Gesamtes Protokol
Guten Morgen miteinander. Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, zunächst einige Vereinbarungen und Entscheidungen:
Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ist Bundesminister Friedrich Bohl als stellvertretendes Mitglied ausgeschieden. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Kollegen Bernhard Jagoda vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist der Kollege Bernhard Jagoda als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur Strukturkrise im Raum Friesland/Wilhelmshaven unter Beachtung der Schließung des AEG-Olympia-Werkes
2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Horst Eylmann, Herbert Helmrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Detlev Kleinert , Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, Dr. Hermann Otto Solms und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Fachanwaltsbezeichnungen nach der Bundesrechtsanwaltsordnung — Drucksache 12/1710 —
3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes — Drucksache 12/1709 —
4. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes — Drucksache 12/1651 —
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes : Gesetzliche Regelungen für die Opfer von Verwaltungsunrecht, Berufsverboten und anderen Formen von staatlichem Unrecht, die nicht vom 1. Unrechtsbereinigungsgesetz (1. UBG) berücksichtigt werden — Drucksache 12/1713 —
6. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann Paintner, Jürgen Türk und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flächenstillegungsgesetzes 1991 — Drucksachen 12/1470, 12/1721 —
7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann Paintner und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Entwurf eines Gesetzes über die Förderung einer einjährigen Flächenstillegung im Wirtschaftsjahr 1991/92 (Flächenstillegungsgesetz 1991) — Drucksachen 12/721 (neu), 12/821, 12/822, 12/823, 12/1682 —
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 38 zu Petitionen — Drucksache 12/1677 —
9. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 39 zu Petitionen — Drucksache 12/1678 —
10. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 40 zu Petitionen — Drucksache 12/1679 —
11. Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Ablauf der Regierungskonferenz zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik — Drucksache 12/1615 —
12. Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zum Vorschlag der niederländischen Ratspräsidentschaft an die Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion — Drucksache 12/1616 —
13. Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung zur Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments im Bereich der Haushaltskontrolle im Rahmen der Strategie des Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union — Drucksache 12/1614 —
14. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Zweite Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — Drucksache 12/1696 —
15. Aktuelle Stunde zum Rücktritt des Staatsministers im Bundeskanzleramt, Dr. Lutz G. Stavenhagen
16. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Verhältnisses von Kriegsfolgengesetzen zum Einigungsvertrag — Drucksachen 12/1504,12/1725 —
5368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden.
Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 8 — Gesetzentwurf über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren — ohne Debatte zu behandeln sowie Tagesordnungspunkt 11 — Sanierung der Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern — vor Tagesordnungspunkt 10 zu beraten. Sind Sie auch damit einverstanden? — Dann ist das ebenfalls beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Januar 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Seeschiffahrt
— Drucksache 12/1586 —
Überweisungsvorschlag : Ausschuß für Verkehr
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und anderer Gesetze
— Drucksache 12/1460 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 der Geschäftsordnung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Mutterschutzgesetzes
— Drucksache 12/1609 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Lage in Jugoslawien
— Drucksache 12/1247 —Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß
e) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Friedensplan für die Westsahara
— Drucksache 12/1248 —
Überweisungsvorschlag :
Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gernot Erler, Dr. Dietmar Matterne, Gerhard Neumann , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verminderung der Truppenübungsplätze in der Bundesrepublik Deutschland und künftiges Truppenübungsplatz-Konzept für Streitkräfte
— Drucksache 12/1487 —
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Fremdenverkehr
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Fritz Rudolf Körper, Albrecht Müller , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einstellung aller Tiefflüge und Luftkampfübungen über bewohnten Gebieten
— Drucksache 12/1534 —
Überweisungsvorschlag :
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Horst Eylmann, Herbert Helmrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Detlev Kleinert , Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, Dr. Hermann Otto Solms und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Fachanwaltsbezeichnungen nach der Bundesrechtsanwaltsordnung
— Drucksache 12/1710 —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
— Drucksache 12/1709 —
Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuß
ZP 4 Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes
— Drucksache 12/1651 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Rechtsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverständnis? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatzpunkt 5 auf :
4. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5369
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht
— Drucksache 12/1608 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD
Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechts
— Drucksachen 12/168, 12/1055 —
c) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes — Gesetzliche Regelungen für die Opfer strafrechtlicher Verfolgung und Internierung
— Drucksache 12/1439 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gesetzliche Regelungen für die Opfer von Verwaltungsunrecht, Berufsverboten und anderen Formen von staatlichem Unrecht, die nicht vom 1. Unrechtsbereinigungsgesetz berücksichtigt werden
— Drucksache 12/1713 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Einvernehmlich ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsregimes ist eine der wichtigsten Aufgaben dieser Legislaturperiode. Ich persönlich habe den Opfern versprochen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um ihnen zu helfen.
Der Ausgleich des 40 Jahre andauernden SED-Unrechts, das alle Lebensbereiche von 17 Millionen Menschen durchzog, ist eine gewaltige Herausforderung für den Rechtsstaat. Das SED-Regime hat Menschen systematisch zerbrochen und Lebensschicksale zerstört. Aus politischen Gründen wurden mißliebige Bürger strafgerichtlich verfolgt, in psychiatrische Anstalten gesteckt, zwangsausgesiedelt, an Ausbildung und Fortkommen gehindert. Die Waldheim-Prozesse gehören zu den düstersten Kapiteln der deutschen Geschichte.
Der vorliegende Entwurf soll zweierlei bewirken: Die Aufhebung von Unrechtsurteilen soll wesentlich beschleunigt werden; die Betroffenen sollen schneller und besser entschädigt werden.
Wir müssen vor allem schnell handeln. Viele der Opfer sind alt. Viele sind bereits verstorben. Und mit jedem Tag droht die Gefahr, daß für den einzelnen das Recht zu spät kommen könnte. Deshalb müssen Prioritäten dort gesetzt werden, wo das Unrecht am schwersten war und ist und wo Hilfe konkret, vor allem aus Altersgründen, nottut.
Ich bedanke mich für die vertrauensvolle, schwierige Zusammenarbeit bei der Vorbereitung des Entwurfs, besonders bei den fünf neuen Ländern und Berlin. Ich danke vor allem auch allen Betroffenen, die bei vielen, vielen Einzelgesprächen und in einer großen Anhörung am 24. Juni dieses Jahres mitgewirkt haben. Denn gerade für die Rehabilitierung kommt es entscheidend darauf an, direkt mit den Opfern, unmittelbar mit den Betroffenen zu sprechen und ihre Erfahrungen und Erlebnisse anzuhören.
In die Vorbereitung des Entwurfs waren die Verbände der Opfer, die Landesjustizverwaltungen und die Richter der Rehabilitierungs- und Kassationssenate einbezogen. Wir haben aus Tausenden von Schreiben Betroffener viel für unsere Arbeit gelernt und auch übernommen.
Ich will deutlich sagen, daß die Gespräche mit den Betroffenen nicht ohne innere Beklemmung geführt werden konnten. Für nicht Betroffene ist es schwer, das Unrecht, Unglück und Leid anderer zu ermessen und mitzuempfinden. Ich habe großen Respekt vor dem, was die gedemütigten Menschen durchgemacht und erlitten haben.
Mit ihrem Schicksal haben diese Menschen auch dazu beigetragen, daß es nach 40 Jahren Diktatur zu der schon fast nicht mehr erwarteten Wiedervereinigung gekommen ist. Neben dem Opfer an Lebensjahren und oft auch Opfer der Gesundheit eines jeden einzelnen war es vor allem auch die Arbeit der Verbände der Betroffenen, die den Willen und den Wunsch zur Wiedervereinigung in Freiheit wachgehalten haben. Ihr Verdienst war es auch, das Bewußtsein an dieses Unrecht erhalten zu haben. Auch dazu sind wir ihnen, wie ich glaube, zu Dank verpflichtet.
Aber auch gerade deshalb fällt mir das Folgende zu sagen besonders schwer. Unsere Kapazitäten sind leider begrenzt. Wir sind zwar ein wohlhabendes Land, aber selbst wenn wir alle unsere Kräfte zusammennehmen, können wir bei allerbestem Willen nicht alle Verletzungen ausgleichen. Zuviel an Unrecht ist geschehen. Eine allumfassende Alimentierung kann es leider nicht geben.
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Offen ist einzugestehen: Wirkliche Wiedergutmachung kann den Opfern nicht mehr zugute kommen. Es liegt in der Natur der Sache, daß nur eine begrenzte Hilfe möglich ist. Natürlich werden vor allem auch die Betroffenen immer Kritik üben angesichts der Begrenztheit unserer Möglichkeiten. Ich wäre wahrhaftig gern auf alle Forderungen, die in diesem Zusammenhang gestellt worden sind, eingegangen; es ging eben nicht. Ich kann mich deshalb und will mich hier jetzt auch nicht mit allen Einzelforderungen, die in der Diskussion gestellt worden sind, auseinandersetzen. Ich hoffe trotzdem und glaube, daß der vorliegende Entwurf so gut wie möglich den wirklich berechtigten Interessen und Forderungen gerecht wird.
Was sieht der Gesetzentwurf vor? Er geht zunächst von der Prüfung eines jeden Einzelfalles aus, und das ist, wie ich meine, auch richtig so. Die Einwände gegen die Einzelfall- und den Wunsch nach Pauschalrehabilitierung teile ich nicht. Die pauschale Aufhebung ist nicht einfacher und bringt auch nicht schnellere Hilfe für die Opfer und weniger Arbeit für die Justiz. Mit pauschaler Rehabilitierung hat kein Opfer eine persönliche Bescheinigung über politische Verfolgung und auch keine Entschädigungsleistung in der Hand. Das deckt sich auch mit den Wünschen der Betroffenen, die ich aus vielen Briefen und persönlichen Gesprächen kenne. Die Menschen, die sich vor zwei Jahren friedlich den Rechtsstaat erkämpft haben, möchten jetzt von einem rechtsstaatlichen Gericht in jedem Einzelfall bescheinigt haben, daß sie früher zu Unrecht verurteilt wurden, daß ihnen Unrecht geschehen ist. Ich meine, darauf haben sie auch einen Anspruch.
Das Gegenbeispiel der Tschechoslowakei, das in diesem Zusammenhang immer angeführt wird, wo zum Teil Pauschalaufhebungen vorgesehen sind, ist nicht passend und für unsere Fälle auch nicht zutreffend, weil sich auch dort in jedem Einzelfall ein justizförmiges Verfahren anschließt, in dem geprüft wird, ob das Opfer an der Rehabilitierung teilhaben kann.
Die Rehabilitierung erfolgt durch eine Generalklausel und durch einen Regelaufhebungskatalog. Die Generalklausel erfaßt alle Unrechtsurteile, die mit den wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind. Die weite Formulierung ist notwendig, weil die Strafnormen der früheren DDR in fast allen Bereichen zur politischen Verfolgung mißbraucht werden konnten.
Mit dem Regelaufhebungskatalog werden die Straftatbestände erfaßt, die nach den vorliegenden Erkenntnissen zur politischen Verfolgung gedient haben. Wenn ein Betroffener nach diesem Katalog verurteilt worden ist, kann das Gericht ohne eingehende Prüfung die Aufhebung des Urteils verfügen. Damit wird bei vielen rechtsstaatswidrigen Verurteilungen eine deutliche Beschleunigung der Verfahren erreicht und den Betroffenen auf diese Art und Weise schneller geholfen.
Der Einigungsvertrag verpflichtet zur Gewährung einer angemessenen Entschädigung. Natürlich bin ich mir bewußt, wie unterschiedlich die Vorstellungen darüber sind, was nun angemessen ist. Unterschiede liegen z. B. darin, ob jemand als Betroffener sein eigenes Schicksal einklagt oder ob jemand als Steuerzahler sorgenvoll die nicht enden wollenden Kosten der deutschen Einigung im Auge hat. Ich meine, daß gerade bei der Rehabilitierung dieser letzte Gesichtspunkt am allerwenigsten durchgreifen dürfte.
Eine Entschädigung von 300 DM je Haftmonat ist meines Erachtens angemessen. Ich möchte betonen, daß dies die überwiegende Meinung der alten und der neuen Länder ist.
Dieser Betrag orientiert sich an den bis Mitte der 60er Jahre gezahlten 150 DM je Haftmonat, die für die NS-Opfer geleistet wurden. Hinzu kommt eine Zahlung für die inzwischen eingetretene wirtschaftliche Entwicklung und den Geldwertverlust.
Meiner Meinung nach ist der von unterschiedlichen Seiten angeführte Vergleich mit der Entschädigung von 20 DM je Hafttag nach dem Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen bei uns, in der früheren Bundesrepublik, schon im Ansatz falsch.
Bei der Rehabilitierung geht es um systembedingtes, systematisches, massenhaftes Unrecht und nicht um wenige Einzelfälle. Deshalb kann es leider auch nicht um eine volle, sondern nur — wie im Einigungsvertrag festgelegt — um eine angemessene Entschädigung gehen.
Die besondere Situation der Betroffenen in den neuen Ländern — und es war eine besondere Situation — führt zu einer monatlichen Erhöhung der Haftentschädigung um 150 DM auf insgesamt 450 DM je Haftmonat. Zusätzlich zu der Kapitalentschädigung erhalten diejenigen, die sich in einer wirtschaftlich besonders beeinträchtigten Lage befinden, weitere 150 DM Unterstützung je Haftmonat von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge. Dies gilt auch für Hinterbliebene. Zusammen wären das 600 DM, die denkbar sind; die Spanne liegt also zwischen 300 bis 600 DM.
Wer während der Haft eine Gesundheitsschädigung erlitten hat, erhält entsprechend der Minderung der Erwerbsfähigkeit Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz; außerdem werden die Haftzeiten bei der Berechnung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als Ersatzzeiten rentensteigernd berücksichtigt.
Die auf diese Art und Weise deutlich verbesserten Entschädigungsleistungen im Vergleich mit den Leistungen des bisherigen Häftlingshilfegesetzes werden in vollem Umfang auch auf die Opfer der sowjetischen Militärtribunale und der Internierten erstreckt.
Eine Aufhebung von sowjetischen Hoheitsakten durch deutsche Stellen ist aus völkerrechtlichen Gründen leider nicht möglich. Doch auch diese Opfer haben einen Anspruch auf moralische Genugtuung. Deshalb setzt sich die Bundesregierung seit langem dafür ein, daß eine Rehabilitierung durch sowjetische Stellen erfolgt. In der Praxis ist das auch schon in mehreren Fällen geschehen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5371
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Bei meinem Besuch am 21. Oktober 1991 in Moskau bei dem damals amtierenden sowjetischen Justizminister und bei dem russischen Justizminister habe ich die Problematik der Aufhebung dieser Militärtribunalurteile nochmals angesprochen. Mir ist nachdrücklich und ausdrücklich versichert worden, daß die Sowjetunion bereit ist, in breitem Umfang zu rehabilitieren.
Der deutsche Botschafter Blech hat in der Zwischenzeit allein 500 Rehabilitierungsfälle, die in seiner Botschaft vorgelegen haben, an die Sowjets übergeben. Ich gehe davon aus, daß dies, soweit es irgendwie geht, dort möglichst rasch abgearbeitet wird.
— Wir haben aber noch nicht alle Anträge vorliegen; ich gehe jedoch davon aus, daß auch nach der heutigen Bundestagsdebatte — nachdem ich das jetzt so dezidiert angesprochen habe — viele wissen und merken, daß sie solche Anträge stellen können. Das ist ja auch Sinn und Zweck dessen, was ich hier zu diesem Punkt gesagt habe.
Die vorgesehene Kostenteilung zwischen Bund und Ländern, die angegriffen worden ist, ist, wie ich meine, fair, und es sollte bei ihr bleiben; denn die SED-Hinterlassenschaft haben wir alle geerbt, Bund und Länder. Der Entwurf entspricht insofern der Lösung des Bundesentschädigungsgesetzes. Auch darin ist bei vergleichbaren Sachverhalten die Aufteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern vorgesehen.
Noch nicht erfüllt werden konnte leider der Prüfungsauftrag des Gesetzgebers bei den Bereichen berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung. Hier müssen wir noch weitere tatsächliche Aufklärungsarbeit im breitesten Umfang betreiben; denn eine rechtsstaatliche Gesetzgebung verlangt auch, daß zunächst Klarheit über den Gegenstand der ins Auge gefaßten Regelung erreicht wird. Zur Zeit laufen im Bundesjustizministerium die Überlegungen für eine künftige Regelung auf Hochtouren. Ich sage ausdrücklich zu, daß ich bemüht bin, auch insoweit bald zu abschließenden Vorstellungen zu kommen, obwohl dieses Kapitel ganz besonders schwierig ist.
Traurig ist auch, daß wir weitere besondere Sachaufklärung im Bereich der Zwangsausgesiedelten benötigen. Ich hatte mir ursprünglich vorgestellt, diesen Bereich mit in den vorliegenden Gesetzentwurf aufnehmen zu können. Leider war das nicht möglich.
Betroffen sind die Menschen, die Anfang der 50er und 60er Jahre von der ehemaligen innerdeutschen Grenze in das Innere der DDR zwangsumgesiedelt worden sind. Tausende von Menschen wurden bei Nacht und Nebel, zum Teil unter entwürdigenden Umständen, aus Haus und Hof verschleppt oder verhaftet. Sie wurden nicht nur willkürlich ihrer Heimat und ihres Besitzes beraubt, sondern sie wurden oft auch noch als unzuverlässige Elemente, ja, als Asoziale, Schieber oder Schmuggler diskriminiert. Ich verstehe die Schmach und den Zorn, die viele der Betroffenen empfinden.
Ich habe mit Vertretern des Bundes der Zwangsausgesiedelten ausführlich gesprochen und dabei versucht, mir aus erster Hand ein Bild von den damaligen Vorgängen zu machen. Dabei mußte ich allerdings feststellen, daß insbesondere zu der von der DDR früher geleisteten Entschädigung noch erheblicher Aufklärungsbedarf besteht.
Obwohl ich mehrere Kommissionen aus dem Bundesjustizministerium in die neuen Länder geschickt habe, war es bis heute nicht möglich, eindeutig aufzuklären, wie die Abläufe waren. Eine solche Aufklärung ist mir auch bei meinen eigenen Gesprächen mit Frau Rothe und dem Verband der Zwangsausgesiedelten leider nicht gelungen. Wir werden mit Nachdruck alles versuchen, um auch hier zu baldigen Lösungen zu kommen.
Ich muß allerdings deutlich sagen, daß eben dann auch an diejenigen gedacht werden müßte, die in einer mit den Zwangsausgesiedelten vergleichbaren Weise von Unrechtsmaßnahmen betroffen waren und sind. Ich denke dabei z. B. an Menschen, die bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft oder durch Zwangsarbeit benachteiligt wurden.
Im Bereich der verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung liegt also noch viel Arbeit vor uns. Ich möchte gerade den Zwangsausgesiedelten auch von dieser Stelle aus sagen: Ich bedaure außerordentlich, daß es nicht möglich war — ich sage das nochmals mit Nachdruck — , ihren Bereich schon jetzt in dieses Gesetz aufzunehmen.
Besonders schwierig wird es bei den beruflichen Unrechtsfällen. Hilfe benötigen die von schwersten Unrechtsmaßnahmen Betroffenen und die Opfer der politischen Verfolgung, bei denen sich die berufliche Benachteiligung praktisch heute noch erheblich auswirkt. Soziale Ausgleichsleistungen sind hier notwendig. Was es bedeutet, das alles aufarbeiten zu müssen, brauche ich hier wohl nicht besonders zu betonen.
Ganz wichtig ist jetzt vor allem aber auch, daß in den neuen Ländern die dort zu Zehntausenden liegenden Rehabilitierungsanträge und -verfahren möglichst schnell abgearbeitet werden. Dafür müssen natürlich die erforderlichen Richter vorhanden sein. Auch das ist nach wie vor ein schwieriges Kapitel.
Zirka 17 000 Entschädigungsanträge allein aus den neuen Ländern liegen schon jetzt vor. Selbst der Verband der Opfer des Stalinismus hat immer nur mit 10 000 Anträgen gerechnet. Ich sage das, weil mir ständig vorgehalten wird, ich arbeitete mit überhöhten Zahlen. Während also der Verband mit 10 000 Anträgen rechnet, liegen schon jetzt 17 000 Anträge allein aus der früheren DDR vor, und täglich gehen mehr als 100 weitere Anträge ein.
Meine Damen und Herren, das ist die eine Seite der Rehabilitierung, sozusagen die technische.
Ganz wichtig ist: Auf keinen Fall darf man vor allem die menschliche Seite dieses Problems vergessen. Man kann nicht oft genug wiederholen: Mit eine Ursache für die Gott sei Dank friedlich gebliebene Revolution in der ehemaligen DDR war eben das Herbeisehnen des Rechts. Die Menschen hatten 40 Jahre SED-Unrecht und weitere Unrechtsjahre des NS-Staates endgültig satt. Sie haben alle auf das Recht
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
gesetzt. Wenn wir jetzt, nach mehr als einem Jahr deutscher Einheit, aus dem Mund von Betroffenen die resignierende Feststellung hören „wir wollten Gerechtigkeit und haben den Rechtsstaat bekommen", dann muß das schon ein wenig erschrecken.
Ich kann das irgendwo verstehen. Wir im Westen haben uns in 40 Jahren an unseren Rechtsstaat mit allen seinen zwangsläufigen Grenzen gewöhnt. Wir haben gelernt, daß Gerichtsverfahren oft lange dauern, und wir haben gelernt, daß der Gesetzgebungsprozeß eben leider langwierig, mühsam und ein steiniger Weg ist. Wir wußten, daß unser Rechtsstaat nicht perfekt sein kann. Dennoch wollen, brauchen wir ihn alternativlos, eben so, wie er ist.
Für die Menschen in der DDR, abgeschlossen hinter der Mauer, war dieser Rechtsstaat ein Ideal. Es folgt deshalb für viele jetzt der sehr schwierige Prozeß, Realität und Grenzen zu erfahren.
Das ist allerdings gleichzeitig Aufforderung und Mahnung an uns, im Bemühen um die Akzeptanz unseres Rechtswesens nicht nachzulassen. Nur wenn wir immer wieder miteinander reden und um Verständnis werben, kann es gelingen, ein gemeinsames Rechtsbewußtsein zu entwickeln. Und das brauchen wir; sonst wird es keine wirkliche innere Wiedervereinigung geben.
Leid kann nicht rückgängig gemacht werden. Wir können aber zuhören, Verständnis haben und zeigen. Ich bitte erneut die betroffenen Opfer — das sind Zehntausende von Menschen — , ohne verdrängen zu wollen, Vertrauen zu haben und sich nicht in Bitterkeit zu verhärten.
Wir müssen — wir müssen! —, ob wir wollen oder nicht, gemeinsam den inneren Frieden finden und die Kraft zur Versöhnung aufbringen. Sonst werden die Kräfte für die Zukunft nicht frei, und wir schleppen die Lasten der Vergangenheit immer weiter mit uns mit.
Die Rehabilitierung der Opfer des 40jährigen SEDUnrechts-Regimes duldet keinen Aufschub. Wir dürfen nicht das Gefühl entstehen lassen, als wären diese Menschen zum zweitenmal Opfer geworden, als würde sich der Rechtsstaat jetzt nicht um sie kümmern.
Deshalb habe ich die dringende Bitte an das Parlament, gerade diesen Gesetzentwurf so schnell wie irgend möglich zu behandeln. Ich sage nochmals, was ich eingangs gesagt habe: Die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsregimes ist eine der wichtigsten Aufgaben dieser Legislaturperiode.
Vielen Dank.
Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Hans-Joachim Hacker.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat lange gedauert — nach unserer Meinung zu lange — , bis die Bundesregierung die Verpflichtung gemäß Art. 17 des Einigungsvertrags eingelöst hat und dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Wiedergutmachung für die Opfer des kommunistischen Unrechts zur Beschlußfassung vorgelegt hat.
Diese Kritik der SPD-Fraktion kennt der Bundesjustizminister. Er kennt auch unsere Initiativen, die wir insbesondere im Februar eingeleitet haben, um dieses Thema auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestags der 12. Legislaturperiode zu setzen, nämlich mit der ersten großen parlamentarischen Anfrage dieser Legislaturperiode.
Dieser Gesetzentwurf hätte wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die Menschen im geeinten Deutschland eher vorgelegt werden müssen. Es bleibt bei unserer Kritik, daß es die Bundesregierung und die sie tragende Koalition mit der Wiedergutmachung für die Opfer des kommunistischen Unrechts, insbesondere für die von diesem Regime strafrechtlich Verfolgten, zu jahrelanger Haft Verurteilten, Internierten, in psychiatrische Anstalten Gesperrten, nicht so eilig hatte wie mit der Regelung der Rückgabe von Vermögen.
Offensichtlich wurde verkannt, daß es hierbei um die Glaubwürdigkeit unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats geht und darum, wie ernst wir es alle mit den Bemühungen um Verwirklichung der Gerechtigkeit meinen.
Auf dem zweiten Bautzener Forum im April dieses Jahres wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß über Gerechtigkeit für die Opfer der kommunistischen Diktatur noch viel zuwenig gesprochen wird und die damit verbundenen Fragen im Bewußtsein der Öffentlichkeit noch nicht den Platz einnehmen, den sie verdienen. Es wurde auch auf die Bedeutung der Wiedergutmachung an den Opfern für die Aussöhnung in unserem Lande hingewiesen. Diese Mahnung gilt auch heute noch ohne jegliche Abstriche, ja, mit jedem Tag der weiteren Verzögerung einer gerechten Regelung dieser Frage gewinnt sie an Bedeutung.
Trotz der kritischen Bemerkungen zum späten Zeitpunkt der Einreichung des Gesetzentwurfs und einiger noch vorzutragender Hinweise auf Ergänzungen und Veränderungen aus unserer Sicht erkennen wir an, daß der Bundesjustizminister eine ganze Reihe von Forderungen der Betroffenen, die wir immer unterstützt haben, bei der Abfassung des Gesetzentwurfs berücksichtigt hat. Er kann sicher sein, daß er in der SPD-Fraktion bei der Beratung des Gesetzentwurfs in den Ausschüssen einen fairen Partner haben wird.
Auch wir sind dafür, daß es zu einer Beschleunigung kommt. Wir haben diese Bereitschaft in der Vergangenheit insbesondere beim Hemmnissebeseitigungsgesetz unter Beweis gestellt.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5373
Hans-Joachim Hacker
Die beiden Anhörungen im Sommer dieses Jahres waren richtig. Wir werden uns dafür einsetzen, daß die Interessen der Betroffenen auch bei der Behandlung der Problematik im Bundesrat Berücksichtigung finden werden.
Ausdrücklich möchte ich die Bestimmungen des Gesetzentwurfs begrüßen, die eine Vereinfachung und eine Beschleunigung des Verfahrens ermöglichen und die Betroffenen schneller zu ihrem Recht kommen lassen wollen, aber auch eine erhebliche Entlastung der Justiz bringen können.
Angesichts der Personalprobleme in den Gerichten der neuen Länder muß dieser Entlastungseffekt für die Justiz hoch angerechnet werden.
Das bezieht sich insbesondere auf die Bestimmungen des § 1 Abs. 2 des Gesetzentwurfs zur Aufhebung der Entscheidungen der sogenannten Waldheimer Prozesse. Bei den Urteilen in diesen Prozessen geht der Gesetzentwurf richtigerweise davon aus, daß diese wegen der besonders eklatanten Verstöße gegen grundlegende Verfahrensgarantien als nicht mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlich-demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung vereinbar anzusehen sind. Dieser Denkansatz für eine gesetzliche Regelung wird von uns unterstützt. Wir meinen, daß wir im Zuge der Beratung des Gesetzentwurfs darüber nachdenken müssen, ob wir zu einer solchen Generalisierung nicht auch bei anderen Straftatbeständen des ehemaligen DDR-Rechts, des politischen DDRRechts, kommen sollten.
Im Rechtsausschuß sollte im Zusammenhang mit den von der SPD als unverzichtbar angesehenen weiteren Anhörungen der Betroffenen nochmals geprüft werden, ob nicht weitere Vereinfachungen angezeigt wären. Dabei wird es darauf ankommen, in Erfahrung zu bringen, ob es tatsächlich einem Bedürfnis vieler Betroffener entspricht — wie in Nr. 15 der Begründung zu § 1 ausgeführt wurde — , die Rechtsstaatswidrigkeit ihrer Verurteilung individuell bestätigt zu bekommen. Sie hatten das, Herr Bundesjustizminister, so vorgestellt. Ich denke, das wird bei vielen Betroffenen ein Wunsch sein. Aber wir werden auch zu prüfen haben, ob es nicht doch Gruppen gibt, die sagen: Ich will nicht mehr vor ein Gericht. Ich will ein erneutes Verfahren nicht mehr. Ich möchte vom Gesetzgeber, vom Deutschen Bundestag pauschal rehabilitiert werden. Das ist ein Punkt, über den wir nachdenken müssen.
Des weiteren sollte geprüft werden, ob entsprechend dem Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE in der Bundestagsdrucksache 12/1439 bei einer Reihe spezifischer Straftatbestände, die der Kriminalisierung politisch Andersdenkender diente, eine generelle Aufhebung erfolgen sollte; ich hatte das angesprochen.
Herr Minister, Sie haben auf entsprechende Regelungen in der CSFR verwiesen. Ich denke, das Entscheidende wird hier sein, die Interessenlage der Betroffenen zu berücksichtigen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion begrüßt des weiteren ausdrücklich, daß in Übereinstimmung mit den von ihr seit jeher und wiederholt erhobenen Forderungen in den Gesetzentwurf Regelungen zur Entschädigung von Personen Eingang gefunden haben, die durch Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht ihrer Freiheit beraubt worden sind; dies begrüßen wir.
Es muß aber zur textlichen Abfassung des Gesetzentwurfs gesagt werden, daß man die Betroffenen bei den Formulierungen, die im Entwurf enthalten sind, auf die Einbeziehung dieser Gruppe in die sozialen Ausgleichsleistungen auf andere geeignete Weise hinweisen muß, wenn das Gesetz sprachlich nicht verändert wird. Eine klare Sprache, die von den Betroffenen ohne Rechtshilfe verstanden wird, ist nötig. Für den juristisch nicht Vorgebildeten ergibt sich aus dem Juristen- bzw. Bürokratendeutsch der Formulierung des § 25 Abs. 2 Nr. 2 nicht ohne weiteres der dargestellte und gewollte Anspruch.
An diesem Beispiel wird die Notwendigkeit, sich bei der Abfassung von Gesetzen einer für die Bürger verständlichen Ausdrucksweise zu befleißigen — ich meine, das gilt nicht nur für die neuen Länder, sondern auch für die alten Länder — , erneut deutlich.
Es ist der Wille des Verfassers des Gesetzentwurfs und auch Wille des Parlaments, am Ende deutlich ausgedrückt zu haben, daß für alliiertes Unrecht Rehabilitation bzw. Entschädigung gewährt werden sollen. Das ist ein Punkt, auf den ich noch zu sprechen komme.
Neben der Kritik an der textlichen Abfassung des Gesetzentwurfs an mehreren Stellen noch weitere Hinweise und Überlegungen zur künftigen Prüfung: Haben die von derartigen Maßnahmen Betroffenen nicht auch den Wunsch, daß die Rechtsstaatswidrigkeit der an ihnen vollzogenen Maßnahmen in einem wie auch immer gearteten Rechtsakt zum Ausdruck kommt? Ich meine: ja. Die Standbilder von Lenin, Stalin, Dscherschinski und anderen kommunistischen Machthabern werden wegen der von ihnen begangenen Verbrechen in ihrer eigenen Heimat bei großer Öffentlichkeit und unter Beifall der bisher Unterdrückten gestürzt; die Unrechtsakte ihrer Parteigängernachfolger, Befehlsempfänger und Ausführenden aber sollen nicht als solche benannt sein. Das darf nicht sein.
Wenn die Bundesregierung, aus welchen Gründen auch immer, die Aufhebung der Unrechtsakte auf diplomatischem Weg nicht einfordert — Sie, Herr Kinkel, haben heute gesagt, es werde betrieben; was ich begrüße — , frage ich: Was können, ja, was müssen wir tun, um die schlimmen Unrechtstaten durch einen eigenen Rechtsakt der Bundesrepublik Deutschland, also des Deutschen Bundestages, als solche zu bezeichnen, um damit den Betroffenen Genugtuung zu verschaffen?
Wir unterstützen alle diplomatischen Initiativen einer Rehabilitierung durch die Verursacherstaaten und meinen auch, daß damit für die Staaten ein Beitrag zur Aussöhnung in Europa geleistet wird. Es geht dabei nicht um die Frage, die Verantwortlichkeit Deutschlands für das im deutschen Namen begangene Un-
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recht in Frage stellen oder mildern zu wollen. Es geht darum, im geeinten europäischen Haus Frieden zu schaffen.
Weiter zu diesem Komplex: Es sollte geprüft werden, in den Kreis der Entschädigungs- und Versorgungsberechtigten auch die Menschen aufzunehmen, die Unrechtsmaßnahmen anderer Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befanden, erlitten haben. Das bezieht sich insbesondere auf die vielfältigen Internierungen in Arbeitslagern, aber auch auf andere Formen der Beeinträchtigung in verschiedenen Anrainerstaaten.
Um Fehldeutungen zu vermeiden und vorzubeugen: Es geht nicht um die zu Recht in Gewahrsam genommenen und verurteilten Nazi- und Kriegsverbrecher, sondern es geht uns um die Menschen, die nur deswegen Unrecht erlitten haben, weil sie Deutsche waren, ohne daß sie an den Verbrechen der Nazi-Führung schuldig waren.
Einen weiteren Mangel des Gesetzentwurfs sehe ich darin, daß er die Unterdrückung und Benachteiligung politisch Andersdenkender in Form des Verwaltungsunrechts und der beruflichen Benachteiligung entgegen den von uns unterstützten Forderungen der Betroffenen nicht in die Regelung einbezieht.
— Herr Geis, ich komme noch dazu.
Wir stimmen mit der Regierung darin überein, daß die in diesem Zusammenhang zu regelnden Fragen kompliziert und schwer lösbar sind. Das ist richtig. Aber die Bundesregierung hatte immerhin über ein Jahr Zeit für Untersuchungen, Anhörungen und die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen.
— Da haben Sie recht. Das hätten wir in diesen Gesetzentwurf nicht alles packen können.
Ich komme jetzt zu einem speziellen Problem, das insbesondere die Genugtuung für die und Wiedergutmachung an den Zwangsausgesiedelten betrifft. Auf diese Frage haben im Bundesrat ja einige Justizminister hingewiesen. Ich verweise auf die Ausführungen des thüringischen Justizministers Dr. Jentsch und des brandenburgischen Justizministers Dr. Bräutigam. Sie haben nachdrücklich darauf hingewiesen. Ich schließe mich diesen Ausführungen inhaltlich an.
Die Wiedergutmachung des den Zwangsausgesiedelten zugefügten Unrechts hatte die SPD-Bundestagsfraktion zuletzt in ihrer Kleinen Anfrage vom 9. Oktober 1991 in der Bundestagsdrucksache 12/1280 gefordert. Die Antwort der Bundesregierung, Herr Justizminister, vom 24. Oktober 1991 in der Drucksache 12/1377 ist für die Betroffenen und auch für uns als Fragesteller völlig unbefriedigend.
Die Bundesregierung erkennt offenbar nicht, daß die Enteignungsmaßnahmen im Zusammenhang mit den Zwangsaussiedlungen gegenüber anderen Enteignungsmaßnahmen in der Zeit nach 1945 Besonderheiten aufweisen, die einer gesonderten rechtlichen Bewertung unterzogen werden müssen.
— Aber nicht im Gesetzentwurf!
— Herr Geis, ich komme auch noch dazu, welche Konsequenzen aus diesen Verzögerungen resultieren.
Dadurch, daß der vorliegende Gesetzentwurf keine Regelung zur Wiedergutmachung dieses Teils des Unrechts enthält, wird von der Bundesregierung hingenommen, daß die Rechtslage auf diesem Gebiet weiter unklar bleibt. Die Folge, auf die ich auch hier hinweisen muß, ist, daß die Behörden der neuen Bundesländer und die Kommunen über die vorliegenden Anträge auf Rückgabe von Immobilien nicht entscheiden können. Die Treuhand verwaltet diese Grundstücke und überträgt nicht.
Es können hier am Ende nicht fiskalische Überlegungen im Vordergrund der Betrachtung stehen.
Wenn jetzt in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage gesagt wird, daß wegen der getätigten Entschädigungen grundsätzlich auszuschließen ist, daß Restitutionsansprüche entstehen, so trifft das die Betroffenen und, ich meine, auch uns Parlamentarier mitten ins Gesicht.
Alle diejenigen, die sich mit dieser Problematik in den neuen Ländern beschäftigt haben, kennen die Umstände, unter denen die Zwangsaussiedlungen vorgekommen sind, und die Folgen, die daraus entstanden sind. Ich möchte auch an dieser Stelle auf die Folgen für die Bewußtseinsentwicklung bei den Betroffenen hinweisen, die bürokratische Kälte empfinden und das Fehlen von Sensibilität in dieser Problematik spüren.
— Das wird ihnen nicht eingeredet.
Herr Geis, Sie waren doch selber im August dieses Jahres mit Herrn Helmrich in Schwerin und haben sich dort vor Ort von den Belangen der Betroffenen überzeugt. Es ist kein Einreden. Es ist eine Äußerung des Unrechts, das diesen Betroffenen widerfahren wird.
Keiner im Bundestag kann diesen Punkt zur politischen Profilierung benutzen. Das ist auch nicht unser Anliegen.
Ich meine nicht, daß hier ein Einreden vorliegt. Es ist ein Irrtum und muß für die Betroffenen wie eine Verhöhnung klingen, wenn Deutschen, die aus der DDR in die Bundesrepublik gegangen sind — aus welchen Gründen auch immer; ich sage hier: aus für uns akzeptablen und voll nachvollziehbaren Gründen — , ein Recht auf Rückgabe von Eigentum zugestanden wird,
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aber das Eigentum derer, die die Zeit in der DDR ausgehalten haben, nicht in der gleichen Weise zurückgegeben werden soll.
— Ich beziehe mich auf die Aussage der Regierung, die in der Antwort auf die Kleine Anfrage zur Kenntnis gegeben wird. Lesen Sie bitte die Anfrage und die Antwort durch. Ich bin bereit, sie Ihnen heute nachmittag persönlich zu übergeben.
— Dann dürften Ihre Fragen eigentlich so nicht gestellt werden.
— Doch, ich habe es verstanden. Ich befinde mich an der Stelle auch in Übereinstimmung mit dem Bundesjustizminister, der diese Maßnahmen als systembedingtes politisches Unrecht erkennt und auch nach seinen Auffassungen systembedingtes politisches Unrecht wiedergutmachen will. Ich frage mich, warum es nicht eine schnelle Entscheidung gibt. Die Betroffenen warten darauf.
Es muß an dieser Stelle auch noch einmal ein anderes Problem aufgegriffen werden. Viele Redner haben sich in den zurückliegenden Wochen mit der Sprachschöpfung „Beitrittsgebiet" auseinandergesetzt. In diesem Gesetzentwurf finden wir wieder dieses Kunstwort „Beitrittsgebiet". Ich weiß nicht, was die Bürger in den neuen Ländern darunter verstehen sollen. Wir sind ja kein Indianerstamm aus einem Reservat. Wir haben in Deutschland gelebt. Die Teilung Deutschlands als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges ist nicht durch die Betroffenen verursacht worden. Wir sollten uns angewöhnen, solche Kunstschöpfungen, die auch mentale Bedeutung haben, zu vermeiden, vor allem in einem solchen Gesetzentwurf.
Zu einem rechtstheoretischen Problem. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Prüfung der Versagungsgründe des § 16 Abs. 2 möchte ich mich der von Minister Dr. Bräutigam geäußerten Auffassung anschließen, daß das Gericht diese prüfen soll; ich verweise dazu auf die von ihm gegebenen Begründungen. Es kann nicht den Landesjustizverwaltungen zugemutet werden, über derartige Fragen zu entscheiden.
Die Regelungen des Gesetzentwurfes zu den Entschädigungsleistungen können nicht befriedigen. Kritik daran wurde auch schon im Bundesrat vorgetragen. Zu diesem Komplex wird mein Kollege Rolf Schwanitz sprechen. Ich möchte an dieser Stelle auf die Problematik nur verweisen.
Noch einige Hinweise zur Notwendigkeit, die Überschrift des Gesetzentwurfes zu überdenken. Der Begriff „Beitrittsgebiet" ist ein solches Problem. Der
Titel „SED-Unrechtsbereinigungsgesetz" ist ein weiteres Problem.
Herr Minister, hinter der Bezeichnung „SED-Unrechtsbereinigungsgesetz" verbirgt sich — ungewollt — die Gefahr einer unrichtigen Geschichtsdarstellung. Bereinigt kann dieses Unrecht für die Betroffenen nicht werden, ebensowenig wie Geschichte bewältigt werden kann.
Diesem Irrtum waren die Bildungsideologen in der DDR — aber nicht nur sie — verfallen. Die Quittung dafür haben wir heute auf den Straßen von Hoyerswerda, aber nicht nur dort, sondern auch in Westdeutschland, in den alten Ländern.
Für das Unrecht in der ehemaligen DDR ist selbstverständlich in erster Linie die SED verantwortlich, die die Führungsrolle umfassend in Anspruch genommen hatte und diese sogar in der Verfassung festschreiben ließ.
Aber es darf nicht vergessen werden, daß alle politisch Verantwortlichen in der ehemaligen DDR, die der SED zustimmten, für die Unrechtstaten im Namen des Staates mitverantwortlich sind. Ich weiß, das ist eine heikle Frage. Wir können dieser Frage aber nicht ausweichen.
In diesem Zusammenhang möchte ich nur das Grenzgesetz der DDR erwähnen, dem auch Mandatsträger der alten Blockparteien in der Volkskammer — nicht in der letzten Volkskammer, sondern in einer vorhergehenden — zugestimmt haben. Dieses Grenzgesetz bildete die sogenannte Rechtsgrundlage für die Schüsse auf unbewaffnete Flüchtlinge an der Mauer und an der sogenannten Staatsgrenze West.
Auf dieses Gesetz beruft sich neuerdings sogar dessen Urheber, Erich Honecker,
um an diesem Beispiel seine Unschuld zu beweisen.
Ich denke, die meisten der anwesenden Kolleginnen und Kollegen haben das letzte Interview mit dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden gesehen.
Ich meine, das schlägt all denen, die jetzt bereit sind, Geschichte aufzuarbeiten — nicht: zu bewältigen — , mitten ins Gesicht, wenn er sich hinstellt und sagt: Ich war nicht verantwortlich; es waren diejenigen in den damaligen Gremien. Natürlich haben auch sie die Verantwortung. Die Hauptverantwortung hat die SED, hat er persönlich mitzutragen. Aber es war auch die Mitverantwortung der anderen, die fleißig die Hände gehoben haben.
Ich komme auf das Problem der Landenteignungen und der Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft zurück. An den Maßnahmen des sogenannten sozialistischen Frühlings in der DDR im Jahr 1960, der
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Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, haben ganz aktiv Funktionäre der sogennanten Demokratischen Bauernpartei Deutschlands teilgenommen.
Nicht wenige — das trifft nicht nur auf die damaligen oberen Funktionsträger der Demokratischen Bauernpartei zu, sondern auch auf andere — wollten viele SED-Mitglieder links überholen. Es ist eine Ungerechtigkeit, wenn wir heute diese Verantwortung in Frage stellen und die Verantwortung von Führungskadern in den Blockparteien niedriger ansiedeln als die Verantwortung kleiner Mitglieder der ehemaligen SED.
Erinnern wir uns noch an die damals gängigen Schlagworte auf dem Lande in der DDR. Dort hieß es auf breiten Spruchbändern zum Hohn für die Bauern und Bäuerinnen auf dem Dorfe: „Ohne Gott und Sonnenschein fahren wir die Ernte ein. "
Heute sitzen diejenigen, zumindest einige, die damals in der Bauernpartei waren, auf gut gepolsterten Parlamentssitzen und geben jetzt vor, christliche Politik in den neuen Ländern machen zu wollen.
— Ich meine die Verantwortlichen. Sie haben mich doch gut verstanden. Es geht doch nicht um diejenigen, die keine politische Verantwortung getragen haben.
— Herr Geis, ich rede doch nicht pauschal. Hören Sie doch bitte mal zu!
— Ich bin weder in einer Verurteilung pauschal noch in der Anfrage nach der Verantwortung gegenüber den Blockparteien, genausowenig wie ich pauschal in der Verurteilung gegenüber Mitgliedern der SED bin.
— Ich möchte die Pietät hier wahren. Wenn Sie die Namen genannt haben wollen, dann gehen Sie bitte in den Landtag von Schwerin. Dort sitzen Abgeordnete aus dem Kreis Hagenow.
Die haben damals in der Bauernpartei, heute in der CDU, das Grenzgesetz mit beschlossen. Die waren im Rat des Kreises aktiv für die Durchführung des sogenannten sozialistischen Frühlings 1960 zuständig. Ich
erspare mir, auch ein bißchen aus Rücksicht auf die Familien, hier die Namen auszusprechen. Ich bin gerne bereit, Ihnen die Namen zu nennen.
— Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken Sie bitte immer daran, welche — —
— Herr Geis, das sind doch Vergleiche, die überhaupt nicht treffen.
— Ich denke, Herr Geis, es paßt auch nicht zum Thema unseres Gesetzes, daß wir uns jetzt im kleinen politischen Hickhack streiten.
Wir sind doch für eine reale Geschichtsdarstellung. Oder wollen Sie diesen Teil der jüngeren DDR-Geschichte schon nach zwei Jahren verdrängen?
Das ist nämlich auch der Punkt, weshalb heute in den neuen Ländern die Politikverdrossenheit und die Verdrossenheit gegenüber den Politikern so groß ist. Das können wir hier doch nicht mittragen. Deshalb rufe ich Sie auf: Setzen Sie das — —
— Die Probleme verdrängen wir doch nicht. Ich kann Ihnen auch sagen, daß wir mit der Aufarbeitung dieses Teils, der ja nicht aus der Vergangenheit unserer Partei resultiert, sondern aus dem Stasi-Sumpf, und mit diesen Problemen fertig werden.
Lassen Sie mich zum Abschluß feststellen:
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege, können Sie sich vorstellen, daß zur Politikverdrossenheit auch beiträgt, daß die SPD in den neuen Bundesländern jetzt verstärkt ehemalige SED-Mitglieder aufnimmt?
Ich danke Ihnen für diese Frage. Sie wird mir seit anderthalb Jahren im-
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mer wieder vorgehalten. Zum ersten Mal war das kurz vor der letzten Volkskammerwahl, als mir im Wahlkreis die Bürger, mit denen wir das Gespräch gesucht haben, sagten: Zwei Gründe sind es, weshalb wir die SPD nicht wählen können. Erstens ist die SPD das Auffangbecken der SED. Zweitens hat die SPD kein Geld, um die deutsche Einheit zu finanzieren.
Ich muß Ihnen ehrlich sagen, ich bin von beiden Argumenten fast erschlagen worden, weil konkret bei uns im Bezirk Schwerin und auch in den anderen Bezirken die Mitglieder aus der SED eine so verschwindende Anzahl stellten. Ich kann es in Prozenten hier nicht ausdrücken. Vielleicht waren es zwei Prozent, vielleicht waren es auch drei Prozent.
Ich sage Ihnen hier auch zu dem anderen Problem, von dem ich schon gesprochen habe. Es geht mir nicht um die Globalverurteilung aller Menschen in der ehemaligen DDR, die aus irgendwelchen Gründen irgendwann in eine Partei gegangen sind.
Es geht mir um die Verantwortlichkeit von Menschen, die unter den DDR-Bedingungen politische Verantwortung getragen haben und die, obwohl sie für die Wende nichts getan haben, jetzt nach der Wende meinen, wieder ihr Süppchen kochen zu können. Darum geht es mir.
Herr Kollege, auf die Frage, welche Partei Geld hat und welche Partei kein Geld hat, erspare ich mir die Antwort. Wer das verfolgt hat, weiß, wie die Finanzierung in den neuen Ländern erfolgt. Das ist nicht mit den Geldern der CDU machbar, sondern nur mit dem Geld der Steuerzahler und am Ende durch das Engagement der Wirtschaft.
Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Der vorgelegte Gesetzentwurf bildet trotz der Mängel und dieses Disputs eine gute Grundlage für die Beratung in den Ausschüssen. Der Rechtausschuß wird die Federführung übernehmen.
Die SPD-Fraktion, Herr Bundesminister, ist zu einer fairen und sachlichen Erörterung der Probleme bereit. Das wissen Sie. Im Interesse der Vervollkommnung des Gesetzentwurfs schlagen wir — ohne damit die Beschleunigung gefährden zu wollen, die wir mitunterstützen — vor, eine öffentliche Anhörung der Betroffenen durchzuführen. Das würde es uns ersparen, die Kritik im nachhinein entgegennehmen zu müssen. Ich bitte Sie, dieses Anliegen mit zu unterstützen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Geis.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hacker, Sie haben über eine weite Strecke eine sehr sachliche und sachbezogene Rede gehalten, für die ich Ihnen sehr danke.
Aber Sie haben doch nicht verhindern können, daß zum Schluß parteipolitische Polemik mit Ihrer Bemerkung über die Blockflöten und über die Blockflötenpartei aufgekommen ist.
Hier sollten Sie eines berücksichtigen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD! Die Bevölkerung der vormaligen DDR hat in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit in einer freien Wahl
gerade dieser Partei, die Sie so hämisch bedenken, die Mehrheit sowohl in den Ländern als auch bei der Wahl zum Bundestag erteilt.
Ich bitte Sie, diese Entscheidung zu achten, wie es ordentlichen Demokraten geziemt.
Herr Abgeordneter Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hacker?
Ich möchte jetzt erst meine Ausführungen zu diesem Tagesordnungspunkt beginnen. Herr Hacker, ich scheue keine Zwischenfrage; aber lassen Sie mich zunächst einmal einen Teil meiner Ausführungen beenden.
Die politische Wiedervereinigung ist am 3. Oktober vollzogen worden. Den Weg der inneren Wiedervereinigung, den Weg des Zusammenwachsens der Bevölkerung zwischen Ost und West haben wir zu einem guten Teil noch vor uns. Die wichtigsten Tugenden auf diesem Weg sind Geduld und Verständnis füreinander. Das gilt auch für die Betätigung von Mitgliedern dieses Hauses und überhaupt für die politische Betätigung von Männern und Frauen in den neuen Bundesländern.
Diese innere Wiedervereinigung erfordert, wie ich meine, eine große Integrationsleistung. Es kommt darauf an, daß die Menschen in den neuen Bundesländern ebenso wie die Menschen in den westlichen Bundesländern bereit sind, die nun größer gewordene Bundesrepublik Deutschland als ihr Vaterland anzuerkennen und zu lieben.
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Ohne Zweifel ist deshalb zunächst erforderlich, daß die materielle Hilfe fließt und daß wir so schnell wie möglich gleichartige Lebensverhältnisse in Ost und West erhalten. Hier sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Der Bundeshaushalt 1992 wird von der deutschen Wiedervereinigung bestimmt. Die Situation in den neuen Bundesländern hat sich zweifellos verbessert. Das kann man allenthalben feststellen, wenn man dorthin fährt.
Aber der Traum vom materiellen Wohlstand war längst nicht das einzige Motiv der Menschen, die damals hinter Stacheldraht und Eisernem Vorhang den bleiernen Mantel des Sozialismus abgeworfen haben. Die Menschen, die in den Oktobertagen 1989 aus den Kirchen herausgeströmt und mit den Kerzen in der Hand auf die Straßen gegangen sind, haben vor allem Gerechtigkeit und Freiheit gesucht, und sie hatten den Traum, diese Gerechtigkeit und Freiheit in unserem freiheitlichen Rechtsstaat verwirklichen zu können.
In der Tat: Bei aller Kritik und bei allen Vorbehalten gegen unseren freiheitlichen Rechtsstaat gibt es keine Alternative zu ihm. Für die innere Wiedervereinigung ist es deshalb von größter Wichtigkeit, wie weit und wie schnell sich die Menschen in den neuen Bundesländern sich mit diesem freiheitlichen Rechtsstaat identifizieren können. Dies ist eine Aufgabe, die wir alle zusammen in Ost und West zu meistern haben.
Das Recht spielt dabei eine ganz entscheidende Rolle. Es geht um den schnellen Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen in der vormaligen DDR. Es geht, Herr Hacker, um die Verfolgung von Regierungskriminalität, aber auch von Wiedervereinigungskriminalität. Es geht zum dritten — und das ist das Thema heute und das scheint mir der wichtigste Punkt dabei zu sein — um die Rehabilitierung.
An erster Stelle steht der Aufbau der rechtsstaatlichen Institutionen. Das ist eine schwierige Aufgabe. Neun von zehn Führungskräften aus der vormaligen DDR haben der SED angehört. Ich gebe zu, es existieren immer noch die alten Seilschaften. Ich gebe zu, daraus erwachsen in den Menschen der vormaligen DDR Frustration und Mißtrauen gegen diesen Staat. Unser Rechtsstaat ist aber gerade auf Vertrauen angelegt. Ohne Vertrauen, ohne Zutrauen zu den Institutionen kann der Rechtsstaat nicht funktionieren. Deshalb ist es notwendig, daß wir ganz schnell zu einer funktionierenden Verwaltung kommen.
Es ist von außerordentlicher Bedeutung, daß die Justiz funktioniert. Es ist aber ausgeschlossen, daß beispielsweise in einem Rehabilitationsverfahren ein Richter der vormaligen DDR Recht sprechen kann. Deshalb brauchen wir viele Richter und Staatsanwälte aus den alten Bundesländern. Deshalb spielt das Justizentlastungsgesetz eine so ausschlaggebende Rolle.
Eine weitere wichtige Integrationsaufgabe muß darin bestehen, daß die Täter, die vierzig Jahre lang die Menschen hinter Stacheldraht und Eisernem Vorhang unterdrückt und tyrannisiert haben, zur Rechenschaft gezogen werden. Niemand bei uns weicht dieser Aufgabe aus, Herr Hacker.
Es geht dabei nicht um Bestrafungsaktionen der Sieger. Es geht schon ganz und gar nicht — und da stimme ich mit Ihnen überein — um Rache, sondern es geht um die Selbstachtung des Rechtsstaates. Todesschüsse an der Mauer, die Behinderung der Freizügigkeit, die Unterstützung der Terroristen, der Entzug des Elternrechts und die Zerstörung der Umwelt — um einige Straftaten zu nennen — müssen ermittelt und im Einzelfall durch ein rechtsstaatliches Verfahren geahndet werden.
Aber der entscheidende Schritt zur Integration der Menschen in den neuen Bundesländern scheint mir zu sein, daß wir die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der sozialistischen Diktatur angehen.
Das vorliegende Gesetz bezieht sich dabei nur auf einen Teilaspekt dieser gesamten Aufgabe. Es geht hier in diesem Gesetz nur um die strafrechtliche oder um die Rehabilitierung strafrechtlichen Unrechts. Der Entwurf enthält im wesentlichen das, was, wie ich meine, unser Rechtsstaat dazu leisten kann, um das strafrechtliche Unrecht des SED-Staates zu bereinigen.
Wer hier in diesem Zusammenhang von Bereinigung spricht, gibt eine Vorgabe, wohl wissend, daß vierzig Jahre Unrechtsstaat nicht aus der Welt geschafft werden können. Vermögensschäden mögen bereinigt werden, psychische Schäden, verpaßte Lebenschancen, das Leid vieler Menschen in der vormaligen DDR können in diesem Sinne nicht bereinigt werden.
Selbstverständlich aber haben die Menschen, die Widerstand gegen das SED-Regime geleistet und dabei ihre Freiheit verloren haben, einen Anspruch auf Rehabilitierung. Sie haben auch einen Anspruch auf Wiedergutmachung.
Natürlich kann man sich dabei die Frage stellen, ob der Betrag von 300 DM, 450 DM oder 600 DM pro Monat eine angemessene Entschädigung ist. Natürlich kann man fragen, ob dies gerecht ist. Aber was wäre denn gerecht? Jeder Versuch, das den Menschen im Osten vierzig Jahre lang zugefügte Unrecht nachträglich in Mark und Pfennig aufzurechnen, ist zum Scheitern verurteilt. Finanzielle Entschädigungen sind notwendig. Sie sind aber niemals wirklich Schadenersatz.
Sie haben deshalb zwangsläufig — und ich bitte Sie, mich richtig zu verstehen — nur symbolischen Charakter. Sie sind ein Beweis der Gemeinschaft, daß sie die schuldlos erlittene Strafe kennt und ein Zeichen der Wiedergutmachung setzen will. In diesem Sinne ist das vorgelegte Gesetz zu verstehen.
Wer, wie in der Öffentlichkeit geschehen — nicht von Ihnen heute, Herr Hacker —, diesen Entwurf für schäbig, für eine Verhöhnung der Opfer hält, sät Neid und Zwietracht und vergiftet den inneren Frieden.
Für manche Kritik allerdings haben wir großes Verständnis. Sie und auch der Justizminister haben es erwähnt: Diejenigen, die durch die sowjetischen Militärgerichte zu Unrecht verurteilt wurden, werden vom Gesetz nicht erfaßt. Wir wissen, warum: aus völkerrechtlichen Gründen. Vorhin wurde es dargelegt.
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Aber wir bitten die Bundesregierung — und der Herr Justizminister hat ja bereits die ersten Verhandlungen insoweit geführt —, alles daranzusetzen, daß auch die Unrechtsurteile — es sind 25 000 bis 29 000 — , die durch die Militärtribunale der Sowjets gefällt worden sind, aufgehoben werden und daß auch diese Menschen in einem vernünftigen Sinne entschädigt werden.
Wir haben auch Verständnis für die etwa 50 000 Fälle der Zwangsausgesiedelten. Angebliche Straftaten galten oft als Vorwand, um die Menschen in Nacht- und Nebelaktionen von Haus und Hof zu vertreiben. Dieses damals zugefügte Unrecht müssen wir bereinigen, und wir werden es auch bereinigen. Wir — der Justizminister, die CDU/CSU-Fraktion und, wie ich meine, das ganze Haus — sind diesen Menschen im Wort. Wir werden dieses Wort auch halten.
Es wäre falsch gewesen, mit diesem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf diese Rehabilitierungsaufgabe zu verbinden; einfach deshalb, weil die rechtstatsächlichen Untersuchungen, wie wir gehört haben, noch nicht abgeschlossen sind. Aber wir müssen endlich einmal den ersten Schritt tun. Verstehen Sie bitte diesen Gesetzentwurf als ersten Schritt. Weitere Schritte müssen natürlich folgen. Wir bitten Sie, es uns nicht als Mangel anzulasten, wenn wir den zweiten und dritten Schritt nicht vor dem ersten tun. Wir können das im Moment noch nicht tun, aber wir werden darauf zugehen. Ich hoffe, daß wir dabei im Rechtsausschuß zusammen auch zu einer vernünftigen Lösung kommen werden.
Ich meine auch, daß es ein wichtiger Punkt ist, das Unrecht zu rehabilitieren, das wir als berufliches Unrecht kennzeichnen. Auch hier müssen wir allerdings vor allzu großen Erwartungen warnen. Niemand ist in der Lage, das Leid und das Unrecht, das die Menschen durch die Tyrannei der SED erlitten haben, in jedem Einzelfall wiedergutzumachen. Wie soll dem geholfen werden, der, weil er die Jugendweihe ablehnte, nicht studieren durfte? Vielfältiges Unrecht ist geschehen, das nicht einmal mehr genau erfaßt werden kann.
Der wichtigste Akt der Wiedergutmachung sind die Wiedervereinigung und der in der ganzen Welt beispiellose Wiederaufbau des zerstörten Landes. Der persönliche Wohlstand vieler DDR-Bürger und -Bürgerinnen und somit vieler SED-Opfer ist bereits jetzt, verglichen mit der früheren DDR, deutlich gestiegen.
Dennoch werden wir uns Gedanken darüber machen müssen, ob nicht in eindeutigen, in genau nachvollziehbaren Fällen eine spezielle Entschädigung notwendig und möglich ist. Es sollen nicht wenige Fälle sein. Aber es kann nicht pauschal geschehen, wie Sie mir sicherlich zustimmen werden. Zeiten längerer Arbeitslosigkeit oder Unterbezahlung könnten bei der Rentenberechnung zumindest berücksichtigt werden. Auch ist zu prüfen, ob nicht durch Berufsausbildung oder Umschulung solchen Menschen bevorzugt geholfen werden kann.
In all diesen Fällen ist Geduld geboten. Das Unrecht von 40 Jahren kann nicht in der kurzen Frist von wenigen Jahren behoben werden. Das vorgelegte Gesetz ist eine Etappe auf dem Weg zur Aufarbeitung des SED-Unrechts. Weitere Schritte werden folgen müssen.
Lassen Sie mich mit einem Wort des Justizministers von Thüringen schließen: „Wir müssen den Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, die in der Vergangenheit die Hauptlast dieser unsäglichen Diktatur getragen haben. Daran hängt die moralische Qualität unseres Gewissens."
Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Professor Dr. Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir unterstützen voll das Anliegen, das dem vorliegenden Gesetzentwurf zugrunde liegt, diejenigen zu rehabilitieren und zu entschädigen, die in der DDR wegen politischer Betätigung unter Verletzung ihrer Grundrechte strafrechtlich verfolgt wurden.
Wenn man von Unrecht in der DDR spricht, dann gehören die Instrumentalisierung des Strafrechts für politische Zwecke, die Aushebelung der Grundrechte durch das politische Strafrecht ganz sicher dazu. In diesem Sinne habe ich mich bereits in der Volkskammer für das Rehabilitierungsgesetz eingesetzt und an seiner Ausarbeitung mitgewirkt.
