Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde
— Drucksache 12/2098 —
Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz auf. Zur Beantwortung steht uns der Staatssekretär Dr. Göhner zur Verfügung.
Ich rufe Frage 1 des Abgeordneten Lowack auf:
Inwieweit hat die Bundesregierung dazu beigetragen, Verbrechen an den Deutschen in der Zeit der Vertreibung, vor allem auch nach dem Kriegsende durch Polen und Tschechen, aufzuklären und zu dokumentieren?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Lowack, bereits in den Jahren 1953 bis 1963 ist auf Veranlassung der Bundesregierung von Wissenschaftlern eine sehr umfangreiche Dokumentation über die während des Krieges und danach im Zusammenhang mit der Vertreibung — insbesondere auch in Polen und der Tschechoslowakei — an Deutschen begangenen Verbrechen erstellt worden. Der Titel dieser Dokumentation lautet „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa".
Diese Dokumentation und weitere einschlägige Veröffentlichungen — ich nenne hier insbesondere die Dokumentation „Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948", herausgegeben von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen — enthalten zwar zahlreiche Schilderungen über Verbrechen an Deutschen, aber nur in wenigen Fällen so genaue Angaben über die Täter, daß deren strafrechtliche Verfolgung in Betracht kommen konnte.
Soweit Verdächtige in den Zugriffsbereich der deutschen Justiz gelangt sind, wurde von den zuständigen deutschen Behörden versucht, die Taten aufzuklären. Das war naturgemäß bisher aber nur in wenigen Fällen möglich.
Danke schön.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Danke schön, Herr Kollege Dr. Göhner. Ist denn der Bundesregierung bekannt, in wieviel Fällen auf Grund dieser Dokumentation, zu der ich allerdings sagen möchte, daß sie schon zu Beginn der 80er Jahre nicht mehr zugänglich war — das vielleicht als kleiner Hinweis für die Bundesregierung —, wegen Verbrechen an Deutschen von deutscher Seite oder auch in Zusammenarbeit mit tschechischen, tschechoslowakischen oder polnischen Behörden denn überhaupt ermittelt wurde?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, mir liegen im Augenblick keine genauen Zahlen über die Ermittlungsverfahren vor.
Weitere Zusatzfragen sind nicht erwünscht. — Herr Staatssekretär, dann sind Sie mit Ihrer Arbeit hier im Hause für heute fertig.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Carstens zur Verfügung.
Die Fragen 2 und 3 des Abgeordneten Ludwig Stiegler und die Frage 4 des Abgeordneten Koschyk werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe Frage 5 des Abgeordneten Beucher auf:
Welche Mitarbeiter der Nomenklatur des Sekretariats des ZK der SED waren von Beginn der Treuhandanstalt direkt oder indirekt für die Treuhandanstalt tätig?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Zur Zeit der Errichtung der Treuhandanstalt unterlag deren personelle Besetzung nicht der Einflußnahme der Bundesregierung. Erkenntnisse über die Zugehörigkeit von Mitarbeitern der Treuhandanstalt zu dem Kreis der Nomenklaturkader wurden erst gewonnen, nachdem Herr Dr. Rohwedder die Präsidentschaft der Treuhandanstalt übernommen hatte. Im Anschluß daran trennte sich die Treuhandanstalt aus politischen Gründen von 58 Mitarbeitern. Etwa die Hälfte dieser Entlassungen betraf Angehörige aus dem Kreis der hohen Nomenklaturkader.
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6426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte schön.
Haben Sie sich bemüht, sich über die personalpolitischen Konsequenzen für die Mitarbeiter klarzuwerden, die noch bei der Treuhandanstalt beschäftigt sind — Sie haben ja nur 58 genannt, von denen man sich getrennt hat —, und was das für die Arbeit der Treuhandanstalt bedeutet?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das geht vielleicht schon in den Bereich der zweiten Frage über.
Das möchte ich auch meinen.
Der Abgeordnete Conradi zu einer Zusatzfrage.
Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus diesen Erkenntnissen gezogen, etwa in der Hinsicht, Verträge und Rechtsgeschäfte, die diese ehemaligen Angehörigen der Nomenklatur möglicherweise zugunsten ihrer ehemaligen Partei oder zugunsten des Parteivermögens, das Herr Schalck-Golodkowski verwaltet hat, eingeleitet haben, nachträglich zu korrigieren, möglicherweise anzufechten und rückgängig zu machen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Soweit mir bekannt ist, hat es derlei Fälle bislang nicht gegeben. Wir werden ja, nicht zuletzt durch Abgeordnete, aber auch durch andere Briefeschreiber, gelegentlich auf gewisse Vorkommnisse aufmerksam gemacht, die dann jeweils im Einzelfall überprüft werden. Das ist eine Einzelfallprüfung. Es kommt auf den Tatbestand dessen an, was dort verhandelt und vereinbart wurde. Nach meinem derzeitigen Erkenntnisstand haben wir derlei Vorgänge nicht gehabt. Ich wäre gerne bereit, Ihnen schriftlich mitzuteilen, falls es in Einzelfällen anders sein sollte.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schily.
Herr Staatssekretär, da Sie, wie Sie uns mitteilen, in 58 Fällen personelle Konsequenzen gezogen haben, frage ich Sie, ob Sie bei allen Rechtsgeschäften, die diese 58 Entlassenen bearbeitet haben, systematisch überprüft haben, ob sie korrekt abgewickelt worden sind.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich werde der Frage nachgehen. Ich habe eben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Conradi, die in etwa in die Richtung Ihrer Fragestellung geht, erläutert, daß wir dann, wenn wir auf Einzelfälle aufmerksam gemacht werden, unmittelbar eine Überprüfung vornehmen. Ich werde — das sage ich Ihnen zu, Herr Abgeordneter — Ihrer Frage unverzüglich nachgehen, um das dann auch Ihnen konkret beantworten zu können.
Zu einer Zusatzfrage Herr Beucher, bitte schön.
Beschäftigt sich die Bundesregierung mit einer Auswertung der Verantwortlichkeiten in ihrer DDR-Zeit von denjenigen
Personen, die bei der Treuhand eingestellt worden sind?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die meisten derjenigen, die auf Grund gewisser Angaben jetzt überprüft werden mußten, sind ganz zu Beginn eingestellt worden. Wenn ich mich richtig erinnere, war dies der 30. März 1990. Wir werden möglicherweise auch in der darauf folgenden Zeit jemanden eingestellt haben, der bei einer entsprechenden Überprüfung entsprechende Merkmale ausweisen könnte. Aber nach meinem jetzigen Erkenntnisstand sind mir derlei Fälle bislang nicht bekannt geworden. Daß es sie gegeben hat, kann ich aber natürlich nicht ausschließen.
Dann darf ich feststellen, Herr Staatssekretär: Sie schicken den drei Abgeordneten die Ergebnisse Ihrer Überprüfung hinsichtlich der Rechtsgeschäfte zu.
Wir kommen jetzt zu der Frage 6 des Abgeordneten Beucher:
Wer ist heute noch als Mitarbeiter oder Berater oder Spezialist für die Treuhandanstalt tätig und war zu DDR-Zeiten Nomenklatur des Sekretariats des ZK der SED oder Nomenklatur des Politbüros?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Unter den Mitarbeitern der Treuhandanstalt befinden sich noch ein ehemaliger Staatssekretär sowie sieben ehemalige stellvertretende Minister.
Danke schön. Zusatzfrage.
Sind Sie bereit, uns diese Namen gegebenenfalls schriftlich mitzuteilen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Da hätte ich keine Bedenken.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Beucher? — Das ist nicht der Fall.
Abgeordneter Conradi.
Hat die Bundesregierung ihre Möglichkeiten zur Feststellung der früheren Tätigkeiten der bei der Treuhand Beschäftigten voll ausgeschöpft, beispielsweise die Möglichkeit, über den Verfassungsschutz und den BND Informationen über frühere Tätigkeiten dieser Leute zu bekommen, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß die Bundesregierung bei den als Briefträgern, Lokomotivführern und in anderen Berufen Tätigen sonst außerordentlich gründlich deren politisches Vorleben studiert hat? Noch einmal: Hat die Bundesregierung ihre Möglichkeiten voll genutzt, die Vergangenheit dieser Leute zu eruieren?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich. Wir arbeiten sehr eng mit der GauckBehörde zusammen. Das ist die adäquate Institution, um derlei Fälle zu prüfen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6427
Parl. Staatssekretär Manfred Carstens—Ja, ja, schon. Wo immer wir sonst Hinweise bekommen, gehen wir denen natürlich nach.
Abgeordneter Schily.
Halten Sie es denn im Interesse einer angemessenen Arbeit der Treuhandanstalt für geboten, daß die von Ihnen genannten Personen auch noch weiter amtieren?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Wir machen eine Einzelfallprüfung. Wenn bei der Überprüfung keine Fälle bekannt werden, sehen wir uns nicht imstande, entsprechend einzuschreiten. Wenn jemand z. B. der Stasi-Mitarbeit nicht nur bezichtigt wird, sondern sie ihm auch nachgewiesen wird, wird sofort gehandelt. Ansonsten gibt es immer eine Einzelfallprüfung. Ich weiß auch nicht, wie wir sonst vorgehen sollten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schwanitz.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, uns mitzuteilen, in welcher Funktion die von Ihnen genannten sieben stellvertretenden Minister und der eine Staatssekretär jetzt bei der Treuhand tätig sind?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ja, d. h. Ihnen, weil Sie jetzt fragen. Sie können das dann auch gerne verwerten.
Danke schön. —
Dann kommen wir zur Frage 7 der Abgeordneten Frau Mehl:
Wie steht die Bundesregierung zu der Frage einer Gemeinde, durch Naturschutzrecht geschützte bundeseigene Flächen kostenlos den betroffenen Gemeinden zum Zwecke einer naturschutzorientierten Pflege zu übereignen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung ist aus haushaltsrechtlichen Gründen verpflichtet, bundeseigene Grundstücke stets zum vollen Wert, d. h. Verkehrswert, zu verkaufen. Dies gilt auch für Grundstücke, die dem Naturschutz unterliegen.
Die Durchführung des Naturschutzes ist Aufgabe der Länder, so daß auch aus diesem Grund eine verbilligte Abgabe bundeseigenen Geländes nicht vertretbar ist. Die Bundesregierung ist jedoch bereit, die genannten Flächen dem Land oder der Gemeinde zu veräußern.
Bei Naturschutzflächen — ich möchte das eigens noch erwähnen — ist eine ertragsorientierte Nutzung nicht möglich. Dies wird bei der Feststellung des Verkehrswertes berücksichtigt, so daß diesen Flächen in aller Regel ein geringer Verkehrswert beizumessen sein wird.
Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete.
Der aber erheblich sein kann.
Würden Sie mir zustimmen — ich habe da einen konkreten Fall, aber es gibt eben auch andere; ich verstehe dies als generelle Frage —, daß es für Gemeinden Kosten bedeutet, eine Fläche zu pflegen, und daß es sinnvoll wäre, eine Fläche, die anderweitig als im Sinne des Naturschutzes überhaupt nicht „genutzt" werden kann, einer Gemeinde kostenlos zu überlassen, wenn dort Pflegekosten entstehen, die diese Gemeinde übernehmen würde?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Naturschutz kann auf einer Fläche eigentlich unabhängig vom Eigentümer betrieben werden. Die Gemeinde hat das Planungsrecht. Wenn die Gemeinde bzw. die Kommune sagt: „Da ist Naturschutzgebiet" , dann ist das so. Das kann und will der Bund nicht ändern.
Die Frage, die sich daran anschließt, ist: Wer ist in Zukunft Eigentümer, und wer hat Interesse daran, Eigentum von einem anderen zu welchen Bedingungen gegebenenfalls zu erwerben? Nach welchen Gesichtspunkten das abgewickelt werden muß, habe ich soeben erläutert.
Eine weitere Zusatzfrage ist nicht erwünscht.Dann kann ich die Frage 8 des Abgeordneten Bartsch aufrufen:Trifft es zu, daß die Bundesregierung die Möglichkeit prüft, entsprechend dem Vorschlag ostdeutscher CDU-Abgeordneter eine bestimmte Anzahl strukturbestimmender Industriebetriebe, die sich z. Z. nicht privatisieren lassen, zeitweilig als Staatsholding oder mit anderen Formen der Beteiligung der öffentlichen Hand zu betreiben mit dem Ziel, sie nach erfolgreicher Sanierung über die Börse schrittweise zu privatisieren, und wenn ja, an welche Industriebereiche und Regionen ist dabei gedacht?Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das Ergebnis der intensiven Debatte der letzten Wochen mit Abgeordneten aus den neuen Bundesländern hat die betriebswirtschaftlich und ordnungspolitisch begründete ablehnende Haltung der Bundesregierung in der Frage einer Staatsholding bestätigt. Breite Übereinstimmung konnte darüber erzielt werden, daß Staatsholdings zur Beteiligungsführung ostdeutscher Unternehmen nicht in Frage kommen, weil eine neuerliche Verstaatlichung von Industrieunternehmen dem Aufschwung in den neuen Bundesländern schweren Schaden zufügen würde.Die Treuhandanstalt hat zwei Vorschläge zur Beteiligungsführung ostdeutscher Unternehmen in die Diskussion eingebracht. Damit will sie weitere kreative Möglichkeiten ihrer Privatisierungspolitik ausschöpfen.Als erstes schlägt die Treuhandanstalt für Unternehmen ab etwa 500 Mitarbeitern die Bildung sogenannter Management-Kommanditgesellschaften vor. In diesen sollen die Treuhandanstalt als Komplementär und eine Privatperson als Kommanditist beteiligt sein. Dieses Modell soll die Möglichkeit eröffnen, sanierungserfahrenes Management zu gewinnen. Dabei wird zunächst die Sanierungsaufgabe privatisiert und danach das Eigentum am Unternehmen selbst. Damit soll gewährleistet werden, daß die Umstrukturierung der Unternehmen in privaten Händen liegt. Der sanierungserfahrene private Manager
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6428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Parl. Staatssekretär Manfred Carstenskann zu jedem Zeitpunkt das Unternehmen erwerben und in sein Eigentum überführen.Der zweite Vorschlag, Privatisierung in Einzelfällen, in denen das jeweilige Land ein besonderes regional- oder strukturpolitisches Interesse hat, mit Minderheitsbeteiligung der Länder aufzugreifen, wurde von den Ministerpräsidenten der Länder generell abgelehnt.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bartsch, bitte schön.
Würden Sie zugestehen, daß die Ablehnung der Ministerpräsidenten der Länder nicht vordergründig deshalb erfolgt, weil sie kein Interesse am Erhalt dieser strukturbestimmenden Betriebe haben, sondern möglicherweise aus schlichten Finanznöten?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das will ich nicht ausschließen; aber die Finanzausstattung der Länder ist gerade in den letzten Tagen geregelt worden, so daß der Grund sicherlich eine verminderte Bedeutung haben wird.
Weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bartsch? — Nicht zu dieser Frage.
Dann rufe ich Ihre Frage 9 auf:
Wie sollte nach Meinung der Bundesregierung die Finanzierung für ein solches Modell erfolgen?
Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Die Finanzierungsmodalitäten für die Management-Kommanditgesellschaften müssen durch Vereinbarungen zwischen der Treuhandanstalt als Kommanditist und den Sanierungsmanagern als Komplementären innerhalb des der Treuhandanstalt eingeräumten Finanzrahmens geregelt werden.
Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall. Herr Staatssekretär, dann bedanke ich mich sehr herzlich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Fragen 10 und 11 der Abgeordneten Dr. Helga Otto, die Fragen 12 und 13 der Abgeordneten Maria Eichhorn sowie die Fragen 14 und 15 des Abgeordneten Wieland Sorge sollen auf deren Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich komme dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Hier steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Beantwortung zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 33 der Abgeordneten Frau Kastner auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß Sachsen nach Äußerungen des Staatsministers für Umwelt und Landesentwicklung, Arnold Vaatz, seine Probleme mit der Trinkwassersanierung und Abwasserreinigung nicht aus eigener Kraft lösen kann, und wie will die Bundesregierung dem Land Sachsen und den anderen neuen Bundesländern helfen, die Gewässer- und Trinkwassersanierung möglichst schnell durchzuführen, um bis 1995 die Verpflichtungen aus der EG-Richtlinie über die Übergangsmaßnahmen für bestimmte Gemeinschaftsvorschriften über den Umweltschutz einhalten zu können?
Frau Kollegin Kastner, der Bundesregierung sind die Äußerungen des Staatsministers für Umwelt und Landesentwicklung des Freistaates Sachsen ebenso bekannt wie die Probleme der Trinkwasserversorgung und der Abwasserreinigung. Sie hat deshalb seit dem 3. Oktober 1990 im Haushalt im Fonds Deutsche Einheit und im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost erhebliche Mittel bereitgestellt, um bei der Überwindung der Schwierigkeiten zu helfen. Insbesondere im Trinkwasserbereich wurde durch Sofortmaßnahmen sichergestellt, daß für die Bevölkerung keine Gesundheitsgefährdung durch Schadstoffe im Trinkwasser besteht.
Der Bundesregierung bis jetzt vorliegende Kenntnisse zeigen, daß durch temporäre Hilfsmaßnahmen die Verpflichtungen zur Einhaltung der Trinkwasserrichtlinie aus der EG-Recht-Überleitungsverordnung weitgehend eingehalten werden können. Die langfristige Sicherung der Trinkwasserversorgung in den neuen Ländern erfordert aber hohe Summen und ein enormes Maß an Planung, Organisation und Zusammenarbeit. Die Verantwortung der Länder für die Trinkwasserversorgung muß sich auch in einer entsprechenden Prioritätensetzung zeigen.
Bei Umsetzung und Anwendung insbesondere der Gewässerschutzrichtlinie bedarf es großer Anstrengungen der neuen Länder im Vollzug des Umweltrechts, mit dem die EG-Vorschriften umgesetzt sind. Es ist aber derzeit von einer im wesentlichen fristgerechten Einhaltung der entsprechenden Richtlinien auszugehen.
Durch die geänderte Steuergesetzgebung stehen den Ländern Mehreinnahmen zur Verfügung, die sie in die Lage versetzen, im Trinkwasserbereich noch stärker als bisher Sanierungsaufgaben anzupacken.
Danke schön. — Zusatzfrage, Frau Abgeordnete.
Frau Staatssekretärin, stimmen Sie mit mir überein, daß die Aussage des sächsischen Umweltministers Vaatz, die erst in den vergangenen Tagen in der Presse zu lesen war, nämlich daß allein für Sachsen 12 Milliarden DM für die Trinkwassersanierung und 31 Milliarden DM für die Abwasserentsorgung zu tätigen sind, auch ein Hilferuf oder ein Signal an die Bundesregierung ist, daß die maßgeblichen Mittel, von denen Sie gerade gesprochen haben, doch so maßgeblich nicht sind?
Frau Kollegin Kastner, wir kennen die Probleme sowohl im Trinkwasserbereich als auch in der Abwasserentsorgung. Wir sind uns unserer Verantwortung bewußt und werden gemeinsam mit den Ländern die Prioritäten festlegen und finanzielle Unterstützung geben.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Wenn Sie von den Prioritäten und den finanziellen Mitteln sprechen, Frau Staatssekretärin, würden Sie mir dann einmal sagen,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6429
Susanne Kastnerwarum der von der EG eingeforderte Bericht bis zum heutigen Tag noch nicht auf dem Tisch des Hauses liegt und noch in der Ressortabstimmung ist? Kann man daraus den Schluß ziehen, daß Sie im Bewußtsein Ihrer politischen Verantwortung noch überlegen werden, hier von seiten des Bundes finanziell tätig zu werden?
Frau Kollegin Kastner, ich kann Ihre Feststellungen hier nicht bestätigen. Der Bericht liegt vor, und er wird der EG, wie mit ihr vereinbart, Ende Februar übergeben werden.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Ich möchte einmal nachfragen, ob der Bericht auch Sanierungsmaßnahmen enthält.
Der Bericht enthält eine umfangreiche Liste der örtlichen Wasserversorgungsanlagen mit den entsprechenden Daten und den notwendigen Maßnahmen, die zu ergreifen sind.
Herr Abgeordneter Lowack, bitte.
Dann darf ich noch ergänzend fragen, ob dieser Bericht auch eine Übersicht hinsichtlich der Finanzierung enthält.
Der Bericht hat auch im einzelnen festgelegt, welche Kosten voraussichtlich durch die Sanierungsmaßnahmen entstehen werden.
