Steuerpaket, auf der anderen Seite klagen Sie die Regierung an, bei der Verteilung der Lasten ungerecht zu sein. Es klingt ja auch sehr fürsorglich, wenn man notwendige Erhöhungen von Beitragssätzen und Steuern kritisiert und beklagt,
aber gleichzeitig andeutet, daß die Politik der Bundesregierung einige Bevölkerungsgruppen bevorzuge.
Das ist nicht wahr, und das wird auch nicht dadurch wahrer, indem Sie Petitionen unterstützen, die auf Grund solcher Fehlinformationen entstehen.In Wirklichkeit ist die Arbeitsmarktabgabe nämlich ein furchtbar alter Hut. Bereits 1973 hat der Arbeitsförderungsbericht der Regierung Brandt — ich habe ihn hier; Sie können ihn lesen — zur Beteiligung von Selbständigen und Beamten an der Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik grundsätzlich festgestellt: Beamte und Selbständige sind keine stillen Nutznießer der Bundesanstalt für Arbeit. Also ist es auch nicht vertretbar, sie für deren Leistungen zahlen zu lassen.
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Franz Romer— Auch das ist ein Prinzip der Gerechtigkeit, und das hat sich auch nach 20 Jahren nicht geändert.
Der Bericht sprach sich genauso deutlich gegen eine damals als Arbeitsmarktbeitrag bezeichnete Sonderabgabe aus.Gegen die Einbeziehung der Beamten erhoben sich gewichtige rechtliche und politische Bedenken. So wäre nämlich zuerst die Frage zu klären, inwieweit Beamte, die die Arbeitsförderung mitfinanzieren, auch Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz nutzen könnten. Auch gegen eine Arbeitsmarktabgabe von Selbständigen gab es den Einwand, daß man ihnen die Leistungen dann auch in vollem Umfang zukommen lassen müßte.Hier aber liegt das Hauptproblem. Wenn man Beamten und Selbständigen jetzt eine Arbeitsmarktabgabe abfordert, dann muß man gerechterweise das gesamte System der Arbeitsförderung ändern. Das wäre eine Umstellung, die die Arbeitsmarktpolitik jedoch eher erschweren als entlasten würde. Zudem ist zu fragen, ob eine zusätzliche Nachfrage nach Leistungen durch Beamte und Selbständige das gerade Gewonnene nicht wieder aufzehrt. Bei den Selbständigen erheben sich heute — wie 1973 — zudem auch praktische Bedenken: Wie sollte man die Arbeitsmarktabgabe ermitteln? Hier würde nur neue Verwaltungsbürokratie gebunden.Bleibt die Frage, warum Sie, meine Damen und Herren von der SPD, so großen Wert auf unrealistische Konzepte legen. Vielleicht wollen Sie ja nur wieder von Ihrer politischen Konzeptionslosigkeit ablenken. Aber vielleicht trifft auch hier das mittlerweile berühmte Wort von Herrn Klose zu, daß Sie nämlich Ihre Politik an der wirklichen Wirklichkeit vorbei gestalten. Oder ist dieser Antrag etwa auf ein Zwischenchaos in Ihrer Fraktion zurückzuführen?Vielleicht kann mir der Kollege Horst Peter weiterhelfen. Laut „Kölner Stadtanzeiger" hat er besonderen Einblick in den wahren Zustand seiner Partei. Er hat nämlich festgestellt: Die SPD ist tatsächlich so, wie es in den Zeitungen steht. — Und dort stand in den letzten Wochen wenig Positives.
Meine Damen und Herren, das gegenseitige Ausspielen von Ostdeutschen gegen Westdeutsche, von Selbständigen gegen Angestellte, von Sozialversicherungszahlern gegen Beamte nutzt niemandem. Nur die Solidarität aller dieser Gruppen ermöglicht es, den Wiederaufbau Ostdeutschlands zu finanzieren. Nur die konsequente Fortführung dieser solidarischen Politik, dieses Gemeinschaftswerkes, ermöglicht den Aufschwung Ost.
Konzepte, die schon vor zwanzig Jahren verworfen wurden, helfen uns nicht weiter. Daher bitte ich Sie um die Ablehnung des Antrags der SPD-Fraktion.Danke schön.
Nun hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine wenigen Damen und Herren!
— Ich meinte es nur von der Quantität her, nicht von der Qualität. — Ich begrüße es, daß wir uns durch die vorliegende Petition knapp ein Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit mit damit unmittelbar verbundenen Konsequenzen auseinanderzusetzen haben. Die PDS/Linke Liste unterstützt die Forderung des Petenten nach einer Arbeitsmarktabgabe für Selbständige und Beamte sowie eine finanzielle Beteiligung der Bundesregierung an den Kosten, die für die soziale Sicherheit der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern entstehen, und damit auch den von der SPD eingebrachten Änderungsantrag auf Überweisung an die Bundesregierung.Die in der Beschlußempfehlung angeführten Argumente für einen Abschluß des Petitionsverfahrens, wie etwa den Verweis auf die zweimonatige Verzögerung der Anpassung der Beamtenbezüge, überzeugen Kritikerinnen und Kritiker an den herrschenden Verteilungsmechanismen keineswegs. Die Finanzierung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik insbesondere für die neuen Bundesländer ist zweifellos eine große Herausforderung. Doch die Tatsache, daß nach wie vor zuallererst Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Kasse gebeten werden, betrachte ich heute wie vor einem Jahr als einen untauglichen Versuch zur Lösung der anstehenden Probleme mit einem unsozialen Lösungsansatz.Die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zum 1. April vergangenen Jahres traf und trifft insbesondere Niedrigverdienende. Selbständige, Beamte und Freiberufler und nicht zu vergessen auch Bundestagsabgeordnete werden dagegen gar nicht und Höherverdienende unterproportional zur Kasse gebeten. Auf die Absurdität, Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktpolitik einem rein beitragsfinanzierten Versicherungssystem zu übertragen, verwiesen Expertinnen und Experten schon frühzeitig.Die PDS/Linke Liste fordert im Sinne der immer wieder heraufbeschworenen Solidargemeinschaft eine gerechtere und angemessenere Einbeziehung aller in Form einer Ergänzungsabgabe für Höherverdienende, außerdem statt der Abschaffung der Vermögensteuer eine zusätzliche Abgabe von Privatpersonen mit einem steuerlichen Vermögen von über 500 000 DM. Wir erwarten, daß die Bundesregierung ihrerseits einen wirksameren Beitrag zur Lösung der durch die Arbeitslosigkeit entstandenen Not leistet.
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6580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Nun kommt die Kollegin Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben eine Petition, über die wir heute diskutieren, eine Petition, die sich auf das Gesetz zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit bezieht und für den Aufbau in den neuen Bundesländern eine Arbeitsmarktabgabe fordert, die auch Beamte und Selbständige zahlen sollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD —Herr Eckardt, Sie hatten das vorhin schon angesprochen —, es ist mir eigentlich unverständlich, warum die SPD das Thema einer Arbeitsmarktabgabe hier an Iland dieser Petition noch einmal aufgreift, weil es, wie wir ja schon gehört haben, nicht neu ist.
Schon 1969 in der Großen Koalition hat man es hier diskutiert; man hat es in den Jahren 1977 bis 1980, während der Sozialliberalen Koalition, kontrovers diskutiert.
— Die F.D.P. hat schon damals die richtige Meinung gehabt, und die vertritt sie natürlich auch heute wieder, Herr Kollege.
lm vergangenen Jahr erst hat der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung diese Ausdehnung der Arbeitsmarktabgabe auf Beamte, Richter und Soldaten abgelehnt. Ich kann den Kollegen Romer nur unterstützen. Die Argumente sind die gleichen geblieben. Auch die unterschiedlichen Situationen auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen diese Diskussion nicht, weil die Argumente, die dagegen sprechen, grundsätzlicher Natur sind.
Die F.D.P. bleibt also dabei: Die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige ist ein Sonderopfer für bestimmte Bevölkerungsgruppen, das wir als unannehmbaren Vorschlag ablehnen.
Es geht nicht, bestimmte Bevölkerungsgruppen über die Arbeitsmarktabgabe zusätzlich zur Kasse zu bitten,
es ist unfair, weil diese aus der Arbeitslosenversicherung keinerlei Leistung erwarten können.
Ganz abgesehen davon wäre diese Abgabe auch verfassungsrechtlich sehr bedenklich, da das auch mit dem nach dem Grundgesetz gebotenen Äquivalenzprinzip — angemessenes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung — nicht zu vereinbaren ist. Das hat übrigens 1977 die SPD-geführte Bundesregierung in einem Bericht nach § 239 Arbeitsförderungsgesetz schon einmal festgestellt.
Ich kann nur sagen: Diese Feststellung damals war richtig.
Ein weiterer Punkt, der hier eine Rolle spielt, ist die Einbeziehung von Selbständigen und Freiberuflern in die Arbeitsmarktabgabe. Der Kollege Eckardt hat vorhin gesagt, es sei verwerflich, die Selbständigen und Beamten nicht an der Finanzierung der Einheit Deutschlands zu beteiligen. Es ist absolut unrichtig, was Sie sagen. Die sind natürlich beteiligt. Die zahlen genauso wie alle anderen z. B. den Solidaritätszuschlag. Vor allen Dingen zahlen Selbständige natürlich auch zusätzliche Beiträge zur Arbeitslosenversicherung durch die Erhöhung für ihre Arbeitnehmer
Ihre Argumentation ist schlicht und ergreifend nicht nachvollziehbar, wenn Sie sagen, man darf diese Finanzierung nicht auf nur zwei Bevölkerungsgruppen, nämlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, verlagern. Das haben Sie in der Begründung Ihres Änderungsantrages geschrieben. Wenn Sie aber Selbständige miteinbeziehen, belasten Sie die doppelt, einmal damit, daß sie durch höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für ihre Arbeitnehmer zusätzliche Kosten haben, und zum anderen dadurch, daß sie eine Arbeitsmarktabgabe für sich zahlen sollen. Das kann ich nun wirklich nicht nachvollziehen. Das wäre eine Mehrfachbelastung. Das kann man ganz sicher nicht als gerecht bezeichnen.
Ein weiterer Grund, genau wie bei den Beamten, ist, daß Selbständige wie Freiberufler keinerlei Leistungsansprüche haben und insofern dieser Abgabe keinerlei Äquivalent gegenübersteht.
Die Bundesanstalt für Arbeit unternimmt gewaltige Anstrengungen, um die soziale Sicherung der Arbeitslosen und Kurzarbeiter in den neuen Ländern zu leisten. Herr Kollege Romer hat hier schon einige Daten genannt. Wir haben in erheblichem Umfang Fördermittel eingesetzt, die belegen, daß die Bundesregierung aus dem Topf der frei verfügbaren Finanzmittel schon heute eine Menge in diesen Bereich investiert und damit ihrem Auftrag gerecht wird.