Zur Bewältigung der Vergangenheit im einheitlichen Deutschland gehört es, die Bestimmungen des DDR-Rehabilitierungsgesetzes zu überprüfen, um das Rehabilitierungsverfahren zu vereinfachen und vor allem die nach dem DDR-Gesetz allzu niedrigen Entschädigungsleistungen merklich anzuheben und klar umrissene Versorgungsansprüche festzulegen. Allen entsprechenden Regelungen im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung gilt unsere Zustimmung.
Bedauerlich ist allerdings aus meiner Sicht, daß nicht im gleichen Tempo und mit gleichem Engagement endlich auch nach mehr als 46 Jahren eine Rehabilitierung derjenigen erfolgt, die sich als Deserteure unter ständiger Todesdrohung der nazi-faschistischen Wehrmacht entzogen haben.
Bedenklich finde ich es auch, daß die Regierung bisher keinerlei gesetzesvorbereitende Aktivitäten erkennen läßt, um nach der Herstellung der Einheit Deutschlands ebenfalls den mehreren Tausend Opfern des Kalten Krieges, die in den 50er und 60er Jahren in der alten Bundesrepublik wegen der Wahrnehmung von Grundrechten im Gefängnis gesessen haben, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wer sich darüber ein Urteil bilden will, dem empfehle ich, das Buch „Anwalt im Kalten Krieg" des ehemaligen Justizministers von Nordrhein-Westfalen, Diether Posser, zu lesen. Wir hoffen, daß nicht nur die PDS/Linke Liste im 12. Bundestag auch in diesen Punkten
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Dr. Uwe-Jens Heuer
für die Wiedergutmachung von Unrecht eintreten wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung findet also überall dort unsere Zustimmung, wo er dem Rehabilitierungsgesetz der DDR folgt bzw. in dessen Geiste Lücken schließt. Überall dort habe ich allerdings größte Bedenken, wo der Gesetzentwurf von dem Volkskammer-Rehabilitierungsgesetz abweicht, die strafende Handschrift des Siegers erkennen läßt, der gewissermaßen im Vorbeigehen eine Aburteilung der DDR und ihres Rechts vornimmt.
Auf der 80. Tagung der American Assembly, gegründet von Dwight D. Eisenhower 1950 — Teilnehmer waren in diesem Jahr u. a. Paul A. Volcker, Karl Otto Pöhl und Kurt Biedenkopf — , wurde ausdrücklich vom Sieg Amerikas im Kalten Krieg gesprochen; nachzulesen in der „Frankfurter Rundschau" vom 30. November 1990.
Besorgt macht mich zunächst, daß das Rehabilitierungsgesetz ohne Not zum Vehikel einer pauschalen Verdammung der DDR als „Unrechtsregime" — so mehrfach in der Begründung des Entwurfs — gemacht werden soll. Der Entwurf der Bundesregierung ordnet sich auf verhängnisvolle Weise in die Kampagnen der letzten Monate ein, den besiegten Staat DDR pauschal zu verdammen, ihn nicht nur mit dem für die Toten des Zweiten Weltkrieges und für den millionenfachen Mord an Juden und Antifaschisten verantwortlichen Dritten Reich zu vergleichen, sondern gleichzusetzen.
Der Bundesminister der Justiz hat die Aufgabe, mit der Hinterlassenschaft des sogenannten DDR-Unrechtsregimes aufzuräumen, als vielleicht im Ausmaß noch größer als die Aufarbeitung der NS-Justiz bezeichnet; so steht es in der „Frankfurter Rundschau" vom 15. April dieses Jahres.
Schon im Titel wartet der Gesetzentwurf mit der Verwendung eines politisch-ideologischen Kampfbegriffs auf. Statt nüchtern „Rehabilitierungsgesetzentwurf" heißt es „Entwurf eines Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes". Der Titel der Ausstellung zur NS-Justiz lautete demgegenüber streng objektiv „Justiz und Nationalsozialismus".
Nach diesem Gesetzentwurf gibt es keinen Raum mehr für eine differenzierte Betrachtung des DDRStrafrechts. Es wird so getan, als wäre es völlig belanglos, daß 98 °A. der Strafgefangenen in der DDR wegen unstrittiger krimineller Delikte in rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt worden sind.
Nach der Begründung ist angeblich — ich zitiere — „aus heutiger Sicht kein Grund mehr erkennbar, zwischen politischen und anderen Opfern des SED-Unrechtsregimes zu unterscheiden".
Das DDR-Rehabilitierungsgesetz nannte als Voraussetzung der Rehabilitierung — dazu stehe ich nach wie vor — das Vorliegen „gewaltfreier, friedlicher Handlungen zur Wahrnehmung politischer Grundrechte". Die Bundesregierung setzt an die Stelle dieses Kriteriums die „Unvereinbarkeit der Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung " .
Worum es der Bundesregierung dabei aber nun eigentlich geht, steht an anderer Stelle der Begründung: „Der Wiedergutmachung im Wege der Rehabilitierung bedarf jedoch dasjenige Staatsunrecht, das als ,Systemunrecht' — die Individualität und Würde des Menschen mißachtend — diesen zum Objekt gesellschaftspolitischer Zielsetzungen degradiert."
Mit dem Maßstab der wesentlichen Grundsätze einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung nach dem Modellcharakter des Grundgesetzes soll also Systemunrecht qualifiziert und aufgespürt werden. Der alte Systemkampf, der Kalte Krieg, scheint auch hier weitergekämpft zu werden mit dem Ziel der Ausschaltung der politischen und großenteils — aus Konkurrenzgründen — auch der wissenschaftlich-technischen Intelligenz der DDR.
Maßstab ist nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung also nicht mehr das damals geltende DDRRecht, insbesondere das Verfassungsrecht, sondern das zum Naturrecht gewordene BRD-Recht. Dem Staat DDR wird im nachhinein in keiner Weise mehr zugebilligt, Schutzwürdiges zu schützen, sich gegen Gewalt, Rowdytum oder Neonazismus zu wehren.
Er soll ein Unrechtsregime schlechthin sein.
Offensichtlich ganz bewußt ist im Entwurf der Bundesregierung die im Rehabilitierungsgesetz der DDR enthaltene Bestimmung weggelassen worden, daß eine Rehabilitierung unter bestimmten Bedingungen ausgeschlossen ist, beispielsweise dann, wenn die in Betracht zu ziehende Handlung nach dem Inkrafttreten des 6. DDR-Strafrechtsänderungsgesetzes strafbar ist
oder Handlungen vorliegen, die mit Gewalt oder unter Androhung von Gewalt begangen wurden.
Eines der dunkelsten Kapitel des in der DDR begangenen Unrechts — zweifellos auch ein wichtiger Fall der Rehabilitierung — sind die Waldheimer Prozesse. In diesen Prozessen wurden bekanntlich elementare rechtsstaatliche Normen des materiellen und Verfahrensrechts der DDR in erschreckender Weise mißachtet.
Eine Rehabilitierung der Opfer dieses Prozesses ist unumgänglich. Allerdings habe ich Zweifel, ob dies ohne Einzelfallprüfung geschehen kann. Denn wir stehen vor dem Problem, daß neben den in Waldheim zu Unrecht Verurteilten auch wirkliche Nazi- und Kriegsverbrecher abgeurteilt wurden. Die internatio-
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Dr. Uwe-Jens Heuer
nale Öffentlichkeit würde auf ihre Rehabilitierung und damit auf ihre automatisch erfolgende Entschädigung — wie sie das auch auf die Rehabilitierung lettischer Kriegsverbrecher tat — mehr als verwundert reagieren.
Die DDR hat in ihrer Rechtsentwicklung verschiedene Phasen durchlaufen. Auch nach Auffassung westdeutscher Rechtswissenschaftler gab es im großen und ganzen eine Entwicklung zu mehr Rechtsstaatlichkeit, wenn auch begleitet von Rückfällen, wie sie insbesondere mit dem 5. Strafrechtsänderungsgesetz eintraten. Zugleich gab es große Bereiche des Arbeitsrechts, des Zivilrechts und des Familienrechts, in denen sich das Recht der DDR in vieler Hinsicht — vor allem auch in bezug auf seine Bürgernähe — vorteilhaft von dem der BRD abhob.
Dessenungeachtet bin ich der Auffassung, daß die DDR bis zum 40. Jahr ihrer Existenz nicht als Rechtsstaat bezeichnet werden kann, weil wesentliche und unabdingbare Voraussetzungen von Rechtsstaatlichkeit nicht geschaffen worden waren, nicht zuletzt auch, um die führende Rolle der SED zu sichern. Das wiegt für mich um so schwerer, als Rechtsstaatlichkeit für mich eine unabdingbare zivilisatorische Errungenschaft ist.
Allerdings sehe ich keinen Sinn darin — wie das mit dem Rehabilitierungsgesetz nunmehr geschehen soll — , den meines Erachtens wissenschaftlich unbrauchbaren Begriff des Unrechtsstaates oder des Unrechtsregimes auf die DDR anzuwenden. Er suggeriert eine kategorische politisch-ideologische Mißbilligung und ist nicht geeignet, ein differenziertes Bild zu ermöglichen. Die Gleichung „kein Rechtsstaat = ein Unrechtsregime" mag propagandistisch wirksam sein, wissenschaftlich haltbar ist sie nicht.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang die Außerung einer Besorgnis. Neun Abgeordnete der PDS/Linke Liste haben ihre Position zum Rechtsstaat am 27. November 1991 in einer Erklärung deutlich gemacht. Interessanterweise hat kein einziges Medium davon Kenntnis genommen.
Offenbar neigt man dazu, über uns nur negative Sensationen zu veröffentlichen.
Wir vertreten diese Position zur Rechtsstaatlichkeit, obwohl wir wissen, daß unsere These vom Rechtsstaat als zivilisatorische Errungenschaft bei vielen Ostdeutschen heute deshalb auf Zweifel stößt, weil sie von der Rechtswirklichkeit des neuen Deutschlands enttäuscht sind. Hierauf ist auch der Bundesjustizminister eingegangen. Er hat die Frage des Widerspruchs zwischen Ideal und Wirklichkeit aufgeworfen und auf die offensichtlich bestehenden Schwierigkeiten hingewiesen, großes Unrecht in individueller Prüfung formell einwandfrei aufzuarbeiten.
Allerdings gibt es weitere Ursachen, über die wir ebenfalls reden müssen. Das Erlebnis sozialer Ungerechtigkeit im Rahmen der kapitalistischen Marktwirtschaft trifft sich für die ehemaligen Bürger der
DDR mit einem unbekannten und unüberschaubaren Recht der BRD, zum Teil aber auch mit einem rechtlichen Sonderregime, das die Stellung der Ostdeutschen als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse noch unterstreicht.
Vollzogen ist bereits eine grundgesetzwidrige Abstrafung von Hunderttausenden mittels des Rentenrechts. In dem einen Jahr deutsche Einheit waren mehr Menschen von Entlassungen aus politischen Gründen betroffen als in der ganzen Geschichte der DDR.
Schwer verständlich ist auch der im zweiten Staatsvertrag vorgesehene Maßstab des rechtsstaatlichen Erwerbs von Parteieigentum, gemessen am Maßstab des Grundgesetzes.
Ich bejahe alles, was geschieht, um die in der DDR zu Unrecht Verurteilten zu rehabilitieren und zu entschädigen.
Der Versuch allerdings, die Rechtsordnung der BRD — und sei es in ihren wesentlichen Zügen — zum Maßstab für das Handeln in der früheren DDR zu machen, ist meines Erachtens rechtsstaatswidrig.
Er hindert die notwendige Entwicklung rechtsstaatlichen Denkens und Handelns. Ich meine, daß dieser Versuch nicht geeignet ist, die gerade von Ihnen, Herr Geis, geforderte Integrationsleistung zu sichern. Ich muß ihm deshalb meine Zustimmung versagen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Ein zweites Mal betrogen", so überschrieb der „Spiegel" seinen Artikel über den Stand der Rehabilitierung Mitte dieses Jahres. Ich glaube, daß dieses Fazit — trotz aller Kritik, auch von betroffenen Liberalen — nicht wirklich gezogen werden kann. Der Justizminister hat sein Wort aus der Plenardebatte vom 14. Mai 1991 in Berlin gehalten und ein Erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz schnell vorgelegt. Dafür danke ich ihm im Namen der FDP-Fraktion ausdrücklich.
Entsprechend unserer damaligen fraktionsübergreifenden Feststellung sind auch die vorgesehenen
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Jörg van Essen
Entschädigungsbeträge gegenüber denen aus dem Häftlingshilfegesetz — das wären nur 80 DM für jeden Monat erlittener Haft gewesen — deutlich erhöht worden. Trotzdem steht gerade die vorgesehene Entschädigungsregelung im Mittelpunkt der Kritik der Betroffenen. Die Opfer fordern eine finanzielle Leistung, die der seit kurzem für unschuldig erlittene Haft in den alten Ländern gewährten entspricht, also 600 DM pro Haftmonat. Niemand kann sie dafür ernsthaft kritisieren, schon deshalb nicht, weil die Haftbedingungen ungleich schwieriger gewesen sind als die in unseren heutigen Justizvollzugsanstalten.
Es gibt niemanden in diesem Hause, der ihnen nicht eine Entschädigung in dieser Höhe gegönnt hätte. Aber der Bundesfinanzminister ist in einer schwierigen Situation. An ihn wird eine Fülle von finanziellen Forderungen gestellt. Man kann es sich nicht so einfach machen wie viele Landesregierungen, die nach dem Motto handeln: Alles Angenehme ist Ländersache, das Unangenehme, insbesondere das Bezahlen, ist Aufgabe des Bundes.
Art. 104a Abs. i des Grundgesetzes bestimmt, daß eigentlich die Länder die gesamten Kosten zu tragen hätten. Der Bund ist aber erfreulicherweise zur Übernahme der Hälfte des Betrages bereit. Das ist eine angesichts der Finanzsituation in den neuen Ländern zu begrüßende Bereitschaft. Die vielen Belastungen des Bundeshaushalts setzen Grenzen nach oben. Es war schon außerordentlich schwierig und bedurfte des ganzen Einsatzes des Bundesjustizministers, den jetzigen Finanzierungsrahmen zu erreichen. Dabei ist deutlich daran zu erinnern, daß wir finanziell nicht nur die Vergangenheit zu bewältigen, sondern insbesondere auch die Zukunft zu gestalten haben.
Ich habe bereits in meinem Redebeitrag vom 14. Mai 1991 herausgestellt, daß es für mich eine Grenze der Entschädigung auch nach oben gibt, und wiederhole dies hier. Die Opfer der NS-Diktatur, besonders die Überlebenden der Konzentrationslager, dürfen nicht schlechter gestellt werden als die Opfer des SED-Unrechtsstaates. Die NS-Opfer haben bis zur letzten gesetzlichen Regelung 1965 150 DM pro Haftmonat erhalten. Unter Berücksichtigung der Inflation und der wirtschaftlichen Entwicklung ist eine Verdoppelung des Betrages auf nunmehr 300 DM für jeden Betroffenen jedenfalls kein zweiter Betrug der Opfer.
Ich werbe auch um Verständnis für eine bessere Behandlung derer, die bis zum 9. November 1989 ihren Wohnsitz in den neuen Bundesländern hatten. Denjenigen, die in den Westen gelangten, wurde eine Vielzahl von Hilfen, nicht nur nach dem Häftlingshilfegesetz, zuteil. Es wurden u. a. erhebliche Mittel für den Häftlingsfreikauf aufgeboten. Diejenigen, die als Gegner der DDR verurteilt waren und bis zum Schluß dort blieben, litten darunter bis zum Zusammenbruch des SED-Unrechtsstaates.
Das Fehlen eines vererbbaren Anspruchs hat ebenfalls zu Kritik geführt. Sicher haben in vielen Fällen auch Angehörige unter der Haft und ihren Folgen gelitten. Es hilft nichts, wenn in der Begründung zum Gesetzentwurf auf den Charakter eines höchstpersönlichen Anspruches auf die vorgesehene Kapitalentschädigung hingewiesen wird. Man kann es offen sagen: Dies ist ein Bereich, der den leeren Kassen des Bundes zum Opfer gefallen ist. Jedenfalls können aber bei Bedürftigkeit Unterstützungsleistungen nach § 18 des Entwurfes an Angehörige gewährt werden.
Nach meiner Auffassung führt auch kein Weg daran vorbei, die Entschädigung an der Haftdauer zu orientieren. Die Haft ist der entscheidende Eingriff in die Freiheit des Menschen gewesen. Dabei verkenne ich nicht, daß sich Unzulänglichkeiten etwa bei der Vollstreckung von Todesurteilen nach kurzer Haft ergeben können. Dies wird bei den Beratungen im Rechtsausschuß zu erörtern sein.
Durch die massive Kritik an den finanziellen Leistungen besteht die Gefahr, daß ein wichtiger Umstand vergessen wird. In einer Zeit, in der aus dem Munde vieler Verständnis für diejenigen zu hören ist, die sich mit der Diktatur arrangiert haben, haben wir jenen besonders zu danken, die sich dem Druck zur Anpassung entzogen, Widerstand in mannigfaltiger Form geleistet oder einfach verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrgenommen haben.
Die Opfer erwarten zu Recht diese Anerkennung durch den Deutschen Bundestag. Ich erkläre sie hiermit ausdrücklich für die FDP.
Diese Opfer unterscheiden sich deutlich von den Verurteilten, Herr Heuer, in der alten Bundesrepublik, die den Rechtsstaat und die Demokratie beseitigen und eben diesen Unrechtsstaat, den wir heute beklagen, einführen wollten. Weil Sie diesen Unterschied immer noch nicht verstanden haben, glaubt man der PDS die Lippenbekenntnisse zum Rechtsstaat eben nicht.
Der Arbeitskreis „Politischer Häftling" hat in seiner Stellungnahme vom 6. Oktober 1991 zu dem Entwurf ausgeführt:
Er umfaßt im wesentlichen die Fülle der komplexen Sachverhalte und aller Regelungsgegenstände, deren gesetzliche Fixierung dem dringenden Gebot zum raschen Handeln nachkommt. Der Arbeitskreis begrüßt deshalb besonders das Vorhaben, die an Lebensjahren älteren Unrechtsopfer mit Vorrang zu berücksichtigen und geht dabei davon aus, daß diese Priorität für alle Betroffenen, unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Opferkreisen, verwirklicht wird.
Ich stimme dieser Wertung zu.
Der Gesetzentwurf ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Er hat viele der vergangenen Anregungen aufgegriffen, und wir werden weitere in den Beratungen des Rechtsausschusses sorgfältig prüfen. Insbesondere wird darüber nachzudenken sein, ob nicht die eine oder andere zusätzliche Vorschrift in die Re-
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Jörg van Essen
gelbeispiele des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Entwurfes aufzunehmen ist.
Für mich ist besonders wichtig, daß die Unterschiede zwischen der Rehabilitierung und der Kassation aufgehoben worden sind. Es ist keine Diffamierung, wenn nicht zwischen politischen Häftlingen einerseits und kriminellen Tätern andererseits unterschieden wird, die zu Unrechtsstrafen verurteilt worden sind. Auch das Kriminalstrafrecht war nicht selten Teil der politischen Verfolgung. Es gibt dort viele Mischbereiche, die eine strikte Trennung nicht erlauben. Alle Opfer der SED-Diktatur verdienen unsere Solidarität.
Die einheitliche Entscheidung ist auch ein wesentlicher Schritt zu der dringend notwendigen Beschleunigung des Verfahrens. Der Grundsatz der Solidarität mit allen Opfern hat erfreulicherweise dazu geführt, daß die ursprünglich einmal vorgesehene Fortsetzung der Geltung des Häftlingshilfegesetzes für alle Personen, die bis zum 18. Mai 1990 im alten Bundesgebiet wohnten, fallengelassen worden ist.
Auch meine Anregung vom Mai 1991, eine pauschale Regelung für die Waldheim-Prozesse zu erwägen, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Nach § 1 Abs. 2 des Entwurfes steht eindeutig fest, daß die Entscheidungen des Landgerichts Chemnitz aus dem Jahre 1950 mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind.
Ich schließe meine Rede mit der gleichen Mahnung, mit der ich meine Rede im Mai dieses Jahres geschlossen habe. Nicht nur die Rehabilitierung der Opfer erfordert unsere Kraft, auch die Täter müssen mit allen Mitteln des Rechtsstaates zur Verantwortung gezogen werden. Meine Sorgen insbesondere im Bereich der Regierungskriminalität werden immer größer. Für uns alle gilt deshalb die Verpflichtung: Wir müssen bei den notwendigerweise schnellen Beratungen das Bestmögliche für die Opfer der SED-Diktatur herausholen.
Vielen Dank.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Professor Heuer, ich möchte nur mit einem Satz auf Ihren Redebeitrag reagieren: Sicherlich streitet niemand in diesem Haus ab, daß es auch in der Geschichte der Bundesrepublik Unrechtsurteile, Fehlurteile gegeben hat. Aber wir erleben nun schon seit dem 18. März 1990, daß Sie ständig Fehlurteile der bundesdeutschen Justiz und das SED-Unrecht gleichsetzen. Wir haben das im Zusammenhang mit Geheimdiensten erlebt. Das zeigt mir, daß Sie nach wie vor nicht bereit sind, die tatsächliche Qualität des Unrechtsregimes in der DDR anzuerkennen. Sie verdrängen dieses Problem nach wie vor.
Ihnen ist es offensichtlich wesentlich leichter gefallen, das finanzielle Erbe Ihrer Vorgängerpartei anzutreten, als die tatsächlichen Hinterlassenschaften anzunehmen. Das bedauere ich.
Am 9. November 1991 konnte man in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" folgenden bemerkenswerten Satz lesen:
Während die reiche Bundesrepublik gerade wohlüberlegt und unengagiert ihr — nur sehr mäßig dotiertes — Gesetzgebungsprogramm für die Rehabilitierung der Opfer der SED-Justiz einleitete, war in der vergleichsweise armen Tschechoslowakei nicht nur das entsprechende Gesetz seit Monaten beschlossen, sondern auch bereits mehr als die Hälfte der vorgesehenen Mittel ausgezahlt und bewilligt.
In der Tat spielt der Zeitfaktor bei der Akzeptanz von Wiedergutmachungsbemühungen des Staates eine große Rolle.
Nun, nach mehr als 14 Monaten seit der deutschen Einheit, liegt dem Bundestag das Gesetz auf dem Tisch. Alle Opfer von damals verknüpfen damit die Erwartung, daß der seit dem 3. Oktober 1990 bestehende unhaltbare Schwebezustand endlich beendet wird und vernünftige, akzeptable Wiedergutmachungsregelungen geschaffen werden.
Uns ist allen klar, daß dieser Wunsch nur zum Teil erfüllt werden wird; denn es ist nicht nur eine Frage der Zeit, ob die Wiedergutmachungsbemühungen des Staates von den Opfern auch akzeptiert werden. Es hängt vielmehr auch von der ideellen und materiellen Leistungsfähigkeit des Gesetzes ab, ob die Wiedergutmachungsbemühungen von den Opfern auch als solche akzeptiert werden können.
Was liegt folglich näher, als nun einmal konzentriert über die Wiedergutmachungsleistungen zu reden? Das sogenannte Unrechtsbereinigungsgesetz sieht hierfür in den §§ 17, 18 und 19 materielle Leistungen vor; ihr Kern ist die sogenannte Kapitalentschädigung. Dabei gilt für den Normalfall, daß ein Opfer mit West-Wohnsitz 10 DM und ein Opfer mit Ost-Wohnsitz 15 DM für einen unrechtmäßig verbüßten Hafttag erhalten sollen. Die Bundesregierung begründet dies damit, daß die Opfer der SED-Justiz mit den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung gleichgestellt werden müßten. Welch lobenswerter Gedanke.
Dabei will ich mich gar nicht darüber auslassen, wie es auf die Opfer wirken muß, wenn in krämerhafter Art und Weise errechnet wird, daß unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Entwicklung und des geldwerten Verlustes im Verhältnis von 1953 zu heute eine Erhöhung des Tagessatzes von 5 DM im Jahre 1953 — soviel erhielt nämlich ein NS-Opfer — auf heute 10 DM offensichtlich als angemessen empfunden wird. Minister Kinkel hat dies heute noch einmal bestätigt. Ich will auch gar nicht an die Sklavenarbeit denken, welche Häftlinge in den DDR-Gefängnissen tagein, tagaus zu leisten hatten, und danach fragen, welche Werte sie tatsächlich produziert und nicht erhalten haben.
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Rolf Schwanitz
Ich frage mich statt dessen vielmehr — Herr Minister Kinkel, ich hoffe, Sie haben sich dies auch gefragt — , wie es wohl auf ein Opfer wirken mag, wenn es sich heute mit 10 DM pro Hafttag begnügen muß, der eigentliche Täter jedoch, beispielsweise ein Mf S-General, der auf Grund unzureichend genutzter strafrechtlicher Instrumentarien nicht verurteilt werden kann, folglich zu Unrecht inhaftiert worden ist, im Endeffekt 20 DM pro Hafttag nach dem bundesdeutschen Strafentschädigungsgesetz in seine Tasche stecken kann, also doppelt so viel von dem, was ein Opfer erhält.
Das sind die Fragen, welche die Gemüter der Verfolgten bewegen. Das sind die Fragen, die von Ihrer Seite unbeantwortet geblieben sind, was für mich nur schwer erträglich ist.
Wir müssen natürlich auch danach fragen, was durch die Kapitalentschädigung denn tatsächlich wiedergutgemacht werden soll. § 16 verrät uns hier, daß die sozialen Ausgleichsleistungen den durch den Freiheitsentzug entstandenen materiellen und gesundheitlichen Nachteil ausgleichen sollen. Dabei wird in der Begründung zu § 16 ausdrücklich auf das alte Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer Bezug genommen. Das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer differenzierte damals grundsätzlich nach gesundheitlichen, materiellen und anderen Nachteilen, welche infolge der Haft entstanden waren. Hier folgte das Volkskammergesetz ausdrücklich dem Grundgedanken des Bundesentschädigungsgesetzes, welches auch neben dem gesundheitlichen Schaden die materielle Schädigung und den immateriellen Schaden infolge des Freiheitsentzuges kennt. Die Volkskammer wollte also sehr wohl eine Gleichbehandlung mit NSOpfern, was das Unrechtsbereinigungsgesetz nach außen hin zumindest ebenfalls vorgibt.
Tatsächlich deutet sich hier jedoch eine andere Vorgehensweise an: Es soll offensichtlich der Tagessatz, der nach dem Bundesentschädigungsgesetz nur zum Ausgleich des immateriellen Haftschadens durch den Freiheitsentzug geschaffen worden war, dazu benutzt werden, alle Ansprüche pauschal abzugelten. Während bei NS-Opfern nach dem Bundesentschädigungsgesetz ein Entschädigungsanspruch auf die Tagessätze bestand und daneben der sonstige materielle Schaden ausgeglichen wurde — beispielsweise das entgangene Einkommen — , wird hier unter dem Mäntelchen formaler Gleichbehandlung alles über einen Leisten geschlagen, und dies zum Billigtarif.
Da verwundert natürlich nicht mehr, daß der Bundesrat in seiner Begründung der Bundesregierung aufgibt, klarzustellen — ich zitiere — , „daß nicht nur materielle und gesundheitliche, sondern auch andere, insbesondere immaterielle Schäden erfaßt werden sollen".
Ein solches Katz-und-Maus-Spiel haben die Opfer nicht verdient. Wir fordern Sie auf, Herr Minister, hier Farbe zu bekennen. Den Opfern muß klar gesagt werden, welche Ansprüche künftig bestehen sollen und welche Leistungen für welche Schädigungen zu erwarten sind. Auch wenn dies eine unangenehme Pflicht sein sollte — denn offensichtlich hat Herr Waigel dort auch einiges mitzureden — , ist ein solches Versteckspiel unangebracht und der Gesamtsituation unwürdig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir einmal bei der Kapitalentschädigung sind, dann noch ein paar Bemerkungen zum bereits angesprochenen Wohnort- bzw. Stichtagsproblem: Entscheidend für die unterschiedliche Höhe der Kapitalentschädigung — auf der einen Seite 10 DM, auf der anderen Seite 15 DM pro Hafttag — soll die Frage sein, ob das Opfer bis zum 9. November 1989 seinen Wohnsitz in der DDR oder in der Bundesrepublik hatte. Soll in der Tat derjenige, der beispielsweise im August 1989 freigekauft worden ist, keinen Rechtsanspruch auf 15 DM pro Hafttag haben und wirklich mit 10 DM befriedigt werden? Bitte, meine sehr verehrten Damen und Herren, entgegnen Sie mir an dieser Stelle nicht, die Festlegung von Stichtagen bringe immer Ungerechtigkeiten mit sich. Wo die Leistung unverhältnismäßig gering ist, kann die Ungerechtigkeit einer Stichtagsregelung von Opfern nicht mehr akzeptiert werden. Bitte lassen Sie uns das noch einmal überdenken.
Zu den Leistungen dieses sogenannten Unrechtsbereinigungsgesetzes gehört aber natürlich nicht nur die Kapitalentschädigung. Insbesondere die gesundheitlichen Schäden sollen über soziale Ausgleichsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz kompensiert werden. Auch dies ist ein sensibler Punkt. Wir werden in den Ausschußberatungen sehr genau darauf sehen müssen, ob hier tatsächlich das Niveau der Leistungen erreicht wird, welche den Verfolgten des Naziregimes gewährt worden sind.
Dies gilt nicht zuletzt auch für die Rentenansprüche. Hier stehen die Regelungen zu den Anrechnungszeiten genauso in der Diskussion und werden kritisch hinterfragt werden wie die Situation der Rentenansprüche überhaupt. Meine Damen und Herren, wir alle werden uns auch gerade dann, wenn wir den Anspruch erheben, SED- und NS-Opfer gleichbehandeln zu wollen, an die Sonderleistungen der VVNRenten erinnern müssen, die vor wenigen Wochen in diesem Parlament beschlossen bzw. bestätigt worden sind. Der kleine Mann auf der Straße wird diesen Vergleich ziehen, und auch wir müssen uns fragen, ob dieses Gesetz davor bestehen kann.
Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur Kostenregelung des § 20. Die Bundesregierung sieht hier vor, die Wiedergutmachungskosten jeweils zur Hälfte durch den Bund und durch die Länder, in welchen die Leistungen nach diesem Gesetz entstehen, tragen zu lassen. Der Bundesrat hat sich eindeutig gegen eine solche Kostenverteilung positioniert. Er schlägt statt dessen eine ausschließliche Finanzierung durch den Bund vor,
wie das beim Häftlingshilfegesetz, wo es sich bei den Betroffenen um den gleichen Personenkreis handelte, ebenfalls praktiziert worden ist.
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Rolf Schwanitz
Ich möchte mich an dieser Stelle nicht auf einen Streit an Hand des Grundgesetzes einlassen oder etwa fragen, ob diese Wiedergutmachungsleistungen Kriegsfolgekosten sind und im Sinne des Art. 120 GG in vollem Umfang vom Bund zu tragen sind. Mir ist etwas anderes wichtig: Die Aufwendungen für diese Wiedergutmachungsleistungen werden im weitaus größten Umfang in den neuen Bundesländern entstehen, dort, wo eben die meisten Opfer wohnen. Dort soll nach dem Willen der Bundesregierung auch die größte Belastung getragen werden, und dies angesichts fehlender finanzieller Mittel und vor dem Hintergrund schier unlösbarer Aufgaben beim wirtschaftlichen Aufbau. Ich werde den Verdacht nicht los, daß hier eine bewußte Stimulierung der jeweiligen Landesregierungen vorgesehen dahin gehend ist, sich bei den Gesetzesberatungen mit weitergehenden Forderungen, beispielsweise bezüglich einer Erhöhung der Kapitalentschädigung, möglichst zurückzuhalten.
Auch von diesem Verdacht, meine Damen und Herren, sollte sich die Bundesregierung befreien.
Lassen wir die neuen Bundesländer nicht für etwas bezahlen, wozu sie erstens finanziell nicht in der Lage sind — sie kündigen für den Fall des Inkrafttretens dieser Regelung bereits jetzt die Forderung nach einem eigenständigen Länderfinanzausgleich zu diesem Zweck an — und was zweitens, zeitlich gesehen, weit vor ihrer Existenz geschehen ist! Die DDR ist nicht den Bundesländern, sondern nach Art. 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik insgesamt beigetreten. Dies müßte auch bei der Kostentragung berücksichtigt werden.
Ein Gesetz, mit Knebel beraten und auf Sparflamme exekutiert, das ist genau das, was wir alle hier, so hoffe ich, nicht wollen. — Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Luther.
Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Was kostet ein Leben? Einige, die vorgeben, die Opfer der stalinistischen Verfolgung zu vertreten, behaupten, daß die gerichtliche Rehabilitierung überflüssig sei, weil die Betroffenen darauf keinen Wert legten, da die Entschädigung im Vordergrund ihres Interesses stehe. Wenn das stimmt, dann reden wir heute über den Preis von verlorenen Lebenstagen. Ich verwahre mich dagegen und befinde mich damit in Einklang mit vielen Betroffenen gerade aus den neuen Ländern.
Die moralische Aufarbeitung der Vergangenheit ist für den einzelnen in seinem Lebensumfeld wichtig, da er hier, staatlich verordnet, als Straftäter gebrandmarkt am Rande der Gesellschaft leben mußte. Die Menschen wurden in Verfahren, deren Ziel die SED vorgab, zum Beispiel wegen „landesverräterischer Nachrichtenübermittlung", „staatsfeindlichen Menschenhandels", „staatsfeindlicher Hetze" , „ungesetzlicher Verbindungsaufnahme" , „ungesetzlichen
Grenzübertritts" oder „Boykotthetze" gemäß Art. 6 der Verfassung der DDR verurteilt und politisch verfolgt. Als besonders eklatante Verstöße gegen Grundsätze einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung sind hier die sogenannten Waldheim-Prozesse zu nennen.
Diese und die nach den eben genannten Vorschriften gefällten Urteile werden mit diesem Gesetz grundsätzlich aufgehoben und bedürfen demzufolge auch keiner Einzelfallprüfung. Bei einer Erweiterung der Liste ist zu bedenken, ob es dann zu einer Vermischung von wirklichen und politisch motivierten Straftatbeständen kommen kann. So wurden zum einen Demonstranten, die für Menschenrechte eintraten, nach den Vorschriften über „Rowdytum" — also politisch motiviert — verurteilt, zum anderen aber auch Rowdies und Randalierer. Die Gerichte müssen im Einzelfall darüber befinden, wann eine Entscheidung politischer Verfolgung gedient hat. Es können alle Urteile und Entscheidungen aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 aufgehoben werden, die mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind. Maßstab sind also nicht die Verfassung und die Strafvorschriften der ehemaligen DDR.
Der aufgeführte Katalog dient der Verfahrensvereinfachung. Das ist aus meiner Sicht im Sinne der Betroffenen sehr zu begrüßen. Der Antrag kann ohne Antragsfrist vom Betroffenen oder von nahen Verwandten gestellt werden. Sie können sich durch einen Rechtsanwalt oder durch eine gerichtlich autorisierte Person vertreten lassen. Niemand braucht Angst vor der Antragstellung oder vor dem gerichtlichen Verfahren zu haben, da Kosten des Verfahrens nicht entstehen und der finanziell schlechter gestellte Antragsteller sich gleichwohl anwaltlich vertreten lassen kann, weil der Entwurf die Gewährung von Prozeßkostenhilfe vorsieht.
Bei Aufhebung einer Entscheidung besteht Anspruch auf Vermögensrückgabe und Erstattung von Geldstrafen, und es wird ein Anspruch auf soziale Ausgleichsleistung für die dem Betroffenen durch die Freiheitsentziehung entstandenen materiellen und gesundheitlichen Nachteile begründet. Sie beträgt 300 DM je angefangenen Kalendermonat.
Betroffene, die nach der Haft in der DDR dauerhaft, also bis zur Grenzöffnung am 9. November 1989, verbleiben mußten, hatten weiterhin eine erhebliche Diskriminierung, Schikanierung und andere Nachteile zu ertragen. Sie bekamen oft keine vernünftige Wohnung, konnten nur sehr schwer eine Arbeitsstelle finden, waren von vielen Dingen ausgeschlossen. Dagegen konnten politische Häftlinge, die das Glück hatten, nach ihrer Haft in die alte Bundesrepublik zu kommen, zahlreiche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen und sind heute oft saturierte Bürger dieses Landes. Ich bin froh für sie, daß es so ist, und sie sollen auch die Haftentschädigung, wie der Gesetzentwurf es vorsieht, erhalten, aber ich glaube, daß die Betroffenen, die bis zum Schluß den SED-Staat ertragen mußten, die höhere soziale Ausgleichsleistung von 450 DM anerkannt erhalten sollten.
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Dr. Michael Luther
Eine weitere gute Regelung ist, daß Berechtigte, die sich heute, sicherlich oft infolge der politischen Verfolgung, in einer wirtschaftlich besonders beeinträchtigten Lage befinden, durch die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge gefördert werden sollen. In der Regel werden Mindestrentenbezieher, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Invaliden, die auch in einem absehbaren Zeitraum die wirtschaftlich beeinträchtigte Lage nicht überwinden können, Anspruch auf weitere 150 DM je Haftmonat haben. Dies wird vielen, gerade in den neuen Bundesländern, insgesamt einen Betrag von 600 DM je Haftmonat zustehen lassen. Diese Regelung möchte ich, weil sie nicht in Richtung der von mir eingangs gestellten provokatorischen Frage nach dem Preis für verlorengegangene Lebenstage zielt, sondern Bedürftigen helfen soll, nachdrücklich begrüßen.
Ich bin aber nicht mit allem einverstanden, was im Gesetzentwurf steht. Der Gesetzentwurf sieht vor, daß Ansprüche auf die genannten sozialen Ausgleichsleistungen nicht vererbbar sind. Zumindest die engere Familie, die Frau, die Kinder, oft auch die Geschwister, wurden nach dem Prinzip der Sippenhaft aber meist nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen. Deshalb sollte nach meiner Meinung eine begrenzte Vererbbarkeit vorgesehen werden;
zumindest soll nicht die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, sondern der Termin der Antragstellung maßgebend sein.
Der Bund stalinistisch Verfolgter hat mich in seiner Mitgliederversammlung am 16. November dieses Jahres in Zwickau gebeten, die Kollegen des Deutschen Bundestages, den Bundesrat und die Justiz zu drängen, ja sie zu bitten, sich — ich zitiere — zu beeilen, die vielen Opfer gerecht zu rehabilitieren und zu entschädigen, wollen sie eine biologische Lösung vermeiden.
Wir sollten im Interesse der Opfer alles unternehmen, was das Gesetzgebungsverfahren beschleunigt, und alles vermeiden, was es verzögert.
Ich rede hier besonders von den Betroffenen in den neuen Bundesländern und von deren Verbänden. Ihre Stimme ist leise. Deshalb sollten wir genau hinhören, was sie zu sagen haben. Nicht wer am lautesten schreit, hat am meisten recht, wie es der Alltag in Deutschland oft scheinen läßt. Das wäre eine schlechte politische Kultur. Gerade die leisen Töne, das Einfühlen in den schwierigen Prozeß, der in den neuen Ländern abläuft, das Verstehen und das Mittragen der notwendigen unvorstellbaren Umwandlungen und eruptiven Veränderungen in den neuen Ländern zeichnet die Menschen in meiner Heimat aus. Ich halte das für eine gute politische Kultur, die wir von hier aus befördern und nicht durch Nichtbeachten zerstören sollten. Leisten wir unsere Arbeit schnell — im Sinne der Betroffenen!
Danke schön.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kann vergangenes Unrecht trotz seiner Vergangenheit wiedergutgemacht werden? Der christliche Glaube gibt auf diese Lebensfrage eine bejahende, eine optimistische Antwort. Aber dieser Glaube ist nicht jedes Mannes und jeder Frau Sache. Das Recht aber ist etwas, was jeder Frau, jedem Mann, jedem menschlichen Wesen zusteht.
Woher also nehmen wir den Optimismus, Unrecht wiedergutzumachen, bei dem es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ganze Menschengruppen, die einer der großen politischen Katastrophen unseres Jahrhunderts zum Opfer gefallen, in ihrer Menschenwürde beleidigt und in ihren persönlichen Rechten beschädigt und diskriminiert worden sind? Wir nehmen ihn aus dem gleichen Mut, mit dem die Väter und Mütter des Grundgesetzes den Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde an dessen Spitze gesetzt haben, nachdem diese Würde millionenfach so angetastet wurde, daß sie ebensooft zerstört schien. Dieser Mut entstammt der Gewißheit, daß die Menschenwürde uns mit allen denen gemeinsam ist, die deren Verletzung erlitten haben. Allein aus dieser Gemeinschaft mit den Opfern, mit den Betroffenen können wir jetzt den Mut schöpfen, das Unrecht zu bereinigen, das hinter der Berliner Mauer, an den Stacheldrahtgrenzen und in Stasi- und anderen Kerkern begangen worden ist.
Hierzu bedarf es des ganzen Mutes und der gesammelten Energie aller Verfassungsorgane unserer Demokratie; ist es doch staatliches Handeln gewesen, das, statt Recht zu sprechen, zu sichern und zu erneuern, Unrecht getan, Recht zerstört hat mit den Mitteln der öffentlichen Sicherheit, der Gesetzgebung und der Justiz.
Wir können nicht mehr davon ausgehen, daß etwas an und für sich Recht sei, weil es durch den Staat gesetzt und realisiert worden ist. Seit der Barbarei zweier Weltkriege können die beteiligten Staaten nicht mehr durch ihre bloße Existenz die Autorität beanpruchen, daß etwas Recht sei, weil sie es zum Gesetz gemacht haben. Ihre Legalität ist erst dann eine legitime, wenn sie sich an den kanonischen Maßstäben des Menschenrechts und der Menschenwürde gemessen und bewährt hat.
Es ist wichtig, daß die Gesetzgebung des geeinten Deutschland zu erkennen gibt, sie sei willens, sich diesem Maßstab zu unterstellen.
Die Verabschiedung des MfS-Unterlagen-Gesetzes und die erste Lesung des Unrechtsbereinigungsgesetzes sollten — abgesehen von ihrem Inhalt — als ein politisch-moralischer Akt anerkannt werden, in welchem sich die Demokratie mit denen solidarisiert, deren Menschen-, Bürger- und Bürgerinnenrechte in der Vergangenheit verletzt worden sind.
In diesem Sinne kommt dem Namen des vorliegenden Entwurfs besondere Bedeutung zu. Es ist ein er-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5387
Dr. Wolfgang Ullmann
stes Unrechtsbereinigungsgesetz, weil ihm in weiteren Gesetzgebungsschritten andere folgen müssen. Aber kann der Entwurf in der jetzigen Form diesem gewaltigen Anspruch gerecht werden? Ich denke, daß es hier noch erheblicher Arbeit und eingehender Diskussionen bedarf, ehe wir uns zufriedengeben können, auch wenn das schnell geschehen muß.
Ein Gesichtspunkt verdient dabei besondere Aufmerksamkeit. Der Entwurf versucht, das Verfahren der Kassation von Urteilen mit dem Ziel der Rehabilitation zu verbinden. Aber wird das der Aufgabe gerecht, die die Gesetzgebung hier zu lösen hat, nämlich flächendeckende und ganze Bevölkerungsteile verletztende Rechtszerstörung aufzuheben, an ihrer Stelle Recht wiederherzustellen? Niemand beurteile das als eine abstrakte Prinzipienfrage. Nicht ohne Grund geraten wir mit dem Begriff der Rehabilitation in die Nähe einer fatalen Praxis kommunistischer Parteien, die, nachdem sie Hekatomben aus den eigenen Reihen moralisch und physisch vernichtet hatten, dieselben Leute nachträglich rehabilitierten, als seien sie von einem Makel zu befreien, der ihnen anhaftet, weil sie Opfer politischer und terroristischer Repression geworden waren. Nein, wenn sich hier jemand einen Makel zugezogen hat, dann war es die Rechtsprechung, deren Opfern wir jetzt nicht Rehabilitation, sondern Gerechtigkeit, Respekt und eine angemessene Entschädigung schulden.
Ganz und gar unbefriedigend ist darum die in § 1 vorgesehene Regelung, an Hand einer Aufzählung einen bestimmten Bereich auf Antrag kassationsfähiger Urteile zu konstatieren, auch wenn laut § 7 Abs. 1 der Antrag vom Staatsanwalt gestellt werden kann.
Das analoge CSFR-Gesetz vom 23. April 1990 weist hier den richtigen Weg, indem es Gerichtsentscheidungen — ich zitiere — , „die im Widerspruch zu den Prinzipien einer demokratischen, die bürgerlichen und politischen Rechte und Freiheiten respektierenden Gesellschaft stehen, " generell aufhebt und ausdrücklich hinzufügt, daß in dieser Gerichtspraxis, wie sie eben zitiert wurde, gegen geltendes Recht, nämlich die allgemeinen Menschenrechtserklärungen und an sie anschließende völkerrechtliche Abkommen, verstoßen worden sei.
Eine solche Philosophie des Herangehens an das SED-Unrecht würde viel deutlicher als bisher dazu zwingen, von einer Bringschuld des Staates und auch von der vorrangigen Verbindlichkeit des Bundes, und zwar auch der finanziellen, auszugehen und ihn z. B. auch für völkerrechtliche Weiterungen der fälligen Unrechtsbereinigungen, etwa gegenüber der Sowjetunion und deren Militärgerichten nach 1945, auf die ja hingewiesen worden ist, verantwortlich zu machen.
Wir meinen, dafür eintreten zu müssen, daß der Entschädigung der Stalinismus- und SED-Opfer auch bei der Bemessung des finanziellen Rahmens eine deutliche Priorität gegenüber anderen Entschädigungsansprüchen eingeräumt wird. Sollen für die Entschädigung wegen der Enteignung von Grundstücken, Häusern und Gewerbebetrieben mehrere Milliarden zur Verfügung gestellt werden, für die Opfer, denen ganze Biographien zerstört worden sind, nicht einmal 2 Milliarden?
Auch wenn die juristischen Schwierigkeiten noch so groß sind: Parlament und Regierung sollten alles daransetzen, dem Entwurf des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes bald, d. h. spätestens bis zum 1. Mai 1992, Initiativen zur beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung folgen zu lassen.
Auf das Problem hinsichtlich der Zwangsausgesiedelten hat bereits der Herr Justizminister hingewiesen. Ich habe heute früh noch eine dringende Petition der Frauen auf den Tisch bekommen, die von der Sowjetarmee unmittelbar nach Kriegsende in die Sowjetunion verschleppt und dann in die ehemalige DDR entlassen worden sind. Sie durften über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, nicht einmal reden. Auch an sie müssen wir in diesem Zusammenhang erinnern
und unsere Verpflichtung ihnen gegenüber anerkennen.
In diesem Zusammenhang sei auf II Ziffer 2 des Antrages der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN verwiesen, auf den Gedanken an eine Stiftung für alle Opfer der SED-Willkür. Hier könnten sich eine Entlastung für juristisch schwer lösbare Einzelfälle und ein Weg ausgleichender Gerechtigkeit abzeichnen.
Keinesfalls aber sollte bei der Behandlung dieser menschlich so schwerwiegenden Sachverhalte beim parlamentarischen Beratungsverfahren auf eine angemessene Anhörung von Betroffenen und Sachverständigen verzichtet werden. Unrechtsbereinigung wird nur gelingen, wenn sie gemeinsam mit denen angegangen wird, die die Erfahrung des Unrechts erlitten haben.
Als nächster spricht Dr. Bertold Reinartz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stellen heute gemeinsam erneut fest: Ein Unrechtsregime, das alle Möglichkeiten staatlicher Disziplinierung und Knechtung eingesetzt hat, läßt sich für den nicht unmittelbar Betroffenen nur sehr schwer in seinem gesamten Unrechtsgehalt begreifen. Wir wissen, daß der Staatsterror jede Wohnung, jeden Familienangehörigen, jeden Arbeitsplatz erreichen konnte.
Nach der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes betreten wir jetzt den Bereich der Anwendung des Staatsterrors durch die Strafjustiz. Dieser Staatsterror nährte sich aus den Früchten der widerwärtigen Arbeit des Staatssicherheitsdienstes. Ein Staat, der sich selbst einmauerte und damit sich zu einem einzigartigen Gefängnis erniedrigte, schuf Institutionen,
5388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Bertold Reinartz
die als wichtigstes Ziel im Auge hatten, durch Willkür Menschen gefügig zu machen. Dies geschah mit ungeheurer krimineller Intensität, wohl wissend, daß es dem Menschsein widerspricht, in Erniedrigung und Selbstverleugnung zu verharren. Deshalb verdienen all diejenigen unseren hohen Respekt, die sich nicht haben beugen lassen, die um ihrer Überzeugung willen Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbringen mußten, getrennt von ihren Familien, in einem sinnentleerten Dasein.
Dieser Respekt läßt keine Unterscheidung zu zwischen denen, die freiwillig den Weg aus dem Staatsgefängnis in die alte Bundesrepublik suchten oder unfreiwillig abgeschoben wurden, und denen, die an, Widerstandskraft ungebrochen, den Kampf für Menschenrechte und Freiheit in der damaligen DDR fortsetzten, und denen, deren Widerstandskraft für das weitere Leben in der DDR gebrochen wurde. Für sie alle gilt, daß sie ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Gesundheit, berufliches Fortkommen, persönliche Entfaltung — alles häufig auch zu Lasten ihrer Familie — aufs Spiel setzten und dieser Rechtsgüter beraubt wurden.
Niemand sollte vergessen, daß durch den Mut dieser Menschen schließlich das totalitäre Schreckenssystem überwunden werden konnte. Weil der Staatsterror so komplex war, weil sich hinter jedem Betroffenen ein persönliches, individuelles Schicksal offenbart, ist jede gesetzliche Regelung so ungeheuer kompliziert und schwierig. Eine gesetzliche Regelung soll einen Sachverhalt typisiert erfassen und regeln. Gefordert und gewünscht ist jedoch ausgleichende individuelle Gerechtigkeit, ein Ziel, das auch einem Rechtsstaat die Grenzen bei seinem Bemühen um Gerechtigkeit gegenüber jedermann aufzeigt.
In 40 Jahren konnte sich SED-Staatsunrecht verfeinern, sich immer mehr vernetzen und schließlich alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens erfassen. Der heutige Gesetzentwurf ist ein erster Schritt, das Staatsunrecht aufzuarbeiten. Unrechtsbereinigung, wie es der Name des Gesetzes vermitteln möchte, wird dabei ein Versuch bleiben. Begangenes Unrecht ist erlittenes Unrecht, und erlittenes Unrecht ist schließlich nicht zu bereinigen.
Unser Versuch muß es sein, erlittenes Unrecht auch als Unrecht festzustellen und daraus die für unseren Rechtsstaat entwickelten Folgerungen zu ziehen. Es gilt, die aus der mißbrauchten Staatsgewalt abgeleiteten und Wirklichkeit gewordenen Strafurteile zu beseitigen und Genugtuung zu geben, auch wenn erlittenes Leid nicht zu beseitigen ist.
Genugtuung heißt auch „genug tun". Unter diesem Kriterium ist auch der heutige Entwurf sorgfältig zu prüfen. Vieles, was im Ansatz zunächst fragwürdig erscheint, wird im Gesetzentwurf bei näherer Betrachtung und in der Diskussion plausibel und richtig. Aber immer bleibt — dessen müssen wir uns ebenfalls bewußt bleiben — , daß dieser auf die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern infolge rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen abzielende Entwurf schließlich keine Wiedergutmachung im
Sinne des Wortes „wieder gut machen" erreichen kann.
Zu Recht sieht deshalb der Entwurf eine Rehabilitierung dann vor, wenn eine strafrechtliche Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist. Diese Generalklausel wird beispielhaft mit Straftatbeständen belegt, die nur eine Regelvermutung darstellen und keinen Ausschließlichkeitscharakter haben.
Verständlich ist der Wunsch, den Katalog der beispielhaft aufgezählten rechtsstaatswidrigen Strafnormen zu erweitern, weil häufig auch andere Strafgesetze Grundlage einer rechtsstaatswidrigen Verurteilung waren.
Die Höhe der Entschädigung wird immer diskussionsfähig bleiben. Eine Forderung muß die Regelung der Höhe der Entschädigung allerdings erfüllen: Sie muß einem Vergleich mit anderen Entschädigungsregelungen standhalten, d. h. sie muß sowohl im Hinblick auf den Entschädigungssachverhalt — also das zu entschädigende Rechtsgut — wie auch in ihrer tatsächlichen Höhe vergleichbar sein. Hierüber bestehen, wenn man die heutigen Diskussionsbeiträge einmal wertet, noch erhebliche Meinungsverschiedenheiten.
Vergleichsmöglichkeiten besitzen wir durch das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, aber auch durch das Bundesentschädigungsgesetz, und zwar sowohl — da gebe ich Herrn Kollegen Schwanitz recht — in der Höhe als auch im Hinblick auf die zu entschädigenden Rechtsgüter.
Der Gesetzentwurf verwendet den Begriff „soziale Ausgleichsleistung". Viele Betroffene wollen jedoch als Abgeltung ihrer Haft keine soziale Ausgleichsleistung. Sie wollen eine angemessene und dem Vergleich standhaltende Entschädigung. Allerdings wird jeder Versuch scheitern, zwischen Freiheitsentziehung und Entschädigung eine Art Konvertibilität herbeizuführen.
Niemand wird auch nur im Ansatz annehmen wollen, einen angemessenen Ausgleich mit 10 DM für einen Tag Gefängnis herbeiführen zu können. Die Unmöglichkeit, Freiheitsstrafen mit Geld zu konvertieren, führt zwangsläufig doch zu einer sozialen Gewichtung, jedoch nicht als mildtätige Gabe, sondern als Entschädigungsleistung, die in ihrer Höhe — und zwar unabhängig von der dann schließlich im Gesetzgebungsverfahren tatsächlich gefundenen Höhe — immer unzureichend sein wird. Freiheit kennt keinen Preis. Dies ist bei aller verständlichen Kritik der Opferverbände mit zu berücksichtigen, wenn es um die Definition der Entschädigung als soziale Ausgleichsleistung geht.
Ich bekenne, daß für mich selbst der finanzielle Ausgleich ein Thema sein wird, bei dem weitere Überlegungen notwendig sind, und zwar hinsichtlich des Begriffs selbst, der Höhe und der zu entschädigenden Rechtsgüter.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5389
Dr. Bertold Reinartz
Der Entwurf sieht eine zusätzliche Kapitalentschädigung von 150 DM für jeden Kalendermonat für diejenigen vor, die bis zum 9. November 1989 in der DDR gewohnt haben. Diese Regelung stößt auf Kritik. Zu ihrer Rechtfertigung wird angeführt, daß die vorher in die Bundesrepublik Übergesiedelten keine weitere Diskriminierung nach Ableistung der Freiheitsstrafe oder andere Nachteile zu erleiden hatten. Es handelt sich hierbei um den Versuch, bei aller notwendigen Abstraktheit der Regelung bei einer Personengruppe im Regelfall zusätzlich erlittene Nachteile zu entschädigen.
Bei aller Berechtigung des gedanklichen Ansatzes ist zu befürchten, daß dieser Versuch nicht gelingen kann. Zunächst gibt es diejenigen, die nicht allzu lange vor dem 9. November 1989 in die Bundesrepublik übergesiedelt sind, aber dennoch nach ihrer Haft unter Diskriminierung und anderen Nachteilen dauerhaft zu leiden hatten. Zudem erscheint es fragwürdig, ob die Anknüpfung an die tatsächliche Haftzeit für den zu zahlenden Erhöhungsbetrag zu einem auch nur annähernd gerechtfertigten Ausgleich für sehr unterschiedliche Diskriminierungen und Nachteile im Anschluß an die Haftzeit führen kann.
Derjenige, der zwölf Monate Freiheitsstrafe verbüßen mußte, kann in der Folgezeit erheblich mehr an Nachteilen erlitten haben als derjenige, der drei Jahre Freiheitsstrafe absitzen mußte, sich jedoch in den Augen des Systems zu einem sogenannten „verantwortlichen Staatsbürger" entwickelt hat. Hinzu kommt, daß viele, die im Anschluß an ihre Haft in die Bundesrepublik durch Freikauf oder andere Maßnahmen übersiedeln konnten, durchaus härteren und eingreifenderen Maßnahmen während der Zeit ihres DDRLebens ausgesetzt sein konnten.
Es gibt natürlich den Gesichtspunkt, daß diejenigen, die vor längerer Zeit in die Bundesrepublik übersiedeln konnten, hier neue Chancen hatten, die den in der DDR Verbliebenen verwehrt waren. Dieser gedankliche Ansatz ist zweifellos zutreffend. Doch was ist mit denjenigen, die sich in ihrem neuen Leben hier nicht haben zurechtfinden können? Sind nicht auch Fälle denkbar, in denen der Kampf gegen das Unrechtssystem viel intensiver geführt wurde von denjenigen, die nach ihrer Haft nicht mehr geduldet waren und übersiedeln mußten bzw. konnten?
Der einzig abgrenzbare Sachverhalt ist der der tatsächlichen Haftzeit. Deshalb wurde an ihn die Erhöhung für nachfolgende Diskriminierungen und Nachteile angeknüpft. Doch die Frage bleibt: Sind diese nachfolgenden Diskriminierungen und Nachteile in der vorgesehenen Weise pauschalierbar?
Ziel des Gesetzes ist es, verlorene Lebenszeit durch Entschädigung von Unrecht-Haftzeiten auszugleichen. Das Leid einer ungerechtfertigten Haft bleibt, gleich, ob der spätere Lebensweg in die Bundesrepublik — früher oder später — führte. Der Haftzeit folgende Diskriminierungen und Nachteile sind Unrechtstatbestände, die in einem zweiten Schritt erfaßt und geregelt werden müssen, und zwar sowohl die Rehabilitierung von beruflichem wie auch von Verwaltungsunrecht.
Lassen Sie mich wegen der Kürze der Zeit nur noch einige weitere Fragen stellen; die Antworten werden in der weiteren Beratung gefunden werden müssen. Ist es sachgerecht, die Ehegatten auf die Unterstützungsleistung des § 18 und im übrigen nur auf die Hinterbliebenenversorgung zu verweisen? Gibt es nicht auch ein Bedürfnis nach öffentlicher Verlautbarung über seinerzeitiges gerichtlich verkündetes und vollstrecktes Unrecht? Ich meine, es sollte in der weiteren Diskussion noch einmal der Frage nachgegangen werden, ob nicht zusätzlich neben der Aufhebung der Gerichtsentscheidung eine Veröffentlichung dieser Aufhebung auf Antrag des Betroffenen erfolgen kann. Dies muß nicht durch Zeitungsveröffentlichung, sondern kann wie andere öffentliche Bekanntmachungen auch durch Aushang geschehen. Vielen Menschen wird es guttun, die schriftliche Bestätigung über erlittenes Unrecht in Händen zu halten. Aber kann es nicht auch guttun, in dieser Form eine öffentliche Anerkennung der Rehabilitierung zu erfahren?
Diese und andere Fragen werden in der weiteren Beratung zu klären sein.
Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Reinartz, Sie haben gerade davon profitiert, daß Ihre Fraktion noch etwas Redezeit übrig hatte und ich ungern bei so einem Thema mit dem Hinweis auf die Zeit unterbreche. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, daß Sie Ihre Redezeit um über zweieinhalb Minuten überzogen haben. Das nächste Mal kann ich nicht so tolerant sein.
Nun hat der Kollege Hartmut Büttner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag diskutiert zum zweiten Mal in wenigen Wochen einen Gesetzentwurf, der die Aufarbeitung von DDR-Unrecht zum Ziel hat. Nach dem Stasi-Unterlagengesetz versuchen wir mit dem Unrechtsbereinigungsgesetz, den Opfern der kommunistischen Diktatur erneut in einer zentralen Frage ein Stück Gerechtigkeit entgegenzubringen.
Gesetze und Maßnahmen müssen folgen, um den Menschen in den fünf neuen Bundesländern glaubhaft zu beweisen, daß die Bundesrepublik Deutschland alles Menschen- und finanziell Mögliche unternimmt, um Gerechtigkeit auch erlebbar zu machen. Die Wunden der letzten 45 Jahre sind noch lange nicht geheilt, geschweige denn vernarbt. Das Ausmaß des den Menschen zugefügten Leides ist erschrekkend.
Wir müssen auch an dieser Stelle an die Zeit nach dem Krieg erinnern, als Tausende durch die sowjetische Militärverwaltung abgeurteilt, interniert und deportiert worden sind. Ich denke daran, daß in diesen Jahren ehemalige Nazi-Konzentrationslager wie Buchenwald umfunktioniert und zu Lagern des neuen roten Faschismus wurden. Ich spreche das Massengrab von Oranienburg an, das zeigt, daß zwar die Machthaber wechselten, die Unterdrückungsmetho-
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Hartmut Büttner
den gegenüber Andersdenkenden sich aber kaum unterschieden.
Wir müssen auch daran erinnern, daß nach Gründung der DDR das Strafrecht zum Kampfinstrument der SED-Herrschaft verkommen ist. Bewußt sind unbeugsame Bürger zu Verbrechern gestempelt worden. Die Grenzlinien zwischen politisch Inhaftierten und kriminellen Straftätern wurden gezielt verwischt. Die Kriminalisierung der politischen Opfer war Methode, da es offiziell keine politischen Gefangenen zu geben hatte.
Auch in dieser Stunde muß als Ausgangslage für Unrechtsbereinigung auf Schikanen, Willkür und unmenschliche Haftbedingungen hingewiesen werden. Ca. 200 000 Menschen sind durch die Kerker der sowjetischen Besatzungszone und der DDR gegangen. 200 000 Menschen allein aus politischen Gründen! Man kann daran messen, wieviel Tränen, Herr Heuer, dieses Regime zu verantworten hat. Bautzen, Cottbus, Hoheneck sind Symbole dieses Staatsterrors.
Wenn man dies alles reflektiert, dann erfüllt es mit besonderer Bitternis, daß die Medien die Opfer dieser Zeit offensichtlich vergessen haben. Dann empfindet man es als Skandal, daß die neuen Stars der Talkshows und Klatschspalten die Täter von gestern sind.