Nun will ich nicht darüber philosophieren, Frau Staatssekretärin, was der Unterschied zwischen Kosten und Finanzierung derselben ist. Das gehört auch nicht mehr zu dem Fragebereich.
Nun kommen wir zu den Fragen 34 und 35 des Abgeordneten Knaape, der um schriftliche Beantwortung gegeben hat. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Damit kommen wir zur Frage 36 des Abgeordneten Kirschner:
Wie hoch ist das Durchschnittseinkommen der niedergelassenen Zahnärzte im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der niedergelassenen Allgemeinärzte, der anderen Freien Berufe und der Arbeitnehmer, und um welchen Betrag ist die von der gesetzlichen Krankenversicherung pro Zahnarzt gezahlte Honorarsumme und das sich daraus ergebende Einkommen im Jahr 1990 und im Jahr 1991 gestiegen?
Herr Kollege Kirschner, sicher ist Ihnen entgangen, daß Sie bereits im November 1991 eine nahezu gleichlautende Frage nach dem durchschnittlichen Einkommen der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte gestellt haben.
Hinzuzufügen wäre allenfalls, daß die zur Verfügung stehenden Einkommensdaten aus den Jahren 1986/87 stammen. Sie lassen angesichts zwischenzeitlich gestiegener Arzt- und Zahnarztzahlen und der
erfolgten Ausgabenbegrenzungen der Gesundheitsreform keine verläßlichen Rückschlüsse auf die aktuelle Einkommenssituation zu.
Die Zahlungen der Krankenkassen für zahnärztliche Honorare haben 1990 um 2,3 % und in den ersten drei Quartalen 1991 nach vorläufigen Schätzungen um rund 12,3 % gegenüber der vergleichbaren Vorjahresperiode zugenommen. Eine Rückrechnung auf das Einkommen der Zahnärzte ist an Hand dieser Daten nicht möglich, da verläßliche Angaben über die Kostenstruktur der Praxen für das Jahr 1990 bzw. 1991 nicht vorliegen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Frau Staatssekretärin, darf ich aus Ihrer Antwort entnehmen, daß die Bundesregierung im Jahre 1992 immer noch keine näheren Daten aus den Jahren 1990 oder 1991 hat, obwohl doch in anderen Bereichen solche Daten abrufbar sind?
Herr Kollege Kirschner, ich habe schon damals in meiner Antwort klarzumachen versucht, daß diese Einkommensdaten auf Grund der Steuererklärungen der Ärzte erhoben werden und jederzeit im Statistischen Jahrbuch nachzulesen sind. Bei einer Analyse müssen alle Faktoren, die eine Grundlage der Einkommen bilden, also auch die Investitionskosten, berücksichtigt werden.
Eine weitere Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, da nach den Tabellen der KV 45 die Honorare in den ersten neun Monaten um 12,2 % gestiegen sind und da wir bekanntlich wissen, daß infolge des SGB V die Zuzahlungen für die Versicherten erheblich zugenommen haben — im Zahnersatzbereich müssen sie 40 % zuzahlen —, können Sie mir einmal die Gründe dafür nennen, daß wir so hohe Zuwachsraten bei den ärztlichen Honoraren haben?
Herr Kollege Kirschner, ich habe gesagt, daß es vorläufige Schätzungen sind. Genaue Analysen wird mein Haus noch erstellen. Wir können uns gerne in ein paar Wochen wieder darüber unterhalten.
Weitere Zusatzfragen zur Frage 36 liegen nicht vor.
Hat die Bundesregierung in der kassenärztlichen Versorgung die Absicht, durch eine Abschaffung des bewährten Sachleistungsprinzips und der damit verbundenen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsprüfungen den Zahnärzten die Möglichkeit für weitere Honorarsteigerungen zu Lasten der Versicherten zu eröffnen, und trifft es zu, daß die Bundesministerin für Gesundheit zusammen mit dem Freien Verband der Zahnärzte, der die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung fordert, dafür ein Konzept erarbeiten will, oder wie sonst ist die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl vom 12. Februar 1992 in der Fragestunde zu verstehen, „Frau Hasselfeldt wird vielmehr die geforderte Kostenerstattung überprüfen lassen"?
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6430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Herr Kollege Kirschner, die Bundesregierung hat nicht die Absicht, das Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Qualitäts-
und Wirtschaftlichkeitsprüfungen des SGB V aufzugeben. Allerdings hat der Gesetzgeber mit dem Gesundheits-Reformgesetz 1989 die Kostenerstattung für die Bereiche Zahnersatz und Kieferorthopädie eingeführt. Die Kostenerstattung wurde auf diese Leistungsbereiche beschränkt, weil es insbesondere in diesen besonders kostenträchtigen Bereichen darum ging, eine verbesserte Kostenkenntnis für die Versicherten zu schaffen und dadurch auch ihre Eigenverantwortung zu stärken; denn im Bereich des Zahnersatzes und der Kieferorthopädie kommt es entscheidend auf die Mitwirkung des Patienten an.
Erst wenn ausreichende Erfahrungen mit der Praktizierung vorliegen, kann der Gesetzgeber entscheiden, ob das Prinzip der Kostenerstattung geeignet ist, auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens mit Erfolg eingesetzt zu werden. Gegenwärtig ist es noch zu früh, eine abschließende Bewertung des Kostenerstattungsprinzips in diesen beiden Leistungsbereichen zu geben.
Es trifft auch nicht zu, daß die Bundesministerin für Gesundheit zusammen mit dem Freien Verband Deutscher Zahnärzte ein Konzept erarbeiten will, das zum Ziel hat, die Sachleistung in der zahnärztlichen Versorgung generell abzuschaffen. Richtig ist vielmehr, daß das Bundesministerium für Gesundheit prinzipiell Vorschläge, die von den Beteiligten im Gesundheitswesen gemacht werden, prüft.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter,
Frau Staatssekretärin, wie wollen Sie garantieren, daß nach wie vor Qualitäts-
und Wirtschaftlichkeitsprüfungen erfolgen?
Herr Kollege Kirschner, Ihnen ist sicher bekannt, daß im SGB V eindeutige Regelungen zu Wirtschaftlichkeitsprüfungen fixiert sind. Die Kassen werden diese Wirtschaftlichkeitsprüfungen auch durchführen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kirschner.
Frau Staatssekretärin, ich gehe davon aus, daß der Hintergrund solcher Überlegung en ist, daß die Ausgabensteigerungen im Bereich der Zahnmedizin, insbesondere beim Zahnersatz, geringer ausfallen sollen. Können Sie mir erklären, wie sich beispielsweise das Kostenerstattungsprinzip in der privaten Krankenversicherung auf die Ausgabensteigerungen ausgewirkt hat? Haben Sie dazu Vergleichsbeispiele, etwa für die letzten fünf Jahre?
Diese Zahlen liegen mir hier jetzt natürlich nicht vor, Herr Kirschner. Sie können sie, wenn Sie es wünschen, von mir gern schriftlich bekommen. Sie wissen, daß aber auch dort im Rahmen der Kostenerstattung die Ausgaben gestiegen sind.
Danke schön. Frau Staatssekretärin, damit sind wir am Ende Ihres Geschäftsbereichs angelangt. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Hier steht uns Herr Staatssekretär Gröbl zur Beantwortung zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 38 des Abgeordneten Kubatschka auf:
Bis zu welchem Zeitpunkt beabsichtigt die Bundesregierung für die direkte Anbindung der Bahnlinie Landshut-Flughafen München II-München über die „Marzlinger Spange" die planungsrechtlichen Verfahren einzuleiten, abzuschließen, und wann ist mit dem Bauabschluß zu rechnen?
Herr Kollege, die Einleitung von planungsrechtlichen Verfahren zur Anbindung der Bahnlinie Landshut - München an den neuen Flughafen München ist derzeit nicht vorgesehen. Ich habe allerdings Staatssekretär Dr. Huber vom Bayerischen Staatsministerium des Innern nach Vorlage neuerer Zahlen eine nochmalige Überprüfung der Verknüpfung des Flughafens Franz Josef Strauß mit der Bahnlinie Landshut - München angeboten.
Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Staatssekretär, hält es die Bundesregierung für sinnvoll, diese Trasse planerisch freizuhalten, damit sie nicht verbaut wird?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Vor der Beantwortung dieser Frage muß die Wirtschaftlichkeit einer solchen Strecke geklärt werden.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, die Wirtschaftlichkeit kann sich aber in zehn Jahren ganz anders darstellen als heute. Wenn einmal Wirklichkeit werden sollte, wovon Sie dauernd reden, nämlich das Umsteigen vom Auto auf die Schiene, schaut es ganz anders aus. Wenn die Trasse dann zugebaut wäre, könnte man eine solche Strecke nicht mehr realisieren. Wäre es nicht sinnvoll, das Freihalten der Trasse unter diesen langfristigen Aspekten zu sichern?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ein Zubauen der von Ihnen angesprochenen Trasse ist nicht zu befürchten, da es sich hierbei um ein naturgeschütztes Gebiet handelt.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir einer Meinung, daß es die Bundesregierung bezüglich der Schienenanbindung des Großflughafens Erdinger Moos in der Planung an umweltpolitischem Weitblick hat fehlen lassen, obwohl doch beispielsweise Sie aus dem Umweltministerium kommen?Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Das ist richtig. Die jetzige Bundesregierung bemüht sich, die Fehler
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6431
Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröblder Bundesregierungen in den Jahren 1970 und folgende zu korrigieren.
Deshalb bemühen wir uns nachhaltig, die Schienenanbindung dieses Flughafens herzustellen.
Nachdem Sie motiviert worden sind, noch eine Zusatzfrage zu stellen, Frau Abgeordnete, werde ich Ihnen das nicht verwehren, bitte sehr.
Herzlichen Dank. — Ich möchte gern wissen, wann die Planungen für den Flughafen Erdinger Moos und die entsprechende Anbindung gestartet worden sind.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die ersten Planungen datieren etwa aus den Jahren 1960/61. Sie wurden dann durch Gerichtsbeschluß unterbrochen und sind in den 70er und 80er Jahren wieder intensiv vorangetrieben worden.
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zu Frage 39 der Abgeordneten Frau Steen:
Trifft es zu, daß die Elektrifizierung der Bundesbahnlinie Hamburg-Puttgarden und der zweigleisige Ausbau der Strecke Lübeck-Puttgarden keine Berücksichtigung bei der Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans findet mit der Begründung, daß eine Abstimmung mit europäischen Partnern zu erfolgen hat?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steen, dem Ergebnis der noch laufenden Arbeiten zum Bundesverkehrswegeplan 1992 kann ich nicht vorgreifen. Es ist im übrigen vorgesehen, daß die Vorstände der beiden deutschen Bahnen die von den Bahnen gewünschten Projekte beim Bundesminister für Verkehr zur Aufnahme in den Bundesverkehrswegeplan 1992 anmelden. Erst dann kann und wird die Bundesregierung ihrerseits die Entscheidung treffen.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Steen, bitte schön.
Herr Staatssekretär, trifft es zu, daß die beiden Vorstände, die Sie soeben zitiert haben, diese Planungen angemeldet haben?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es trifft zu, was ich Ihnen in dem Brief mitgeteilt habe, den ich Ihnen kürzlich übersandt habe. Es trifft ferner zu, daß die Bahnen bemüht sind, Unterlagen für eine Überprüfung der Wirtschaftlichkeit dieser Strecke zu sammeln.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Ich möchte Sie gern fragen, Herr Staatssekretär, mit welchen europäischen Partnern, wie es in dem Protokollvermerk des Verkehrsausschusses zu lesen ist, Sie eine Abstimmung herbeiführen wollen.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das ist ja naheliegend. Es sind in erster Linie die Dänen, mit denen die Abstimmung zu erfolgen hat. In zweiter Linie unterhalten wir uns natürlich auch mit den Schweden über das Gesamtkonzept der Anbindung Skandinaviens an Mitteleuropa.
Wir kommen nun zur Beantwortung der Frage 40 der Abgeordneten Frau Steen:
Was unternimmt die Bundesregierung, um den Abstimmungsprozeß zu unterstützen und zu beschleunigen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Die Bundesregierung behandelt Verbesserungen im Skandinavienverkehr einschließlich der Hinterlandverbindungen in einer Gesamtsicht. Sie hat hierzu bereits 1990 bilaterale Verhandlungen mit dem dänischen Königreich aufgenommen. Zudem werden Abstimmungsgespräche mit den betroffenen Küstenländern und anderen Anrainerstaaten der Ostsee geführt.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung gemeinsam mit Dänemark bei der EG-Kommission den Antrag auf Finanzierungszuschüsse für eine Voruntersuchung gestellt, in der die Möglichkeit einer festen Verbindung über den Fehmarn-Belt und deren Auswirkung auf die anderen Routen untersucht werden sollen.
Die Deutsche Bundesbahn und die Dänischen Staatsbahnen haben eine Studie über die Verkehrsnachfrageentwicklung im Korridor Hamburg-Kopenhagen in Auftrag gegeben; das Ergebnis der Studie liegt noch nicht vor.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Auffassung, daß z. B. auch der Ausbau bzw. die Elektrifizierung zumindest der Strecke Hamburg-Lübeck eine Maßnahme im Sinne der verkehrsmäßigen Anbindung Mecklenburg-Vorpommerns an Schleswig-Holstein bzw. an das übrige Bundesgebiet darstellt?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich teile Ihre Ansicht, daß die Frage der Elektrifizierung in einen größeren Rahmen gestellt werden muß und deshalb auch die Verkehrsanbindung Mecklenburg-Vorpommerns z. B. an Schweden, aber auch an Dänemark Berücksichtigung finden muß.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Können Sie mir Auskunft darüber geben, inwieweit die Abstimmungsgespräche z. B. mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern gediehen sind und welchen Inhalt bzw. welche Auswirkung diese Gespräche haben?Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Hier kann es sich nicht um Einzelgespräche mit Mecklenburg-Vorpommern handeln, sondern um die Zusammen-
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6432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Parl. Staatssekretär Wolfgang Gröblschau der Interessen Mecklenburg-Vorpommerns, Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und auch Hamburgs und deren Abgleich mit Dänemark und Schweden, aber auch mit Norwegen. Der Bundesverkehrsminister hat aus diesem Grund die Verkehrsminister Norddeutschlands zu einer gemeinsamen Konferenz aufgefordert, auf der auch diese Fragen besprochen werden sollen.
Danke schön. —
Der Abgeordnete Kuhlwein hat mich wissen lassen, daß er die Fragen 41 und 42 schriftlich beantwortet haben will. Das wird so geschehen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
So kann ich die Frage 43 des Abgeordneten Antretter aufrufen:
Gedenkt die Bundesregierung die von ihr bereits bei der Fortschreibung des letzten Bedarfsplans für die Bundesfernstraßen in zwei unterschiedlichen Kategorien geplante A 98 im Bedarfsplan zu belassen, und für welche Dringlichkeit wird sie dieses Projekt dem Verkehrsausschuß im Rahmen seiner Beschlußfassung über die Fortschreibung des Bedarfsplanes 1992 vorschlagen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Antretter, im Rahmen der zur Zeit laufenden Arbeiten zur Fortschreibung des Bedarfsplans wird der gesamte Streckenzug der A 98 zwischen Rheinfelden und Lottstetten erneut bewertet. Ergebnisse liegen noch nicht vor. Deshalb ist auch keine Aussage dazu möglich, für welche Dringlichkeitseinstufung die Bundesregierung dieses Projekt vorschlagen wird.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, auch wenn Sie heute keine Aussage zur Dringlichkeitseinstufung machen können, die Sie dann dem Verkehrsausschuß unterbreiten möchten, wollte ich Sie doch fragen, ob es Ihnen nicht wenigstens möglich ist, meine Frage dahin gehend ergänzend zu beantworten, ob der Bundesverkehrsminister vorhat, diese Maßnahme überhaupt im Bedarfsplan zu belassen.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich habe Ihnen mitgeteilt, daß wir eine neue Bewertung der gesamten Strecke veranlaßt haben. Hätten wir kein Interesse an einer Einstufung in den Bundesverkehrswegeplan, hätten wir uns mit Sicherheit diese Arbeit und die Kosten gespart.
Zusatzfrage.
Angesichts Ihrer Antwort, die ich so interpretieren darf, daß Sie gleichermaßen erwägen, die Maßnahme im Bedarfsplan zu belassen, wie Sie implizite natürlich auch davon ausgehen, daß die Untersuchungen ergeben könnten, daß die Maßnahme aus dem Bedarfsplan entfallen muß, möchte ich Sie fragen, ob Sie sich für den letzteren Fall vorstellen können, daß alternativ zu dem ursprünglich geplanten Bau eine Variante von Ortsumgehungen möglich ist.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, wir sollten die Diskussion darüber führen, ob die A 98 in den Bedarfsplan kommt oder nicht. Wir haben dazu im Verkehrsausschuß Gelegenheit. Der Deutsche Bundestag wird letztlich darüber entscheiden. Der Respekt vor dem Entschluß des Parlaments verbietet mir, schon heute Überlegungen anzustellen, was wir machen, wenn die Entscheidung so oder so ausfällt.
Abgeordneter Bindig zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, werden in die vorbereitenden Arbeiten für die Fortschreibung des Bedarfsplans für die Bundesfernstraßen auch Gespräche und Kontakte mit der Schweiz einbezogen, um festzustellen, ob die Schweiz im Raum Lottstetten gegebenenfalls bereit ist, diese Autobahn im Kanton Schaffhausen abzunehmen?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß das Büro, das die Untersuchungen in unserem Auftrag durchführt, der eigenen Untersuchung auch Zahlen der Schweiz zugrunde legt.
Danke schön.
Dann rufe ich die Frage 44 des Abgeordneten Antretter auf:
Hat das Landesverkehrsministerium Baden-Württemberg beim Bundesminister für Verkehr beantragt, die A 98 im Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen zu belassen und gegebenenfalls im „Vordringlichen Bedarf" zu plazieren?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Im Rahmen der Bedarfsplanfortschreibung ist für die Überprüfung von Maßnahmen, die bereits im gültigen Bedarfsplan enthalten sind, kein besonderer Antrag nötig.
Das Land Baden-Württemberg hat in der Vergangenheit wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß es an einer Höherstufung der A 98 interessiert ist. Die Ergebnisse der von uns eingeleiteten gesamtwirtschaftlichen Bewertung von Projekten des Bedarfsplanes werden im Laufe des Frühjahrs sowohl mit den Ressorts der Bundesregierung als auch im Rahmen von bilateralen Gesprächen zwischen Bund und Ländern eingehend erörtert werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Antretter.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir vor dem Hintergrund Ihrer Antwort auf meine Frage zustimmen, wenn ich sage, der baden-württembergische Verkehrsminister sei mit seiner Äußerung in einem Pressegespräch, die A 98 komme noch vor dem Jahre 2000, den Planungen innerhalb Ihres Hauses etwas vorausgeeilt?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich freue mich über die optimistische Einschätzung des baden-württembergischen Verkehrsministers.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Kollege Bindig.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6433
Werden denn auch Überlegungen angestellt, welches Gesamtvolumen zur Realisierung dieser Strecke erforderlich wäre, und ist für ein solches großes Volumen überhaupt Platz in den Planungen bis zum Jahr 2000?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Darüber werden Sie mit uns allen zusammen entscheiden.
Ich teile dem Hause mit, daß die Fragen 45 und 46 auf Wunsch des Abgeordneten Harries schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Jäger auf:
Wie viele Straf- und Bußgeldverfahren sind im Jahre 1991 als Konsequenz der polizeilichen Überwachung der Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Strecke der A 8 zwischen Ulm und der Raststätte Gruibingen, Landkreis Göppingen, die auf der gesamten Länge mit Geschwindigkeitsbegrenzungen versehen ist, eingeleitet worden, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung hieraus für die Frage, ob auf den Bundesautobahnen allgemein eine Höchstgeschwindigkeit eingeführt werden soll?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, dem Bundesminister für Verkehr liegen die erfragten Zahlen nicht vor, da die Überwachung der Verkehrsvorschriften und die Ahndung von Verstößen in der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder liegt.
Ich bin gerne bereit, Ihnen die von mir bei der baden-württembergischen Landesregierung erfragten Zahlen schriftlich nachzureichen. Hierfür bitte ich allerdings noch um einige Tage Geduld.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger, bitte sehr.