Es bleibt im Fazit festzustellen, daß Vorschläge wie der Vorschlag zur Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige nicht dadurch besser werden, daß man sie gebetsmühlenartig wiederholt.
Wie begründet ist die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für die F.D.P. ein untaugliches und in höchstem Maße unausgewogenes, ungerechtes Instrument. Wir schließen uns daher dem Votum des Petitionsausschusses an, das Petitionsverfahren abzuschließen.
Danke.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2117. Wer stimmt für diesen Ände-
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Vizepräsidentin Renate Schmidtrungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen.Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 10:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Menschenhandel —
— Drucksache 12/2046 —Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuß Ausschuß für Frauen und JugendNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Zu diesem Tagesordnungspunkt hat als erster der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung unterstützt den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Zwangsprostitution. Wir stehen vor der Tatsache, daß sich in diesem Bereich neue Erscheinungsformen der internationalen organisierten Kriminalität entwickelt haben, denen dringend Einhalt geboten werden muß. Die Bundesregierung begrüßt daher die in dem Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes insbesondere ausländischer Mädchen und Frauen vor den Gefahren des Menschenhandels und der Zwangsprostitution.
Besonders schutzwürdig sind ausländische Mädchen und Frauen, denen in ihrem Heimatland vorgespiegelt wird, sie könnten ihre schlechte wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland verbessern. Die traurige Wirklichkeit sieht dann oft so aus, daß die in der Regel als Touristinnen eingereisten Frauen — unter Ausnutzung ihrer I lilflosigkeit, die sich oft schon aus fehlenden Sprachkenntnissen ergibt — in Bordelle und Peepshows, aber auch auf dem Heiratsmarkt vermittelt werden.
Es darf nicht länger hingenommen werden, daß international operierende Zuhälterbanden aus der Not und dem Elend von Mädchen und Frauen vor allem aus der Dritten Welt rücksichtslos Kapital schlagen. Jede Form der sexuellen Ausbeutung von Frauen ist schärfstens zu mißbilligen und mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen.
Die notwendige Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes und damit der Strafverfolgung ist jedoch kein Allheilmittel. Sie wird sich in der Praxis der Strafverfolgung nur dann als wirksam erweisen, wenn die Situation der betroffenen Frauen durch flankierende Maßnahmen in anderen Bereichen insgesamt verbessert werden kann.
Zu denken ist z. B. an entwicklungspolitische Maßnahmen, die bereits in einem Expertengespräch angesprochen worden sind, das auf Initiative der entwicklungspolitischen Sprecherin der F.D.P.-Fraktion, Frau Walz, im Oktober letzten Jahres stattgefunden hat. Zu nennen sind hier außerdem Maßnahmen zur Verbesserung des Zeugenschutzes, wie sie in dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vorgesehen sind.
In ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates empfiehlt die Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes im Bereich des Menschenhandels und der Zwangsprostitution. Dazu gehört vor allem der Vorschlag, den strafrechtlichen Schutz auch solcher ausländischer Frauen zu verstärken, die zur Zeit der Tat in ihrem Heimatland bereits der Prostitution nachgehen und zur Fortsetzung der Prostitution in einem für sie fremden Land veranlaßt werden. Damit soll der Erkenntnis Rechnung getragen werden, daß Frauen aus der Dritten Welt dort häufig allein aus krasser Not Prostituierte sind und sie nach ihrer Anwerbung in Deutschland ebenfalls kaum eine Chance haben, sich hier aus ihrem Milieu zu lösen.
Hervorheben möchte ich außerdem die Empfehlung, die im Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vorgeschlagenen Maßnahmen zur Abschöpfung von Gewinnen aus Straftaten, insbesondere die dort vorgesehene neue Rechtsfolge des Erweiterten Verfalls, unter bestimmten Voraussetzungen auch im Falle eines Menschenhandels nach § 180b des Strafgesetzbuches anzuwenden.
Lassen Sie mich noch eines erwähnen: Wir haben in diesem Gesetzesvorschlag der Bundesregierung das erste Mal begonnen, maskuline Personenbezeichnungen im Strafgesetzbuch soweit wie möglich durch geschlechtsindifferente Formulierung en zu ersetzen, zumal es hier um den Schutz insbesondere von Mädchen und Frauen geht. Dies ist zurückzuführen auf einen ausdrücklichen Wunsch des Deutschen Bundestages. Wir versuchen, hier mit vernünftigen sprachlichen Formen die maskulinen Formen zu vermeiden.
Meine Damen und Herren, ich habe zweimal auf den engen Sachzusammenhang des hier beratenen Gesetzentwurfs zur Bekämpfung des Menschenhandels mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität hingewiesen. Mit diesem Hinweis verknüpfe ich die Hoffnung, daß beide Gesetze möglichst schnell hier, im Bundestag, verabschiedet werden können.
Vielen Dank.
Nun hat die Kollegin Margot von Renesse das Wort.
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6582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich schon verblüffend, daß man im Jahre 1992 über Menschenhandel, genauer gesagt über Frauen- und Mädchenhandel sprechen muß, über eine Form der Sklaverei. Das ist um so verblüffender, als seit dem Jahr 1904 — das habe ich nachgeprüft; da passierte dies erstmals — insgesamt sieben internationale Übereinkommen über die Bekämpfung, die Verhinderung von Mädchenhandel, Frauenhandel, ausbeuterischer Prostitution, Kinderhandel und Sklaverei über die Bühne gegangen sind.Es ist offensichtlich nicht genug geschehen; denn wir haben damit — Sie sagten es — eine neue Art der Kriminalität. Ich glaube das ehrlich gesagt nicht, wenn sie sich auch im Augenblick sehr verbreitet hat.Wir haben im Augenblick offensichtlich ein äußerst harmloses Recht, das diesem Phänomen, mit dem wir es zu tun haben, nicht genügend Rechnung trägt. Die bisherige Situation nach dem heutigen Recht ist, daß es möglich ist, Frauen und Mädchen als Sklavinnen, privat und in Bordellen zu halten, mitunter in den reinsten Folterkammern.Gestern noch habe ich mit einer Frau gesprochen, die sich solcher Frauen annimmt. Sie hatte gerade mit einer Betroffenen zu tun, die von ausgedrückten Zigaretten Brandspuren an den Innenseiten ihrer Oberschenkel bis in die Schamgegend hatte. Quälerei, Mißhandlung, Sklaverei!Wenn diese Frauen, diese Opfer, den Weg zu Hilfestellen finden — es sind im wesentlichen kirchliche Frauenorganisationen oder Frauenbewegungen —, dann werden sie von ihren bisherigen Besitzern, so muß man sie nennen, gejagt, sie werden von Behörden ausländerrechtlich auf der Stelle verfolgt, und sie werden, erst einmal ins Heimatland zurückgekehrt, von den Schlepperorganisationen, denen sie ihr Schicksal verdanken, sehr häufig schon am Flughafen in Empfang genommen und weiter unter Druck gesetzt.Es ist schon erstaunlich, daß es einer Initiative des Bundesrates bedurfte, damit nun gehandelt wird. Das ist um so erstaunlicher, als eine offizielle Regierungsdelegation im Jahre 1985 bei der Weltfrauenkonferenz in Nairobi hier Abhilfe versprochen hat. Nichts ist aber geschehen. Um so lobenswerter ist die Initiative des Bundesrates, genaugenommen der Ursprungsantrag aus dem Hause der Gleichstellungsministerin in NRW.Wir wissen aber — das wird auch in beiden Begründungen, der Regierung wie des Bundesrates, deutlich gesagt —: Es handelt sich um eine Form der organisierten Kriminalität. Mit einer Verschärfung des Strafrechts allein wäre dem nicht beizukommen.
Es geht auch um die Formulierung der Straftatbestände, die im Augenblick zahnlos sind.Hier haben wir dieselben Probleme mit der Regierung wie bei anderen Bereichen der organisierten Kriminalität. Im übrigen erscheint auch diese sehr häufig in Tateinheit mit organisiertem Drogenhandel, mit organisierter internationaler Hehlerei. Die Probleme liegen eigentlich in der Sachverhaltsaufklärung. Wir brauchen aussagebereite Zeugen. Ihr Gesetzentwurf zur organisierten Kriminalität geht davon aus, daß man die Aussagebereitschaft der Zeugen im wesentlichen mit Hilfe eines Bereichs der Anonymität in der Hauptversammlung erreichen kann. Hier sind wir ganz anderer Meinung, nämlich jener, wie sie die Organisationen vertreten, die solchen Frauen Hilfestellung gewähren.Wir meinen, die Zeuginnen, die Opfer, bedürfen, um aussagen zu können, nicht nur des Schutzes durch die Anonymität in der Hauptverhandlung, sondern auch der Hilfe danach. Das gilt für Zeugen in anderen Bereichen auch. Sie dürfen nach ihrer Aussage nicht wieder in das tiefe Dunkel zurückfallen. Mitunter wird es für sie sogar noch schwieriger, vor allem nach der Abschiebung in ihr Herkunftsland.Diese Zeugen brauchen sofort, wenn sie entdeckt werden — mitunter durch eine polizeiliche Razzia —, Hilfe. Sie brauchen Hilfe, um aus dem Milieu herauszukommen. Sie brauchen eine geschützte Umgebung, in der sie Sicherheit erfahren, und sie brauchen zumindest ausländerrechtliche Duldungen, einen Schutz vor Abschiebungen, um Perspektiven aufbauen zu können, um nachher, wenn sie zurückkehren, so etwas wie eine behutsame Rückführung zu erleben.Wenn das nicht gegeben ist, wird die Aussagebereitschaft nicht existieren. Diese brauchen wir aber dringend, um hinter diejenigen zu kommen, die eigentlich verantwortlich sind; denn diese Zeuginnen sind die Opfer.Die Opfer brauchen Zeit, um Schadensersatzansprüche gegen ihre Peiniger geltend zu machen. Sie brauchen Zeit, um Vaterschaften feststellen zu können, um Unterhaltsansprüche geltend zu machen.Dies alles ist nicht vorhanden. Ich weiß, daß das Land Nordrhein-Westfalen schon bei der Abschiebung behutsam vorgeht, sehr zum Ärger der Opposition in Nordrhein-Westfalen; das ist dort die CDU.Es ist, wenn wir die Täter dingfest machen wollen, ungeheuer wichtig, daß auf dem Gebiet der sozialen Maßnahmen für die Opfer sehr viel mehr passiert, und sei es auch nur um der Wahrheitsfindung willen. Ich hoffe, daß in der Anhörung von den Hilfsorganisationen, aus dem Bereich der Kirchen und der Frauenbewegung Anregungen zu diesem Bereich gegeben werden, die hoffentlich auf offene Ohren und Herzen treffen.Ich denke, wir müssen auch noch sehr über den Tatbestand nachdenken. Hierzu besteht sicherlich ganz erheblicher Beratungsbedarf. Ich will zu diesem Themenkomplex zunächst auf eine witzige Sache zu sprechen kommen. Eben wurde gesagt, die Formulierungen sollten geschlechtsneutral sein. Dieser Meinung war der Bundesrat auch. Er meinte, auch wenn der Schutz im wesentlichen Frauen zu gelten habe, wolle er doch dabei bleiben, geschlechtsneutral zu formulieren. Der Bundesrat hat dies mit folgender Formulierung getan: „Wer auf einen anderen seines Vermögensvorteils wegen einwirkt, um ihn dazu zu bringen, daß er der Prostitution nachgeht, oder um ihn zur Prostitutionsausübung ...". Dies nennt der Bun-
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Margot von Renessedesrat geschlechtsneutral. Man sollte es nicht für möglich halten.Aber das nur als Arabeske. Viel wichtiger ist, daß im Bereich der Systematik zwischen § 180a StGB und dem neuen Tatbestand des § 180b StGB das Verbringen einer einheimischen Frau in ein fremdes Land zum Zwecke der Prostitution um eines Vermögensvorteils willen unter dem Begriff Menschenhandel rangiert. Ich denke, hier müssen wir über die Systematik nachdenken. Ich halte folgenden inhaltlichen Gesichtspunkt für sehr wichtig. Menschenhandel ist Menschenhandel, auch wenn das einer Frau widerfährt, die bereits der Prostitution nachgegangen ist. Hier dürfen wir nicht eine merkwürdige Doppelmoral an den Tag legen, sondern wir müssen bei den Tatbeständen bleiben, die wir meinen.