Um so deutlicher, meine Damen und Herren, liegt die Verpflichtung besonders auf uns, den Abgeordneten der neuen Bundesländer, daß wir uns den Opfern der SED-Herrschaft zuerst und zunächst zuwenden. Es ist richtig, daß die Entschädigung für enteignete Betriebe und Liegenschaften erst nach den Regelungen zugunsten der Verfolgten und Häftlinge der kommunistischen Diktatur vorgenommen wird.
Wir begrüßen die Vorlage eines Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes ausdrücklich. Dab ei möchte ich darauf hinweisen, daß wir heute, Herr Ullmann, erst den Startschuß für die parlamentarische Diskussion geben. Ein fertiges Gesetz steht immer erst am Ende der Beratung. Die heutige erste Lesung sollte auch als Einladung für alle interessierten Bürger und Verbände gesehen werden, uns ihre Meinung und ihre Verbesserungsvorschläge mitzuteilen. Vielleicht — meine Damen und Herren im Rechtsausschuß, Sie sind da federführend — wäre eine Anhörung ein zweckmäßiges Instrument, und vielleicht kann diese Anhörung in Buchenwald, in Bautzen oder in Mühlhausen stattfinden.
Betroffene Ortschaften gibt es in den neuen Bundesländern genug.
Niemand wird durch Zahlung von Geld erlittenes Unrecht auch nur annähernd ausgleichen können. Das ist hier deutlich genug gesagt worden. Aber wir können durch die Aufhebung ungerechtfertigter Urteile und durch eine deutlich verbesserte Entschädigung die Folgen mildern.
Wir danken der Bundesregierung, daß sie als Auftrag der Bundestagsdebatte von Mai dieses Jahres unverzüglich einen Gesetzentwurf eingebracht hat. Dieser Entwurf schafft Regelungen in wichtigen — ich will sagen: in den wichtigsten und dringendsten — Bereichen. Die Aufhebung von Unrechtsurteilen wird beschleunigt und die Haftopfer der roten Diktatur erhalten eine wesentlich verbesserte Entschädigung. Sie könnte natürlich noch höher sein. Die gerichtlichen Verfahren der Entschädigung und Rehabilitierung werden in einem Zuge durchgeführt.
Besonders positiv ist die Einbeziehung der Opfer willkürlicher, rechtsstaatswidriger Einweisung in psychiatrische Anstalten. Verurteilte durch die sowjetische Besatzungsmacht erhalten ebenfalls erstmals einen Entschädigungsanspruch. Hier geht die Bundesregierung positiverweise erheblich weiter als die Volkskammer. Ich möchte allerdings auch hier ganz herzlich bitten, daß alle diplomatischen Kanäle genutzt werden, um zu einer Aufhebung von Hoheitsakten der ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht zu kommen.
Ich finde es ebenfalls außerordentlich positiv, daß sich die Bundesregierung bei der Höhe der Entschädigungsleistung an der Entschädigung für NS-Opfer orientiert hat. Damit hat sie eine Forderung des ganzen Hohen Hauses aus der Maidebatte erfüllt. Natürlich, meine Damen und Herren — das zeigt diese Debatte auch —, kann man sich auch noch höhere Entschädigungszahlungen vorstellen. Es ist auch wahr, daß wir beim Ausgleich erlittenen Unrechts nicht beckmesserisch vorgehen können, aber genauso wahr ist es, daß wir die Gesamtpakete unserer Ausgaben auch insgesamt finanzieren müssen. Unter diesem Aspekt halte ich die Zahlung von 450 DM bis 600 DM pro Haftmonat in den neuen Bundesländern für vertretbar und für durchaus angemessen.
Wenn man noch hinzuzählt, daß die Entschädigung von keinerlei steuerlicher Belastung erfaßt ist, daß Opfer, die Gesundheitsschäden erlitten haben, nach dem Bundesversorgungsgesetz besondere Sozialleistungen erhalten, daß die Haftzeiten rentenerhöhend berücksichtigt werden und daß die Hinterbliebenen ebenfalls in den Leistungsrahmen einbezogen werden, dann ist wahrlich ein guter Anfang gemacht.
Daß in der ersten Lesung noch Fragen offenbleiben, ist nur natürlich. Hierzu zählt auch die Heranziehung der neuen Länder zu den Gesamtkosten von 1,5 Milliarden DM. Ich sage jetzt vielleicht etwas Unpopuläres, aber man sollte doch noch einmal überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, auf der einen Seite die Transferleistungen in die jungen Bundesländer zu erhöhen und sie auf der anderen Seite bei solchen einmaligen finanziellen Leistungen erneut zur Ader zu lassen und damit die ohnehin schon leeren Landeskassen erneut
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5391
Hartmut Büttner
auszufegen. Diese Frage sollte einmal zwischen Bund und Ländern geprüft werden.
— Wir reden darüber? — Sehr schön!
Die Heranziehung des restlichen SED-Vermögens ist nach dem Verursacherprinzip eine sinnvolle Finanzierungsquelle.
Wer Unrecht verursacht hat, darf ruhig bei der Bewältigung seinen Beitrag leisten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch einen Satz zur PDS sagen. Es ist würdelos, daß die PDS als legitimes Kind der alten SED
die vielen Stunden der Debatten zum Stasi-Unterlagengesetz und jetzt zum Unrechtsbereinigungsgesetz nicht dazu genutzt hat, nur ein einziges Mal ihre historische Schuld zu bekennen und sich bei den zahllosen Opfern der Diktatur des Proletariats zu entschuldigen.
Eine wirkliche Bereinigung des SED-Unrechts wird allerdings erst dann erreicht werden, wenn neben Rehabilitation und Entschädigung auch die Täter ihrer Verantwortung zugeführt worden sind.
Vergessen wir nicht, daß der Rechtsstaat auch daran gemessen wird, ob es gelingt, die Peiniger von gestern strafrechtlich zu verfolgen. Hierzu muß Bund und Ländern mehr einfallen als das, was zur Zeit von den Berliner Justizbehörden geleistet werden kann.
Zu überlegen ist, ob uns nicht eine Bund-Länder-Zentralstelle zur Bekämpfung von DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität mit Sitz in Berlin weiterhelfen kann. Mit der Zentralstelle zur Bekämpfung von NS-Unrecht in Ludwigsburg sind keine schlechten Erfahrungen gemacht worden. Die Akzeptanz für das neue, vereinte Deutschland werden wir bei den Bürgern der neuen Länder dann erhöhen, wenn die Menschen erfahren, daß die Demokratie in der Lage ist, Unrecht aufzuarbeiten und den Opfern Genugtuung zu geben.
Herzlichen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1608, 12/1439 und 12/1713 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung
— Drucksachen 12/1523, 12/1610 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren
— Drucksache 12/1727 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1728 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Sigrid Hoth
Dr. Konstanze Wegner
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Kollegin Margot von Renesse das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht heute um ein Gesetz, das im Jahre 1979 von der damaligen sozialliberalen Koalition gemacht worden war und das inzwischen so etwas wie eine Magna Charta der alleinerziehenden Eltern, insbesondere der Mütter, geworden ist.
Es war damals eine gute Sache für Familien. Angesichts der Tatsache, daß wir von der SPD immer wieder bezichtigt werden, in der Zeit, als wir Verantwortung trugen, nichts, aber auch gar nichts für Familien getan zu haben, ist es mir sehr wichtig, hier deutlich zu machen, daß das ein Gesetz von 1979 ist — damals zweifellos noch ein dürftiger Beginn. Drei Jahre lang hatten wir dieses Gesetz in unserer Verantwortung. Anschließend haben Sie, die christlich-liberale Koalition, die Verantwortung für dieses Gesetz übernommen und haben es bis zu diesem .Jahr mehr oder minder unverändert gelassen. Es gab, so wie es die Alleinerziehenden im Westen kannten, einen höchstens dreijährigen Leistungsbezug innerhalb des Alters von null bis sechs Jahren eines jeden Kindes.
Es hätte Ihnen schon lange gut angestanden, angesichts der Tatsache, daß von den unterhaltspflichtigen Männern wegen schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse immer weniger Unterhalt zu bekommen war, die Leistungen aufzubessern. Nun, Sie wollen es jetzt tun. Das ist die eine Seite der Medaille, um die es heute geht. Hier können wir Ihnen nur zustimmen. Mit dem, was Sie vorhaben, Verdoppelung des Leistungsbe-
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Margot von Renesse
zugs, Verdoppelung der Altersgrenze, sind wir d'accord, zunächst einmal. Die Tendenz ist richtig. Die Erweiterung der Leistungen für Einelternfamilien liegt auf unserer Linie.
Was Sie dabei meines Erachtens allerdings etwas merkwürdig gestalten, ist, daß Sie das Alter auf zwölf Jahre begrenzen. Damit schaffen Sie eine neue Zäsur im Leben eines Kindes und damit auch im Leben einer Familie, wo wir sonst gewöhnt sind, insbesondere im Kinder- und Jugendhilferecht, die Altersgrenze 14 Jahre für einen entscheidenden Einschnitt auf dem Wege vom Kind zum Jugendlichen zu sehen. Es wäre ganz gut gewesen, rein technisch, wenn man sich in möglichst vielen Gesetzen, die Kinder, Jugendliche und Familien betreffen, auf einheitliche Alterssprünge geeinigt hätte. Dann bräuchten sich die Betroffenen nicht so viele verschiedenen Altersstufen zu merken, bei denen neue Rechtsfolgen eintreten. So hätten wir es gerne gehabt. Sie wollen das nicht. Unsere Einwände dagegen werden nicht ausreichen, daß wir nein sagen. An diesem Punkt stimmen wir also mit gewissen Bauchschmerzen zu.
Aber ganz große Schmerzen, Kopf-, Leib- und Zahnschmerzen, haben wir bei dem, wie es mit diesem Gesetz im Osten sein soll. Auf der einen Seite haben Sie die Leistungsverbesserung. Okay. Auf der anderen Seite wollen Sie die Rechtsvereinheitlichung, die der Einigungsvertrag noch offen ließ: zwischen der Unterhaltssicherungsverordnung, wie sie in der ehemaligen DDR galt, und dem, was wir im Westen hatten, nämlich das Unterhaltsvorschußgesetz. Die Rechtsvereinheitlichung, wie Sie sie vorsehen, bringt nicht nur keine faktische Verbesserung für die Familien im Osten, sie bringt auch konkrete Rechtsverschlechterungen. Daran führt kein Weg vorbei.
Die Argumentation der Bundesregierung, der Besitzstand sei offensichtlich gewahrt, weil das Leistungsvolumen für den Osten insgesamt höher oder mindestens so hoch wie gegenwärtig nach der Unterhaltssicherungsverordnung sei, überzeugt nicht. Es überzeugt deshalb nicht, weil wir nicht gewöhnt sind, die Frage, ob der Besitzstand gewahrt ist, am Durchschnitt zu messen, sondern wir sind gewöhnt, diese Frage am konkreten Einzelfall zu messen. Es ist nun einmal nicht richtig, daß man, wenn der eine Null hat und der andere eine Million, sagt, daß zwei 500 000 hätten. Es hat eben einer Null, und im Osten sieht das konkret so aus, daß Kinder, die als Minderjährige nach der Unterhaltssicherungsverordnung bis zum Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit abgesichert waren, nun, wenn sie in diesem Jahr das 12. Lebensjahr vollendet haben, in Zukunft nichts mehr bekommen, obgleich sie nach der Unterhaltssicherungsverordnung Ansprüche hatten.
Es werden also mit der Rechtsvereinheitlichung Ansprüche abgeschnitten — nicht überall; aber es werden Ansprüche abgeschnitten.
Die Rechtsvereinheitlichung, die Gleichheit ist sicherlich ein wichtiges Argument. Wir sind inzwischen in mehreren Gesetzen — Stichwort: Renten-Überleitungsgesetz — dazu gekommen, unter Umständen,
Frau Würfel, auch Rechte abzuschneiden. Deswegen sehen wir in der Frage der Besitzstandswahrung auch kein Rechtsargument, etwas, was wir früher vor der Vereinigung, bezogen auf die alte Bundesrepublik, so gesehen hätten. Wir haben neue Verhältnisse. Ein rechtliches Argument ist es nicht; aber es ist ein familienpolitisches, und das ist eines, das man sich sehr genau überlegen muß, gerade in einer Koalition, die wie eine Monstranz ihre Liebe zur Familie immer vor sich herträgt.
Wenn man sich die Situation gerade der Alleinerziehenden im Osten anschaut, die in besonderer Weise auch infolge der Einigung an vielen Ecken und Kanten schwieriger geworden ist — alleinerziehende Mütter sind es ja zu 90 und mehr Prozent — , dann ist die Verschlechterung der Situation der Ein-ElternFamilien im Osten wiederum nicht ein Rechtsargument, aber ein familienpolitisches erster Ordnung, und hier hätten wir uns durchaus gewünscht, daß zumindest die Familienpolitiker in der Koalition — zumindest die Familienpolitiker — einen Sturmlauf unternommen hätten, um diese Konsequenz nicht eintreten zu lassen.
Frau Kollegin von Renesse, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte, Frau Kollegin Würfel.
Frau von Renesse, was sagen Sie dann der alleinerziehenden, von ihrem Mann verlassenen Frau im Westen, wenn sie sich im Vergleich zu der Frau im Osten schlechtergestellt sieht?
Frau Würfel, es ist mir sehr angenehm, daß Sie diese Frage stellen; denn ich kann sie beantworten, ohne daß das meiner Zeit angerechnet wird. Als Familienpolitikerin hätte ich mir folgendes gewünscht: Im Augenblick haben wir gute Karten — oder hätten wir gute Karten gehabt — , auch bei denen, die familienpolitisch nicht so engagiert sind, unter dem Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung im Osten diese Lage herbeizuführen — als Übergangsregelung. Aber genau das, was Sie sagen, wäre eingetreten: Es hätte einen Druck auf eine Verbesserung des Unterhaltsvorschußgesetzes im Westen ausgelöst, und da kann ich nur sagen: Angesichts der Tatsache, daß wir uns alle über die Begleitmaßnahmen zu § 218 Gedanken machen, hätte es einen wohltuenden Druck ausgelöst, die Situation der Alleinerziehenden erheblich zu verbessern;
denn die Kinder ab 14 Jahren oder ab zwölf Jahren, wie Sie das regeln wollen, werden ja für die alleinerziehenden Eltern nicht billiger; sie werden teurer. Ein Blick auf die Düsseldorfer Tabelle und ihre Steigerungsraten bei höheren Altersstufen macht das deutlich.
Die individuelle Rechtsverschlechterung muß man nun gegen eine allgemeine — so argumentiert die
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Margot von Renesse
Koalition — Rechtsverbesserung für diejenigen gegenrechnen, die nach der Unterhaltssicherungsverordnung Ansprüche hatten, aber in der Leistungshöhe sehr kleine. Das war in der ehemaligen DDR so: Die Beträge waren gering, und es gab eine Hürde, die da hieß: Titelerfordernis. Man mußte den Unterhaltsanspruch durch Urteil oder Vergleich tituliert haben, damit man überhaupt an diese Leistungen herankam.
Nur, bezogen auf die Situation in der ehemaligen DDR, war das Titelerfordernis keine ernstzunehmende Hürde — es war eine Kleinigkeit, es zu bekommen — , und, bezogen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der ehemaligen DDR, war die Höhe der Leistung eine sehr große, nämlich die Unterhaltssicherung war damit verbunden. Angesichts der Kaufkraft, angesichts der Höhe des Existenzminimums waren diese 60 oder 70 Mark nicht weniger als der Regelunterhalt bei uns. Das heißt, der nominelle Vergleich gibt kein tatsächliches Bild.
Wir hätten uns gewünscht, die Familien im Osten hätten jetzt nicht das Erlebnis der Einigungsgeschädigtheit. Das ist ein Argument, das weit über die Frage der Unterhaltssicherung hinausgeht; denn es ist sehr bitter für uns im Westen wie für uns im Osten — ich sage: für uns im Osten! und meine meine Kolleginnen Mütter — , daß man die Einigung als ein Abschneiden von Rechten erlebt.
Ich danke Ihnen.
Als nächstes hat das Wort der Kollege Walter Link.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute das Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung verabschieden, vereinheitlichen wir nicht nur die Gesetzgebung zwischen den jungen und den alten Bundesländern, sondern wir machen einen weiteren guten Schritt bei den familienpolitischen Maßnahmen, hier insbesondere bei der Absicherung der Alleinerziehenden.
Frau von Renesse, Sie haben zwei Drittel Ihrer Zeit benötigt, um einen Punkt, den Sie verbessern wollen, zu kritisieren. Sie hätten sich besser den wirklich positiven Maßnahmen zugewandt. Ich werde das jetzt tun.
Ich sage das bewußt an dieser Stelle, damit Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht sagen, das sei wieder einmal alles zuwenig, wie es eben anklang. Man muß dies doch alles im Zusammenhang mit der Erhöhung des Erziehungsurlaubs auf drei Jahre und der Erweiterung des Erziehungsgelds auf zwei Jahre sehen. Wenn dann noch die SPDregierten Länder unserer Forderung nachkommen, ein Landeserziehungsgeld für das dritte Jahr zu zahlen, werden die flankierenden Maßnahmen zur Familienpolitik und zu § 218 rund.
Das Unterhaltsvorschußgesetz gilt in den alten Bundesländern seit 1979. Es sichert aus öffentlichen Mitteln für längstens drei Jahre den Mindestunterhalt von Kindern unter sechs Jahren, die bei einem alleinstehenden Elternteil leben und den Unterhalt von dem anderen Elternteil nicht oder nur unregelmäßig bekommen. 1989 hatten bereits rund 116 000 Personen Anspruch auf diese Leistung, und zwar deshalb, weil sich ein Elternteil seiner Unterhaltspflicht für die Kinder entzogen hat. Dies waren in der Mehrzahl die Väter. Führt man sich die traurige Bilanz vor Augen, daß rund 21 000 Männer die Grenzöffnung 1989 genutzt haben, um den Unterhaltsverpflichtungen gegenüber ihren Frauen und Kindern zu entgehen, so wird deutlich, daß besonders die Situation vieler Frauen mit Kindern in den neuen Bundesländern kritisch war und ist.
In den jungen Ländern gilt zur Zeit noch die Unterhaltssicherungsverordnung der ehemaligen DDR. Problematisch an diesem Gesetz ist, daß Kinder nur dann einen Anspruch auf Unterhaltsvorauszahlung von maximal 165 DM monatlich haben, wenn ein vollstreckbarer Unterhaltstitel vorliegt. Fehlt dieser — und das ist gerade in den eben genannten Fällen oftmals so — , wird lediglich eine staatliche Beihilfe von 60 DM zum Unterhalt gewährt.
Frau von Renesse, es ist für mich ein bißchen unverständlich, daß Sie die 60 DM in der damaligen Situation so herausgehoben haben. In bezug auf die Grundnahrungsmittel stimmte es allerdings. Aber seit der deutschen Einheit ist es mehr als dieses.
An dem eben genannten Beispiel wird deutlich, daß eine solche Regelung der Unterhaltssicherungsverordnung weit hinter den Leistungen des Unterhaltsvorschußgesetzes zurückbleibt. Die Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes 1990 bewirkte nämlich, daß in den alten Bundesländern auch dann ein Anspruch auf Unterhaltsvorschuß besteht, wenn kein Unterhaltstitel nachgewiesen werden kann. Eine solche Regelung berücksichtigt besonders die vielen unehelich geborenen Kinder.
Knapp 40 % der Kinder in den jungen Bundesländern werden nichtehelich geboren. Von daher ist diese Regelung auch dort sinnvoll und gut, wenn sie am 1. Januar 1992 in Kraft tritt.
Diese Gesetzesänderung 1990, getragen von der Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP — es war eine Novellierung, im Gegensatz zu dem, was Sie, Frau von Renesse, eben gesagt haben — , bewirkte nicht nur eine finanzielle Verbesserung für die Familien; sie hat auch die psychische Situation vieler alleinstehender Frauen verbessert. Es entfielen nämlich die für die alleingelassenen Mütter belastenden Verfahren, bis einem Vater die Vaterschaft durch das Gericht nachgewiesen werden konnte. Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt, den wir 1990 geändert haben.
Jede Frau mit Kindern im Alter von bis zu sieben Jahren, egal ob sie alleine lebt, geschieden ist oder nur unregelmäßig Unterhalt erhält, hat einen Anspruch auf Unterhaltsvorschußzahlungen in der Höhe von 251 DM pro Kind und Monat, und zwar unabhängig von ihrem Einkommen.
5394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Walter Link
Mit diesem Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvorschußgesetzes und der Unterhaltssicherungsverordnung wird das Unterhaltsvorschußgesetz zum 1. Januar 1992 auf die neuen Länder übertragen. Damit wird die dort bisher geltende Unterhaltssicherungsverordnung abgelöst. Zusätzlich werden die Anspruchsvoraussetzungen zum 1. Januar 1993 — das ist entscheidend — verbessert. Kinder, die mit einem Elternteil zusammenleben und von dem anderen Elternteil keinen oder nur unregelmäßigen Unterhalt bekommen, können ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur — wie bisher — bis zum sechsten, sondern bis zum zwölften Lebensjahr einen Unterhaltsvorschuß erhalten. — Das ist gegenüber Ihrem Gesetz von 1979, das Sie angesprochen haben, eine Verlängerung des Zeitraums um 100 %.
Die Dauer der Zahlung wird von zur Zeit höchstens drei auf sechs Jahre verdoppelt. Das sind die entscheidenden Schwerpunkte dieses Gesetzes. Es hätte Ihnen gut angestanden, dies deutlicher herauszuheben.
Positiv an der Erhöhung der Altersgrenze auf zwölf Jahre ist, daß sie auf längere Sicht auch zur Abnahme des bisher relativ hohen Anteils von Sozialhilfeempfängern unter den Alleinstehenden führen kann. Ein Alleinstehender mit Kindern über zwölf Jahre ist nämlich durchaus in der Lage — jetzt komme ich auf Ihren Kritikpunkt — , einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, da der Betreuungsbedarf der Kinder mit zunehmendem Alter geringer wird.
Es ist darum nicht gerechtfertigt, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie hier jetzt eine Erhöhung der Altersgrenze auf 14 Jahre fordern. Wie ist eine solche Forderung, die ab 1993 jährlich 80 Millionen DM kosten würde, mit Ihrer Forderung nach Sparsamkeit zu vereinbaren? Hier haben Sie doch, Frau von Renesse, die Gegenvorschläge des Bundesrates übernommen — das ist Ihr gutes Recht — , sagen aber, die Länder sollen zahlen, obwohl Sie genau wissen, daß der Bundesrat, wenn er das Gesetz berät, wieder sagen wird: 50 : 50, halbe—halbe. Das ist insofern unfair.
Ich frage Sie, was es noch mit Besitzstandswahrung zu tun hat, wenn Sie sagen, wir sollten das — wie in der ehemaligen DDR — auf 18 Jahre ausweiten. Wir meinen, daß das dem Gleichheitsprinzip wirklich nicht mehr entspricht. Denn es werden dadurch nicht nur die Kinder, die nach der jetzigen Regelung bis 18 Jahre begünstigt werden, hinzukommen, sondern es werden in den Jahren bis 1997, wenn wir Ihrer Forderung nachkommen, auch noch weitere anspruchsberechtigt werden.
Ich frage Sie noch einmal, was dies noch mit Besitzstandswahrung zu tun hat. Ein solcher Vorschlag zielt doch vielmehr auf eine deutliche Besserstellung der Kinder in den jungen Ländern ab. Durch einen solchen Vorschlag werden nämlich nicht nur die Ansprüche der jetzigen Berechtigten aufrechterhalten, wie es unser Vorschlag für ein Jahr vorsieht. — Meine Zeit ist abgelaufen; ich muß zum Schluß kommen.
Der Unterhaltsvorschuß ist eine wichtige finanzielle Unterstützung, um zunächst die allergrößten Härten abzumildern. Die Garantie eines regelmäßigen Unterhalts über sechs Jahre kann für schwangere Frauen eine Hilfe sein, sich für ihr Kind zu entscheiden. Auch eine Frau, die sich vielleicht sogar gegen den Willen ihres Partners für das Kind entscheidet, muß sicher sein können, für dieses regelmäßig Unterhalt zu bekommen, wenn ihr Partner sie verläßt.
Wir von der Koalition, von der CDU/CSU und der FDP, meinen, daß wir das Gesetz wesentlich verbessert haben. Es ist — im Zusammenhang mit allen flankierenden familienpolitischen Maßnahmen — in der Tat eine Hilfe für alleinstehende Frauen. Wir freuen uns, daß Sie trotz Bauchschmerzen zustimmen.
Danke.
Als nächste hat Frau Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste begrüßt die im Gesetzentwurf angestrebten Verbesserungen für die Kinder in den westlichen Bundesländern. Allerdings muß ich meinem Vorredner sagen, daß wir dem Finanzargument im Zusammenhang mit der Festsetzung der Altersgrenze auf zwölf und nicht auf 14 Jahre nicht folgen können, da die Summe von 80 Millionen DM, verglichen mit 135 Millionen DM, die ein einziger Jäger 90 kostet, einfach lächerlich ist.
Uns ist unverständlich, warum notwendige Änderungen trotz angemahnter Beseitigung von Defiziten im Gesetzentwurf, wie dies sowohl in der ersten Lesung und im Ausschuß als auch im Bundesrat geschehen ist, nicht durchgeführt wurden. Dies betrifft insbesondere Kinder in den östlichen Bundesländern. Dazu möchte ich mich genauer äußern.
Anspruchsberechtigten Ostkindern soll der Unterhaltsvorschuß nicht mehr bis zum 18. Lebensjahr — wie es bei uns war —, also für die Dauer von 216 Monaten, gewährt werden, sondern ab 1992 nur noch bis zum zwölften Lebensjahr und nur für maximal 72 Monate.
Völlig unverständlich ist mir, warum es bei einer zu schaffenden Rechtseinheit hinsichtlich der Festlegung der finanziellen Aufwendungen dann doch wieder den Unterschied zwischen West- und Ostkindern gibt. Eine Differenz der Regelsätze von ca. 100 DM zuungunsten der Kinder im Osten ist nicht gerechtfertigt.
Völlig unverständlich und ungerechtfertigt sind auch die Unterschiede bei den Sozialhilfesätzen. Denn die Lebenshaltungskosten insgesamt unterscheiden sich leider nicht mehr so stark voneinander wie früher.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5395
Dr. Barbara Höll
Außerdem müßte meines Erachtens berücksichtigt werden, daß der Unterhaltsbedarf mit zunehmendem Lebensalter der Kinder ebenfalls sehr steigt, daß die Steigerungen nicht mit zwölf Jahren aufhören und daß der Unterhaltsbedarf auch eines vierzehnjährigen Kindes für die Eltern eine Belastung darstellt. Meiner Meinung nach wird in diesem Zusammenhang tatsächlich an einer falschen Stelle gespart, nämlich wieder einmal bei den Kindern, gerade jenen Kindern, welche sowieso durch gestörte Familienverhältnisse belastet sind, was der Bundesrepublik Deutschland nicht gut zu Gesicht steht. Der vorgeschlagene Kompromiß, der ausgewogen begründet wird, ist damit für das einzelne Kind und insbesondere für alleinerziehende Mütter nicht hinnehmbar. Die Alleinerziehung war ja in der DDR auch ein Ausdruck einer anderen ökonomischen Stellung der Frau, die allein erziehen konnte, da sie von ihrem Mann oder ihrem Partner ökonomisch unabhängig war.
Ich möchte mich noch kurz zum Wegfall des Unterhaltstitels äußern, den wir zwar begrüßen, der sich aber tatsächlich nur auf einen formalen Verwaltungsakt beschränkt. In der DDR wurde bei Scheidungen der Unterhaltstitel obligatorisch festgelegt. Das betraf etwa 50 000 Kinder jährlich. Nichtehelich Geborene wurden zu 80 To vom Vater anerkannt. Mit der Anerkennung vor dem Referat Jugendhilfe war ebenfalls eine Festlegung des Unterhaltstitels verbunden. Offen blieben damit in der DDR nur die Fälle, in denen keine Vaterschaftsfeststellung erfolgte, weil die Eltern zusammenlebten. Hier bestand in der Regel kein Bedarf an Unterhaltsvorschuß. Nur in sehr wenigen Fällen haben sich Väter ins Ausland abgesetzt und verließen das Land. Das war in großem Stil erst nach der Maueröffnung möglich, so daß ein Regelungsbedarf erst danach entstand. 21 000 Väter, die das taten, haben sich in einer moralisch doch sehr verwerflichen Art und Weise ihrer Pflichten gegenüber ihren Kindern entledigt.
Wir begrüßen deshalb die angestrebten Verbesserungen für die Kinder in den westlichen Bundesländern. Wir können aber wegen der aus dem Gesetz resultierenden Verschlechterungen für die Kinder im Osten unsere Zustimmung nicht geben und werden uns der Stimme enthalten.
Ich danke Ihnen.
Als nächste hat die Kollegin Uta Würfel das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse, Sie sagten, das Gesetz von 1979 sei ein dürftiger Beginn gewesen. Ich denke, wenigstens wir Sozialpolitiker sollten uns eingestehen, daß wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf heute im Grunde genommen auch eine in der Vergangenheit geübte Praxis korrigieren, nämlich die Sorgen und Probleme von Müttern zwar zu sehen, sie jedoch andererseits nicht für besonders relevant zu halten. Wie hieß es denn immer? Sie werden schon zurechtkommen, mit oder ohne Mann, mit einem Kind oder mit dreien, mit Beruf oder ohne Erwerbstätigkeit, denn Kinder sind nun einmal Privatsache. So hieß es doch früher in weiten Kreisen der Bevölkerung.
Ich denke aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Kinder sind eben nicht nur Privatsache; sie sind der kostbarste Teil unserer Gesellschaft; sie sind die Zukunft schlechthin. Schon aus diesem Grunde sollten wir Kinder, Familien und Frauen besonders fördern.
Genauso wie gestern in der Anhörung zum § 218 der ehemalige Verfassungsrichter Professor Dr. Simon seinerseits seinem Erstaunen darüber Ausdruck gab, daß sich das Bundesverfassungsgericht 1975 nicht imstande gesehen hatte, zum Schutz des ungeborenen Lebens soziale Maßnahmen vorzuschreiben, geht es doch manchem von uns hier, wenn wir zur Kenntnis nehmen, wie in der Vergangenheit in der Politik Prioritäten gesetzt worden sind.
Ich persönlich hätte mir z. B. auch sehr gut vorstellen können, daß uns Politikern beim Kinderlastenausgleich nicht das Bundesverfassungsgericht sozusagen auf die Sprünge hilft.
Hätten wir nicht nach eigener Einschätzung mehrheitlich zu der Einsicht kommen müssen, daß nicht nur den Familien das Aufziehen von Kindern wert und teuer ist, sondern daß auch die Gesamtbevölkerung die Lasten der Familien noch in ganz anderer Weise als bisher mitzutragen hat?
— Ja.
Wir Sozialpolitiker hier sind uns über diese Fragestellungen einig. Aber bedauerlicherweise sind doch immer die Kolleginnen und Kollegen, die gerade mit anderen, ebenso wichtigen Angelegenheiten beschäftigt sind, nicht im Plenum anwesend, die es bei diesen Vorstellungen und diesen Sachverhalten in den eigenen Fraktionen noch zu überzeugen gilt.
Die gesetzliche Maßnahme, die wir heute beschließen, meine Damen und Herren, ist auch Bestandteil der einzelnen Reformvorschläge zum § 218. Man könnte sagen: Wir fangen jetzt schon außerhalb der Tagesordnung zu § 218 an, die Vorschläge für sinnvolle und absolut notwendige Verbesserungen aufzugreifen und zu verabschieden. Ich freue mich darüber, daß das so ist; denn je deutlicher die Signale werden, die wir mit diesen Schritten auch in Richtung Bundesverfassungsgericht aussenden, desto mehr können wir damit rechnen, daß unsere Bemühungen zum Schutz des geborenen wie des ungeborenen Lebens auch ernst genommen werden;
denn wir wollen endlich eine kinderfreundliche und frauenfreundliche Gesellschaft schaffen, in der es große Freude macht, den Nachwuchs großzuziehen.
Für Mütter und hier besonders für Alleinerziehende — meine Vorredner haben ja gesagt, daß es bereits 1 Million in Deutschland sind — muß in Zukunft die Politik andere Rahmenbedingungen schaffen.
5396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Uta Würfel
Damit meine ich nicht nur die Umsetzung des umfangreichen Katalogs an sozialen Maßnahmen, die wir im Schwangerschaftsberatungsgesetz verankert haben, sondern auch die politische Zielvorgabe, Erziehungsleistungen höher zu bewerten und mehr zu schätzen und auch das Bewußtsein in der Bevölkerung dafür zu schärfen, daß denjenigen die größte Anerkennung gebührt, die sich verantwortungsbewußt der Erziehungsaufgabe widmen.
Im Umkehrschluß bedeutet dies, daß die Gesellschaft und der Gesetzgeber mehr als bisher diejenigen Väter maßregelt, die sich der Verantwortung für ein Kind schnöde entziehen und Mutter und Kind im Stich lassen.
Für mich ist es unfaßbar, daß noch nicht einmal ein Drittel der vom Staat für säumige unterhaltsverpflichtete Väter verauslagten Beträge wieder eingetrieben werden. Meine Damen und Herren, muß das so bleiben? Ist es wirklich ein Kavaliersdelikt, Frau und Kind unversorgt zu lassen? Ich denke, das ist es nicht. Deshalb sollten wir, wie wir es heute tun, einerseits die Unterhaltsvorschußleistungen länger gewähren,
aber wir sollten uns andererseits auch nicht scheuen, den Begriff der Verantwortung für andere nicht nur im umweltpolitischen Rahmen häufig zu gebrauchen, sondern auch als Maßstab anzulegen an unsere Vorstellungen zur Schaffung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die besonders Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse der Schwächsten unter uns, nämlich der Kinder.
Als nächste hat die Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau von Renesse, gerne lassen wir uns an den Früchten erkennen. Ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen, daß Sie noch einmal auf 1979 zurückgegriffen haben, als mit breiter Übereinstimmung hier in diesem Hause das Unterhaltsvorschußgesetz beschlossen worden ist. Die seinerzeitige Regierung hatte eine gute Vorlage; denn in Rheinland-Pfalz, seinerzeit unter dem Sozialminister Heiner Geißler, wurde dieses Unterhaltsvorschußgesetz schon praktiziert, und die damalige Regierung, SPD-geführt, hatte nichts anderes zu tun, als dieses Gesetz abzuschreiben. Ich muß sagen: Wir haben damals gerne zugestimmt.
Frau Kollegin Rönsch, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Aber gerne.
Frau Ministerin, können Sie mir erklären, warum so lange nach Übernahme der Regierung durch Sie die Leistungsverbesserungen, die erforderlich gewesen wären, nicht geschahen, obgleich die Anzahl der Alleinerziehenden wuchs und es immer schwieriger wurde, Unterhalt von arbeitslosen oder aus sonstigen Gründen nicht leistungsfähigen Vätern zu erhalten?
Frau von Renesse, im Fußball würde man sagen: eine gute Vorlage. Wenn Sie noch einen Moment gewartet hätten — in dem folgenden Satz hätte ich das erklärt.
Seinerzeit war für uns nicht ganz erklärlich, warum die Sozialdemokraten nicht auf die vollen Leistungen, auf das volle Abschreiben der Regelung von Rheinland-Pfalz eingegangen sind; denn damals waren schon zwölf Jahre festgeschrieben. Das seinerzeitige Gesetz sah unter der SPD nur sechs Jahre vor.
Wir haben das jetzt ausgebaut.
Ich freue mich, daß auch Sie diesem Gesetz ohne Bauchschmerzen an der einen oder anderen Stelle zustimmen.
Ich gestehe Ihnen durchaus zu, daß wir Familienpolitiker uns vielleicht noch etwas anderes hätten wünschen können. Aber ich möchte nicht, wie es die Kollegin Höll eben getan hat, zwischen Kindern und Kindern (West) unterscheiden.
Deshalb meine ich, daß es gut ist, daß wir jetzt mit der Änderung und der Überleitung des Unterhaltsvorschußgesetzes auf die fünf neuen Bundesländer eine Rechtseinheit erhalten.
Ich darf noch einmal kurz auf das eingehen, Frau Würfel, was Sie gesagt haben. Auch uns macht es große Sorgen, wenn man bedenkt, daß bei einer jährlichen Leistung von 230 Millionen DM, die nun gezahlt werden, seit 1980 bei säumigen Vätern nur 32 Millionen DM eingetrieben werden konnten. Ich meine, auch da müssen wir uns gemeinsam neue Gedanken machen, wie wir diese Väter, die sich schmählich ihrer Verantwortung entziehen, heranziehen können, damit sie ihren Unterhalt auch bezahlen.
Eines möchte ich mit Bedauern sagen, Frau von Renesse: Sie konnten auch heute der Versuchung nicht widerstehen, die Betrachtung finanzpolitisch auszuweiten. Wir haben als Familienpolitiker — so hatte ich es in der Vergangenheit verstanden — doch den Konsens gehabt, daß wir familienpolitische Maßnahmen ausbauen wollen. Aber das ist nur dann möglich, wenn wir es auf einer soliden Gesamtfinanzierung des Haushaltes tun. Die sozial- und familienpolitischen Maßnahmen, die der Kollege Link hier
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5397
Bundesministerin Hannelore Rönsch
eben angesprochen hat, würden es, meine ich, auch verdienen, an der einen oder anderen Stelle von Ihnen mit abgewogen, mit ins Gewicht genommen zu werden. Dann ergibt sich insgesamt doch ein wesentlich anderes Bild.
Frau Höll, wenn Sie unseren Finanzargumenten nicht folgen können, so habe ich in gewisser Weise Verständnis dafür. Nur nehmen Sie uns bitte ab, daß wir Gesamtverantwortung auch für den Haushalt tragen. Daß in der früheren DDR 20 Millionen Mark für Kinder bis 18 Jahre gezahlt wurden und jetzt für Kinder bis zum sechsten Lebensjahr allein schon 230 Millionen DM gezahlt werden, zeigt doch wohl, daß erstens das Volumen — Frau von Renesse hat es angesprochen — sehr niedrig war und daß es aber auch durch das Titelerfordernis offensichtlich sehr, sehr schwierig gewesen ist, für alleinerziehende Mütter einen Titel zu erlangen. Das muß am Volumen liegen: Der Betrag von 20 Millionen Mark ist so gering, daß es bei der hohen Rate der alleinerziehenden Mütter für mich unverständlich ist, wieso nicht mehr Geld in dem Haushalt der ehemaligen DDR gewesen ist.
Frau Kollegin Rönsch, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Ministerin, ist Ihnen erstens bekannt, daß die Festlegung des Unterhaltstitels in den meisten Fällen in der DDR obligatorisch erfolgte, und zweitens, daß es in der DDR bei nicht vorhandener Arbeitslosigkeit auch kaum vorkam, daß Väter nicht in der Lage waren zu zahlen? Deshalb war das Erfordernis für einen Unterhaltsvorschuß in der DDR in wesentlich geringerem Maße gegeben, als es in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.
Mir ist nur bekannt, Frau Kollegin Höll, daß sehr, sehr viele alleinerziehende Frauen in den fünf neuen Bundesländern ausgesprochen dankbar reagiert haben, daß das Titelerfordernis weggefallen ist. Ich muß sagen: Ich bin ausgesprochen froh, daß es nun so ist, daß man sich diesen Titel nicht erst erstreiten muß.
Ich hoffe nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß auch der Bundesrat unserem Gesetzesvorschlag zustimmt, damit er dann tatsächlich zum 1. Januar 1992 in Kraft treten kann. Ich meine auch, daß der Kollege Fockenberg mit Recht davon geprochen hat, daß man sich das Prinzip der Rosinentheorie nicht zueigen machen sollte. Wenn wir wollen, daß die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands angeglichen werden, dürfen wir die Unterscheidung zwischen Kindern und Kindern (West) nicht länger hinnehmen, und wir können auch nicht zulassen, daß es Maßnahmen gibt, die die alleinerziehenden Frauen in den alten Bundesländern schlechterstellen würden. Ich meine, wir sollten uns darauf verständigen, daß wir jetzt auf den Bundesrat verstärkt einwirken, daß Sie — damit spreche ich besonders die Kolleginnen und Kollegen aus der Sozialdemokratischen Partei an — auf Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat einwirken, damit dieses Gesetz so, wie es vorliegt, zum 1. Januar 1992 in Kraft treten kann, zum Wohle der alleinerziehenden Mütter. Ich verspreche mir davon auch, daß sich im Rahmen der Beratungen zu unserem Artikelgesetz zu § 218 auch im Bewußtsein der jungen Frauen, die sich in einer Konfliktsituation befinden, festsetzt, daß auch später, wenn der Vater des Kindes sie tatsächlich im Stich lassen sollte, sie aber den Wunsch nach diesem Kind haben und das Kind austragen möchten, der Staat im Rahmen dieses Unterhaltsvorschußgesetzes für sie sorgt.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf — bei wenigen Enthaltungen — einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit mit großer Mehrheit so angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1992
— Drucksache 12/1240 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/1641 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Hermann Schwörer
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Nach einer Vereinbarung im Altestenrat ist für die Beratung eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen. — Anderweitige Vorstellungen liegen nicht vor. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Schwörer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte über den ERP-Wirtschaftsplan ist nach der Vereinigung Deutschlands die erste Debatte über einen gemeinsamen ERP-Plan. Dieser Plan zeigt: ERP-Kredite sind für den Aufbau und die Förderung
5398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Hermann Schwörer
des Mittelstandes unverzichtbar, auch in den neuen Bundesländern.
Die Erwartungen in den neuen Bundesländern sind hoch, die Nachfrage lebhaft. Das, was wir bis jetzt schon mit dieser Förderung bewirkt haben,
kann sich sehen lassen. In den letzten zwei Jahren haben wir mit ERP-Krediten in Höhe von fast 16 Milliarden DM ein Investitionsvolumen von mehr als 35 Milliarden DM gestützt. Damit konnten wir in den neuen Bundesländern rund 600 000 neue Arbeitsplätze schaffen und sichern. Dies zeigt, daß der Arbeitsplatzeffekt von ERP-Krediten hoch ist.
Wegen der unterschiedlichen Wirtschaftskraft in Ost und West haben wir dieses Mal eine starke Umschichtung der Fördermittel von West nach Ost vorgenommen. Zwei Drittel der Mittel gehen jetzt nach Ostdeutschland, und ein Drittel bleibt im Westen. Das wird von der CDU/CSU-Fraktion begrüßt.
Das vorgesehene Zusagevolumen beträgt in diesem Jahr 10 Milliarden DM. Wir haben nochmals um 2 Milliarden DM aufgestockt. Dies zeigt eindeutig, wo der Schwerpunkt liegt. Es bleiben noch 4 Milliarden DM für die alten Bundesländer, so daß für das Jahr 1992 insgesamt 14 Milliarden DM an zinsgünstigen ERP-Mitteln zur Verfügung stehen.
Diese Programme sind offen für Unternehmensneugründungen, für Übernahmen, aber auch für Reprivatisierungen. Wir haben in diesem Zusammenhang, vor allem für bestehende Unternehmen, ein Regionalprogramm neu aufgelegt. Auch die Umweltschutzmaßnahmen sind wieder ein Teil des ERP-Programms.
Aber im Augenblick ist, glaube ich, nichts wichtiger als die Unterstützung von Existenzgründungen in den neuen Bundesländern, wo Millionen von Menschen auf neue Arbeitsplätze warten. Mich freut es deshalb, daß in der zurückliegenden Zeit von drei ERP-Anträgen bereits zwei auf die Errichtung einer selbständigen Existenz in den neuen Bundesländern abzielten. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig kleine und mittelständische Betriebe für die Flexibilität und die Anpassungsfähigkeit einer Volkswirtschaft sind, und wir wissen, wie wichtig die kleinen und mittleren Betriebe für die Versorgung der Bevölkerung mit Arbeitsplätzen sind. Wir wissen, daß gerade das der Grund für die schlechte Bilanz der ehemaligen DDR war, daß es dort keinen Mittelstand gegeben hat. Für unsere Volkswirtschaft sind deshalb Existenzgründungen zum Aufbau eines unabhängigen und freien Mittelstandes der beste Beitrag zur wirtschaftlichen Gesundung der neuen Länder. Es ist aber wichtig, daß Existenzgründungen weiterhin auch in den alten Bundesländern gefördert werden. Auch im Westen muß der Strukturwandel weitergehen. Vor allem jungen Kräften muß durch diese ERPMittel die Chance zum Neubeginn gegeben werden; dies muß unterstützt werden.
Während der Verhandlungen um diesen ERP-Plan hat es Umschichtungen gegeben, die wir nicht gern akzeptiert haben. So sind z. B. versprochene Kapitalzuführungen an das ERP-Sondervermögen umgepoolt worden zur Finanzierung von Lücken in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafsstruktur" und vor allem zugunsten der Kokskohlenbeihilfe. Ich sehe ein, daß es unter den gegebenen Haushaltszwängen wohl unvermeidlich war, dies zu tun. Der Finanzminister hat uns im übrigen durch Zinszuschüsse, die auf zwölf Jahre verteilt sind, wieder geholfen. Dabei handelt es sich im ganzen um einen Betrag von 5,78 Milliarden DM, also um einen hohen Betrag. Wir können also hoffen, daß, wenn angesichts der hohen Anforderungen, angesichts des riesigen Bedarfs in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren der ERP-Haushalt in Engpässe geraten sollte, der Bundesfinanzminister wieder ein off enes Ohr haben wird für diesen wichtigen Zweig der Hilfe zur Selbsthilfe in der Wirtschaft.
Der Ersatz der Eigenkapitalzuführung durch Zinszuschüsse bedeutet ja hoffentlich nicht eine Änderung der ERP-Förderung. Wegen der steigenden Anforderungen an das ERP-Sondervermögen in den nächsten Jahren muß die Eigenkapitalausstattung entsprechend verbessert werden. Wir haben hier ja schon eine Zusage, daß die Erlöse aus der Privatisierung der Berliner Industriebank für die Stärkung des Eigenkapitals verwendet werden. Das begrüßen wir.
Im Interesse einer langfristigen Mittelstandsförderung ist diese Stärkung der Reserven und der Eigenmittel sicher eine wichtige Aufgabe, und zwar vor allem auch deshalb, weil dieses Sondervermögen dann auch in mageren Zeiten seine Aufgaben erfüllen kann.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Förderung des Umweltschutzes mit ERP-Mitteln hinweisen. Uns allen sind die Schwierigkeiten bekannt, die mittelständische Betriebe haben, wenn sie Umweltschutzauflagen bekommen und dann meist unrentable Investitionen tätigen müssen. Deshalb ist es gut, wenn diese Betriebe durch die entsprechenden Ansätze im ERP-Wirtschaftsplan 1992 unterstützt werden und wenn damit ein richtiges und gutes Signal dahin gehend gegeben wird, daß der Umweltschutz zu den Aufgaben gehört, die sich der Bund für die nächsten Jahre in besonderer Weise vorgenommen hat. Wir wissen ja auch, daß in der Wirtschaft neue Anlagen nur dann auf die Dauer wettbwerbsgerecht produziert werden können, wenn sie modernen Umweltschutzanforderungen entsprechen.
Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich auf eine Sache aufmerksam machen, die, wie ich meine, unser aller Unterstützung finden sollte. Es geht um das im Jahre 1982 von der Stiftung Volkswagenwerk, der Studienstiftung des deutschen Volkes und von der Harvard University in Amerika gemeinsam geschaffene McCloy Academic Scholarship Program, das McCloy-Stipendium-Programm. Einigen von Ihnen wird dies sicherlich bekannt sein. Mit diesem Programm erhalten jährlich acht besonders qualifizierte deutsche Nachwuchskräfte die Möglichkeit, in den Fächern Recht, Wirtschaftswissenschaften und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5399
Dr. Hermann Schwörer
Geschichte nach ihrem Hochschulstudium innerhalb von zwei Jahren an der Kennedy School of Government den Grad eines „Master of Public Administration" zu erwerben.
Bisher wurden 80 Personen durch das Programm gefördert. Finanziert wurde das Programm zwischen 1982 und 1992 mit insgesamt 10 Millionen DM durch die Volkswagen-Stiftung, die jetzt aus Satzungsgründen zu einer weiteren Finanzierung nicht mehr in der Lage ist. Angesichts des Erfolgs dieses Programms sind sich die Vertreter aus Politik und Wirtschaft im Grunde einig, daß es langfristig gesichert werden muß.
Nach Prüfung aller haushaltsrechtlichen Fakten, sowohl von seiten der Amerikaner als auch von bundesdeutscher Seite, kann dies nur durch die Gründung einer Stiftung geschehen. Dies ist vor allem auch die Meinung des Koordinators für die deutschamerikanische Zusammenarbeit, Herrn Professor Dr. Weidenfeld. Aus den Erträgen dieser Stiftung wären die laufenden Kosten dieses Programms zu bestreiten.
Um dieses Ziel zu erreichen, müßten — Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, das in der Bundesregierung auch vorzutragen — 14 Millionen DM als Stiftungsvermögen aufgebracht werden. Die Gesamtkosten werden dann zwischen den USA und der Bundesrepublik geteilt. Vom deutschen Anteil trägt die Hälfte die Wirtschaft. Von der öffentlichen Hand wären demnach 3,5 Millionen DM aufzubringen. Aus Harvard ist uns bereits mitgeteilt worden, daß der amerikanische Anteil bereitsteht, wenn die Bundesrepublik die anderen 50 % dieses Programms finanziert.
Ich bin der Meinung, daß dieses Programm unsere Unterstützung verdient, und bitte Sie deshalb, Herr Staatssekretär, innerhalb der Bundesregierung, und auch Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zu überlegen, ob diese 3,5 Millionen DM aus dem ERP-Vermögen entnommen werden könnten, um diese gute Einrichtung weiterzuführen.
Ich glaube, wir sollten jede Bindung an unsere amerikanischen Freunde erhalten, auch wenn wir zur Zeit ihren militärischen Schutz vielleicht nicht so notwendig brauchen; wir wissen ja nie, wie die Zeiten werden, und man soll sich Freunde immer auch in Zeiten, in denen man sie vielleicht nicht so nötig hat, für die Zukunft erhalten.
Das amerikanische Engagement in Europa ist nach meiner Meinung unverzichtbar,
und hier ist ein Stück der menschlichen Verbindung, das wir zusätzlich schaffen und fördern können. Ich glaube, es wäre eine gute Sache, wenn wir das interfraktionell, Frau Vorsitzende des Ausschusses, in diesem Haushalt unterbringen könnten.
Ich stimme also für meine Fraktion dem Entwurf des ERP-Wirtschaftsplangesetzes 1992 in der vorliegenden Fassung zu und freue mich besonders über die darin enthaltene Aufstockung des Fördervolumens für die neuen Länder in Höhe von 2 Millionen DM, die wir in unserem Ausschuß, Frau Vorsitzende, erreicht haben. Ich tue dies in der Erwartung, daß sich auch in den kommenden Jahren die ERP-Förderung für die Menschen in ganz Deutschland durch krisensichere, umweltgerechte Arbeitsplätze segensreich für uns alle auswirken möge.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächstes hat das Wort Frau Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zum erstenmal seit mehr als 20 Jahren verweigert die SPD-Bundestagsfraktion ihre Zustimmung zu einem Entwurf eines ERP-Wirtschaftsplangesetzes. Jeder, der die Geschichte des ERP-Programmes kennt, jeder der weiß, daß dieses Programm eines unserer wirtschaftspolitischen Lieblingskinder war und eigentlich noch ist, weil es als Mittel der Mittelstandsförderung, der regionalen und sektoralen Strukturpolitik ebenso effizient wie geräuschlos wirkt, kann ermessen, daß schon einiges passiert sein muß, wenn wir, die Sozialdemokraten, nun nein sagen. Jeder weiß, daß in der Vergangenheit die bedeutendsten Aufstockungen der Fonds unter Sozialdemokraten erfolgt sind und daß eine der wichtigsten Institutionen, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, eine unserer vielen sinnvollen institutionellen Erfindungen gewesen ist.
Was also hat bewirkt, daß wir nicht zustimmen werden? — Wir lehnen diesen Gesetzentwurf vor allem deswegen ab, weil die Bundesregierung erstens das ERP mittelfristig massiv abbaut, zweitens hinter dem Rücken des Parlaments Umweltschutzinvestitionen in Höhe von 800 Millionen DM für 1991 verhindert hat — und nun dasselbe Spiel für 1992 zu wiederholen gedenkt — und drittens mit den wichtigsten Förderinstitutionen wie der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Berliner Industriebank so fahrlässig umspringt, als handele es sich um Sparkassenfilialen in Kleinkleckersdorf.
Doch zum ersten Punkt: Der entscheidende Grund für unsere Ablehnung sind die massiven mittelfristigen Kürzungen der Fördervolumina im ERP-Programm, die die Bundesregierung sorgfältig im Haushalt 1992 versteckt hat und die für einen in Finanzierungstricks unerfahrenen Beobachter auf den ersten Blick gar nicht ersichtlich sind. Auf dem Papier der Drucksache, die Ihnen vorliegt, sieht alles ganz hübsch und auch erfolgreich aus. In Änderung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung werden nicht bloß 13,1 Milliarden DM, sondern wegen des überwältigenden und unerwarteten Erfolges des Programms in 1991 sogar 15,1 Milliarden DM zur Bewilligung erbeten.
Der zuständige Unterausschuß — der Kollege Dr. Schwörer hat darauf hingewiesen — hat das auch gerne getan, wurde aber sanft von Herrn Staatssekre-
5400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
tär Riedl informiert, ein bisserl möge man doch noch warten, weil es wegen einiger Finanzierungsprobleme im Bundeshaushalt, nicht dem Volumen nach, sondern der Finanzierungsart wegen, so ein, zwei kleine Änderungen geben werde.
Die Änderungen sahen dann wie folgt aus: Die im Bundeshaushaltsplan 1990 beschlossene Kapitalzuführung von 2 Milliarden DM, fällig in vier Jahres-tranchen, von denen bereits 900 Millionen DM geleistet wurden, wird für die Jahre 1992 und 93 gestrichen. Das erspart dem Bundeshaushalt insgesamt 1,1 Milliarden DM.
— Richtig! Statt dessen werden Zinszuschüsse an das ERP-Sondervermögen und Erlöse aus der Privatisierung der Berliner Industriebank eingeplant, um die ERP-Fördermöglichkeiten nicht zu beschneiden.
Warum also beschweren wir uns denn nun? Es ist zwar nicht gerade besonders korrekt, wenn man die Erlöse für die Privatisierung einer Bank im Haushalt 1992 einsetzt, deren Verkauf im Jahre 1992 noch keineswegs sicher ist. Aber nennen wir das einmal ein Kavaliersdelikt des Bundesfinanzministers im Vergleich zu seinen sonstigen Haushaltsmanövern.
Mit diesem Zinszuschußverfahren beschränkt Theo Waigel — das ist Ihnen ja auch bekannt, Herr Dr. Schwörer — leider die mittelfristigen Fördermöglichkeiten in einem Ausmaß, das auch vielen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP ernste Sorgen macht; denn 1990 betrug das Fördervolumen insgesamt über 12 Milliarden DM; 1991 sind es knapp 12 Milliarden DM, und im Jahre 1992 soll das projektierte Fördervolumen sogar den Rekordstand von knapp 14 Milliarden DM umfassen. Das halten wir auch für richtig und sinnvoll für eines der erfolgreichsten Programme zur Förderung der kleinen und mittleren Unternehmer in der deutschen Wirtschaftsgeschichte,
von dem wir uns auch bedeutende Anstoßwirkungen für die kleinen und mittleren Betriebe in den östlichen Bundesländern erwarten.
Aber nach einem Jahr kommt durch dieses Finanzverfahren dann der jähe Absturz. 1993 stehen mit 7,22 Milliarden DM nur etwas mehr als die Hälfte und 1994 sogar nur 5,58 Milliarden DM für die Ausleihe zur Verfügung. Glauben Sie denn, Herr Beckmann, 1994 sei das Aufbauwerk Ost schon weitgehend beendet und man könne sich dann auf Business as usual, das heißt, die verdienstvollen Existenzförderprogramme für junge Unternehmer und Handwerksbetriebe zurückziehen? Nein, natürlich glauben wir das alle nicht. Sie glauben es auch nicht. Aber bei der Finanzierung des Haushalts 1992 ist Ihnen in letzter Minute halt nichts anderes mehr eingefallen, und deswegen haben Sie auf die, wie Sie wohl meinten, unauffälligeren Finanzierungsmethoden zurückgegriffen. Sie können aber doch nicht im Ernst von uns verlangen, daß wir Sozialdemokraten solche mittelstandspolitischen Wechselbäder auch noch parlamentarisch mittragen.
Nun zu dem zweiten Ablehnungsgrund, nämlich Ihre Trickserei mit den Umweltschutzinvestitionen. Im Haushalt 1991 war dafür immerhin die schöne Summe von 1,3 Milliarden DM eingesetzt. Aber bereits im Dezember 1990 hatte das Bundeskabinett die Konditionen für die Umweltschutzkredite stark verschlechtert, und zwar mit der erklärten Absicht, daß diese Kredite nicht abfließen sollen. Darüber hätte man eigentlich mit dem Parlament reden können und auch müssen. Aber man hat es weder 1990 noch nach der Konstituierung der Ausschüsse des Bundestages für nötig gehalten, uns zu informieren oder uns um Erlaubnis zu bitten.
Nun gut, die Bundesregierung hat in diesem Punkt Reue gezeigt und im Ausschuß Besserung gelobt. Da wir gute Menschen sind, wollen wir das auch gerne für die Zukunft glauben. Aber 1992 machen Sie dasselbe Spielchen wieder. Die Umweltschutzinvestitionen — Herr Kollege Dr. Schwörer hat das erwähnt — haben Sie auf einen Formalansatz von 1,9 Milliarden DM hochgezogen. Aber die Konditionen für die Kreditvergabe haben Sie keineswegs verbessert, sondern gleichbelassen.
Das heißt: Im Grunde genommen hoffen Sie, daß wieder 900 Millionen oder eine ganze Milliarde DM nicht abfließen und daß Sie dann dieses nicht in Anspruch genommene Geld am Ende des Jahres für andere Zwecke zur Verfügung haben. Meine Großmutter hat so etwas mit ihrem Haushaltsgeld auch gemacht. Das nannte sie Schmu-Kasse, und die stand hinter der Zuckerdose. Aber schon wir Kinder haben das gemerkt. Auch im Ausschuß ist dies durchaus zur Sprache gekommen.
Ich sage Ihnen: Das ist keine saubere Art, mit dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit umzugehen. Auch deswegen stimmen wir Ihnen nicht zu.
Drittens und letztens kritisieren wir Ihren Umgang mit den bewährten Finanzinstitutionen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten fast geräuschlos und sehr effizient die Verwaltung und Abwicklung dieses Haushalts vornehmen. Als Vorsitzende des Unterausschusses für die ERP-Wirtschaftspläne möchte ich hier die Gelegenheit ergreifen, mich bei den Führungen der betreffenden öffentlichen Banken, aber auch bei den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich für ihre langjährige Arbeit und auch für ihre vielfältigen Initiativen in diesem Bereich zu bedanken.
Sie helfen immer wieder mit, daß dynamische und rege kleine und mittlere Unternehmerinnen und Unternehmer auch vernünftige Finanzierungsbedingungen und -hilfen erhalten, die ihnen auf den normalen Kreditmärkten nicht zur Verfügung stehen würden.
Deswegen haben es diese Menschen auch nicht verdient, über Privatisierungsabsichten der Bundesregierung so informiert zu werden, wie das mit der Berliner Industriebank passiert ist.
Nicht besonders glücklich, um es höflich zu formulieren, erscheint mir auch der Umgang mit der Kredit-
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Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
anstalt für Wiederaufbau. Diese Bank war sozusagen das Kreditinstitut für die ERP-Mittel und hat mit Geschick und Geschäftstüchtigkeit günstige Kreditmöglichkeiten für die Mittelstandsförderung hinzugewonnen und erschlossen.
Jetzt wird dasselbe Institut de facto zur Gänze aus Ihrem Gründungsprogramm, dem ERP, hinausgedrängt. Die Begründung erscheint mir nicht sonderlich stichhaltig. Mir scheint sogar, daß wir wegen der doch häufig genutzten ERP-Ergänzungsprogramme dieses Instituts neue bürokratische Hürdenläufe für mittlere und kleine Unternehmen hervorrufen. Das, Herr Beckmann, ist doch eigentlich das letzte, was wir tun wollen und sollten.
Deswegen, mein Herr von der Regierungsbank: Wir hätten gerne gerade bei diesem Gesetz nicht mit einem Routine-Nein der Opposition, sondern wie alle Jahre zuvor mit einem Ja abgestimmt; aber wenn Sie das ERP-Programm mit Ihren Finanzierungsmanövern im Jahre 1992 im überparteilichen Einvernehmen hochziehen, um es 1993 auf 52 % des Anteilsvolumens und 1994 auf knapp 40 % des jetzigen Standes zu kürzen, können Sie bei diesem Verfahren nicht mit unserer Zustimmung rechnen.
Als nächster hat unser Kollege Paul Friedhoff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz 1992 liegt uns ein Gesetzentwurf vor, dessen grundsätzlicher Sinn und Zweck von niemandem in diesem Hause ernsthaft bestritten wird. Über die Ziele des Gesetzes, die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Förderung des Umweltschutzes sowie die regionale Wirtschaftsförderung, besteht Konsens. Die Erfolge des bisherigen Einsatzes von ERP-Mitteln sind auch unbestreitbar.
Der ERP-Wirtschaftsplan 1992 sieht — das ist hier mehrfach gesagt worden — eine Aufstockung des Gesamtvolumens auf 14 Milliarden DM vor. Auf Grund der Entwicklung der Nachfrage nach Fördermitteln in den neuen Bundesländern mußte der Planentwurf der Bundesregierung während der parlamentarischen Beratungen deutlich nach oben korrigiert werden.