Herr Kollege Gröbl, sind Sie bereit, aus meiner häufigen Erfahrung mit dieser Strecke zur Kenntnis zu nehmen, daß dort trotz einer Dauergeschwindigkeitsbeschränkung von 120 km/h von einem großen Teil, um nicht zu sagen: von der Mehrheit der Autofahrer unter völliger Mißachtung dieser Beschränkung gefahren wird und daß deswegen vermutlich ein positives Ergebnis einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf dieser Strecke nicht feststellbar sein wird?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jäger, Ihre Erfahrungen sind mir wie meinem ganzen Hause auch in diesem Fall sehr wertvoll und Grundlage für weitere Überlegungen.
Herr Abgeordneter, Sie haben selbstverständlich das Recht, eine weitere Zusatzfrage zu stellen.
Herr Staatssekretär, indem ich mich zunächst für diese außerordentlich entgegenkommende und weitsichtige Antwort der Bundesregierung herzlich bedanke, möchte ich die Frage anfügen, ob die Bundesregierung auch hinsichtlich anderer Teile der Bundesautobahnen über Erfahrungen verfügt, die bestätigen, daß für längere Strecken festgelegte Geschwindigkeitsbegrenzungen von einem Großteil der Autobahnbenutzer nicht beachtet werden, daß auch dort mit Geschwindigkeitsbeschränkungen ohne eine ständige, für jeden kleinen Abschnitt bestehende genaue Kontrolle in praxi nichts erreicht wird?
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Es ist uns durchaus bekannt, daß Verkehrsgebote oder -verbote gelegentlich von deutschen und ausländischen Kraftfahrern mißachtet werden.
Herr Abgeordneter Antretter, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich an die vom Herrn Kollegen Jäger aufgeworfene Frage die Feststellung anknüpfe, daß die Tatsache, daß Gebote übertreten werden, den Staat keinesfalls dazu bringen kann, auf die Einhaltung der Gebote, die er erläßt, zu verzichten, und daß dieses kein Grund sein kann, nicht auf eine künftige generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf unseren Autobahnen hinzuwirken?
Bevor Sie antworten, möchte ich feststellen: Es ist keine Dreiecksfrage. Ob die Feststellung nach genauer Prüfung auf die Dauer haltbar ist, will ich offenlassen. Bitte sehr.
Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär: Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß der Staat zu überwachen hat, daß die von ihm erlassenen Gebote und Verbote eingehalten werden.
Ihre zweite Schlußfolgerung teile ich nicht.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Dr. Laufs zur Verfügung.Die Fragen 48 und 49 der Frau Abgeordneten Dr. Böhmer werden auf deren Wunsch schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.Ich rufe die Frage 50 der Frau Abgeordneten Kastner auf:Wie beurteilt die Bundesregierung zur Zeit die Grundwasserbelastung in den neuen Bundesländern und die Kosten für die notwendigen Sanierungsmaßnahmen im Hinblick auf die Verpflichtung, die jetzt außer Kraft gesetzten Grenzwerte der EG-Trinkwasserrichtlinie bis Ende 1995 einhalten zu müssen, und wie steht sie zu den Forderungen des BUND, Sondermittel in Höhe von mindestens 100 Mrd. DM für ein Trinkwasseruntersuchungs- und Sanierungsprogramm in Ostdeutschland bereitzustellen?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
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6434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Frau Kollegin Kastner, die Grundwasserbeschaffenheit in den neuen Bundesländern ist in einigen Regionen als kritisch zu beurteilen. Davon sind auch Trinkwasserschutzgebiete betroffen.
Allerdings liegen für das Gesamtgebiet der neuen Bundesländer derzeit keine ausreichenden Detailinformationen vor, die eine abschließende Bewertung der Situation ermöglichen. Verantwortlich für die Erfassung sind die Bundesländer.
Da die Sanierung von Grundwasser- und Bodenschäden in der Regel lange Zeiträume in Anspruch nimmt, liegen die Prioritäten zunächst bei den technischen Maßnahmen zur unmittelbaren Verbesserung der Trinkwasserqualität, z. B. durch Trinkwasseraufbereitung oder Sanierung von Rohrnetzen. Allein hierfür werden Mittel in der Größenordnung von 20 Milliarden DM erforderlich sein.
Nach den bisherigen Kenntnissen der Bundesregierung ist davon auszugehen, daß die Einhaltung der in der EG-Übergangsrichtlinie genannten Termine im wesentlichen fristgerecht möglich sein wird. Im Einzelfall können Fristüberschreitungen bei einigen Parametern, z. B. Nitrat, Eisen oder Mangan, nicht ausgeschlossen werden.
Da die Kosten für die Sanierung von Trinkwasser-und Bodenverunreinigungen derzeit nur schwer abschätzbar sind, ist eine Bewertung der vom BUND genannten Summe nicht möglich.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Kastner, bitte schön.
Herr Staatssekretär, geben Sie mir recht, daß Ihre Aussage, zur Grundwasserbelastung lägen keine ordentlichen Fakten und deshalb auch keine Zahlen eines Finanzierungskonzepts auf dem Tisch, in krassem Gegensatz zu der Aussage Ihrer Kollegin im Gesundheitsministerium, Frau Bergmann-Pohl, steht, die sie mir vor exakt einer halben Stunde gegeben hat, daß sie nämlich im Rahmen des EG-Berichts eine grundsätzliche Aussage zur Trinkwassersituation in den neuen Bundesländern plus Sanierungsmaßnahmen plus Finanzierung perfekt geben könne?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, ich habe versucht, deutlich zu machen, daß wir differenzieren müssen. Zum einen geht es um die Sanierung von Rohrnetzen und die Notwendigkeit von Investitionen im Bereich der Trinkwasseraufbereitung, also um die technischen Maßnahmen, die nun unmittelbar anstehen. Die Größenordnung des Mitteleinsatzes hierfür kann in Höhe von etwa 20 Milliarden DM festgestellt werden.
Wir müssen dies von der sehr großen Aufgabe unterscheiden, Sanierungen im Grundwassereinzugsbereich, also in der Fläche, durchzuführen. Hierfür können wir im Augenblick keine Abschätzungen vornehmen.
Zu Ihrer ersten Bemerkung: Was die Situation der Belastung des Grundwassers in den neuen Bundesländern angeht, müssen wir uns in der Tat im wesentlichen auf Erkenntnisse der Behörden der ehemaligen DDR beziehen. Neueres flächendeckendes Datenmaterial liegt noch nicht vor. Deshalb finanziert der Bundesumweltminister gegenwärtig ein Forschungsprogramm „Grundwasser-Monitoring — Neue Bundesländer", das im nächsten Monat anlaufen soll. Es ist vorgesehen, daß 350 ausgewählte Meßstellen, verteilt auf sämtliche neuen Bundesländer, eingerichtet werden und zweimal im Jahr Meßreihen erhoben werden, so daß schon Ende dieses Jahres erste Ergebnisse vorliegen werden.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mir erklären, wieso Sie auf die Summe von 20 Milliarden DM kommen, während der sächsische Umweltminister Vaatz von 12 Milliarden DM Sanierungskosten im Trinkwasserbereich und 31 Milliarden DM Kosten im Bereich der Abwasserentsorgung allein für Sachsen ausgeht?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, die Aussagen des sächsischen Umweltministers kann ich in dem Sinne, wie ich zu differenzieren versucht habe, nicht bewerten. Sie müssen tatsächlich im einzelnen festlegen, was Sie unter Sanierung verstehen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Steen.
Herr Staatssekretär, ich denke, Sie teilen mit mir die Auffassung, daß es sich bei Wasser, Trinkwasser, auch Grundwasser um ein bedeutendes Nahrungsmittel handelt. Wie sehen Sie eigentlich die Rolle der Bundesregierung, hier ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der ehemaligen DDR wahrzunehmen, und wann legt die Bundesregierung endlich einen vernünftigen Handlungsrahmen vor, um zu adäquaten Ergebnissen kommen zu können?Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Steen, bei allem Verständnis für die angespannte Lage in den neuen Bundesländern kommen wir nicht an der Tatsache vorbei, daß nach Art. 75 unseres Grundgesetzes der Wasserhaushalt in die Zuständigkeit der Bundesländer fällt. Es ist ihre originäre Aufgabe, bis Ende 1995 dafür zu sorgen, daß alle Vorschriften der Trinkwasserverordnung flächendekkend eingehalten werden. Es kann nicht angehen, daß Sie die verfassungsrechtliche Aufgabenverteilung nun völlig umkehren und den Bund hier ungebührlich in die Pflicht nehmen.Ich sehe natürlich auch, daß riesige Investitionsvorhaben in relativ kurzer Zeit zu verwirklichen sein werden. Aber ich darf Sie darauf hinweisen, daß es z. B. nicht unüblich ist, daß sich Wasserversorgungsunternehmen — in welcher Rechtsform und Trägerschaft auch immer — Mittel am Kapitalmarkt beschaffen und über den Bereitstellungspreis des Wassers finanzieren. Was die Länder darüber hinaus zur Sanierung etwa der Grundwassereinzugsgebiete oder der Rohrnetze zu übernehmen bereit sind, haben sie in ihrer Zuständigkeit zu entscheiden. Nach der jüngst erfolgten Verabschiedung des Steueränderungsge-
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Pari. Staatssekretär Dr. Paul Laufssetzes werden den neuen Bundesländern ja auch erhebliche Mehreinnahmen zufließen, die ihnen einen gewissen Spielraum eröffnen, Prioritäten im Interesse des Gewässerschutzes zu setzen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kubatschka.
Herr Staatssekretär Laufs, sind Sie nicht der Meinung, daß die Länder bei dieser schwierigen Aufgabe überfordert sind, und muß es nicht zu Hilfen durch die Bundesregierung kommen?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kubatschka, ich habe in meiner Antwort auf die Frage der Kollegin Steen gerade darzustellen versucht, wie diese große Aufgabe angegangen werden kann, daß sie in der Zuständigkeit der Bundesländer liegt. Ich möchte natürlich auch darauf hinweisen, daß sich der Bund im Rahmen von Modell- und Forschungsvorhaben und auch in der Form von Sofortmaßnahmen unterstützend beteiligen kann. So hat er seit 1990 für Umweltschutzsofortmaßnahmen im Rahmen des Gemeinschaftswerkes Aufschwung Ost annähernd 300 Millionen DM bereitgestellt, um Gesundheitsgefährdungen durch die Trinkwasserversorgung auszuschließen. Ich habe auf ein weiteres Forschungsprogramm des Bundesumweltministers hingewiesen.
Danke schön. Weitere Fragen liegen mir nicht vor.
Die Frage 51 des Abgeordneten Weis soll auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 52 des Abgeordneten Dr. Kübler auf:
Ist die Bundesregierung bereit, auf der letzten Vorbereitungskonferenz zu der im Juni in Rio de Janeiro stattfindenden VN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung einen erneuten grundsätzlichen Vorstoß zur Verabschiedung eines Abkommens über CO2-Reduzierung zu unternehmen, nachdem auf Grund der neuen Haltung des US-Präsidenten Bush zur Bekämpfung der die Ozonschicht zerstörenden Stoffe auch Bewegung in die Haltung der USA zur Frage einer Vereinbarung zur CO2-Reduzierung gekommen zu sein scheint, und wird die Bundesregierung auch in diesem Sinne direkt gegenüber Japan und China initiativ werden?
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Dr. Kübler, meine Antwort auf Ihre Frage lautet: Zur Zeit findet in New York die fünfte Verhandlungsrunde des UN-Verhandlungsausschusses für die Klimakonvention statt — genau: vom 17. bis 29. Februar 1992. Die Klimakonvention soll anläßlich der im Juni in Rio de Janeiro stattfindenden UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, UNCED, gezeichnet werden.
Die Bundesregierung setzt sich auf allen Ebenen dafür ein, daß die Konvention konkrete Verpflichtungen zur Begrenzung und Reduzierung von treibhausrelevanten Gasen, insbesondere von CO2, sowie für den Schutz und die Vermehrung von Wäldern in ihrer Funktion als CO2-Speicher enthält.
Im Vordergrund steht für die Bundesregierung das Ziel, auf internationaler Ebene eine Stabilisierung der CO2-Emissionen bis zum Jahr 2000 durchzusetzen, bezogen auf das Basisjahr 1990. Die Verhandlungen
sind in vollem Gange. Die Bundesregierung setzt sich in allen geeigneten Gremien dafür ein, daß rechtzeitig vor der Konferenz ein Durchbruch erzielt wird.
Zusatzfrage. Bitte schön, Dr. Kübler.
Herr Staatssekretär, meine Frage war in der Weise zu verstehen, was die Bundesregierung auf Grund der neuesten Ozon-Schreckensmeldungen und der Reaktion des amerikanischen Präsidenten auf diese Ozonmeldungen tut, und zwar im Hinblick darauf, daß möglicherweise auch Bewegung in die bisherige ablehnende Haltung der amerikanischen Regierung zu einer Klimakonvention kommt. Ich möchte wissen, in welcher Form die Bundesregierung diese mögliche Bewegung, die sich andeutet, durch besondere Aktivitäten zu nutzen versucht.
Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Kübler, die USA lehnten bisher konkrete Verpflichtungen in einer Klimakonvention ab und ließen nur die Bereitschaft erkennen, nationale Maßnahmen im Hinblick auf eine Stabilisierung zu ergreifen. Sie können sicher sein, daß die Bundesregierung alle Möglichkeiten auf allen sich bietenden Ebenen nutzt, auch und gerade den USA ihre Überzeugung hinsichtlich einer wirkungsvollen Klimakonvention nahezubringen und dafür zu werben.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Darf ich meine Frage noch in der Weise erweitern: Besteht, nachdem US-Präsident Bush nun erkennbar ganz kurzfristig eine Wende in der Frage der Ozonproblematik vorgenommen hat, für die Bundesregierung — über den Bundeskanzler — nicht die Chance, eine gesonderte zusätzliche Aktion oder Intervention — über die bisherigen intensiven Bemühungen der Bundesregierung, die nicht bestritten werden, hinausgehend — zu unternehmen und unmittelbar auch mit dem amerikanischen Präsidenten über diese Frage zu sprechen, weil es sich hier um eine ganz zentrale Frage handelt? Sie wissen auch, daß, wenn es jetzt nicht zu einer Vereinbarung kommt, diese möglicherweise bis 1996 auf sich warten läßt.
Dr. Paul Laufs, Pari. Staatssekretär: Herr Kollege Kübler, Sie stimmen sicher mit mir in der Einschätzung der Lage überein, daß die Situation in den Vereinigten Staaten im Augenblick von einer gewissen Sensibilität gekennzeichnet ist. Sie können wirklich sicher sein, daß wir dieser Hoffnung, die Sie hier ausdrücken — auch im Hinblick auf die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, zu einer Minderung des Treibhausgases Kohlendioxid zu kommen —, gerecht werden und in geeigneter Weise vorgehen.
Danke schön. — Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
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6436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergIch rufe den von der Fraktion der CDU/CSU beantragten Zusatzpunkt auf:Aktuelle StundeFortschritte und Hindernisse bei der Herstellung der inneren Einheit DeutschlandsIch erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist noch nicht ganz zwei Jahre her, da haben Bundeskanzler Helmut Kohl und die Koalition die staatliche Einheit Deutschlands gegen hinhaltenden Widerstand der SPD durchgesetzt.
Es hat lange gedauert, bis die SPD ihren damaligen Fehler eingestanden hat.Jedem ist klar, daß jetzt alle Kräfte angespannt werden müssen, um die innere Einheit Deutschlands zu verwirklichen. Daß dies ein langer und schwieriger Weg werden würde, war und ist deutlich.
Deshalb ist es um so erschreckender, daß die SPD in diesen Tagen versucht hat, einen wichtigen Schritt zum Aufbau der neuen Länder zu blockieren. Statt wie noch im Dezember den Versuch zu machen, verschiedene Interessen auszugleichen und Mittel für den Aufschwung im Osten unseres Vaterlandes freizumachen, haben parteitaktische und machtstrategische Argumente bei der SPD Oberhand gewonnen.Obwohl jeder wußte, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer in Europa längst beschlossene Sache war, hat man hier einen Popanz aufgebaut, um die Zustimmung zu verhindern.
Dabei handelte der Verhandlungsführer der SPD wider besseres Wissen.
In einer Luxemburger Zeitung vom 3. Februar 1992, also zwei Tage vor der Sitzung des Vermittlungsausschusses, lese ich — ich zitiere —:Dem war unter anderem eine Aussprache des Premierministers Jacques Santer mit Oskar Lafontaine vorausgegangen, dem Ministerpräsidenten des direkt benachbarten Saarlandes. Dieser SPD-Spitzenpolitiker der deutschen Opposition war sich mit dem Regierungschef aus Luxemburg einig: Die frühzeitige Annäherung der Mehrwertsteuersätze fördert den Wirtschaftsaustausch in der DreiLänder-Region Luxemburg, Saarland, Elsaß.In Luxemburg die europäische Einigung feiern, in Saarbrücken die Früchte der Steuerharmonisierung einfahren wollen und in Bonn dagegen Front machen, das paßt einfach nicht zusammen.
Es macht deutlich, daß hier Parteitaktik und Machtdenken die Oberhand gewonnen haben.
Ich meine, die Reaktion der SPD auf den schwarzen Freitag im Bundesrat war mehr als entlarvend.
— Größe, lieber Kollege Struck, zeigt sich bekanntlich in der Niederlage. Sie zeigt sich in der Fähigkeit, Fehler einzugestehen und einen falschen Kurs zu korrigieren.Nun hat ja der SPD-Fraktionsvorsitzende durchaus schüchterne Ansätze gezeigt. Man kann Hans-Ulrich Klose nur zustimmen, wenn er es für möglich hält, daß die Sozialdemokraten mit ihrer Strategie bei der Ablehnung der Regierungsvorschläge die Wirklichkeit nicht ausreichend berücksichtigt hätten: Zum einen sei außer acht gelassen worden, daß es im Bundesrat in erster Linie um Länderinteressen gehe, und womöglich seien von SPD-Seite auch die besonderen Interessen der neuen Bundesländer und die beabsichtigte Erhöhung der Mehrwertsteuer in der Europäischen Gemeinschaft nicht richtig eingeschätzt worden.Ich kann nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Recht hat der Mann. Aber ich frage mich, warum er das nicht vor der Entscheidung im Bundesrat offen und ehrlich gesagt hat. Warum hat er sich denn von denen einbinden lassen, denen es weder um die Mehrwertsteuer noch urn die deutsche Einheit, noch um die Erhöhung des Kindergeldes, noch um die Verbesserung der Wohnungsbauförderung ging? Ich frage mich: Warum ist er denn gestern nachmittag schon wieder eingeknickt und hat gesagt, daß man sich in der Bewertung der Mehrwertsteuerfrage einig sei?Ich finde es sehr bezeichnend, wenn der Parteivorsitzende der SPD, Björn Engholm, in einem Interview in der „Abendzeitung" im Hinblick auf den brandenburgischen Ministerpräsidenten sagt — ich zitiere —: „Trotzdem bedauere ich, daß er nicht den Mumm hatte, drei Monate abzuwarten, und den falschen Schritt getan hat."Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet im Klartext: Es ging nicht um die Sache, sondern es ging um einen Betrug an den Wählern in Baden-Württemberg und in Schleswig-Holstein.
Die Abstimmung im Bundesrat am vergangenen Freitag hat eines deutlich gemacht: Es gibt in der deutschen Politik eine Gestaltungsmehrheit für die innere Einheit unseres Landes. Sie besteht aus der Bundestagsmehrheit von CDU/CSU und F.D.P., den CDU-geführten Bundesländern im Westen und allen ostdeutschen Bundesländern. Ich bin froh, daß der Versuch, hier eine strategische Verweigerungsmehrheit zu schmieden, gescheitert ist. Das ist das zentrale Ergebnis dieses Vorgangs.Ich hoffe sehr, daß die SPD nach diesem schwarzen Freitag die Kraft hat,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6437
Dr. Jürgen Rüttgersihre Niederlage einzugestehen und zu beweisen, daß sie fähig ist, ihren Irrweg zu korrigieren und Verantwortung zu übernehmen, für eine Politik der inneren Einheit und der Einigung Europas. In Sachen Asyl und Maastricht hat sie dazu ausreichend Gelegenheit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Wolfgang Thierse das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen Debatte heißt „Fortschritte und Hindernisse bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands". Herr Rüttgers, Sie haben glatt das Thema verfehlt — eine demagogische Rede!