Ich meine, wir bekommen in letzter Zeit im Bereich des Sozialstrafrechts ein bißchen viel Einzelstücke, immer neue Mosaiksteine. Es mag ja sein, daß nach 15 bis 20 Jahren ein solches Recht der Generalüberholung bedarf. Frau Rahardt-Vahldieck, wir haben auch einen Punkt gefunden, den wir demnächst einmal zur Sprache bringen, bei dem es um das Interesse eines Vormunds an der sexuellen Integrität seines über 16 Jahre alten Schützlings geht. Aber es gibt die Kinderpornographie, es gibt die Vergewaltigung in der Ehe. Ich glaube, es ist an der Zeit, hier zu systematisieren, damit Wortwahl und Strafrahmen stimmen.Meine Damen und Herren, es ist schon merkwürdig, daß die Bundesregierung erst durch den Bundesrat ein bißchen auf den Pfad geführt wurde. In anderen Fällen ist sie sehr, sehr pingelig und malt Katastrophenbilder, etwa wenn es um Formen der Zuwanderung geht. In diesem Bereich, in dem es um den Import von gelben, schwarzen, braunen oder and ersfarbigen Frauen geht, hat man sich sehr viel Zeit gelassen. Im Grunde hat erst der Bundesrat diesen Zeitablauf gestoppt.Ich denke, es ist in der Tat höchste Zeit. Ich meine, wir werden mit der Anhörung von Betroffenen bzw. Verbänden, die Betroffenen helfen, ein gutes Stück weiterkommen.Ich danke Ihnen.
Nun kommt die Kollegin Cornelia Yzer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle kennen sie, die Kontaktanzeigen sogenannter Heiratsvermittler, in denen ausländische Frauen zum Teil zum Knüllerpreis oder als Sonderangebot als Heiratsobjekt angeboten werden. Umtausch und Geldrückgabe bei Nichtgefallen werden zumindest zwischen den Zeilen garantiert.Kaum einer denkt, wenn er diese Anzeigen sieht, an die menschlichen Schicksale, die hinter diesen Anzeigen stehen, die von unseren Printmedien wie jede Produktwerbung veröffentlicht werden. Und kaum einer denkt an die kriminelle Energie derer, die solche Anzeigen verfassen.Zum Umfang des Handels mit ausländischen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland liegen keine verläßlichen Zahlen vor. Fest steht aber, daß Jahr für Jahr Tausende von dieser Form des Menschenhandels, oder, besser gesagt, von dieser Form der Sklaverei betroffen sein müssen. In einzelnen Verfahren wurden jedenfalls bis zu 20 000 Fälle ermittelt.Frauen, vor allem aus Südostasien, Afrika und Südamerika, werden in ihren Heimatländern mit den Versprechen einer Eheschließung in der Bundesrepublik oder einer lukrativen Tätigkeit angeworben und meist als Touristinnen in die Bundesrepublik verbracht.Hier angekommen, werden die Frauen zur Prostitution gezwungen, in vergleichbarer Form sexuell ausgebeutet oder in menschenverachtender Weise einem Heiratswilligen vermittelt, wobei sie in einem Teil der Fälle zunächst dem Interessenten zur Probe zugeführt werden.Obwohl der Frauenhandel blüht, ist die Zahl der Fälle, in denen wegen des Verdachts des Menschenhandels staatsanwaltschaftlich ermittelt wurde oder in denen es zur Verurteilung nach § 181 Strafgesetzbuch kam, sehr gering. Dies ist zum einen darin begründet — das wurde bereits erwähnt —, daß der Frauenhandel ein typisches anzeigeloses Delikt ist. Die Opfer halten sich in den meisten Fällen illegal in unserem Lande auf, verstoßen damit gegen ausländerrechtliche Vorschriften und fürchten deshalb eine Strafanzeige.Die niedrigen Fallzahlen deuten aber vor allem darauf hin, wie schwierig der Zugriff auf diese Delikte in der Praxis ist und wie sehr es einer Änderung des Strafrechts bedarf, um gerade die besonderen Methoden der Menschenhändler zu erfassen.Das bedeutet zunächst, daß wir die Anforderungen an die strafrechtliche Verfolgung des Frauenhandels senken müssen. Nach geltendem Recht muß dem Verdächtigen nachgewiesen werden, daß er die Frau angeworben hat. Dieser Beweis ist in der Praxis oftmals nicht möglich.Künftig soll und muß es daher ausreichen, daß der Händler auf die Frau eingewirkt, daß er durch Überreden oder Versprechungen Einfluß auf sie genommen hat. Wer ausländische Frauen unter falschen Versprechungen aus ihrer Heimat lockt und zur Prostitution bringt, wer die auslandsspezifische Hilflosigkeit dieser Frauen, ihre mangelnde Kenntnis des deutschen Kulturkreises und der deutschen Sprache, ausnutzt, muß mit hoher Strafe bedroht werden.Diese ausländischen Frauen sind auf Grund ihrer Sondersituation ebenso schutzwürdig wie Frauen im Alter bis zu 21 Jahren, die auf Grund ihrer Unerfahrenheit, wie es der Gesetzgeber unterstellt hat, in besonderer Weise durch das Strafrecht gegen Prostitution geschützt werden. Es ist daher notwendig, beiden Gruppen von Frauen künftig den gleichen strafrechtlichen Schutz zu gewähren.
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6584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Cornelia YzerFrauenhandel bietet keinen Raum für doppelbödige Moral. Das geltende Recht bietet keinen strafrechtlichen Schutz für solche Frauen, die bereits in ihrem Heimatland der Prostitution oder einer prostitutionsähnlichen Tätigkeit nachgegangen sind.Es gewährt denjenigen Frauen, die den Zweck ihrer Anwerbung kennen und sich zur Prostitution bereiter-klärt haben, ebensowenig strafrechtlichen Schutz wie denjenigen Frauen, denen bei der Anwerbung erklärt wurde, sie könnten, müßten aber nicht der Prostitution nachgehen, und die nach ihrer Ankunft in Deutschland unter Ausnutzung ihrer Hilflosigkeit gerade zu dieser Tätigkeit veranlaßt wurden.Das geltende Recht verkennt dabei, daß diese Frauen in ihrem Ilerkunftsland sich häufig aus existenzieller Not der Prostitution verschrieben haben. Wenn man diesen Frauen in der Bundesrepublik keinen strafrechtlichen Schutz bietet, nimmt man ihnen jede Möglichkeit, aus dem Milieu herauszukommen. Deshalb müssen wir künftig das gewerbsmäßige Anwerben dieser Frauen zur Fortsetzung der Prostitution in einem für sie fremden Land unter Strafe stellen.Des besonderen strafrechtlichen Schutzes bedürfen aber nicht nur Frauen, die der Prostitution zugeführt werden, sondern auch diejenigen, die außerhalb des Bereichs der Prostitution sexuell ausgebeutet werden. Die Vermittlung dieser Frauen gegen Geld auf dem Heiratsmarkt ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein krimineller Akt, der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht werden muß.Das Delikt des Menschenhandels wird in der Regel nicht von x-beliebigen Personen ausgeführt; es bedarf genauer Kenntnis des Herkunftslandes der Frauen und der rechtlichen Möglichkeiten sowie erheblicher Investitionen und Verbindungen, um Frauen in die Bundesrepublik zu verbringen.Aus Ermittlungsverfahren ist bekannt, daß die Täter vor ihrem Handeln eine klare Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen und dabei das mögliche Strafmaß nicht unberücksichtigt lassen. Der hohe Strafrahmen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bei Zuführung der Frauen zur Prostitution unter Ausnutzung ihrer Hilflosigkeit wird daher eine erhebliche Abschreckungswirkung haben.Der internationale Frauenhandel ist nach Erkenntnissen von Interpol häufig ein Phänomen der organisierten Kriminalität.Unsere Bemühungen um eine stärkere Bekämpfung der organisierten Kriminalität müssen sich daher sowohl im präventiven als auch im repressiven Bereich gerade auf das Delikt des internationalen Menschenhandels richten. Wir müssen deshalb den neuen Straftatbestand des § 180b des Strafgesetzbuchs in den Katalog der Straftaten nach § 100a der Strafprozeßordnung und in den im Gesetzentwurf zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität vorgesehenen Straftatenkatalog aufnehmen, um durch die dort vorgesehenen Ermittlungs- und Fahndungsmethoden die neuen Erscheinungs- und Betätigungsformen im internationalen Frauenhandel wirksam zu bekämpfen.Zudem sollten wir die im Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgeschlagenen Maßnahmen zum Zeugenschutz, die ich, im Gegensatz zu meiner Vorrednerin, für zutreffend und richtig halte, aber darüber hinaus auch die in diesem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen zur Abschöpfung von Gewinnen aus Straftaten und zum erweiterten Verfall auch bei dem Delikt des Menschenhandels anwenden. Die Kosten-NutzenRechnung der Frauenhändler darf künftig nicht mehr aufgehen!