Von den 14 Milliarden DM sollen 10 Milliarden DM auf die neuen Länder entfallen, 4 Milliarden DM auf die alten. Hieran wird deutlich, daß auch 1992 das Schwergewicht der ERP-Förderung in den neuen Bundesländern liegen wird. Mit dem ERP-Wirtschaftsplan 1992 werden wiederum Fördermittel von West nach Ost umgeschichtet. In den neuen Bundesländern sind die ERP-Kredite ein wichtiger Bestandteil beim Aufbau eines leistungsfähigen Mittelstands.
Ein gesunder Mittelstand bildet das Fundament für unsere Wirtschaftsordnung. Die Fördermaßnahmen helfen, den am Markt orientierten wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß in den neuen Bundesländern weiter zu beschleunigen. Sie leisten einen spürbaren Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und zur Sicherung bestehender Arbeitsplätze.
Entsprechend dem gesetzlichen Zweck werden die Fördermittel an Existenzgründer und an mittelständische Privatbetriebe in den Bereichen der gewerblichen Wirtschaft und — anders als in den alten Bundesländern — in den neuen Bundesländern auch an Angehörige der freien Berufe vergeben. Gefördert werden die Errichtung wettbewerbsfähiger Betriebe sowie Investitionsmaßnahmen im Interesse der Sicherung und Weiterentwicklung dieser kleinen und mittleren Unternehmen.
Die Fördermittel unterstützen Existenzgründer beim Start in die Selbständigkeit. Dieses ist ein ganz wesentlicher Punkt. Bestehenden mittelständischen Privatbetrieben wird beim Prozeß der Umstrukturierung geholfen, um die Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Damit werden die Wachstumschancen der Gesamtwirtschaft gestärkt.
Bis zum 15. Oktober dieses Jahres wurden in den neuen Bundesländern insgesamt fast 46 000 Anträge im Rahmen des ERP-Existengründungsprogramms bewilligt. 46 000 neue Existenzgründungen! Ich denke, das ist eine Rekordzahl. Dies ist eine erhebliche Steigerung nach bereits über 28 000 Anträgen im Vorjahr. Hinzu kommen 1991 nahezu 11 600 Zusagen im Rahmen des ERP-Modernisierungsprogramms. Dabei beantragen vor allem Handwerk, freie Berufe und Handel die zinsgünstigen ERP-Mittel.
Betrachtet man alle ERP-Programme in den neuen Bundesländern, so half die Förderung bei vorsichtiger Abschätzung, fast 500 000 Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu sichern.
Meine Damen und Herren, neben der Existenzgründungsförderung ist die Förderung von Umweltschutzinvestitionen und Maßnahmen zur Energieeinsparung ein weiterer politisch gewollter Schwerpunkt im Rahmen des ERP-Programms. Unterstützt werden die Investitionen im Bereich der Luftreinhaltung, der Abfallwirtschaft, der Abwasserreinhaltung sowie der rationellen Energieverwendung. Das Angebot einer zinsgünstigen Finanzierung soll den Unternehmen helfen, bei Investitionen den Umweltschutz verstärkt zu berücksichtigen. Damit wird den Investoren die Entscheidung zugunsten moderner Umweltschutztechnik erleichtert, und damit werden Arbeitsplätze geschaffen, die nicht auf Kosten der Umwelt entstehen, sondern die modern sind und die den Anforderungen der Zukunft genügen.
Gerade im Bereich des Umweltschutzes besteht aber in den neuen Bundesländern, wie wir wissen, ein großer Handlungsbedarf. Deshalb ist der Ansatz für Umweltschutzmaßnahmen gegenüber dem Vorjahr auch auf 2 Milliarden DM verdreifacht worden. Die ERP-Mittel helfen den mittelständischen Investoren, zur ökologischen Erneuerung beizutragen und gleichzeitig diese zukunftsträchtigen Arbeitsplätze auch zu schaffen.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion begrüßt nachhaltig die Bemühungen der Bundesregierung, die Berliner Industriebank zu privatisieren. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kann die besondere Aufgabe Berlinförderung entfallen. Ein ei-
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Paul K. Friedhoff
genständiges drittes Förderinstitut neben der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank erscheint daher nicht mehr notwendig. Sowohl die KfW als auch die Ausgleichsbank sind traditionell mit der ERP-Förderung verbunden und in der Lage, die erfreulich hohe Inanspruchnahme der Förderprogramme auch zügig zu bearbeiten. Ein drittes überregionales Förderinstitut mit Sitz in den neuen Bundesländern ist sachlich nicht notwendig. Die Förderkredite werden ja nicht direkt, sondern über durchleitende Banken gewährt, die mit ihren Niederlassungen flächendeckend vor Ort präsent sind. Durch die Konzentration wird der Gefahr begegnet, daß die Transparenz der Förderung verschlechtert und die Bearbeitungsaufwendungen vergrößert werden.
Daher wird die Bundesregierung aufgefordert, die Veräußerung der Berliner Industriebank zügig voranzutreiben und parallel die Übertragung des Fördergeschäfts der Berliner Industriebank auf die Deutsche Ausgleichsbank vorzubereiten. Zugleich ist es richtig, die Verkaufserlöse zum einen für eine Eigenkapitalaufstockung bei der Deutschen Ausgleichsbank und zum anderen zur Mitfinanzierung der ERP-Förderung 1992 einzusetzen, wie es der ERP-Wirtschaftsplan vorsieht.
Meine Damen und Herren, der ERP-Wirtschaftsplan 1992 ist gegenüber 1991 erheblich aufgestockt worden. Er faßt die bisher in östliche und westliche Programme getrennte ERP-Förderung zu einheitlichen ERP-Förderprogrammen zusammen. Die Programmvielfalt wird gestrafft und die Förderung auf das Wesentliche konzentriert. Dadurch wird der wirtschaftliche Anpassungsprozeß in den neuen Bundesländern weiter unterstützt.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem ERP-Wirtschaftsplan deshalb zustimmen.
Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kredite des ERP-Programms helfen mit, das riesige Defizit an Mitteln für Investitionen in den neuen Bundesländern zu beseitigen. Mit den etwa 10 Milliarden DM, die jetzt für die neuen Bundesländer vorgesehen sind, läßt sich zwar nur ein Teil — aber ich glaube, ein wichtiger Teil — des riesigen Investitionsbedarfes, der sicher über der 100-Milliarden-DM-Grenze liegt, decken. Für den Gesamtinvestitionsbedarf müssen mit Sicherheit andere Lösungen gefunden werden. Sie gehen unserer Meinung nach zur Zeit etwas schleppend voran.
Die ERP-Kredite haben eine spezifische Aufgabe. Sie sind angesichts der Finanznot in den neuen Bundesländern besonders dringlich. Sie geben ostdeutschen Unternehmen, vor allen Dingen im Bereich der kleineren und mittelständischen Betriebe, bei dem überall herrschenden Kapitalmangel eine echte Marktchance. In ihrer Wirkung helfen sie, wettbewerbsfähige Strukturen herzustellen. Darin befinden wir uns in Übereinstimmung.
Was halten wir aber für verbesserungswürdig? Die Bundesregierung sollte ihre Möglichkeiten nutzen und auf die Banken einwirken, daß sie ihre Aufgaben bei der Kreditvergabe im Sinne des ERP-Wirtschaftsplangesetzes noch besser wahrnehmen. Es gibt Ausfälle zwischen den Banken vor Ort und den für die Abwicklung von Aufgaben des ERP-Sondervermögens beauftragten Kreditinstituten. Es gibt Übermittlungsverluste. Manchmal verschwinden Unterlagen. Viele Rückfragen, die nicht vor Ort geklärt werden können, verkomplizieren den Vorgang.
Der Weg zur Erlangung des ERP-Kredites ist keinesfalls leicht. Unternehmensgründer in meiner Familie und auch in meinem Bekanntenkreis klagen darüber. Ich kann mich deshalb den Dankesworten, die die Frau Kollegin hier ausgesprochen hat und die ich gerne teilen würde, im Moment leider nicht anschließen.
Ich bin auch nicht dafür, daß Kredite leichtfertig vergeben werden. Allerdings stellt sich bei der Vorsprache in den Banken heraus, daß die gute Geschäftsidee das eine ist, aber die ungleich größere Aufmerksamkeit der Bankangestellten den vorzuweisenden Sicherheiten gilt. Wer kann aber in den neuen Bundesländern solche Sicherheiten ganz schnell vorweisen? Die unklaren Regelungen der Eigentumsverhältnisse tun ihr übriges, um die wenigen Sicherheiten, die geboten werden können, in Frage zu stellen.
Ich bin der Auffassung, daß die Banken ihrer Verantwortung beim Neuaufbau und ihren Versprechungen bei der Währungsunion zur möglichen Kreditgewährung noch nicht ausreichend gerecht werden. Nicht nur ich erinnere mich daran, daß kurz nach der Maueröffnung eine großzügigere Kreditvergabe versprochen wurde. Die Sendungen des Fernsehens, die von den Ostdeutschen mit großem Interesse aufgenommen wurden, entpuppen sich jetzt manchmal doch als Märchenstunde.
Fakt ist, daß über die Hälfte der Kreditanträge z. B. an die Dresdner Bank von den Bearbeitern von vornherein abgelehnt wurden — und das, nachdem man einen tüchtigen, bürokratischen Weg hinter sich hatte. Tatsache sind auch die langen Wartezeiten bei der Bearbeitung durch die Banken. Die Kapazitäten seien begrenzt, heißt es. Die Banken gehören aber nach ihren Geschäftsberichten zu den Gewinnern der deutschen Einheit. Das paßt aus meiner Sicht zusammen.
Nach dem Grundsatz, daß an den Kosten der deutschen Einheit auch die Gewinner beteiligt werden sollten, haben wir eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für den Banksektor vorgeschlagen. Ich wiederhole das, auch wenn es nicht ganz in diesen Zusammenhang hineinpaßt. Damit könnten weitere Aufgaben des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern finanziert werden, für die das Volumen der ERP-Kredite nicht reicht.
Was halten wir für besonders dringlich? Das Studium des Gesetzentwurfs und der ERP-Vergaberichtlinien lassen den direkten Bezug auf die Schaffung
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Dr. Fritz Schumann
möglichst vieler wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze vermissen. Das halten wir aber angesichts der besonderen Arbeitsmarktsituation für notwendig und möglich. Ich kann den bereits von Dr. Schwörer erwähnten großen Effekt der Arbeitsplatzschaffung unterstreichen. Wir sollten hier eine direktere Verbindung herstellen.
In unserem Entschließungsantrag schlagen wir außerdem vor, die Bundesregierung durch den Bundestag aufzufordern, die Vergaberichtlinien für die ERPKredite zu präzisieren und bei der Kreditgewährung die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in alternativen, selbstbestimmten Unternehmensformen in den Mittelpunkt zu stellen.
Danke.
Als nächster hat das Wort der Kollege Ulrich Petzold.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! ABM, diese Abkürzung kennt in den neuen Bundesländern jeder. Würde man nach ERP-Förderung fragen, hätte man wohl bei der breiten Masse der Bevölkerung nur wenig Erfolg. Und doch ist dieses Programm, geht man nach den neugeschaffenen Arbeitsplätzen, viel effektiver als das Zauberwort ABM. Zirka 490 000 Arbeitsplätze wurden in den neuen Bundesländern durch die Stimulierung privater Initiative geschaffen. Das sind keine Arbeitsplätze, die nach ein oder zwei Jahren wieder verschwinden, wenn die Steuergroschen aufgezehrt sind.
Durch die Unternehmensberatung bei der Vergabe der ERP-Mittel muß gerade diesem geförderten Unternehmen eine gute Erfolgs- und Überlebenschance eingeräumt werden. Nur mit solchen Fördermaßnahmen wie ERP-Investitionskrediten können wir das Übermaß an ABM-Stellen, das uns allen Bauchschmerzen bereitet, endlich eindämmen.
Seit dem Beginn dieses Mittelstandsförderprogramms im März 1990 in den neuen Bundesländern war die Resonanz so groß, daß die Mittel bereits 1990 mehrfach aufgestockt werden mußten. Die Mittel für die Investitionsförderung 1991 in Höhe von 7,7 Milliarden DM in den neuen Bundesländern sind seit Oktober erschöpft und mußten auch aufgestockt und durch flankierende Maßnahmen gestreckt werden. Bei diesen flankierenden Maßnahmen erschien auf den ersten Blick die schlagartige Herausnahme der Heilberufe aus der ERP-Förderung als unannehmbare Härte.
Durch das Bundeswirtschaftsministerium konnte jedoch nachgewiesen werden, daß durch Eigenmittel-programme und zukünftige ERP-Kreditbürgschaften diese Streichung nur wenig ungünstigere Bedingungen schafft. Bei eigener Befragung Betroffener konnte ich feststellen, daß diese den Schnitt überwiegend akzeptieren.
Weiterhin wird eine Streckung der Mittel auch für das Jahr 1991 durch die Verringerung der Zinsverbilligung erreicht. Wir wollen damit möglichst vielen Mittelständlern diese Hilfe zugänglich machen. Außerdem sollen verstärkt die Berufsgruppen zum Zuge kommen, bei denen im Gegensatz zu den Heilberufen zwischenzeitlich noch eine Qualifikation erforderlich war, wodurch sich der Aufbau eines eigenen mittelständischen Betriebes verzögerte.
Damit wird garantiert, daß sich die Förderung auf die Wirtschaftszweige verteilt, die das Fundament für einen soliden Mittelstand in den neuen Bundesländern bilden. Gerade hier wurde durch die DDRMachthaber mit der Zerschlagung ganzer Mittelstandsbranchen schwer gesündigt.
Unsicherheiten bei der Vergabe der ERP-Mittel verursachte in letzter Zeit der beabsichtigte Verkauf der mit dem ERP-Aufbauprogramm betrauten Berliner Industriebank an die Industrie-Kreditbank. Die Vergabe des neuen ERP-Aufbauprogramms an die Berliner Industriebank mit der Vorgabe, dieses Fördergeschäft zusammen mit der dieses Fördergeschäft betreibenden Berliner Belegschaft an eine neue Berliner Filiale der Deutschen Ausgleichsbank zu übertragen, sichert für Kreditnehmer aus den neuen Bundesländern eine gute Zugänglichkeit und einen fließenden Übergang ohne Stocken.
Für unsere Entscheidung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Feststellung des Wirtschaftsplanes des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1992 muß eine Befragung der geförderten Existenzgründer durch das Bundeswirtschaftsministerium ausschlaggebend sein. Diese erklärten fast ausnahmslos, daß sie den Schritt zur Selbständigkeit ohne ERPMittel nicht gewagt hätten.
Auch wenn wir für das Jahr 1992 zur Finanzierung des ERP-Programms nach der letzten Korrektur einen um zwei Milliarden DM erhöhten Kredit aufnehmen müssen, so ist dieses Geld investiv angelegt, und zwar mit einem außerordentlich positiven Initialeffekt für die Wirtschaft, dessen psychologische Auswirkung gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Positiv wirkt sich auch aus, daß hier fast ausschließlich Investoren aus den neuen Bundesländern gefördert werden. Die CDU-Bundestagsabgeordneten der neuen Bundesländer empfehlen daher dringend, den vorliegenden Gesetzentwurf anzunehmen.
Verehrte Frau Skarpelis-Sperk, lassen Sie mich noch meine Enttäuschung zum Ausdruck bringen, daß Sie hier diesen Gesetzentwurf ablehnen, nachdem Sie im Unterausschuß die Bedenken bei gleicher Sachlage kaum vortrugen und sich der Stimme enthielten.
Als nächster hat das Wort der Kollege Hans Martin Bury.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter dem Eindruck leerer Kassen scheint sich auch in den Reihen der Regierungsfraktionen eine möglicherweise schwäbische Erkenntnis durchzusetzen, die Erkenntnis, daß man eine
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Hans Martin Bury
D-Mark nur einmal ausgeben kann. Sie übersehen allerdings in unserer heutigen Debatte über den ERPWirtschaftsplan einen speziellen Mechanismus, der den besonderen Charme des ERP ausmacht: Sie können für eine D-Mark aus dem Bundeshaushalt nämlich 3 D-Mark ERP-Kredite ausgeben, wenn Sie die Mittel nicht als Zinszuschuß verpulvern, sondern als Eigenmittel einsetzen und revolvierend ausgeben. Aus den Zinserträgen dieser Eigenmittel können am Kapitalmarkt refinanzierte Kredite in doppelter Höhe auf ERP-Niveau subventioniert werden.
Das ERP-Nachfolgeprogramm des legendären Marshallplans ist also im Grunde ein Traum für Wirtschaftsminister und Finanzminister gleichermaßen. Wenn man die Sache allerdings verkehrt anpackt, wie Sie, dann ist die Wirkung entsprechend fatal:
Die am falschen Ende eingesparte Mark fehlt gleich dreifach. Die kurzfristige und kurzsichtige Mittelkürzung führt zu einer Halbierung der Kreditvergabemöglichkeiten im Jahre 1993 und 1994 zu einem weiteren Absinken auf rund 5,6 Milliarden DM gegenüber 14 Milliarden DM im Jahre 1992.
Pikant ist dabei aber nicht nur, daß ausgerechnet in den ersten Jahren des europäischen Binnenmarktes die Wirtschaftsförderung drastisch abgebaut werden soll, geradezu unverantwortlich ist es, die im Hinblick auf die Herausforderungen der deutschen Einigung zugesagte Aufstockung der ERP-Mittel faktisch rückgängig zu machen.
Es wäre an der Zeit, sich aus den Verstrickungen von Wahlversprechen zu lösen und dem Fortsetzungsroman von den blühenden Ländern nicht weitere Kapitel anzufügen. Es ist richtig, daß in einzelnen Bereichen erfreulicherweise der Turn-around sichtbar wird oder in absehbare Nähe rückt.
Wir werden in den neuen Ländern in den nächsten Jahren sicherlich eindrucksvolle Wachstumsraten bekommen; das liegt jedoch in erster Linie am statistischen Basiseffekt, d. h. am ausgesprochen niedrigen Ausgangsniveau.
Richtig ist aber auch, daß der gewaltige wirtschaftliche Rückstand nicht innerhalb von zwei oder drei Jahren aufzuholen sein wird.
Betrachten Sie bitte in diesem Zusammenhang einen Indikator, der für die Beurteilung der notwendigen ERP-Aufgaben von entscheidender Bedeutung ist. In den Ländern der alten Bundesrepublik ist jeder achte Erwerbstätige selbständig, in der DDR war es nur jeder fünfzigste.
Auch der Sachverständigenrat mißt deshalb der Förderung von Existenzgründungen unter den Anpassungshilfen große Bedeutung zu.
— Moment! Dies gilt vor allem unter Berücksichtigung des Zieles, Arbeit zu finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit,
und wir wissen alle — Sie haben darauf hingewiesen — , daß gerade in den ERP-geförderten Unternehmen viele hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen wurden oder gesichert worden sind.
Die geplanten Einschnitte also behindern die soziale und wirtschaftliche Einigung Deutschlands,
von der Sie gerade eben selber bestätigt haben, daß sie nicht innerhalb von zwei oder drei Jahren zu realisieren sein wird. Die Einschnitte sind darüber hinaus mittelstandsfeindlich und behindern die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die SPD kann aus diesen Gründen dem ERP-Wirtschaftsplan diesmal nicht zustimmen.
Wir wenden uns auch gegen die optische Täuschung, die dieser Wirtschaftsplan vermittelt. Was die Kollegin Skarpelis-Sperk mehr oder weniger liebevoll als Nähkästchen oder Sparkasse der Bundesregierung bezeichnet, könnte man etwas weniger freundlich, aber ebenso treffend als Unterlaufen des Haushaltsrechts des Parlaments bezeichnen.
Gelder bereitzustellen und durch Konditionenänderung dafür zu sorgen, daß diese Gelder nicht abfließen, ist nicht in Ordnung.
Die Bundesregierung hat auf diese Weise für einen zur Umbuchung vorgesehenen Mittelrest im Umweltprogramm in Höhe von 725 Millionen DM gesorgt.
Ich kritisiere an dieser Stelle nicht das Fördergefälle. Es ist im Grundsatz begründbar. Ich möchte auch die Entscheidungen der Vergangenheit nicht weiter bewerten. Wir haben das Problem im Ausschuß und gerade eben diskutiert. Der entscheidende Punkt ist die geplante Fortsetzung der beanstandeten Praxis ohne abschließende Meinungsbildung im Ausschuß und hier im Parlament. Das ist mit einer Oppositionsfraktion nicht zu machen. Das dürfte mit einer guten,
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Hans Martin Bury
mit einer selbstbewußten Regierungsfraktion auch nicht zu machen sein.
Es handelt sich hier nicht nur um einen Schönheitsfehler. Es handelt sich auch inhaltlich um einen zentralen Bereich, die Förderung von Umweltinvestitionen. Gekrönt wird die an Seriosität zu überbietende Finanzierung des ERP-Sondervermögens noch durch die Einstellung von Verkaufserlösen der zu privatisierenden Berliner Industriebank, lange bevor die Verhandlungen unter Dach und Fach sind.
Der insgesamt leichtfertige Umgang mit dem bewährten Wirtschaftsförderungsinstrument ERP setzt ohne Not die Erfolge und Chancen für die Zukunft aufs Spiel. Lassen Sie mich am Beispiel von Energiesparinvestitionen und Investitionen in regenerative Energietechniken die Problematik konkretisieren. Gerade Investitionen, die Energiespareffekte zum Ziel haben oder konventionelle Energieträger durch regenerative ersetzen, sind durch hohe Anfangsinvestitionen gekennzeichnet. Einem hohen Kapitalbedarf und entsprechend hohen Kapitalkosten stehen geringere laufende Kosten gegenüber. Gerade dieser Problematik tragen zinsverbilligte ERP-Darlehen mit tilgungsfreien Jahren zu Beginn der Laufzeit in besonderer Weise Rechnung. Sie helfen, Liquiditätsengpässe zu vermeiden und die Zahlungsströme anzugleichen. Dieser Mechanismus greift sinngemäß, wenn auch in anderer Ausprägung, ebenso bei Existenzgründungen, Modernisierungsinvestitionen usw.
ERP-Darlehen bieten dem Investor eine tragfähige, kalkulierbare Basis. Durch die Beteiligung der Hausbanken und die bedarfsgerechte verbilligte Finanzierung ist die Zahl der Insolvenzen bei ERP-geförderten Unternehmen außerordentlich gering. Marktzutrittshindernisse werden, und zwar sowohl subjekt- als auch objektbezogen, überwunden. Den potentiellen Investoren wird der Marktzutritt erleichtert. Das ist im übrigen eine wesentliche Anforderung an einen funktionierenden marktwirtschaftlichen Wettbewerb. Gleichzeitig erhalten Innovationen, beispielsweise die skizzierten Umweltschutztechnologien, Markteinführungshilfen. Gerade das Fehlen ausreichender Markteinführungshilfen behindert die Entwicklung in diesem Bereich ganz erheblich.
Durch die Konditionenänderung und die Kürzung der ERP-Mittel insgesamt wird sich die Schere zwischen steigenden Antragseingängen und einem starken Rückgang des Zusagevolumens weiter verschärfen.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß in der aktuellen wirtschaftlichen Lage und bei den entsprechenden Perspektiven die Rücknahme zugesagter ERP-Mittel kleinkrämerisch-fiskalistisch ist. Eine Zustimmung zu diesen Kürzungen wäre wettbewerbsfeindlich, mittelstandsfeindlich und ein Affront gegen Umweltschutz und Innovationen.
Die Bundesregierung verletzt darüber hinaus die Stetigkeit, die wichtig wäre, um verläßliche Rahmenbedingungen zu schaffen.
Das gilt in besonderer Weise für die neuen Länder. Statt eine weitsichtige Politik des langen Atems geht der Bundesregierung vor dem Ziel die Puste aus.
Die SPD wird diesen Wirtschaftsplan ablehnen.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich uns anzuschließen. Dann können wir in guter Tradition gemeinsam einen vernünftigen ERP-Wirtschaftsplan erarbeiten und gemeinsam verabschieden. Ich würde mich freuen, wenn Sie über den — zugegebenermaßen recht dunklen - Schatten Ihrer Fraktion springen würden.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beckmann.
On verra! — Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die ERP-Kredite, hervorgegangen aus den ehemaligen Marshallplan-Hilfen, sind ein wichtiges Instrument zur Förderung des Mittelstandes. Die Gründung selbständiger Existenzen schreitet deutlich voran. Zwei Drittel aller ERP-Anträge werden von Existenzgründern gestellt. Das, denke ich, ist eine bemerkenswerte Zahl und auch eine begrüßenswerte Entwicklung. Weitere ERP-Förderungsschwerpunkte sind die Investitionen zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen im ERP-Aufbauprogramm sowie der Umweltschutz.
Die Nachfrage nach ERP-Krediten ist außerordentlich groß, und das hängt natürlich auch mit der jetzt einsetzenden Zunahme der Investitionstätigkeit in den neuen Bundesländern zusammen, einer Entwicklung, die wir lange erwartet haben und über die wir nur froh sein können.
Für 1992, meine Damen und Herren, mußte der Planentwurf der Bundesregierung, der die jüngste Nachfrageentwicklung noch nicht berücksichtigen konnte, im parlamentarischen Beratungsverfahren aufgestockt werden, und das ist inzwischen geschehen. In der heutigen zweiten und dritten Lesung des ERP-Wirtschaftsplans 1992 liegt Ihnen nun ein Gesetzentwurf zur Verabschiedung vor, der ein Gesamtfördervolumen von 14 Milliarden DM vorsieht, 10 Milliarden DM davon für die neuen Bundesländer, 4 Milliarden DM für die alten Bundesländer.
Mit 10 Milliarden DM Kreditvolumen für die neuen Bundesländer kann man, wie ich meine, einiges erreichen. Man muß sich nur einmal die Größenordnungen vor Augen halten. In den alten Bundesländern haben
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Parlamentarischer Staatssekretär Klaus Beckmann
wir seit Kriegsende insgesamt etwas mehr als 85 Milliarden DM an ERP-Krediten herausgelegt. Gemessen daran, scheinen 10 Milliarden DM für die neuen Bundesländer nicht viel zu sein; aber bitte bedenken Sie, diese Summe geht in nur einem Jahr in die östlichen Länder; die 85 Milliarden DM, von denen ich eben sprach, sind im alten Bundesgebiet in über 40 Jahren abgeflossen. Ich denke, daß das eine sehr, sehr positive Bilanz ist, die wir hier ziehen können.
Erste Wirkungen und erste Erfolge zeichnen sich auch ab. Am Ende dieses Jahres werden wir mit rund 16 Milliarden DM ERP-Krediten Investitionen von etwas mehr als 35 Milliarden DM mitfinanziert haben und damit zur Schaffung von mehr als 600 000 neuen Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern beigetragen haben.
Ich denke, daß diese ERP-Kreditsummen eine enorme Finanzierungsleistung darstellen, eine Leistung, die das ERP-Sondervermögen aus sich heraus allein nicht erzielen konnte. Wir haben hierfür unterstützend Mittel aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt, zunächst als Kapitalzuführung und später dann, als die Nachfrage nach ERP-Krediten sprunghaft zunahm, als Zinszuschüsse. Das ERP-Sondervermögen haben wir damit in die Lage versetzt, ergänzende Kredite am Kapitalmarkt aufzunehmen und als zinsgünstige Förderungskredite bereitzustellen.
Meine Damen und Herren, ich will hier auch nicht verhehlen, daß es schmerzlich für uns war, ursprünglich vorgesehene Kapitalzuführungen an das ERP-Sondervermögen in den Jahren 1992 und 1993 wieder zu streichen und durch Zinszuschüsse und Erlöse aus dem geplanten Verkauf der Berliner Industriebank zu ersetzen. Wir haben damit auf langfristige, d. h. in fünf bis zwölf Jahren revolvierende Mittel verzichtet. Das hat aber kurzfristig für das Fördervolumen der Jahre 1992 und 1993 keine Auswirkungen.
Wir haben damit einen substantiellen Beitrag zur Finanzierung des Mehrbedarfs bei der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsförderung und bei der Kokskohlenbeihilfe geleistet.
Ich glaube, wir können beim Bundesminister für Finanzen dann dafür Verständnis erwarten, wenn in den Folgejahren beim ERP Schwierigkeiten auftreten, der Kreditnachfrage zu entsprechen, die sich ja, wie wir uns vorstellen können, nur allmählich normalisieren kann.
Herr Staatssekretär, würden Sie eine Zwischenfrage gestatten?
Aber gern.
Bitte, .Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, wir haben uns gestern im Wirtschaftsausschuß über Industriepolitik unterhalten, und Sie haben ja kein Hehl aus
Ihrer Abneigung gegenüber Industriepolitik gemacht, obwohl Frau Seiler-Albring am Nachmittag im Europaausschuß genau das Gegenteil erklärt hat: Ist eigentlich das Herunterfahren der ERP-Mittel Ausdruck Ihrer Abneigung gegen Industriepolitik?
Herr Kollege Schily, ich verstehe den Zusammenhang in Ihrer Frage nicht. Wir erreichen ein Förderungsvolumen mit einer einmaligen Spitze in den Jahren 1991 und 1992, und ich glaube, das ist der besondere Ausdruck der Mittelstandsfreundlichkeit dieser Bundesregierung.
Das hat mit der Haltung der Bundesregierung zu industriepolitischen Vorstellungen, wie sie auf der linken Seite dieses Hauses gepflegt werden, überhaupt nichts zu tun. Im übrigen bleibt die Bundesregierung natürlich bei der von mir gestern im Wirtschaftsausschuß dargestellten Haltung zu industriepolitischen Vorstellungen, die mehr aus dem Folterkasten sozialistischer Wirtschaftspolitik kommen.
Im übrigen will ich gern auf Ihren Zuruf eingehen, Herr Kollege Schily. Wir können uns vielleicht über eines verständigen: Wirtschaftspolitik wird im Wirtschaftsministerium gemacht, Außenpolitik im Außenministerium. Dabei soll es auch bleiben.
Meine Damen und Herren, von dem eben ausgedrückten Verständnis im Verhältnis zwischen Finanzministerium und Wirtschaftsministerium und nicht von kleinmütigen Projektionen in die Zukunft war die enge Zusammenarbeit zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Finanzministerium stets geprägt. Sonst wären solche Finanzierungsanstrengungen wie in der Vergangenheit im Zusammenhang mit dem ERP nicht möglich gewesen. Innerhalb von zwei Jahren — das will ich hier auch einmal betonen — haben wir das Kreditvolumen immerhin verdreifacht.
Die ERP-Förderung in den alten Bundesländern haben wir gestrafft und auf das Wesentliche konzentriert: Existenzgründung, Umweltschutz und Flankierung der Regionalförderung. Das bringt Einsparungen von etwa einem Viertel des bisherigen Zusagevolumens. Das ist möglich und meines Erachtens nach über 40 Jahren ERP-Förderung im Westen auch zumutbar.
Eine zweite Zwischenfrage, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk.
Herr Staatssekretär, Sie haben von kleinmütigen Projektionen in die Zukunft gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß diese sogenannten kleinmütigen Projektionen in die Zukunft auf Bitten der SPD-Bundestagsfraktion im zuständigen Unterausschuß von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt wurden? Sie sehen ein massives Herabfahren in den Jahren 1993 und 1994 vor.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5407
Frau Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk, ich glaube, daß Ihre Bemerkung den Sachverhalt nicht trifft. Wir haben das ERP-Programm als eine optimistische Zukunftsperspektive angelegt. Die von mir gemachten Bemerkungen betreffen einen ganz anderen Sachverhalt als den, den Sie hier jetzt darzustellen versuchen. Deswegen verstehe ich Ihre Frage überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir sollten noch einmal einen Blick auf die Umweltschutzförderung richten. Wir haben auch hier die Fördermöglichkeiten an die Rahmenbedingungen, die sich aus der deutschen Einigung ergeben haben, anpassen müssen. Das verlangte auch der Einigungsvertrag. Das verlangte aber auch die ökonomische Vernunft. Wegen des notwendigen Fördergefälles müssen die Konditionen in den neuen Bundesländern eben günstiger sein als im alten Bundesgebiet, das ja schon einen vergleichsweise guten Umweltschutzstandard erreicht hat. Unsere Förderungsmöglichkeiten im Osten wurden durch die Zinszuschüsse im Bundeshaushalt begrenzt. Hierauf haben wir uns im Westen unter Wahrung des Förderungsgefälles eingestellt. Die Förderung von Umweltschutzinvestitionen ist dann immer noch großzügiger — in West wie in Ost — als in allen anderen Förderungsbereichen. Aber es blieben im Westen Reste übrig, die wir für sonstige Förderungen in den neuen Bundesländern, insbesondere für Existenzgründungen, eingesetzt haben.
Der Umweltschutz stand in den neuen Bundesländern im Jahre 1991 noch nicht im Vordergrund. Wir erwarten aber, daß er auch dort mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Deshalb und um ein politisches Signal zu geben, haben wir dafür hohe Ansätze in den Plan 1992 eingestellt. Nicht in Anspruch genommene Mittel sollen allerdings nicht verfallen. Wir würden sie dann zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, d. h. vor allen Dingen für Existenzgründungen und für Aufbauinvestitionen, einsetzen.
— Das ist unsere kluge und vorausschauende Politik, Herr Kollege.
Der ERP-Wirtschaftsplan 1992 ist der erste, den wir nach der Vereinigung Deutschlands aufstellen und verabschieden. Er ist ein Plan der Integration der bisher in östliche und westliche Programme getrennten ERP-Förderung. Das Schwergewicht des Wirtschaftsplans 1992 liegt eindeutig in den neuen Bundesländern. In den alten Bundesländern erfolgt eine Konzentration auf das Wesentliche.
Meine sehr verehrten Kolleginnen, liebe Kollegen, ich empfehle die Annahme des Planentwurfs, wie er jetzt vorliegt, d. h. mit der Erhöhung um 2 Milliarden DM im Wege der Parlamentsinitiative.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschußfassung — Drucksachen 12/1240 und 12/1641 — zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1736. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist damit bei wenigen Enthaltungen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a bis 7 n und die Zusatzpunkte 6 bis 10 auf:
7. Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Vermögensfragen der Sozialversicherung im Beitrittsgebiet
— Drucksachen 12/1522, 12/1611 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 12/1718 —
Berichterstattung: Abgeordnete Renate Jäger
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Dezember 1989 über Gemeinschaftspatente und zu dem Protokoll vom 21. Dezember 1989 über eine etwaige Änderung der Bedingungen für das Inkrafttreten der Vereinbarung über Gemeinschaftspatente sowie zur Änderung patentrechtlicher Vorschriften
— Drucksache 12/632 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
— Drucksache 12/1588 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Ludwig Stiegler Cornelia Yzer
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1694 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hinrich Kuessner
5408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Michael von Schmude
Dr. Wolfgang Weng
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs
— Drucksache 12/1468 —
Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
— Drucksache 12/1622 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Franz-Hermann Kappes
Dr. Hans de With
d) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
— Drucksache 12/483 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren
— Drucksache 12/1593 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Pfeiffer Arne Fuhrmann
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1594 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Sigrid Hoth
Dr. Konstanze Wegner
e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hubert Doppmeier, Dirk Fischer , Helmut Rode (Wietzen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Friedrich, Ekkehard Gries, Roland Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
— Drucksache 12/1359 —
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr
— Drucksache 12/1549 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Daubertshäuser
f) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
— Drucksachen 12/460, 12/621 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft
— Drucksache 12/1515 —
Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Hinsken
g) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. Dezember 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen
— Drucksache 12/474 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/1701 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann Günter Graf
Dr. Burkhard Hirsch
h) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen einschließlich schweren Unglücksfällen
— Drucksache 12/758 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/1688 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann Bernd Reuter
Dr. Burkard Hirsch
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zum Schutz geographischer Angaben und von Ursprungsbezeichnungen bei Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln
— Drucksachen 12/187 Nr. 2.8, 12/1369 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Mayer
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5409
Vizepräsidentin Renate Schmidt
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über Bescheinigungen besonderer Merkmale von Lebensmitteln
— Drucksachen 12/187 Nr.2.17, 12/1438 —
Berichterstattung: Abgeordneter Hans Paintner
k) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Geänderter Vorschlag für eine Dreizehnte Richtlinie des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über Übernahmeangebote
— Drucksachen 11/8311 Nr.2.4, 12/1465 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Ludwig Stiegler
1) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates betreffend ein gemeinschaftliches System zur Vergabe eines Umweltzeichens
— Drucksachen 12/350 Nr. 13, 12/1628 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Böhmer
Dr. Marliese Dobberthien
Birgit Homburger
m) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über den Beitritt der Mitgliedstaaten zur Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst in der Fassung der Revision von Paris vom 24. Juli 1971 und zum internationalen Abkommen über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen vom 26. Oktober 1961
— Drucksachen 12/269 Nr. 2.5, 12/1667 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Ludwig Stiegler
n) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses
zu dem Vorschlag für eine Dritte Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG zu dem Vorschlag für eine Dritte Richtlinie
des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG
— Drucksachen 12/210 Nr. 73, 12/706 Nr. 3.1, 12/1711 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser Hermann Rind
Dr. Norbert Wieczorek
ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann Paintner, Jürgen Türk und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flächenstillegungsgesetzes 1991
— Drucksache 12/1470 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksache 12/1721 —
Berichterstattung:
Abgeordneter Rudolf Müller
ZP 7 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten Egon Susset, Meinolf Michels, Richard Bayha und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Günther Bredehorn, Johann Paintner und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entwurf eines Gesetzes über die Förderung einer einjährigen Flächenstillegung im Wirtschaftsjahr 1991/92
— Drucksachen 12/721 , 12/821, 12/822, 12/823, 12/1682 —
Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Junghans
ZP 8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 38 zu Petitionen
— Drucksache 12/1577 —
ZP 9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 39 zu Petitionen
— Drucksache 12/1678 —
ZP 10 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 40 zu Petitionen
— Drucksache 12/1679 —
5410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Ich komme zunächst zum Tagesordnungspunkt 7 a: Gesetz zur Regelung von Vermögensfragen der Sozialversicherung im Beitrittsgebiet.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei wenigen Stimmenthaltungen in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 b: Zweites Gesetz über das Gemeinschaftspatent.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 c: Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1622, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 d: Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes.
Der Ausschuß für Familie und Senioren empfiehlt auf Drucksache 12/1593, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf abstimmen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt.
Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit eine weitere Beratung.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 e: Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei einer Enthaltung in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 f:
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik über Schutz von Kapitalanlagen.
Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/1515, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 g:
Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1701, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltung? — Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 h:
Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen.
Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1688, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 i:
Verordnung des Rates zum Schutz geographischer Angaben und von Ursprungsbezeichnungen bei Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt gegen diese Beschlußempfehlung? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 7 j:
Verordnung des Rates über Bescheinigungen besonderer Merkmale von Lebensmitteln.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt gegen diese Beschlußempfehlung? — Enthaltungen? — Bei einer Enthaltung ist die Beschlußempfehlung so einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 7 k:
Vorschlag für eine Dreizehnte Richtlinie des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über Übernahmeangebote.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5411
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 71:
Verordnung des Rates betreffend ein gemeinschaftliches Systems zur Vergabe eines Umweltzeichens.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 m:
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über den Beitritt der Mitgliedstaaten zur Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst und zum internationalen Abkommen über den Schutz der ausübenden Künstler, der Hersteller von Tonträgern und der Sendeunternehmen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7 n:
Dritte Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatztagesordnungspunkt 6:
Änderung des Flächenstillegungsgesetzes 1991.
Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 12/1721, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen! — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit bei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung: Flächenstillegungsgesetz 1991.
Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/823 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zu den Zusatzpunkten 8 bis 10 der Tagesordnung. Dabei stimmen wir ab über die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/1577, 12/1678 und 12/1679. Das sind die Sammelübersichten 38 bis 40.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei zwei Stimmenthaltungen sind die Beschlußempfehlungen so einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren
— Drucksache 12/1469 —
— Drucksache 12/1573 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Eine Aussprache ist auch dafür nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 12/1469. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1606, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1573 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit oder wenigsten eine erholsame Mittagspause.
Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort, und zwar mit Tagesordnungspunkt 2:
5412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Vizepräsident Helmuth Becker
Fragestunde
— Drucksachen 12/1684, 12/1717 —
Zur Fragestunde waren dringliche Fragen des Abgeordneten Norbert Gansel bezüglich des Rücktritts von Herrn Stavenhagen eingereicht. Da die SPD-Fraktion zum gleichen Thema für heute abend eine Aktuelle Stunde erbeten hat, die auch genehmigt ist, werden die Fragen des Kollegen Gansel nach der Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen dann zum Bereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Hierzu sind die dringlichen Fragen 3 und 4 der Frau Abgeordneten Ingrid Köppe eingereicht worden. Beide Fragen werden auf Grund der Richtlinie Nr. 2 Abs. 2 schriftlich beantwortet.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch sind zurückgezogen.
Dann kommen wir zum Bereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Für die Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Siegmar Mosdorf auf:
Trifft es zu, daß die EG für das Mikroelektronik-Programm Jessi für 1992 nicht wie geplant 130 Mio. ECU, sondern nur noch 70 Mio. ECU zur Verfügung stellt, und daß dieses auf die geringeren Finanzzuweisungen der EG-Länder zurückzuführen ist?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Jessi ist ein Eureka-Programm, das von den beteiligten Regierungen — Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande und Großbritannien — und der EG gemeinsam gefördert wird.
Die EG-Kommission hat angekündigt, für 1992 bis 1994 zusammen 55 % des Mikroelektronik-Budgets im Rahmen des europäischen Forschungsprogrammes Esprit für Jessi zur Verfügung zu stellen. Dies entspricht 200 Millionen ECU für drei Jahre. Die von Herrn Vizepräsident Pandolfi entsprechend der JessiPlanung gemachte Zusage über eine 25 %ige Finanzierungsbeteiligung — dies entspräche etwa den von Ihnen hinterfragten 130 Millionen ECU pro Jahr von der EG für Jessi — ist damit aber nicht erfüllt. Im Jahre 1992 wird der Finanzierungsanteil der EG an Jessi bei etwa 15 % liegen. Das entspricht der von Ihnen genannten Summe von etwa 68 Millionen ECU.
Der Umstand, daß der Finanzierungsbeitrag der EG geringer als erwartet ausfallen wird, war den JessiBeteiligten seit Mitte dieses Jahres bekannt, so daß dies als Randbedingung für die vorgenommene Neustrukturierung des Jessi-Programms berücksichtigt werden konnte.
Die Situation hinsichtlich der EG-Beteiligung ist aber dennoch unbefriedigend. Die Ursache liegt nach Auffassung der Bundesregierung keineswegs, wie von der EG-Kommission behauptet, in der unzureichenden Mittelausstattung des EG-Forschungsprogramms Informationstechnologien — mit dem Namen Esprit — , sondern in der von der Kommission noch unzureichend vorgenommenen strategischen Schwerpunktsetzung. Auf eine solche Straffung der EG-Forschungsprogramme wirken die Bundesregierung und einige andere Regierungen in Europa seit längerem hin. Daß es nun gelungen ist, über die Hälfte der im Rahmen von Esprit für die Mikroelektronik veranschlagten Mittel für eine strategisch orientierte Maßnahme, also Jessi, zu reservieren, sehe ich als bemerkenswerten Teilerfolg.
Das ist die Beantwortung der Frage.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Mosdorf.
Herr Staatssekretär, teilen Sie meine Sorge, daß die Bundesrepublik Deutschland und Europa auf diesem speziellen Gebiet der Mikroelektronik und auf dem Sektor der Hochtechnologie dabei sind, wichtige Wettbewerbspositionen zu verlieren, und hat die Bundesregierung die Absicht, dem entgegenzuwirken?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Die Sorge, daß es hier um den Wettbewerb und den möglichen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Mikroelektronik geht, ist sicher berechtigt. Es stellt sich allerdings die Frage, wer dagegen im einzelnen etwas tun kann. Hier ist nicht nur die Bundesregierung aufgefordert, etwas zu tun, sondern insbesondere die deutsche Industrie. Die deutsche Industrie ist aufgefordert, darüber nachzudenken, was sie tun kann.
In bezug auf die Bundesregierung darf ich sagen, daß wir diese Thematik sehr ernst nehmen und daß wir deshalb ja auch in Hinblick auf die Schwerpunktsetzung innerhalb der EG-Programme darauf gedrungen haben und nach wie vor darauf dringen, daß für den Bereich der Mikroelektronik — also einer entscheidenden Schlüsselindustrie — noch mehr als bisher getan wird, d. h., daß der Anteil für diese Maßnahmen erhöht wird. Sie wissen, daß wir uns hier mit den Interessen der anderen EG-Mitglieder auseinanderzusetzen haben. In bezug auf die Mikroelektronik gibt es da ein unterschiedliches Interesse. Wir werden aber unsere Vorhaben fortsetzen.
Wir sind darüber hinaus in anderen Bereichen — insbesondere im Bereich der Anwendung — tätig. Ich erinnere hier an SICAN. Das ist ein Projekt, bei dem es darum geht, in Verbindung mit der Industrie im anwendungsorientierten Bereich weiterzukommen. Dieser Bereich ist im übrigen das Problem in der Auseinandersetzung mit den Japanern.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Mosdorf.
Herr Staatssekretär, welche Initiativen — mich interessiert insbesondere die finanzielle Ausstattung — beabsichtigt die Bundesregierung, um auf diesem Sektor der Mikroelektronik eine wichtige Wettbewerbsposition zu halten, und haben Sie dazu — außer den zehn Punkten, die neulich als Memorandum veröffentlicht worden sind — Ideen und Vorschläge?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5413
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß die zehn Punkte, die als Memorandum veröffentlicht worden sind, dann, wenn man sie tatsächlich umsetzte, eine entscheidende Initiative darstellten. Das ist ja sozusagen die theoretische Vorbereitung dessen, was wir als wichtig ansehen. Darüber hinaus muß man wissen, daß wir als Bundesrepublik Deutschland den Wettbewerb im Bereich der Mikroelektronik im Hinblick auf die anderen Märkte nicht allein gewinnen können, sondern, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit den europäischen Partnern. Deshalb sind die Summen, die wir im Hinblick auf den nationalen und den europäischen Bereich ausgeben, schwerpunktmäßig auf europäische Kooperationen konzentriert; 110 Millionen DM für Jessi. Im nationalen Bereich geben wir etwa 25 Millionen DM aus.
Wir glauben, daß wir nur dann, wenn wir Europa voranbringen und im Bereich der EG deutlich machen, daß wir auf dem Sektor der Mikroelektronik noch stärkere Akzente setzen müssen, den Wettbewerb gewinnen können. Aber allein die Mittel der Bundesrepublik Deutschland werden dazu nicht ausreichen.
Ich bleibe dabei: Eine wichtige Initiative stellt das Zehn-Punkte-Programm dar, dessen Umsetzung so schnell wie möglich in Angriff genommen werden muß.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily.
Herr Staatssekretär Neumann, sehen Sie die Japaner im technologischen und wirtschaftlichen Wettbewerb auf dem Markt der Mikroelektronik mit einem gewaltigen Vorsprung, und wie glaubt die Bundesregierung, wenn ein solcher Vorsprung vorhanden ist, diesen ausgleichen zu können und in welchem Zeitraum?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Sie verlangen von mir, auf eine Problematik, über die im Augenblick in der Bundesrepublik Deutschland in vielen Seminaren und auf Symposien diskutiert wird, mit wenigen Sätzen zu antworten.
— Ich beuge nur vor. Wenn Ihnen meine Antwort nicht ausreicht, dann mögen Sie das bitte auf die geringe Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, zurückführen.
Ich glaube, daß es darauf eine Vielzahl von Antworten gibt. Mit Sicherheit sind die Anstrengungen nötig, die ich soeben auf die Anfrage Ihres Kollegen genannt habe.
Darüber hinaus stellt sich die Frage: Können die Europäer diesen Wettbewerb allein überhaupt gewinnen? Die Antwort, die unser Haus und die mein Minister geben, lautet: Wir werden den Wettbewerb nur gewinnen können, wenn wir uns öffnen. Hier gibt es erste Versuche zwischen IBM und einer deutschen Firma. Wir müssen Kooperationen, die über Europa hinausgehen, eingehen. Wir müssen auch versuchen, verstärkt mit den Japanern zu kooperieren.
Ganz wichtig ist es, daß nicht nur die Japaner bei uns wie auf einer Einbahnstraße in besonderer Weise tätig sind, sondern daß die Straße auch in umgekehrter Richtung befahren wird. Diese weltweiten Maßnahmen sind nötig, um, was Europa betrifft, im Bereich der Mikroelektronik auf die Dauer überhaupt wettbewerbsfähig zu sein.
Daß wir völlig ins Hintertreffen geraten sind, wage ich zu bezweifeln. Auch der Herr Seitz, der sich in Aufsätzen und in einem Buch darüber ja ausführlich ausgelassen hat, sieht das so eindeutig nicht. Er weist auf die Gefahren hin. Ich glaube nicht, daß man schon sagen kann, wir seien da in dem Wettbewerb völlig abgehängt. Allerdings müssen wir aufpassen. Und da gibt es eine Vielzahl von Maßnahmen. Einige davon habe ich angesprochen.
Meine Damen und Herren, diese letzte Frage stand in einem nicht ganz unmittelbaren, aber doch in einem mittelbaren Zusammenhang zu dem, was eigentlich debattiert wird. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dafür, daß Sie trotzdem auch dazu einmal etwas gesagt haben. — Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.
Die Fragen 9 und 10 des Abgeordneten Dr. Dieter Sperling werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Ortwin Lowack auf:
Welches Vorgehen empfiehlt die Bundesregierung aus den Oder-Neiße-Gebieten vertriebenen Deutschen zur Wahrung ihrer Rechtsansprüche aus Eigentum, das ihnen mit der Vertreibung völkerrechtswidrig entzogen wurde?
Bitte, Frau Staatsministerin.
Herr Kollege Lowack, die Bundesregierung muß davon absehen, Privatpersonen hinsichtlich der Verfolgung ihrer Rechtsansprüche Empfehlungen zu geben.
Zur Rechtslage erinnert die Bundesregierung daran, daß sie die Vertreibung der Deutschen immer verurteilt und die entschädigungslose Einziehung des deutschen Vermögens nie gebilligt hat. Sie hat diese Rechtsauffassung in den Verhandlungen mit Polen zum Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit erneut dargelegt. In Ziffer 5 des zu diesem Vertrag gehörenden Begleitschreibens wird hierzu auch festgehalten, daß sich dieser Vertrag nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und Vermögensfragen befaßt.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lowack, bitte.
Hochzuverehrende Frau Staatsministerin, geschätzte Kollegin, ist der Bundesregierung eigentlich bewußt, daß es hier um Millionen von Schicksalen deutscher Staatsangehöriger geht und daß das Kanzleramt in Tausenden von
5414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Ortwin Lowack
Briefen den Betroffenen eigentlich sehr deutlich mitgeteilt hat, daß man der Auffassung sei, das deutsche Eigentum sei nicht untergegangen, und daß man sich gerade dadurch, daß in den Verträgen diese Frage offengeblieben ist, heute eigentlich dazu bekennen könnte, daß man in weiteren Gesprächen mit der polnischen Seite, weil es eine zu regelnde Frage ist, tatsächlich darüber sprechen sollte, daß die Dinge im Einvernehmen mit Polen geregelt werden?
Herr Kollege Lowack, Sie haben die Verhandlungen mit Polen sehr intensiv verfolgt und müssen deshalb wissen, daß der Bundesregierung, die diese Vertragsverhandlungen sehr ernsthaft und sehr intensiv betrieben hat, natürlich bewußt ist, wieviel menschliches Schicksal mit dieser Frage verbunden ist. Deshalb hat die Bundesregierung in diesem Begleitschreiben, das ich vorhin erwähnt habe, ausdrücklich geschrieben, daß die Frage der Staatsangehörigkeit und die vermögensrechtlichen Dinge nicht Gegenstand des Vertrages sind. Sie wissen: Das ist zwar Gegenstand der Verhandlungen gewesen, man hat hier aber keine Einigung finden können. Die Bundesrepublik, die Bundesregierung, hat die Ansprüche der von Ihnen erwähnten Personen nie aufgegeben.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Lowack.
Verehrte Frau Kollegin, ist Ihnen bewußt, daß Sie damit die Frage, wie wir zukünftig eventuell doch an die polnische Regierung herantreten könnten, nicht beantwortet haben, und darf ich das gleichzeitig ergänzen mit dem Hinweis, daß es doch mit unserer Sicht und insbesondere mit der Sicht der bisherigen Wirtschaftspolitik, beispielsweise auch der der FDP, eigentlich nicht vereinbar wäre, so zu verfahren, wie wir es bisher getan haben, sondern daß es eigentlich besser wäre, wir würden es den Deutschen, die aus den Vertreibungsgebieten kommen, ermöglichen, unter Bezugnahme auf ihr Eigentum dort wieder zu investieren, statt so zu verf ah-ren, daß Sie etwa aus Steuermitteln zur Entwicklung eines Landes beizutragen versuchen, das privat viel besser entwickelt werden könnte?
Herr Kollege Lowack, es steht den von Ihnen angesprochenen Personen ja frei, z. B. zu klagen. Sie wissen aber ganz genau, weil Sie sich mit dieser Thematik ja sehr intensiv beschäftigen, daß diese Verhandlungen in Polen und natürlich unter polnischem Recht stattfänden. Den Ausgang dieser Verhandlungen können Sie sich vorstellen.
Herr Kollege Lowack, was in der Zukunft z. B. bei Verhandlungen mit Polen, die wir ja im Prinzip wollen, beispielsweise über die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft erreicht wird, kann man heute noch nicht absehen. Es ist nichts eingeschlossen, es ist nichts ausgeschlossen.
Vielen Dank, Frau Staatsminister.
Wir kommen zur Frage 12 des Kollegen Martin Göttsching. Er will seine Frage schriftlich beantwortet haben. Dann verfahren wir so. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 13 unseres Kollegen Hans Wallow:
Welche Gründe waren dafür maßgeblich, daß die deutsche Botschaft in Nairobi/Kenia den Vorwurf der dortigen Regierung, die Demokratiebewegung im Lande unterstützt zu haben, damit zurückwies, daß diese Behauptung „negative Folgen" auf die deutsch-kenianischen Beziehungen haben könne?
Bitte, Frau Staatsminister.
Herr Kollege Wallow, die Unterstützung von Demokratie und Pluralismus ist essentieller Bestandteil unseres Dialogs mit den afrikanischen Partnerländern. Auch gegenüber der kenianischen Regierung haben wir bilateral und im EG-Kreis wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß die repressiven Maßnahmen gegen Regimekritiker von uns nicht hingenommen werden können.
Um unsere Solidarität mit der demokratischen Opposition deutlich zu machen, haben wir zwei Angehörige der deutschen Botschaft in Nairobi als Beobachter zur FORD-Demonstration am 16. November dieses Jahres entsandt. Als Reaktion auf die gewaltsame Verhinderung dieser Demonstration hat Bundesminister Genscher den deutschen Botschafter in Nairobi zur Berichterstattung nach Bonn einbestellt. Damit haben wir ein sehr deutliches Signal gesetzt.
Die Bundesregierung hat mit diesen Aktivitäten und Aktionen wesentlich dazu beigetragen, daß die kenianische Regierung gestern die Einführung eines Mehrparteiensystems beschlossen hat.
Zusatzfrage des Kollegen Wallow, bitte.
Frau Staatsministerin, unser Nachbarland Dänemark hat auf Grund der Menschenrechtsverletzungen und auf Grund von Korruptionsproblemen die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kenia eingestellt. Ist etwas ähnliches von der Bundesregierung geplant?
Herr Kollege Wallow, beim Gebertreffen über bilaterale und multilaterale Entwicklungshilfe an Kenia am 25./26. November dieses Jahres in Paris haben wir in einer politischen Erklärung dargelegt, daß wir unsere zukünftige Entwicklungshilfe an Kenia im Lichte der Reformbereitschaft der kenianischen Regierung prüfen werden. Fast alle anderen Geber sind uns hierin gefolgt.
Herr Kollege Wallow, mir liegt ein Schreiben unserer Botschaft in Nairobi vom 3. dieses Monats vor, in dem das, was ich eben angedeutet habe, noch einmal dargelegt wird: Auf Empfehlung des Parteitages der Einheitspartei KANU hat die heute tagende nationale KANU-Delegiertenkonferenz beschlossen, den Abschnitt 2 a der kenianischen Verfassung zu streichen, der das Einparteiensystem in der kenianischen Verfassung festschrieb. — Damit ist die Tür für die Einführung eines Mehrparteiensystems in Kenia geöffnet. Darüber hinaus haben führende FORD-Mitglie-
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Staatsministerin Ursula Seiler-Albring
der unserem Botschafter in Nairobi — ich zitiere wörtlich — in bewegten Worten für die Beiträge unserer Regierung zu dieser historischen Entscheidung, die ohne den Druck der westlichen Geberländer nicht zustande gekommen wäre, gedankt.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann kommen wir zu den Fragen 14 und 15. Beide Fragen des Kollegen Klaus Kübler sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das gilt ebenso für die beiden Fragen des Kollegen Jürgen Augustinowitz, also für die Fragen 16 und 17, die er schriftlich beantwortet haben möchte. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun kommen wir zur Frage 18 unseres Kollegen Gernot Erler:
Wie begründet die Bundesregierung die Änderung ihrer Position bei der Frage der Anerkennung von Kroatien und Slowenien, indem sie jetzt eine deutsche Anerkennung ab dem 10. Dezember 1991 notfalls im Alleingang in Aussicht gestellt hat, nachdem sie vorher monatelang eben diesen Alleingang ausgeschlossen hat?
Bitte, Frau Staatsminister.
Herr Kollege Erler, nicht zuletzt auf Betreiben der Bundesregierung haben die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft am 6. Oktober u. a. erklärt, daß für den Konflikt in Jugoslawien auch eine politische Lösung im Hinblick auf die Anerkennung der Unabhängigkeit derjenigen Republiken, die dies wünschen, gesucht werden sollte, und zwar am Ende eines Verhandlungsprozesses, der in gutem Glauben geführt wird und alle Parteien einbezieht.
Für diesen Verhandlungsprozeß und für die Entscheidung über die Anerkennung hat der niederländische Außenminister van den Broek im Namen der Zwölf am 10. Oktober in Den Haag einen Zeitrahmen von höchstens zwei Monaten mit den jugoslawischen Konfliktparteien vereinbart. Daran orientiert sich die Bundesregierung.
Sie wird auf dem Treffen der EG-Außenminister am 16. 12. ihre Partner zur Anerkennung von Kroatien und Slowenien auffordern. Sollten sich jetzt noch nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft der am 10. Oktober festgelegten Haltung anschließen, beabsichtigt die Bundesregierung, zusammen mit möglichst vielen EG-Partnern und mit anderen Staaten die Anerkennung noch vor Weihnachten auszusprechen.
Kollege Erler, Zusatzfrage? — Bitte.
Frau Staatsministerin, Sie haben eben in Ihrer Antwort bestätigt, daß die Bundesregierung von ihrem bisherigen Prinzip, eine solche Anerkennung nur im Konsens mit allen EG-Partnern vorzunehmen, abgerückt ist. Können Sie noch einmal sagen, was die Ursache für diesen Wechsel in der Haltung, was die Gemeinsamkeit dieses Beschlusses angeht, darstellt?
Herr Kollege Erler, die Bundesregierung hat immer gesagt, daß wir versuchen werden, so viele Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wie möglich davon zu überzeugen, daß am Ende dieser Verhandlungsphase von zwei Monaten die Anerkennung der Teilrepubliken, die dies wollen, stehen muß. Insofern kann ich keine Änderung der Haltung der Bundesregierung erkennen.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Erler, bitte.
Mit dieser Erkenntnis stehen Sie alleine.
Aber ich komme zu einer zweiten Zusatzfrage. Frau Staatsministerin, ich gehe davon aus, daß diese neuerlichen Anstrengungen der Bundesregierung in bezug auf die Anerkennung der beiden Staaten nicht so sehr Ausfluß völkerrechtlicher Erkenntnisse sind — denn dann hätte man das auch schon früher tun können — , sondern sich auch auf das Ziel beziehen, den Krieg dort zu beenden. Können Sie mir sagen, welchen Mechanismus Sie nach der Anerkennung erwarten, der zur Beendigung der Kriegshandlungen führen könnte?
Mechanismus zur Beendigung der Kriegshandlungen?
Welche Wirkung geht Ihrer Meinung nach von der Anerkennung aus, damit die Kriegshandlungen beendet werden können?
Wir haben immer gesagt, daß eine unmittelbare Folge in bezug auf die Einstellung der Kriegshandlungen durch eine Anerkennung sicherlich nicht erwartet werden kann. Wir sind aber der Überzeugung, daß die Verhandlungen, die z. B. Cyrus Vance im Auftrag des Generalsekretärs in bezug auf die Stationierung von Blauhelmtruppen führt, u. a. ein geeignetes Mittel sind, dazu beizutragen, diese Kriegshandlungen in allernächster Zeit einzustellen bzw. dort, wo Waffenruhe herrscht, diese auch beizubehalten.
Wir kommen zur Frage 19 unseres Kollegen Gernot Erler:
Aus welchem Grund hat die Bundesregierung diese Ankündigung zwei Wochen vor dem EG-Gipfel in Maastricht gemacht, und mit welchen Auswirkungen rechnet sie dabei für das politische Ziel des EG-Gipfels in Maastricht, eine Europäische Politische Union auf den Weg zu bringen?
Frau Staatsministerin, bitte.
Herr Kollege Erler, die Bundesregierung hat diese Ankündigung jetzt gemacht, weil — wie ich vorhin schon ausgeführt habe — am 10. Dezember 1991 die von Außenminister van den Broek vereinbarte Frist abläuft. Sie rechnet nicht mit Auswirkungen auf den Europäischen Rat in Maastricht.
Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.
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Frau Kollegin, weltweit muß man ja wohl von außen wahrnehmen, daß eines der Hauptbetreiberländer für die europäische politische Integration jetzt in dieser Anerkennungsfrage vorprescht. Wie können Sie dann begründen, daß davon keine Auswirkungen auf das Ziel der politischen Integration Europas möglich sind?