Ich beginne mit einem Zitat einer dpa-Meldung, das ein paar Tage alt ist:Weil eine faire Zusammenarbeit mit den westdeutschen Kollegen nicht mehr möglich sei, hat der ostdeutsche Abteilungsleiter beim Arbeitsamt Konstanz, Lothar Siebert, am Dienstag das Handtuch geworfen. Damit sei der Versuch, in Konstanz ein kleines Stück deutsch-deutscher Gegenwart zu bewältigen, vorerst gescheitert.
Der Präsident des Arbeitsamtes hatte die Mitarbeiter im Arbeitsamt Konstanz zweimal gebeten, nicht mit Vorurteilen zu verurteilen und Siebert eine faire Chance einzuräumen. Dazu war ein Teil der Beschäftigten offenbar nicht bereit. So fand Siebert bei der Rückkehr von einer Familienheimfahrt sein Arbeitszimmer mit Stühlen verbarrikadiert vor. Auch sonst sei er teilweise im Amt geschnitten worden und bekam, nachdem die Angelegenheit in die Öffentlichkeit getragen worden war, Droh- und Schmähbriefe. „Ich bin tief enttäuscht über die Reaktionen im Arbeitsamt und in der Öffentlichkeit", bekannte Schade. Dazu zähle auch der Brief eines Firmeninhabers, in dem dieser fordert: „Das politische Schwein gehört nach Moskau oder gleich abgeknallt".Wahrhaftig ein Dokument über den wirklichen Zustand der inneren Einheit Deutschlands!Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, versuchen, einen Sieg — und eine Niederlage der SPD — zu feiern. Es ist bestenfalls ein Pyrrhus-Sieg und kein Fortschritt bei der Herstellung der inneren Einheit.
Ich will meine Gründe für diese Auffassung nennen: Erstens. Das, was Sie den „schwarzen Freitag" nennen, ist das Ergebnis des wiederholten Versuchs der Bundesregierung, die deutsche Einigung vor allem parteipolitisch zu managen, indem sie die westdeutschen und ostdeutschen Länder gegeneinander ausspielt.
Die Bundesregierung tut dies, indem sie rücksichtslos die erbärmliche ökonomische und finanzielle Schwäche der ostdeutschen Länder ausnutzt —
eine Schwäche, die den Entscheidungsspielraum der ostdeutschen Landesregierungen einschränkt.
— Herr Rüttgers, da Sie von „Nötigung" reden: Dies ist eine Nötigung von seiten der Bundesregierung.
Zweitens. Ihr Steuerpaket mindert nicht die sozialen Gegensätze in Deutschland. Im Gegenteil: Es vertieft sie,
indem es die Lasten der deutschen Einigung ungleich verteilt. Die deutsche Einigung war bisher vor allem ein Konjunkturprogramm für den Westen. Hier sind zwei Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Wir brauchen aber ein Investitionsprogramm für den Osten. Dort sind vier Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Die direkte Arbeitslosigkeit beträgt 17 %, indirekt durchaus das doppelte. Der Zusammenbruch der industriellen Strukturen ist nicht aufgehalten. Der Entindustrialisierungsprozeß dauert an.
In dieser Situation senken Sie Vermögensteuern und beschränken zugleich die ABM-Mittel. Das wirkt sozial spaltend.
Leute mit dem Einkommen etwa von Bundestagsabgeordneten haben 1990 eine erhebliche Steuersenkung erhalten. Diese Senkung ist höher als die massiven Steuererhöhungen, von der Mineralölsteuer bis zur Versicherungssteuer.
Bei der großen Mehrheit der Bevölkerung mit kleinem und mittlerem Einkommen, gerade auch im Osten Deutschlands, ist es umgekehrt. Sie haben eine Steuermehrbelastung zu tragen. Gerade diese große Mehrheit wird die Mehrwertsteuererhöhung — über die Preise — am meisten treffen. Das nenne ich Gestaltung der deutschen Einheit in sozialer Ungerechtigkeit.
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6438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Wolfgang ThierseDrittens. Das Steuerpaket ist keine Lösung der gewaltigen Dimensionen der Finanzierung der deutschen Einigung. Wir müssen uns endlich den wirklichen Aufgaben und den wirklichen Hindernissen der deutschen Einigung stellen und nicht falsche aufbauen.Dazu ist erstens Bilanzwahrheit notwendig, wie das Helmut Schmidt in einem nachdenkenswerten Artikel in „Die Zeit" vorige Woche genannt hat, also eine finanzielle Bilanz und ein finanzpolitisches Konzept, das gleichermaßen Aussagen zu der Art und Weise enthält, wie die notwendigen staatlichen Mehrausgaben aufgebracht, wie die Lasten gerecht und fair zwischen Bund und Ländern, zwischen den sozial Schwachen und Starken verteilt und wie die riesigen Schuldenberge zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, ost- und westdeutschen Ländern aufgeteilt und getilgt werden sollen.
Wir brauchen ein industrie- und strukturpolitisches Konzept, wir brauchen ein anderes Konzept für die Treuhandanstalt, und wir brauchen auch — um auf die subjektive Seite einzugehen — einen differenzierten Umgang mit der DDR-Geschichte, der die ehemalige DDR-Bevölkerung nicht in ihrer Gesamtheit beschädigt und die Deutschen spaltet: in die Erfolgreichen und in die Erfolglosen.Letztes das will ich ausdrücklich sagen —: Wirbrauchen insgesamt, Herr Rüttgers, eine Atmosphäre der Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bei der Darstellung des Zustands der Probleme und Aufgaben der inneren Einigung Deutschlands.
Wer in den Kategorien von Sieg und Niederlage redetund handelt, zerstört diese notwendige Atmosphäre.
Wir brauchen in allem Streit den immer wiederholten Versuch solidarischer Kraftanstrengung zur Gemeinsamkeit von Bund und Ländern, von Ost- und Westländern und auch zwischen den Parteien.
Wenn die Koalition das ihre dazu zu tun bereit ist: Wir sind es auch.
Das Reden aber von sozialdemokratischer Verweigerung und von Widerstand gegen die Einheit ist blanker demagogischer Unsinn.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Heinz Hübner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich wünschte ich mir, daß in all den Problemkreisen, in denen wir uns konkret mit Deutschland und unserer Situation beschäftigen, die Frage der Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands ständig und viel massiver mit einginge. Deshalb ist es für mich persönlich fraglich, ob eine Aktuelle Stunde zur Diskussion über diese Frage ausreicht oder sehr viel nützt.
Für mich ist die innere Einheit, die wir — wir! — maßgeblich mitzugestalten haben, in erster Linie in folgenden Punkten zu sehen:Erstens gleiche Lebensbedingungen für alle. Das ist ein weites Feld. Darüber kann man viel diskutieren, und da kann man viel Gutes tun.Zweitens Akzeptanz zwischen den Deutschen im Westen und den Deutschen im Osten unseres Landes.Drittens alle Versuche zu unternehmen, daß sich die verrostete Schere der Teilung so schnell wie möglich wieder schließen kann.Viertens gehört zur Herstellung dieser inneren Einheit auch, daß der Ostdeutsche begreift, welche konkreten Probleme und Fragen seinen Landsmann im Westen bewegen, und daß alle — alle! — Westdeutschen endlich bereit sind, anzuerkennen, daß die Menschen in den neuen Bundesländern innerhalb kürzester Zeit wahnsinnig schnelle Veränderungen verkraften müssen, was kaum ein Altbundesländler nachvollziehen kann.Fünftens gehört meines Erachtens dazu auch, daß der Staat den Bürger vor Wendehälsen Ost und vor Wendegewinnlern West schützt.
Ich habe nämlich manchmal die Befürchtung, daß die Weissagung eines Herrn Honecker zumindest symbolisch zutreffen könnte, daß die geistige Mauer in den Köpfen der Menschen in Ost- und Westdeutschland noch viele Jahre bestehen bleibt. Dies darf bei noch so großen Problemen und vielleicht auch berechtigter Verärgerung vieler Bürger auf keinen Fall eintreten. Zu diesem Problem gehört — ich möchte das nur andeuten — nicht zuletzt die Frage, wie wir in diesem neuen Deutschland auch mit Ausländern umgehen.Ein wesentliches Problem ist für meine Begriffe auch, daß in den neuen Bundesländern — ganz gleich, durch wessen Schuld — teilweise der Eindruck entstanden ist, daß die Ossis nach 1945 zum zweitenmal die Verlierer sind. Ich muß Ihnen sagen, daß aus meiner Sicht zu diesem Eindruck auch und in besonderem Maße die SPD-Haltung der letzten Wochen zum Steuerpaket beiträgt.
Wer von Erpressung durch die Koalition und die Bundesregierung spricht, hat wohl noch nicht verstanden, daß alle diese finanziellen Belastungen, die in unserem Land entstehen, zum größten Teil der Verwirklichung der inneren Einheit geschuldet sind.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6439
Heinz Werner HübnerWenn sich die Kolleginnen und Kollegen der SPD in Lafontainesche Fabelmuster einstricken lassen, dann muß man sich fragen: Wo sehen sie eigentlich wirklich praktikable Lösungen im Hinblick auf diese Einheit?
Ein letzter Komplex zur Frage der Herstellung der inneren Einheit beschäftigt sich mit dem Umgang miteinander, besonders auch in diesem Hause. Wenn mir und anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten die FDJ-Mitgliedschaft in Jugendjahren in der DDR vorgeworfen wird, wie das in einem Zuruf anläßlich einer meiner Reden aus SPD-Reihen passiert ist, dann muß ich Sie fragen, was in den 60er oder 70er Jahren oder sogar später in diesem Hause passiert wäre, wenn man alle die ehemaligen HJ-Buben oder BDM-Mädels aus dem Saal geschickt hätte. Frage: Wie viele Frauen und Männer wären dann noch sitzengeblieben?
Auch die Blockflötendiskussion der SPD gegen die CDU und die F.D.P. bringt Ihnen und uns letztendlich nichts.
Wenn Sie gestatten und wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Reihe der, wie Sie sie nennen, Blockflöten in den eigenen SPD-Reihen nachweisen, und zwar nicht nur Blockflöten aus ehemaligen Blockparteien der DDR, sondern auch eine Reihe ehemaliger SED-Mitglieder.Ich betone aber an dieser Stelle ausdrücklich: Ich möchte mich an diesen unsinnigen und unwürdigen Diskussionen nicht beteiligen.
Ich wollte an dieser Stelle nur einmal aufzeigen, daß man nicht mit Steinen im Glashaus usw. — Sie wissen ja.
Herr Thierse, auch Sie haben das gerade mit Ihrer Arbeitsamtsgeschichte getan.
Ich möchte am Ende noch einmal darauf hinweisen, daß wir Politiker — ob alte oder neue — durch unser Verhalten die Geschwindigkeit der Herstellung und der Verwirklichung der inneren Einheit maßgeblich bestimmen. Wir sollten alle gemeinsam täglich daran denken und auch in diesem Sinne handeln.
Meine Damen und Herren, ich erteile dem Abgeordneten Schreiner
einen Ordnungsruf wegen des Zwischenrufs „ Heuchelbruder " .
Als nächster Redner hat jetzt unser Kollege Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Freitag der vergangenen Woche geschah in Bonn etwas, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber Aufsehen erregte: Der brandenburgische Ministerpräsident entschied in einer Frage, die für sein Land enorm wichtig war, ausschließlich im Interesse der Bürgerinnen und Bürger seines Landes und blieb damit seinem Amtseid treu.
Die Reaktionen aus seiner Partei, der SPD, reichten vom Unverständnis bis zur unverhüllten Drohung, die dann allerdings dementiert und als Mißverständnis apostrophiert wurde.Die Union wiederum verbuchte diese Sachentscheidung als Triumph für ihre Partei. Die Freude des Finanzministers, sich mit seinem Konzept durchgesetzt zu haben, kann ich nachvollziehen. Aber allen Parteibuchhaltern, die mit Getöse einen Strich auf der Habenseite vermerkten, muß in Erinnerung gebracht werden, daß sich der Finanzminister mit seinem Amtseid nicht in den Dienst einer Partei, sondern des ganzen deutschen Volkes gestellt hat.
Man könnte diese Episode den Historikern überlassen, wenn sie nicht von so grundlegender Bedeutung für unser Gemeinwesen und für den Prozeß der inneren Einigung wäre, Sie steht für eine Grundhaltung, die mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar ist, eine Grundhaltung, die Parteiinteressen über das Gemeinwohl stellt.Wahrscheinlich war es für uns ostdeutsche Abgeordnete, die zuvor am Runden Tisch und in der frei gewählten Volkskammer ihre ersten Demokratieschritte unternommen haben, bitter, zu erfahren, wie tief und oft unüberwindbar die Gräben im Deutschen Bundestag zwischen den Parteien sind. Und ebenso bitter ist, miterleben zu müssen, wie wenig das Gebot des Artikels 38 des Grundgesetzes geachtet wird: Gängige Praxis auch in diesem Hohen Haus ist eben nicht die souveräne unabhängige Entscheidung des einzelnen Abgeordneten, sondern der sanfte oder heftige Druck der Fraktionen. Ich kann und will mich nicht damit abfinden; denn ich weiß, daß Parteienegoismus immer die Demokratie beschädigt.Gerade in Ostdeutschland gab es ein fast kindliches Vertrauen in die Demokratie, in die Redlichkeit demokratisch gewählter Parteien, in die Souveränität gewählter Volksvertreter. Dieses Vertrauen ist mittlerweile tief erschüttert. Es gibt nicht nur Parteienverdrossenheit; vielmehr werden Parteien weithin abgelehnt, Die Bereitschaft, sich parteipolitisch zu engagieren, ist erschreckend gering. Dies strahlt selbst auf die Bürgerbewegungen aus, die einen starken emanzipatorischen und partizipatorischen Ansatz haben. Dies belegt nachdrücklich, wie kritisch die Situation ist.
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6440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Konrad Weiß
Das altbundesrepublikanische Parteienverständnis erweist sich als ein Hemmnis unter vielen im deutschen Einigungsprozeß. Im Westen signalisiert die rückläufige Wahlbeteilung das Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger. In Ostdeutschland sehe ich die reale Gefahr, daß die Bürgerinnen und Bürger nicht mündig ihre Demokratie gestalten, sondern in die vorrevolutionäre Unmündigkeit zurückfallen. Totalitäre Heilsprediger könnten die Profiteure sein. Schon heute greift im Umfeld allgemeiner Rezession und Verunsicherung die Resignation um sich.Noch geht es in Ostdeutschland um einen tiefgreifenden Wertewandel. Jede politische Entscheidung, in welchem Bereich auch immer, trägt mit zur Anerkennung oder Ablehnung unserer demokratischen Grundordnung bei. Wie oft mußte ich in der letzten Zeit hören: Pressefreiheit, Redefreiheit und Versammlungsfreiheit, das ist ja alles gut und schön. Aber was nutzt mir das, wenn ich keinen Arbeitsplatz habe, wenn ich von meiner Rente nicht leben kann, wenn ich nicht weiß, wovon ich meine Miete bezahlen soll? Bei Honecker ging es mir besser. — Das höre ich durchaus nicht nur von früheren Funktionären.
Die Fundamente für die Demokratie in Ostdeutschland sind zwar gelegt; aber das Gebäude ist längst noch nicht vollendet. Es wäre fatal, wenn sich die Parteien, wenn wir Parlamentarier und Politiker uns als ein Haupthemmnis für die Vollendung der Einheit erweisen sollten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen, von der CDU beantragten Aktuellen Stunde ist gut. Aber es auf eine fortgesetzte Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung zu reduzieren geht wirklich daran vorbei. Lassen Sie uns darüber reden, wie die Einheit Deutschlands zustande kommen soll.Die Herstellung der Einheit Deutschlands war mit großen Hoffnungen der Menschen verbunden. Sie hätte jedoch Raum und Zeit für die ökonomische, soziale und geistige Anpassung, einen tatsächlichen Prozeß des Zusammenwachsens, erfordert. Statt dessen erfolgte ein Überstülpen der bundesdeutschen Verhältnisse ohne Rücksicht auf Verluste. Statt zu vereinen, wurde vieles zerrissen. Die Einheit wurde vollzogen, aber praktisch nicht bewältigt. Den neuen Möglichkeiten des Konsums, des Tourismus und des Wahrnehmens politischer Rechte stehen in den neuen Bundesländern wirtschaftlicher Niedergang, sich ausbreitende Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit und sozialer Abbau gegenüber. Die Ursache liegt in der Verblendung und politischen Kurzsichtigkeit der Regierungspolitik, die die Komplexität und riesige Dimension dieser Aufgabe unterschätzt hat, den Prozeß der Vereinigung dem spontanen Wirken der Marktkräfte überlassen wollte und jetzt den Ernst der Situation demagogisch verdeckt. Das Handlungsdefizit wird immer größer.Die PDS/Linke Liste sieht Handlungsbedarf vor allem im Erhalt des ostdeutschen Wirtschaftsstandortes, in der Ermöglichung einer auf Wirtschaftsaufschwung und ökologischen Umbau gerichteten koordinierten Struktur- und Beschäftigungspolitik sowie in der Erweiterung und Absicherung des finanziellen Spielraums der ostdeutschen Länder und Kommunen.Durch die katastrophale Situation auf dem Arbeitsmarkt sind Unsicherheit und Perspektivlosigkeit zur dominierenden Grundhaltung der meisten Menschen in den neuen Bundesländern geworden. Mit dem bisher größten monatlichen Arbeitslosenzuwachs zum Jahreswechsel mit rund einer halben Million Menschen, die aus ostdeutschen Betrieben entlassen wurden, ist das häufig beschworene Licht am Ende des Tunnels bei weitem noch nicht zu sehen. Fast ein Viertel der in der DDR Beschäftigten steht heute in der Lohnliste der Arbeitsämter.Hinzu kommt die entwürdigende Art und Weise der Entlassungen. Ich erinnere nur an die Fragebogenaktion, die zur existentiellen Unsicherheit auch noch den Identitätsverlust fördert. Wenn dann häufig heuchlerisch von mangelnder Motivation, z. B. zur Umschulung, die Rede ist, muß das angesichts des Abbaus von Arbeitsmarktkompensationsmaßnahmen, wie den ABM, den Betroffenen wie Hohn vorkommen.Bei einer halbjährigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wird doch jede Initiative sofort im Keim erstickt. Wenn zu dieser arbeitsmarktbedingten Perspektivlosigkeit noch hinzukommt, daß all das, was im Alltag der DDR relativ gut geregelt war, den Bach runtergeht — wie die Schließung der Polikliniken, die drastische Verteuerung der gemeinschaftlichen Kinderbetreuung, der Wegfall von Hortbetreuung und Freizeitmöglichkeiten für Kinder, die enorme Verteuerung der häuslichen Mittagsversorgung für ältere Bürgerinnen und Bürger —, also die gesamte soziale Infrastruktur verschlimmbessert wird, sind soziale Spannungen nicht verwunderlich.Wir vermissen, daß die Einheit praktisch, politisch und geistig als länger andauernder Prozeß gestaltet wird. So, wie der Einigungsvertrag umgesetzt wird, bleibt den neuen Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen die Einheit bzw. Gleichheit der Lebensverhältnisse auf unabsehbare Zeit verwehrt. Die Schere wird immer größer. Das bewirkt ihre fortlaufende Demütigung, ihre Behandlung als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse.An die Stelle der bürokratischen Einparteienherrschaft der SED traten nicht Freiheit und Selbstbestimmung, sondern ein neues Herrschaftssystem, das strikte Unterwerfung fordert und einer demokratischen Neugestaltung wenig Raum gibt.Seriöse Meinungsumfragen belegen eindeutig, daß eine Mehrheit der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger vor der Vereinigung wie auch noch im Dezember 1991 für eine Verfassungsordnung eintrat, die plebiszitäre Formen der Demokratie, neue Freiheits-
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Dr. Barbara Höllrechte und soziale Grundrechte verankert; so nachzulesen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 4. Dezember 1991.Eine Identitätsfindung der Ostdeutschen im einheitlichen Deutschland ist eben keine Frage der politisch-ideologischen Agitation,
die den Bürgern suggeriert, im demokratischsten und idealsten aller Gemeinwesen zu leben. Das hat schon die SED versucht, und das hat nicht geklappt.Die Identitätsfindung hängt von der realen Chance der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger ab, ihre sozialen und demokratischen Hoffnungen im einheitlichen Deutschland verwirklichen zu können. Solange dies nicht geschieht, wird sich eben die schon jetzt vorhandene Stimmung weiter verfestigen, an einem Kolonialisierungsprozeß teilhaben zu müssen.Heute besteht die Gefahr, daß Stasi-Hysterie, Rachementalität und Inquisitionspraktiken auf der einen Seite und Angst und Duckmäusertum auf der anderen Seite das politische Leben in Ostdeutschland beherrschen.Augenscheinlich sollen nunmehr die ideologischen und moralischen Schlachten des Kalten Krieges gegen die DDR dadurch siegreich beendet werden, daß nach der Beseitigung des Staates DDR die Zivilgesellschaft im Osten Deutschlands vollständig erobert wird. Das kann nicht gutgehen.Bemerkenswert erscheint mir, was der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Peter Caesar, heute in der „Süddeutschen Zeitung" schreibt. Ich zitiere:Bescheidenheit und Zurückhaltung waren noch nie besondere deutsche Tugenden. Wenn wir sie im Umgang mit unseren ostdeutschen Mitbürgern nicht schleunigst lernen, wird der Vereinigungsprozeß durch Schlimmeres belastet als durch fehlende Investitionen im Osten, kaputte Umwelt und fehlende Infrastruktur. Das größte Kapital, das die alte DDR eingebracht hat, sind ihre Menschen. Dies nicht zu vergessen, mahnt der Freitod von Gerhard Riege.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herrn Dr. Joachim Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem dornenreichen Weg zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands, also der Annäherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse, sind wir am vergangenen Freitag im Bundesrat ein gutes Stück vorangekommen.