Der vorliegende Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes kann nur der Einstieg zu einer wirksamen Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung ausländischer Frauen in der Bundesrepublik Deutschland sein. Neben einer Verschärfung des materiellen Strafrechts müssen wir flankierende Maßnahmen ergreifen. Wir müssen eine wirksame rechtliche Handhabe gegen frauenerniedrigende Heiratsanzeigen und gegen Werbung für Sextourismus schaffen.Vor allem müssen wir unser Augenmerk auf Maßnahmen im entwicklungspolitischen Bereich richten, um die Mißstände zu beseitigen, die Frauen heute in die Abhängigkeit von Menschenhändlern bringen.
Nun kommt die Kollegin Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Menschenhandel — ich bin auch hier dafür, daß wir präzise Formulierungen verwenden —, der Verkauf von Frauen und Mädchen aus armen Ländern an Männer in reichen Ländern ist ein Verbrechen, das durch Sexismus und Rassismus sowie durch die Doppelmoral dieser Gesellschaft hier in bezug auf Prostitution begünstigt wird.Die Klagen über die Armut der betreffenden Länder als Ursache des internationalen Frauenhandels sowie die Rede von der Sprachunkenntnis und der Isolation der betroffenen Frauen hier sind alle zutreffend. Sie bringen aber, meine ich, nur die halbe Wahrheit zum Ausdruck.Die andere Hälfte der Wahrheit ist der hierzulande praktizierte Umgang mit Ausländern, speziell mit ausländischen Frauen. Ausländerinnen, die mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt werden, können von ihren Zuhältern oder Ehemännern erpreßt, mißhandelt und ausgebeutet werden, und das deswegen, weil sie auf der Grundlage des hier geltenden Ausländergesetzes von Abschiebung bedroht sind, wenn sie diese Männer anzeigen.In Berlin und in Frankfurt sind ca. 50 % allerProstituierten Ausländerinnen. In deutschen Bars, Bordells und Sexclubs arbeiten viele tausend Ausländerinnen, meist aus Thailand. Sie alle können wegen sogenannter Erwerbsunzucht von einem Tag auf den anderen ausgewiesen werden. Auch wenn sie verheiratet sind, geht es ihnen nicht unbedingt besser, da sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erst nach vier Jahren bekommen. Damit sind sie ihren Ehemännern
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Christina Schenkzumindest in dieser Zeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.Gerichtsurteile zeigen überdies, daß Frauenhandel hierzulande als Kavaliersdelikt gilt. Bei polizeilichen Razzien werden immer nur die Frauen inhaftiert und ausgewiesen. Die Freier hingegen sind weiterhin ehrenvolle Mitglieder dieser Gesellschaft, und die Schlepper und Zuhälter können nach geltendem Recht kaum bestraft werden.Ich meine, das Problem muß in der Bundesrepublik Deutschland auf mindestens zwei Ebenen angegangen werden: Zum einen ist die Stärkung der Position ausländischer Frauen unabdingbar; zum anderen muß die strafrechtliche Verfolgung der Täter griffiger werden.Eine strafrechtliche Neuregelung kann also immer nur einen Teilaspekt des Problems erfassen. Aber selbst bei diesem Versuch greift der Gesetzentwurf des Bundesrates zu kurz. Wir meinen, er ist nicht geeignet, die Frauen wirksam zu schützen. Er ist auch nicht geeignet, den Zugriff auf die Täter wirksam zu verschärfen.Ich möchte hier nur einige Kritikpunkte feministischer Juristinnen und der „Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung", AGISRA, anführen.Der Gesetzentwurf des Bundesrates unterscheidet zwischen Menschenhandel, § 180b StGB, und schwerem Menschenhandel, § 181 StGB.Die Schutzvorschrift gegen schweren Menschenhandel, ein Verbrechenstatbestand, greift aber nur bei solchen Frauen, die in ihren Heimatländern nicht bereits als Prostituierte gearbeitet haben. Damit werden die Unterscheidung zwischen vermeintlich guten und vermeintlich schlechten Frauen und der geringere Schutz der „schlechten" Frauen fortgeschrieben, wie es ja heute schon, also im geltenden Strafrecht, bei dem sogenannten minder schweren Fall praktiziert wird. lch meine, Prostituierte und ehemalige Prostituierte müssen vor dem Zwang zur Prostitution ebenso geschützt werden wie Frauen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Prostitution verdienen oder verdient haben.Ebenso kritikwürdig finde ich die Tatsache, daß der Gesetzentwurf des Bundesrates kein Wort über die ausländerrechtliche Situation der gehandelten Frauen verliert und damit meines Erachtens ein völlig unbrauchbarer Torso bleibt.Eine wirksame Verfolgung der Verbrecher ist entscheidend davon abhängig, ob die Opfer die Verbrechen anzeigen und bereit sind, in den Strafverfahren gegen ihre Peiniger auszusagen.Das, meine ich, ist nur dann möglich, wenn sie keine Angst mehr vor Abschiebung haben müssen und wenn ihnen dabei geholfen wird, sich hier eine Existenz zu schaffen. Solange Prostitution ein Abschiebungsgrund bleibt, ist jede ausländische Prostituierte durch ihren Zuhälter erpreßbar. Solange ausländische Frauen, die mit deutschen Männern verheiratet sind, kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, ist auch jede verheiratete Ausländerin von ihrem Ehemann erpreßbar.Vorrangige Bedingung für die Bekämpfung des internationalen Frauenhandels ist daher die Verbesserung der Rechtsstellung ausländischer Frauen. Ich möchte das hier ausdrücklich betonen.Im übrigen sollte endlich geprüft werden, auf welcher Grundlage auch gegen den heute noch völlig legalen Heiratsmarkt mit ausländischen Frauen vorgegangen werden kann. Mittlerweile gibt es ca. 60 Händler, die ausländische Frauen in Zeitungsanzeigen als willenlos und unterwürfig anpreisen und sie gegen Ratenzahlung und mit Umtauschrecht zum Verkauf anbieten. Es ist wirklich die Frage, wie lange wir als gesetzgebendes Organ uns das noch tatenlos ansehen wollen.Abschließend meine ich: Der Gesetzentwurf des Bundesrats sollte in der vorliegenden Form nicht verabschiedet werden. Ich denke, wir sollten uns ernsthafter mit diesem Problem befassen. Ich halte es auch für empfehlenswert, daß die zuständigen Ausschüsse zur Klärung dieser Fragen Anhörungen anberaumen, um sich von Expertinnen und Experten über die Sachlage sachkundig machen zulassen.
Darf ich Sie zwischendurch bitten, zuzustimmen, dati die Kollegin Edith Niehuis ihre Rede zu Protokoll gibt. — Da es dazu keinen Widerspruch gibt, wird das so geschehen. )
Als nächster hat der Kollege Jörg van Essen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und I lerren! Die heutige Debatte ist Ausdruck einer erfreulich gestiegenen Sensibilität gegenüber einer besonders schlimmen Form der Ausbeutung der Dritten Welt, nämlich der sexuellen. Wir haben uns vor einiger Zeit an dieser Stelle aus gutem Grund mit dem Sextourismus insbesondere nach Thailand und auf die Philippinen und mit dem damit verbundenen Mißbrauch von Kindern befassen müssen.Aber die Ausbeutung erfaßt nicht nur die Jüngsten. Wer Werbeanzeigen für Prostitution in den Tageszeitungen anschaut und wer durch die Rotlichtviertel unserer Städte geht, sieht, in welchem Ausmaß Frauen aus der Dritten Welt als Ware angeboten werden. Ein unerträglicher Zustand!Ich selber habe als Staatsanwalt in diesem Bereich des Menschenhandels keine beruflichen Erfahrungen. Ich weiß aber von vielen Kollegen, wie frustrierend ihre Erkenntnisse sind. Die hier tätigen Frauen sind nämlich in einer doppelten Abhängigkeit und deshalb für die Zusammenarbeit mit den Justizbehörden nur schwer zu gewinnen. Zum einen leben sie in einem fremden Land, in dem sie durch ihre Hilflosigkeit in einer unbekannten Umgebung und auch durch ihren in der Regel illegalen ausländerrechtlichen Status auf die I lilfe ihrer Ausbeuter angewiesen sind. Zum anderen ist in der Heimat oft die ganze Großfamilie auf finanzielle Überweisungen aus Deutschland angewiesen. Das führt dazu, daß die Ermittlungen in•) Anlage 4
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Jörg van Essendiesem Milieu sehr schnell an die Grenzen der bestehenden strafrechtlichen Vorschriften stoßen.Ich begrüße daher namens der F.D.P. den Vorstoß des Bundesrates und bin mit ihm darin einig, daß in der neu zu schaffenden Vorschrift des § 180b des Strafgesetzbuchs das Einwirken auf die Frauen und nicht erst deren Anwerben angesichts der beschriebenen Umstände strafwürdig ist. Dies ist eine gute Ergänzung der bereits bestehenden Vorschriften.
Wie überall, wo besonders schnell und mühelos hoher finanzieller Gewinn lockt, sind wir hier zumindest am Rand der organisierten Kriminalität und sicher nicht selten mittendrin. Dies macht deutlich, daß neben der besseren strafrechtlichen Ahndung auch das Instrumentarium der Gewinnabschöpfung verbessert werden muß. Ich habe deshalb sehr viel Sympathie für die Anregung der Bundesregierung, unter bestimmten Voraussetzungen auch hier das im Entwurf des OrgKG vorgesehene Institut des erweiterten Verfalls vorzusehen.Es ist wegen der Abhängigkeit der Frauen auch daran zu erinnern, daß mit einer Überführung der Täter und einer Verurteilung und mit ihrer erwünschten Abschreckungswirkung nur dann gerechnet werden kann, wenn geeignete Maßnahmen des Zeugenschutzes angeboten werden können. Der Entwurf wird deshalb keine Wirkung entfalten — die Anhörung der Praktiker zum Entwurf des OrgKG im Rechtsausschuß hat dies zuletzt deutlich werden lassen —, wenn nicht zumindest zeitgleich auch die im Entwurf des OrgKG vorgesehenen Regelungen zum Schutz von Zeuginnen und Zeugen in Kraft treten. Das gilt auch für eine Verbesserung der ausländerrechtlichen Situation. Ich stimme insoweit der Kollegin von Renesse ausdrücklich zu.Frau Schenk, da Sie kritisieren, daß in diesem Entwurf Regelungen fehlen, muß ich darauf hinweisen, daß das natürlich keine Aufgabe des Strafrechts ist, sondern daß das im Ausländerrecht geregelt werden muß.Ich halte auch die Anregung der Bundesregierung für erwägenswert, im Rahmen des § 181 StGB und damit durch einen Verbrechenstatbestand die Frauen besser zu schützen, die bereits in ihrem Heimatland der Prostitution nachgegangen sind.Der Bundesrat weist in seiner Begründung ebenso wie die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf hin, daß nach ständiger Rechtsprechung, aber auch nach Auffassung der Literatur Frauen nicht geschützt werden, wenn sie schon vorher der Prostitution nachgegangen sind und den Zweck ihrer Anwerbung kennen und zur Prostitution bereit sind. Aus den hier mehrmals vorgetragenen Gründen sind diese Frauen regelmäßig nicht in der Lage, ihre Situation in Deutschland selber zu bestimmen.Würden auch bereits früher tätige Prostituierte von § 181 StGB geschützt — ich stimme der Kollegin Yzer zu; das sollte zumindest beim gewerbsmäßigen Anwerben geschehen —, so würden die schwierigen Abgrenzungen und Beweiserhebungen — denn es wird natürlich immer eingewandt, daß das schon in der Heimat der Fall gewesen ist — über eine zurückliegende Tätigkeit im Milieu entfallen. Das wäre ganz eindeutig eine erhebliche Verbesserung der Beweissituation.