Herr Kollege Erler, es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß die Bundesregierung, die Sie sicherlich damit gemeint haben, jetzt vorprescht. Die Meinung der Bundesregierung zu den Abläufen in Jugoslawien steht seit geraumer Zeit fest. Sie wissen, daß wir uns bemühen, im Rahmen z. B. der Regierungskonferenz zur Politischen Union eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Deshalb ist es ja nur logisch, daß die Bundesregierung als eine Regierung im Rahmen von zwölf anderen darauf bedacht sein muß, hier ein koordiniertes Vorgehen zu ermöglichen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Erler.
Frau Staatsministerin, würden Sie sagen, daß das Verhalten der Bundesregierung in dieser Anerkennungsfrage mit der Ankündigung, notfalls auch im Alleingang oder mit denen, die mitmachen, anzuerkennen, ein Modellfall für das ist, was man sich künftig als europäische politische Integration vorstellen kann?
Herr Kollege Erler, dieser Prozeß ist außerordentlich kompliziert. Wir sind dabei, Wege und Möglichkeiten für eine Koordinierung unserer Politiken und die Entwicklung gemeinsamer Politiken zu finden. Diese ganzen Abläufe können uns sicherlich sehr hilfreich dabei sein, diese zukünftig effizienter zu gestalten.
Weitere Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily, bitte.
Frau Staatsministerin, hat die Bundesregierung einmal den Rat von Willy Brandt bedacht, daß man mit Anerkennung nicht drohen sollte?
Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Kollege Schily, welche Äußerung der Bundesregierung Sie in bezug auf eine Drohung meinen könnten.
Wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Ich bedanke mich, Frau Staatsministerin, daß Sie hier zur Verfügung gestanden haben.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner zur Verfügung.
Die Fragen 20 und 21 des Kollegen Wolfgang Börnsen sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 22 und 23 sind zurückgezogen worden.
Dann rufe ich Frage 24 des Abgeordneten HansJoachim Otto auf:
Was hat die Bundesregierung bewogen, beim geplanten Einsatz von Beamten des Bundesgrenzschutzes zu Sicherungsaufgaben den mit Abstand bedeutendsten und sicherheitsrelevantesten deutschen Flughafen in Frankfurt am Main vorerst nicht zu berücksichtigen, während sie kleinere Flughäfen vorrangig bedienen will?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Otto, die Antwort lautet wie folgt: Nach Inkrafttreten des am 14. November 1991 vom Deutschen Bundestag beschlossenen Gesetzes zur Übertragung der Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den Bundesgrenzschutz und auf entsprechende Anträge der Länder hin ist die Bundesregierung bereit, die Aufgaben zum Schutz vor Angriffen auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor Flugzeugentführungen und Sabotageakten, so bald wie möglich durch den Bundesgrenzschutz zu übernehmen.
Hierfür ist — auch in Abhängigkeit vom Termin des Inkrafttretens des Gesetzes — ein gewisser organisatorischer Vorlauf, insbesondere auch zur ortsnahen Unterbringung der jeweils benötigten BGS-Beamten, erforderlich. Dies trifft vor allem für den Großflughafen Frankfurt am Main zu.
Bisher sind noch keine konkreten Entscheidungen über die Reihenfolge bei der Übernahme der Luftsicherheitsaufgaben getroffen worden. Für den neuen Flughafen München II ist aber zu berücksichtigen, daß dieser Flughafen am 17. Mai 1992 eröffnet wird. Der Freistaat Bayern hat den Bund gebeten, die Luftsicherheitsaufgaben auf diesem Flughafen von Anfang an durch den BGS wahrzunehmen.
Mit dem Land Hessen steht die Bundesregierung in engem Gesprächskontakt über die Frage des Zeitpunktes und auch der Modalitäten der Übernahme der Luftsicherheitsaufgaben auf dem Frankfurter Flughafen. Nach dem derzeitigen Stand der Gespräche ist vorgesehen, die Luftsicherheitsaufgaben im weiteren Verlauf des Jahres 1992 oder Anfang 1993 zu übernehmen.
Die Bundesregierung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß der BGS die hessische Polizei im Rahmen des § 9 des BGS-Gesetzes bereits seit Anfang der 70er Jahre durchgehend mit einem großen Personaleinsatz — derzeit sind es 264 Polizeibeamte — bei der Aufgabenerfüllung auf dem Frankfurter Flughafen unterstützt. Dieses Unterstützungskonzept wird beibehalten. Es ist vorgesehen, diese Unterstützung als Teil eines schrittweisen Aufgabenwechsels zum BGS auszubauen.
Zusatzfrage des Kollegen Otto, bitte.
Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung meine grundsätzliche Einschätzung, daß bei einer Prioritätenliste für die Dringlichkeit des Einsatzes von Beamten des Bundesgrenzschutzes zunächst an den Flughafen gedacht
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Hans-Joachim Otto
werden sollte, der mit Abstand der größte ist und bei dem auch die Sicherheitsaufgaben am drückendsten sind?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Otto, das ist ein Gesichtspunkt, ein sehr wichtiger, wie ich zugeben muß. Aber er ist nicht der alleinige. Beispielsweise ist auch der Gesichtspunkt zu berücksichtigen, daß es sich beim Flughafen München II um die Inbetriebnahme eines völlig neuen Flughafens handelt und daß der BGS von vornherein die Einrichtung, die er hinterher nutzen will, bereits in der Bauphase bestimmen konnte. Auch dieser Gesichtspunkt ist natürlich sehr, sehr bedeutsam.
Herr Kollege Otto, weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, in Ihrer Antwort sprachen Sie das Problem der Unterbringung der Beamten des Bundesgrenzschutzes an. Ist Ihnen bekannt, daß die Stadt Frankfurt einen konkreten Vorschlag für die Unterbringung der Bundesgrenzschutzbeamten unterbreitet hat?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Diese Vorschläge werden geprüft. Deshalb finden ja zur Zeit auch Gespräche mit dem Land Hessen statt. Herr Kollege Otto, wenn Sie den zeitlichen Ablauf und die vorgesehene Terminierung betrachten, geht es ohnehin nur um Wochen oder Monate. Denn auch im Falle Frankfurts ist die Bundesregierung ja bereit, die Übernahme noch 1992 oder Anfang 1993 tatsächlich vorzunehmen.
Ich rufe jetzt Frage 25 des Kollegen Hans-Joachim Otto auf:
Teilt die Bundesregierung die von Prof. Dr. Peter Lerche in einem Gutachten geäußerte Rechtsauffassung, wonach ein nationaler Hörfunk aus verfassungsrechtlichen Gründen eine „umfassende Eigenverantwortung" erhalten müsse, so daß ARD und ZDF hierauf keinen maßgeblichen Programm-Einfluß ausüben dürften, und wird sie ihre Rechtsauffassung in den laufenden Verhandlungen mit den Bundesländern geltend machen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die Antwort lautet: Die Bundesregierung teilt die von Professor Dr. Lerche in seinem Gutachten vertretene Auffassung, wonach der nationale Hörfunk aus verfassungsrechtlichen Gründen eine umfassende Eigenverantwortung erhalten muß. Die Eigenverantwortlichkeit der künftigen Einrichtung zur Veranstaltung von nationalem Hörfunk ist eine der Grundsatzvoraussetzungen der Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen.
Zusatzfrage, Herr Kollege Otto.
Teilt die Bundesregierung auch die von Herrn Professor Lerche aus dem Gebot der Eigenverantwortlichkeit folgenden Konsequenzen, insbesondere daß ARD und ZDF keinen unmittelbaren Einfluß auf das Programm haben dürfen und daß die Vertreter der Gremien dieser neuen nationalen Hörfunkeinrichtung nicht etwa direkt von den
Gremien von ARD und ZDF bestellt werden dürfen, sondern daß es sich hier um eine unmittelbare Wahl handeln muß?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Otto, wir sind der Meinung, daß es sich um eine selbständige Körperschaft handeln muß. Das heißt, sie muß als eine Art selbständige Einrichtung handeln können und darf nicht unmittelbar Befehlsempfänger beispielsweise der ARD oder des ZDF sein. Wir sind außerdem der Meinung, daß Mitgliederversammlung und Rundfunkrat nicht dasselbe sein können, sondern getrennt werden müssen. Sie sehen vielleicht aus diesen beiden Beispielen, daß wir auch im Konkreten die Schlußfolgerungen des Professor Lerche teilen.
Die letzte Zusatzfrage des Kollegen Otto, bitte.
Nachdem ich der Presse entnommen habe, daß die Ministerpräsidenten mit dem Herrn Bundeskanzler die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Entscheidung auf diesem Feld vereinbart haben, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung dafür Sorge tragen wird, daß die von Ihnen soeben geschilderte Rechtsauffassung bezüglich einer möglichst weitgehenden Distanz der neuen Einrichtung zu ARD und ZDF in den Verhandlungen auch konsequent verfolgt wird.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Das ist einer der Beweggründe, warum wir uns noch nicht geeinigt und die Arbeitsgruppe eingerichtet haben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende der Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Ottfried Hennig zur Verfügung.
Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Josef Grünbeck, der nicht anwesend ist, werden nach der Geschäftsordnung behandelt, d. h. nicht beantwortet.
Wir kommen zur Frage 44 unserer Kollegin Gabriele Iwersen:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß im Einzugsbereich der zwei Bundeswehr-Luftwaffenstandorte Wittmund und Upjever zur Sicherheit der Piloten wie auch der Zivilbevölkerung ein SAR-Hubschrauber stationiert bleiben muß, oder hat die Stellungnahme des Bundesministers für Verkehr, die noch aussteht, Vorrang vor den Notwendigkeiten der Bundeswehr?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Liebe Frau Kollegin, zur Erfüllung des Auftrags des SAR-Dienstes — Hilfeleistung für alle in Not geratene Luftfahrzeuge, Suche nach überfälligen oder abgestürzten Luftfahrzeugen, Rettung der Insassen — sowie zur Unterstützung der Streitkräfte für lebensrettende Maßnahmen sind SAR-Mittel flächendeckend so zu dislozieren, daß jeder Punkt unseres Landes innerhalb von 45 Minuten nach dem Start des SAR-Mittels erreicht werden kann.
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Parl. Staatssekretär Dr. Ottfried Hennig
Im Zuge der Einigung und vor dem Hintergrund der Reduzierung der Bundeswehr ist eine neue Struktur des SAR-Dienstes unumgänglich. SAR-Kommandos, deren Bereiche durch benachbarte SAR-Mittel unter besonderer Berücksichtigung des Hauptauftrages abgedeckt werden können, sind für eine Verlegung in die neuen Länder vorgesehen.
Zusatzfrage der Frau Kollegin Iwersen? — Nein.
Ich rufe die Frage 45 unserer Kollegin Gabriele Iwersen auf:
Mit welchen Mitteln will die Bundesregierung sicherstellen, daß sich der Luftrettungsdienst in Friesland auch bei einer ggf. notwendigen Verlegung des SAR-Hubschrauberkommandos Upjever nicht verschlechtern wird, wie dies der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Willy Wimmer, schriftlich versichert hat?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Der regionale Luftrettungsdienst als Ergänzung des bodengestützten Rettungsdienstes obliegt der Verantwortung der Bundesländer. Der für Friesland zuständige Rettungshubschrauber ist in Sanderbusch bei Wilhelmshaven stationiert und wird durch den Allgemeinen Deutschen Automobil Club betrieben. Im Rahmen der dringenden Nothilfe kann dieser zivile Rettungshubschrauber bei Bedarf auch künftig durch die überregionalen SAR-Hubschrauber aus Ahlhorn bei Oldenburg bzw. aus Borkum unterstützt werden. Beide Hubschrauber können Friesland spätestens nach 30 Minuten Flugzeit erreichen.
Es bleibt festzustellen, daß der regionale SARDienst des Bundes sowie der regionale zivile Luftrettungsdienst der Länder weltweit die höchste Dichte aufweisen. Im übrigen unterstützt die Bundeswehr anteilmäßig auch den zivilen Luftrettungsdienst, indem sie dauerhaft neun Rettungshubschrauber betreibt.
Frau Kollegin Iwersen, eine Zusatzfrage. Bitte sehr.
Ich möchte gern von der Bundesregierung wissen, ob sie in der Einsatzmöglichkeit einen Unterschied zwischen den der Marine unterstellten Hubschraubern — das bezieht sich auf Borkum und Helgoland — und denen, die der Luftwaffe zugeordnet sind, sieht; denn die beiden Fahrzeuge haben unterschiedliche technische Ausrüstungen und stellen wohl auch unterschiedliche Werte dar. Die Marinehubschrauber sind wohl die höherwertigen. Dürfen sie auch zu Einsätzen an Land benutzt werden?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Sie dürfen gewiß, Frau Kollegin, auch zu Einsätzen an Land benutzt werden. Ich glaube, daß durch die Kombination dieser beiden Einsatzmöglichkeiten in etwa tatsächlich der Stand aufrechterhalten wird, der bisher gegeben ist. Ich bitte Sie aber um Verständnis dafür, daß wir eine gewisse Ausdünnung im Bereich der elf westlichen Bundesländer vornehmen müssen, um auch den fünf neuen Bundesländern gerecht werden zu können.
Keine weitere Zusatzfrage.
Wir kommen zu den Fragen 46 und 47 unseres Kollegen Dr. Olaf Feldmann. Beide Fragen sollen schriftlich beantwortet werden. Das wird geschehen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Auch die Fragen 48 und 49 der Frau Kollegin Ulrike Mehl sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich kann die Frage 50 unserer Frau Kollegin Dr. Christine Lucyga aufrufen:
Hat vor dem Verkauf von Schiffen aus dem Bestand der ehemaligen NVA an Drittländer eine Demilitarisierung bzw. Umrüstung stattgefunden , und wenn ja, auf welchen Werften?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, bei Verkäufen von Regierung zu Regierung ist eine Demilitarisierung bzw. Umrüstung der Schiffe gesetzlich nicht vorgeschrieben. Es besteht die Möglichkeit, mit Zustimmung des Bundessicherheitsrates Kriegsschiffe in Nicht-NATO-Länder zu exportieren.
Bisher wurden fünf Minensuch- und -räumboote der Klasse Kondor II und zwei Schlepper an Uruguay verkauft. An die USA wurde ein Raketenboot Tarantul abgegeben. Bei der Tarantul erfolgte keine Demilitarisierung. Bei den Booten der Kondor-Klasse wurden lediglich die Waffen von der Bundesmarine ausgebaut. Dies ist eine sogenannte Teildemilitarisierung.
Zusatzfrage der Kollegin Lucyga.
Welche Erlöse sind beim Verkauf dieser Waffensysteme erzielt worden? Ist überhaupt schon abschätzbar, welcher materielle Wert der NVA-Hinterlassenschaft noch vorhanden ist?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Es handelt sich offensichtlich um einen Erlös in Höhe von 3,1 Millionen DM, Frau Kollegin, für die beiden KondorSchiffe. Bei der Lieferung in die USA ist offensichtlich kein Erlös erzielt worden.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Lucyga.
Wohin fließen diese Mittel? Sind sie unter Umständen vorgesehen, um negative Konversionsfolgen in der betroffenen Region zu mildern, da es ja durchaus Volksvermögen ist, weil die Schiffe aus den ehemaligen DDR-Beständen kommen?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Dies ist in der Tat so, Frau Kollegin. Aber wir haben nicht die Möglichkeit, sie unmittelbar dem Einzelplan 14 zuzuleiten. Sie fließen vielmehr in das allgemeine Vermögen des Bundes und es wird im Rahmen der Haushaltsberatungen darüber verfügt.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Horst Jungmann.
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Herr Staatssekretär, könnten Sie deutlich machen, wie viele Schiffe von der Nationalen Volksmarine überhaupt übernommen worden sind und wie viele davon noch vorhanden sind und zum Verkauf stehen?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Das kann ich Ihnen gerne deutlich machen, Herr Kollege Jungmann. Aber das ist eine umfangreichere Arbeit, bei der ich einen Zusammenhang mit der ursprünglich gestellten Frage nicht zu erkennen vermag.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da es sich bei diesen Fragen auch um die Werften in Mecklenburg-Vorpommern handelt, darf ich Sie fragen: Ist die Bundesregierung grundsätzlich bereit, Schiffe der Bundesmarine zur Instandsetzung zu den Werften in Mecklenburg-Vorpommern zu geben?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich, Herr Kollege, bemühen wir uns darum, gerade hier in besonderer Weise die Auslastung der Werften sicherzustellen. Dies ist unser gemeinsames Anliegen. Ich fürchte nur, daß bei der Antwort auf die nächste Frage der Kollegin Lucyga deutlich werden wird, daß das bei der Demilitarisierung nicht im Bereich unserer Möglichkeiten liegt.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 51 der Frau Kollegin Christine Lucyga:
Wie sehen die Pläne der Bundesregierung hinsichtlich der Werften in Mecklenburg-Vorpommern bei der Auftragsvergabe zur Demilitarisierung oder Umrüstung bei weiteren Schiffsverkäufen aus NVA-Beständen aus?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, seitens der Bundeswehr werden keine Aufträge zur Demilitarisierung oder Umrüstung von Schiffen erteilt. Mit der Verwertung der Schiffe, die nicht von Regierung zu Regierung verkauft oder abgegeben werden können, ist die VEBEG GmbH in Frankfurt/Main beauftragt worden. Die VEBEG verkauft die Schiffe mit Demilitarisierungsauflage. Das heißt, der Käufer muß auf seine Kosten die Demilitarisierung unter Aufsicht der Bundeswehr durch eine zivile Werft vornehmen lassen. Es ist also ausschließlich eine Angelegenheit des Käufers, welcher Werft er den Auftrag erteilt. Die Bundeswehr und die VEBEG haben hier keine direkten Einflußmöglichkeiten.
Zusatzfrage der Kollegin Lucyga, bitte.
Sie sagten, weder Bundeswehr noch VEBEG hätten Möglichkeiten zum direkten Einfluß auf Abschlüsse für Aufträge zum Abwracken, Umrüsten usw. Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, auf derartige Verkaufsvereinbarungen hinzuwirken?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das sind praktisch die beiden Stellen, die entweder als Teil der Bundesregierung oder als von ihr Beauftragte solches tun könnten. Ich kann nun unterstreichen: Der Käufer hat zu demilitarisieren. Es gibt eine entsprechende Auflage. Wir überwachen, daß dies geschieht. Wohin er allerdings den Auftrag vergibt, liegt in der Entscheidung des Käufers.
Die letzte Zusatzfrage der Kollegin Lucyga, bitte.
Gibt es für den Verkauf weiterer Schiffe Vorstellungen, in welchem Maß umgerüstet werden soll? Oder gibt es auch schon Vorstellungen, in welchem Umfange abgewrackt wird?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Das würde ich Ihnen sehr gerne schriftlich beantworten, Frau Kollegin, damit das die notwendige Exaktheit haben kann.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Horst Jungmann.
Herr Präsident, ich möchte mich nicht in einen Disput mit Ihnen einlassen. Aber der Herr Staatssekretär hat bei der Antwort auf meine erste Zusatzfrage festgestellt, daß sie in keinem Zusammenhang mit der Frage stehe. Ich denke, das steht nur Ihnen, dem Präsidenten, zu.
Ich komme zu meiner Zusatzfrage: Herr Staatssekretär, wie viele Schiffe sind bisher auf Werften abgewrackt worden, 'die direkt von der VEBEG in die Abwrackung gegeben worden sind? Wie viele sind zur Abwrackung vorgesehen, weil sie nicht verkauft werden können?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jungmann, ich will Ihnen diese Frage gern schriftlich beantworten. Da hier nach der Demilitarisierung vor einem Verkauf gefragt worden ist, war für mich nicht absehbar, daß Sie eine so spezifische Frage heute stellen würden. Deswegen muß ich schriftlich antworten.
Zur Geschäftslage. Ich habe den Zusammenhang mit der Frage nicht bezweifelt. Aber die Regierung ist völlig frei, zu antworten; davon hat der Herr Staatssekretär Gebrauch gemacht.
Nun kommen wir zu Frage 52 unseres Kollegen Reinhard Weis:
Welchen Truppenübungsplätzen hat die Landesregierung von Sachsen-Anhalt in ihrer Antwort auf das Angebot des vorläufigen Truppenübungsplatzkonzeptes, das der Bundesminister der Verteidigung im September 1991 an die Ministerpräsidenten der Länder gerichtet hat, zugestimmt?
Bitte sehr.
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es gibt kein Angebot des Bundesministers der Verteidigung an die Ministerpräsidenten der Länder in bezug auf ein vorläufiges Truppenübungsplatzkonzept.
Zusatzfrage, Herr Kollege Weis.
Mir ist aber etwas dazu bekannt. Wie erklären Sie dann, daß das Land
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Reinhard Weis
Thüringen auf ein entsprechendes Angebot einen Brief geschrieben hat?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Ich könnte meine Antwort höchstens wiederholen, da es ein solches Angebot auch in Thüringen nicht gibt. Es gibt ein solches Angebot nirgendwo. Es gibt vielmehr Stationierungsentscheidungen, die auch Ihnen bekannt sind. In diesem Zusammenhang ist es möglich, daß man in Thüringen entsprechend vorstellig geworden ist. Zum Truppenübungsplatzkonzept gibt es Vorarbeiten in unserem Hause. Aber eine abschließende Entscheidung des Bundesministers ist nicht getroffen. Entsprechend sind noch keine generellen Briefe an die Ministerpräsidenten der Länder verschickt worden.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Horst Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie uns mitteilen, wann das abschließende Konzept des Verteidigungsministeriums über die Truppenübungsplätze dem Parlament oder dem Verteidigungsausschuß vorgelegt wird?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß dies bald der Fall sein kann, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, Herr Kollege. Ich bitte Sie allerdings auch um Verständnis dafür, daß wir beispielsweise in diesen Wochen gelegentlich auch mit anderen Dingen beschäftig sind.
Wir sind damit am Ende der Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Herr Staatssekretär, wir danken Ihnen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bernd Schmidbauer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 73 des Kollegen Klaus Harries auf:
Teilt die Bundesregierung die von der deutschen Industrie geltend gemachten Einwendungen gegen Pläne der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, betriebliche Umweltüberprüfungen mit einer Verordnung vorzuschreiben?
Herr Kollege Harries, die Einwände der deutschen Industrie gegen das Vorhaben der Europäischen Gemeinschaft sind der Bundesregierung bekannt. Auf Einladung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fand im September 1991 unter Beteiligung des Bundesministers für Wirtschaft auf Arbeitsebene ein Gespräch mit Vertretern des BDI, des DIHT und des VCI statt, in dem die Problematik der von der EG-Kommission geplanten Verordnung zur ökologischen Betriebsprüfung erörtert wurde.
Ein ähnliches Gespräch wurde auf Arbeitsebene mit Vertretern des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland und des Deutschen Naturschutzrings im
Bundesumweltministerium im Oktober geführt. Die Pläne der EG-Kommission wurden von allen Gesprächsteilnehmern sehr zurückhaltend beurteilt. Problematisch erscheinen vor allem der weite Anwendungsbereich der geplanten Verordnung, das Fehlen hinreichend bestimmter Bewertungsmaßstäbe für die Beurteilung einer umweltgerechten Betriebsführung und die Pflicht der Mitgliedsstaaten, ein aufwendiges Verwaltungs- und Regelungsystem zur Erfüllung der EG-Anforderungen bereitzustellen. Ferner scheint es wünschenswert, die Eigenverantwortung der Wirtschaft bei der Durchführung ökologischer Betriebsprüfungen zu stärken.
Demgegenüber sieht die Bundesregierung in einem freiwilligen, sachgemäß durchgeführten „environmental audit" ein wichtiges Instrument für eine umweltgerechte Unternehmensführung.
Herr Kollege Harries, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sehen Sie Chancen, daß die Bundesrepublik Deutschland im Verbund mit anderen EG-Mächten den Erlaß dieser Verordnung verhindern kann?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, darf ich die Antwort auf Ihre Zusatzfrage mit der Beantwortung Ihrer Frage 74 verbinden?
Ich rufe dazu die Frage 74 des Abgeordneten Harries auf:
Ist die Bundesregierung bereit, bei einer solchen Verordnung als notwendig erkannte Verbesserungen anzuregen und durchzusetzen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Die Vertreter der Bundesregierung haben in den Expertensitzungen der EG-Kommission die Bedenken gegen die geplante Verordnung mitgeteilt. Wir sind also vorstellig geworden. Der Bundesumweltminister hat ferner mit Schreiben vom 23. Juli 1991 an die Kommission erneut auf diese Bedenken hingewiesen. Um der EG-Kommission alternative Vorstellungen unterbreiten zu können, hat der Bundesumweltminister die Vertreter der Wirtschaftsverbände weiterhin um konkrete Vorschläge zur Verbesserung der geplanten Verordnung gebeten. Diese Vorschläge stehen noch aus. Im übrigen ist es das Ziel der Bundesregierung, die von ihr als notwendig erkannten Verbesserungen in Brüssel durchzusetzen. Wir werden dieser Verordnung so lange nicht zustimmen, so lange in dieser Richtung nicht zielführend weitergearbeitet wird.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Harries.
Herr Staatssekretär, könnten Sie kurz mitteilen, welche Industrie- und Wirtschaftsbereiche — unter Umständen auch mittelständische Wirtschaftsbereiche — durch die geplante Verordnung belastet und betroffen werden?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das werden all die Bereiche sein, die nicht das technische
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5421
Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
Know-how und die „manpower" haben, um solche Dinge zu realisieren. Es wird ein hoher betrieblicher Aufwand stattfinden müssen, der nach unserer Meinung in keinem Verhältnis zum Ergebnis steht, wenn es nicht gelingt, zu freiwilligen Maßnahmen, zu Kooperationen mit diesen Wirtschaftsbereichen zu kommen, was besonders für die von Ihnen erwähnten Kreise wesentlich effizienter wäre, als eine eigenständige Bürokratie aufzubauen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter?
Nein. Ich bedanke mich.
Wir kommen zur Frage 75 unserer Frau Kollegin Dr. Margit Wetzel. Sie hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Somit kann ich die Frage Nr. 76 unseres Kollegen Dietmar Schütz aufrufen.
— Der Fragesteller ist nicht mehr anwesend. Darum wird die Frage 76 nach der Geschäftsordnung behandelt, das heißt, sie wird nicht beantwortet.
Wir kommen zur Frage 77 des Kollegen Wolfgang Meckelburg. Er hat um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Ich kann die Frage 78 unseres Kollegen Otto Schily aufrufen:
Sind von dem ehemaligen hessischen Umweltminister Weimar die Akten über die 5. Teilgenehmigung für eine neue ver-bunkerte Anlage der Firma Siemens Brennelementewerk in Hanau mit Wissen oder Willen der Bundesregierung der vorgenannten Firma in Hanau überlassen worden?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Ich darf diese Frage mit Nein beantworten. Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat am 2. November 1991 außerhalb des bundesaufsichtlichen Behördenverkehrs erstmals Kenntnis davon erhalten, daß Ende 1990 Akten der Genehmigungsbehörde ausgelagert worden sein sollen. Mit Schreiben vom 6. November 1991 wurde der Hessische Minister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten um Bericht zu diesem Vorgang und um Bewertung gebeten. Der Bericht wurde am 8. November 1991 übermittelt.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Amtsführung der Bundesregierung aus der Aktenauslagerung, Herr Staatssekretär?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Aus der Sicht der Bundesregierung ist zunächst der Sachverhalt aufzuklären. Die bisherige Sachverhaltsaufklärung gestattet es nach unserer Auffassung noch nicht, Schlußfolgerungen aus dieser Angelegenheit zu ziehen. Wir haben weitere Fragen an die Hessische Landesregierung geschickt. Wir warten auf die Antwort zu diesen weiteren offenen Fragen, und zwar im Anschluß an ein bundesaufsichtliches Gespräch, das zu diesem Punkt in Wiesbaden stattgefunden hat.
Die zweite Zusatzfrage des Kollegen Schily.
Falls sich bestätigen sollte, Herr Staatssekretär, daß diese Akten ausgelagert worden sind, wie man ja in der Presse nachlesen kann, wie beurteilt die Bundesregierung diesen Vorgang?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, ich sagte eben — das macht das Problem aus — , daß die Bundesregierung in vielen Fällen erst spät unterrichtet wurde, daß sie nicht ausführlich unterrichtet wurde, daß der Sachverhalt nicht so rasch von der hessischen Seite realisiert wird und daß wir deshalb heute noch zu keinerlei Bewertung kommen können.
Zusatzfrage des Kollegen Harries.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Veranlassung, anzunehmen, daß der TÜV Bayern seine fachgutachtliche Stellungnahme auf der Grundlage lückenhafter Antragsunterlagen abgegeben hat und daß auch der hessische Umweltminister bei Erteilung seiner fünften Genehmigung auf der Grundlage unvollständiger Antragsunterlagen entschieden hat?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir warten noch, Herr Kollege Harries. Ich kann wieder nur dieselbe Antwort geben. Wir wissen, daß die entsprechenden Akten sichergestellt wurden, und wir gehen davon aus, daß wir in den nächsten Tagen die notwendige Aufklärung bekommen. Es ist aber abzusehen, daß ein weiteres bundesaufsichtliches Gespräch stattfinden wird, wo wir genau diese Fragen stellen werden, um zu einer Bewertung der Angelegenheit kommen zu können.
Eine weitere Zusatzfrage; bitte, Herr Kollege Singer.
Herr Staatssekretär, können Sie uns mitteilen, welche Fragen die Bundesregierung in diesem Zusammenhang dem hessischen Minister für Umwelt und Reaktorsicherheit gestellt hat?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Das könnte ich, wenn ich das Schreiben sofort aus meinen Akten entnehmen kann. Ich biete Ihnen aber an, Ihnen dieses Schreiben im Anschluß zur Einsicht zu geben.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 79 des Kollegen Otto Schily:
Ist der Bundesregierung der Geheimvertrag zwischen der Firma Siemens und den Kraftwerkbetreibern vom Januar 1988 „über die Erhaltung und Nutzung der Fertigungsmöglichkeiten für Mischoxid-Brennelemente für Leichtwasserreaktoren in der Bundesrepublik" bekannt, und wie beurteilt sie diesen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
5422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Schily, die Bundesregierung ist nur allgemein darüber unterrichtet, daß die Firma Siemens und die Kernkraftwerksbetreiber einen Rahmenvertrag über die Fertigung von MOX-Brennelementen im Werk Hanau abgeschlossen haben. Der Vertrag ist ihr im einzelnen nicht bekannt und liegt ihr nicht vor.
Zusatzfrage des Kollegen Schily.
Sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, den Inhalt dieses Vertrages kennenzulernen?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Ich denke, die Bundesregierung könnte Möglichkeiten haben, solche Verträge einzusehen. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Für uns ergeben sich mit Sicherheit keine sicherheitstechnischen Konsequenzen, weil es sich bei solchen Verträgen um privatrechtliche Verträge zwischen den entsprechenden Unternehmungen handelt und wir aus unserer Sicht nur ein Interesse haben, von Dingen Kenntnis zu nehmen, die sicherheitstechnische Relevanz haben.
Die letzte Zusatzfrage des Kollegen Schily, bitte.
Herr Staatssekretär, natürlich ist es immer ein bißchen schwierig, wenn Fragen einem bestimmten Ressort zugeordnet werden und übergreifende Fragen — das Atomgesetz beschäftigt sich auch mit anderen Förderungsmaßnahmen — vielleicht außen vor bleiben. Aber ich möchte Ihnen doch die Frage stellen: Hat die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung, die verbunkerte Anlage der Firma Siemens in Hanau mit 40 Millionen DM mitzufinanzieren, die Kalkulation der Firma Siemens, deren wichtiges Element der genannte Geheimvertrag ist, berücksichtigt?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Da Sie zu Recht auf die Ressortzuständigkeit hingewiesen haben, möchte ich dem Ressort, das betroffen ist, nicht vorgreifen und bitte Sie, bei diesem Ressort die entsprechende Stellungnahme einzuholen.
Ich hatte aber vorhin bei meiner Antwort darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung nur allgemein darüber unterrichtet ist. Ich habe nicht nur auf unser Ressort abgehoben.
Wir kommen zur Beantwortung der letzten Frage aus diesem Geschäftsbereich, der Frage 80 der Frau Kollegin Susanne Kastner:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefährdung der Trinkwasserversorgung von Berlin durch die Stillegung der Grubenwasserförderung im Braunkohletagebau rund um Cottbus, und welche Maßnahmen werden ergriffen, um eine Verunreinigung des Grundwassers bei der Auffüllung von Tagebaugruben mit belastetem Oberflächenwasser zu verhindern?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin Kastner, die Sicherstellung der Wasserversorgung ist im Hinblick auf die Daseinsvorsorge Aufgabe des einzelnen Bundeslandes. Ich hatte in diesem Zusammenhang bei ähnlichen Fragen schon generell darauf hingewiesen. In Kenntnis der zu erwartenden Änderungen im regionalen Wasserhaushalt erstellen daher die Länder Brandenburg und Berlin zur Zeit einen umfassenden wasserwirtschaftlichen Rahmenplan, der die Wasserversorgung Berlins und umliegender Kreise sicherstellen soll.
Auf Grund günstiger hydrogeologischer Bedingungen deckt Berlin seinen Trinkwasserbedarf aus Grundwasser, wobei wasserwirtschaftliche Stützungsmaßnahmen wie die Grundwasseranreicherung unter Nutzung von Oberflächenwasser aus Havel und Spree zur Anwendung kommen.
Nach Angaben der Berliner Senatsverwaltung ist eine akute Gefährdung der Trinkwasserversorgung Berlins infolge einer rückläufigen Tagebauentwicklung nicht gegeben. Wir könnten uns nach der Aktenlage dieser Auffassung in etwa anschließen.
Die Einleitung von Oberflächenwasser zur Auffüllung der Tagebaurestlöcher stellt nach Wasserhaushaltsgesetz eine Gewässerbenutzung dar und ist somit erlaubnispflichtig. Es ist also eine Erlaubnis notwendig, um das zu tun. Eine Erlaubnis für das Einleiten von Stoffen in das Grundwasser darf nur erteilt werden, wenn eine schädliche Verunreinigung oder eine sonstige Veränderung seiner Eigenschaften nicht zu besorgen sind. Die Prüfung und Entscheidung, ob diese Voraussetzung vorliegt, obliegt den zuständigen Wasserbehörden der Länder.
Zusatzfrage der Frau Kollegin Kastner, bitte.
Herr Staatssekretär, ich will unsere Diskussion darüber, wer hier Kompetenzen wofür hat, nicht fortsetzen. Aber wie beurteilt die Bundesregierung die Einschätzung auch von Wissenschaftlern, daß es in den nächsten 10 bis 15 Jahren durchaus zu Engpässen in der Trinkwasserversorgung in diesem Bereich kommen kann?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich sagte, daß wir uns hier selbstverständlich nicht nur um diese Fragen kümmern müssen, sondern daß wir uns auch ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, welche Einflüsse in Zukunft bestehen, um diese Trinkwasserversorgung aufrechtzuerhalten. Alle Auskünfte, die wir haben, sagen das, was ich zur ersten Frage ausgeführt habe.
Darüber hinaus gibt es entsprechende Untersuchungen, Workshops usw., die Einflüsse auf diese Situation geprüft haben. Ich darf dazu auf diesen Punkt in dem Thesenpapier „Braunkohlentagebau, Grundwasserbeeinflussung und ihre Folgen" hinweisen, der ja auch in Ihrer Frage steckt.
Ich teile Ihre Besorgnis, daß dies geklärt werden muß. Daraus erklärt sich meine Äußerung bei der Beantwortung dieser Frage.
Ich bin aber wie Sie der Meinung, daß dies nicht der Stand für die Zukunft sein kann, sondern daß diese Überprüfungen im Zusammenhang mit der Grund-
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Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer
wasserqualitätssicherung auch in den neuen Bundesländern weiter erfolgen müssen.
Noch eine Zusatzfrage der Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, zum ersten Teil der Antwort frage ich Sie: Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, sich an diesen Maßnahmen zu beteiligen?
Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Wir beteiligen uns an diesen Maßnahmen, indem wir über unser Umweltbundesamt z. B. diese Untersuchungen finanzieren, solche Untersuchungen über die Grundwassersituation durchführen und wasserwirtschaftliche Regie, besonders in dem belasteten Braunkohlebereich, mit realisieren. Ich wies darauf schon kurz hin. Wir werden auch in Zukunft mit Grundlagenforschung bzw. mit Untersuchungen in diesem Bereich den Ländern mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär Schmidbauer, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wir sind am Ende der Fragen aus diesem Geschäftsbereich.
Wir kommen zum letzten Geschäftsbereich, dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wilhelm Rawe zur Verfügung.
Ich möchte vorher darauf hinweisen, daß die Fragen 83 und 84 des Abgeordneten Wieland Sorge schriftlich beantwortet werden sollen. Dasselbe gilt für die Fragen 85 und 86 des Kollegen Hans-Günther Toetemeyer. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 87 des Kollegen Hans Wallow wird nicht beantwortet, weil sie zurückgezogen worden ist.
Es bleiben die beiden Fragen unseres Kollegen Gerd Andres übrig. Ich rufe die Frage 81 des Abgeordneten Gerd Andres auf:
Kann die Bundesregierung Angaben darüber machen, wie sich die Abspaltung der Dienstleistungsbereiche in wirtschaftlich eigenständige Einheiten, sowie der Aufbau des neuen Fernmelde-Dienstleistungsunternehmens „TELEKOM Service 2000" auf die bestehenden Verwaltungseinheiten der Deutschen Bundespost, wie die Oberpostdirektionen auswirkt?
Bitte sehr, Herr Staatssekretär.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, wenn der Kollege Andres einverstanden ist, würde ich gern die Frage 82 des Sachinhalts wegen gleich mitbeantworten.
Der Kollege ist einverstanden. Ich rufe die Frage 82 des Abgeordneten Gerd Andres mit auf:
Wie viele der 70 000 Arbeitsplätze sind nach Kenntnisstand der Bundesregierung im Post- und Fernmeldewesen der Deutschen Bundespost im Großraum Hannover von den Umstrukturierungsplänen betroffen, die einem internen Strategiepapier der Deutschen Bundespost zufolge durch Umstrukturierungen bis 1996 bundesweit eingespart werden sollen, und wie wirken sich diese Personalmaßnahmen auf bestehende Posteinrichtungen aus?
Wilhelm Rawe, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Andres, bei der Deutschen Bundespost TELEKOM gibt es derzeit keine Entscheidungen über die Abspaltung von Dienstleistungsbereichen in wirtschaftlich eigenständige Einheiten.
Der Begriff „Telekom-Service 2000" beschreibt eine Änderung im organisatorischen Bereich der Fernmeldeämter zur Verbesserung der Serviceleistungen in kundenorientierter und wirtschaftlicher Hinsicht. ,,Telekom-Service 2000" ist deshalb kein Dienstleistungsunternehmen.
Das ,,Telekom-Service 2000"-Konzept wirkt sich somit auch nicht auf die bestehende Verwaltungseinheit der Oberpostdirektionen aus.
Zur Zeit werden zur Sicherung der Marktposition und zur Verbesserung der Ertragskraft der Deutschen Bundespost POSTDIENST für die drei Teilbereiche Brief-, Schalter- und Frachtdienst und für den künftigen organisatorischen Aufbau neue Konzepte erarbeitet. Das Frachtkonzept wurde im Frühjahr dieses Jahres vom Vorstand der Deutschen Bundespost POSTDIENST verabschiedet und der Presse vorgestellt.
Im Rahmen des Frachtkonzeptes ist in Hannover ein Frachtzentrum geplant. Die Planungen sind jedoch noch nicht soweit fortgeschritten, daß über die personellen Auswirkungen im einzelnen Aussagen getroffen werden können.
Die Konzepte für den Brief- und Schalterdienst sind noch nicht fertiggestellt; zum Teil bedürfen sie auch noch einer endgültigen Abstimmung mit der Deutschen Bundespost TELEKOM und der Deutschen Bundespost POSTBANK.
Somit ist eine Bezifferung der personellen Auswirkungen nicht möglich. Generell ist festzuhalten, daß die neuen Konzepte sozialverträglich umgesetzt werden sollen.
Herr Staatssekretär, vielen Dank.
Ich möchte aber Sie, die Sie jetzt in den Saal gekommen sind, bitten, Platz zu nehmen und vor allem keine Gespräche hier unmittelbar vor dem Podium zu führen. Wir haben noch eine kurze Weile Fragen zu beantworten. Ich bitte um Aufmerksamkeit.
Zu einer Zusatzfrage hat der Kollege Andres das Wort.
Herr Staatssekretär, es gibt keine Entscheidungen, aber es gibt Planungen. Mir liegt eine Stellungnahme der Deutschen Postgewerkschaft für den Bereich Hannover/Braunschweig vor, der zu entnehmen ist, daß durch die Abspaltung der Dienstleistungsbereiche in wirtschaftlich selbständige Einheiten — sogenannte Profit Center — die bestehenden Verwaltungseinheiten teilweise aufgelöst werden. Nach der Stellungnahme der Deutschen Postgewerkschaft werden für die Oberpostdirektion Hannover die Hälfte der rund 1 000 Arbeitsplätze da-
5424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Gerd Andres
von betroffen sein. Wie beurteilt die Bundesregierung dies?
Wilhelm Rave, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich kann nicht Besorgnisse, die Ihnen ein Tarifpartner eines dieser Unternehmen vorträgt, beurteilen; das ist nicht meine Zuständigkeit. Ich kann Ihnen nur vortragen, wonach Sie gefragt haben. Entscheidungen sind in dem Rahmen nicht gefallen. Das Konzept „Service 2 000", von dem Sie gesprochen haben, wird nicht zu einer Abspaltung in der von Ihnen befürchteten Form führen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Andres.
Herr Staatssekretär, Sie haben geantwortet, daß die möglichen Personaleinsparungen sozial verträglich gestaltet würden. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang Entscheidungen im Bereich der Deutschen Bundespost, im Versorgungsgebiet Ost Personal nicht zu übernehmen, dafür Personal aus dem Versorgungsgebiet West nach Ost zu versetzen — zunächst noch auf freiwilliger Basis — und dadurch entstehende Personalengpässe durch den Einsatz von Arbeitnehmern mit zeitlich befristeten Arbeitsverträgen aufzufüllen? Insbesondere im Bereich der grenznahen Postämter gibt es diese Praxis seit etwa 14 Tagen. Gehört dies mit zum Konzept einer sozial verträglichen Abwicklung von Personalmaßnahmen?
Herr Kollege Andres, die Fragen sollen kurz sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen.
Herr Staatssekretär, bitte.
Wilhelm Rave, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Andres, ich kenne diese Verfügung nicht. Sie ist eine selbständige Verfügung des jeweiligen Unternehmens, wie Sie wissen. Aber ich bin gerne bereit, dem nachzugehen. Ich denke, danach sollten wir uns austauschen; hier wird es in der Tat ein bißchen zu unruhig. Wenn Sie mit diesem Angebot einverstanden wären, wäre ich Ihnen dankbar.
Noch eine Zusatzfrage des Kollegen Andres.
Herr Staatssekretär, nach einer Entscheidung des Haushaltsausschusses werden im Bereich der Telekom — das gehört unmittelbar dazu — im nächsten Jahr 4 000 Arbeitsplätze eingespart. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Entscheidung, in bestimmten Bereichen ausgebildete Fernmeldetechniker, die im nächsten Jahr fertig sind — es würde sich für den Bereich der Oberpostdirektion Braunschweig/Hannover um etwa 300 bis 400 Fachkräfte handeln — , nicht ihrem Beruf entsprechend zu beschäftigen?
Wilhelm Rave, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, da müssen Sie einem Irrtum unterlegen sein, denn der Haushaltsausschuß dieses Hohen Hauses entscheidet nicht über die Haushalte der Unternehmen der Deutschen Bundespost.
Noch eine kurze und letzte Zusatzfrage des Kollegen Andres, bitte.
Der Aufsichtsrat der Telekom hat entsprechend entschieden. Wie beurteilen Sie dieses?
Wilhelm Rave, Parl. Staatssekretär: Der Aufsichtsrat der Telekom ist in seinen Entscheidungen frei und muß sich nach wirtschaftlichen Grundsätzen richten, damit er ein wirtschaftlich gesundes Ergebnis erzielt. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, daß er kraft Gesetzes die Auflage hat, solche Umsetzungen sozial verträglich zu gestalten, d. h. es werden entsprechende Sozialpläne erstellt und mit den zuständigen Vertretungen ausgehandelt.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung der Fragen unter schwierigen Bedingungen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich bitte Sie, Platz zu nehmen; denn wir wollen im Zusammenhang mit dem nächsten Tagesordnungspunkt zur Abstimmung kommen. Aber vor der Abstimmung werden noch Erklärungen abgegeben. Sie werden diese nur zur Kenntnis nehmen können, wenn Sie auch zuhören.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 14 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU und der FDP
Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Zweite Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
— Drucksache 12/1696 —
Dazu werden Erklärungen abgegeben und zwar zunächst von unserem Kollegen Wolfgang Vogt. Bitte sehr, Herr Kollege Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 27. November 1991 ausführlich, sachlich und überzeugend dargestellt, warum wir dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zustimmen. Wir können uns deshalb die Wiederholung dieser Argumente ersparen.
Ich bitte darum, daß der Einspruch des Bundesrates gegen die Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zurückgewiesen wird; denn an unserer sachlichen und überzeugenden Begründung
des Beschlusses des Vermittlungsausschusses hat sich nichts geändert.
Ich rufe als nächsten Redner unseren Kollegen Rudolf Dreßler auf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesrat hat in seiner 637. Sitzung am 29. November 1991 mit der Mehrheit seiner
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5425
Rudolf Dreßler
Stimmen beschlossen, gegen das vom Deutschen Bundestag am 27. November 1991 verabschiedete Gesetz gemäß Art. 77 Abs. 3 des Grundgesetzes Einspruch einzulegen.
Die SPD-Fraktion begrüßt den Einspruch des Bundesrates ausdrücklich.
Wegen der überzeugenden Darstellung will ich die drei entscheidenden Punkte wiederholen, damit das nicht untergeht. Es geht erstens um die Verlängerung des einheitlichen Beitragssatzes von 12,8 % in der Krankenversicherung der ostdeutschen Bundesländer.
Es geht zweitens um die verbindliche Gestaltung der Planung des Einsatzes von medizintechnischen Großgeräten sowie um die Verbesserung der Mitwirkung von Krankenkassen, kassenärztlichen Vereinigungen und Bundesländern bei dieser Planung.
Es geht drittens — das ist besonders wichtig — um die Vermeidung der drastischen Erhöhung der Arzneimittelzuzahlung durch die Patienten auf 15 %, höchstens 10 DM pro Medikament.
Ich möchte das Hohe Haus daran erinnen, daß alle Mitglieder des Bundesrates — bis auf zwei CDU-regierte Länder — den Vermittlungsausschuß angerufen haben. Das macht das Einspruchsbegehren des Bundesrates deutlich.
Nachdem der Vermittlungsausschuß das Gesetz, das der Deutsche Bundestag gegen die Stimmen der SPD-Fraktion beschlossen hat, mit der Mehrheit der Stimmen der CDU/CSU und der FDP erneut bestätigt und der Bundesrat jetzt Einspruch eingelegt hat, haben wir heute die letzte Chance, die unsoziale Erhöhung der Medikamentenpreise zu verhindern.
Deshalb bitte ich Sie für die SPD-Fraktion, dem Begehren des Bundesrates zuzustimmen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesrat hat am 29. November 1991 Einspruch gegen dieses Gesetz erhoben. Wenn wir diesem Einspruch folgten, würde das bedeuten: Ab 1. Januar 1992 würde eine 15%ige Zuzahlung erfolgen, und eine Ausweitung der Leistungen im Bereich der Schwerpflegebedürftigen, der Härtefallregelung beim Zahnersatz sowie sozialpädiatrischer Leistungen und der Leistungen für Kinder im Pflegefall würde nicht vorgenommen.
Die FDP hat es sich bei dieser Entscheidung nicht leichtgemacht. Denn wir verzichten eine gewisse Zeit auf ein Steuerungselement und ein Finanzierungsinstrument. Andererseits sind wir froh, daß sich die Koalition zur Zuzahlung im Arzneimittelbereich bekannt hat.
Aus diesem Grunde bitten wir, das Votum des Bundesrates zurückzuweisen.
Vor der Abstimmung hat nun noch Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir lehnen den Antrag der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion natürlich ab.
Wir müssen feststellen, daß diesmal der Bundesrat versucht hat, mit seinem Einspruch zu verhindern, daß den fünf neuen Bundesländern wieder einmal in ihre Kassen gegriffen wird.
Es geht darum, zu garantieren, daß die von den ehemaligen DDR-Bürgern z. B. auch gezahlten Beiträge zur Sozialversicherung endgültig den gesetzlichen Krankenversicherungen auf unserem Territorium zur Verfügung gestellt werden. Wir hatten einen diesbezüglichen Antrag gestellt.
Wir verstehen die Bemühungen der Koalition sehr wohl, die mittlerweile in Milliardenhöhe avisierten Löcher der Krankenkassen zu finanzieren. Aber man könnte die Sache auch einmal andersherum betrachten: ob sich nicht gerade durch die Überschüsse oder durch bestimmte Maßnahmen, die der Bundesrat vorgeschlagen hat, in den ostdeutschen Krankenkassen besondere Möglichkeiten ergeben würden, um dort die Beiträge in den nächsten Jahren nicht nur stabil zu halten, sondern zu senken, wobei sogar noch die Lohnnebenkosten der Unternehmer gesenkt werden könnten. Das wäre für uns ein echter Beitrag zum Aufschwung Ost.
Ich verstehe überhaupt nicht, daß auch der Name der FDP unter diesem Antrag erscheint.
Ich bedanke mich.
Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch.
Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Das sind 332 Stimmen.
Die Fraktion der CDU/CSU hat eine namentliche Abstimmung über den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs — Drucksache 12/1696 — verlangt.
Ich eröffne die Abstimmung. —
Meine Damen und Herren, haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten abgegeben? Hatten insbesondere die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses schon Gelegenheit, hierher zu kommen?
— Wir warten. —
5426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Vizepräsident Helmuth Becker
Meine Damen und Herren, ich frage noch einmal, nachdem wir über zehn Minuten gewartet haben: Kann ich den Abstimmungsvorgang jetzt schließen? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszahlung zu beginnen.
Ich gehe davon aus, daß wir die Beratungen fortsetzen können und das Ergebnis der namentlichen Abstimmung später mitteilen. *)
Ich rufe Punkt 9a bis g und die Zusatzpunkte 11 bis 13 der Tagesordnung auf:
9. a) Vereinbarte Debatte zur Europapolitik
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
— Drucksache 12/549 —
Üb erweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Innenausschuß
EG-Ausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Delegation der Gruppe der Bundesrepublik Deutschland in der Interparlamentarischen Union
über die VII. Interparlamentarische Konferenz über Europäische Zusammenarbeit und Sicherheit in Wien vom 1. bis 3. Juli 1991
— Drucksache 12/1126 —Üb erweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu der Verstärkung der Befugnisse des Parlaments im Bereich der Haushaltskontrolle im Rahmen der Strategie des Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union
— Drucksachen 11/8541, 12/1295 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller
Dr. Conrad Schroeder
e) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Regierungskonferenz über die Politische Union
— Drucksache 12/1364 —Üb erweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Verteidigungsausschuß EG-Ausschuß
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
') Seite 5429D Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG über die Gründung der Aktiengesellschaft sowie die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals
— Drucksachen 12/187 Nr. 2.1, 12/1463 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Gres Ludwig Stiegler
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes
— Drucksachen 12/49, 12/1592 —
Berichterstattung: Abgeordneter Rainer Haungs
ZP11 Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Ablauf der Regierungskonferenz zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
— Drucksache 12/1615 —
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß
Verteidigungsausschuß
ZP12 Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Vorschlag der niederländischen Ratspräsidentschaft an die Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion
— Drucksache 12/1616 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
EG-Ausschuß
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
ZP13 Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments im Bereich der Haushaltskontrolle im Rahmen der Strategie des Parlaments im Hinblick auf die Europäische Union
— Drucksache 12/1614 —
Üb erweisungsvorschlag :
EG-Ausschuß Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
Zur vereinbarten Debatte liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache 21/2 Stunden vorgese-
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Vizepräsident Helmuth Becker
hen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile als erstem das Wort dem Herrn Bundesminister der Finanzen, Dr. Theo Waigel.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Wirtschafts- und Währungsunion ist nach intensiver Vorbereitung weit vorangekommen. Wir haben zuletzt in zweitägigen Verhandlungen am Montag und Dienstag in Brüssel wichtige Vereinbarungen treffen können. Diese Verhandlungen waren für uns ein großer Erfolg. Es ist uns gelungen, deutsche Positionen in entscheidenden Punkten durchzusetzen.
Die Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie sich jetzt abzeichnet, wird für Deutschland und seine europäischen Partner erhebliche Vorteile bringen. Wir schaffen den gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum. Zugleich sichern wir Stabilität und Freizügigkeit, die entscheidenden Wachstumsfaktoren in Deutschland für den großen europäischen Markt.
Weil das nicht nur etwas ist, was ökonomisch gesehen wird, sondern etwas, was auch psychologisch für die Menschen eine ganz große Rolle spielt — das kann man heute auch den Überschriften der Zeitungen entnehmen —, will ich dazu eines klar sagen: Wir haben die D-Mark nicht geopfert, und wir haben sie auch nicht an Europa verschenkt. Die D-Mark ist und bleibt das Symbol deutscher Stabilitätspolitik.
Sie ist der Garant unseres wirtschaftlichen Erfolgs und unseres Wohlstands.
Wir bringen unsere Währung in eine Gemeinschaft ein, in der Stabilität ebenso gesichert ist wie in Deutschland. Wir — das ist für die anderen eine harte Aufgabe — fordern die Anpassung unserer Partner. Sie müssen ihre eigenen Währungen zunächst härten. Erst dann kann der Währungsverbund in Kraft treten. Auch wir müssen uns noch anstrengen, um 1996 die Ziele zu erreichen.
— Natürlich. — Wir haben ein Konvergenzprogramm vorgelegt für uns und auch als Beispiel für andere. Ich bin ganz sicher — ich nehme jede Wette von Ihnen an — , daß wir die Konvergenzziele im Jahre 1996 erreicht haben werden.
Eine europäische Weichwährung kann und wird es mit uns nicht geben. Die künftige europäische Währung muß mit dem gleichen Vertrauen starten, das die D-Mark als zweitwichtigste internationale Reservewährung genießt.
Die verantwortliche Vorbereitung der Wirtschafts-und Währungsunion im Kreis der europäischen Finanz- und Wirtschaftsminister hat sich als richtig erwiesen. Die Finanzminister werden Anfang kommender Woche in Maastricht ihre Erfahrungen einbringen, wenn es um die Klärung der wenigen noch offenen Punkte geht.
Meine Damen und Herren, weil wir zu Hause Wirtschafts- und Finanzpolitik erfolgreich gestalten, war der Boden für die Einigung über strikte Stabilitätskriterien vorbereitet. Das Symbol der harten D-Mark ist zur Leitlinie für Europa geworden. Es gibt heute — das finde ich großartig — einen Wettlauf um die niedrigsten Inflationsraten in Europa. Die Verringerung der Haushaltsdefizite ist zum entscheidenden und vorrangigen Ziel der Finanzpolitik geworden. Die Abwertung der eigenen Währung gilt heute als Makel. Vor wenigen Jahren wurden entsprechende Maßnahmen noch als Mittel der Konjunkturstärkung empfohlen. Vor allem ist das Modell der unabhängigen Deutschen Bundesbank Vorbild für die Europäische Zentralbank geworden.
Die künftige Europäische Zentralbank wird in völliger Unabhängigkeit entscheiden können.
Ihr Statut ist mit demjenigen der Bundesbank uneingeschränkt vergleichbar. Die Europäische Zentralbank wird durch den Vertrag klar auf das Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet. Es wird keine Möglichkeit zur Notenbankfinanzierung der Staatshaushalte in der Europäischen Gemeinschaft geben. Auch in der äußeren Währungspolitik erhält die Europäische Zentralbank die gleichen Kompetenzen, die heute die Bundesbank wahrnimmt.
Über die Festlegung des Wechselkurssystems entscheiden wie bisher die nationalen Regierungen. In ihrer täglichen Interventionspolitik ist die Zentralbank jedoch unabhängig. Leitlinien oder Richtlinien für die Wechselkurspolitik der Notenbank durch die Regierungen wird es nicht geben. Möglich sind nur generelle Orientierungen, die ausschließlich empfehlenden Charakter haben. Dadurch sind die vertraglichen Grundlagen gegeben, damit die künftige europäische Währung der D-Mark in der Stabilität nicht nachsteht.
Für die Übergangszeit bis zur Errichtung der Europäischen Zentralbank — also für die sogenannte zweite Stufe — haben wir im Vertragsentwurf die uneingeschränkte Verantwortung der nationalen Notenbanken für die Geldwertstabilität festgeschrieben. Entscheidende Aufgabe des zu errichtenden europäischen Währungsinstituts ist die Vorbereitung einer funktionsfähigen Europäischen Zentralbank. Das Währungsinstitut hat jedoch keinerlei geldpolitische Kompetenzen. Es wird über keine eigenständige Kapitalbasis verfügen; vielmehr werden seine Aufwendungen durch Beiträge der nationalen Notenbanken bestritten.
Die beschlossenen Vereinbarungen — das ist ganz wichtig — verhindern Grauzonen bei der geldpolitischen Verantwortung. Die Geld- und Währungspolitik kann nur entweder national oder supranational einheitlich entschieden werden. Es kann keine gemischte oder verteilte Geldpolitik zwischen einer europäischen Zentrale und einer nationalen Notenbank geben.
Die Verantwortung für die Geldwertstabilität wird erst mit Vollendung der europäischen Währungs-
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel
union von der erfolgreichen Deutschen Bundesbank auf die künftig ebenso erfolgreiche Europäische Zentralbank übergeben. Diese Europäische Zentralbank — dafür habe ich mich in Brüssel am vergangenen Dienstag nachdrücklich eingesetzt — soll ihren Sitz in Deutschland haben.
Ich habe Frankfurt vorgeschlagen. Damit würden die Tradition der Unabhängigkeit wie auch die Stabilitätsverpflichtung durch die Standortwahl überzeugend unterstrichen. Ich glaube, wir haben nicht nur deswegen, sondern auch aus anderen Gründen ein gutes Recht, das zu fordern. Wir sind ja mit europäischen Institutionen in Deutschland nicht gerade überreich gesegnet.
Geldwertstabilität in Europa setzt die weitgehende Übereinstimmung der wirtschaftlichen Ziele und Ergebnisse voraus. Wir werden die D-Mark nur in eine Gemeinschaft einbringen, deren Mitglieder Deutschland an Stabilitätsbewußtsein nicht nachstehen. Nach den im Vertrag klar fixierten Regeln wird kein Weichwährungsland und auch kein Land mit unsolider Haushaltsfinanzierung Aufnahme in die Wirtschafts-und Währungsunion finden.
Unsere Kredit- und Kapitalmärkte sind gegen die übermäßige Inanspruchnahme durch die Kreditaufnahme anderer Staaten geschützt. Damit, meine Damen und Herren, wird Kapital, das bisher teilweise für die Haushaltsfinanzierung verwendet wurde, für Investitionen und damit für Arbeitsplätze und für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Verfügung gestellt.
Wir schaffen damit nicht nur Voraussetzungen für Stabilität, sondern durch die Stabilität auch eine Wachstumszone in Europa, die wir dringend brauchen. Denn wir brauchen einen Anker für ein stabiles Wachstum, um das zu bewerkstelligen, was in Europa und in Deutschland noch vor uns steht und von uns geleistet werden muß.
Deutschland ist von Anfang an für harte Konvergenzziele eingetreten. Die europäischen Staaten müssen die verbleibenden Jahre bis zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nutzen, um weitere Konvergenzfortschritte zu erzielen. Nur bei Erfolg tritt die Währungsunion in Kraft. Dieser Erfolg wird genau geprüft. Die Zäsur ist das Jahr 1996.
Die Sonderbelastungen durch die deutsche Einheit haben an unserer Haltung zur Konvergenz nichts geändert. Im Gegenteil: Deutschland erfüllt trotz der einmaligen Sondersituation durch die deutsche Einheit schon heute fast vollständig die vorgesehenen Kriterien:
Einschließlich der Sozialversicherungen wird Deutschland im ersten Jahr nach der Einheit nur 3,2 seines Bruttosozialprodukts für die Finanzierung der öffentlichen Defizite in Anspruch nehmen. Das sind nur 0,2 % — rund 6 Milliarden DM — mehr als die vorgesehene Obergrenze.
Beim Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt liegen wir mit zur Zeit 42 % weit unter der Höchstgrenze von 60 %. Auch die vorübergehend höhere Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte wird diesen Anteil nur geringfügig erhöhen.
Bei der Preissteigerungsrate liegen wir im Jahre 1991 mit durchschnittlich 3,5 % unter der Höchstgrenze, die zur Zeit mit 4,2 % zu berechnen wäre.
Bei den langfristigen Zinsen liegen wir in der Europäischen Gemeinschaft am niedrigsten.
Im Gegensatz zu einigen anderen europäischen Ländern hat Deutschland keine strukturellen Stabilitäts- oder Defizitprobleme. Die begrenzte Abweichung vom früheren Konsolidierungspfad ist allein einigungsbedingt.
Meine Damen und Herren, wir haben die Weichen gestellt, damit wir bis Mitte der 90er Jahre bei den wichtigen finanz- und wirtschaftspolitischen Kennziffern wieder überall in die europäische Spitzengruppe einrücken. In einem Konvergenzprogramm, das wir den europäischen Institutionen Ende Oktober zugeleitet haben und daß die Daten und die Zielsetzung unserer mittelfristigen Finanzplanung enthält, wird deutlich gemacht, wie wir durch Konsolidierung und Wachstumsförderung den Prozeß der Einigung bewältigen werden.