Nach einem gnadenlosen Verteilungskampf hat die Vernunft obsiegt. Eine Bundesratsmehrheit hat den ausgewogenen Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses bestätigt, den am Tag zuvor — auch das verdient festgehalten zu werden — der Bundestagmit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder angenommen hatte.Das unter erheblichen Geburtswehen nun endlich auf den Weg gebrachte Steuerpaket 1992 ist ein notwendiger, unverzichtbarer Akt der Solidarität. Es steht — wie übrigens schon das 91 er Steuerpaket mit dem Solidaritätszuschlag, der, wie von der Regierung versprochen, unwiderruflich zum 30. Juni auslaufen wird — unter dem Leitmotiv: Im Westen sparen, um im Osten investieren, helfen und sozial abfedern zu können.Es ist schön zu sehen und dankbar anzuerkennen, daß gegen solch wohlmeinende und, Herr Weiß, redliche Motive allein ideologisch und parteitaktisch eingefärbte Argumente, Herr Thierse, keine Chancen haben. Das ist gut für die Politik, und das ist auch gut für den Föderalismus. Ein israelisches Sprichwort sagt: Zwei Drittel der Hilfe ist, Mut einzuflößen. Das Finanzpaket 1992 vermittelt unseren Landsleuten im Beitrittsgebiet — insonderheit den sozial Schwachen und den Arbeitslosen, worauf Ministerpräsident Stolpe im Bundesrat zu Recht hingewiesen hat — Mut und Hoffnung.In den Jahren 1992 bis 1994 erhalten die neuen Länder und ihre Gemeinden zusätzlich — ich betone: zusätzlich! — 33 Milliarden DM. Vielleicht noch wichtiger als dieser Zufluß an Ressourcen aber ist die richtungsweisende Entscheidung, das Aufkommen aus der nach der Beschlußlage des ECOFIN-Rates ohnehin, wie jedermann wußte, unvermeidbaren Mehrwertsteuererhöhung voll und ganz in die jungen Bundesländer zu lenken. Denn durch diese Entscheidung bekennen sich Bund und Länder zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für das Zusammenwachsen Deutschlands. Sie bekennen sich zum bündischen Prinzip des Einstehens füreinander, sie anerkennen inzidenter die notwendigen Prioritäten zugunsten der jungen Bundesländer, und sie eröffnen so eine dauerhafte Perspektive für einen neuen bundesstaatlichen Finanzausgleich ab 1995 für alle 16 Bundesländer.Wenn demgegenüber nun einzelne Länder beklagen, das Finanzpaket 1992 belaste einseitig die finanzschwachen alten Länder, so ist diese Behauptung schlicht falsch. Denn die einseitige Begünstigung der Strukturhilfe für die meisten alten Länder konnte und durfte angesichts des völlig veränderten Strukturgefälles nach der Vereinigung Deutschlands schon aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erhalten bleiben. Die Strukturhilfe war eben kein unveränderbarer Besitzstand der alten Länder.Gleichwohl sind die Folgen des Wegfalls dieser Begünstigung in mehrfacher Hinsicht gemeinverträglich abgemildert worden: durch die einmalige Überbrückungshilfe von 1,5 Milliarden DM, durch die Sonderhilfe für das Saarland und für Bremen bei den Bundesergänzungszuweisungen, also für die beiden Länder mit einer Haushaltsnotlage, durch den automatischen Anstieg der Bundesergänzungszuweisungen und nicht zuletzt durch die Anhebung des Länderanteils an der Umsatzsteuer von 35 auf 37 %.Angesichts der für den Bund im Vergleich zu den alten Ländern erheblich ungünstigeren Entwicklung
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldder Haushaltsdefizite ist der Bund insbesondere mit der Anhebung des Länderanteils an der Umsatzsteuer den Ländern bis an die Grenze des Vertretbaren entgegengekommen. Die Bundesregierung sieht deshalb den von einigen Ländern erwogenen Verfassungsklagen mit ruhiger Gelassenheit entgegen.Meine Damen und Herren, das Steuerpaket 1992 beinhaltet noch weitere wichtige Maßnahmen zur wirtschaftlichen und finanziellen Integration Deutschlands. Ich erinnere nur an die Aussetzung der investitionsfeindlichen Gewerbekapital- und der Vermögensteuer sowie an die schon 1991 beschlossene Aufstokkung und Verlängerung der Investitionszulage um zunächst 12 und später 8 %.In der leidenschaftlich geführten Diskussion der letzten Wochen war auch immer wieder die Rede von der „sozialpolitischen Schlagseite". Auch diese keineswegs familienpolitisch, sondern allein verteilungspolitisch motivierte Behauptung ist falsch.
Das Maßnahmenbündel stellt durch die erheblichen Verbesserungen für die Familien und die Bauwilligen besonders seine sozialpolitische Orientierung unter Beweis. Es bringt für die Familien insgesamt eine zusätzliche Entlastung von rund 7 Milliarden DM, und anders als der SPD-Vorschlag, der im Ergebnis darauf zielte, die Einkindfamilie auf Kosten der Mehrkinderfamilien besserzustellen, begünstigt der regierungsseitige Vorschlag besonders die kinderreichen Familien, im Regelfall also die sozial Schwächeren.In den letzten Tagen nun wird die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung mit Sicht auf die laufende Lohnrunde 1992 mißbraucht. Das ist politisch besonders unverantwortlich und verwerflich, denn die Mehrwertsteuererhöhung rechtfertigt höhere Lohnforderungen keineswegs. Solchen Forderungen ist entgegenzuhalten, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer erst zum 1. Januar 1993 erfolgt und der ermäßigte Steuersatz für Güter des täglichen Bedarfs unverändert bleibt, der Solidaritätszuschlag entfällt und hierdurch die Steuerzahler um rund 12 Milliarden DM entlastet werden, das sozial ausgewogene Steueränderungsgesetz 1992 die Familien und die Häuslebauer entlastet und daß schließlich der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar dieses Jahres um einen halben Prozentpunkt gesenkt werden konnte.Meine Damen und Herren, ich bin sicher, das Finanzpaket 1992 ist ein wichtiger und markanter Meilenstein auf dem Weg zur Herstellung der inneren Einheit. Es wird den Aufschwung im Osten fördern, ohne die Grundlagen des Wiedervereinigungsprozesses, nämlich die sich nunmehr im zehnten Jahr fortsetzende wirtschaftliche Dynamik im Westen, einzuschränken oder gar zu gefährden. Es wird so erfolgreich sein wie die Privatisierungs- und Sanierungsbemühungen der Treuhandanstalt oder das im vergangenen Jahr beschlossene Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost". Die in diesem Programm für 1991 bereitgestellten 12 Milliarden DM sind zu über 99 % kassenwirksam und damit arbeitsmarktpolitisch wirksam abgeflossen und für wichtige Investitions- und Wachstumsprojekte in den jungen Ländern verwandtworden. Für 1992 stehen noch einmal 12 Milliarden DM zur Verfügung,
die sich zusammen mit vielen anderen Maßnahmen zu einem einigungsbedingten Leistungstransfer von 140 Milliarden DM in diesem Jahr, Herr Struck,
nach 110 Milliarden DM im vergangenen Jahr, aufaddieren.Bei allen Hindernissen und Schwierigkeiten dürfen wir schon heute die erste Ernte in die Scheuern einbringen: In den jungen Ländern hat sich die Wende zum besseren vollzogen,
auch wenn ein selbsttragender Aufschwung noch nicht erreicht werden konnte. Immerhin sagen uns die wirtschaftswissenschaftlichen Auguren, Herr Thierse, für 1992 einen Zuwachs beim realen Bruttosozialprodukt von rund 10 % voraus.Wir sind also auf einem zwar schwierigen, aber richtigen Weg. Das bestätigt auch eine Aussage des Ministerpräsidenten von Sachsen am heutigen Tage in der „Welt":Mehr als 70 % unserer Bevölkerung sind überzeugt davon, daß man in Zukunft wirtschaftlich gesichert in Sachsen leben kann.Ich füge für die Bundesregierung hinzu: Sie teilt diese Aussage, und zwar für das gesamte wiedervereinigte Deutschland.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Johannes Nitsch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte Freitag war kein schwarzer Freitag, für mich jedenfalls nicht. Er hat Fortschritte für die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands gebracht. Er war ein guter Tag im Februar 1992.Ich erinnere mich an Tage im Februar 1990, also vor nur zwei Jahren, als die Frage der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf der Tagesordnung stand. Jeder in den jungen Ländern kennt noch heute die damalige Haltung der SPD unter Lafontaine, und sie kennt auch die Quittung, die es dann am 18. März bei den Volkskammerwahlen gab. Nun sollte man meinen, daraus hätte diese Partei Lehren gezogen. Ganz und gar nicht!Die Interessen der jungen Länder werden je nach parteipolitischer Notwendigkeit benutzt. Aber die Verweigerungshaltung zur inneren Einheit Deutschlands findet auch innerhalb der SPD inzwischen ihre Kritiker. Mehr und mehr Politiker in der SPD wollen der „wirklichen Wirklichkeit", den Realitäten in
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Johannes NitschDeutschland ins Auge sehen, und die sind nicht immer nur gut.Es ist deshalb schon beachtenswert, daß kein Abgeordneter der neuen Bundesländer aus der SPD-Fraktion dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zugestimmt hat.
Ich frage deshalb alle Kolleginnen und Kollegen aus dieser Fraktion, die aus den neuen Bundesländern sind: Wie wollen Sie Ihre geschlossene Ablehnung des Vermittlungsausschußergebnisses Ihren Wählern erklären?
Glauben Sie damit einen Beitrag zur Herstellung der deutschen Einheit geleistet zu haben?
Ist es Ihr Anliegen nicht, den Fonds Deutsche Einheit auszufüllen, um die Finanzierbarkeit der Länderhaushalte sicherzustellen? Wo dachten sie die 33 Milliarden DM herzubekommen?
Wie wollen wir die noch fehlenden Beiträge zu einer vollen Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit erstreiten, wenn Sie schon diesem über 80%igen Anteil nicht zustimmen, obwohl Sie genau wußten, daß das nichts an der Mehrwertsteuer von 15 % ändert? Und wenn dann die gesamten Einnahmen aus dieser Erhöhung ausschließlich in den Fonds Deutsche Einheit eingestellt werden, muß man schon nach den Gründen Ihrer Ablehnung fragen.Die Erhöhung der Mehrwertsteuer war unvermeidlich. Die Einnahmen werden voll in den Fonds Deutsche Einheit eingestellt. Trotzdem: Ablehnung. Das ist doch irgendwie nicht logisch, jedenfalls für mich und für meine Kollegen aus den neuen Ländern nicht nachvollziehbar.Für uns ist dies der größte Erfolg, den wir hier im Parlament erreicht haben.
— Nicht wir allein. Ministerpräsident Stolpe ist sicher einer der wenigen in Ihrer Partei, der weiß und fühlt, daß man mögliche Erfolge nicht verschieben kann und Gesten und Taten der Solidarität nicht heute zurückweisen darf, um sie morgen wieder einzufordern.
Für die Bürger in den neuen Ländern möchte ich von hier aus noch sagen, daß die Mehrwertsteuererhöhung nicht gilt für Lebensmittel und für Leistungenim Bereich der Kunst und Kultur. Für diese Leistungen bleibt es bei den 7 % Mehrwertsteuer.Zum Schluß, meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen, daß wir für den schwierigen Weg zu gleichen Lebensverhältnissen in ganz Deutschland durch dieses Ergebnis zu einer tragfähigen finanziellen Grundlage gekommen sind, an deren weiterer Verbesserung — ich hatte gesagt, wir haben erst 85 erreicht — wir arbeiten werden und müssen.Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort erhält jetzt die Frau Ministerin für Bundesangelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Eva Rühmkorf.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Worum geht es eigentlich heute im Deutschen Bundestag,
und worum ging es am letzten Freitag im Bundesrat? Doch wohl um die Einheit Deutschlands und um die solidarische Finanzierung dieser Einigung.
Aber bei manchen Erklärungen der letzten Tage von Unionspolitikern wurde ich eher an Wahlkampf und an kriegerische Ereignisse erinnert.
Da ist mir zuviel von Siegern und Verlierern die Rede, von, wie ich gerade gelernt habe, „gnadenlosem Verteilungskampf", von Triumph der einen Seite, von bitterer Niederlage der anderen. Welcher Arbeitslose in Erfurt, welche Schülerin in Rottach-Egern, welches Rentnerehepaar in Greifswald soll das noch verstehen und nachvollziehen?
Tatsache ist: Wir haben im Bundesrat wie auch im Bundestag um den richtigen Weg der Herstellung der Einheit gerungen,
und dann ist eine politische Entscheidung gefallen. Nicht mehr und nicht weniger.Bis heute und hier wieder wird versucht, an einer Legende zu stricken, wird versucht, aus parteitaktischen Interessen nach dem alten und leider bewährten Motto „Teile und herrsche" die Länder gegeneinander auszuspielen: die ärmeren gegen die reicheren, die alten gegen die neuen. Es werden einkommenstarke gegen einkommenschwächere Schichten aus-
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Ministerin Eva Rühmkorf
gespielt und unternehmerische Interessen gegen kommunale.
Es war nicht der Bund, es waren die Länder, die schon frühzeitig, nämlich schon während der Phase des friedlichen Umbruchs in der DDR, der sich neu bildenden Demokratie Hilfestellung gaben. Schleswig-Holstein z. B. hat bereits im Januar 1990 einen gemeinsamen Regionalausschuß mit den damals noch existierenden Bezirken Schwerin, Rostock und Brandenburg unter Einschluß der Bürgerbewegungen initiiert. Damit wurden wichtige Grundsteine für die ökonomische und regionale Entwicklung im Norden Deutschlands gelegt. Vergleichbares haben alle Länder begonnen.
Geld ist wichtig; das ist keine Frage. Darum ging es neben anderem am Freitag. Entscheidend aber ist, wieviel an Wissen, an persönlichem Engagement, wieviel an tatkräftiger Unterstützung durch Menschen, durch Männer und Frauen aus den alten Ländern in die neuen Länder kommt. Am 31. Januar 1992 waren es mehr als 8 000 Menschen, Fachleute, Experten aus den Ländern und Kommunen, die direkte und wirksame Unterstützung in den neuen Ländern geleistet haben. Dafür gilt es ihnen gemeinsam zu danken.
Es sind die Länder, die trotz großer eigener Strukturprobleme die finanzielle und organisatorische Hauptlast der deutschen Einheit tragen.
Der Fonds „Deutsche Einheit" wird — ich bringe es Ihnen in Erinnerung — die alten Länder und ihre Gemeinden durch den Schuldendienst für die nächsten 25 bis 30 Jahre belasten. Für diesen Schuldendienst müssen, wie von Ihnen bereits erwähnt, die Länder — mit Ausnahme von Bremen und dem Saarland — in der Zeit von 1991 bis 1994 rund 11,8 Milliarden DM und ab 1995 jährlich 4,75 Milliarden DM aufbringen.
Um an dieser Stelle der Legendenbildung durch die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses in einem wichtigen Punkt vorzubeugen: Die jetzige Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit ist durch dieLänder in das Vermittlungsverfahren eingebracht worden,
nicht durch den Bund.
Über diesen Erfolg der Länder wurde in den letzten Tagen überhaupt nicht geredet. Ich meine, zu der von Ihnen dauernd geforderten Wahrheit und Klarheit gehört es auch, darüber zu reden und darauf hinzuweisen.
Richtig ist: Wir hatten uns die Verteilung der Lasten zur Finanzierung des Fonds Deutsche Einheit gerechter vorgestellt.
Wir hatten berechnet, daß sich die Bundesregierung, ihren Einnahmemöglichkeiten entsprechend, stärker daran beteiligt, z. B. unter Verwendung der unerwartet hohen Bundesbankgewinne.
Der große infrastrukturelle Nachholbedarf der neuen Länder wurde von den alten Ländern nie bestritten. Sie akzeptieren, daß angesichts des Finanzbedarfs der neuen Länder über alle Möglichkeiten von Umschichtungen gesprochen werden muß.
— Ich wiederhole: Sie akzeptieren, daß über alle Möglichkeiten von Umschichtungen gesprochen werden muß.Die Frage ist aber doch, ob es zwingend erforderlich und mittel- und langfristig sinnvoll ist, die gesamten Strukturhilfemittel sofort in die neuen Lander umzuleiten. Sinnvolle Investitionstätigkeit setzt — das wissen alle hier Versammelten — einen langen Planungsvorlauf voraus. Die SPD-geführten Länder haben daher im Bundesrat vorgeschlagen, die Strukturhilfe bis 1994 schrittweise umzuschichten.
Auch diese Feststellungen scheinen mir zur Klarstellung notwendig zu sein.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6445
Ministerin Eva Rühmkorf
Wir haben — das sage ich an die Vertreter der Bundesregierung — sehr genau hingehört, als der Herr Bundeskanzler auf dem Landesparteitag der schleswig-holsteinischen CDU in Eckernförde angekündigt hat, bei Ablehnung des Pakets im Bundesrat werde er diese Gesetze „Monat für Monat neu einbringen" ,
und dies doch wohl nicht in der Erwartung, er werde dadurch dann Mehrheiten bekommen, sondern mit der erklärten Absicht,
die SPD-geführten westlichen Länder als Gegner der deutschen Einheit zu diffamieren.
Sieg und Niederlage dürfen im Prozeß der inneren Einheit keine Kategorien werden.
Die Gestaltung der deutschen Einheit verlangt gleichzeitig die sachliche Auseinandersetzung um die besseren Konzeptionen
und die Solidarität im grundsätzlichen Ziel.
Die innere Einheit ist nicht zu schaffen, wenn statt dessen politische Diffamierung
und parteipolitische Machtspielereien organisiert werden.
Bundestag und Bundesrat haben über die Steuergesetze entschieden. Blicken wir nicht zurück, blicken wir nach vorn — hoffentlich gemeinsam.Lassen Sie mich abschließend — wie schon einmal Lothar Späth im Bundesrat — Herbert Wehner vom 30. Juni 1960 zitieren. Wehner damals:
Das geteilte Deutschland ... kann nicht unheilbar miteinander verfeindete Christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen.Das vereinte Deutschland, meine Herren und Damen,so meine ich, kann das noch viel weniger ertragen. Esbraucht mehr: Es braucht die Gemeinsamkeit der demokratischen Parteien.
Ausweislich des Protokolls hat auch der Abgeordnete Schluckebier den Zwischenruf „Heuchelbruder" gemacht. Ich erteile auch ihm einen Ordnungsruf.