Der Bundesregierung ist schließlich zuzustimmen, daß der Gesetzestext sprachlich geschlechtsneutral gefaßt werden sollte. Das Ministerium wird von der F.D.P. geführt, Frau von Renesse. Die Bundesregierung ist da besser als der Bundesrat. Sie haben gesehen, daß dieser Vorschlag sicher der richtige ist.Für den Inhalt gilt dies bereits auch nach dem Entwurf des Bundesrates. Auch wenn in erster Linie Frauen von den hier beklagten Taten betroffen sind, verdienen Männer in gleicher Weise den beschriebenen Schutz.Insgesamt ist nach meiner Einschätzung der vorgelegte Gesetzentwurf des Bundesrates ein erfreulicher Schritt gegen rundherum unerfreuliche Zustände.Vielen Dank.
Nun kommt die Kollegin Petra Bläss.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Rußlands schönster Export — der neue Frauentyp" , so lauten Titelbildunterschrift und Schlagzeile einer Illustrierten, die gestern erschien. Frauen sind Ware weltweit. Die ganz normale Gewalt gegen Frauen, die niemandem auffällt, wird nicht als Menschenrechtsverletzung zur Kenntnis genommen; sie gehört zum Alltag. Noch 1985 sah die Bundesregierung keine Notwendigkeit zum Einschreiten, solange die erwähnte Werbung nicht gegen geltende Rechtsnormen verstößt.Während die damalige Bundesregierung feststellte, daß sich auf diesem Gebiet auf Grund der initiative von Frauengruppen bereits einiges verändert habe, wurden über die neue Klausel in § 129a des Strafgesetzbuchs Frauenhandel und Sextourismus zu sogenannten anschlagsrelevanten Themen erklärt. Damit werden all diejenigen unter den Druck möglicher staatlicher Verfolgung gesetzt, die sich mit ihrem politischen Engagement gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution nicht einschränken lassen. Ich erkläre mich mit ihnen hier im Parlament ausdrücklich solidarisch und verurteile diese Kriminalisierungsversuche aufs schärfste.Ich begrüße, daß nun von allen Seiten im Parlament eine Änderung des § 181 des Strafgesetzbuches für notwendig erachtet wird. Die konkrete Ausgestaltung des Gesetzentwurfs jedoch kann unsere Zustimmung nicht erhalten. Unseres Erachtens sind noch wesentliche Änderungen notwendig. Denn das angegebene Ziel der Verbesserung des strafrechtlichen Schutzes insbesonders ausländischer Mädchen und Frauen vor sexueller Ausbeutung wird mit der vorliegenden Gesetzesfassung noch nicht erreicht werden können.
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Petra BlässEntscheidende Bedeutung für die Effizienz der Strafverfolgung wegen Menschenhandels muß vor allem den Rahmenbedingungen wie Ausländerinnenrecht und Aufenthaltsrecht beigemessen werden; und die bleiben hier völlig unberücksichtigt.In dem Entwurf wird die sogenannte auslandsspezifische Hilflosigkeit besonders hervorgehoben. Unberücksichtigt bleibt dabei leider, daß diese auch wesentlich auf den ausländerrechtlichen Vorschriften beruht. Die Frauen können sich nicht aus den Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen der Menschenhändler und ihrer Handlanger befreien, weil sie bei Erstattung einer Anzeige sofort von Abschiebung bedroht sind. Ein Aufenthaltsrecht für die gegen ihren Willen oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, falscher oder unvollständiger Informationen in die BRD gebrachten oder verschleppten Frauen ist unverzichtbar.Es ist mir unverständlich, daß ihnen lediglich in einigen Bundesländern Bleiberecht für eine geordnete Rückreise oder bis zur erfolgten Zeuginnenaussage vor Gericht zugestanden wird. Dadurch machen sich staatliche Stellen eines erneuten unverantwortlichen Umgangs mit den Frauen schuldig.Viele Verfahren wegen Menschenhandels werden eingestellt, weil die betroffenen oder benannten Zeuginnnen bereits des Landes verwiesen worden sind. Einen Anspruch auf Entschädigung für das ihnen angetane Unrecht gibt es für die Betroffenen ebenfalls nicht.Die Forderung der gegen Frauenhandel und Zwangsprostitution arbeitenden Frauengruppen ist, den Frauen ein Aufenthaltsrecht, eine Arbeitserlaubnis oder zumindest ein Bleiberecht für die Zeit einer Ausbildung zu gewähren, mit der sie in ihrem Heimatland existenzsichernd erwerbstätig werden können. Schon aus humanitären Gründen müßten den betroffenen Frauen diese Rechte zugestanden werden.Extremes Befremden müssen die Aufsplitterung in verschiedene Gesetzesbestimmungen und die damit verbundene Trennung in leichten Menschenhandel — nur § 180 soll Frauen schützen, die bereits im Heimatland als Prostituierte gearbeitet haben — und schweren Menschenhandel — § 181 schützt nur nicht prostituierte, für die Heiratsvermittlung geeignete Frauen — auslösen. Ich wende mich entschieden gegen die damit vorgenommene ungerechtfertigte Differenzierung in der strafrechtlichen Bewertung. Denn vom Menschenhandel betroffene Frauen, die bereits im Heimatland Prostituierte waren, und Frauen, die nicht als Prostituierte gearbeitet haben, erhalten unterschiedlichen Schutz.Damit werden die patriarchale Definitionsmacht über gesellschaftliche Rollen, Beschaffenheit der Frau und geschlechtsspezifische Bedürfnisse verfestigt sowie die gesellschaftliche Diskriminierung von scheinbar unmoralischen Frauen auch über gesetzliche Ungleichbehandlung weiterhin festgeschrieben.Die gesetzliche Ausgestaltung muß derart sein, daß ausschließlich die Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse die zentralen Tatbestandsmerkmale sind und daß dem biographischen Hintergrund der Betroffenen und Zeuginnen im Zusammenhang mit derVerfolgung des Delikts Menschenhandel keinerlei Bedeutung mehr beigemessen werden darf.Warum sollte es, allgemeinmenschlich betrachtet, strafrechtlich weniger relevant sein, eine Frau wie eine Sklavin zu behandeln, wenn sie bereits als Prostituierte gearbeitet hat? Diese männliche Doppelmoral muß aus dem Gesetz verschwinden. Bei weiterer Anwendung des bisherigen Menschenhandelsparagraphen wird die biographische Befragung der Zeuginnen zur Abklärung dieses potentiell in Frage kommenden Tatbestandes weiterhin stattfinden müssen. Hinzu kommt, daß die gehandelten Ehefrauen zwar einbezogen sind, die gehandelten Hausarbeiterinnen aber nach wie vor unberücksichtigt bleiben werden.Der Gesetzentwurf bedarf also sehr wesentlicher Änderungen, über die in den Ausschüssen zu diskutieren sein wird. Dazu ist es unverzichtbar, die Forderungen der Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung — meine Kollegin Schenk verwies bereits darauf: AGISRA — gegen Sextourismus und Frauenhandel sowie für die Verbesserung der Situation ausländischer Frauen in der Bundesrepublik Deutschland einzubeziehen.Ich danke.
Nun hat als letzte die Kollegin Susanne Rahardt-Vahldieck das Wort.
Kolleginnen und Kollegen! Wenig, aber doch: Ich möchte mich zunächst dafür entschuldigen, daß ich meine Rede nicht zu Protokoll gebe. Ich habe sie nicht ausformuliert. Deswegen kann ich es nicht. Sonst hätte ich es in Anbetracht der späten Stunde und der doch recht geringen Präsenz gern getan. Ich bedanke mich bei allen, die noch hier sind und zuhören.Dieser Gesetzentwurf bereichert ganz sicher das strafrechtliche Instrumentarium. Daß er noch nicht perfekt ist, haben wir alle gesagt. Da muß noch einiges überlegt werden. Kollegin Schenk war es, glaube ich, die eine Anhörung anregte. Auch ich bin geneigt, das für gut zu halten.Auch im Strafrecht kann man etwas machen. Es gibt aber auch Seitenbereiche, bei denen man etwas machen muß und bei denen es vielleicht sogar noch viel dringender ist. Denn das Strafrecht ist — das hören wir auch in anderem Zusammenhang ständig — ultima ratio und kann ein gesellschaftliches Problem in der Regel nicht lösen, schon gar keines auf dieser Ebene. Da wären eigentlich andere Punkte anzusetzen. Der Gesetzentwurf ist insofern eine vernünftige Antwort und zunächst ein Schritt in die richtige Richtung; aber er kann noch nicht alles sein.Als begleitende Maßnahme kommt selbstverständlich der Zeuginnenschutz — das ist schon von einigen erwähnt worden — in Betracht, vor allem die Möglichkeit des Bleiberechts mindestens — Frau Schenk und Frau Bläss, ich sage „mindestens", damit Sie nicht
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Susanne Rahardt-Vahldieckgleich anfangen, böse zu werden — bis zum Strafverfahren. Wir haben ja bisher die Regelung, daß die Menschenhändler dann, wenn so ein Laden auffliegt, in der Regel überhaupt nicht verurteilt werden können. Denn wenn es zum Verfahren kommt, sind die Zeuginnen schon lange abgeschoben. Das geht bei den Zeuginnen ratzfatz; dann sind sie weg. Die Kriminellen selbst werden nach drei Jahren vorgeladen; dann ist keine Zeugin mehr da. Dann wenn die Kriminellen ganz automatisch freigesprochen.Während dieser drei Jahre haben sie — ich weiß nicht, wie häufig — bereits Frischfleisch importiert; das muß man ganz klar sehen. Die Frauen sind also, wer weiß wie häufig, bereits abgeschoben worden, wohlgemerkt: alles auf Kosten der Steuerzahler, denn dieser kriminelle Mensch bezahlt das ja nicht. Diesen Gesichtspunkt muß man also in Betracht ziehen.Ich habe volles Verständnis dafür, daß wir die Sache ausländerrechtlich beobachten müssen. Aber es kann doch überhaupt nicht angehen und auch nicht im Interesse der Bundesrepublik Deutschland sein, wenn dieses miese Geschäft dadurch, daß Zeuginnen abgeschoben werden, über Jahre mit immer wieder neuen Einreisen ausgebeuteter ausländischer Frauen weiter betrieben werden kann.