Alle Länder, die an der künftigen Währungsunion teilnehmen wollen, sind zur Stabilitätspolitik verpflichtet. Nur so können sie die geforderten finanzund volkswirtschaftlichen Kennziffern erreichen. Die Wahrung der Stabilitätsvorgaben nach Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion wird durch die Festlegung eines wirksamen Sanktionskatalogs gesichert. Bei Verletzung der Budgetdisziplin sind abgestufte Strafen bis hin zur Verhängung von Geldbußen vorgesehen.
Der Zusammenhalt der Gemeinschaft kann nur über erfolgreiche Konvergenzstrategien erreicht werden. Die Gemeinschaft wäre eindeutig überfordert, sollte sie die bei nachlassender Konvergenz auseinanderstrebende Wirtschaftsentwicklung durch erhebliche finanzielle Ausgleichs- und Umverteilungsmechanismen kompensieren. Darüber hinaus würde eine entscheidende Vertragsgrundlage gefährdet, nämlich die Verantwortlichkeit der nationalen Regierungen für ihre Finanz- und Haushaltspolitik.
Meine Damen und Herren, auch das ist ein Grund dafür, daß die zweite Stufe nicht zu lange dauern soll. Wenn diese nämlich zu lange dauert, besteht die Gefahr, daß sich einige Einrichtungen verfestigen, die Ansprüche an bestimmte Länder und an die Gemeinschaft zunehmen, aber die einheitliche Geld- und Währungspolitik noch nicht stattfindet. Insofern müssen wir daran interessiert sein, daß nach Erreichen der Konvergenzkriterien die dritte Stufe stattfindet, weil nur dann der Druck auf uns und auf die Kommission in bezug auf Konvergenzprogramme und zusätzliche Finanzierungen nachläßt und keine Grauzone der Geld-und Währungspolitik in Europa entsteht.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5429
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Das zu bedenken bitte ich wirklich alle, die aus verständlichen oder manchmal nicht verständlichen Gründen, auch aus psychologischen Gründen im Augenblick meinen: Wartet doch zu, wartet doch ab; seht doch, wie sich das Ganze entwickelt! — Ich will das nicht mit der deutschen Währungsunion vergleichen, aber auch da, meine Damen und Herren, hätte uns der Rat „Gemach, gemach, laßt euch Zeit! " nichts genützt; vielmehr war es notwendig, zum richtigen Zeitpunkt und unter Stabilitätskriterien den Sprung zu machen.
Man konnte damals einen Abrund nicht in mehreren Schritten überwinden, man mußte das in einem Schritt tun.
In Maastricht dürfen keine finanziellen Blankoschecks über die Zukunft ausgestellt werden. Wir müssen im nächsten Jahr ohnehin über die Eigenmittel und über die Anpassung des Strukturfonds beraten. Deshalb wäre es falsch, jetzt die Beratungen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union mit Finanzfragen zu belasten.
Die Kohäsion, also die Unterstützung der wirtschaftlichen Annäherung der Mitgliedsländer, ist auch für uns ein wichtiges Instrument der europäischen Integration, aber wir treten allen Forderungen entgegen, die Kohäsion zu einer umfassenden Finanzverantwortung der Gemeinschaft für die Mitgliedsländer umzudefinieren. Wir wollen kein abstraktes Finanzausgleichssystem und keine von den Sachpolitiken abgekoppelten Geldleistungen. Wir wollen auch keine Progressivität in den Mitgliedsbeiträgen, und wir lehnen die Einrichtung eines Konvergenzfonds ab. Aus ihm ließen sich nicht begrenzbare finanzielle Forderungen in den kommenden Jahren ableiten.
Meine Damen und Herren, in Maastricht werden wir auch über ein Verfahren entscheiden, das den Weg zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion klar vorzeichnet. Wir werden dabei Risiken ausschließen. Die neue Gemeinschaft in Wirtschafts- und Währungsfragen kommt nur zustande, wenn die klar definierten Voraussetzungen erfüllt sind.
Diejenigen, die in ihrer wirtschafts- und finanzpolitischen Anpassung noch nicht alle Ziele verwirklicht haben, dürfen den endgültigen Integrationsschritt nicht verhindern oder verzögern. Die Finalität des Einigungsprozesses ist ein entscheidender Punkt. Eine allgemeine Ausstiegsklausel soll es nicht geben. Wir dürfen nicht in der Übergangsphase steckenbleiben; sonst wären alle Vorbereitungen und Anstrengungen im Ergebnis erfolglos. Wir haben gute Chancen, meine Damen und Herren, die noch verbleibenden Probleme in Maastricht zu lösen.
Mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Politischen Union erschließen wir hervorragende Perspektiven für Deutschland und Europa. Wachstum, Stabilität und Beschäftigung werden im Interesse der Menschen in ganz Europa entscheidend gefördert. Durch vollständige Freizügigkeit im Gemeinsamen Markt gewinnen die Bürger zusätzliche Lebensperspektiven. Die Gemeinschaft der Zwölf wird als Keimzelle eines demokratischen und friedlichen Gesamteuropas erheblich gestärkt. Wir werden künftig nicht nur die wirtschafts- und finanzpolitischen, sondern auch die außen- und sicherheitspolitischen Probleme und Aufgaben gemeinsam lösen können.
Die Verwirklichung der Europäischen Union geht nicht zu Lasten anderer Ziele oder Prinzipien unserer nationalen Politik. Die Stabilität des Geldwertes wird nicht gefährdet. Die Europäische Gemeinschaft wird nicht zu einem übermächtigen Zentralstaat. Die Beschränkung des Staatseinflusses und die Begrenzung der öffentlichen Ausgaben sowie die Deregulierung bleiben auf nationaler wie auf europäischer Ebene vorrangige Ziele. Im künftigen Europa wird der Föderalismus nicht geschwächt. Die Bundesländer werden stärker als bisher in die europäischen Prozesse einbezogen. Das Subsidiaritätsprinzip gilt im europäischen Maßstab ebenso wie auf nationaler Ebene.
Deutschland ist bei der Doppelaufgabe der nationalen und der europäischen Einigung erfolgreich. Die Überwindung der deutschen und der europäischen Teilung gibt der Einigung über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union zusätzliches Gewicht. Die Gemeinschaft der Zwölf wird, wie gesagt, zur Keimzelle eines vereinigten demokratischen und friedlichen Europas.
Meine Damen und Herren, wir verwirklichen das, was Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Paul-Henri Spaak, Robert Schuman, Jean Monnet und Alcide de Gasperi begonnen haben. Ihre Visionen werden Realität. Das wiedervereinigte Deutschland nimmt seine Chance wahr, die Vollendung dieses Werks zum Wohle Europas und zu seinem eigenen Wohl entscheidend mitzugestalten, ohne seine Identität zu verlieren. Deutschlands Zukunft heißt Europa. Mit den Entscheidungen von Brüssel und Maastricht kommen wir der Zukunft ein großes Stück näher.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, bevor wir in der Aussprache fortfahren, gebe ich Ihnen vereinbarungsgemäß das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der eben durchgeführten namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP — Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Zweite Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — auf Drucksache 12/1696 bekannt. *)
Abgegebene Stimmen: 556; ungültig: keine. Mit Ja gestimmt haben 360 Kolleginnen und Kollegen; mit Nein gestimmt haben 193 Kolleginnen und Kollegen; 3 haben sich der Stimme enthalten.
*) Vgl. Seite 5340 A
5430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Vizepräsident Helmuth Becker
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 554 davon
ja: 358
nein: 193
enthalten: 3
ungültig: -
Ja
CDU/CSU
Frau Dr. Ackermann Adam
Dr. Altherr Frau Augustin Augustinowitz Austermann Bargfrede
Dr. Bauer
Frau Baumeister
Bayha
Belle
Frau Dr. Bergmann-Pohl Bierling
Dr. Blank
Frau Blank Dr. Blens
Bleser
Dr. Blüm
Böhm
Börnsen
Dr. Bötsch Bohl
Bohlsen
Borchert
Brähmig
Breuer
Frau Brudlewsky Brunnhuber Bühler
Büttner Buwitt
Carstens Carstensen (Nordstrand) Clemens
Dehnel
Frau Dempwolf
Deres
Deß
Frau Diemers Dörflinger Doss
Dr. Dregger Echternach Ehlers
Ehrbar
Frau Eichhorn Engelmann Eppelmann Eylmann
Frau Eymer Frau Falk
Dr. Faltlhauser
Feilcke
Dr. Fell
Fischer Fockenberg Francke (Hamburg) Frankenhauser
Dr. Friedrich Fritz
Fuchtel
Ganz
Frau Geiger Geis
Dr. Geißler
Dr. von Geldern
Gerster
Gibtner
Glos
Dr. Göhner Göttsching Götz
Dr. Götzer Gres
Frau Grochtmann
Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Harries
Haschke Haschke (Jena-Ost)
Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser
Hauser Heise
Frau Dr. Hellwig
Helmrich Dr. Hennig
Dr. h. c. Herkenrath Hinsken
Hintze
Hörster
Dr. Hoffacker
Hollerith
Dr. Hornhues
Hornung Hüppe
Jäger
Frau Jaffke Jagoda
Dr. Jahn Janovsky
Frau Jeltsch Dr. Jobst Dr.-Ing. Jork
Dr. Jüttner Jung Junghanns
Dr. Kahl Kalb
Kampeter Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes Frau Karwatzki
Keller
Kiechle
Kittelmann Klein
Klinkert
Köhler
Dr. Köhler
Dr. Kohl Kolbe
Frau Kors Koschyk Kossendey Kraus
Dr. Krause Krause (Dessau)
Krey
Kriedner Kronberg Dr.-Ing. Krüger Krziskewitz Lamers
Dr. Lammert
Lamp
Lattmann Dr. Laufs Laumann Frau Dr. Lehr
Lenzer
Dr. Lieberoth
Frau Limbach
Link
Lintner
Dr. Lippold
Dr. sc. Lischewski
Frau Löwisch
Lohmann {Lüdenscheid) Louven
Lummer
Dr. Luther
Maaß Frau Männle
Magin
Dr. Mahlo
Frau Marienfeld Marschewski Marten
Dr. Mayer Meckelburg
Meinl
Frau Dr. Merkel
Frau Dr. Meseke
Dr. Meyer zu Bentrup Frau Michalk Michels
Dr. Möller
Müller
Müller
Müller
Nelle
Dr. Neuling Neumann
Nitsch
Frau Nolte Dr. Olderog Ost
Oswald
Otto Dr. Päselt
Dr. Paziorek Pesch
Petzold
Pfeffermann Pfeifer
Frau Pfeiffer Dr. Pfennig Dr. Pflüger Dr. Pinger Pofalla
Dr. Pohler Frau Priebus Dr. Protzner Pützhofen
Frau Rahardt-Vahldieck Raidel
Dr. Ramsauer Rau
Rauen
Rawe
Reddemann Reichenbach Dr. Reinartz Frau Reinhardt Repnik
Dr. Rieder
Dr. Riedl
Dr. Riesenhuber
Rode
Frau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Romer
Dr. Rose
Rossmanith Roth Rother
Dr. Ruck
Rühe
Dr. Rüttgers Sauer
Sauer Scharrenbroich
Frau Schätzle Dr. Schäuble Schemken Schmalz
Schmidbauer
Schmidt
Dr. Schmidt Schmidt (Mühlheim)
Frau Schmidt Schmitz (Baesweiler)
Dr. Schneider
Dr. Schockenhoff
Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Scholz
Frhr. von Schorlemer
Dr. Schreiber Schulhoff
Dr. Schulte
Schulz
Schwalbe Schwarz
Dr. Schwarz-Schilling
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seibel
Seiters
Skowron
Dr. Sopart Frau Sothmann
Spranger
Dr. Sprung
Frau Steinbach-Hermann
Dr. Stercken
Dr. Frhr. von Stetten Stockhausen
Dr. Stoltenberg
Strube
Stübgen
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Uelhoff Uldall
Frau Verhülsdonk
Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil
Dr. Warnke Dr. Warrikoff Werner
Wetzel
Frau Wiechatzek
Dr. Wieczorek Frau Dr. Wilms
Wilz
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann
Wittmann Wonneberger
Frau Wülfing
Würzbach Frau Yzer Zeitlmann Zöller
FDP
Frau Albowitz
Frau Dr. Babel
Beckmann Bredehorn
Cronenberg Eimer (Fürth)
Engelhard van Essen Dr. Feldmann
Friedhoff Friedrich Funke
Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5431
Vizepräsident Helmuth Becker
Gallus
Genscher Grüner
Dr. Guttmacher
Hackel Hansen
Dr. Haussmann Heinrich
Dr. Hirsch
Dr. Hitschler
Frau Dr. Hoth
Dr. Hoyer
Hübner Irmer
Kleinert Kohn
Dr. Kolb Koppelin
Dr.-Ing. Laermann Frau Leutheusser-
Schnarrenberger Lüder
Lühr
Dr. Menzel
Nolting Dr. Ortleb
Otto Paintner
Frau Peters
Frau Dr. Pohl
Richter Rind
Dr. Röhl Schäfer
Frau Schmalz-Jacobsen Schmidt
Dr. Schmieder Schüßler
Frau Sehn
Frau Seiler-Albring Frau Dr. Semper
Dr. Solms Dr. Starnick
Frau Dr. von Teichman Thiele
Dr. Thomae
Timm
Frau Walz
Dr. Weng Frau Würfel
Zurheide Zywietz
Nein
SPD
Frau Adler
Andres Bachmaier
Frau Barbe
Bartsch
Becker Frau Becker-Inglau Bernrath
Beucher Bindig Frau Bock
Dr. Böhme Börnsen (Ritterhude) Brandt
Frau Brandt-Elsweier Dr. Brecht
Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Frau Caspers-Merk Conradi
Dr. Diederich Diller
Frau Dr. Dobberthien Dreßler
Duve
Ebert
Dr. Eckardt
Dr. Ehmke
Eich
Dr. Elmer
Erler
Esters
Frau Ferner Frau Fischer
Fischer (Homburg)
Frau Fuchs
Frau Fuchs Fuhrmann
Frau Ganseforth
Gansel
Gilges
Frau Gleicke Graf
Haack Habermann Hacker
Frau Hämmerle Hampel
Frau Hanewinckel
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Heistermann
Hiller Horn
Frau Iwersen Frau Jäger Frau Janz
Jaunich
Jung Jungmann (Wittmoldt) Frau Kastner
Kastning
Kirschner
Klose
Dr. sc. Knaape Körper
Frau Kolbe Kolbow
Koltzsch
Kubatschka Dr. Kübler
Kuessner
Kuhlwein
Lambinus
Frau Lange von Larcher Leidinger
Frau Dr. Leonhard-Schmid Frau Dr. Lucyga
Maaß Frau Marx Frau Mascher Matschie
Dr. Matterne Frau Mattischeck
Meckel
Frau Mehl
Meißner
Dr. Meyer
Mosdorf
Müller
Frau Müller Müller (Zittau) Müntefering
Neumann
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese
Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel
Ostertag
Frau Dr. Otto
Paterna
Dr. Penner Peter Dr. Pfaff
Pfuhl
Dr. Pick
Purps
Frau von Renesse
Reuter
Roth
Schäfer
Frau Schaich-Walch Schanz
Scheffler
Schily
Schloten
Frau Schmidt Frau Schmidt (Nürnberg) Frau Schmidt-Zadel
Dr. Schmude Dr. Schnell
Dr. Schöfberger Schreiner
Frau Schröter Schröter
Frau Schulte
Dr. Schuster Schwanitz Frau Seuster Frau Simm Singer
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Sorge
Dr. Sperling Frau Steen Tappe
Dr. Thalheim Thierse
Tietjen
Frau Titze
Toetemeyer Vergin
Verheugen Dr. Vogel
Voigt
Wagner
Wallow
Waltemathe Walter
Walther Wartenberg (Berlin)
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Weis Weißgerber Dr. Wernitz Frau Westrich
Frau Wettig-Danielmeier Frau Dr. Wetzel
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wieczorek
Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
Dr. de With Wittich
Frau Wohlleben
Frau Wolf
Frau Zapf
Dr. Zöpel
PDS/LL
Frau Bläss Frau Braband
Dr. Briefs
Frau Dr. Fischer
Dr. Heuer Frau Dr. Höll
Frau Jelpke Dr. Keller Frau Lederer
Dr. Riege
Dr. Schumann Dr. Seifert
Frau Stachowa
Fraktionslos
Henn
Bündnis 90/GRÜNE
Dr. Feige
Frau Köppe Dr. Ullmann Weiß Frau Wollenberger
Enthalten
Fraktionslos
Lowack
Bündnis 90/GRÜNE
Poppe
Schulz
Der Antrag ist mit der genannten erforderlichen Mehrheit von mehr als 332 Mitgliedern des Hauses angenommen. Der Einspruch des Bundesrates ist damit zurückgewiesen.
Wir fahren jetzt in der Aussprache fort. Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen, Herrn Hans-Dietrich Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft haben am vergangenen Dienstag den Vertragsentwurf über die Europäische Union in seinen Grundzügen fertiggestellt. Wesentliche deut-
5432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
sche Verhandlungsziele sind berücksichtigt. Der europäische Einigungsprozeß erhält mit den jetzt schon erreichten Fortschritten wichtige neue Impulse. Darüber möchte ich dem Deutschen Bundestag auf der Grundlage des heutigen Verhandlungsstandes berichten.
Ich beginne mit dem Europa der Bürger. Es wird eine Bürgerschaft der Europäischen Union eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt. Mit dieser Bürgerschaft sind Rechte verbunden. Die wichtigsten sind: Jeder Unionsbürger darf sich in der ganzen Union frei bewegen und aufhalten. Das geht über die bisher schon geltende Freizügigkeit der Arbeitskräfte und das freie Niederlassungsrecht hinaus.
Jeder Unionsbürger kann sich dort, wo er seinen Wohnsitz hat, an den Kommunalwahlen beteiligen. Das bedeutet für Deutschland eine Verfassungsänderung. Wir müssen das bis zum Ende des Jahres 1994 erreichen.
Jeder Unionsbürger hat ferner das Recht, bei den europäischen Wahlen das aktive und passive Wahlrecht an seinem Wohnsitz wahrzunehmen.
Die Rechte des Europäischen Parlaments konnten in wichtigen Fragen verstärkt werden.
In der Gesetzgebung der Gemeinschaft wird ein Verfahren eingeführt, in dem Rat und Europäisches Parlament gemeinsam entscheiden. Das bezieht sich nach dem jetzigen Verhandlungsstand insbesondere auf den Binnenmarkt, aber auch auf weitere Gebiete wie Forschung und Umwelt.
Die Ernennung des Präsidenten der Kommission und der Mitglieder der Kommission bedürfen der vorherigen Zustimmung des Europäischen Parlaments. Das Parlament erhält das Recht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen und Petitionen entgegenzunehmen. Wichtige internationale Abkommen bedürfen der Zustimmung des Parlaments.
Die Bundesregierung hält jedoch diese Ergebnisse, wie sie bisher erzielt worden sind, nicht für ausreichend.
Wir wollen eine Ausdehnung der Mitentscheidung auf weitere Bereiche. Wir wollen übereinstimmende Mandatszeiten für Kommission und Parlament. Wir wollen ein Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments bei Vertragsänderungen und Vertragsergänzungen. Im Wegfall der dritten Lesung im Rahmen des Vermittlungsverfahrens sehen wir eine Verstärkung der Stellung des Parlaments. Wir werden uns dafür gegenüber dem vorliegenden Entwurf einsetzen.
Wenn diese Forschritte nicht in einem Schritt zu erreichen sind, werden wir uns um eine schrittweise Verwirklichung bemühen.
In diesem Zusammenhang möchte ich feststellen, daß in der Sitzung des Konklaves der Außenminister zugestimmt wurde — und zwar von allen Ländern —, daß Deutschland 18 zusätzliche Mandate im Europäischen Parlament für die europäischen Bürger in den neuen Bundesländern erhält. Ich hoffe, daß es dabei bleibt. Denn ein Land hat die Erwartung geäußert, daß auch die Zahl der Abgeordneten anderer Länder erhöht wird.
Dafür hat sich bisher keine oder noch keine Zustimmung ergeben.
Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die gemeinsame Verteidigung sind zentraler Bestandteil der werdenden Europäischen Union. Deutschland und Frankreich haben in den letzten Monaten Konzepte für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt und entscheidende Impulse gegeben. Im Konklave der Außenminister am 2. und 3. Dezember haben wir bei der Verwirklichung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wichtige Fortschritte erzielt. Es besteht grundsätzliches Einvernehmen, daß die Europäische Union im Rahmen gemeinsamer außen- und sicherheitspolitischer Aktionen in Zukunft geschlossen handeln wird.
Die Bereiche für diese Aktionen sind in einer Liste festgelegt, auf die wir uns jetzt schon geeinigt haben. Die Aktionen beziehen sich vor allen Dingen auf den KSZE-Prozeß und auf Bereiche der Sicherheitspolitik im engeren Sinne. Die Liste wird bis zum Inkrafttreten ausgebaut und präzisiert werden.
Über mögliche gemeinsame Aktionen gegenüber einzelnen Ländern und einzelnen Regionen will der Europäische Rat in Lissabon auf der Grundlage eines Berichts der Außenminister entscheiden.
In Maastricht muß noch entschieden werden, ob über die Durchführung gemeinsamer außenpolitischer Aktionen mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden soll. Wir halten das für dringend notwendig, um endlich einen Einstieg ins Mehrheitsverfahren zu erhalten.
Die Mehrheit unserer Partner ist dafür. Damit wird das ein wesentlicher Punkt in Maastricht sein.
Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, daß wir für den Fall, daß sich ein oder vielleicht zwei Länder in Maastricht zur Zustimmung noch nicht entschließen können, ein ähnliches Verfahren anwenden sollten wie bei der Währungsunion, daß nämlich diejenigen Länder, die bereit sind, sich schon jetzt einer Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen, diesen Schritt auch entschlossen tun.
Wichtig für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist, daß wir uns in der letzten Sitzung der Außenminister darüber verständigt haben, daß die Westeuropäische Union integraler Bestandteil der Europäischen Union sein wird. Das war ein wichtiges deutsch-französisches Anliegen.
Die Westeuropäische Union soll Beschlüsse der Union
mit Implikationen im Bereich der Verteidigung
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5433
Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
erarbeiten und ausführen, wenn sie dazu von der Europäischen Union aufgefordert wird.
Die Verpflichtungen aus dem NATO-Bereich bleiben davon unberührt. Die Beziehungen eines Staates zur Union bestimmen sich somit zukünftig aus seinem Verhältnis zur Westeuropäischen Union. Das bedeutet bei einer Frage, die im Europäischen Rat aufgeworfen werden wird, daß wir uns z. B. für die Mitgliedschaft Griechenlands in der Westeuropäischen Union einsetzen. Wir sind der Meinung, daß unser Verständnis des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und Westeuropäischer Union es notwendig macht, daß den Mitgliedern der Europäischen Union, die Mitglied der WEU werden wollen, die Tür dafür auch geöffnet wird.
Im Vertrag über die Europäische Union wird sichergestellt, daß Bündnisverpflichtungen im Rahmen der NATO voll respektiert werden und daß politisch die werdende Union voll mit der NATO kompatibel bleibt.
Beim NATO-Gipfel in Rom hat sich gezeigt, daß das Verständnis der Vereinigten Staaten von Amerika und Kanadas für den Wunsch der Europäer nach einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Identität sehr groß ist. Um es anders auszudrücken: Niemand kann sich bei einem etwaigen Widerstand gegen unser Bemühen, diese Identität herzustellen, auf Amerika oder auf Kanada herausreden. Ich habe manchmal den Eindruck gehabt, daß von dort europäischere Auffassungen zu hören waren, als wir sie gelegentlich intern in Europa zur Kenntnis nehmen mußten.
Die künftige Außen- und Sicherheitspolitik soll auf längere Sicht auch die Verteidigung umfassen, wobei noch offen ist, wie das im einzelnen formuliert wird. Es geht um die Frage „Verteidigung" oder „Verteidigungspolitik" . Wir treten zusammen mit Frankreich für eine möglichst eindeutige Formulierung ein.
Die Europäische Union wird auch eine enge Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik umfassen. Die Bundesregierung hatte vorgeschlagen, die Ausländer-, Einwanderungs- und Asylpolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft als Gemeinschaftsmaterie zu regeln. Sie hatte ferner vorgeschlagen, eine europäische kriminalpolizeiliche Polizeistelle, Europol, einzurichten.
Wir haben erreichen können, daß zwei Bereiche, nämlich die Kontrolle an den Außengrenzen der Gemeinschaft und der kurzfristige Aufenthalt einschließlich der VisaErteilung, im G emeinschaftsverfahren entschieden werden. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten ist im übrigen — derzeit jedenfalls — nur zu einer Zusammenarbeit der Regierungen bereit. Deshalb wird es darauf ankommen, daß wir in Maastricht wenigstens einen Stufenplan für die Gemeinschaftsregelungen erreichen.
Die Regierungskonferenz hat sich intensiv mit der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaftskompetenzen durch vermehrte Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit befaßt. Schon jetzt kann man sagen, daß bei bestehenden Kompetenzen Verbesserungen erreicht wurden, z. B. bei der Forschung und der Umwelt. Neue Kompetenzen zeichnen sich auf dem Gebiet der Schaffung transeuropäischer Netze im Verkehrs-, Kommunikations- und Energiebereich ab.
Zwei besonders umstrittene Politikbereiche, die in Maastricht noch zu entscheiden sind, sind die Sozialpolitik und die Industriepolitik der Gemeinschaft. Die Haltung der Bundesregierung ist eindeutig: Wir wollen eine Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Union.
In der Industriepolitik werden wir darauf achten, daß marktwirtschaftliche Grundsätze und ordnungspolitische Prinzipien nicht beeinträchtigt werden. Eine europäische Industriepolitik darf nicht einen neuen Subventionshaushalt eröffnen.
Für Kultur, Bildung und Gesundheit soll die Gemeinschaft ergänzend zu den Mitgliedstaaten tätig werden. Hier ist es der deutschen Delegation gelungen, unsere föderalen Grundsätze und die Subsidiarität, voll zur Geltung zu bringen.
Herr Kollege Waigel hat bereits zu dem wichtigen Thema der Kohäsion, das sicher in Maastricht eine erhebliche Rolle spielen wird, Stellung genommen. Hier geht es um den Interessenausgleich vor allen Dingen für die südlichen Mitgliedstaaten unserer Gemeinschaft.
Wir streben auch für das vereinigte Europa einen föderalen Aufbau an. Hier haben wir wichtige Schritte tun können. Gerichtlich überprüfbar ist das Subsidiaritätsprinzip verankert. Wir werden uns in Maastricht um eine deutlichere Ausformulierung bemühen.
Wir konnten einen Ausschuß der Regionen einrichten, der mit beratender Funktion ein Gemeinschaftsorgan sein wird. Er muß zu wichtigen Fragen gehört werden. Er hat aber auch selbst das Recht, sich mit Materien zu befassen und Stellungnahmen abzugeben.
Der neue Art. 146 des Vertrages eröffnet die Möglichkeit, daß im Ministerrat die deutsche Position je nach Zuständigkeit von der Bundesregierung oder von Vertretern der Bundesländer abgegeben wird. Die Kompetenzevolutivklausel des Vertrages wird in ihrer bisherigen Regelung beibehalten.
Für uns besonders wichtig ist die Tatsache, daß die Vorschrift der europäischen Verträge, die sich mit den Beihilfen zum Ausgleich der durch die Teilung Deutschlands verursachten Nachteile befaßt, fortgilt, und zwar unbefristet.
Schließlich wird in den Bereichen, in denen bei uns die Länder ausschließliche Kompetenzen haben, wie Bildung und Kultur, die Gemeinschaft nur strikt zur Förderung europäischer Initiativen tätig. Eine Regelungskompetenz der Gemeinschaft bleibt ausgeschlossen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir werden in Maastricht in einem umfassenden Paket zu
5434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Bundesminister Hans-Dietrich Genscher
einer Entscheidung kommen müssen, die den Interessen aller Beteiligten dient, die aber das große deutsche Ziel nicht außer acht läßt, nämlich den europäischen Einigungsprozeß unumkehrbar zu machen. Die Bundesregierung hat die Erwartung, daß alle Mitgliedstaaten, deren Vertreter zu diesem Gipfel nach Maastricht kommen, sich bewußt sind, daß in Maastricht nicht nur über die Zukunft von zwölf Gemeinschaftstaaten entschieden wird, sondern daß sich darauf auch die Blicke vor allem unserer Nachbarn im Osten und Südosteuropas richten. Hier wird sich zeigen, ob die Europäische Gemeinschaft ihrer geschichtlichen Verantwortung für das ganze Europa gerecht werden kann.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neuer Nationalismus macht sich breit. In Jugoslawien schlachten sich Menschen in seinem Namen gegenseitig ab. In der ehemaligen Sowjetunion läuft der Prozeß der Rücknahme politischer und wirtschaftlicher Verflechtung, die durch den Stalinismus erzwungen war, zusammen mit einer Welle nationalistischer Konflikte.
Ob aus diesem Prozeß der Auflösung erzwungener Verflechtung völlige Desintegration und ein Flächenbrand des Nationalismus wird oder ob er zu neuer Verflechtung auf demokratischer Grundlage führt, das hängt auch von Westeuropa ab. Es hängt auch von der Frage ab, ob sich in Westeuropa Integration und Verflechtung fortsetzen und ob für alle sichtbar wird, daß wirtschaftliche und politische Verflechtung auf demokratischer Basis die angemessene Organisationsform am Ende unseres Jahrhunderts ist. Die Neuordnung Europas am Ende dieses Jahrhunderts muß auf prinzipiell anderen Organisationsformen aufbauen als die der traditionellen Nationalstaaten.
Die Europäische Gemeinschaft mit all ihren Mängeln ist ein Beispiel dafür, wie Frieden nach zwei schrecklichen Weltkriegen dauerhaft durch Integration gesichert wird. Sie ist auch — ich sage das mit allem Ernst — die Hoffnung darauf, daß wir am Ende dieses Jahrhunderts nicht wieder da anlangen, wo wir zu Beginn dieses Jahrhunderts standen.
Der neue Nationalismus, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht aber im übrigen keineswegs nur in Ost- und Mitteleuropa um, und er ist keineswegs nur am Stammtisch vertreten. Es stammt nicht von Franz Schönhuber, wenn Rudolf Augstein im letzten „Spiegel" schreibt — ich zitiere — :
Es gibt nun aber kein solidarisches Europa. Einig und solidarisch sind die anderen sich nur in der Absicht, das groß gewordene Deutschland in seinem politischen Spielraum einzuengen und dabei, wenn möglich, noch kräftig abzusahnen.
Aber es könnte auch von ihm sein.
Deshalb auch an die Adresse des Kollegen Hornhues, den ich hier vor mir sehe: Mit dem Rückzug aus der europäischen Einigung dürfen wir noch nicht einmal drohen, wie Sie es getan haben. Ein solches Verhalten hat schlimme Konsequenzen.
Es würde all den Vermutungen recht geben, die besagen, daß nach der deutschen Einigung die Deutschen wieder allein könnten und wollten. Das wäre auch sachlich falsch. Der Vorteil von Integration ist doch nun gerade, daß wir zum Glück nicht ohne die und den anderen können. Unsere Ökonomien sind so miteinander verbunden und verflochten, daß ein Rückzug eines Landes Schaden für alle Beteiligten und auch für uns bringen würde.
Unser Vorwurf an die EG-Mitgliedsregierungen und auch an die Bundesregierung ist nicht, daß sie schlechten Willens wären.
Es ist vielmehr so, daß die Regierungen in der Art, wie sie die neuen EG-Vertragsveränderungen erarbeiten, den wirklichen Herausforderungen, die ich unter diesem Stichwort soeben genannt habe, nicht gerecht werden. Das ist unsere große Sorge, wenn man sieht, was geschildert worden ist.
Die Wirtschafts- und Währungsunion steht soweit. Aber die Politische Union, die doch erhebliche Vorbedingung dafür ist, daß es in diesem Bereich wirklich eine parlamentarische Kontrolle gibt, steht noch nicht. Das ist das ganze Ergebnis dessen, was Herr Genscher hier vorhin vorgetragen hat.
Es sollte doch, als „Maastricht" beschlossen worden ist, die Neuordnung für Europa in unserem Bereich vorbereitet werden. Anscheinend ist für die Mitgliedstaaten die neue Lage in Europa noch immer die alte. Deshalb ist nicht der Ministerrat, die Vertretung der Regierungen, der eigentlich handlungsfähige Akteur in dieser Situation. Handlungsfähig dagegen wären EG-Kommission und Europaparlament, die sich weniger an nationalen Vorgaben orientieren. Die Reform der Europäischen Gemeinschaft, die in Maastricht ansteht, muß daran gemessen werden, ob sie diese beiden Institutionen gegenüber dem Ministerrat stärkt, der bisher — Stichwort „Jugoslawien" — wenig Handlungsfähigkeit gezeigt hat.
Ich sage noch einmal: Die beiden Berichte haben wir hier zur Kenntnis genommen; aber wo ist die bisher verkündete und versprochene Kopplung zwischen Europäischer Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion? Sie muß aufrechterhalten bleiben, sonst kann Maastricht kein Erfolg sein.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die SPD-Fraktion zu einem zugestandenermaßen ungewöhnlichen Verfahren gegriffen. Sie hat gemeinsam
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
mit der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion einen Antrag eingebracht,
in dem der Deutsche Bundestag in der Abstimmung nach dieser Debatte eine absolute Priorität klarmacht. Wir sagen, es gibt viele Bereiche, zu denen in Maastricht Kompromisse geschlossen werden müssen und wo auch Kompromisse notwendig sind, aber im Bereich der Sicherung parlamentarischer Demokratie, in der zentralen Frage der Rechte des Europäischen Parlaments darf die Bundesregierung nicht knieweich werden.
Das ist die Botschaft des gemeinsamen Antrags von SPD, CDU/CSU und FDP.
Wir konzentrieren uns dabei auf die Rechte des Europäischen Parlaments. Herr Außenminister, Sie wissen so gut wie ich, daß real bisher kein Mitentscheidungsrecht bei der Gesetzgebung verwirklicht worden ist. Ein echtes Mitentscheidungsrecht — Herr Kollege Pfennig weiß das wie Ulrich Irmer, die beide ebenfalls im Europäischen Parlament waren — bedeutet, daß beide Kammern, Europäisches Parlament und Ministerrat, gleiche Rechte haben. Bei der Regelung, die jetzt noch vorliegt, kann der Rat immer noch das Europäische Parlament überstimmen. Das ist aber einer parlamentarischen Demokratie unwürdig.
Wir konzentrieren uns in unserem gemeinsamen Antrag auf den Zusammenhang zwischen Europäischer Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion und auf die Forderung nach Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips — ich blicke auf die Bundesratsbank —, weil wir nicht wollen, daß sich ein europäischer Zentralstaat entwickelt, und weil wir wollen, daß die Regionen in diesem Europa ihre eigenständige politische und anderweitige Entscheidungsmöglichkeit sichern.
In dem gemeinsamen Antrag konzentrieren wir uns im Bereich der Sicherheitspolitik auf Punkte, die in dieser Formulierung nicht kontrovers sind, obwohl wir es in anderen Bereichen, von denen ich gleich spreche, unterschiedlichen sehen. Besonders freuen wir uns, daß die Formulierung zum Asyl- und Einwanderungsrecht und zur Einwanderungspolitik, die wir in unserem gemeinsamen Antrag gefunden haben, die ist, welche die SPD seit langem vertritt, nämlich den abstrakten Streit um die Übertragung von Hoheitsrechten an die EG in diesen Bereichen endlich sein zu lassen, zumal zehn von zwölf Mitgliedstaaten dies sowieso nicht wollten. Wir konzentrieren uns also auf europäische Zusammenarbeit bei der Asyl- und Einwanderungspolitik, wozu keine Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes notwendig ist.
Jetzt appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion. Wir wollen einen Punkt zusätzlich. Ich bitte Sie sehr herzlich. Ich weiß, daß viele von Ihnen das auch gern hätten, wenn die Regierung Ihnen gegenüber eine solche Bindung nicht fürchtete. Ich appelliere an Sie: Wir als Deutscher Bundestag sollten — wie das italienische und das belgische Parlament — aus unserer Sicht signalisieren, daß wir unsere Zustimmung zu den Vertragsänderungen von der Haltung des Europäischen Parlaments abhängig machen. Wir sollten klar signalisieren, daß wir in diesem Bereich die Regelungen zu den Rechten des Europäischen Parlaments absolut unzureichend finden. Wir sollten ganz klar machen, daß das Europäische Parlament bereits gesagt hat, daß die jetzt vorliegenden Regelungen ungenügend sind und seine Ablehnung signalisiert hat, wenn es keine weiteren Veränderungen gibt.
Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer zulassen? — Bitte, Kollege Irmer.
Frau Kollegin, sehen Sie bei Ihrem Vorschlag nicht die Gefahr, daß sich der Deutsche Bundestag in die Abhängigkeit eines anderen Parlamentes begibt?
Sehen Sie nicht die Gefahr, daß dies sehr stark nach dem Prinzip des imperativen Mandates riecht?
Sehen Sie nicht die Gefahr, daß dies mit der Souveränität eines nationalen Parlamentes schlicht unvereinbar ist?
Herr Kollege Irmer, ich muß darauf hinweisen, die Kollegen im italienischen und belgischen Parlament — und das waren alle Fraktionen — haben das nicht als imperatives Mandat empfunden. Sie haben es als das empfunden, als was Sie es alle empfinden sollten: als ein Versuch der Solidarität des nationalen Parlamentes — des Bundestages — mit dem Europäischen Parlament, damit sich noch etwas bewegt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Pfennig. Die Zeit wird nicht angerechnet.
Bitte, Herr Kollege Pfennig! Alle meine ehemaligen Kollegen des Europaparlaments!
Frau Kollegin, nach Ihren eingänglichen Bemerkungen zum möglichen Rückzug der Deutschen aus der Europäischen Gemeinschaft frage ich Sie: Halten Sie es nicht für besonders unglücklich, wenn ausgerechnet der Deutsche Bundestag drohen würde, dann, wenn wir die Zustimmung des Europäischen Parlaments nicht bekommen, auch nicht zuzustimmen und sich aus der Weiterent-
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Dr. Gero Pfennig
wicklung der Europäischen Gemeinschaft zurückzuziehen?
Ich weiß doch, Herr Kollege Pfenning, daß Ihre Kollegen im Europaparlament, die christdemokratische Fraktion, froh wäre, wenn Sie sich hätten durchringen können, so viel Mut gegenüber Ihrer Regierung zu zeigen, eine Bindung einzugehen, vor deren Festlegung die Regierung Angst hat, weil sie nächste Woche in Maastricht möglicherweise den Ansprüchen nicht gerecht wird.
Das ist der Punkt. In Maastricht geht es nicht nur um die historische Chance, die Einheit Europas zu erreichen, sondern es geht auch um die Chance, die parlamentarische Demokratie zu sichern und zu erhalten. Wenn die Vorschläge zur Vertragsänderung, die auf dem Tisch liegen, durchgesetzt würden und unverändert blieben, wäre dies im Ergebnis eine Beschädigung der parlamentarischen Demokratie.
Ich will ein Beispiel nennen. Der Kollege Norbert Wieczorek wird das noch ausführlicher darstellen. Ab der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, d. h. voraussichtlich ab 1996, wird es eine einheitliche europäische Währung geben. Die Entscheidungen aber über die Währungspolitik und damit auch über die Stabilität der Währung würden dann nicht mehr vom Deutschen Bundestag getroffen, sondern nur noch vom zuständigen Ministerrat, das heißt von Vertretern der Regierungen. Wir haben doch nicht die Zentralkomitees in Osteuropa abgeschafft, um neue in Westeuropa zu installieren!
Es muß doch so sein — dafür sind wir, liebe Kolleginnen und Kollegen — : Wenn in der Währungspolitik Souveränität auf die EG übertragen wird, dann bitte nicht allein auf den Ministerrat für Wirtschafts- und Finanzfragen, sondern auch auf das Europäische Parlament! Das ist die logische Schlußfolgerung. Deshalb gibt es den Zusammenhang zwischen Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion.
Für den Bereich der Sicherheitspolitik, den Herr Außenminister Genscher ausführlich angesprochen hat, gilt: Auch nach den EG-Vertragsänderungen über jedweden Einsatz der Bundeswehr entscheidet nach den Bestimmungen des Grundgesetzes der Deutsche Bundestag. Es darf auch keine einzige Stufe dieser Entscheidungen geben, die ohne parlamentarische Kontrolle und Mitsprache bliebe.
An dieser Stelle will ich noch einmal auf folgendes hinweisen: Auch im Bereich der Sicherheitspolitik ist es bisher so, daß das, was vorgesehen ist, zwar eine Konsultation, eine Anhörung des Europäischen Parlaments bedeutet, aber daß in all den wichtigen Fragen, die hier skizziert worden sind, das Europäische Parlament nach den bisher vorliegenden Vertragsänderungen nicht endgültig entscheiden soll. Das heißt, auch in diesem Bereich muß es reale Mitentscheidungsrechte geben.
Wir begrüßen im übrigen, daß die Bundesregierung durch Bundesaußenminister Genscher in der Regierungskonferenz zur Politischen Union am 3. Dezember 1991 für die Bundesregierung einen Verfassungsvorbehalt in einer Klarstellung gegenüber den anderen Mitgliedstaaten abgegeben hat, in der sie darauf hinweist, daß sie verfassungsrechtlich am Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb des Bündnisgebietes der NATO gehindert ist. Eine solche Klarstellung entspricht der geltenden Verfassung, und sie entspricht der SPD-Interpretation der Vertragsänderungen.
Mit dieser Klarstellung wird endlich die Auffassung mancher aus den Reihen der CDU/CSU als falsch zurückgewiesen, die behaupten, mit den Vertragsänderungen sei die Beschränkung des Grundgesetzes für den Bundeswehrauftrag zur Verteidigung überwunden.
Dieser Verfassungsvorbehalt muß nun allerdings auch eine formelle Protokollnotiz der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik bei der Vertragsunterzeichnung in Maastricht werden.
Es gilt unmißverständlich die im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik genannte Möglichkeit: „Friedenserhaltende Operationen im Rahmen der UNO" müssen so lange ohne deutsche Beteiligung bleiben, als nicht eine Grundgesetzänderung die Möglichkeit des Blauhelm-Einsatzes der Bundeswehr ermöglicht.
Dazu sind wir bereit. Wir bieten diese Grundgesetzänderung ausdrücklich an. Die Bundesregierung weiß: Für eine Beteiligung an UNO-Kampftruppen gibt es in der Bundesrepublik keine verfassungsändernde Mehrheit, was immer die Bundesregierung in diesem Bereich auch an Absichtsänderungen publizieren mag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Maastricht für Europa und die parlamentarische Demokratie ein Erfolg wird, wird auch die EG imstande sein, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen. 1995 und 1996 werden wahrscheinlich Österreich und Schweden dabei sein. Finnland, Norwegen, vielleicht auch die Schweiz werden folgen, danach die CSFR, Polen und Ungarn. Noch vor Abschluß dieser Beitrittsverhandlungen muß neu verhandelt werden: über die neuen gestrafften Institutionen einer solchen erweiterten Politischen Union, damit sie angesichts von vierzehn, fünfzehn oder gar zwanzig Mitgliedstaaten nicht unbeweglich wird.
Diese nächste Stufe kann und darf nicht mehr in Regierungskonferenzen unter Ausschluß der kritischen Öffentlichkeit und ohne Beteiligung von Parlamentsabgeordneten stattfinden. Sie muß in der Form der Beratungen eines europäischen Verfassungsrates erfolgen, der die Hoffnungen und Wünsche der europäischen Völker wirklich aufnimmt.
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Heidemarie Wieczorek-Zeul
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun der Kollege Peter Kittelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die Opposition eben vernommen hat, könnte man den Eindruck haben, wir hätten die letzten Wochen verschlafen. Aber das täuscht. Denn in Wirklichkeit wissen wir alle, daß Sie mit der Politik der Bundesregierung, die sie in den letzten Wochen in Vorbereitung von Maastricht betrieben hat, mehr als einverstanden sind. Das zeigen interne Gespräche. Sie haben nur nicht den Mut gehabt, das hier offen auszusprechen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren, das Problem ist für die Opposition natürlich schwierig zu losen, da sie nicht in der Regierung und nur Verfolger des Geschehens ist. Aber ich glaube, hier hatten Sie sehr viel mehr Anlaß, als Sie verdeckt zugegeben haben, die Politik der Bundesregierung positiv zu würdigen. Das ist übrigens auch Ziel des gemeinsamen Antrags, dem Sie letztlich zugestimmt haben.
Das Wort vom historischen Datum geht uns in letzter Zeit sehr leichtfertig von den Lippen. Deshalb ist es verständlich, daß viele Menschen bei diesem Begriff zurückhaltend fragen: Ist es diesmal ein historischer Anlaß? Der Gipfel in Maastricht wird aber zu einem historischen Datum werden, egal, wie die Ergebnisse im einzelnen aussehen. Maastricht entscheidet so oder so über die weitere Entwicklung hin zu einem gemeinsamen, friedlichen Europa. Der Einigungsprozeß muß für alle Zeiten festgeschrieben werden und damit unumkehrbar sein.
Wir alle wissen doch, daß das einzelstaatliche souveräne Handeln gar nicht mehr fähig ist, die großen, längst grenzüberschreitenden Probleme zu lösen. Selbst die Franzosen — oder soll ich sagen: auch die Franzosen — , die auf ihrer traditionellen Nationalstaatlichkeit bestehen, zeigen mit der Kohl/Mitterrand-Initiative europäische Entschlossenheit. Wenn Außenminister Dumas von einer „grundlegenden Wandlung zu einer übernationalen Einheit" spricht, ist das ein ermutigendes Zeichen für den EG-Gipfel. In der Präambel des EWG-Vertrages haben die unterzeichnenden Staaten verbindlich ihren festen Willen bekundet, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen". Genau diesem Anspruch gilt es nun gerecht zu werden und damit eine historische Markierung zu setzen.
Meine Damen und Herren, im Bewußtsein der Bürger Europas ist die Europäische Gemeinschaft noch immer eine Wirtschaftsgemeinschaft, eine Gemeinschaft, die ihre politische Machtlosigkeit angesichts des Golfkrieges und in wirklich dramatischem Ausmaß angesichts des Grauens in Jugoslawien schmerzlich erfahren mußte. Diese Erfahrung war leider unvermeidbar; denn bislang fehlt der Gemeinschaft das politische Instrumentarium, um solcher Krisen und Kriege Herr zu werden.
Wir wissen, daß 1950, als der damalige französische Außenminister Robert Schuman die Gründung einer europäischen Gemeinschaft zwischen Frankreich und Deutschland vorschlug, Schuman eine politische Institution anvisierte. Konrad Adenauer erkannte die Dimension des Schuman-Plans und wußte, daß Deutschland damit in die internationale Völkerfamilie integriert wird.
Damit wurde für uns Christdemokraten — und ich weiß, inzwischen sieht es die Mehrheit des deutschen Volkes so — eine Vision geboren, die nach dem großartigen Erfolg der deutschen Einigung unter Bundeskanzler Kohl nun realisiert und weiterentwickelt werden kann. Es ist eine Riesenfreude, daß jetzt nach Überwindung der Trennung alle Deutschen Teil der Europäischen Gemeinschaft sind. Ich bin persönlich stolz darauf, daß eine Politik, die im wesentlichen von führenden Vertretern der CDU/CSU geprägt wurde, immer eine vehement vertretende Europa-Politik war, die sich zwischen zwei großen Europa-Politikern spannt: Konrad Adenauer und Helmut Kohl.
In diese Politik werden wir die Menschen, vor allem der neuen Bundesländer, immer intensiver einbeziehen müssen, damit auch sie nachvollziehen können, daß auch ihr persönliches Schicksal von einer solchen erfolgreichen Europa-Politik abhängt.
Die großen Impulse in der jüngsten Europa-Politik sind besonders von der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen — genau zu jener Zeit, in der einige europäische Partner Sorgen hatten, wir Deutschen würden einer Großmannssucht unterliegen. Die Bundesrepublik hat in allen ihren Initiativen und Verhandlungen immer wieder das Versprechen des Bundespräsidenten und vor allen Dingen des Kanzlers eingelöst, die deutsche Einigung nur im Kontext eines gemeinsamen Europas zu begreifen.
Die europäischen Nachbarn wissen das, und sie wissen auch um das großartige Engagement des Kanzlers und des Außenministers und unseres Finanzministers in Sachen Europa. Noch nie gab es eine solche Bewegung in der Gemeinschaft, noch nie ein so vehementes Wollen, Europa zu einem gemeinsamen Europa, einer Union, zu machen. Ich darf hier dem Bundeskanzler — und ich bin sicher, da spreche ich für das ganze Haus, nicht nur für die CDU/CSU und die FDP — unseren allerherzlichsten Dank für das Engagement in den letzten Monaten und Jahren sagen.
Dies gilt auch Ihnen, Herr Außenminister Genscher, und Ihnen, Herr Finanzminister Waigel.
Wir Politiker gehen für die Zukunft auch deshalb eine Verpflichtung ein, weil die Menschen das gemeinschaftliche Europa konkret spüren wollen. Für
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Peter Kittelmann
dieses gemeinsame Europa muß die Bundesregierung in Maastricht jetzt auch weiter mutig und entschlossen eintreten. Die Verhandlungen über die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion sind, wie wir alle wissen, in den nächsten Tagen auf dem Prüfstand.
Ziel einer jeden Europa-Politik — darüber sind wir uns alle einig — ist die Erhaltung des Friedens und die Wiederherstellung des Friedens dort, wo er gefährdet oder zerstört wird. Wenn wir nach Jugoslawien schauen, wissen wir, daß noch große Anstrengungen zu unternehmen und schwierige Fragen zu lösen sind. Europa und seine Gemeinschaft vertreten die Überzeugung, daß mit Gewalt politische Konflikte nicht gelöst werden können.
Wenn wir im Vorfeld von Maastricht immer wieder von einem notwendigen qualitativen Sprung gesprochen haben, der hin zur Politischen Union genommen werden muß, machen wir ernst mit dem, was längst in der Gemeinschaft angelegt ist, nämlich einen wirklichen Interessenausgleich herzustellen und ihn wirkungsvoll zu institutionalisieren. Das ist eine unaufgebbare Forderung, ein unaufgebbares Prinzip gemeinschaftlichen Handelns, das jetzt nach seiner Konsequenz verlangt, einer handlungsfähigen Politischen Union.
Dafür brauchen wir verbindliche Zusagen in Maastricht.
Unser Dank gilt darum schon jetzt den Erfolgen, die für die Wirtschafts- und Währungsunion durch Finanzminister Waigel im Vorfeld des Gipfels erreicht worden sind.
Von einem Ausverkauf der DM — das wissen alle hier im Hause — kann überhaupt nicht die Rede sein.
Meine Damen und Herren, Finanzminister Waigel ist nur zu unterstützen, wenn er betont, daß die europäische Währung so hart wie die D-Mark sein muß. Erst dann können wir bereit sein, unsere D-Mark im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion in die europäische Waagschale zu werfen. Alle anderen Presseberichte, die gerade jetzt erschienen sind, sind irreführend.
Die Parallelität von Politischer Union und Wirtschafts- und Währungsunion ist für die CDU/CSU unverzichtbar.
Der zweite, die Europapolitik tragende Pfeiler ist der Prozeß der demokratischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft. Die demokratische Legitimation der Gemeinschaft durch ein Europäisches Parlament, dessen Rechte endlich gestärkt und erweitert werden müssen, bleibt ganz entscheidend; dies nicht zuletzt, um den Bürgern in Europa zu sagen: Das ist euer Europa mit einem Parlament, das ihr wählt, das eure Interessen wahrnimmt.
Ich kann nur davor warnen, diesen Punkt zu unterschätzen. Die Zeit der großen Europaeuphorie, des bedingungslosen Ja zu Europa ist vorbei, weil das Image des aktuellen Europas nicht immer das beste ist.
Darum gilt: Wir brauchen Europa für seine Bürger, und wir brauchen für Europa den Rückhalt durch seine Bürger. Verlieren wir diesen Rückhalt, verspielen wir die Chance eines friedlichen Zusammenwirkens der europäischen Völker.
Der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Jacques Delors, hat vor dem Europäischen Parlament vor kurzem gesagt — ich zitiere — : „Man mogelt nicht mit den Herausforderungen unserer heutigen Welt." Er hat mit diesem mutigen Wort recht. Diese Mahnung gilt vor allem für viele europäische Partner, die kurz vor Maastricht Konditionsprobleme bekommen. Unsere Ziele sind klar formuliert und Bestandteil des gemeinsamen Antrags, der von den Fraktionen der CDU/CSU, FDP und Sozialdemokraten — ich nehme an: vom ganzen Haus — mit getragen wird.
Frau Wieczorek-Zeul, wir freuen uns, daß Sie diesem Antrag zugestimmt haben. Wir stehen allerdings mit diesem Antrag nicht nur für die Erweiterung der Rechte der EG ein. Es hilft Ihnen auch nicht, eine dialektische Auslegung des Antrags vorzunehmen. In diesem Antrag hat die Koalition, vor allen Dingen die CDU/CSU, nicht eine ihrer grundlegenden Forderungen für die Gemeinschaft aufgegeben.
Wir werden weiterhin dafür eintreten, daß das Asylrecht Gemeinschaftsaufgabe werden wird. Wir werden uns aber auch nicht — dieses ist für das, was Sie gesagt haben, wichtig; Herr Irmer hat in seiner Zwischenfrage auch schon darauf hingewiesen — in der Letztentscheidung bei der Ratifizierung davon abhängig machen, was das Europäische Parlament zum Ergebnis von Maastricht sagen wird. Wir werden diese Meinung allerdings beachten und in unsere Beratungen einfließen lassen.
Meine Damen und Herren, wir sind für die unabdingbare Verbindung zwischen der Wirtschafts- und Währungsunion und der Politischen Union. Dies geht aus unserem Antrag eindeutig hervor. Wir sind für eine deutliche Stärkung und Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments. Wir sind für eine justitiable Verankerung des Subsidiaritätsprinzips. Wir sind für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir sind für eine enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Innen- und Justizpolitik.
Wir alle wissen, daß der Gipfel in Maastricht sehr genau beobachtet werden wird. Fehlendes europäisches Engagement wird der deutschen Seite niemand auch nur im Ansatz ernsthaft unterstellen. Darum sollte man auch von diesem Hause aus einen deutlichen Appell an unsere europäischen Partner richten, sich in die Verantwortung rufen zu lassen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5439
Peter Kittelmann
Bei allen Problemen, die die Menschen heute in der EG spüren, geht unsere Verantwortung ja weit über diese hinaus. Je schneller wir diese Verantwortung in Maastricht erfüllen, desto schneller können wir auch der Verantwortung gegenüber Dritten gerecht werden. Deshalb dürfen wir die Gemeinschaft nicht nur vertiefen, sondern wir müssen sie auch erweitern. Dies ist eine große Herausforderung der Europäer in der heutigen Zeit.
Meine Damen und Herren, nach dem griechischen Mythos wurde Europa von Zeus in der Gestalt eines Stieres entführt.
Lassen Sie uns nun umgekehrt den Stier bei den Hörnern packen und Europa aus den Fesseln der politischen Machtlosigkeit befreien.
Europa lohnt sich für uns alle und darf nicht aus Angst vor der eigenen Courage scheitern. Der Slogan, der Ihnen bekannt ist, beinhaltet viel Wahres: Europa ist unsere Zukunft.
Ich danke Ihnen.
Nun hat der Kollege Gerd Poppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Äußerungen, die in letzter Zeit von manchem westeuropäischen Politiker gemacht wurden, machen deutlich, daß mit der an sich erstrebenswerten Europäischen Union überaus unterschiedliche Vorstellungen verbunden sind. Fatalerweise gehört dazu mitunter auch die Idee von einer Supermacht EG. Einer westeuropäischen Großmacht den durch die Auflösung des sowjetischen Imperiums vakant gewordenen Platz zuzuweisen stünde aber nicht nur im eklatanten Widerspruch zur faktischen Leistungsfähigkeit der EG, deren Haushalt weitgehend durch Subventionen im Bereich der Landwirtschaft geprägt und deren Außen- und Sicherheitspolitik am besten mit dem kläglichen Versagen gegenüber dem serbisch-kroatischen Krieg zu beschreiben ist.
Eine solche Supermacht würde auch unseren Traum von einem Europa zerstören, das allen seinen Staaten angemessene und in absehbarer Zeit gleichwertige Chancen gibt; das seine Konflikte ohne die Entsendung von Eingreiftruppen löst; das die Umwelt schützt und nicht weiter zubetoniert; das Fremde nicht als Gefahr ansieht, sondern die nationale und ethnische Vielfalt als Wert begreift, unseren Traum von einem Europa, in dem die föderalen und regionalen Strukturen gestärkt sind und in dem demokratisch entschieden wird.
Auf Grund unserer DDR-Vergangenheit kennen wir die Gefahren sehr genau, die sich aus zentralistischen Machtstrukturen und dem Mangel an parlamentarischen Rechten ergeben. Zu den klassischen Rechten eines Parlaments gehört es, die Regierung und den Haushalt zu kontrollieren sowie eigene Initiativen zu ergreifen. Ich weiß, daß ich offene Türen damit einrenne, sage es aber doch noch einmal: Für den Prozeß der europäischen Einigung sind das Prinzip der Subsidarität und die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments unverzichtbar. Zweifel an der Durchsetzbarkeit dieser Essentials in Maastricht sind aber nach vielen Erklärungen zur Regierungskonferenz angebracht.
Für sehr zweifelhaft halten wir auch das Konzept einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, das sich mit dem untauglichen Versuch einer Revitalisierung der WEU verbindet. Als selbstverständlich wird dabei unterstellt, daß es sich um ein rein militärisches Sicherheitskonzept handeln müsse, als hätte es sich nicht schon längst erwiesen, daß politische und wirtschaftliche Maßnahmen zur Konfliktverhütung und -schlichtung weitaus besser geeignet sind.
Gern übersehen wird auch die wirtschaftliche Komponente des gemeinsamen Verteidigungssystems. Mit dem Fall der Binnengrenzen werden nationale Rüstungsexportkontrollen wirkungslos. Statt den Waffenmarkt gemeinsam einzuschränken, kalkulieren die EG-Staaten seine weitere Öffnung ein. Daß dies im Sinne europäischer Friedenspolitik kontraproduktiv ist, bedarf nach den Erfahrungen mit dem Golfkrieg keiner weiteren Erläuterungen.
Auch hinsichtlich der angestrebten innenpolitischen Zusammenarbeit sind die Weichen bisher falsch gestellt worden. Wenn die Flucht vor Kriegen, Hungersnöten oder ökologischem Raubbau und die sich darauf gründenden Einwanderungswünsche nur als Sicherheitsfragen abgehandelt werden, wird es nicht gelingen, ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben aller Menschen in Europa zu erreichen. Wir wenden uns dagegen, daß unter dem Vorwand der Harmonisierung der Asylpolitik auf europäischer Ebene die Aushöhlung des Asylrechts in Deutschland betrieben wird.
Darüber hinaus müssen gesamteuropäische Konzepte vor allem darauf gerichtet sein, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Menschen ihre Existenz in den Heimatländern sichern können. Gerade zu dieser Problematik aber ist von Maastricht wenig zu erwarten. Ich habe auf das Fehlen einer ausreichenden politischen Perspektive der EG für die neuen Demokratien des Ostens von dieser Stelle aus mehrfach hingewiesen.
Grundsätzlich ist die Politische Union erstrebenswert. Ohne sie ist auch die Wirtschafts- und Währungsunion das Papier nicht wert, auf dem sie beschrieben ist. Fehlentwicklungen westeuropäischer Politik zu befestigen und unumkehrbar zu machen bedeutet aber, die falschen Pflöcke einzuschlagen. Entsprechendes gilt für die Wirtschafts- und Währungsunion.
Voraussetzung für eine Union gleichberechtigter — das heißt auch: wirtschaftlich vergleichbarer — Staaten ist die weitgehende Konvergenz von Faktoren
5440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Gerd Poppe
wie Produktivitätsentwicklung, Wachstums- und Inflationsrate. Diese ist innerhalb der jetzigen EG nur eingeschränkt gegeben. Die finanziellen Folgen der deutschen Vereinigung und die notwendige Öffnung der EG nach Osteuropa werden zu neuen Belastungen der Konvergenz führen.
Unter den derzeitigen Voraussetzungen der faktischen Ungleichheit und der ungleichen Entwicklungsperspektiven wäre eine Wirtschafts- und Währungsunion nur bei gleichzeitigen Kompensationsleistungen der reichen für die armen EG-Länder vertretbar. Der Anpassungsdruck an die westdeutsche Wirtschaft wird im einheitlichen Währungsraum stärker werden. Schwächere Länder, die Investitionsrückstände aufholen und Arbeitsplätze schaffen müssen, benötigen währungspolitischen Spielraum. Eine Ein- heitswährung, stabil gehalten von einer europäischen Zentralbank, könnte auch neue Konflikte hervorrufen. Gerade an Geldwertstabilität interessierte Experten warnen vor einer solchen Entwicklung, die den inneren Frieden schon der jetzigen EG gefährden würde. Daß unter diesen Bedingungen die angemessene Beteiligung der osteuropäischen Länder in weite Ferne rückt, sei hier nur nebenbei erwähnt.
Abschließend einige Bemerkungen zur europäischen Umweltpolitik. Trotz des gewachsenen Problembewußtseins hat sich der Zustand der Umwelt in den EG-Ländern weiter verschlechtert. Schon jetzt werden viele EG-Umweltnormen nicht oder nur schleppend befolgt. Wenn, was ja erklärtes Ziel ist, die Vollendung des Binnenmarktes das Wirtschaftswachstum weiter beschleunigt, würden im Falle unveränderter Politik Umweltverschmutzung und -bedrohung zunehmen. Ein interner EG-Bericht über Umwelt und Binnenmarkt zeigt die Gefahren auf, z. B. die Zunahme von Verkehrskollapsen, Mülltourismus und die Überschreitung von kritischen Grenzwerten. Für die Schwefeldioxidbelastung wird eine Steigerung um mindestens 8 % befürchtet. Aktuelles Beispiel für die deutsche Mitverantwortung ist Herrn Krauses Beschleunigungsgesetz.