Nunmehr hat das Wort unser Kollege Jürgen Türk.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, daß ich das Thema dieser Aktuellen Stunde insbesondere aus der Sicht eines Mitgliedes des Wirtschaftsausschusses sehe, zumal das meines Erachtens keinen Widerspruch darstellt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ist eben die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen verbunden, und von den wirtschaftlichen Ergebnissen hängt zweifellos ab, in welchem Umfang man die Umwelt wieder in Ordnung bringen kann. Um genau das in Gang zu setzen, gab es 1991 auf Initiative von Wirtschaftsminister Möllemann das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost; es wird es auch 1992 geben. Ebenfalls wird es 1992 laut 20. Rahmenplan die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" mit Sonderkonditionen für die neuen Bundesländer geben.Im Jahr 1991 sind über 90 % des vorgesehenen Gesamtvolumens kassenmäßig abgeflossen. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" stand dem Bewilligungsrahmen ein wesentlich höherer Bedarf gegenüber. Das heißt, diese Mittel werden benötigt, in Anspruch genommen und zur beabsichtigten Ankurbelung der Wirtschaft beitragen. Dazu haben sie bisher auch beigetragen.Um so wichtiger ist es, wenn Wirtschaftsminister Möllemann für 1992 eine Mittelaufstockung fordert. Falsch wäre es, wenn diese Mittel — hauptsächlich für Neuinvestitionen und Existenzgründungen gedacht — für die Sanierung von Treuhandbetrieben verwendet würden.Grundlage für diese Konzentration von Mitteln muß aktive Strukturpolitik sein. Das kommt auf den Weg; überall werden jetzt regionale Entwicklungsgesellschaften gegründet.Eine echte Hilfe waren ebenfalls die günstigen Finanzierungsbedingungen für den mittelständischen Bereich wie Eigenkapitalhilfe und ERP-Existenzgründungsprogramme. Doch bei gewünschten Unternehmenserweiterungen stoßen die Existenzgründer bei den Banken auf Granit und nicht auf Kredit. Hier wäre über entsprechende Bürgschaften nachzudenken.Ein weiteres sinnvolles Instrument der Bundesregierung sind die Erlasse zur Vergabe öffentlicher Aufträge zugunsten der neuen Bundesländer und der entsprechende Nachtragserlaß über die Auftragsberatungsstellen in Ostdeutschland. Auch hier ist eine steigende Tendenz zu verzeichnen. Ein Hindernis ist allerdings, daß sich die westdeutschen Länder wei-
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Jürgen Türkgern, diese Regelungen zu übernehmen. Das ist nicht gerade ein Zeichen von Solidarität, die jetzt eigentlich erforderlich wäre.Damit sind wir auch beim Thema: Welche Hindernisse gibt es noch? Ich habe Zweifel, ob der Umfang der Hermes-Bürgschaften für 1992 ausreicht. Wir haben eine große Anzahl von entwicklungsfähigen Betrieben, deren Ost-Markt weggebrochen ist. Es ist jetzt jedoch unklug — so sehe ich das —, daß jetzt dieses Tor zugeschlagen wird.Ein weiteres Hindernis ist natürlich die nicht voll funktionierende Vorfahrtsregel für Investitionen. Somit ist geboten, die vorgeschlagene Novellierung zur Verfahrensbeschleunigung so schnell wie möglich auf den Weg zu bringen.Ohne Zweifel ist aber das größte Hindernis — wie ich schon sagte die fehlende Solidarität. Es ist noch nicht begriffen worden, daß die deutsche Einheit ein gesamtdeutsches Problem ist. Solange es nicht gelöst wird, bleibt es auch ein westdeutsches Problem. Ich verstehe die ganze Bund-Länder-Diskussion nicht. Das ist ein Topf. Das bringt uns nicht weiter. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang auch, daß der Länderfinanzausgleich erst 1995 erfolgen soll. Dann wollen wir die Einheit erreicht haben.Kritikwürdig ist auch, daß westdeutsche Unternehmen zu zögerlich in Ostdeutschland investieren. Unsolidarisch ist aber auch, daß sich z. B. die ÖTV-Vorsitzende hinstellt und meint, gerade jetzt hohe Lohnforderungen stellen zu müssen, weil die Mehrwertsteuer erhöht wird, während der Bundeswirtschaftsminister mit Recht Zurückhaltung angemahnt hat. Das ist geradezu — so meine ich — kindisch. Wir brauchen jetzt keine Polemik.
Schaukämpfe können wir wieder veranstalten, wenn das Tal durchschritten ist. Jetzt wird nicht Ideologie, sondern Pragmatismus und konstruktive Opposition gebraucht.
Unter konstruktiver Opposition verstehe ich keinesfalls das Abstimmungsverhalten zum Mehrwertsteuerpaket. Hier wurde Kraftmeierei zuungunsten der ostdeutschen Bevölkerung betrieben. Insbesondere enttäuscht mich das Abstimmungsverhalten der ostdeutschen SPD-Kollegen. Das muß ich hier einmal sagen.
Bei existentiellen Fragen sollte man Fraktionsdisziplin nicht über die Interessen der Bevölkerung stellen. Genau das hat unser — ich sage bewußt: unser — Ministerpräsident Stolpe — ich komme aus Brandenburg nicht getan, als er dem Steuerpaket zugestimmt hat. Für diese pragmatische Haltung, die er nicht das erste Mal zeigt, ist ihm zu danken. Zu hoffen ist auch, daß die öffentliche Hysterie und die damit einseitige pauschale Verurteilung Ostdeutscher beendet wird. Ich meine, das ist das größte Hindernis bei der Herstellung der inneren Einheit.Danke schön.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz allem, was wir in dieser Stunde gehört haben, denke ich, Deutschland hat in dem ersten Jahr nach der Vereinigung eine bedeutende Strecke des Weges zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit zurückgelegt.
Wir sind noch nicht am Ende, aber wir sind auf gutem Wege.In Ostdeutschland erkennen wir die Wende zum Besseren. Die Unternehmensgründungen, aber auch die Umfragen bei den Bürgern zeigen wieder Zuversicht. Eine klare Aufwärtsbewegung hat begonnen und die Talsohle im industriellen Sektor ist erreicht. Für Ostdeutschland erwartet die Bundesregierung für 1992 ein reales Wachstum von rund 10 %.Aber damit sind die Arbeitsmarktprobleme bei weitem noch nicht gelöst. Die Lage ist durchaus kritisch. Die Wende am Arbeitsmarkt ist realistischerweise frühestens zum Ende dieses Jahres zu erwarten. Dann könnten bereits mehr neue Arbeitsplätze geschaffen werden, als alte entfallen. Entlassungswellen, wie durch das Auslaufen der Kurzarbeiterregelung zum Jahreswechsel im Januar, dürften damit der Vergangenheit angehören.Das Gesamtbild zeigt also, daß die Maßnahmen der Bundesregierung greifen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Allerdings ist der Aufschwung Ost noch nicht selbsttragend. Er basiert weitgehend auf beträchtlichen Transferleistungen des Westens. 1991 wurden netto über 100 Milliarden DM für die Bürger in Ostdeutschland bereitgestellt. 1992 wird sich dieser Betrag noch erhöhen. Hinzu kommen die mehr als 33 Milliarden DM, die durch die Verabschiedung des Pakets am letzten Freitag für die Jahre 1992 bis 1994 zur Verfügung gestellt werden.Herr Kollege Thierse, um auf Ihre Eingangsbemerkung zurückzukommen: Das ist nun wirklich nicht das Ausnutzen der Schwäche, sondern ein überragender Beitrag zur Stärkung der neuen Bundesländer.
Meine Damen und Herren, ich muß leider auch anmerken: Egoismus, den uns der Kollege Thierse hier vorgeworfen hat, haben uns die SPD-geführten Bundesländer mit Ausnahme Brandenburgs — am letzten Freitag vorgeführt.
Herr Ministerpräsident Stolpe hat sich verantwortungsbewußt gezeigt; dafür haben wir ihm zu danken.Ich will noch auf einen anderen sachlichen Einwand eingehen, den Frau Minister Rühmkorf hier soeben gemacht hat. Sie hat gemeint, man hätte die Bundes-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6447
Parl. Staatssekretär Klaus Beckmannbankgewinne für die neuen Bundesländer verwenden sollen. Nun wissen wir aber alle — nur, damit es nicht so stehenbleibt, Frau Kollegin —, daß nach der Beschlußlage dieses Hauses höchstens 7 Milliarden DM in den Haushalt fließen dürfen und der Rest zur Tilgung der Altkredite verwendet werden muß. Ich finde es nicht richtig, immer wieder mit solchen durchsichtigen Argumenten aufzuwarten.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns allerdings nicht so sehr an mittelfristigen Prognoseszenarien orientieren. Sie haben ihre Berechtigung, indem sie uns die Probleme auf dem Wege vom Plan zum Markt deutlich machen. Allerdings: Wie lange der Umstrukturierungsprozeß dann wirklich dauern wird, kann uns kein seriöser Forscher sagen. Die Nationalökonomie hat uns die Instrumente hierfür noch nicht an die Hand gegeben. Ich vermute aber, daß in 10, 15, 20 Jahren Heerscharen von jungen angehenden Diplom-Kaufleuten und -Volkswirten ihre Diplom- und Doktorarbeiten hierüber zu verfertigen haben. Im nachhinein werden sie uns das alles erklären können.Ich denke, wichtig ist, daß der Aufschwung Ost einsetzt und die Menschen Perspektiven bekommen. Der Kollege Hübner hat hierzu vorhin, wie ich meine, das Richtige gesagt. Und wir sollten alle etwas genauer hinhören, wenn wir mit unseren Kollegen aus den ostdeutschen, den jungen Bundesländern reden, und reden sollten wir mit ihnen noch mehr als bisher.Ich glaube, einen selbsttragenden Aufschwung werden wir letztlich nur dann erreichen, wenn über private Investitionen marktwirtschaftliches Wissen, moderne, marktfähige Technologien und unternehmerische Führung in die neuen Bundesländer transportiert werden. Klaus von Dohnanyi hat ja prägnant dargestellt, daß es in Ostdeutschland an attraktiven Produkten, an Absatzmärkten, an unternehmerischem Know-how fehlt. Diese Art von Engpaß können nur private Investoren beheben. Aus Eigeninteresse belebt der private Investor den Unternehmensstandort der Region, baut Vermögen auf und schafft rentable, hochproduktive Arbeitsplätze. Ich denke, daß dies die einzige tragbare Grundlage für hohe Arbeitseinkommen und für Ersparnis ist.Meine Damen und Herren, das Konzept der Bundesregierung für die neuen Länder, auf den Kern gebracht, lautet: mehr Investoren für die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Der Bundeswirtschaftsminister hat seine Vorschläge zum Aufschwung Ost im zweiten Jahr im Januar vorgelegt; darauf ist soeben mit Recht hingewiesen worden. Sie sind auch in den Jahreswirtschaftsbericht 1992 eingegangen.Ich will die Kernpunkte noch einmal kurz benennen: erstens die Aufstockung der Mittel für Investitionszuschüsse aus der Regionalförderung von 1992 — beschlossene Sache; zweitens die Novellierung des Vermögensgesetzes — denn Eigentumsfragen dürfen den Aufschwung Ost nicht behindern —
und drittens: Die erfolgreiche Arbeit der Treuhandanstalt im Bereich der Reprivatisierung muß fortgesetzt und intensiviert werden.Ich glaube, hier geht es letztlich — das war ja auch Ihr Anliegen, Herr Kollege Türk — um den Erhalt von Industriestandorten. Die Sanierung von Betrieben wird 1992 stärker in den Vordergrund treten müssen. Entscheidendes Kriterium dabei muß aber sein, ob die Unternehmen in absehbarer Zeit die Wettbewerbsfähigkeit erreichen können. Managementgesellschaften, Kapitalanlagefonds oder Kapitalbeteiligungsgesellschaften sollen erfahrene Sanierer für die Treuhandunternehmen gewinnen.Meine Damen und Herren, der Aufbau der neuen, der jungen Bundesländer hat auch weiterhin Priorität für Deutschland. Wichtig ist, daß darüber Konsens besteht. Ich glaube, der Konsens in diesem Hause ist breiter, als sich manche von außen das vorstellen. Frau Rühmkorf, von Feindschaft zwischen den Fraktionen oder den Parteien, wovon Sie soeben gesprochen haben, kann in diesem Zusammenhang wirklich keine Rede sein. Wir haben den Wettbewerb der Argumente. Aber das Wort „Feindschaft" scheint mir in diesem Zusammenhang völlig unangebracht zu sein.Ich vermisse diesen Konsens, den wir alle benötigen, allerdings in der SPD-Position im Bundesrat zum Steueränderungsgesetz und leider auch noch in den Vorschlägen von Herrn Engholm zu einer Konzertierten Aktion. Meine Damen und Herren, vermeintliches Parteikalkül darf nicht der Solidarität mit den neuen Bundesländern vorgezogen werden. Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die Tarifpartner müssen sich ihrer Verantwortung bewußt werden. Sie müssen sich ihr stellen. Die Bundesregierung ist bereit, auf neue Herausforderungen mit neuen Prioritäten zu antworten.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dietrich Austermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vertreterin des Landes Schleswig-Holstein hat hier die Gemeinsamkeit der Demokraten beschworen und hat gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß sie diese Gemeinsamkeit der Demokraten offensichtlich nicht richtig findet. Denn sonst hätte sie am letzten Freitag im Bundesrat dem großartigen Hilfspaket, das vorgelegt wurde, zugestimmt.
Sie hat es nicht gemacht und damit die Hilfe für die neuen Bundesländer abgelehnt.Wie weit manche von der inneren Einheit auch innerlich entfernt sind, beweist heute die schleswigholsteinische SPD, Frau Ministerin Rühmkorf, mit einer großen Anzeige. Unter der Überschrift „Was sind das für Schleswig-Holsteiner, " — damit sind offensichtlich die CDU-Abgeordneten gemeint —„die sich über Schaden für unser Land freuen?" wird
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Dietrich Austermannunter völliger Verdrehung der Ergebnisse des Vermittlungsausschusses und des Bundesrates der Eindruck erweckt, daß es dem Land Schleswig-Holstein nun schlechter ginge als vorher. Wahrheitswidrig wird, Frau Rühmkorf, behauptet, daß die Landeskasse durch das Steueränderungspaket in den nächsten drei Jahren 630 Millionen DM verliert.Tatsache ist, daß auch Schleswig-Holstein von den Steuersenkungen, von den Hilfen für Familien, von den Hilfen für Wohnungsbauer profitiert. Tatsache ist, daß die Gemeinden in Schleswig-Holstein von der Neufassung der Gemeindeverkehrsfinanzierung profitieren. Tatsache ist, daß auch Schleswig-Holstein von der Neuverteilung der Umsatzsteuer profitiert.
Schleswig-Holstein erhält einen Nachschlag aus der Strukturhilfe. Auch dies haben Sie im Bundesrat abgelehnt. Man kann also davon ausgehen: Jede einzelne Mark für die neuen Bundesländer und jede einzelne Mark für Schleswig-Holstein ist gegen die Stimmen der SPD, gegen die Stimmen von Herrn Engholm im Bundesrat beschlossen worden.Ich glaube auch, daß die Aussagen, die zur Mehrwertsteuererhöhung gemacht werden, unwahr sind. Mir fiel gerade heute ein Interview mit Herrn Engholm vom 19. Februar 1991, von genau vor einem Jahr, in der Zeitung „taz" in die Hände. Da ist Herr Engholm gefragt worden:Also wollen Sie Mehrwertsteuer erhöhen, weil dies den Ländern zugute kommt?Engholm antwortete darauf:Wenn dies alles nicht ausreicht, muß die Mehrwertsteuererhöhung sein. Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit sollten allerdings Grundnahrungsmittel ausgenommen werden.Das ist genau das, was wir machen. Sie erwecken mit Ihrer Anzeigenkampagne heute den Eindruck, Sie hätten die Mehrwertsteuer nicht erhöht. Dies ist unwahr, und dies ist unredlich.
Ich glaube, meine Damen und Herren, die Argumentation der SPD-Verweigerer in den alten Bundesländern kann man nur mit einer Gegenfrage beantworten: Was sind das für Deutsche, die ihrem Landsmann in Not Hilfe verweigern, die sie nichts kostet? Was sind das für Deutsche, die ihrem Nachbarn Hilfe verweigern, wenn sie selbst vom Bund mehr bekommen, als sie selbst verplanen und als sie selber ausgeben können?
— Im letzten Jahr hat das Land Schleswig-Holstein Mittel nach Bonn zurückgeben müssen, Herr Gansel, weil es nicht in der Lage war, Planungskapazität bereitzustellen, um Straßenbau zu betreiben.
Wenn es also den alten Bundesländern besser geht, wenn die Gemeinden mehr Geld in der Tasche haben, dann fragt man sich, warum die SPD dieses Paketabgelehnt hat. Offensichtlich aus wahltaktischen Gründen.
Man möchte den Eindruck vermitteln, man sei gegen Steuererhöhungen, die man insgeheim schon verausgabt hat. Man möchte die Union als angebliche Steuererhöhungspartei
und sich selbst als Anti-Steuererhöhungspartei ausgeben. Man spekuliert mit Neid. Wer früher noch geglaubt hat, Sozialdemokratie habe etwas mit Solidarität zu tun, wird endgültig eines besseren belehrt.
Neid als Politik ist Sozialismus, und Engholm ist der oberste Unsolidar.
Die CDU in Schleswig-Holstein hat sich wie die ganze CDU in der ganzen Bundesrepublik über die Verabschiedung des Steuerpaketes gefreut, weil es mehr Hilfe für die neuen Bundesländer gibt — 31,3 Milliarden DM , weil damit die Möglichkeit geschaffen wird, mehr für die innere Einigung und für den Wiederaufbau zu tun.Herr Thierse, Sie sollten manchmal wirklich überlegen, wie weit man seine eigene Glaubwürdigkeit in Gefahr bringt, wenn man mit großer Ernsthaftigkeit und mit großem Pathos Dinge vorträgt, die der Wahrheit einfach nicht entsprechen.
Wer heute in Schwerin oder in Pasewalk die Augen aufmacht, sieht, daß die Bereitschaft zu Investitionen vorhanden ist, daß aber das Geld fehlt. Das Land Mecklenburg-Vorpommern, Partnerland von Schleswig-Holstein, hat bis zum letzten Freitag auf 708 Millionen DM gewartet, hat auf die Möglichkeit, einen Haushaltsplan aufzustellen, gewartet — diese wurde drei Monate verzögert — und hat darauf gewartet, die Investitionen tatsächlich in die Tat umzusetzen. Ich glaube, daß deutlich geworden ist, weshalb dort so lange gewartet werden mußte und weshalb es unredlich und unfair war, zu sagen, man müsse einfach noch drei Monate abwarten, weil es dann besser gehe.Der Strukturwandel, der in manchen Bereichen an der Küste, z. B. bei den Werften, viele, viele Jahre, etwa 15 Jahre erfordert hat, wird für die neuen Bundesländer nicht so lange warten können. Er ist aber nur dann machbar, wenn wir von allen westlichen Bundesländern tatsächlich mehr Geld bereitstellen und mehr helfen. Deshalb müssen wir mehr in Forschung und Technologie investieren. Ein Hochlohnland muß im Bereich neuer Technologien Spitze sein.In gewisser Weise kann man die Situation der neuen Bundesländer mit der im alten Bundesgebiet 1949 vergleichen. Wir haben damals mit dem Slogan „Wir können nicht zaubern, aber arbeiten" geworben. Das
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Dietrich AustermannMotto der SPD vor den Wahlen in Schleswig-Holstein müßte demnach lauten: „Wir wollen nicht helfen, sondern verweigern."Wir haben am letzten Freitag das getan, was Pflicht für die Menschen in den neuen Bundesländern ist. Sie können sich darauf verlassen, daß wir dies auch in den nächsten Jahren tun werden.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Rolf Schwanitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß Sie sich von der Regierungskoalition an den Problemen anderer politisch laben, ist für mich keine Überraschung. Daß Sie aber dies tun, indem Sie heute eine Aktuelle Stunde mit dem Thema — ich muß das noch einmal verlesen — „Fortschritte und Hindernisse bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands" tun, das offenbart Ihre zunehmende Realitätsferne in diesem Haus.
Meine Damen und Herren, die Probleme liegen auf ganz anderen Ebenen. Sie haben die Treuhand zum Buhmann der Nation gemacht.
Die Treuhand ist der Prügelknabe für das, was drüben an sozialen Problemen auftaucht. Die Leute in den neuen Bundesländern nehmen die Treuhand an stellvertretend für das, was die Bundesregierung in das Gesetz nicht hineingeschrieben hat.
Das Motto „Privatisierung ist die beste Sanierung" ist so insgesamt nicht mehr haltbar. Wann kommt endlich der Sanierungsauftrag in das Treuhandgesetz?