Frau Bläss, umgekehrt können wir es natürlich nicht so machen, daß jede Frau, die als Prostituierte in die Bundesrepublik gekommen ist, allein schon deswegen automatisch ein Bleiberecht hat. Dann wirbt doch der Menschenhändler in den Ursprungsländern damit: „Komm mit, werde bei uns Nutte; dann darfst du in Deutschland bleiben."So geht es auch nicht. Wir müssen uns ganz genau überlegen, wie man da abwägen muß. Das wäre ja geradezu eine Verführung zur Prostitution oder eine weitere Verlockung für die Frauen. Die tun das ja nicht aus Jux und Tollerei. Es ist ja nicht so, daß sie sagen: Wir wollen unbedingt Prostituierte werden. Es ist ja nackte Not, wenn sie zu Hause Prostituierte werden oder sich nach Deutschland als Prostituierte verbringen lassen.Wenn sie als Heiratswillige auf den Katalogmarkt gehen, dann tun sie das doch nicht, weil es ihnen zu Hause so gut geht und sie nur Lust darauf haben, irgendeinen 60jährigen zu heiraten, der hier keine findet, sondern deswegen, weil es nackte Not ist. Ich meine, diese Gesichtspunkte müssen, was Frauen angeht, besonders berücksichtigt werden.Es gehört aber auch der Gesichtspunkt Kinder beiderlei Geschlechts in diesem Fall dazu. Die Kinder, die im Ausland mißbraucht oder auch nach Europa importiert werd en, werden offensichtlich immer jünger — Aids-Angst. Da müssen wir, was den Bereich der Auslandsstraftaten angeht, noch einiges tun. Das ist auch im Zusammenhang mit der Kinderpornographie bereits angesprochen worden. Ich glaube, auch der Kollege van Essen hat das eben erwähnt. Da ist noch einiges zu tun. Das Ganze muß zusammengefügt werden. Auch die Einziehung der Gewinne gehört dazu.Wenn wir das OrgKG verabschieden sollten, dann darf nicht nur § 181 StGB, sondern muß auch ein eventuell neu zu schaffender § 180b StGB enthalten sein.
Es müssen möglicherweise auch noch andere enthalten sein. Das muß alles aufgenommen werden; denn das ist alles organisierte Kriminalität. Das sind Bandenschiebereien. Das muß alles hinein.Dann müssen wir auch noch auf anderen Rechtsgebieten nachsehen: Bürgerliches Gesetzbuch. hinsichtlich der Ehemäkler gibt es noch Regelungen wie in § 656 BGB und des Inhalts: Vorauszahlungen dürfen behalten werden. Es ist die Frage, ob man nicht auch da noch etwas tun kann, gerade im Bereich Ehevermittler, Katalogbräute und Umtauschrechte.
Meines Erachtens sind diese Kataloge teilweise auch sittenwidrig. Ich merke das einmal an. Wir müssen auch das mit aufnehmen. Wir müßten überprüfen, ob die Reiseverträge, was den Sextourismus angeht, nicht unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit überprüft werden könnten. In einem Neckermann-Katalog ich sage NUR, an und für sich eine ganz solide, wohlgeachtete Firma — wird ein Hotel mit der Beschreibung angeboten: „von Unternehmenslustigen bevorzugtes Strandhotel, Familien oder • alleinreisenden Damen empfehlen wir eines unserer anderen Häuser in Bangkok". Welche Schlüsse soll man daraus ziehen? Ich meine, das ist eindeutig. Vielleicht sollte man auch einmal überlegen, ob man nicht auch da etwas machen kann; was die Schadensersatz- und die Schmerzensgeldleistungen angeht, ohnehin.Wichtig ist natürlich nicht nur die Aufklärung im Ausland, sondern auch die Hilfe im Ausland. Denn wenn die Frauen, ihre Familien und Kinder dort nicht mehr im Elend leben, dann sind sie nicht mehr so leicht das Opfer der Menschenhändlerringe.Was am allerwichtigsten ist — auch deswegen begrüße ich die Idee einer Anhörung —, ist weitere Aufklärung im Inland und weitere Anstrengungen für eine gesellschaftliche Achtung, und zwar nicht nur der Menschenhändler, sondern insbesondere auch der Kunden dieser Menschenhändler. Das gilt für die Fleischbeschau in Katalogen genauso wie für den Sextourismus, der gesellschaftlich offenbar völlig anerkannt ist. Keiner stört sich daran. Nur die Mädel sind diejenigen, auf die man mit dem Finger zeigt. Aber das Verhalten der Männer, die sie holen, und der Männer, die nach Thailand fliegen, um sie dort zu „besuchen", ist gesellschaftlich völlig adäquat. So kann es nicht sein.
Man kann lesen— „Terres des Femmes" hat einmal eine Studie dazu gemacht —, daß 50 % des Tourismus, z. B. in Kenia, auf den Philippinen und in Südkorea, reiner Sextourismus sein sollen. Das ist ein Unding; das kann einfach nicht angehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992 6589
Frau Kollegin, würden Sie, auch wenn Ihre Redezeit gleich abgelaufen ist, trotzdem noch eine Zwischenfrage der Kollegin Niehuis gestatten?
Ja.
Sie haben den Sextourismus angesprochen. Vorher sind Heiratshandel, Frauenhandel und auch die Kunden angesprochen worden. Das wollte ich ganz gerne einmal ansprechen; denn ich denke, wir müßten sehr viel mehr Mut haben.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit mir einer Meinung sind, die betroffenen Männer als Täter zu bezeichnen, und auch sagen, daß diesen Männern die sittliche Reife in unserer Gesellschaft fehlt. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir eine sittliche Erziehung für Männer stärker in dieser Gesellschaft diskutieren sollten?
Wir sollten eine geschlechtsneutrale sittliche Erziehung verstärken; denn es gibt Verhaltensweisen von Männern und Frauen, die mir nicht zusagen.
Ich wäre aber bereit, zu sagen, daß in diesem Bereich eine besondere Aufklärung von Menschen männlichen Geschlechtes erforderlich erscheint.
Als Schlußsatz möchte ich sagen: Es kann einfach nicht angehen, daß die Fortschritte der Emanzipation im weitesten Sinne damit bezahlt werden, daß die frustrierten Männer, die mit den emanzipierten Frauen bier nicht mehr fertigwerden, sozusagen unterwürfige Frauen aus Thailand, den Philippinen oder zunehmend aus dem ehemaligen Ostblock importieren.
Es sind teilweise Polinnen und Russinen; Frau Bläss hat das angesprochen. So darf es wirklich nicht gehen. Davor müssen wir ganz zügig, soweit das noch irgendwie geht, einen Riegel schieben.
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/2046 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen
Ich rufe Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.
Unterrichtung des Parlaments über die Verwertung von Material der ehemaligen NVA
— Drucksache 12/21 14 —
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ulrich Adam.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 3. Oktober 1990 übernahm die Bundeswehr das Material einer ganzen Armee: große Mengen an Kampftechnik für Heer, Luftwaffe und Marine, 300 000 t Munition und erhebliche Mengen sonstiger Ausrüstungsgegenstände.Allein an Radfahrzeugen waren es ca. 100 000 Stück. Diese großen Mengen an Fahrzeugen, Ausrüstung und Munition waren in keinem Computerinfo-system gespeichert, obwohl sich die ehemalige DDR doch zu den zehn größten Industrienationen der Welt zählen wollte.Damit ergaben sich große Probleme bei der Übernahme. Deshalb sei an dieser Stelle den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr gedankt, die trotz dieser Schwierigkeiten die Übernahme bewältigten.
Diese Leistung ist deshalb so hoch zu würdigen, da aus Kostengründen von der NVA 8 000 Soldaten weniger, als für diese Aufgabe notwendig, übernommen werden konnten. Damit fehlten, wie das ein Kapitän in Peenemünde ausdrückte, viele sogenannte Bescheidwisser.Nur 17 % der genannten Geräte und Systeme wurden durch die Bundeswehr wiederverwendet; 3 % zeitweilig. Der größte Anteil, nämlich 80 sind der Verwertung zuzuführen. Hieraus wird deutlich, daß zusammen mit der deutschen Einheit der größte Abrüstungsschritt vollzogen wird. Es ist auch völlig unstrittig, daß die Verwertung des NVA-Materials nur nach den Grundsätzen erfolgen kann, die in dem gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. an den Deutschen Bundestag formuliert wurden. Ich freue mich übrigens, daß es unserem Kollegen Kossendey gelungen ist, nach Absprache mit der SPD und mit der F.D.P., diesen Antrag gemeinsam vorzulegen.
Dieser Antrag bedeutet aber nicht, daß sich das Parlament erst seit kurzer Zeit mit der Verwertung des Materials beschäftigt. Die am 20. März 1991 eingesetzte Arbeitsgruppe „Streitkräftefragen in den neuen Bundesländern" des Verteidigungsausschusses, dem auch ich angehöre, hatte sich gemeinsam in dem Aufgabenkatalog unter II. 1 c die Aufgabe gestellt: Entlastung der Truppenteile von Waffensystemen, Munition und Ausrüstung der ehemaligen NVA, der Betriebskampfgruppen etc.; Maßnahmen zur weiteren Verwendung, Lagerung und Vernichtung von Waffen und Ausrüstung.Am 24. April 1991 wurden erste Berichte des BMVg zur Materialverwertung in der Arbeitsgruppe gegeben. Bei der Bereisung der neuen Bundesländer durch unsere Arbeitsgruppe haben wir besonders auf dieses Problem unser Augenmerk gerichtet.