Der Binnenmarkt muß verbunden werden mit der Prioritätensetzung für eine hohe Umweltqualität. Bloße Anpassungen von Vorschriftenwerken an den Stand der Technik sind dafür unzureichend. Statt dessen ist eine Umweltpolitik erforderlich, die auf dem Vorsorge- und dem Verursacherprinzip beruht, die eine ökologische Steuerreform vorsieht und — gerade an dieser Stelle hervorzuheben — dem Subsidiaritätsprinzip Geltung verschafft.
Unbefriedigend ist — wie schon angedeutet — auch das Konzept der gemeinsamen Verkehrspolitik. Die schon jetzt täglich auf den Straßen zu beobachtenden Probleme verlangen zumindest einen Strukturplan für ein europäisches Verkehrssystem mit Vorrang für den Schienenverkehr, ferner eine zunehmende Integration der verursachten Umweltschäden in die Transportpreise, und — um ein Wort zu gebrauchen, das in letzter Zeit inflationär und oft an der falschen Stelle benutzt wird — wie wäre es denn mit der Harmonisierung zugunsten eines Tempolimits?
Meine Damen und Herren, Harmonisierung darf nicht bedeuten, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, sondern sie sollte versucht werden, um sich schon jetzt den für das nächste Jahrhundert erhofften europäischen Standards zu nähern.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nun hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kollegen! Der Gipfel von Maastricht findet in einer Zeit statt, da sich die Welt in einem tiefen Umbruch befindet. Wir wissen es alle. Das Ende des Kommunismus, das Ende des Sowjetimperiums haben tiefgreifende Veränderungen hervorgerufen. Es gibt neue Chancen. Demokratie hat sich als eine „ansteckende Gesundheit" erwiesen. Wir begrüßen die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas in der Mitte der demokratischen Staaten.
Die alte traditionelle Bedrohungslage durch den Warschauer Pakt ist entfallen. Aber es sind nach wie vor erhebliche Gefährdungen geblieben. Die Welt ist noch immer kein sehr lauschiger Platz geworden. Sowjetunion, Jugoslawien, Naher Osten sind die Stichworte.
Daraus ergibt sich für uns doch die Frage: Wie reagieren wir auf die alten und neuen Herausforderungen? Reicht das Instrumentarium, das wir bisher hatten, aus? Darum geht es in Maastricht. Es geht nicht um Einzelheiten. Es geht nicht darum, ob jetzt dies schon heute oder vielleicht erst übermorgen geregelt werden kann, sondern es geht um diese Grundfrage: Was setzen wir Europäer eigentlich für eine Organisation hin, mit der wir der tiefen Unsicherheit und dem teilweise bestehenden Chaos in einigen Gegenden gar nicht weit von uns Verläßlichkeit, Stabilität und Handlungsfähigkeit entgegenstellen können.
Der Fall Jugoslawien hat gezeigt, daß die Europäische Gemeinschaft bisher die ausreichenden Instrumente nicht hatte. Ich meine, man sollte wegen der relativen Unfähigkeit der EG in der JugoslawienKrise nicht die EG beschimpfen,
sondern man sollte daraus die Konsequenzen ziehen; man sollte nämlich sagen: Gerade dieser Fall hat gezeigt, daß wir die bisherige Europäische Gemeinschaft weiterentwickeln müssen zu einer Europäischen Union, die handlungsfähig ist, auch in Krisenzeiten.
Es muß die Politische Union geschaffen werden mit der Kompetenz für Außen- und Verteidigungspolitik. Frau Präsidentin, die USA wären nicht groß geworden, wenn Delaware oder South Dakota eigenständige Außen- und Verteidigungspolitik betrieben hätten.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5441
Ulrich Irmer
Herr Poppe, wir als Europäer versuchen doch nicht deshalb, gemeinsam stärker zu werden, weil wir irgend jemanden bedrohen oder gar beherrschen wollten, sondern wir versuchen deshalb stärker und handlungsfähiger zu werden, weil es dazu gar keine Alternative gibt, weil dies unsere einzige Chance ist, zu überleben und unsere eigenen Interessen vernünftig zu vertreten, weil wir nur damit auch die Möglichkeit haben, anderen zu helfen, denen geholfen werden muß. Denken Sie an die Umweltkrise; denken Sie an die Situation in den Ländern der Dritten Welt. Soll diese Probleme ein Fleckerlteppich von Ländern bilateral angehen? Das ist doch gar nicht mehr möglich. Hier ist die größere Gemeinschaft gefragt. Deshalb müssen wir auch im Interesse der Lösung der Probleme der Dritten Welt diese Gemeinschaft schaffen.
Jetzt haben wir hier eine außerordentlich pessimistische Bewertung seitens der Kollegin Wieczorek-Zeul gehört. Liebe Frau Wieczorek-Zeul, Sie sagen hier im ersten Absatz Ihres Antrages:
Der Deutsche Bundestag gibt seiner großen Besorgnis über die Entwicklung in der Regierungskonferenz Ausdruck.
Ich muß ehrlich sagen: Nachdem ich die Berichte von Herrn Waigel und Herrn Genscher gehört hatte, bin ich ausgesprochen positiv überrascht gewesen.
Ich möchte den beiden Ministern zu dem gratulieren, was sie bisher schon erreicht haben.
Das ist in einzelnen Bereichen natürlich noch nicht ausreichend.
In dem Bereich Rechte des Europäischen Parlaments muß noch mehr getan werden. Frau Wieczorek-Zeul, inhaltlich stimme ich ja mit allem überein, was Sie gesagt haben — ich komme nachher noch auf das Europäische Parlament zurück — , aber wir haben doch im Bericht des Bundesaußenministers gehört, daß die Politische Union in greifbare Nähe gerückt ist. Es ist eine gemeinsame Außenpolitik beschlossen, bisher begrenzt auf einzelne Bereiche, aber mit der Möglichkeit, dieses auszuweiten. Der Katalog, der hier verlesen wurde, ist nicht abschließend, sondern er kann ergänzt werden.
Ich finde es ganz besonders bemerkenswert, ich betrachte es als einen Durchbruch, daß jetzt gesagt wurde: Wer sich noch nicht beteiligen will, dem steht es frei, etwas später zu kommen. Aber die, die gemeinsam handeln wollen, handeln dann schon gemeinsam. Das ist doch ein Durchbruch gegenüber all dem, was wir früher gehabt haben. Man kann doch jetzt nicht hingehen und das alles in Grund und Boden jammern. Ich verstehe gar nicht, warum Sie so wehleidig sind, meine Damen und Herren von der Opposition.
Ich meine, daß gerade in diesem Zeitpunkt ein wenig Optimismus angebracht ist, den wir auch unserer Bundesregierung mit auf den Weg nach Maastricht geben sollten.
— Ja, Sie jammern für meinen Geschmack ein bißchen zuviel.
— Nein, Herr Kollege, darüber können wir uns nachher privat unterhalten.
Lassen Sie mich noch als positiv herausstreichen, daß jetzt beschlossen worden ist, die WEU als integralen Bestandteil der Europäischen Union zu definieren. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Fortschritt. Wir kommen damit dazu, daß wir die europäische Verteidigungskomponente zum erstenmal in den Griff bekommen. Besonders erfreulich ist, daß endlich Schluß sein wird mit den Befürchtungen, dieses richte sich gegen die NATO oder spiele sich neben der NATO ab. Genau dies ist nicht der Fall. Wie die Europäische Gemeinschaft in ihrer Fortentwicklung zur Europäischen Union das stabilisierende Element in unserer Region sein wird, so wird die NATO das stabilisierende Element in den transatlantischen Beziehungen bleiben, wie es in der Vergangenheit gewesen ist.
Ich unterstreiche alles, was über unsere Beziehungen zu den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas gesagt worden ist. Hier betone ich, daß die EG noch mehr tun muß. Wir müssen insbesondere Wege finden, wie wir vor einem Vollbeitritt dieser Länder, den wir in der Perspektive alle wollen, bereits Wege finden können, diese Länder näher an uns heranzuführen, wie wir sie an der Europäischen Politischen Zusammenarbeit beispielsweise schon beteiligen können, ehe sie Vollmitglieder der Gemeinschaft werden können.
Lassen Sie mich ein Wort zur Subsidiarität sagen. Das ist das Grundprinzip sowohl unseres eigenen Bundesstaates hier als auch der künftigen Europäischen Union. Ich meine, daß der Bundesrat manchmal über das Ziel hinausschießt. Aber weil er immer so betont, daß er auch dort mehr mitreden will, finde ich es schon besonders bemerkenswert, daß hier nur ein einziger Minister auf der Bank sitzt. Respekt, Herr Goppel: Ein Bayer kämpft halt für seine Sache, möge er nun recht haben oder nicht.
Meine Damen und Herren, abschließend zum Europäischen Parlament: Natürlich reicht es noch nicht aus, was jetzt erreicht werden konnte, aber es besteht doch kein Zweifel, daß diese Bundesregierung diejenige ist, die die anderen da zum Jagen treibt.
Das müssen Sie doch auch einmal anerkennen. Sie können doch nicht der Bundesregierung Vorwürfe machen, wenn sich andere dem verweigern. Aber sie kämpft ja weiter, und zwar unermüdlich. Wir stehen hinter ihr, und Sie sollten die Bundesregierung auch unterstützen.
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Ulrich Irmer
Als beklagenswert bleibt festzuhalten, daß wir möglicherweise auch nach Maastricht noch nicht den Zustand einer vollen Demokratie und eines vollen Parlamentarismus in Europa erreichen. Die EG stellt an alle beitrittswilligen Länder hohe Anforderungen, was Parlamentarismus und Demokratie angeht. Mit Recht: Würde sie bei sich selbst nach dem heutigen Zustand einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen, müßte dieser wegen undemokratischer Umtriebe abgelehnt werden. Dieses wollen und müssen wir ändern. Wir wünschen der Bundesregierung für ihre Verhandlungen in Maastricht von Herzen alles Gute und guten Erfolg.
Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Horst Peter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Irmer, Ihr Gesicht sah sehr besorgt aus, als Sie Ihre Beiträge zu Europa gemacht haben. Ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil ich sehr aufmerksam zugehört habe, ob in den Beiträgen der Bundesregierung und der Sprecher der Regierungsfraktionen der Bereich der sozialen Dimension vorkommt. Er ist in einem Satz beim Herrn Bundesaußenminister Genscher vorgekommen.
Aber wenn man sich vor Augen führt, daß die soziale Dimension der Bereich des Binnenmarktes ist, der Bereich der europäischen Einigung ist, bei dem die Akzeptanz der Bevölkerung zu gewinnen ist, und wenn man zur Kenntnis nimmt, daß für die britische Regierung die soziale Dimension wohl der Bereich ist, wo sich überhaupt nichts bewegt, dann muß ich sagen: Welchen Stellenwert haben die konkreten Vorschläge der Bundesregierung in Maastricht, wenn es darum geht, bei einer Mehrheitsentscheidung zu vermeiden, daß von einem Mitgliedstaat jegliche Bewegung in der Sozialpolitik verhindert werden kann und wir damit ein Europa der zwei Geschwindigkeiten haben, bei dem die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa auf der Strecke bleiben? Wenn Sie das nach außen nicht deutlich als ein Ziel herausstellen, so daß auch den anderen Regierungen klar wird, daß die Bundesregierung diesbezüglich nicht mit sich reden läßt und daß dies in den Verhandlungen berücksichtigt werden muß, dann besteht in der Tat Grund, das Wort „Besorgnis" bei der Beurteilung dessen, was bisher erreicht worden ist, in den Mund zu nehmen.
Danke schön.
Als nächster hat der Kollege Dr. Norbert Wieczorek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Innerhalb sehr kurzer Zeit ist es nun das dritte Mal, daß wir hier im Deutschen
Bundestag über den europäischen Einigungsprozeß diskutieren.
— Das ist gut, das ist richtig, Herr Kollege Kittelmann. Allerdings war die öffentliche Resonanz auf unsere Debatten bisher eher mager.
Ich hoffe sehr, daß es gelingt, diesen Zustand zu durchbrechen. Wenn das nicht geschieht, wird eine breite Öffentlichkeit nicht in die Beschlüsse zur Ratifizierung eines möglichen Vertragwerks einbezogen. Später wird es dann sehr schwierig sein, Zustimmung zu den schwerwiegenden Veränderungen, wie z. B. der Aufgabe der D-Mark, zu erreichen.
Das, was heute in der Boulevardpresse zu lesen war, sollte uns nachdenklich stimmen. Das ist genau die Publizität, die uns nicht hilft.
Wenn ich es richtig verstehe, hat sich die Bundesregierung primär darauf ausgerichtet, in der Währungsunion Ergebnisse zu erzielen, die den Rahmen für eine stabilitätsorientierte Geld- und Währungspolitik bilden können. Wir haben sie dabei unterstützt, und wir sind über die Maßnahmen und Ziele weitgehend einig gewesen. Ich werde gleich noch auf einige Punkte und den aktuellen Stand eingehen.
Generell kann man sagen, daß das Vertragswerk, das jetzt vorliegt, weitestgehend deutschen Vorstellungen entspricht.
Die Bundesregierung hat aber zugleich in verschiedenen Feldern, in der Justiz-, Außen-, Verteidigungspolitik und bei den Rechten des Europäischen Parlaments, Initiativen ergriffen. Die Ergebnisse dieses Bereichs — nämlich der Politischen Union — sind allerdings ausgesprochen mager und, Herr Kollege Irmer, fast zum Jammern.
Wenn es aber richtig ist, daß eine Wirtschafts- und Währungsunion auf Dauer nur erfolgreich arbeiten kann, wenn es in diesem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet gemeinsame politische Zielvorstellungen und demokratische Strukturen zur Findung solcher Zielvorstellungen und ihrer Durchsetzung gibt, dann besteht jetzt die große Gefahr, daß wir bei dem europäischen Einigungsprozeß mit einem Bein einen großen Sprung machen, mit dem anderen aber im Schlamm steckenbleiben; die Folge von dergleichen ist bekanntlich, daß man auf die Nase fällt.
Die Bundesregierung wird daher im Hinblick auf die Verhandlungen in Maastricht sehr darauf achten müssen, daß gerade dann, wenn die Finalität der Maastrichter Beschlüsse ernsthaft gewollt ist — das ist hier wieder gesagt worden — , die Beschlüsse in beiden Bereichen so sind, daß der eben beschriebene Effekt nicht eintritt.
Für den Bereich der Währungsunion sehe ich da noch folgende — allerdings zu bewältigende — Probleme: Erstens. Unsere Forderung ist, daß der Sitz der Zentralbank nach Frankfurt kommt,
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Dr. Norbert Wieczorek
nicht nur weil wir ihn gern in Frankfurt hätten, sondern vor allem, weil die Denk- und Handlungsgewohnheiten einer Zentralbank auch davon bestimmt werden, ob sie in einem Klima, das von Stabilitätsdenken geprägt ist, handelt und arbeitet; ich möchte das nicht unterschätzen.
Zweitens zur politischen Bewertung der Konvergenzkriterien. Einerseits begrüßen wir, daß klare Konvergenzkriterien in den vorliegenden Entwürfen enthalten sind, andererseits ist es auch durchaus richtig zu sagen, daß eine politische Bewertung im Lichte der Bemühungen zu mehr Stabilität notwendig ist. Das könnte auch für die Bundesrepublik im Jahr 1996 gelten.
An den Finanzminister gerichtet möchte ich sagen, daß er dann auch auf seine Nebenhaushalte und Schuldentöpfe achten muß, nicht nur auf seinen offiziellen Haushalt.
Eine Gefahr, die bisher übersehen wurde, die an den Finanzmärkten aber zunehmend diskutiert wird, ist die Gefahr, daß harte Konvergenzkriterien, wie z. B. jenes, daß das akkumulierte Haushaltsdefizit nicht mehr als 60 % des Bruttosozialprodukts betragen soll, von der Art sind, daß es weder möglich noch ökonomisch erwünscht ist, daß Länder, die ansonsten auf Grund ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik reif für den Beitritt wären, dieses Kriterium erfüllen. Aus heutiger Sicht nenne ich hier nur Belgien und Irland.
Wenn eine politische Bewertung in diesen Fällen zu dem Ergebnis käme, daß auf dieses Kriterium verzichtet werden kann, besteht die große Gefahr, daß auch alle anderen Kriterien zur freien Disposition gestellt würden. Ich möchte die Bundesregierung daher sehr eindringlich bitten, in Maastricht noch etwas klarer zu machen, was denn mit der Abfolge einer politischen Bewertung tatsächlich gemeint ist.
Der dritte Punkt ist das Einfrieren des gegenwärtigen ECU-Korbes. Das klingt nach Stabilisierung, härtet aber den bestehenden ECU überhaupt nicht, und es besteht die Gefahr, daß das Einfrieren zu einem Zeitpunkt geschieht, zu dem notwendige Wechselkursanpassungen im europäischen Währungssystem noch nicht in zureichendem Maße erfolgt sind.
Das vierte sind die Kosten der Kohäsion. Mir ist, offen gestanden, ein bißchen unwohl dabei, wenn aus durchaus verständlichen Gründen diese Thematik auf den sogenannten midterm-review der Strukturfonds verschoben wird. Ich habe auch kein Verständnis dafür, daß einige Länder, wie z. B. Spanien, für die Einführung eines stabilitätsversprechenden gemeinsamen Währungssystems in der EG einen Preis erzielen wollen. Das ist sicherlich der falsche Ansatz. Darüber sind wir uns wahrscheinlich einig.
Aber aus ökonomischer Sicht ist es unabweisbar, daß die Länder, deren Entwicklungsstand hinter dem der Kerngruppe der EG weit hinterherhinkt, nach Einführung einer gemeinsamen Währung bei dieser Kerngruppe und einer dann noch stärkeren Abhängigkeit ihrer Volkswirtschaft und damit auch ihrer Währung von der Entwicklung der Kerngruppe verstärkt Anstrengungen brauchen, um die regionalen Disparitäten zu überwinden.
Natürlich können Wechselkursanpassungen eingesetzt werden — deswegen lassen wir ja die Möglichkeit offen —; aber sie sind ein sehr probates Mittel und haben eher den Charakter einer Ultima ratio. Im Tagesgeschäft wird es auf Strukturhilfen hinauslaufen. Die Regelung dieser Angelegenheit, Herr Bundesfinanzminister, die für die Bundesrepublik auf jeden Fall Kosten verursachen wird, wäre sicherlich vor der endgültigen Entscheidung zur Ratifizierung sehr hilfreich. Dabei kann ich allerdings nur die Haltung unterstützen, keinen mechanistischen Finanzausgleich wie bei uns in der Bundesrepublik zu machen. Gerade das Beispiel sollte uns scheuen.
Dieser Punkt führt mich zurück zur Frage der Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird unseren Wählerinnen und Wählern schwer zu vermitteln sein, daß wir ein gut funktionierendes Währungssystem, das die Grundlage unseres wirtschaftlichen Aufschwungs war, im gemeinsamen Europa aufgeben und für diesen Einigungsprozeß weitere Lasten übernehmen. Dies wird nur gehen, wenn der politische Einigungsprozeß voranschreitet.
Helmut Schmidt hat in der „Financial Times" darauf hingewiesen — ich glaube, es war gestern — , daß der ökonomische Einigungsprozeß über die EWG immer die politische Grundlage hatte, durch die Verflechtung unserer Volkswirtschaften kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Völkern Westeuropas unmöglich zu machen. Wenn wir nach Mittel-und nach Osteuropa schauen, dann ist klar, daß diese Motivation nach wie vor richtig und entscheidend ist. Es zeigt sich aber auch, daß wirtschaftliche Verflechtung allein keine Garantie für ein politisches Zusammenarbeiten auf Dauer ist. Hinzutreten muß vielmehr eine politische Struktur, die darauf gerichtet ist, gemeinsame politische Ziele zu finden und durchzusetzen.
Ich habe an dieser Stelle in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, daß es unter dem Gesichtspunkt demokratischer Kontrolle nicht angeht, etwa beim Haushaltsrecht primäre Parlamentsrechte auf den Ministerrat zu übertragen, ohne daß ein anderes Parlament, das Europäische Parlament, dann die Funktion der parlamentarischen Kontrolle übernimmt. Das ist aber nur ein Teil.
Der andere Teil der Forderung nach Gleichzeitigkeit bei der Einführung der Währungsunion und einer inhaltlich gehaltvollen Politischen Union ist exakt die demokratische Findung eines Konsenses über die Ziele der Politik. Für den Erfolg der Währungspolitik ist hier insbesondere die Finanz- und Wirtschaftspolitik zu nennen.
Der Prozeß „Binnenmarkt 1992" hat eine starke Verschränkung der Güter-, Dienstleistungs- und Finanzmärkte mit sich gebracht, und dies wird in der Zukunft noch mehr der Fall sein. Nach der Einführung einer gemeinsamen Währung werden sich Störungen in einem Mitgliedsland — das gilt auch für die Länder, die noch nicht in der dritten Stufe sind, weil sie auch besonders abhängig sind — wegen der Abhängigkeit in allen Ländern verstärkt auswirken. Bisher verspüren wir solche Störungen im wesentlichen noch in den Handelsbeziehungen. Mit der Verflechtung
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Dr. Norbert Wieczorek
der Finanzmärkte und der Herausbildung flächendeckender europäischer Finanzkonzerne werden sich die Störungen über den Finanzsektor unmittelbar auf alle Länder übertragen.
Die gegenwärtige Kredit- und Bankkrise in den USA ist ein deutliches Beispiel dafür, mit welchen Problemen wir in Zukunft konfrontiert sein können. Dort hat sich die Krise nicht auf den Nordosten der Vereinigten Staaten beschränkt, sondern sie ist jetzt flächendeckend.
Es hilft auch nichts, wenn wir uns auf die sogenannte Bail-out-Kiausel — das heißt auf die Festlegung, daß die EG für exzessive Schulden eines Mitgliedslands im Rahmen der Währungsunion nicht aufkommt — berufen. Dies ist für diesen Fall wenig hilfreich; denn bevor ein Staat selbst zahlungsunfähig wird, wird woher in seiner Privatwirtschaft die Krise deutlich ausbrechen. Diese Krise wird aber über die privatwirtschaftliche Verflechtung in die anderen EGStaaten übertragen und Maßnahmen erfordern, weil das Eigeninteresse der anderen Staaten betroffen ist.
Das gilt nicht nur für den Finanzsektor; das gilt auch für den Sektor Arbeit; denn dauerhafte Entwicklungsstanddifferenzen oder längerfristige Krisen in Teilen der EG werden zu Wanderungsbewegungen führen. Das Problem ist zur Zeit nur scheinbar gelöst, weil durch die Aufwärtsentwicklung in Portugal und Spanien bei den Bürgern dieser Länder z. B. die Motivation, ihr Land zu verlassen, geringer ist. Dies kann sich aber bei Krisenentwicklungen anders gestalten, insbesondere dann, wenn eine jüngere Generation, die internationaler gesonnen ist und die mobiler ist, in Zukunft davon betroffen ist.
Es gibt einen dritten Bereich, den ich ansprechen möchte. Es ist die Konkurrenz um Standorte für neue Investitionen. Schon heute sehen wir, daß bei fehlender Harmonisierung, etwa im Steuerbereich, außerhalb des Subventionskondex der EG durch die Gestaltung der direkten Steuern der Versuch zu einer Beggar-my-neighbour-Politik eingesetzt hat. In einem Gebiet gemeinsamer Währung wird sich diese Tendenz eher verstärken als abschwächen.
Wenn man nur diese drei Felder betrachtet, wird klar, daß es einer wirksamen politischen Institution zum Interessenausgleich und zur Definition wirtschaftspolitischer Ziel bedarf. Dies kann nur ein mit entsprechenden Vollmachten ausgestattetes, direktgewähltes Europäisches Parlament sein. Der Ministerrat kann es genau nicht sein, weil er die Addition der ihren nationalen Parlamenten verantwortlichen Minister ist. Er kann deshalb diese Grundfunktion nicht erfüllen. Es sind ja gerade die Verhandlungen in Maastricht, die dies sehr deutlich beweisen.
Aus dieser Sicht heraus kann und darf es keine Lokkerung oder gar Auflösung der Verbindung zwischen Europäischer Währungsunion und Europäischer Politischer Union geben.
Ich fordere in Übereinstimmung mit meinen Kolleginnen und Kollegen die Bundesregierung daher auf, in
Maastricht keiner Lösung zuzustimmen, die die Politische Union im Unverbindlichen läßt und nur vage Wechsel auf die Zukunft ausstellt.
Es ist sehr verführerisch, auch gerade für jemanden wie mich, der sich seit Jahren mit der Währungsunion beschäftigt hat, zu sagen: Hier haben wir jetzt etwas Anständiges auf dem Tisch; also sollten wir es machen. — Aber das kann nicht gelten, wenn man sich darüber im klaren ist, daß die besten Verabredungen zu einer Währungsunion, die endgültig und nicht reversibel ist, auf Dauer dann nicht halten, wenn der politische Rahmen und vor allem der wirtschafts- und finanzpolitische Rahmen, in dem Währungspolitik stattfindet, nicht gleichwertig geregelt ist.
Wenn sich die Mitglieder des Bundestages im Jahre 1996 — diese Zusage der Bundesregierung muß klar sein — vor dem Eintritt in die dritte Stufe — das ist auch in unserer Resolution heute enthalten — noch einmal mit der dann gegebenen Situation befassen und darüber abstimmen, muß sicher sein, daß die Gesamtproportionen stimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meiner politischen Arbeit — manche kennen mich schon seit längerer Zeit — nicht immer mit dem ehemaligen Staatssekretär und heutigen Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, Herrn Tietmeyer, übereingestimmt. An diesem Punkt aber möchte ich ihn ausdrücklich aus einer Rede zitieren, die er am 22. November 1991, also vor sehr kurzer Zeit, in Venedig gehalten hat. Er sagt:
Der Weg in die Währungsunion ist aber — jedenfalls mit Eintritt in die Endstufe — ein Weg ohne Umkehr. Die Mitgliedstaaten geben nicht nur in einem zentralen Bereich der Politik ihre Souveränität endgültig und unwiderruflich ab und übertragen sie auf die Gemeinschaftsebene; sie treten damit auch in eine währungspolitische Solidargemeinschaft auf Gedeih und Verderb ein, in der sie sowohl die positiven wie auch die negativen Konsequenzen des Verhaltens aller beteiligten Länder in der Entwicklung des gemeinsamen Geldwertes mittragen. Der Eintritt in eine Währungsunion ist damit ein zutiefst politischer Vorgang, der weit über den Währungsbereich selbst hinausreicht.
Dessen sollten sich alle, die darüber zu entscheiden haben, bewußt sein.
Er fügt in bezug auf Wanderungsbewegungen, Finanztransfers und die Gefahr politischen Drucks auf die Geldpolitik hinzu:
Aus jeder dieser Fragen können für die Währungsunion schwere Belastungen entstehen. Vieles spricht dafür, daß diese Belastungen nur dann gemeistert werden können, wenn ein dauerhafter politischer Grundkonsens und wohl auch
— das möchte ich besonders betonen —
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Dr. Norbert Wieczorek
ein breiter angelegter politischer Rahmen existiert, der einer gemeinsamen staatlichen Verf as-sung sehr nahekommt.
— Ja, so ist das.
Leider haben die Mitgliedsländer der Gemeinschaft bisher noch keine Verständigung darüber erzielt, wie denn die längerfristige politische Struktur der Gemeinschaft aussehen soll. Eine Union, die sich nur auf den Währungsbereich be- schränkt, ist auf Dauer aber sicher unzureichend.
Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.
Die Gleichwertigkeit der Abmachungen zur Währungsunion und zur Politischen Union wird für uns ein entscheidendes Kriterium bei der Abstimmung über die Ratifikation der Verträge sein. Dies sollte die Regierung auch hier und heute zur Kenntnis nehmen.
Ich danke sehr.
Bevor ich der Kollegin Hellwig das Wort gebe, habe ich die Ehre, Gäste auf der Ehrentribüne des Deutschen Bundestages begrüßen zu können. Es handelt sich um den Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Beziehungen des armenischen Parlaments, Herrn David Vardanian und seine Begleitung. Sehr geehrter Herr Vorsitzender, die guten Wünsche des Deutschen Bundestages begleiten Sie. Wir alle hoffen, daß für Sie und Ihr Volk friedliche Lösungen in den schwierigen Konflikten dieser Tage und Wochen gefunden werden können.
Nun hat Frau Kollegin Renate Hellwig das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag unterstützt — Herr Wieczorek, ich glaube, in Ihrer Rede ist das sehr deutlich geworden — geschlossen den Bundeskanzler, den Bundesaußenminister und den Bundesfinanzminister in allen fünf Schwerpunkten, die heute und auch bisher in der Öffentlichkeit schon genannt worden sind, für den Gipfel in Maastricht: Erstens echte Mitentscheidungen des Europaparlaments bei der europäischen Gesetzgebung; zweitens Unabhängigkeit der zukünftigen, in der dritten Stufe einzurichtenden Zentralbank mit der Verpflichtung zur Sicherung der Geldwertstabilität für die zukünftigen ECU; drittens eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die auch Mehrheitsentscheidungen beinhaltet;
viertens das Prinzip der Subsidiarität, das heißt, soviel wie möglich in den unteren politischen Ebenen regeln und nur das Notwendigste auf europäischer Ebene; fünftens eine gemeinsame Innnenpolitik, insbesondere bei der Bekämpfung des organisierten Verbre-
chens im Zusammenhang mit der Drogenproblematik, und in Form einer gemeinsamen Asylpolitik.
Herr Peter, Sie haben die Sozialpolitik angemahnt. Ich antworte Ihnen direkt darauf. Erst diese Bundesregierung hat 1984 die Sozialpolitik zur Gemeinschaftspolitik erhoben. 13 Jahre lang hätten Sie Zeit gehabt, als SPD/FDP-Regierung die Sozialpolitik einzubringen.
Die heutige Debatte muß ein gemeinsames Signal — insbesondere auch nach außen — setzen. In Richtung der Hauptstädte der anderen Mitgliedstaaten muß deutlich werden, daß die Bundesregierung am Verhandlungstisch in Maastricht mit der vollen Rükkendeckung sowohl der Koalition aus CDU/CSU und FDP als auch der großen Oppositionspartei SPD für diese gemeinsam hier genannten Ziele eintritt. Die kleinen Parteien haben den Antrag nicht mitgemacht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Horst Peter? Es wird Ihnen nicht angerechnet.
Bitte, Herr Peter!
Ist Ihnen bewußt, Frau Kollegin Dr. Hellwig, daß es bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den Stellenwert der Sozialpolitik in Maastricht geht? Und nebenbei: Welche Möglichkeiten hätte eine Regierung — welcher Couleur auch immer — vor der Einheitlichen Europäischen Akte gehabt, die soziale Dimension des Binnenmarktes einzuklagen?
Jede Gelegenheit. Ich weiß, daß Sie möchten, wir sollten das von Ihnen Versäumte jetzt mit umso größerem Nachdruck nachholen. Wir tun es auch, wie Sie wissen; denn seither gibt es überhaupt erst die gemeinsame Sozialcharta.
Lassen Sie mich nun zu den weiteren Punkten kommen. Im einzelnen: Die Europäische Union muß eine demokratisch verfaßte Union sein. Europäische Gesetze sind nur dann demokratisch legitimiert, wenn sie vorn Europäischen Parlament verabschiedet sind. Es ist eine Illusion, wenn sich das französische, britische oder dänische Nationalparlament vormachen, sie könnten, wenn sie ihren Minister vor, nach Brüsseler Ratsentscheidungen und manchmal sogar währenddessen beraten, befragen und beauftragen, etwa dadurch die europäische Gesetzgebung kontrollieren. Die am Ratstisch getroffenen Entscheidungen kann nur das auf der gleichen Ebene gleichberechtigte Europäische Parlament kontrollieren und damit entweder bestätigen, abändern oder verwerfen.
Wir legen gemeinsam im Deutschen Bundestag so großen Nachdruck auf diese Frage, weil wir die Bürgerferne von Gesetzen fürchten, die sich allein auf die Expertenweisheit von Beamten gründen. Diese Beamten sind nicht dem ständigen Druck der Wieder- und Nichtwiederwahl ausgesetzt, der uns, die Parlamentarier, dazu zwingt, dem Volk aufs Maul zu schauen.
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Dr. Renate Hellwig
Der Europaausschuß des Deutschen Bundestages hat sich in der kurzen Zeit seines Bestehens u. a. auch darauf konzentriert, diese Grundeinsicht unseren Freunden in den anderen nationalen Parlamenten immer wieder nahezubringen. Zuletzt habe ich im Auftrag des Ausschusses die anderen mit der Bitte angeschrieben, ihre Regierungen daraufhin zu befragen, welche Haltung sie zur Stärkung des Europäischen Parlamentes in Maastricht vertreten werden.
Lassen Sie mich zur Wirtschafts- und Währungsunion feststellen, daß es ein mutiger Schritt der Deutschen in der Nachkriegszeit war, als es uns ganz schlecht ging, nicht nur die Marktwirtschaft, sondern auch die von der Bundesregierung unabhängige Bundesbank einzuführen.
Dieser Schritt hat sich für uns gelohnt.
Wir haben seit 30 Jahren in der Europäischen Gemeinschaft die stabilste Währung. Eine stabile Währung ist nicht nur für uns, sie ist auch für die anderen in der Gemeinschaft attraktiv. So wie wir die Erfahrung mit der stabilen Währung machen konnten, daß sie nicht nur ein Garant für soziale Gerechtigkeit in einem Land ist, sondern sich außerdem als Wachstumsmotor erweist, so werden auch die anderen diese Erfahrung machen, wenn sie mit uns im Währungsverbund sind.
Die neue, gemeinsame ECU wird noch stärker als die D-Mark sein. Sie wird als Weltreservewährung dem Dollar ebenbürtig sein. Sie darf aber nicht kurz nach einem mutigen Erstauftritt auf der Weltbühne gleich wieder in einem Inflationssumpf versinken. Nicht die Deutschen setzen sich durch, sondern die gemeinsame stabile ECU, wenn in Maastricht die harten Bedingungen für den Eintritt in die Währungsunion beschlossen werden.
Jetzt schon muß dieser Vertrag, für alle verbindlich, die nächsten Schritte festlegen. Jedes Wenn und Aber verunsichert nur die Kapitalmärkte und mindert die große Anziehungskraft, die die geplante Währungsunion jetzt schon ausübt.
Die Briten sollten sehen, wie sehr sie sich mit ihrer Bedenkentaktik selber auf den Füßen stehen. Ihr Hin und Her schadet ihrer Währung. Die derzeitigen Probleme des britischen Pfundes zeigen es. Finanzexperten wissen längst, daß die Briten nach Inkrafttreten der europäischen ECU nicht sehr lange draußen bleiben werden. Trotz vorherigen Zögerns sind sie ja jetzt auch in der Währungsschlange. Früher wäre auch hier besser gewesen. Jetzt in Maastricht gegen alle Bedenkenträger — einschließlich Margret Thatcher — in den eigenen Reihen vorangehen, das ist mein Appell an Regierungschef Major. Er soll sich an unserem Finanzminister ein Beispiel nehmen.
Meine Kollegen haben mich ausdrücklich beauftragt, auch in ihrem Namen Ihnen, lieber Theo Waigel, ganz herzlich zu dem Erfolg zu gratulieren, den Sie im Vorfeld von Maastricht errungen haben.
Aber auch in der Außenpolitik brauchen wir eine vergemeinschaftete Außenpolitik. Wir wollen es zwar alle noch nicht wahrhaben — damit meine ich gerade die größeren Mitgliedstaaten, ob Frankreich, ob Großbritannien oder auch uns —, aber der Handlungsspielraum der einzelnen Nationen ist längst schon eingegrenzt. Wollen wir Deutschen wirklich allein all den aus Mittel- und Osteuropa auf uns zukommenden Anforderungen gerecht werden? — Wir wissen genau, daß wir dazu auch in unserem Interesse die anderen brauchen.
Aber von dieser Debatte muß auch ein Signal nach innen ausgehen. Wenn Deutschland nützt, was Europa nützt, dann muß das auch im Gespräch mit den Bürgern gesagt werden. Wir Abgeordnete des Bundestages tragen hier eine große Verantwortung. Die Ängstlichkeit deutscher Medien und deutscher Verbände vor dem neuen wichtigen europäischen Schritt in Maastricht ist mir noch viel zu groß. Es genügt nicht, dem Kanzler und unserer Regierung, die mit viel Elan, Mut und Entschlossenheit für die Europäische Union eintreten, Beifall zu klatschen. Wir, die Abgeordneten, müssen in unserem Auftreten vor Ort, in den Wahlkreisen, dem Bürger bewußt machen, wie wichtig diese Ereignisse von Maastricht für sein und seiner Kinder künftiges Wohlergehen sind.
Der Friede in Europa ist in Gefahr. Die Europäische Union ist die wichtigste und ehrlichste Friedensbewegung, die Europa je erlebt hat.
Wir können und werden aber das Wohlstandsgefälle, das jetzt durch den Fall der Mauer kraß sichtbar geworden ist, nur handhaben können, wenn der Stabilitätsanker Europäische Union nicht zerbricht.
Vielen Dank.
Als nächste hat die Kollegin Angela Stachowa das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende. Deutschland in der Mitte Europas ist wiedervereinigt. Im Osten des Kontinents bis hin zum Ural vollziehen sich gravierende Umbrüche. In Maastricht soll jetzt — so ist der Beschluß der EG-Regierungschefs von vor einem Jahr — eine Reform der EG beschlossen werden, die auf diese neue Lage eine angemessene Antwort gibt.
Folgt man dem, was über die bisherigen Verhandlungen in den Regierungskonferenzen und heute von der Bundesregierung zu hören war, ist die neue Lage die alte. Die EG ist weiterhin auf dem Pfad, den sie seit den frühen Nachkriegsjahren eingeschlagen hat: Eindämmung der „Gefahren" aus dem Osten und besonders Stärkung des eigenen Gewichts in der Weltpoli-
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tik und in der Weltwirtschaft durch eine eng verstandene westeuropäische Integration.
Mit den gewaltigen Veränderungen in Osteuropa und dem Zerfall der Sowjetunion und den damit verbundenen und noch zu erwartenden ökonomischen und politischen Erschütterungen, den Nationalitätenkonflikten, dem aufkeimenden radikalen Nationalismus und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Integration sind aber die Risiken durch die sich in Europa auftürmenden Probleme allein durch Währungsunion, Geldwertstabilität oder unabhängige Zentralbank nicht aus der Welt zu schaffen.
Wenn wir aber dazu beitragen, daß Osteuropa zum armen Hinterhof wird, kann das den Westen in der Zukunft teurer zu stehen kommen, als die Kosten eines zweiten europäischen Wiederaufbaus. Es müßte eigentlich klar sein: Auch in Maastricht muß ein neues Denken zum Tragen kommen; dort müßte deutlich werden, daß Demokratie und Wohlstand im Westen auf Dauer nur gewährleistet werden können, wenn auch die Probleme der sogenannten zweiten und dritten Welt gelöst werden.
Wir gehören nicht zu jenen, die behaupten, die EG stünde vor der Alternative „Vertiefen oder Erweitern", und letzteres sei der alles lösende Ausweg. Dieser Sprung ins eiskalte Wasser widerspräche nicht zuletzt den Interessen der Beitrittskandidaten selbst. Wenn wir aber meinen, die EG müsse sich nach Osten öffnen, geht es uns um etwas anderes: um eine weit stärkere Aufbauhilfe, um ein ganzes Netzwerk von Abkommen mit diesen Staaten, um den Zugang zum EG-Markt für deren Produkte, um neue Formen der industriellen Kooperation, um die Überprüfung der eigenen Prioritäten, um die Entwicklung einer regionalen Kooperation, um die Entwicklung einer konföderativen Zusammenarbeit. Ich betone: Zusammenarbeit, nicht Integration. Es geht um eine Zusammenarbeit, an der unterschiedliche Staaten, aber immer die EG beteiligt ist.
Selbst gegenüber jenen Staaten, mit denen über Assoziierungsverträge verhandelt wird, baut die EG ihren Protektionismus nur äußerst zögerlich ab, und zwar eben auf jenen Gebieten, wie Landwirtschaft, Textilien und Stahl, in denen diese Länder ihre Chance auf dem Weltmarkt suchen müssen. Hier widerspiegelt sich im Gewand der Vertiefungsstrategie die Festungsmentalität.
Eine offenere Zusammenarbeitsstrategie — das wäre Solidarität, das wäre Vorsorge auch für die westeuropäische Zukunft. Das hieße, die EG wirklich zum Kern und Motor gesamteuropäischer Zusammenarbeit zu machen. Nach alledem, was bisher zu hören war, werden die Ergebnisse von Maastricht sie aber kaum dazu befähigen.
Ein besonders trübes Kapitel bleibt das Demokratiedefizit in der Gemeinschaft, wie es auch vom Europäischen Parlament gesehen wird. Trotz der wiederholten Beteuerungen der Bundesregierung, sich nur mit einer wesentlichen Stärkung des Europäischen Parlaments zufrieden zu geben, scheint der Gipfel nur eine Maus zu gebären. Es gibt weder echte Mitent-scheidungsrechte bei der Gemeinschaftsgesetzgebung noch eine wirkliche Kontrolle durch das Parlament. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Barón, hat gegenüber den EG-Außenministern in Noordwijk seine tiefe Enttäuschung über den neuen niederländischen Vertragsentwurf für eine politische Union zum Ausdruck gebracht: er befürchte, daß der Europäische Rat von Maastricht eine Neuauflage der Zusammenkünfte der Heiligen Allianz sein werde. Das Europaparlament werde diesem Rückwärts-marsch nicht folgen. Mit diesen Befürchtungen steht Herr Barón nicht allein; auch der Bundestag sollte dies nicht übersehen.
Es scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt, als ob osteuropäische Staaten — sollten sie je in die EG eintreten — , vieles, was sie soeben mühsam an Demokratie errungen haben, bereits am Eingang abgeben müssen, wenn es keine Veränderungen in diesem Bereich in naher Zukunft gibt.
Auch der kürzlich vom Bundeskanzler aufgebrachte Stufenplan zur Einführung parlamentarischer Rechte ist schlicht unzureichend. Faktisch macht er sich die zynische Argumentation jener zu eigen, die behaupten, 1991 sei Europa noch nicht reif für ein starkes Parlament. Das kann sich aber sehr leicht als kontraproduktiv erweisen.
Insofern unterstütze ich die Forderung, die in dem uns gestern zugegangenen Antrag der Fraktion der SPD enthalten ist, wonach eine nachhaltige Stärkung der Rechte des frei gewählten Europäischen Parlaments und ein substantielles Ergebnis im Interesse der Schaffung einer Politischen Union Grundbedingung für eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist.
Ein Wort zu dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, Drucksache 12/549. Wir sind sehr dafür, daß die Länder durch Beteiligung des Bundesrates an Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden sollen. Dies entspräche dem Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland und würde zugleich den Gedanken eines Europa der Regionen aufgreifen. Der Entwurf bedarf aber einiger Präzisierungen. Nicht nur, daß die Formulierungen „ihre wesentlichen Interessen" bzw. „eine wesentliche Einflußnahme" sehr unkonkret sind, es müßte auch klar festgeschrieben werden, daß die im Grundgesetz fixierten Kompetenzen der Länder durch die Länderparlamente und nicht die Landesregierungen wahrgenommen werden.
Meine Damen und Herren, ein Vergleich des Anspruchs mit der heutigen Verfaßtheit der EG und dem, was sich für Maastricht abzeichnet — genauer gesagt: nicht abzeichnet —, fällt bei der sozialen Dimension besonders schlecht aus. Es dürfte weder eine Ausweitung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft noch Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat in diesen Fragen geben. Damit wird aber jedes Weiterkommen in den Fragen einer Sozialunion und insbesondere bei den Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen blockiert. Wir sind deshalb dafür, die Sozialunion grundsätzlich mit dem gleichen Tempo und der gleichen Intensität zu gestalten und auszubauen wie die Wirtschafts- und die Politische Union.
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Angela Stachowa
Die vorliegende Beschlußempfehlung zu der „Entschließung zur Entwicklung der gemeinsamen Verkehrspolitik im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes" ist bedauerlicherweise ein Beispiel für starres Festhalten an nationalen Eigenheiten. Die Feststellung des Europaparlaments, wonach „die intensive Nutzung bestimmter Transportarten in bestimmten Regionen der Gemeinschaft das für Umwelt, öffentliche Gesundheit und Energiebewirtschaftung zumutbare Maß bereits überschritten hat" und „unlösbare Probleme" hervorgerufen werden können, ist zu begrüßen, findet aber in der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses keinen Niederschlag.
Unverständlich ist auch, warum sich der Ausschuß gegen die Empfehlungen des Europaparlaments, eine Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen, sowie gegen ein lenkendes staatliches Eingreifen zur Lösung der anstehenden Probleme ausspricht. Dies ist zwar unverständlich, verwundert aber auch nicht, zeugt es doch davon, daß der Regierungskoalition an einer grundsätzlichen Wende in der Verkehrspolitik nicht gelegen ist.
Eine letzte Bemerkung zur gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik, auf Grund der unterschiedlichen nationalen Interessen der Mitgliedsländer ein besonders leidiges Kapitel. Die außenpolitischen Unterkapitel Golfkrieg und Jugoslawien sprechen für sich. Inwieweit man aber plötzlich Sicherheit in Europa wieder militärisch bestimmen muß, hat mit den neuen Risiken und Konflikten nichts gemein.
— Herr Kittelmann, ich bemühe mich.
Diese sind ökonomisch, sozial, ethnisch oder religiös begründet.
Somit müßte der Kern der europäischen Sicherheitspolitik ein ganz anderer sein: wirtschaftliche Entwicklung und Verflechtung, weitreichende, immer dichter werdende gegenseitige Abhängigkeiten. Das gilt insbesondere gegenüber dem Osten ebenso wie gegenüber dem Süden. Flüchtlingsströme sind nicht mit Hilfe von Militär und Polizei einzudämmen, ethnische Konflikte auch nicht mit Eingreiftruppen aus der Welt zu schaffen. So läßt der bereits erzielte Konsens der neun WEU-Staaten, den Wirkungskreis der eigenen Streitkräfte über das NATO-Vertragsgebiet hinaus auszudehnen, nur einen Schluß zu: Die Bundesregierung will ihre Vormachtstellung auch militärisch untermauern. Dies ist wohl der falsche Weg.
Europäische Sicherheitspolitik bedeutet vor allem Einsatz europäischer Ressourcen, nicht des Militärs, für wirtschaftliche und soziale Hilfe an Osteuropa wie an Dritte der Welt. Ein Einsatz deutscher Truppen, ob als Kampftruppen oder als Blauhelme, hätte katastrophale Folgen für unser Land, für Europa. Was in Jugoslawien geschieht, ist im Sinne eines Nationalitätenkonfliktes künftig auch in anderen Regionen Europas oder der Welt denkbar und vorstellbar, um so mehr, da sich territoriale Forderungen und Ansprüche auf das Revidieren von Grenzen mehren.
Diese Bundesregierung, welche die Zustimmung der europäischen Völker und Staaten zur friedlichen deutschen Wiedervereinigung erhalten hat, ist schon deshalb und noch viel mehr aus historischen Gründen verpflichtet, alles zu tun, damit in Europa künftig Konflikte, wenn sie denn nicht zu verhindern sind, ausschließlich mit friedlichen, nichtmilitärischen Mitteln gelöst werden.
Der Maastrichter Gipfel wird, wie es aussieht, nicht einmal die dafür erforderlichen institutionellen Mechanismen hervorbringen.
Nur wenn sich die EG als Zentrum für die Lösung gemeinsamer, kontinentübergreifender Probleme, und zwar in konföderaler oder gesamteuropäischer Zusammenarbeit, versteht und selbst zur Schaffung gesamteuropäischer Institutionen beiträgt, wird sie nicht in einem Europa der Nationalstaaten versinken. Sonst wird es wieder zu Bündnissen und Zusammenschlüssen europäischer Staaten kommen, die dieses Jahrhundert auf so verhängnisvolle Weise prägten. Geschichte darf und sollte sich aber nicht wiederholen.
Als nächster hat der Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ja zu Europa! Aber wirklich um jeden Preis und als Blankovollmacht? Diese Frage zu stellen hat überhaupt nichts mit Nationalismus zu tun, sondern es ist eine Frage der Vernunft. Vor allen Dingen ist es eine Frage, die sich dieses Parlament stellen muß. Ich bedaure, daß diese Debatte bisher eigentlich keine nüchterne Tatbestandsaufnahme gebracht hat.
Was ist mit den Befürchtungen, daß beispielsweise der Europäische Strukturfonds deutsche Leistungen in einem Umfang erfordern könnte, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können? Was ist eigentlich mit dem GATT-konformen Abbau von deutschen Leistungen an den Agrarfonds als Voraussetzung dafür, daß wir a) beim GATT wirklich weiterkommen und b) eine Chance hätten, über eine teilweise Renationalisierung der Agrarpolitik möglichst die Probleme lösen helfen, die unsere Bauern haben?
Welche Belastungen kommen auf uns durch die Neuaufnahme von Mitgliedern zu? Sie können sich das jetzt einmal allein am Beispiel Polens und anderer Länder durchrechnen.
Wo ist die nationale Absicherung des erweiterten Einsatzes unserer Bundeswehr als Voraussetzung dafür, was in Europa vereinbart werden soll?
Diese Fragen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, können wir nicht erst in fünf Jahren stellen. Wir müssen sie heute stellen. Vielleicht haben Sie sich auch schon einmal überlegt, daß das Desinteresse an Europa, das Sie heute bedauert haben, auch daher rührt, daß die Menschen draußen den Eindruck haben, es wird über ihre Köpfe hinweg entschieden, und
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5449
Ortwin Lowack
es wird gegen ihre Interessen entschieden. Ich frage: Haben diese Menschen nicht irgendwo auch recht? Für heute muß ich leider feststellen, daß hier sehr viel Schönfärberei statt Aufklärung, leider auch Selbstlüge statt einer nüchternen Analyse Gegenstand der Debatte war,
Optimismus dort, wo Realismus notwendig, bitter notwendig gewesen wäre. Diese Art der Debatte wird uns, so befürchte ich, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, noch teuer zu stehen kommen.
Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Dr. Martin Mayer das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Was in diesem Jahrzehnt und in diesen Jahrzehnten in Europa geschieht, ist einmalig in der Weltgeschichte: Völker, Nationen mit unterschiedlichen Sprachen schließen sich freiwillig zu einer großen Staatenunion zusammen. Es wird ein einmaliges Staatengebäude. Deshalb lohnt es sich, auf die Architektur Ruhe und Geduld zu verwenden, das mit Nachdruck und besonderer Sorgfalt zu tun. Ich sage das an die Adresse der SPD, die hier viele Forderungen erhebt, aber in der Zeit, als sie an der Regierung war, Europa nicht vorwärtsgebracht hat.
An dieses Gebäude richten die Bewohner Erwartungen. Die Bürger haben von Europa große Vorteile: Freizügigkeit,
und Wohlstand, der sich auch sozial auswirkt.
Das ist uns allen selbstverständlich geworden. Sie haben Erwartungen. Der Bundeskanzler hat sie bereits mehrfach ausgesprochen.
Sie haben aber auch Enttäuschungen erlebt — ich nenne Jugoslawien —, und Sie haben auch Ängste im Zusammenhang mit Europa, die aus der bisherigen Europäischen Gemeinschaft kommen.
Ganze Berufsgruppen — nicht nur die Bauern —, bangen um ihre Existenz.
Es macht sich bei manchen Bürgern das Gefühl breit, daß Kommission, Rat und Europäisches Parlament sich zwar mit Fleiß um unbedeutende Einzelheiten kümmern,
daß sie aber für die eigentlichen Aufgaben keine ausreichende Zuständigkeit haben, um sich darum wirklich kümmern zu können.
Es überkommt die Bürger in Europa heute auch manchmal — das muß auch ausgesprochen werden — ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber Brüssel, weil immer mehr verschwimmt, wer eigentlich verantwortlich ist.
Die europäischen Entscheidungsmechanismen werden immer undurchsichtiger. Der Rat, die Minister und ihre Beamten, die nationalen Regierungen und die Kommissionen erlassen Rechtsnormen in Form von Verordnungen und Richtlinien. Das geschieht unter Ausschluß der Öffentlichkeit und ohne wirksame Kontrolle der Parlamente, weder des Europäischen Parlaments noch der nationalen Parlamente.
Es kann nicht so bleiben, daß die nationalen Parlamente dann zwangsläufig das umsetzen müssen, was in Gremien wie dem Rat beschlossen worden ist; denn die Frage ist, wer dann verantwortlich ist.
Der Deutsche Bundestag sagt dann: ich mußte das umsetzen, was dort beschlossen worden ist.
Die Kommission kann niemand zur Verantwortung ziehen. Es gibt niemanden, der sie zur Verantwortung ziehen kann. Und das Europäische Parlament ist nicht beteiligt.
Ich meine, hier ist Abhilfe notwendig,
und zwar dadurch, daß das Europäische Parlament bei der Berufung und Abberufung von Kommissionsmitgliedern mehr Rechte bekommt.
Ich unterstütze hier alles das mit Nachdruck, was die Bundesregierung gesagt hat.
Es müssen auch mehr Rechte für die Parlamente in der Europäischen Rechtsetzung kommen und zwar für das Europäische Parlament und für die nationalen Parlamente. Für das Europäische Parlament muß das in Maastricht geregelt werden, für die nationalen Parlamente müssen wir anschließend ausführlich über dieses Thema reden.
Und auch hier unterstützen wir die Bundesregierung.
Ein ganz wichtiger Punkt in der Konstruktion der europäischen Architektur ist, daß die kleinere Einheit den Vorrang haben soll. Das Subsidiaritätsprinzip!
5450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Martin Meyer
Bei diesem Subsidiaritätsprinzip kommt es nicht nur darauf an, daß es in den Verträgen enthalten ist, sondern es kommt auch auf den Wortlaut der Verträge an.
Ich meine, die Europäische Union sollte die Zuständigkeit für die Aufgaben bekommen, die vernünftigerweise nur gemeinsam zu bewältigen sind, und alles andere sollte bürgernäher bei den Mitgliedsstaaten, bei den Ländern und in den Rathäusern zur Entscheidung verbleiben.
Die Europäische Gemeinschaft muß die Rahmenbedingungen festlegen, das Dach, die Außenmauern, die tragenden Elemente dieses gemeinsamen Hauses Europa. Zu diesen tragenden Elementen gehören insbesondere jetzt im Hinblick auf Maastricht eine gemeinsame Verteidigungspolitik und eine gemeinsame Politik, um organisierter Kriminalität, illegaler Zuwanderung und offensichtlich massenhaften Asylmißbrauchs Herr zu werden.
Herr Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage — sie wird nicht angerechnet — vom Kollegen Horst Peter?
Nein.
Im Gegensatz zur Wirtschafts- und Währungsunion — hier hat, selbst von der Opposition gelobt, der Finanzminister die deutsche Position voll durchgesetzt — müssen wir uns in den vorhin angesprochenen Feldern Asylpolitik und Verteidigungspolitik mehr auf die europäischen Partner, insbesondere Frankreich und England, zubewegen. Da wird die Frage kommen, ob diese SPD bereit ist, wirklich europäisch zu denken und auf unsere europäischen Partner zuzugehen.
Hier kommt die Stunde der Wahrheit, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich fordere Sie auf, hier Gemeinsamkeit zu zeigen und den entsprechenden Grundgesetzänderungen zuzustimmen.
Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen, also die Inneneinrichtung, muß dem Entscheidungsspielraum der nationalen Staaten, der Länder und der Kommunen in ihrer Vielfalt erhalten bleiben. Wenn wir Europa nach diesem Grundsatz bauen, wird es auch in den Herzen der Menschen Platz finden, und wenn es in den Herzen der Menschen Platz findet, wird es auch von Bestand und Dauer sein, im Gegensatz zu vielen anderen Gemeinschaften.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Viel Glück und Erfolg in Maastricht!
Nun hat der Kollege Hans-Ulrich Klose das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man ist ja für jeden halbwegs unterhaltsamen Debattenbeitrag dankbar. Denn zugegeben: Die rechte Kampfesstimmung will in dieser Debatte nicht aufkommen. Das ist auch ziemlich schwer, wenn man mit den Zielbeschreibungen der Regierung weitestgehend übereinstimmt und sich lediglich über einzelne Maßnahmen auseinandersetzt und bei einigen nicht so recht zustimmen kann, bei anderen doch und bei wiederum anderen ein bißchen.
Da ist ziemlich schlecht streiten, wie ich gerne einräumen möchte.
Deshalb fange ich mit einer zustimmenden Berner-kung an, indem ich einen Satz des Herrn Bundeskanzlers sinngemäß wiederhole: Der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion und der Vertrag über die Politische Union, das sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Sie können nur zusammen unterschrieben und ratifiziert werden. Ratschläge, man sollte sich, wenn es in einem Bereich nicht weit genug geht, zunächst auf anderes,
nämlich die Wirtschafts- und Währungsunion, konzentrieren, halte ich für nicht sonderlich hilfreich, wie ich auch so intelligente Zwischenrufe für nicht sonderlich hilfreich halte.
Im übrigen frage ich mich immer, wenn die Kollegen der CDU/CSU mit solchen Zwischenrufen kommen: Was habt ihr eigentlich gegen die Toskana?
— Na also, dann sind wir uns doch einig.
— Das überschreitet meine Möglichkeiten, und ich bin ein sehr sparsamer Schatzmeister.
Unterschreiben und ratifizieren kann man im übrigen beide Vertragswerke nur — auch da Übereinstimmung —, wenn es ein hohes Maß an Verbindlichkeit gibt. Der Prozeß zur europäischen Einheit muß irreversibel sein.
Auch zum Thema Wirtschafts- und Währungsunion beschränke ich mich auf drei kurze Bemerkungen. Zunächst einmal: Bei den zentralen Punkten — Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank, gemein-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5451
Hans-Ulrich Klose
same Stabilitätspolitik, keine Grauzonen — unterstützen wir die Position der Bundesregierung. Auch ich sage: Überschriften wie „Aus für die D-Mark" halten wir für völlig falsch. Das klingt nach Verlust; wir verlieren aber nichts, sondern gewinnen hinzu an europäischer Stabilität.
Allerdings rate ich der Bundesregierung, gelegentlich Semantiker an die Frage zu setzen, ob man für das etwas verniedlichende Kürzel „ECU" nicht eine bessere, überzeugendere Bezeichnung finden könnte.
Da ich über Geldwertstabilität geredet habe, muß ich auch über Frankfurt reden; die Kollegin Wieczorek-Zeul wird mir das nicht verübeln,
— Karsten Voigt auch nicht. Für mich ist Frankfurt, wenn es um Geld geht, immer ein Synonym für Geldwertstabilität, und weil ich das so sehe, möchte ich die Bundesregierung sehr dazu drängen, sich mit Nachdruck für Frankfurt als Sitz des Währungsinstituts und der Zentralbank einzusetzen.
Nun zu dem Stichwort Freistellungsklausel. Eine Freistellungsklausel sollte, wenn überhaupt, nur akzeptiert werden, wenn sie sich am Ende auf ein Land, nämlich Großbritannien, beschränkt. Wenn mehrere Mitgliedsländer oder gar alle zwölf beim Übergang zur dritten Stufe die Möglichkeit zum Ausstieg hätten, dann wäre der Vertrag nicht viel wert, dann wäre das eine Art „letter of intent" und wäre der Mühe nicht wert.
Die dritte Bemerkung zu diesem Themenbereich: Die Forderung Spaniens nach zusätzlichen Transferleistungen für den europäischen Süden und Irland erscheint mir verständlich und ärgerlich zugleich. Ich sage das auch in aller Offenheit, weil ich finde, es muß der Eindruck vermieden werden, als ließen sich einige Partner die Zustimmung zur europäischen Einheit gegen cash „abkaufen". Ich weiß, so ist die politische Welt; aber sie gefällt mir nicht.
Zur Politischen Union, meine Damen und Herren: Der zentrale Punkt ist mehrfach angesprochen worden; es geht um die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlamentes. Ich hatte schon in der Haushaltsdebatte betont: Eigentlich kann kein nationales Parlament zustimmen, daß laufend mehr Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden, wenn nicht zugleich die Rechte des Europäischen Parlaments erweitert werden.
Europäisierung muß heißen: mehr Demokratisierung. Verbal stimmen wir ja auch in diesem Punkt überein, und ich unterstelle durchaus, daß die Bundesregierung sich bemüht hat. Um so größer war unsere Enttäuschung — das will ich auch nicht verhehlen — , daß die Bundesregierung bei dem Treffen in Noordwijk Minimallösungen zugestimmt hat, statt weiter für die Stärkung der Rechte des europäischen Parlamentes zu kämpfen.
Begeistert war ich, Herr Bundesaußenminister, von dem Bericht zum heutigen Stand der Dinge auch nicht. Ich füge hinzu, die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers in der Haushaltsdebatte und Ihre heutige, daß man notfalls in mehreren Schritten voranschreiten möge, läßt große Kampfeslust bei diesem Thema nicht erkennen. Ich sage noch einmal wie in der Haushaltsdebatte: Für Sozialdemokraten ist dies der zentrale Punkt, auch bei der Frage der Ratifizierung.
Zur gemeinsamen Sicherheitspolitik, Herr Bundesaußenminister, gibt es unverändert Fragen, die Sie weder heute noch bei der WEU-Versammlung in Paris mit ausreichender Klarheit beantwortet haben. Sie haben in Paris gesagt — ich habe das in den Zeitungen gelesen — , es gebe drei Aufgaben, die die Europäer in diesem Zusammenhang in Angriff nehmen müßten: den Ausbau der EG zur europäischen Union mit einer Sicherheitskomponente in Gestalt der WEU, die Einbeziehung der Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas einschließlich der Sowjetunion und der ihr angehörenden souveränen Republiken in eine gesamteuropäische Friedensordnung und schließlich die Stärkung der transatlantischen Partnerschaft und des NATO-Bündnisses.