Wann nimmt sich die Bundesregierung endlich der tatsächlichen strukturpolitischen Erfordernisse in den neuen Bundesländern an? Der Kollege der CDU-Fraktion, der Kollege Kolbe, kann einem in seinen Gängen zum Kanzleramt und in der Resignation, die damit sicherlich verbunden ist, nur leid tun.
Wann kommen und wo liegen funktionierende Kontrollinstrumentarien, um auch kleinere und mittlere Betriebe bei Vertragsbrüchen es ist nämlich in der Tat nicht immer so, daß die Treuhand der böse Bube in diesem Spiel ist — wirksam mit Sanktionen belegen zu können? Ich rede hier nicht von irgend etwas. In meinem Wahlkreis haben wir eine Auseinandersetzung mit der Conti AG und den Vogtländischen Reifenwerken. Dort betreibt das Unternehmen eine Strategie nach dem Motto: Kaufen, Vertrieb übernehmen und stillegen. Nahezu nichts ist tatsächlich möglich, um hier einigermaßen praktikabel und wirksam vorzugehen.
Ich bin dankbar dafür, daß Herr Grünewald hier den Ministerpräsidenten von Sachsen, Herrn Biedenkopf, zitiert hat. Dieser hat gestern gesagt, daß nach seiner Auffassung die Schaffung der wirtschaftlichen Einheit bis ins Jahr 2010 reichen wird, also eine Vertagung auf 18 Jahre. Das ist die Realität. Es offenbart den Realitätsverlust, wenn hier ein solches Thema instrumentalisiert werden soll.
Aber wenn wir heute über die inneren Probleme des Zusammenwachsens reden, geht es natürlich auch um die Fragen: Wie gehen wir miteinander um? Wie wirkt es, wenn wir nach wie vor sagen: Rückübertragung vor Entschädigung bei den offenen Vermögensfragen? Dieses Prinzip ist ein entscheidendes Hemmnis bei der wirtschaftlichen Gesundung. Es verschlingt Unsummen an Verwaltungsaufwand in den neuen Bundesländern. Ich befürchte, den hat im Moment noch gar niemand einmal ausgerechnet.
Dies verletzt in Ostdeutschland das soziale Dasein und die Psyche der Menschen.
Wer hat die Stichtagsregelung 18. Oktober 1989, der Tausende dazu verdammt, unredlich erworben zu haben, den Ostdeutschen aufgezwungen, ich sage auch: gegen das Votum der SPD , gegen das Votum der SPD (Ost) und gegen das Votum der Abgeordneten der CDU (Ost) in der Volkskammer aufgezwungen?
Sie müssen nur einmal in die Gemeinsame Erklärung vom 15. Juni schauen; da steht es drin. Das hat damit überhaupt nichts zu tun.
Ich frage auch: Was bewegt Frau Ministerin Schwaetzer dazu, sich der Altschuldenproblematik bei den kommunalen Wohnungsunternehmen mit dem Vorschlag einer Stundung zu nähern? Das ist vollkommen realitätsfremd. Hier nimmt man sich der Probleme nicht an.
Das eigentliche Problem beim inneren Zusammenwachsen liegt auf dieser Ebene. Die Defizite werden ausgesessen; man nimmt sich nicht dieser Probleme in der eigentlichen Schärfe an; sie werden ignoriert. Das ist das eigentliche Hemmnis beim inneren Zusammenwachsen.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Klaus Rose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Bundesregierung hat die von ihr gewollte äußere Einheit Deutschlands vollendet. Sie stellt sich in verantwortungsvoller Weise auch der Vollendung der inneren Einheit. Sie hat die richtigen Weichen dafür gestellt, indem sie Haushaltsund Steuerbeschlüsse gefaßt hat, die dieser inneren Einheit zugute kommen.
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6450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Dr. Klaus RoseWir haben in eindrucksvoller Weise die Solidarität mit den jungen Bundesländern ernst genommen, wir haben die Eckwerte für 1990 beschlossen und den Haushalt für 1991 und 1992 vorgelegt. Wir stellen uns den gewaltigen finanziellen Herausforderungen.Besonders hervorzuheben ist, daß inzwischen auch die Bundesbank in ihrem letzten Monatsbericht anerkennt, daß die Maßnahmen in den neuen Bundesländern gut durchgeführt worden sind, daß z. B. die Mittel für das Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" 1991 zu 99,97 % abgeflossen sind und damit die Weichen richtig gestellt sind.Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel hat damit die düsteren Prophezeiungen der SPD, die uns ein finanzpolitisches Chaos herbeireden wollte, eindrucksvoll widerlegt.
Meine Damen und Herren, auch in der Steuerpolitik haben wir — Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grünewald hat es vorhin bestätigt — die richtigen Weichen gestellt und bereits im Vermittlungsverfahren zum Steueränderungsgesetz untragbare Forderungen der SPD, insbesondere die Verlängerung des Solidaritätszuschlags, erfolgreich abgewehrt.Nun gab es am letzten Freitag Gott sei Dank die Zustimmung des Bundesrats zum Steueränderungsgesetz 1992. Damit wird uns die zielgerichtete und verantwortungsbewußte Haushalts- und Finanzpolitik ermöglicht, und wir werden sie auch fortsetzen.Es ist außerordentlich zu begrüßen, daß sich im Bundesrat die politische Vernunft und nicht die Verweigerungsideologie durchgesetzt hat.
Diese Verweigerungshaltung, die vom saarländischen Ministerpräsidenten bis zum Exzeß betrieben wurde, kommt nicht der inneren Einheit Deutschlands zugute. Wir werden sie deshalb immer wieder angreifen, und wir werden sie anprangern. Wir können nur hoffen, daß diese Verweigerungsideologie und -strategie des Herrn saarländischen Ministerpräsidenten vielleicht bei ihm zu Hause, aber nicht in Deutschland, gut ankommt.Theo Waigel hat trotz der gegenteiligen falschen Unterstellungen der SPD immer den Kompromiß gesucht und ist mit seinem Angebot bis an die Grenze des finanziell Vertretbaren gegangen. Die großen Vorteile des Gesetzes können jetzt endlich von den jungen Bundesländern, von den Familien, den Wohnungssuchenden und den Unternehmern, im Interesse des Aufbaus in Anspruch genommen werden.Die Konfliktstrategie der Bundes-SPD ist damit endgültig und für jeden erkennbar gescheitert. Die krampfhaft zusammengesuchten und ständig wechselnden Ablehnungsgründe — sei es nun die Ablehnung der auf EG-Ebene unvermeidlichen Mehrwertsteuererhöhung, die angeblich unsoziale Familienpolitik oder die vermeintliche Benachteiligung der westlichen Bundesländer — sind alle nur vorgeschoben und falsch. In Wirklichkeit war man in dieser sinnlosen Konfrontation verfangen, weil man insgesamt die Einheit Deutschlands noch immer nicht richtig gewollt und aufs Panier geschrieben hat.
Der Egoismus der SPD-regierten Länder ist heute schon mehrmals angeprangert worden; ich brauche darauf nicht mehr einzugehen. Ich sage nochmals: Wäre es nur die finanzpolitische Unfähigkeit der SPD, so könnte man ihr das noch verzeihen. Aber es kommt halt leider doch die Strategie der SPD, ihr offenbar immer noch vorhandener innerer Widerstand gegen die deutsche Einheit, zum Ausdruck, der uns ernste Sorgen bereitet.Wer gesamtstaatliche Verantwortung als Strategiespiel versteht, Ideologie vor die Interessen der Bevölkerung stellt und Konfrontation ohne echte inhaltliche Positionen zum Selbstzweck erhebt, der ist auch in der Opposition für unser Gemeinwesen gefährlich. Dies wird schon an dem verfassungsrechtlich unzulässigen Druck der SPD-Spitze auf die SPD-regierten Bundesländer im Bundesrat deutlich.Ich spreche nicht von Verlierern und Gewinnern. Aber ich darf sagen: Zumindest ist man ein schlechter Verlierer, wenn man dann, wenn die eigene Seite unterliegt, den eigenen Leute mit dem Gang zum Bundesverfassungsgericht droht und verschiedene andere Dinge macht.Meine Damen und Herren, das sollte auf dem Weg zur inneren Vollendung der Einheit nicht Ziel und Leitbild sein. Deshalb sollte unsere Politik, die Politik der Bundesregierung, fortgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, es gibt noch drei Wortmeldungen. Nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie feiern es als Sieg, daß Sie gegen unseren Widerstand das Steuerpaket 1992 durchgedrückt haben.
Worauf sind Sie eigentlich so stolz?Millionen Menschen in Ost und West, Familien mit Kindern, Arbeitslose und Alleinerziehende, zahlen eine höhere Mehrwertsteuer dafür, daß Sie die Vermögen- und Gewerbesteuer in Höhe von 4,5 Milliarden DM senken, meine Damen und Herren.
Meinen Sie wirklich, das nützt den Menschen in Ost und West? Denken Sie bei all diesen Fragen eigentlich immer allein an Ihre Partei oder auch mal an das, was es für die Menschen in Ost und West bedeutet?Meine Damen und Herren, wir haben hier heute oft über Solidarität gesprochen. Solidarität heißt ja wohl nicht Solidarität mit Parteien, sondern Solidarität mit Mitbürgern und Mitbürgerinnen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6451
Meine sehr verehrten Damen und Herren, überwiegend hat die Rednerin das Wort, und diese heißt nun Frau Ingrid Matthäus-Maier. Ich bitte, das wirklich zu beachten.
Bei dem Stichwort Solidarität darf ich Sie an folgendes erinnern: Wie war es denn im Januar 1990, als die SPD in Ost und West gefordert hat, die D-Mark auch für die Menschen in Ostdeutschland einzuführen, was Sie erst nach lebhaftem Widerstand des Finanzministers dann tatsächlich gemacht haben? Oder wie war es denn mit unserem Vorschlag, daß die Treuhand nicht nur einen Privatisierungs-, sondern auch einen Sanierungsauftrag erhalten soll? Bis heute haben Sie das Gesetz nicht geändert.
— Herr Präsident, weil ich etwas Mühe mit dem lauten Schreien habe, würde ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar Minuten mehr geben.
Weiterhin zum Stichwort Solidarität: Erinnern wir uns doch an den Herbst 1990. Wer war denn da eigentlich solidarischer mit den Menschen im Osten? Ein Bundeskanzler, der im Fernsehen garantiert hat, daß es keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit gibt, oder eine SPD, die mit der gewiß nicht populären Ankündigung in den Wahlkampf ging, sie wolle für die Finanzierung der deutschen Einheit den Menschen in Ost und West auch Steuererhöhungen zumuten, meine Damen und Herren?
Nein, wer hier von Solidarität redet, der muß den Menschen erklären, warum die Masse der Menschen, gerade auch die kleinen Leute, in Ost und West eine höhere Mehrwertsteuer zahlen muß und warum dafür die Vermögensteuer für Großunternehmen im Westen gesenkt wird,
der muß den Menschen in Ost und West erklären, warum die Bürgerinnen und Bürger mit den höheren Einkommen bei dieser Regierung dauernd Steuersenkungen bekommen. Denken wir doch daran: Alle, die hier sitzen, haben 1990 eine kräftige Steuersenkung erhalten.
Alle, die hier sitzen, haben trotz der massiven Steuererhöhungen 1991 — Sie wissen es alle; es geht um die Mineralölsteuer, die Ergänzungsabgabe usw. —
immer noch eine höhere Steuerentlastung als -mehrbelastung, obwohl die Mehrheit der Bürger seit dem Jahre 1991 höhere Steuern zahlen muß.
Leute wie wir, die wir hier sitzen, erhalten 1992 erneut höhere Steuerentlastungen als die kleinen Leute. Das ist unsolidarisch mit den Menschen im Osten und mit den Menschen im Westen.
Meine Damen und Herren, warum sind Sie stolz darauf, daß Sie Kinderfreibeträge statt eines höheren Kindergelds durchgesetzt haben?
Die Menschen mit den kleinen Einkommen erhalten über den Kinderfreibetrag im Monat 65 DM als Entlastung. Menschen mit Spitzeneinkommen erhalten über denselben Kinderfreibetrag im Monat eine Entlastung von 181 DM. Wem wollen Sie eigentlich in Ost und West erklären, warum die Menschen mit Spitzeneinkommen im Monat 116 DM mehr Steuerentlastung für ihr Kind erhalten als die kleinen Leute?
Meine Damen und Herren, wir sind der Ansicht: Die Überwindung der kommunistischen Kommandowirtschaft wäre für uns alle schwer gewesen, aber wir hatten und haben die besseren und die solidarischen Konzepte.
Ich erinnere an den Vorschlag meines Parteivorsitzenden Björn Engholm, der in diesen Tagen den Bundeskanzler aufgefordert hat, eine Gemeinschaftsinitiative der Vernunft einzuberufen: Gewerkschaften, Unternehmer, Bundesregierung, Länder und Gemeinden. Diese Gemeinschaftsinitiative soll dazu dienen, gemeinsam und solidarisch die Probleme in den neuen Bundesländern zu lösen. Diese Lösungen lauten, endlich eine investitionsfreundliche Eigentumsregelung zu schaffen nach dem Motto „Entschädigung vor Rückgabe", endlich eine bessere Infrastruktur und endlich eine gerechtere Steuerpolitik herbeizuführen, damit nicht immer die Kleinen bluten und die Großen entlastet werden.
Meine Damen und Herren, Zwischenrufe sind ja im allgemeinen erlaubt und gestattet, sogar erwünscht. Aber ich mache noch einmal darauf aufmerksam: Wir sollten dem jeweiligen Redner oder der jeweiligen Rednerin die Chance geben, seine bzw. ihre Argumente vorzutragen.
— Dann sage ich: daß der Redner bzw. die Rednerin seine bzw. ihre Meinung vortragen kann.
Nun hat das Wort unser Kollege Dr. Heribert Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre natürlich sehr reizvoll, jetzt im einzelnen auf das einzugehen, was
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6452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Dr. Heribert BlensFrau Matthäus-Maier hier gesagt hat. Ich will mich auf zwei Punkte beschränken, nämlich auf das Kindergeld und die Freibeträge. Frau Matthäus-Maier, wir haben Ihren Vorschlag einmal durchgerechnet — das unterscheidet uns von Ihnen — und festgestellt, daß nach Ihrem Vorschlag jemand, der 157 000 DM Jahresgehalt zu versteuern hat, monatlich noch immer 1,20 DM mehr für sein Kind bekommt als nach unserem Vorschlag.
Ich denke, jemand, der 157 000 DM verdient, ist auch nach Ihren Vorstellungen ein Besserverdienender.Erst wenn jemand einen Grenzsteuersatz von 50 % und ein zu versteuerndes Jahreseinkommen von 218 000 DM hat, bekommt er nach Ihrem Vorschlag weniger, nämlich ganze 6 DM, als nach unserem Vorschlag.
6 DM sind der Gegenwert von drei Kölsch, Frau Matthäus-Maier. Darauf reduziert sich Ihre Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Das sind die Tatsachen.
Zu dem Komplex „Steuererhöhungen vor der Bundestagswahl" sage ich Ihnen: Herr Lafontaine hat vor der Bundestagswahl von Steuererhöhungen nicht deshalb geredet, um sie anzukündigen, sondern aus einem ganz anderen Grund. Er hat gesagt: Herr Kohl hat euch die Wiedervereinigung beschert, euch Westdeutschen — darauf war das abgestellt —, und jetzt müßt ihr anschließend über Steuererhöhungen bezahlen. Er hat versucht, damit in Westdeutschland auf Stimmenfang zu gehen. Das war der Wahlkampf des Herrn Lafontaine.
Meine Damen und Herren, ich will hier aber nicht die Vergangenheit aufrollen. Nach diesem Vermittlungsverfahren ist für mich die Frage: Wie geht es in der Zukunft weiter? Wie bekommen wir es fertig, die schweren Probleme, die vor uns liegen und die die Wiedervereinigung mit sich gebracht hat, mit unterschiedlichen Mehrheiten hier im Bundestag und im Bundesrat zu lösen? Ich nenne einige: über 100 Milliarden DM Altschulden der alten DDR, die auf uns zukommen; über 50 Milliarden DM Altschulden des heruntergekommenen Wohnungsbestandes in der alten DDR; zig Milliarden Sanierungskosten für diese Wohnungen; Restschulden der Treuhand in noch nicht übersehbarer Höhe; Hunderte Milliarden für die Sanierung der Umwelt; 35 Milliarden DM für die Sanierung der Krankenhäuser; 10 bis 15 Milliarden DM für die drängende Sanierung der menschenunwürdigen Alteneinrichtungen in der alten DDR und nicht zuletzt die Neuordnung des Finanzausgleichs, die bis zum 1. Januar 1995 gelungen sein muß, da das ganze System des Finanzausgleichs sonst spätestens zu diesem Zeitpunkt zusammenbricht.Die Frage ist: Wie können wir diese Probleme lösen? Wenn wir fragen, was hinter diesen Zahlen und diesen Problemen steht, dann, denke ich, gibt es ein gemeinsames großes Ziel, das das alles verbindet. Dieses Ziel heißt: Herstellung gleicher Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland, Herstellung von Chancengerechtigkeit für die Menschen in Ostdeutschland, Herstellung gleicher Lebensqualität für die Menschen in Ostdeutschland. Mit einem Wort: Es geht um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen.
Meine Damen und Herren, genau das war der Kern der Auseinandersetzung im vergangenen Vermittlungsverfahren. Deshalb war es am vergangenen Freitag im Bundesrat für mich bedrückend zu sehen, wie ein sozialdemokratischer Ministerpräsident aus Westdeutschland nach dem anderen ans Rednerpult ging und die Verweigerung seiner Solidarität mit den Ostdeutschen zu Protokoll gab. Für mich war das bedrückend, meine Damen und Herren.
Eines ist für mich sicher: Mit dieser Methode werden die Probleme der Zukunft, die uns die Wiedervereinigung gebracht hat, nicht zu lösen sein. Wir brauchen für die Lösung dieser großen sozialen Probleme, für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit das Zusammenwirken aller, die im Bundestag und im Bundesrat eine Mehrheit haben, denn sonst sind die Probleme nicht lösbar.Ich schlage deshalb vor, nach den Erfahrungen mit diesem zunächst gescheiterten Vermittlungsverfahren, das dann doch noch zum Erfolg geführt werden konnte, jetzt mit der Suche nach Gemeinsamkeiten zur Lösung dieser schwierigen Probleme zu beginnen. Ich denke, wir können uns dabei an zwei Sätzen orientieren, die ich in dem Zusammenhang für wichtig halte. Der erste Satz heißt: Der Mensch ist wichtiger als die Taktik. — Der zweite Satz heißt — er stammt nicht von mir, sondern er stammt aus dem Godesberger Programm der Sozialdemokraten von 1959 —: „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, die aus der gemeinsamen Verbundenheit folgende gegenseitige Verpflichtung, sind die Grundwerte des sozialistischen Wollens." — Wenn wir das letzte einmal weglassen — Sie lassen es inzwischen ja auch weg —, sage ich Ihnen: Auf diesen Grundsatz können wir uns verständigen. Machen wir ihn zur Grundlage gemeinsamen, vernünftigen, am Gesamtwohl orientierten Handelns in den nächsten Jahren! Dann wird es uns gelingen, die Probleme, die vor uns liegen, auch gemeinsam zu lösen.