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6590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Ulrich AdamIch habe dies so ausführlich dargestellt, da ich bei manchen Anfragen der Opposition den Eindruck habe, sie wollten sich als Erfinder dieser parlamentarischen Kontrolle präsentieren.Für mich als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Frage der Verwertung auch immer mit den Fragen der Arbeitsplatzsicherung in meinem Land und dem Nutzen für mein Land verbunden. Insofern begrüße ich die Bestrebungen, möglichst viele Unternehmen aus den neuen Ländern mit Aufgaben der Verwertung zu betrauen. Hier sollte aber auch zukünftig darauf geachtet werden, daß noch Erweiterungen im Interesse der Sicherung von Arbeitsplätzen möglich sind.Entsprechend dem Einigungsvertrag wurden den Kommunen in den neuen Ländern z. B. unentgeltlich 16 000 Kfz und diverses anderes Gerät, insbesondere Baugerät, Werkzeuge, Zelte und Stromerzeugungsgeräte, übertragen. An dieser Stelle möchte ich nicht verhehlen, daß ich bei einigen dieser Geräte ökologische Bauchschmerzen bezüglich ihres Verbrauchs bzw. ihres Schadstoffausstoßes habe. Diese Probleme werden bei der kostenlosen Vergabe von Kraftfahrzeugen aus sowjetischer Produktion besonders deutlich. Ich verstehe z. B. das begrenzte Interesse selbst der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, nur relativ kleine Mengen dieser Kraftfahrzeuge zu übernehmen.Insofern hoffe ich, daß meine gemeinsame Initiative mit der VEBEG, Musterverschrottung von Kraftfahrzeugen in Beschäftigungsgesellschaften in Wolgast durchführen zu lassen, Erfolg hat, um große Mengen an Kfz zu bewältigen.Bei der Verwertung von NVA-Material stellen die Schiffe der ehemaligen Volksmarine einen besonderen Bereich dar. Für uns war es relativ einfach, von den insgesamt 191 Schiffen die Nicht-Kriegsschiffe zu verkaufen. Schwierigkeiten ergeben sich im Bereich der 69 Kampfschiffe, die zum größten Teil im Hafen von Peenemünde in meinem Wahlkreis Wolgast liegen.Um es gleich vorwegzunehmen: Mir geht es nicht um die Umgehung von Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland beim Verkauf von Kriegsgerät, sondern das Gegenteil ist richtig. Ich übersehe nicht, daß dieses von Mitgliedern der Opposition argwöhnisch hinterfragt wird. Ich stelle mir die Frage, ob es richtig ist, daß Schiffe, die nach den Vorschriften des BMVg demilitarisiert wurden, trotzdem noch Kriegswaffen sind, weil laut Kriegswaffenkontrollgesetz auch Schiffsrümpfe noch eine Waffe sind.Hilfreich wäre es, wenn diese Aussage des Kriegswaffenkontrollgesetzes beschränkt auf die Verwertung der NVA-Marinetechnik geändert wird. Darüber waren wir uns auch mit den Kollegen der Opposition in unserer letzten Verteidigungsausschußsitzung einig. Ansonsten wäre ein Verkauf dieser Schiffe an Länder außerhalb der NATO trotz Demilitarisierung nicht möglich.Die Liegezeit dieser Schiffe läßt sich nicht beliebig verlängern, ohne daß die Qualität und die Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt werden. Eine Verschrottung aber würde letztendlich erhebliche Kosten für den Steuerzahler bedeuten. Daß dies volkswirtschaftlicher Unsinn ist — wie das auch der Betriebsratsvorsitzende der Peenewerft Wolgast, Herr Müller, sagte —, liegt auf der Hand; denn vor dem Hintergrund der schwierigen Beschäftigungslage der Werften in ganz Mecklenburg-Vorpommern würde die Demilitarisierung der Schiffe zusätzliche Aufträge bedeuten und damit weitere Arbeitsplätze sichern.Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung, daß sie den übereinstimmenden Willen des Verteidigungsausschusses zur Kenntnis nimmt und entsprechend handelt, und zwar schnell; denn Eile ist dringend geboten.
Dieser tosende Beifall ist wohl darauf zurückzuführen, daß der Kollege seine Jungfernrede gehalten hat. Ich beglückwünsche ihn dazu.
Nun ist der Kollege Gernot Erler an der Reihe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Adam, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Jungfernrede, die Sie mit einer zutreffenden Bemerkung über den Umfang der NVA und des Erbes, das wir übernehmen mußten, begonnen haben. In der Tat handelt es sich um eine der modernsten, bestausgestatteten Armeen, die wir am 3. Oktober 1990 übernommen haben, und um eine sehr große Menge von Waffen.Gerade weil es sich hier um Volksvermögen handelt, das in die Verantwortung der Bundesregierung gekommen ist, hätten wir eigentlich erwartet, daß nicht erst durch immer wieder drängende Fragen des Parlaments und durch eine öffentliche Auseinandersetzung die Bundesregierung dazu gebracht wird, einmal Auskunft über die Verwertung zu geben, sondern daß die Bundesregierung in Form einer Bringschuld vor allen Dingen die zuständigen Ausschüsse, den Haushaltsausschuß und den Verteidigungsausschuß, von selber informiert.Dies ist aber leider nicht der Fall gewesen. Vielmehr sind durch zwei Zufälle die Öffentlichkeit und das Parlament den schon erfolgten Maßnahmen auf die Spur gekommen, nämlich durch eine Anfrage von mir im Parlament am 10. Oktober letzten Jahres, auf die ich leider eine völlig unvollständige Antwort erhielt, und dann am 26. Oktober 1991 durch die bekannte BND-Panzeraffäre, in deren Folge wir uns im Verteidigungsausschuß — Herr Kollege Adam, Sie wissen es ja — immer wieder mit vielen Fragen an die Bundesregierung wenden mußten und anschließend eine ganze Reihe von Auskunftsbegehren formuliert haben, z. B. die Frage gestellt haben: An welche Länder sind eigentlich zur wehrtechnischen Auswertung Waffen geliefert worden, an welche NATOLänder, an welche Nicht-NATO-Länder? Schließlich wurde auch die Frage gestellt: Welche Maßnahmen sind im Zuge von humanitärer Hilfe ergriffen worden?Nachdem wir immer mehr merkten, daß sich offenbar die Hardthöhe selber nicht darüber im klaren ist, was bisher alles erfolgt ist, waren wir dann gezwungen, am 16. Oktober 1991 eine Kleine Anfrage nach
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Gernot Erlerdem Schicksal der von Ihnen angesprochenen Schiffe der ehemaligen Volksmarine zu stellen, am 26. November 1991 eine Kleine Anfrage zur gesamten Verwendung des NVA-Erbes und dann am 11. Dezember 1991 ebenjenen Antrag zur parlamentarischen Kontrolle der Auflösung der Nationalen Volksarmee, über den wir heute hier reden.Ich muß Ihnen eines sagen: Leider haben alle Antworten, die wir bisher bekommen haben, immer nur neue Fragen ausgelöst, weil sie erstens mit großer Verzögerung kamen und zweitens unvollständig waren. Auch jetzt warten wir immer noch auf die Liste über die Länder und die Gegenstände, die im Zuge von humanitärer Hilfe geleistet worden sind.
Sie ist uns jetzt für März dieses Jahres in Aussicht gestellt worden.Ich sage Ihnen auch: Wir waren teilweise über die Auskünfte erschrocken, die wir durch unsere parlamentarische Nachfrage bekommen haben, z. B. darüber, daß die Türkei für 1,5 Milliarden DM Wert — so heißt es — über 100 000 Panzerfäuste, über 250 Kalaschnikows, 500 000 Stahlhelme und die unbeschreibliche Zahl von 450 Millionen Stück Munition erhalten hat, die Ausrüstung einer ganzen Armee. Ich hoffe, wir sind uns in diesem Hause darüber in der nachdrücklichen Forderung einig, daß dieses Material wirklich nur der Ausrüstung der türkischen Armee dienen und nicht etwa als Mittel einer Interessenpolitik der Türkei in Mittelasien eingesetzt werden darf.Das Fazit aber aus all unseren Bemühungen und auch aus der Beantwortung der Kleinen Anfrage, die wir am 31. Januar dieses Jahres bekommen haben, ist, daß wir dabei erfahren haben: Erst im Herbst 1991, nämlich nachdem wir begonnen haben, diese Nachfragen zu stellen, ist es offenbar auf der Hardthöhe zu einer Registrierung der tatsächlichen Vorgänge gekommen. Das erklärt auch, warum es so lange dauert, bis überhaupt Auskünfte gegeben werden. Auch heute, noch 16 Monate nach Übernahme der NVA, ist eine Bestandsaufnahme zwar „weit fortgeschritten", aber immer noch nicht abgeschlossen. Noch immer befinden sich in 9 von 10 Bundeswehrstandorten in den neuen Bundesländern NVA-Materialien, die dort nicht hingehören und anderweitig verwertet werden sollen.Wir wissen aus diesen Antworten, daß die Inanspruchnahme privater Institutionen, z. B. der VEBEG, der VEMIG, der MDSG, bei der Verschrottung und Verwertung der Materialien den eigenen Zeitplänen des Verteidigungsministeriums hinterherhinkt und daß, wenn wir einmal ausrechnen, wie lange es noch dauert, bis bei dem jetzigen Fortschritt der Dinge auch nur diese unglaublichen Mengen an Munition vernichtet sind, wir mit einem Zeitraum von 7 bis 8 Jahren rechnen müssen.Wir wissen inzwischen auch, daß die Bestandsermittlung — nicht einmal die bei Kleidung und persönlicher Ausrüstung der Armee Honeckers — bis heute noch nicht abgeschlossen werden konnte.Wir haben ziemliche Sorgen — muß ich sagen —, wenn wir von dem Schicksal der 44 Verträge hören, die die Bundesregierung am 3. Oktober 1990 noch aus der Zeit von Eppelmanns Ministerium für Abrüstung und Verteidigung übernommen hat, wo heute teilweise Firmen gegen die Bundesregierung klagen, teilweise andere Lösungen gefunden sind. Auch hier besteht noch eine erhebliche Unklarheit.Schließlich der letzte Punkt: Wir bekommen keine Auskunft darüber, über welche Werte es sich hier eigentlich handelt. Das ist ein erstaunlicher Vorgang.