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Ortwin Lowack jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere etwas, daß dieses sehr anspruchsvolle Thema nicht zu einer Art Bestandsaufnahme der Fortschritte und Hindernisse und vor allen Dingen nicht zur Diskussion von Lösungen geführt hat, son-
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Ortwin Lowackdern leider doch nur eine Art Schlagabtausch ohne Perspektive gewesen ist.Ich bedauere auch etwas, daß Dinge, die wir im Augenblick wirklich erörtern müssen, z. B. die Grundstücksfrage, überhaupt nicht Gegenstand dieser Diskussion waren. Ich möchte diejenigen, die im Augenblick darin ihr Heil gesucht haben, immerhin darauf hinweisen, daß Eberhard von Körber gestern — Sie sollen ruhig sehen, daß unabhängige Abgeordnete des Deutschen Bundestages durchaus auch einmal einem Gremium angehören können, das der Wirtschaftsrat der CDU gestellt hat —
sehr klar herausgestellt hat, daß die Grundstücksprobleme im Grunde genommen, so sagte er wörtlich, Lamentierthemen seien und daß das in Wirklichkeit nicht die entscheidenden Investitionshemmnisse seien, sondern daß die Hemmnisse noch anderswo zu suchen seien, leider auch noch in der Treuhand, leider auch bei Seilschaften in der Treuhand, denn dort verhindern Leute tatsächlich immer noch, daß Betriebe rechtzeitig herausgegeben werden, weil man noch in einer romantisierten Form aus der Vergangenheit an bestimmten Betrieben hängt. Diese Dinge müssen angesprochen werden. Hierauf sollte der Finanzminister auch einmal eine Antwort geben, aber er hat sich ja leider nicht an dieser Debatte beteiligt.Das wir zu viele Doppelagierende haben — ich spreche nicht von Doppelagenten —, Leute, die mit beiden Seiten zusammengearbeitet haben — ich meine z. B. auch jemanden wie Herrn Stolpe, aber auch andere —, ist sicher ein großes Problem. Für die innere Einheit Deutschlands ist für mich immer noch erschreckend, daß der Eindruck entsteht, Leute wie Schalck-Golodkowski oder Wolf könnten deshalb frei herumlaufen und frech auftreten, weil irgendwo auf der Regierungsseite anscheinend Leute sind, für die es interessant ist, daß diese Herren nicht reden oder jedenfalls nicht das auspacken, was wir wissen müssen, damit die Einheit Deutschlands wirklich vollzogen werden kann. Hier müssen wir einhaken.
Ich bedaure, daß dieses unglaubliche Werk, ein Jahrhundertwerk der deutschen Einheit, mit dem, was die Bundesregierung im Augenblick macht, eine der größten Pleiten dieses Jahrhunderts zu werden droht,
ausgerechnet in Deutschland. Eine Sache, über die wir uns jeden Tag freuen müßten, wo wir sagen müßten, wir dürfen mit dabei sein, wird runtergemacht, wird im Grunde genommen zu einer Entwicklung gemacht, mit der sich heute niemand mehr identifizieren kann. Ich sage voraus — ich habe es hier schon einmal gesagt —: Was im Augenblick passiert, die riesigen Tranfers, die unsere Zukunft belasten, die nicht in Investitionen gehen, sondern in den Konsum, der durch Importe und durch ein kurzfristigesBeschäftigungsprogramm für westliche Firmen abgedeckt wird, halten wir nicht durch. In drei oder vier Jahren ist Schluß. Wir werden uns wundern. Dann läuft die Wirtschaft drüben leider noch lange nicht gut.Ich muß ganz offen sagen: Die deutsche Einheit kann überhaupt nicht allein im wirtschaftlichen Bereich vollzogen werden. Sie muß genauso im idealistischen Bereich vollzogen werden. Tausend Reden des Bundeskanzlers bewirken nicht das, was eine Olympiade in Frankreich bewirkt, einfach weil nichts überkommt. Ich sage auch voraus: Dieser Bundeskanzler wird in der Geschichte nicht den großen Rang einnehmen, weil er mental nichts rüberbringt.
— Wir werden uns darüber noch auseinanderzusetzen haben.
Wenn der Außenminister in einer Rede vor wenigen Tagen so ungefähr sagen kann: Das gesamte kulturelle Programm des Herrn Bundeskanzlers ist die breite Spanne zwischen Pfälzer Saumagen und Abmagerungskur, dann kann ich ihm nur recht geben. Aber so ist es doch. Es kommt nichts über. Wenn ich die deutsche Einheit vollziehen will, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, gehört dazu auch das Mentale, ein ideelles Element. Ich kann das nicht auf die Fragen von Vermögensausgleich reduzieren.
Herr Kollege Lowack — —
Ich komme zum Schluß. — Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die herzliche Bitte — vielleicht spüren Sie es selber —: Tragen Sie dazu bei, daß die im Augenblick bestehende Distanz zwischen den Menschen und ihren Bedürfnissen und der Politik, auf die sie ihre Hoffnungen gesetzt haben, nicht noch größer wird. Sie werden sich wundern: So kann die deutsche Einheit mit Sicherheit nicht vollzogen werden.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf: Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit dem Stand der Bundeswehrplanung und der Weiterentwicklung der Bundeswehr in den 90er Jahren befaßt habe.Ich erinnere an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an diese Thematik Fragen auch zu anderen Bereichen gestellt werden können.Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Verteidigung, Herr Dr. Gerhard Stoltenberg.
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6454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundeskabinett hat in seiner heutigen Sitzung nach eingehenden Beratungen die Eckwerte der neuen Bundeswehrplanung sowie die erheblich verbesserte neue Personalstruktur gebilligt. Wir gehen, wie Sie wissen, von einem Friedensumfang der Bundeswehr ab 1995 von 370 000 Soldaten aus. Grundlage dieser Planung ist die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht mit einer Dauer von zwölf Monaten, wie das die heutige Entscheidung der Bundesregierung bekräftigt. Gleichzeitig mit dieser erheblichen Verringerung der Zahl unserer Soldaten durchlaufen die Streitkräfte eine tiefgreifende konzeptionelle und organisatorische Reform ihrer Struktur und Stationierung. Die Bundeswehr wandelt sich damit weitgehend von einer Präsenzarmee zu einer Ausbildungs- und Mobilmachungsarmee. Es wird künftig eine wesentliche Leistung der Truppe und Basisorganisation sein, die Grundwehrdienstleistenden in ihrer zwölfmonatigen Dienstzeit so auszubilden, daß sie als voll einsatzbereite Reservisten im Falle einer Mobilmachung zur Verfügung stehen.
Da wir in Zukunft in viel stärkerem Umfang gekaderte Verbände haben werden, bleiben Reservisten ein wichtiger Bestandteil der Bundeswehr.
Im Lichte der verbesserten Sicherheitslage in Europa haben wir bereits die Planungen von vor 15 Monaten für den Verteidigungsumfang der Bundeswehr von 1 340 000 auf rund 900 000 Soldaten zurückgeführt. Wir prüfen jetzt, inwieweit eine weitere begrenzte Reduzierung sinnvoll ist. Wir werden künftig weniger Reservisten als bisher einberufen und uns dabei vorwiegend auf die Jahrgänge konzentrieren, die unmittelbar dem Wehrdienst folgen. Im Frühjahr wollen wir die Einzelheiten dieses neuen Konzepts so weit formulieren, daß wir sie auch dem Deutschen Bundestag vorstellen können.
Ich begrüße, daß wir innerhalb der Regierung und Koalition jetzt Einvernehmen über das von uns erarbeitete neue Personalstrukturmodell erreichen konnten. Damit sind entscheidende Voraussetzungen für eine grundlegend günstigere Personalstruktur bei den Berufs- und Zeitsoldaten geschaffen, die die Beförderungsmöglichkeiten für Offiziere und Unteroffiziere erheblich verbessern.
Seit 1988 haben wir begonnen, Übungen vermehrt auf Truppenübungsplätze zu verlegen und Übungen im freien Gelände mit wesentlich weniger Soldaten und schwerem Gerät durchzuführen. Für die Zukunft sieht das Konzept der Streitkräfte vor, alle 20 Truppenübungsplätze im Westen und von 60 Plätzen der ehemaligen NVA und der WGT in den neuen Bundesländern nur noch 15 und diese zugleich mit erheblich verringerter Intensität, d. h. auch umweltschonend, zu nutzen.
Mit dem zu Beginn dieses Jahres verabschiedeten Bundeswehrplan 1993 ist eine sorgfältig vorbereitete und weitreichende Richtlinie vorgegeben, die die Beschaffungsplanung bis zum Jahre 2004 neu definiert. Sie ermöglicht, wie hier schon erläutert, eine Verringerung des Planungsvolumens um 43,7 Milliarden DM. Schwerpunkte der neuen Planung sind die Verbesserung der Führungs- und Aufklärungsfähigkeit und höhere Mobilität unserer Verbände.
Dies alles wurde parallel zur neuen Strategie und den militärischen Planungen des Bündnisses entwikkelt. Es berücksichtigt zugleich die durch die Beschlüsse von Maastricht und die neue Rolle der Westeuropäischen Union vorgezeichnete Entwicklung. Unsere Streitkräfte sind also im wesentlichen Hauptverteidigungskräfte.
Ich möchte unterstreichen, daß die nach den Beschlüssen im Bündnis vorgesehene deutsche Mitleistung zu schnellen Eingreifverbänden der Allianz zur Krisenreaktion im Hinblick auf das Vertragsgebiet geplant ist. Erst nach einer Ergänzung des Grundgesetzes können solche Kräfte dann auch für weitergehende militärische Missionen im Rahmen der Vereinten Nationen vorgesehen werden.
Die Bundeswehr nimmt in verstärktem Umfang Aufgaben humanitärer Hilfe wahr. Dem Kabinett ist heute erneut auch durch den für die Koordinierung in Moskau zuständigen General Steinseiffer über den Stand der EG-Hilfe, der logistischen Mitleistung von Offizieren der Bundeswehr und anderen Experten auch aus den verbündeten Ländern berichtet worden. Dies hat große Zustimmung gefunden.
Die Verwirklichung der grundlegenden Bundeswehrreformen wird die Soldaten und zivilen Mitarbeiter vor weitere erhebliche Herausforderungen stellen. Für den Erfolg dieser tiefgreifenden Reform ist es wesentlich, daß sie von allen politisch und gesellschaftlich verantwortlichen Kräften solidarisch mitgetragen wird.
Schönen Dank, Herr Präsident.
Vielen Dank, Herr Minister. Mir liegt eine Wortmeldung des Kollegen Kolbow vor. Bitte.
Herr Präsident! Herr Bundesminister, Sie haben im Zusammenhang mit dem Bericht über die Kabinettsitzung lediglich an einer Stelle vom Geld gesprochen. Sie haben die Bundeswehrplanung als sorgfältig vorbereitet bezeichnet und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Sie in der Planung Einsparungen in Höhe von 43 Milliarden DM vorgesehen haben. Darf ich Ihre sparsame Berichterstattung über die Finanzen so verstehen, daß das Kabinett Ihre Vorstellungen zum Verteidigungshaushalt ab 1993 bis zum Jahre 2004 — etwa 50 Milliarden DM pro Jahr — nicht geteilt hat?
Herr Kollege Kolbow, das wäre ein Mißverständnis. Das Kabinett hat meinen Beschlußvorschlag ohne Einschränkungen und Änderung eines Wortes zugestimmt. Dieser Beschlußvorschlag heißt — ich darf ihn zitieren —:Das Kabinett nimmt die Unterrichtung des Bundesministers der Verteidigung über den Stand der Bundeswehrplanung, über die Weiterentwicklung der Bundeswehr in den 90er Jahren zur Kenntnis. Es billigt im Grundsatz die Zielsetzun-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992 6455
Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberggen und die Eckwerte der Planung einschließlich der Personalstruktur.Das heißt, wie auch im Deutschen Bundestag schon dargelegt: Der Bundeswehrplan ist traditionell seit 20 Jahren ein Ressortplan. Es ist völlig klar, daß die Einpassung in den von Jahr zu Jahr neu und dynamisch festzulegenden Haushaltsrahmen jeweils bei den Haushaltsverhandlungen erfolgt. Die parlamentarische Beteiligung geschieht, wie Sie wissen, ja schon dadurch, daß wir für jedes neue Projekt, das über 50 Millionen DM kostet, den für die Bewilligung zuständigen Ausschüssen eine Vorlage machen.
Als nächster hat sich der Kollege Gernot Erler zu Wort gemeldet. Bitte sehr.
Herr Bundesminister, haben Sie dem Kabinett auch die Studie mit dem bombastischen Titel „Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr" vorgelegt, die Sie uns am 21. Januar bekanntgemacht haben und in der eine Reihe von Analysen enthalten sind, die von uns nur als Aufkündigung eines verteidigungspolitischen Konsenses zu werten sind,und wie war die Reaktion des Bundeskabinetts, auch der Minister von der F.D.P., auf diese Studie, wenn Sie sie Ihnen vorgelegt haben?
— Das darf ich doch.
Ich nehme, Herr Kollege Erler, nicht zu Ihren Wertungen Stellung — ich teile sie nicht —, sondern zur Sache.
Als eine von mehreren Anlagen ist diese Studie heute auch dem Kabinett vorgelegt worden. Ohne die Vertraulichkeit der Beratungen zu verletzen, kann ich sagen, daß sie eine sehr konstruktive Diskussion ausgelöst hat, in der es einige Anfragen zu der Studie, aber von einer Reihe von Teilnehmern an der Sitzung auch ganz eindeutige Unterstützung gab.
Zur Sache will ich hier folgendes sagen. Ich habe das schon im Verteidigungsausschuß ausgeführt. Ich weiß im Augenblick nicht, ob Sie an dieser Beratung teilgenommen haben. Man muß auch Mißverständnisse vermeiden. Zumindest in einem Artikel einer bekannten Berliner Tageszeitung habe ich ein gewolltes Mißverständnis festgestellt.
Die Seiten 2 und 3 dieser Studie beschreiben deutsche Sicherheitsinteressen. Es ist Kritik z. B. daran geübt worden, daß wir als ein deutsches Sicherheitsinteresse beschrieben haben: Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen. Damit wird die Spekulation verbunden, wir wollten uns eine weltweite Rolle mit der Bundeswehr anmaßen. Davon kann überhaupt keine Rede sein.
Ich habe übrigens mittlerweile gehört, daß in ähnlicher Weise bereits zur Zeit der Regierung Helmut Schmidt in einem Weißbuch das mit genau derselben Formulierung als deutsches Sicherheitsinteresse beschrieben ist. Vielleicht prüfen Sie das im Lichte Ihrer weiteren Kritik noch einmal.
Dies ist ein deutsches Sicherheitsinteresse. Aber wir sagen einige Seiten weiter ab Seite 5 unter „Auftrag und Fähigkeiten deutscher Streitkräfte" — das ist etwas ganz anderes —: Nicht alles, was ein legitimes deutsches Sicherheitsinteresse ist, kann von der Bundeswehr abgedeckt werden.
Wenn Sie — was Sie sicher tun werden — unvoreingenommen noch einmal lesen, was wir als Auftrag und Fähigkeiten deutscher Streitkräfte ab Seite 5 bis Seite 7 beschreiben, werden Sie feststellen, daß wir nicht den Anspruch erheben, weltweit alle Probleme zu lösen, die Bedeutung für unsere Sicherheit haben. Das ist die einfachste Erklärung.
Natürlich wird über die hier aufgeworfenen Fragen weiter zu reden sein. Das ist selbstverständlich. Dazu sind wir gern bereit.
Meine Damen und Herren, ich bitte, bei den Fragen darauf zu achten: Wertungen dürfen in diesen Fragen nicht enthalten sein. Der Herr Minister hat völlig zu Recht gesagt, daß er dazu nicht Stellung nimmt. Wir wollen Wertungen bei den Fragen gar nicht vornehmen.
Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Brigitte Schulte.
Herr Bundesminister, haben Sie das Kabinett darüber unterrichtet, welche möglichen Folgen es für die Strukturveränderung der Bundeswehr haben wird, wenn die Amerikaner ihre Streitkräfte erheblich mehr reduzieren, als Sie in Ihren Plänen für die Bundeswehr vorgesehen haben? International wird die Zahl von 50 000 Soldaten in Europa deutlich genannt. Meine Frage ist: Haben Sie das Kabinett auch darüber unterrichtet, welche Auswirkungen das für die Struktur der Bundeswehr haben wird?
Frau Kollegin, wie sind uns sicher darin einig, daß wir durch die Stationierungsentscheidung, die wir im vorigen Sommer getroffen haben, eine gewisse Phase der Ungewißheit beenden mußten. Damals war ja die Meinung, wir hätten das noch einige Monate früher machen sollen. Wir können nun in der Tat nicht weiter warten, weil wir jetzt die Weichen für die Struktur unserer Streitkräfte stellen und auch die Soldaten, die davon durch Versetzungen, durch Auflösung von Standorten betroffen sind, möglichst bald Klarheit über ihre persönliche neue Verwendung haben müssen.Die Diskussion in den USA über die künftige Präsenz und Stärke ihrer Streitkräfte in Europa und auch in Deutschland ist in der Tat noch nicht abgeschlossen. Die Administration — ich habe darüber ja erst vor wenigen Wochen wieder ausführlich mit dem Kollegen de Cheney geredet — hält an ihrer Größenordnung fest: 1,6 Millionen Umfang der Streitkräfte und davon etwa 130 000 langfristig in Europa.
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6456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Februar 1992
Bundesminister Dr. Gerhard StoltenbergIm Parlament gibt es Bestrebungen, darunter zu gehen. Die Münchener Tagung am vorletzten Wochenende hat mir Gelegenheit gegeben, darüber mit vielen Senatoren und Abgeordneten zu reden. Die amerikanischen Parlamentarier sagen, daß sie eine Größenordnung von etwa 100 000 erwarten; vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger.Es kann noch ein, zwei Jahre dauern, ehe wir das wissen. Deshalb glaube ich nicht, daß wir im Hinblick auf dieses Element der Ungewißheit die Stationierungsentscheidung und ihren Vollzug anhalten können.
Jetzt hat das Wort zu einer Frage der Kollege Dieter Heistermann.
Herr Minister, darf ich Sie fragen, ob die Aussage der CDU/CSU-Fraktion, den weltweiten Einsatz der Bundeswehr unterhalb der Schwelle einer Grundgesetzänderung, nämlich durch ein Bundeswehraufgabengesetz zu ermöglichen, mit der Bundesregierung koordiniert oder abgesprochen ist, und ist damit eigentlich die Zusage des Bundeskanzlers, eine Klarstellung des Grundgesetzes anzustreben, gegenstandslos geworden?
Ich kenne die Diskussion in meiner Fraktion, weil ich sie selbst mit vielen Kollegen intensiv führe. Es gibt ja in der Tat auch in dem Kreis bedeutender Verfassungsrechtler die Auffassung — auf die Sie verweisen —, daß schon das Grundgesetz in seiner jetzigen Gestaltung die Möglichkeit eröffnet, sich etwa in Missionen der Vereinten Nationen zu beteiligen.
Aber natürlich halte ich mich als Bundesminister an die Beschlußlage der Bundesregierung. Und die ist seit einiger Zeit so — das habe ich in meiner ersten Äußerung ja auch klargemacht —, daß wir eine Ergänzung des Grundgesetzes für erforderlich ansehen als Voraussetzung dafür, daß wir uns im Sinne der UNO-Charta an militärischen Missionen beteiligen.
Zu einer weiteren Frage hat das Wort der Kollege Fritz Rudolf Körper.
Herr Minister, Sie haben vorhin in Ihrer Antwort auf die Vorstellungen der
amerikanischen Streitkräfte abgehoben und sich auf Gespräche bezogen. Mich würde interessieren, inwieweit diese Überlegungen bei den Kabinettsberatungen eine Rolle gespielt haben, insbesondere was die zivilen Beschäftigten bei den alliierten Streitkräften anbelangt. Welche Auswirkungen haben die angekündigten Reduzierungsmaßnahmen auf die Beschäftigtenzahlen — an welchen Standorten, in welchen Bereichen, in welchen Bundesländern —, und welche Absichten hat die Bundesregierung, beispielsweise auf eventuell anstehende Entlassungen zu reagieren?
Die Beratungen von fast vier Stunden haben sich auf die vielfältigen Probleme der Bundeswehr konzentriert. Die Zeit reichte nicht aus, um nun noch im einzelnen über die Reduzierung der alliierten Streitkräfte und die sozialen Folgeprobleme zu reden. Aber wir sind darüber unter den beteiligten Bundesressorts schon in einem Meinungsaustausch; federführend ist hier, wie Sie wissen, das Bundesfinanzministerium. Aber wir haben als Verteidigungsministerium auch ein legitimes Interesse an diesen Themen. Das gleiche gilt für das Außenministerium.
In den Gesprächen mit den amerikanischen Streitkräften wird versucht, Regelungen zu erreichen, die einen sozial verträglicheren Rückgang der Beschäftigtenzahlen fördern. Nur müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die letzte Verantwortung hierfür bei den amerikanischen Streitkräften und nicht bei der Bundesregierung liegt.
Meine Damen und Herren, ich sehe zu diesem Thema keine weiteren Wortmeldungen.
Gibt es zu einem anderen Bereich der Bundesregierung noch Fragen? — Ich sehe keine Wortmeldung.
Dann beende ich die Befragung der Bundesregierung. Ich bedanke mich sehr bei allen, die sich beteiligt haben.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 20. Februar 1992, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.