In früheren Zeiten wußten wir immer ziemlich genau, was unsere damaligen Gegner im Warschauer Pakt an Aufwendungen für die Rüstung betrieben. Damals wurden auch die Zahlen im Wert von 90 Milliarden DM in die Welt gesetzt. Die Bundesregierung ist z. B. auch in der Lage, für 1,5 Milliarden DM Waffen und Materialien in die Türkei zu liefern — da weiß sie den Wert — oder Angebote zum Verkauf von Waffen in Drittländer zu formulieren. Da ist sie in der Lage, Werte anzugeben. Aber wenn die Parlamentarier fragen, um welche Werte es sich hierbei handelt, dann bekommen wir die Auskunft, das sei leider nicht zu ermitteln.All das zeigt, meine Damen und Herren, wie richtig es war, daß wir Sozialdemokraten eine wirksame parlamentarische Kontrolle gefordert haben. Ich bin zusammen mit Ihnen sehr froh, daß es uns nun doch gemeinsam gelungen ist, einen solchen Antrag auf den Weg zu bringen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch dem Kollegen Kossendey für seine Kooperationsfähigkeit danken.In diesem gemeinsamen Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, dem Verteidigungsausschuß schriftlich alle vier Monate, beginnend im Mai 1992 und dann weiter im September 1992, und halbjährlich auch dem Haushaltsausschuß Bericht zu erstatten. Es ist eigentlich schlimm, daß sich das Parlament diese Selbstverständlichkeiten, gemessen an dem Umfang dieses Vorgangs und an den Werten, um die es ging, erst erstreiten muß und daß die Regierung diese Informationen nicht selbstverständlich von sich aus gegeben hat.Es ist aus der Sicht der Hardthöhe anscheinend viel interessanter, sich mit den spannenden Fragen des weltweiten Einsatzes der Bundeswehr und mit aufregenden Studien über übergeordnete politische Aufgaben der Bundeswehr in der Zukunft zu beschäftigen, als sich mit den nüchternen Alltagsproblemen auseinanderzusetzen, die aus diesem Erbe erwachsen.Ich verspreche, daß wir in Ausfüllung dieses gemeinsamen Antrages dafür sorgen werden, daß in Zukunft eine sehr sorgfältige Kontrolle der politischen Interessen der Bundesrepublik im Zusammenhang mit allen Vorgängen in bezug auf die Auflösung der NVA gewährleistet ist und daß dies in den zuständigen Fachausschüssen auch zur Sprache kommt.Vielen Dank.
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6592 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 79. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1992
Nun hat die Kollegin Sigrid Semper das Wort.
Sehr verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über den gemeinsamen Antrag der Koalition und der SPD über die „Unterrichtung des Parlaments über die Verwertung von Material der ehemaligen NVA" beraten, so möchte ich Ihnen zunächst noch einmal ins Gedächtnis rufen, mit welch schwieriger Aufgabe wir uns befassen und von welchen Voraussetzungen wir ausgehen müssen.
Die Bundesregierung hat mit dem NVA-Material und -Gerät einen Teil des auf verschiedendste Weise verschleuderten Volksvermögens der ehemaligen DDR übernommen. Trotz der Bemühungen um Schaffung von Wahrheit durch die erste demokratisch gewählte Regierung der DDR konnte erst nach der Herstellung der Einheit eine wirkliche Bestandsaufnahme des Materials durchgeführt werden. Neben der personellen erfolgte die materielle Übergabe mit über 300 000 t Munition, Tausenden von Kampfpanzern und mehr als 10 000 weiteren Gefechtsfahrzeugen und Waffen. Die Zahl der Handfeuerwaffen geht in die Hunderttausende.
Zahlreiche Angehörige und Systemträger der alten DDR haben blitzschnell die freie Marktwirtschaft begriffen und versucht, in dieser historischen Umbruchsituation durch den Verkauf von Waffen und Geräten schwarze Geschäfte zu machen. Geschäfte, die in der Übergangszeit nach dem Fall der Mauer initiiert wurden, konnten zu ihrem damaligen Entstehungszeitpunkt nicht verhindert werden.
Gerade deshalb wächst der Bundesregierung hiermit eine besondere Verantwortung für die Behandlung des NVA-Materials zu, die — so wird es in dem vorliegenden Antrag folgerichtig bekräftigt — nach den immer wieder verschärften restriktiven rüstungsexportpolitischen Grundsätzen der Bundesrepublik erfolgen muß.
Da es sich um Bundesvermögen handelt, ist eine wirtschaftliche Nutzung des vorhandenen Materials anzustreben. Hierzu gehört eine Eigennutzung — wo möglich — und eine Abgabe, wo politisch sinnvoller Gewinn erreicht werden kann. Jede Abgabe muß jedoch den vorgenannten Prämissen genügen.
Neben den rüstungsexportpolitischen Grundsätzen müssen wir strikt auf die Einhaltung der KSEVerpflichtungen nicht nur unseres Landes, sondern auch aller unserer europäischer Partner achten. Für die F.D.P. möchte ich ganz besonders unterstreichen, daß wir das Entstehen frei flukturierender Waffenströme verhindern sollten. Aus diesem Grunde müssen wir strengstens auf Endverbleibsklauseln achten.
Bei der Komplexität dieser Problematik ist daher unsere parlamentarische Kontrolle Hilfe und zugleich Ansporn für die Regierung. Die Zeiträume der Berichterstattung sind deshalb angemessen und unterstreichen die Sensibilität und Prioritätensetzung des Parlaments.
Immer wieder erneuerte Vorwürfe, der Handel mit NVA-Material sei außer Kontrolle geraten, halten einer ernsthaften Überprüfung nicht stand. Selbstverständlich gibt es über die mit uns verbündeten und befreundeten Staaten hinaus zahlreiche Nachbarländer, die auf Grund ihrer subjektiven oder objektiven Sicherheitsbedürfnisse starkes Interesse an der Überlassung ehemaligen NVA-Materials haben. Berechtigte wie auch unberechtigte Vorwürfe gegen die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren wegen Mitwirkung an Rüstungsprojekten in Krisengebieten erfordern eine besonders restriktive Vorgehensweise unseres Landes.
Der aufgezeigten Linie restriktiver Rüstungsexportpolitik auch in bezug auf das Material der ehemaligen NVA entspricht die in dem vorliegenden Antrag besonders hervorgehobene Möglichkeit der kostenlosen Abgabe zivil nutzbaren Materials im humanitären Sinn, insbesondere in den Staaten Mittelosteuropas und der GUS. Allein der ungarische Malteserhilfsdienst hat Material im Wert von 4,6 Millionen DM erhalten. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung Dr. Ottfried Hennig übergab gestern und heute gemeinsam mit meinem Kollegen Koppelin in Königsberg 20 t Hilfsgüter für Krankenhäuser. Das Sanitätsmaterial stammt auch aus Vorräten der ehemaligen NVA. Derartige Lieferungen müssen weiter intensiviert werden.
In diesem Zusammenhang sei abschließend darauf hingewiesen, daß nur wirtschaftlich wohlhabende Länder wie die Bundesrepublik Deutschland überhaupt in der Lage sind, eine restriktive Rüstungsexportpolitik zu betreiben. Die in schwieriger wirtschaftlicher Lage befindlichen Länder des ehemaligen Ostblocks tun sich hiermit jedoch schwer und geraten in Gefahr, durch Abgabe überzähliger Rüstungsgüter die Finanzen aufbessern zu wollen. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um — über bestehende Hilfsleistungen hinaus — in intensiver Weise zum wirtschaftlichen Aufschwung unserer osteuropäischen Partner beizutragen.
Gerade die F.D.P. hat immer darauf hingewiesen, daß nur auf einer gesunden wirtschaftlichen Gesamtbasis kooperative Sicherheitsstrukturen zu verwirklichen sind. In diesen Zusammenhang ist die Verwertung des NVA-Materials einzubetten.
Danke.
Nun kommt als letzter für den heutigen Tag der Parlamentarische Staatssekretär Willy Wimmer. Wir sind gespannt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten durchaus betonen, daß es sich um einen Antrag im Sinne eines Konsenses handelt. Wir stehen deshalb voll dahinter, weil wir in den vergangenen Monaten
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Parl. Staatssekretär Willy Wimmermanchmal — das wird Sie vielleicht wundern — schmerzlich vermißt haben, Herr Kollege Erler, daß eine normale parlamentarische Beratung auf diesen Feldern nicht möglich war. Wenn wir uns einfach daran erinnern, daß wir im August 1990 mit dem ganzen Problemfeld NVA angefangen haben, und uns dann vor Augen halten, wann der Bundestag wieder voll arbeitsfähig war, dann können wir feststellen: Aus der Sicht der Administration haben wir über Monate hinweg unseren parlamentarischen Ansprechpartner für diese schwierigen Fragen vermißt.So ist vieles von dem, was Sie heute sagen, überhaupt nicht konträr zu unseren Auffassungen zu sehen. Insoweit sehen wir auch die Berichtspflicht als äußerst positiv an. Wir müssen zu den normalen Gepflogenheiten zurückkommen.Ich will ausdrücklich bestätigen, was Sie sagen: daß viele Fragen in diesem Kontext offen sind. Der Kollege Adam hat einige davon im Zusammenhang mit der schwierigen Frage des Umweltschutzes angesprochen. Wohin verbringen wir dieses Gerät, die Lkw, die Panzer und die Flugzeuge? Welches Schicksal werden sie auf den Plätzen haben, wohin sie derzeit verbracht werden? Es ist nicht damit getan, daß wir sie einfach nur sammeln. Aber das war natürlich eine der ersten Aufgaben, die wir zu bewältigen hatten, um sie zu sichern.Nach dieser Sicherungsaufgabe kommt jetzt die Frage der endgültigen Verwertung, nicht nur — wie das Frau Kollegin Dr. Semper gesagt hat — unter rüstungskontrollpolitischen Gesichtspunkten, sondern auch unter dem Aspekt: Was wird auf den Liegenschaften geschehen, auf die diese Lkw verbracht werden? Wir müssen das ganze Spektrum sehen.Deswegen will ich an dieser Stelle durchaus betonen, daß das, was parlamentarisch dazu gesagt worden ist — obwohl wir, Herr Kollege Erler, in dieser Frage manchmal im Streit waren —, für uns auch derHinweis darauf ist, daß wieder normale Prozeduren unter uns stattfinden. Ich sage das sehr positiv, um deutlich zu machen, daß wir hier eine der gewaltigsten Aufgaben zu bewältigen haben, mit denen wir uns überhaupt auseinandersetzen mußten und müssen.Ich sage auch für das Bewußtsein derjenigen, die es vielleicht nur im Protokoll nachlesen: Wir haben eine Armee übernommen, die für mindestens drei Kriege in Mitteleuropa ausgerüstet war. Das ist eine der schwierigsten Hinterlassenschaften, mit denen wir es zu tun haben. Ich glaube, daß wir in dem gesamten Spektrum zwischen Umweltschutz, Rüstungskontrolle und humanitärer Aufgabe gar nichts anderes tun können, als in dem von den Kolleginnen und Kollegen angesprochenen Sinne verantwortlich mit diesen Gerätschaften umzugehen.Von daher kann ich aus der Sicht des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundesregierung diesen Antrag der verantwortlich handelnden Fraktionen dieses Hauses nur begrüßen und will das hier auch nachdrücklich zum Ausdruck bringen.Ich bedanke mich.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 12/2114? — Es sind alle. Der Antrag ist damit angenommen.
Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, den 21. Februar 1992, 9 Uhr ein. Ich wünsche eine wunderschöne, gute Nacht.
Die Sitzung ist geschlossen.