Zustimmung zu dieser Aufgabenbeschreibung, auch zur Aufwertung der Westeuropäischen Union. Was aber, Herr Bundesaußenminister, bedeutet die Aufgabe 2 „Einbeziehung der Staaten Osteuropas in eine gesamteuropäische Friedensordnung" im Verhältnis zu Aufgabe 3 „Stärkung der transatlantischen Partnerschaft"? Soll, konkret gefragt, die gesamteuropäische Friedensordnung mit den transatlantischen Partnern aufgebaut werden — so haben wir die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Rom verstanden —, oder soll ein neues Konstrukt jenseits oder neben der NATO geschaffen werden? Diese Frage hätten wir gerne beantwortet, weil wir wissen möchten, wie die Sicherheitskomponente in Gestalt der WEU konkret aussieht.
Herr Kollege Irmer, wenn ich Ihnen das sagen darf: Der Hinweis, daß die NATO auch künftig das stabilisierende Element sein will, hat ungefähr die gleiche Aussagekraft wie „Wir sind für Europa" : ungeheuer sympathisch, aber fast null.
Zu der geplanten Bildung eines deutschfranzösischen Korps habe ich mich in der Haushaltsdebatte geäußert. Noch immer ist unklar, was damit erreicht werden soll. Noch immer ist unklar, wie Sie verhindern wollen, daß dieser Punkt eine Sperre für die gemeinsame europäische Sicherheitspolitik wird.
Ich will Ihnen gerne einräumen, daß man nicht immer und in allen Fragen auf Großbritannien warten kann, aber rechtzeitige Informationen, präzisere Auf-
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Hans-Ulrich Klose
gabenbeschreibung und nachvollziehbare Begründungen wären jedenfalls hilfreich.
— Wissen Sie, die Vorstellung, daß Staatsmänner auf den Gedanken kommen, aus symbolischen Gründen neue Korps zu schaffen, ist mir relativ unbehaglich.
Zur Politischen Union noch eine Bemerkung: Die EG-Kommission hat in der letzten Woche den ungewöhnlichen Schritt einer Erklärung gewählt, um ihre Besorgnis über das für die Politische Union vorgesehene Konzept von drei Säulen zum Ausdruck zu bringen. Neben der eigentlichen Gemeinschaft soll es unter dem Unionsdach die Zusammenarbeit auf Regierungsebene in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Innen- und Justizpolitik geben. Die EG-Kommission befürchtet, daß sich die Politische Union dabei neben der Gemeinschaft her entwickelt und das in der Einheitlichen Europäischen Akte enthaltene konstitutive Prinzip der Einheitlichkeit verletzt wird.
Meine Damen und Herren, wir teilen diese Befürchtung, wenngleich zuzugeben ist, daß, so wie die Lage nun mal ist, eine Verstärkung der — wie heißt es? —„intergouvernementalen Zusammenarbeit" — das habe ich heute gelernt — derzeit jedenfalls notwendig erscheint.
Aus aktuellem Anlaß und weil es ohnehin in unser aller Köpfe ist, füge ich folgendes hinzu: Soweit Gegenstand der Zusammenarbeit der Regierungen auch das Asylrecht ist — der Kollege Schäuble hat, wie erinnerlich, während der Haushaltsberatungen auf Schengen und die Zusatzabkommen hingewiesen —, muß zweierlei ganz klar sein: Erstens, das Asylrecht als Individualrecht darf durch die beabsichtigte Zusammenarbeit auf Regierungsebene nicht ausgehebelt werden.
Zweitens, Herr Kollege Seiters: Notwendig ist die Herstellung voller Einigkeit, nicht nur in den EG-Ländern, über die Auslegung und Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention. Ich rate dringend dazu, diese beiden Punkte zu beachten; sonst sitzen wir schnell wieder fest.
Meine Damen und Herren, da in Maastricht, wie ich vermute, auch über Jugoslawien geredet wird und da der Bundeskanzler in der Haushaltsdebatte die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens noch vor Weihnachten in Aussicht gestellt hat, erlaube ich mir dazu zwei Anmerkungen:
Erstens. Der Hinweis des Außenministers auf den EG-Beschluß vom Oktober dieses Jahres, wonach alle Mitglieder nach Ablauf einer zwei Monate währenden Bedenkfrist die Anerkennung aussprechen wollten, und, Herr Kollege Genscher, die Zusatzbemerkung, die Frist laufe ab und die Frage eines Alleingangs sei daher nicht an Bonn zu stellen, sondern an die EG-Länder, die sich von dieser Ratsinitiative distanzierten — das mag ja richtig sein. Gleichwohl wäre es aus unserer Sicht nicht gut, wenn die Anerkennung durch die Bundesrepublik ein Alleingang bliebe.
Zweitens. Da die Anerkennung nicht einfach Parteinahme ist, insbesondere für Kroatien, sondern eine Parteinahme gegen den von Serbien und der Bundesarmee rücksichtslos geführten Krieg,
eine Parteinahme für Frieden und Freiheit, muß ganz klar sein, daß wir und andere EG-Länder von Slowenien und Kroatien, der KSZE-Charta entsprechend, erstens die Einhaltung der Menschenrechte und zweitens die Achtung der Rechte nationaler Minderheiten erwarten.
— Ich entnehme Ihrem Nicken, daß wir uns auch in diesem Punkt einig sind; das ist gut. Damit will ich auch aufhören.
Ich kann — wie andere Kolleginnen und Kollegen auch — der Bundesregierung für den bevorstehenden Gipfel nur Glück und Stehvermögen wünschen. Denn der Gipfel ist nicht nur für die EG-Länder wichtig, er ist auch für andere von großer Wichtigkeit, insbesondere für die osteuropäischen Länder. Sie alle warten wie wir auf einen wirklichen Erfolg.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst finde ich es wichtig, daß es in Deutschland in den Zielen, die unsere Regierung in Maastricht anstrebt, keine grundsätzlichen Unterschiede gibt. Ich bin allerdings etwas anderer Meinung, Herr Klose, was die Parallelität von Politischer, Wirtschafts- und Währungsunion angeht. Ich glaube in der Tat, daß wir bei den Rechten, was das Europäische Parlament angeht, nicht auf dem Weg zu einer Minimallösung sind, sondern daß es ein echter Einstieg ist, daß wir hier aber relativ allein sind,
daß wir Geduld haben und andere Regierungen überzeugen müssen, in denen sozialistische Parteien leider anders denken als die Sozialdemokratische Partei in Deutschland,
unserem Werben zu folgen.
Ich will einen Punkt aufnehmen, den Sie genannt haben, den ich im Moment für den gefährlichsten halte, nämlich die Tatsache, daß das in Deutschland
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Dr. Helmut Haussmann
aus historischen Gründen sehr heikle Währungsthema von Antieuropäern zunehmend mißbraucht wird. Es ist in der Tat so, daß in Deutschland aus historischen Gründen eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Inflations- und Währungsthemen herrscht. Deshalb halte ich es für fatal, daß auch führende Publizisten in Deutschland — sowohl im „Spiegel" als auch in Massenblättern — davon reden, daß die D-Mark auf dem Altar von Europa geopfert werde. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Wir sind dabei, jetzt unwiderruflich zu klären, unter welchen Bedingungen es 1997, also in sechs Jahren, zu einer stabilen europäischen Währung kommen kann. Es ist ganz einfach: Entweder gibt es zu diesen Bedingungen eine stabile europäische Währung, oder es gibt keine.
Derzeit wird es keine geben, meine Damen und Herren. Deshalb ist es sicher für unsere Bürger, daß es nur die Alternative gibt.
Zweitens geben wir die Kasse in Brüssel auch nicht ab, sondern wir sichern uns ab.
Ich will als Ökonom darauf hinweisen, daß ich persönlich glaube, daß im Moment die Bereitschaft anderer EG-Staaten, zu diesen vor allem von Deutschland geprägten Stabilitätsbedingungen mit uns in einen Stabilitätspakt zu gehen, heute höher ist als in vier oder fünf Jahren, meine Damen und Herren.
Wenn das wirtschaftlich wiedervereinigte Deutschland seine wirkliche ökonomische Potenz beweist — und das wird in vier, fünf Jahren sichtbar sein —, dann wird es eine ganze Reihe von schwächeren Ländern mit schwächeren kleineren Währungen geben, die wahrscheinlich nicht mehr bereit sind, sich zu den gleichen Bedingungen mit den Deutschen in eine Stabilitätsgemeinschaft zu begeben. Deshalb ist es so wichtig, daß wir diesen engen Zusammenhang jetzt darstellen.
Meine Damen und Herren, es geht auf Dauer auch nicht gut, daß wir einen gemeinsamen Markt — den wir ab 1993 haben — ohne gemeinsame Währung anstreben. Es gibt auch die Gefahr der importierten Inflation. Schon deshalb ist eine stabile europäische Währung von großer, meines Erachtens von überragender Bedeutung.
Erinnern wir uns: Es gab bereits 1978 diese Diskussion. Wir waren damals alle in Sorge, daß sich die D-Mark mit anderen Währungen in eine eventuelle Inflationsgemeinschaft begibt. Das Gegenteil ist der Fall. D-Mark und Franc sind heute in einer stabilen Währungsbeziehung. Ja, der Fanc ist besser.
Ich will am Schluß sagen, daß ich ebenfalls Frankfurt für den richtigen Ort für eine stabile, europäische Währung halte und daß wir uns deshalb wünschen, daß die Bundesregierung ihre Bemühungen fortsetzt.
Das Wort hat nun der Kollege Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den schmetternden Bekenntnissen zu Europa habe ich am Ende leider nur eine ganz bescheidene Fußnote hinzuzufügen, eine Fußnote, die sich freilich auf etwas Wichtiges bezieht, aber auch auf etwas äußerst Merkwürdiges, nämlich auf die Drucksache 12/549. Wie diese Nummer zeigt, hat es mit dieser Drucksache eine sehr merkwürdige Bewandtnis. Sie enthält nämlich einen Bundesratsbeschluß vom 1. März dieses Jahres. Aus ihr erfährt man, daß die Bundesregierung ihn dem Bundestag am 15. Mai übersandt hat. Heute haben wir bekanntlich den 5. Dezember. Das veranlaßt mich zu der Frage, ob die lange Bank, meine Damen und Herren, das Hauptinstrument des Umgangs dieses Hauses mit Verfassungsfragen ist.
Lassen sie mich nur kurz bemerken, daß die Sache, um die es geht, natürlich wichtig und notwendig ist. Um so mehr bedauere ich, daß wir diese Drucksache erst jetzt am Vorabend von Maastricht auf die Tagesordnung bekommen. Natürlich verdient der Beschluß des Bundesrates Zustimmung.
Freilich kann ich nicht die Bemerkung unterdrükken, daß die hochachtbaren Länder bei der Abfassung dieses Änderungsvorschlages ihre Interessen sehr wenig klar wahrgenommen haben. Sie sagen schlicht, daß die Länder bei der Übertragung von Hoheitsrechten mitzuwirken haben. Hier hat sich der Verfassungsentwurf des Kuratoriums sehr deutlich ausgedrückt, indem er für so etwas die Zweidrittelmehrheit verlangt. Weiter wollen sie bei wesentlichen Interessen beteiligt sein und einen wesentlichen Einfluß nehmen können. Sie wissen alle, welchen Interpretationsspielraum das Wort „wesentlich" eröffnet.
Im Ganzen muß man sagen, daß die Regierung natürlich recht hat,
wenn sie diesen Entwurf dem Verfassungsausschuß anempfiehlt. Freilich ist auch dieser Verfassungsausschuß eines der Gremien, die sich dadurch auszeichnen, daß sie ihre Konstituierung immer wieder vertagen. Ich hoffe, daß sich das Mitte Januar ändert und daß wir dann wichtige Dinge wie die hier im Blick auf Europa fällige Grundgesetzänderung in einer vernünftigen und den Interessen der Länder dienlichen Weise vollbringen.
Ich füge hinzu, daß ich diese Grundgesetzänderung deswegen für so besonders wichtig halte, weil mit dieser Änderung auch darüber entschieden wird, ob die Europäische Union, auf die wir alternativlos zugehen, durch eine zentralistische Bürokratie dominiert werden soll oder ob es eine Demokratie föderaler Regionen werden soll.
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Dr. Wolfgang Ullmann Danke.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 9 a und den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 12/1747. Vom Kollegen Poppe ist beantragt worden, über die einzelnen Punkte getrennt abzustimmen. Ich lasse daher über die Ziffern 1 bis 3 im Zusammenhang abstimmen, dann über die Ziffern 4, 5 und 6 getrennt.
Wer stimmt für die Ziffern 1 bis 3? — Gegenprobe!
— Stimmenthaltungen? — Damit sind die Ziffern 1 bis 3 insgesamt einstimmig angenommen.
Nun lasse ich über die Ziffer 4 abstimmen. Wer stimmt für die Ziffer 4? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Ziffer 4 gegen die Stirnmen von Bündnis 90/GRÜNE angenommen.
Nun lasse ich über die Ziffer 5 abstimmen. Wer für diese Ziffer 5 ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimme? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die Ziffer 5 einstimmig angenommen.
Nun lasse ich über die Ziffer 6 abstimmen. Wer für die Ziffer 6 ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Damit ist die Ziffer 6 gegen die Stimmen von Bündnis 90/GRÜNE angenommen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den gesamten Entschließungsantrag. Wer für diesen Entschließungsantrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Entschließungsantrag bei wenigen Gegenstimmen und einer Stimmenthaltung so angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9 d und stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zur Entschließung des Europäischen Parlaments über die Verstärkung der Befugnisse im Bereich der Haushaltskontrolle auf den Drucksachen 11/8541 und 12/1295. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen?
— Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig so angenommen.
— es tut mir fürchterlich leid, ich habe 9 e nicht, das kommt wahrscheinlich noch; ich bitte, mich hier oben nicht zu irritieren, es kommt alles noch — zu einem Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung der Richtlinie über die Gründung der Aktiengesellschaft sowie die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals. Dieses ist auf der Drucksache 12/1463 zu finden. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Stimmenthaltungen ist diese Beschlußempfehlung einstimmig so angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 9 g und stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Entwicklung einer gemeinsamen Verkehrspolitik auf den Drucksachen 12/49 und 12/1592. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei wenigen Stimmenthaltungen ist diese Beschlußempfehlung einstimmig so angenommen.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 9 e, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, und zu den Überweisungen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Regierungskonferenz über die Politische Union zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den EG-Ausschuß als ersten mitberatenden Ausschuß sowie an den Rechtsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft, den Verteidigungsausschuß und den Finanzausschuß. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre Widerspruch.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul!
Ich will darauf hinweisen, daß sich, wie wir eben die ganze Zeit diskutiert haben, der Europaausschuß mit den Regierungskonferenzen beschäftigt, über die wir hier eben diskutiert haben. Er ist dafür der federführende Ausschuß. Deshalb verlangt es die Logik des Hauses, daß wir die Entschließung an den Europaausschuß zur federführenden Beratung überweisen.
Damit ist also der Antrag gestellt, die Entschließung an den EG-Ausschuß als federführenden Ausschuß zu überweisen und an den Auswärtigen Ausschuß zur Mitberatung.
Bitte, Herr Kollege Irmer.
Ich muß dem widersprechen. Es ist zwar richtig, daß sich der EG-Ausschuß mit dieser Vorlage beschäftigt, aber selbstverständlich beschäftigt sich damit auch der Auswärtige Ausschuß. Dies ist leider nach wie vor eine Frage der Außenpolitik. Den Zustand, daß Europaangelegenheiten Sachen der Innenpolitik sind, wollen wir erst gemeinsam erreichen. Ich beantrage also, bei dem interfraktionellen Vorschlag zu bleiben, den Auswärtigen Ausschuß hier als federführend zu benennen.
Ich lasse nun darüber abstimmen, falls keine weiteren Wortmeldungen da sind. Wer dafür ist, bei der interfraktionellen Vereinbarung zu bleiben, den bitte ich gleich um das Handzeichen. Die Alternative ist, die Entschließung an den EG-Ausschuß als den federführenden und den Auswärtigen Ausschuß als den ersten mitberatenden Ausschuß zu überweisen.
Wer für den interfraktionellen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist der Antrag angenommen, bei der interfraktionellen Vereinbarung zu bleiben.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5455
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir führen nun die Abstimmung zu Zusatztagesordnungspunkt 11 durch. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP schlagen vor, die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Ablauf der Regierungskonferenz zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den EG-Ausschuß als ersten mitberatenden Ausschuß sowie an den Verteidigungsausschuß. Die Fraktion der SPD wünscht, daß die Federführung beim EG-Ausschuß liegen soll. Wer stimmt für den Überweisungsauftrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Überweisungsvorschlag der Koalitionsfraktionen angenommen, und es erübrigt sich die Abstimmung über den weiteren Vorschlag.
Wir kommen nun zur Abstimmung zu den Tagesordnungspunkten 9 b, 9 c und den Zusatztagesordnungspunkten 12 und 13. Es wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 9 b und 9 c sowie zu den Zusatzpunkten 12 und 13 auf den Drucksachen 12/549, 12/1126, 12/1616 und 12/1614 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu irgendwelche Widersprüche? — Dies ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um folgende Punkte zu erweitern, die ich hiermit aufrufe:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments
— Drucksache 12/1746 —
Beratung der Beschlußempfehlung des EGAusschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD über die Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion
— Drucksachen 12/1434, 12/1749 —
Eine Aussprache ist dazu nicht vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Dies ist der Fall. Dann können wir so verfahren.
Wir stimmen jetzt also über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1746 — Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments — ab. Die Fraktion der SPD hat erklärt, nur die Nr. 4 des Antrags zur Abstimmung zu stellen. Wer stimmt für die Nr. 4 dieses Antrags? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Nr. 4 dieses Antrags abgelehnt.
Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung des EG-Ausschusses zu dem Antrag der SPD-Fraktion über die Verhandlungen der Bundesregierung in den EG-Regierungskonferenzen zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion auf den Drucksachen 12/1434 und 12/1749 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung so angenommen.
Nun übergebe ich meinem Kollegen Cronenberg den Vorsitz.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Susanne Kastner, Marion Caspers-Merk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sanierung der Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern
— Drucksache 12/1477 — Überweisungvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann können wir mit der Debatte beginnen. Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Kastner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hätte die Massenflucht, die gerade eingetreten ist, verhindert werden sollen, denn wir diskutieren heute über ein Thema, das sich mit den elementarsten Grundbedürfnissen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern befaßt.
Wasser bedeutet Leben. Unsauberes, belastetes Wasser kann zu schwerwiegenden Gesundheitsschäden führen, gerade wenn es schon Säuglingen und Kleinkindern verabreicht wird.
Mittel- und langfristig werden auch Erwachsene durch die Schadstoffe im Trinkwasser krank. Deshalb haben wir in der Bundesrepublik strenge Grenzwerte bei der Trinkwasserbelastung festgelegt.
Nach Art. 34 des Einigungsvertrags sind die Gesetzgeber — also wir alle — aufgefordert, die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzips zu schützen und die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, jedoch mindestens auf dem in den westlichen Bundesländern erreichten Niveau zu fördern.
Unser Antrag zur Trinkwasserversorgung, den wir jetzt diskutieren, stellt einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung dieser Forderungen dar.
Nach Angaben des Bundesumweltministeriums erhalten zur Zeit etwa 9,6 Millionen Einwohner der neuen Bundesländer qualitativ bedenkliches Trinkwasser. Für 1,2 Millionen Einwohner treten gesund-
5456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Susanne Kastner
heitsgefährdende Belastungen — insbesondere mit
Nitrat — und mikrobiologische Beanstandungen auf.
Liest man die Untersuchungsergebnisse, die bei Stichproben von verschiedenen Trinkwasserbrunnen in den neuen Bundesländern ermittelt wurden, so stehen einem häufiger die Haare zu Berge. Nitrat, Pflanzenschutzmittel, Aluminium, Blei, Kadmium, Nickel, Quecksilber im Bereich der Schwermetalle, das Arsen, organische Chlorverbindungen und Lösungsmittel, aber auch Sprengstoffreste sind dabei zu nennen. All dies wurde bereits in den Stichproben gefunden, und zwar häufig in Konzentrationen, die zur Besorgnis Anlaß geben, wie es so schön auch in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage vom Beginn dieses Jahres heißt.
Schon in dieser Antwort der Bundesregierung heißt es auch ganz richtig — ich zitiere — :
Bei der Bewertung der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, daß auf Grund einer einmaligen Untersuchung keine sicheren Aussagen über den Zustand einer Wasserversorgungsanlage möglich sind.
Auch die Bundesregierung sei der Auffassung — so heißt es dort weiter — , daß Nachuntersuchungen erforderlich sind.
Nun hat die Regierung das Versprechen abgegeben, sich nach der „EG-Richtlinie über die in Deutschland geltenden Übergangsmaßnahmen für den Umweltschutz" vom 4. Dezember 1990 zu bemühen, den Verpflichtungen der EG-Trinkwasserrichtlinie im Gebiet der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1991, also in spätestens drei Wochen, nachzukommen. Sind zu diesem Zeitpunkt die Qualitätsnormen der EG nicht erreicht, übermittelt die Regierung der EG-Kommission unverzüglich — ich zitiere jetzt wieder —„alle zweckdienlichen Angaben, einschließlich eines Sanierungsplans" , aus dem hervorgeht, durch welche Maßnahmen bis zum 31. Dezember 1995 die EGRichtlinie erfüllt werden soll.
Mit der Einhaltung dieses Zeitplans scheint es wegen der mangelnden Aktivität des Bundesgesundheitsministeriums und wegen unzureichender finanzieller Ausstattung der Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" in Berlin nun erst einmal vorbei zu sein. Denn erst im November dieses Jahres hat die Bundesregierung diese Fachkommission beim Bundesgesundheitsamt aufgefordert, einen Bericht für die EGKommission bis Ende 1991 anzufertigen.
Auf Grund dieser Aufforderung hat die Fachkommission alle Wasserversorgungswerke, die Hygieneinstitute und den Verband der Kommunalen Unternehmen gebeten, eine Bestandsaufnahme bis zum 10. Dezember abzugeben — dies, verehrte Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl, ist vom Zeitablauf her wohl eine schlichte Zumutung; da scheint mir der alte Spruch „am Abend werden die Faulen fleißig" auf Ihr Ministerium zuzutreffen —,
mit dem Resultat, daß die nachgeordneten Behörden,
nämlich das Bundesgesundheitsamt, dann eine Nachtschicht einlegen müssen. — Herr Göttsching, Sie müssen wissen, daß ich aus Unterfranken komme. Als Thüringer müssen Sie das eigentlich wissen.
Im übrigen, Frau Bergmann-Pohl, kann diese Bestandsaufnahme ja auch nur lückenhaft sein. In den neuen Bundesländern werden nämlich rund 20 % der Bürger durch Privatbrunnen versorgt, die Sie ja nicht nach Brüssel melden müssen, was wir für falsch halten. Sie leiten für sich daraus anscheinend ab, daß die aus Privatbrunnen Versorgten durchaus mit einer mangelhaften Trinkwasserqualität leben können, wohlwissend, daß Sie nach der deutschen Trinkwasserversorgung vieler dieser Brunnen sofort schließen müßten. Diese Hausbrunnen weisen nämlich Nitratwerte von 200 mg und noch mehr auf.
Die Bundesregierung ist aber bisher nicht bereit, in ausreichendem Maße finanzielle Mittel für den Personalbereich der Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" und für die Ausstattung der Gesundheitsämter sowie der Wasserbehörden mit den notwendigen Analysegeräten sicherzustellen.
Das durch das Bundesumweltministerium finanzierte „Sofortprogramm Trinkwasser" erfaßte im Jahre 1990 etwa 840 Anlagen. Das sind 10 % der zentralen Wasserversorgungsanlagen, die nach Angaben der Wasserwerke zu den am stärksten belasteten gehören.
Aus dem Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums sollen unter Leitung der Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" in diesem Jahr weitere 1 000 Wasserwerke untersucht werden, womit eine Quote von annähernd 22 % erreicht wäre. Ich halte das einfach für viel zuwenig. Das ist für mich ein Skandal.
Diese beiden Angaben der Bundesregierung vom April dieses Jahres machen meiner Meinung nach schon deutlich, warum die Zustimmung zu unserem Antrag notwendig ist. Die bürokratischen Hemmnisse, der Verschiebebahnhof zwischen den verschiedenen Bundesministerien, den Ländern, den Kommunen und der Treuhand müssen sofort beseitigt werden. Das Sofortprogramm Trinkwasser muß finanziell besser ausgestattet werden.
Sie aber reden sich dabei heraus, indem sie permanent auf die Kompetenzen der Länder verweisen, wohlwissend, daß der Bund bezüglich der von uns in diesem Antrag formulierten Ziele dringend helfen muß.
Der Hinweis, meine sehr verehrten Damen und Herren, dies sei Ländersache, ist hier nicht angebracht; denn wir alle wissen, daß die Länder die dazu notwendigen Mittel aus dem Topf „Aufschwung Ost" beziehen. Dieser muß also dringend umstrukturiert werden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5457
Susanne Kastner
Erst vor zwei Monaten gab Staatssekretär Schmidbauer in einer Fragestunde zu, daß er sich vorstellen kann — ich zitiere ihn —, daß bei dem desolaten Zustand der Grundwasser- und Trinkwassersituation in den fünf neuen Ländern die Mittel in der Tat nicht ausreichen.
Bisher fehlen aber nicht nur die finanziellen Mittel, sondern auch eine Verwaltungsvorschrift zur Trinkwasserverordnung, die die im Hinblick auf gesundheitliche Gründe noch akzeptablen Grenzwertüberschreitungen festlegt, die Regelungen und Ausnahmeregelungen sowie die notwendigen Sanierungsmaßnahmen vorschreibt. Sie aber, meine Damen und Herren vom Gesundheitsministerium, lassen die Amtsärzte in den neuen Bundesländern mit der drükkenden Gesamtverantwortung völlig allein. Das ist nicht unser Verständnis von Politik.
Ihr mangelnder Wille, vordenkend Politik zu machen, Gelder für eine vorsorgende Gesundheitspolitik auszugeben, wird dazu führen, daß Sie auch in Zukunft die steigenden Kosten im Gesundheitswesen nicht in den Griff bekommen;
denn wer Umweltschäden wissentlich in Kauf nimmt, wird Krankheitskosten ernten.
Auch Ihnen sollte eigentlich klar sein, daß sauberes Trinkwasser eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Wiederaufbau und für die so notwendigen Sofortinvestitionen in den neuen Bundesländern ist.
Die wirksamen Maßnahmen fehlen auch in Bereichen, in denen Sie als Bundesregierung unmittelbar verantwortlich sind, nämlich bei der Grundwasserverunreinigung durch militärische und industrielle Altlasten und bei der industriellen Landwirtschaft.
— Nein, aber die Maßnahmen zu den Messungen sollten schon möglichst umgehend passieren, und allein in dieser Frage, in der der Bund Kompetenz hat, greift unser Antrag ein.
Lassen Sie mich dies einmal an einem Beispiel deutlich machen: Die Torgauer Elbaue in Sachsen ist eines der größten Wassereinzugsgebiete in den neuen Bundesländern. Dieses Grundwassergebiet ist akut durch die Rüstungsaltlast „WASAG-Elsnig", eine ehemalige Munitionsfabrik, gefährdet. In unmittelbarer Nähe dieser Altlast befand sich die Trinkwassergewinnungsanlage Elsnig, die bereits geschlossen wurde. In 4 km bis 7 km Entfernung befinden sich die Wasserfassungen der Fernwasserversorgung Elbaue-Ostharz, die unter anderem die Städte Halle und Leipzig versorgt. Erste punktuelle Proben aus Oberflächengewässern und Wassergewinnungsanlagen haben sprengstoffspezifische Rückstände im Wasser ergeben. Die Bundesregierung hat auf unsere Fragen und in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE festgestellt, daß sie eine umfassende Gefährdungsabschätzung des gesamten Grundwassereinzugsgebietes „Elsnig/Mockritz" für erforderlich hält.
So weit, so schlecht, kann ich nur sagen; denn schon hier beginnen die Probleme: Das gesamte zu überprüfende Gebiet fällt in unterschiedliche Verantwortungsbereiche, als da wären: das Bundesverteidigungsministerium, das Bundesfinanzministerium, das Land Sachsen sowie die betroffenen Trinkwasserversorgungsgesellschaften.
Die Bundesregierung erwartet, so heißt es in dieser Antwort weiter, daß eine Koordinierung der notwendigen Untersuchungen durch das Land Sachsen erfolgt, und würde es für sinnvoll halten, die dazu notwendigen Mittel in Höhe von soundso viel aus dem Sofortprogramm „Aufschwung Ost" zu finanzieren. — Wie gesagt, meine Damen und Herren, ich rede hier bisher nur von der Untersuchung der Gefährdung; damit ist überhaupt noch nichts verbessert worden.
Die Bundesregierung spricht von ihrer Verantwortung, die sie wahrnehmen will. Das Bundesumweltministerium prüft, das Bundesministerium für Verteidigung hat beim Bundesumweltministerium beantragt, daß der Bund die Kosten übernehmen soll. Die Bundesfinanzverwaltung erarbeitet die Vorschläge, und dann wird auch noch juristisch geprüft, ob nicht doch noch die Verantwortung Dritter, also etwa die Alteigentümer der WASAG, mit einbezogen werden kann.
Diese Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierung, versteht keine Bürgerin und kein Bürger mehr; denn den Betroffenen ist es ziemlich egal, aus welchem Topf des Bundes die Überprüfung und Sanierung bezahlt wird, wenn nur endlich etwas getan wird.
Dazu sieht sich die Bundesregierung aber im Augenblick nicht in der Lage. Wenn die Bundesregierung nicht — wie schon einmal — erneut vom Europäischen Gerichtshof zur Einhaltung der EG-Verordnungen verurteilt werden will, muß sie die EG-Richtlinie vom 4. Dezember 1990 eigentlich ernst nehmen und uns in der Zielsetzung unseres Antrags unterstützen.
Dies gilt vor allem für folgende Punkte. Wir wollen eine Feststellung der Grenzwertüberschreitungen und Sicherstellung einer eventuell erforderlichen Notversorgung. Wir wollen eine Sanierung der Trinkwasseraufbereitung und der Trinkwassernetze, Schulungsprogramme für den Mittelbau der Gesundheits-und Wasserämter, eine konsequente Durchsetzung des geltenden Rechts bei Nitrat- und Pestizidbelastungen durch die Landwirtschaft, eine Verschärfung der Anwendung des Pflanzenschutzgesetzes und der Pflanzenschutzmittelanwendungsverordnung, wirksame Hilfe beim Grundwasserschutz vor gefährlichen Chemikalien aus industriellen und militärischen Altlasten.
Die Realisierung dieser Forderungen muß finanziert werden. Wir haben in unserem Antrag, den wir heute diskutieren, auch gesagt, wie wir das wollen, nämlich durch eine Umschichtung der schon heute im Programm „Aufschwung Ost" vorhandenen Mittel zugunsten der Umweltschutzsofortmaßnahmen. Sie ha-
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Susanne Kastner
ben in diesem Etat bereits 116 Millionen DM zur Verfügung gestellt; denn diese Mittel für den Umweltschutz sind heute schon verbraucht, — so nachzulesen in der kommunalpolitischen Broschüre.
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion sollte — wenn ich mir die Äußerungen der Minister und der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre im Umweltministerium und im Gesundheitsministerium ansehe und auch noch anhöre — wirklich die uneingeschränkte Zustimmung der Regierungsfraktionen finden. Dazu fordere ich Sie heute auf.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Sopart.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion greift zweifellos einen wesentlichen Aspekt der aus der DDR-Zeit übernommenen Altlasten auf. Dies ist aber — ich meine, wir dürfen hier keinesfalls die bestehende Gesamtproblematik aus den Augen verlieren — nur ein Teilaspekt der Diskussion.
Nach letzten Erhebungen ist von 40 000 bis 50 000 altlastverdächtigen Standorten in den neuen Bundesländern auszugehen. Die Altlasten auf ehemaligen und noch genutzten Industriegeländen sind bisher nur zum Teil erfaßt. Verläßliche Untersuchungen über die Kontamination des Bodens fehlen meistens. Gerade in Sachsen-Anhalt, meinem Heimatland, dem Zentrum der Kali- und chemischen Industrie, sind nach gegenwärtigen Erkenntnissen unter anderem Phenole, Quecksilber, CKW, Benzole und aromatische Kohlenstoffe nicht nur in den Boden, sondern auch in die Vorfluter gelangt. Dazu kommen Rüstungsaltlasten aus dem Zweiten Weltkrieg — Sie sprachen das an — und Umweltbelastungen durch sowjetische Liegenschaften.
In meinem Wahlkreis, nördlich von Magdeburg, liegen beispielsweise fünf Millionen Tonnen Steinsalz auf ungeschützter Halde und bedrohen das Trinkwasser, und dies ca. 20 Kilometer entfernt vom größten Trinkwasserreservoir Sachsen-Anhalts, der KolbitzLetzlinger Heide.
Mit Ausnahme der großen Städte sind in SachsenAnhalt im Durchschnitt nur 30 % der Haushalte an das Kanalnetz angeschlossen. Nur 54 % dieser Abwässer gelangen in — mehr oder weniger schlechte — Kläranlagen. In einer mittelgroßen Stadt wie Wittenberg fließen 94 % aller Abwässer ungeklärt in die Elbe.
Hinzu kommen Belastungen aus ungeordneten Mülldeponien und eine Langzeitbodenkontamination durch die Konzentration organischer Substanzen infolge der Massentierhaltung in der ehemaligen DDR.
Ich skizziere diesen fürchterlichen Zustand am Beispiel Sachsen-Anhalts nur deshalb, weil ein Sanierungsansatz, der sich nur auf die Wasserversorgungsanlagen bezieht, der Situation nicht gerecht werden kann. Deshalb umfassen Umweltschutzmaßnahmen in den neuen Bundesländern, die von der Bundesregierung direkt finanziert werden, auch die wichtigen Maßnahmen zur Erfassung von Altlasten mit kurzfristiger Gefahrenabwehr, Abwassermaßnahmen und Deponiesicherungen. Insgesamt sind dafür Fördermittel von 671 Millionen DM vorgesehen, so daß Investitionen in diesem Bereich von 2,36 Milliarden DM möglich sind. Diese Maßnahmen sind im Kontext mit der hier vorliegenden Problematik der Trinkwasserversorgung in den neuen Ländern unbedingt zu sehen.
In dem Grundgedanken der möglichst raschen Angleichung der Lebensbedingungen auch im ökologischen Bereich entsprechend dem Einigungsvertrag sind sich die Koalitionsparteien und die SPD — dies zeigt der Antrag der SPD-Fraktion — augenscheinlich weitgehend einig.
In diesem Sinne muß man ihren Antrag wohl auch deshalb deuten, da er in wesentlichen Punkten mit dem Handlungsprogramm betreffend Maßnahmen und Empfehlungen, veröffentlicht im letzten Heft „Ökologischer Aufbau" des BMU, identisch ist. Dabei beläßt es die Bundesregierung nicht nur bei programmatischen Erklärungen.
Ihre Fraktion, meine Damen und Herren von der SPD, fordert eine Untersuchung aller Wasserversorgungsanlagen und eine Meldepflicht für Grenzwertüberschreitungen. Sie haben es angesprochen: Schon im März 1991 wurden durch 15 große Wasserversorgungsunternehmen im Bereich der neuen Länder Probeentnahmen des Trinkwassers vorgenommen, so daß das Wasser untersucht wurde, mit dem 94 % der Bevölkerung versorgt werden. Dabei wurde sowohl das Wasser in den Anlagen wie auch in den Rohrleitungssystemen geprüft.
Sie fordern die Festlegung einer nicht mehr zu tolerierenden Grenzwertüberschreitung. Solche nicht mehr zu tolerierenden Grenzwerte sind vom Bundesgesundheitsamt definiert worden. Zwischenzeitlich werden allein in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt neben den Routinekontrollen in 100 Wasserwerken in Zusammenhang mit dem Trinkwassersofortprogramm Untersuchungen auf den speziellen Gehalt von Inhaltsstoffen des Wassers hin durchgeführt.
Da in Sachsen-Anhalt — auch das haben Sie angesprochen — ca. 10 % der Bevölkerung ihr Trinkwasser aus Hauswasserversorgungsanlagen beziehen
— in Sachsen-Anhalt sind es 10 % — und da die Qualität des Grundwassers die Wasserqualität von vielen Wasserwerken natürlich nachdrücklich beeinflußt, wird auch das Grundwasser an 52 Meßplätzen in Sachsen-Anhalt untersucht. Ein weiterer Ausbau dieses Netzes erfolgt gegenwärtig. Für diese Analysen in Sachsen-Anhalt wurden allein 1990 800 000 DM aus dem Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums bereitgestellt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Trinkwasserproblems in den neuen Ländern ist das weitgehend verrottete Leitungssystem. Man rechnet mit zwei Rohrbrüchen pro Jahr pro Kilometer Rohrleitung. Dadurch kommt es zu einem Verlust von bis zu 50 % des ohnehin knappen Trinkwassers in besonders betroffe-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5459
Dr. Hans-Joachim Sopart
nen Regionen. Allein 1990 wurde Spezialgerät zur Beseitigung von Rohrbrüchen in Höhe von 11,1 Millionen DM von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt.
Widersprechen möchte ich in Ihrem Antrag allerdings ausdrücklich der Forderung nach einer sofortigen Überführung der Trinkwasserversorgungsbetriebe in kommunale Trägerschaft. Empfehlen möchte ich dagegen, daß die Versorgungsbetriebe, die sich im Besitz der Treuhand befinden, von dieser zunächst saniert und dann in kommunales Eigentum von Zweckverbänden überführt werden.
Ihre Forderung zur Aufstockung der finanziellen Mittel für Trinkwasserversorgung durch Umschichtungsmaßnahmen innerhalb des Gemeinschaftswerkes „Aufschwung Ost" scheint bei realistischer Betrachtung kaum möglich, wenn man den intensiven Investitionsbedarf für die übrigen kommunalen Infrastrukturmaßnahmen und den Investitionsbedarf im Bereich von sozialen Einrichtungen berücksichtigt, der nämlich gigantisch ist.
Insgesamt ist der Grundgedanke dieses Antrages der SPD-Fraktion zu begrüßen, da er ja, wie gesagt, in zentralen Bereichen die Programmatik der Bundesregierung reflektiert. Jedoch befindet sich der größte Teil der Forderungen dieses Antrags bereits im Stadium der Realisierung.
Ich meine deshalb, daß dieser Antrag der intensiven Prüfung im Umweltausschuß — besonders auch mit einer Orientierung an den schon laufenden Programmen — zugeführt werden muß.
Herr Dr. Sopart, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Herr Kollege, können Sie mir dann erklären, warum Greenpeace in großem Ausmaß zur Zeit in den neuen Bundesländern unterwegs ist, um die notwendigen Messungen in kommunalen bzw. bei privaten Brunnen vorzunehmen, wenn, wie Sie sagen, diese Dinge bereits alle in Vorbereitung und zum großen Teil auch schon erledigt sind?
Ich kann Ihnen sagen, daß es für mein Land Sachsen-Anhalt — dafür liegen mir die genauen Zahlen vor — sehr exakte Untersuchungsergebnisse für einzelne Bereiche der Trinkwasserversorgung gibt, auch der privaten Hauswasserversorgung. Ich muß Ihnen sagen: Die Ergebnisse sind erschütternd. In Sachsen-Anhalt erhalten 81 000 Einwohner Trinkwasser, dessen Grenzwert für Nitrat überschritten ist. Die Ergebnisse sind also schlimm.
Aber Sie heben ja darauf ab, daß die Kontrollmaßnahmen entwickelt werden sollen. Diese Kontrollmaßnahmen laufen — davon habe ich mich überzeugt — in Sachsen-Anhalt jedenfalls.
Die Abgeordnete Frau Kolbe möchte ebenfalls eine Zwischenfrage stellen. Bitte sehr.
Sie sprechen von Sachsen-Anhalt. Es ist aber nur eines der fünf oder fünfeinhalb neuen Bundesländer. Ich möchte Ihnen sagen, daß das hochgradig gefährdete Gebiet Elsnig nur stichprobenartig überprüft worden ist, weil nicht genug Mittel zur Verfügung stehen. Die Empfehlung, die Mittel dafür aus dem Programm Aufschwung Ost zu nehmen, ist etwas makaber, da diese Mittel ja schon verbraucht worden sind.
Ich habe zwar Ihre Frage nicht verstanden, weil Sie keine gestellt haben, aber Sie fordern doch, die Mittel aus Umschichtungsmaßnahmen aus dem Programm Aufschwung Ost zu verwenden. Dies halte ich einfach für nicht möglich, weil ich weiß, welcher Investitionsbedarf in anderen wichtigen Bereichen besteht.
Herr Abgeordneter, buchen wir das mehr unter „Zwischenintervention" denn unter „Zwischenfrage" ab, dann ist es in Ordnung.
— Möchten Sie noch eine Zwischenfrage stellen?
Ich möchte vorweg das Haus darauf aufmerksam machen, daß wir nach der derzeitigen Planung bis 1.10 Uhr oder 1.15 Uhr zu tagen haben und alles, was an Zwischenfragen und Antworten kommt, dazugerechnet wird. Eine gewisse Selbstbeschränkung wäre sehr hilfreich.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege, geben Sie mir recht, wenn ich sage, daß Wasser zu den elementarsten Grundbedürfnissen des Menschen gehört und damit eine der wichtigsten Investitionen überhaupt ist?
Ich gebe Ihnen recht. Das Wasser ist das wichtigste Nahrungsmittel nicht nur für den Menschen, sondern natürlich auch für Tier und Pflanze. Über diesen Weg können Schadstoffe natürlich auch in die Nahrungskette gelangen. Wir sind in diesem Punkt völlig einer Meinung.
Danke schön. Sie können in Ihrer Rede fortfahren, Herr Abgeordneter. Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Präsident, ich bin am Ende meiner Rede.
Ich danke Ihnen.
Das nehme ich mit großer Freude zur Kenntnis.
Ich erteile dem Abgeordneten Feige das Wort.
5460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie sind wahrscheinlich die wenigen, die in diesem Haus noch Wasser trinken. Ich gehe einfach davon aus.
Den Präsidenten habe ich trinken sehen.
Aber Spaß beiseite. Das Thema ist viel zu ernst; denn wenn man den Schadstoffbelastungsgrad des Trinkwassers als Indikator für den ökologischen Zustand eines Landes nimmt, dürfen in weiten Gebieten der neuen Länder keine Menschen leben. Selbst Tiere leiden unter hoher Kontamination des Oberflächenwassers im Osten Deutschlands. Die Angaben des Bundesumweltministers sprechen eine derart deutliche Sprache, daß ich nicht mehr weiß, was ich den Bürgerinnen und Bürgern von Sachsen, Sachsen-Anhalt oder manchen anderen Gebieten noch raten soll, um sie zu bewegen, in den neuen Ländern wohnen zu bleiben.
Sie hören richtig. Es gibt eine Ost-West-Flucht nicht nur wegen der Arbeitsplätze, sondern tatsächlich auch aus Umweltgründen. Auch in Mecklenburg-Vorpommern, dem Land der Seen, Moore und Flüsse, ist nicht alles trinkbar, was da glänzt. Herr Ehlers wird mir das sicher bestätigen können. Die hohe Nitratbelastung durch eine intensive landwirtschaftliche Produktion hat zu weitläufigen Schäden ganzer Ökosysteme geführt. Auch die riesigen Flächenstillegungen im Osten haben daran nichts Wesentliches geändert. Auf den verbliebenen Feldern wird intensiver denn je gedüngt oder mit Pestiziden operiert. Solche Hilfsstoffe für den Feldbau waren früher in der DDR ein Mangelprodukt. Der Mangel ist jetzt aufgehoben. Nun kann man in die vollen gehen.
In den meisten Kommunen gibt es zwar Ansätze für die Sanierung der Abwasserentsorgung. Den großflächigen Einsatz von Umweltgiften bekommt man dadurch jedoch nicht so schnell in den Griff.
Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion fordert meines Erachtens zu Recht eine höhere Mitverantwortung der Bundesregierung bei der Behandlung dieses für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West dringlichen Problems. Natürlich sind für diesen Versorgungsbereich die Bundesländer in hohem Maße verantwortlich und gefragt.
Aber wie sieht die Realität in den entsprechenden Ministerien aus? Eine Unsumme von Altlasten überfordert die auf eine Normalsituation ausgelegten Mitarbeiterstäbe. Ich übersehe keineswegs die Anstrengungen, die bereits erfolgt sind, und akzeptiere die Bereitstellung entsprechender finanzieller Mittel durch die Bundesregierung. Der Ernst der Situation läßt meines Erachtens keine parteipolitische Profilierung zu.
Die Lösung dieses Problems wird aber noch mehr als jede wirtschaftliche Entwicklung zum Gradmesser für eine gesamtstaatliche, auf das Wohl der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gerichtete Politik gesehen werden. In der Bevölkerung der neuen Bundesländer ist es nur wenig, fast nicht, bekannt, daß die in der alten Bundesrepublik geltenden Grenzwerte zum Teil außer Kraft gesetzt wurden.
Ich unterstütze deshalb besonders, daß gerade im Fall der betreffenden ausgesetzten Parameter Grenzwerte für den Befristungszeitraum — nur für diesen — kurzfristig Schwellenwerte genannt werden, ab deren Überschreitung eine Katastrophenhilfe zur Trinkwasserbereitstellung erfolgen muß. Dies setzt eine noch mehr flächendeckende Kontrolle nicht nur der Wasserversorgungsanlagen voraus, sondern erfordert auch eine intensive Kontrolle der Oberflächenwasser in den neuen Ländern.
Frau Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl hat vor wenigen Tagen hier im Bundestag noch einmal darauf hingewiesen, daß die Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" beim Bundesgesundheitsamt u. a. bis zum 31. Dezember 1991 einen Sanierungsplan vorlegt. Da sich aber gerade in den letzten Tagen immer mehr Grenzwertüberschreitungen gezeigt haben und registriert wurden, die über die Informationen aus dem Untersuchungsprogramm des BMU hinausgehen, darf dieser Bericht der Fachkommission nur der Startpunkt für die Erarbeitung eines bundesweiten Wassersanierungskonzeptes sein. An dessen Weiterentwicklung müssen neben den Regierungs- und Verwaltungsebenen des Bundes, der Länder und der Kreise meines Erachtens auch die entsprechenden Fach- und Umweltverbände beteiligt werden. Ich glaube, gerade hier ist eine Berührungsangst falsch am Platz.
Die ehrliche Offenlegung aller Trinkwasserdaten in den neuen Ländern erfordert aber auch die regelmäßige öffentliche Warnung vor Gefahren und die schnelle und unbürokratische Bereitstellung von finanziellen Mitteln für möglicherweise erforderliche Trinkwasserbereitstellung. Ich glaube aber, daß eine grundsätzliche Beseitigung der Probleme der Trinkwasserbereitstellung in den neuen Ländern nicht allein durch die Sanierung bestehender Altlastschadstoffquellen erreichbar ist. Selbst intensive Bemühungen um eine Wasserverbrauchsreduzierung wären alleine nicht ausreichend. In den neuen Ländern kommt es auch darauf an, die bestehenden Strukturen in der Landwirtschaft zu ändern. Es geht um einen flächendeckenden ökologischen Landbau und um die Entschärfung einer der Hauptbelastungsquellen im Wasserhaushalt.
Wir stimmen der Überweisung des Antrages der SPD zu, weil es keine Alternative gibt.
Die eigentlichen Probleme auf dem Weg zu der auch vom Bundesumweltminister geforderten Umweltunion liegen jedoch noch vor uns. Ich weiß freilich, daß die Bürger in den neuen Ländern gern auf manche Autobahn verzichten würden, wenn nur das Wasser, das ihre Kinder trinken müssen, nicht mehr krank machte.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5461
Dr. Klaus-Dieter Feige
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Pohl das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, mit dem sie den Eindruck vermitteln möchte, daß die Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländer akut gefährdet sei.
Insbesondere soll die Bundesregierung mit diesem Antrag in eine grundsätzliche Verantwortung gezogen werden, die ihr nicht zusteht
und die sie im Interesse eines unverzüglichen Handeins in wirklichen Problembereichen nicht haben sollte. Die Trinkwasserversorgung ist eine Angelegenheit der Kommunen und der Länder.
— Das mag sein. Trotzdem: Hören Sie meinen Ausführungen weiter zu!
Die Länder haben die Trinkwasserversorgung zu überwachen. Die Sache der Bundesregierung kann es allenfalls sein, den Handlungsbedarf zu ermitteln, der gegebenenfalls zu einer Änderung von Rechtsgrundlagen im Bereich der Trinkwasserversorgung führt.
Frau Abgeordnete Dr. Pohl, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Feige zu beantworten?
Ja, Bitte.
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie suggerieren ein bißchen, daß es keine aktute Situation gibt. Widersprechen Sie damit den Aussagen des Bundesumweltministers, der dieses selber mit den Daten so dargestellt hat?
Damit widerspreche ich dem Bundesminister für Umwelt auf keinen Fall. Wir wissen über die Altlasten genau Bescheid. Aber es hat keinen Sinn, wenn wir von der Bundesregierung als solcher alles fordern. Wir können die Mittel nur einmal verteilen. Wenn Sie eine Mark haben, können Sie daraus nicht zehn Mark machen.
Wir müssen vernünftig vorgehen. Ich bin aus den neuen Bundesländern. Man muß doch sehen, daß wir alle noch leben und nicht gestorben sind und daß wir auf der anderen Seite — —
— Wir müssen uns dafür einsetzen. Da stimme ich Ihnen auch voll zu. Aber man kann nicht alles auf einmal über Nacht schaffen. Das ist eine Tatsache.
— Aber Frau Kastner, es geht nicht alles auf einmal. Das müssen Sie doch einsehen.
Es ist unmöglich, die ganzen Altlasten, die vorhanden sind, über Nacht zu beseitigen.
Frau Abgeordnete Dr. Pohl, auch die Abgeordnete Frau Kastner möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Aber ich mache noch einmal auf meine Bemerkung von eben aufmerksam, Frau Kollegin. Bitte sehr.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, das, was Sie gerade gesagt haben — und zwar mit dem Stichwort „Wir leben alle noch" — auch bei Gesprächen mit den Bürgern in den neuen Bundesländern so zu vertreten? Halle, Leipzig, Bitterfeld?
Kommen wir doch hierauf einmal zurück: Unsere Parteien wollten die Einheit schnell. Sie wollten das doch etwas in die Länge ziehen. Nur können wir über Nacht nicht alles auf einmal schaffen. Darüber sind wir uns doch einig.
Frau Dr. Pohl, fahren Sie bitte in Ihren Ausführungen fort.
Das hat die Bundesregierung unverzüglich getan, als der Bundesumweltminister das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Bundesgesundheitsamts mit dem Sofortprogramm „Trinkwasser 1990" mit einer Untersuchung zur Feststellung der akuten Gesundheitsgefährdung durch Rohwasserbelastung bei der öffentlichen Trinkwasserversorgung beauftragte, einer Untersuchung, die unabhängig von dem vielfältig vorhandenen Material der Wasserüberwachung durchgeführt wird, das bei den bezirklichen Wasserwirtschaftsämtern der ehemaligen DDR vorliegt.
Ich weise ausdrücklich auf diesen Punkt hin, weil diese Wasserwirtschaftsämter sehr wohl in der Lage sind, Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung zu ermitteln und abzustellen. Die dort tätigen Mitarbeiter
5462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Eva Pohl
sind genauso fähig wie ihre Kollegen in den Ämtern der alten Bundesländer.
Selbst wenn es ihnen noch an der hochautomatisierten Laboranalytik mangelt, die hier zur Verfügung steht, sind sie doch mit ihren Möglichkeiten durchaus in der Lage, Schadstoffe im Roh- und Trinkwasser und die Überschreitung der durch die Trinkwasserversorgung gegebenen Grenzwerte festzustellen, natürlich nicht mit der hier üblichen Untersuchungsdichte.
Insofern ist der Auftrag an das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene als eine Untersuchung im Sinne eines unabhängigen Gutachtens zu begreifen. Dieses Gutachten liegt seit Juni dieses Jahres vor. Man kann ihm entnehmen, daß in keinem Fall Konzentrationen an gesundheitsgefährdenden Stoffen festgestellt wurden, die zur sofortigen Schließung einer Anlage oder zur Warnung der Bevölkerung Anlaß gegeben hätten.
Gleichwohl gab es in über 30 Fällen Beanstandungen, die zu besonderen Maßnahmen und auch zur Schließung von Brunnen führten, was Sie vorhin kritisiert haben.
Auf diese Beanstandungen haben die Verantwortlichen unverzüglich und angemessen reagiert, so daß bei Nachkontrollen keine Überschreitung von Grenzwerten mehr festgestellt wurde.
Auffällig ist die große Anzahl von Beanstandungen, die auf erhöhte Konzentrationen von Reaktionsprodukten durch Chlorung zurückzuführen sind. Den Trinkwasserversorgern in den neuen Bundesländern wäre deshalb zu raten, stärker auf die vorliegenden Erfahrungen der Trinkwasserentkeimung ohne Chloreinsatz zurückzugreifen. Entgegen der vielerorts geäußerten Vermutung, die Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern sei durch den Pestizideinsatz in der Landwirtschaft gefährdet, lassen die vom Wasser-, Boden- und Lufthygieneinstitut durchgeführten Untersuchungen keine besonders gravierende Belastung des Trinkwassers mit solchen Stoffen erkennen.
Bedenklicher hingegen ist der Rückgriff vieler Wasserversorger auf fäkalbelastete Oberflächengewässer zur Trinkwassergewinnung selbst dann, wenn das Rohwasser aus Uferfiltrat gewonnen wird. Unbestritten bleibt auch, daß die Trinkwasserqualität hinsichtlich der Färbung, der Trübung und des Geruchs sowie mikrobiologischer Parameter und des Stickstoffgehalts nicht den Ansprüchen in den alten Bundesländern genügt.
Dies alles läßt aber nicht den Schluß zu, den die SPD ziehen möchte.
Denn nicht das Handeln der Bundesregierung, sondern das Handeln vor Ort ist geboten.
Die Länder haben die Trinkwasserversorgungsunternehmen zu intensiven und qualifizierten Eigenkontrollen zu veranlassen und diese zu überprüfen.
Die Kommunen müssen für die notwendigen Investitionen sorgen,
um die Trinkwasseraufbereitung auf den heutigen Stand der Technik zu bringen.
— Wir werden Vorschläge bringen; sie kommen gleich.
In Anbetracht dessen, daß hierfür über 50 Milliarden DM notwendig sind, aber die öffentlichen Haushalte — insbesondere die der Kommunen — über lange Zeit noch begrenzt sein werden, dürfen diese allernotwendigsten Investitionsmaßnahmen nicht vom Gewähren öffentlicher Zuschüsse abhängig gemacht werden. Wenn Verbesserungen der Situation der Trinkwasserversorgung schnell erreicht werden sollen, müssen sich privatwirtschaftliche Möglichkeiten erschließen.
Die FDP-Fraktion hat schon mehrmals darauf hingewiesen, daß die Kommunen zu ermutigen sind, sich bei der Finanzierung und dem Betrieb von Trinkwasserversorgungsanlagen privatwirtschaftlicher Möglichkeiten zu bedienen.
Dieses ist der effizientere Weg,
um die von der FDP geforderte Beseitigung von bürokratischen und organisatorischen Hemmnissen für die notwendigen Sanierungsmaßnahmen der Trinkwasserversorgung durchzusetzen.
Wasserversorgungsunternehmen in die Trägerschaft kommunaler Zweckverbände zu übergeben, kann nur ein Weg sein. Die Gründung privater Trägerschaften für die Wasserversorgung ist daneben gleichrangig zu erwägen. Dabei geht es nicht nur um die Mobilisierung privaten Kapitals zur Entlastung der öffentlichen Haushalte, sondern auch darum, die Wirtschaftlichkeit und die Wettbewerbsräume zu nutzen sowie Management und Know-how zu gewinnen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5463
Dr. Eva Pohl
Wir begrüßen deshalb die Initiative des Bundeswirtschaftsministers,
gemeinsam mit den Ministern für Wirtschaft und Umwelt in den neuen Bundesländern die Voraussetzungen für ein privates Engagement zu verbessern. Von der Bundesregierung ist zu erwarten, daß sie sich nicht in eigene neue Meßprogramme der Trinkwasseranalytik stürzt, sondern daß sie den Ländern und den Kommunen Hilfe bei der Verpflichtung von privatwirtschaftlichem Engagement gibt,
und daß sie einen großzügigen Rahmen für zinsgünstige Kredite zur Durchführung von kommunalen Infrastrukturmaßnahmen absichert.
Von den Ländern müssen private und öffentlich-rechtliche Betreiber hinsichtlich der Gewährung der öffentlichen Zuschüsse und der zinsverbilligten Kredite gleichgestellt werden.
Die Förderrichtlinien der neuen Länder und des Bundes sind, soweit dies noch nicht geschehen ist, in diesem Sinne zu ändern. Sehr schnell müssen auch modellhafte Einzelvorhaben eine Anstoßwirkung für die Entscheidung anderer Kommunen entfalten. Ich begrüße deshalb, daß die Wirtschafts- und Umweltminister der neuen Bundesländer gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsminister zu einer Erklärung gelangt sind,
die den Willen für die notwendigen Maßnahmen erkennen läßt, um den viel zu schleppend vorankommenden Prozeß der Umstellung von den alten planwirtschaftlichen Strukturen auf die freie marktwirtschaftliche Entfaltung auch im Infrastrukturbereich der Kommunen voranzubringen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Otto.
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Anwesende! Wollen wir es der Kollegin nicht übelnehmen: Sie war schon 35 Jahre in der Partei.
Nicht ohne Grund haben die alten Griechen dem Wasser unter den damals bekannten vier Elementen des Lebens einen Platz eingeräumt. Wir aber haben seine Bedeutung mißachtet und das Wasser, wo immer es floß, verschmutzt.
Ganz besonders gründlich wurde das in der ehemaligen DDR getan. Vierzig Jahre lang wurde unter dem politischen Druck des herrschenden Systems das Problembewußtsein für die Notwendigkeit von sauberem Trinkwasser kontinuierlich unterdrückt.
Selbst mir als Ärztin, die ich für die gesunde Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern in meinem Bereich verantwortlich war, wurden genaue Angaben über das Trinkwasser verweigert. Nur durch Zufall erreichte mich vor zwei Jahren ein Irrläufer, der auswies, daß aus dem Wasserhahn in meiner Arztpraxis Wasser floß, das biologisch und chemisch unbrauchbar war. Der Zettel enthielt einen Aufdruck: kein Trinkwasser nach TGL.
Natürlich ist unserer Bundesregierung bekannt, daß von den 16 Millionen Einwohnern der ehemaligen DDR 7,6 Millionen kein qualitativ einwandfreies Trinkwasser erhalten. Bekannt ist auch, daß auf Grund der besonderen Situation Grenzwerte bis zum Jahre 1993 bzw. 1995 ausgesetzt werden mußten. Staatssekretär Bernd Schmidbauer stellt fest, man könne die katastrophale Situation von Tag zu Tag besser überblicken. Es besteht also akuter Handlungsbedarf. Die Überprüfung von bisher nur 10 % der Trinkwasseranlagen in der ehemaligen DDR ergab Grenzwertüberschreitungen — es wurde bereits gesagt — bei Cadmium, Aluminium, Lösungsmitteln, Trihalogenmethanen, Nickel, Quecksilber, Blei und Arsen. Aber auch biologische Beanstandungen und stark erhöhte Nitratwerte wurden ausgewiesen. Ein Arzt weiß es: Wo Koli sind, kann Typhus sein.
Vor fünfundzwanzig Jahren war das Wasser aus dem Hausbrunnen meines Heimatbereichs für die Kinderernährung noch tauglich. Es wurde aber unaufhörlich schlechter. Zuletzt gab es nicht einen einzigen Brunnen in meiner Wohngegend mehr, der für die Ernährung eines Kindes tauglich gewesen wäre. In den Brunnendörfern der Region Hainichen werden Nitratwerte bis zu 200 mg pro Liter gemessen. Aber auch kleinere Gruppenversorgungsanlagen haben Werte von über 100 mg pro Liter aufzuweisen. Laut Auskunft des Landratsamts wurden die letzten Messungen vor über einem Jahr durchgeführt.
Das Allensbacher Institut für Demoskopie stellt fest, daß nur 13 % der Bürger der ehemaligen DDR eine Verbesserung der Wasserqualität bemerkten. Dabei kann sich die Bundesregierung aber nicht an die Brust klopfen, denn der Rückgang der Industrieproduktion um 50 %, die Schließung von Braunkohletagebauen und von Papierfabriken arbeiten dem Umweltminister gewissermaßen in die Hand.
Auch unsere Gesundheitsministerin profitiert davon.
Leider fühlen sich Amtsärzte und der Mittelbau der Wasserbehörden alleingelassen. Es fehlen Analysegeräte und Personal. Aus einem Landratsrat klagte mir ein Beamter: Die einzelnen Verwaltungsvorschriften, die uns jede Woche erreichen, sowie die politischen Aussagen, welche Mittel in die Ostländer fließen, nützen uns nichts, wenn sie nicht mit einem un-
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Dr. Helga Otto
mittelbaren Bewilligungsbescheid zweckgebunden verknüpft sind.
Auch die Kommunen fühlen sich bei ihrer Aufgabe überfordert, einwandfreies Trinkwasser an ihre Bürger zu liefern. Fehlende Finanzen und Probleme mit den alten Anlagen plagen sie. Es fehlt auch an ausreichender Beratungskapazität. Nachdem die Bundesregierung im Jahre 1990 etwa 2 Millionen DM für die Ersatzwasserbeschaffung für die Säuglingssonderversorgung bereitgestellt hatte, wurde diese Aufgabe der finanziellen und organisatorischen Maßnahmen auf die einzelnen Bundesländer übertragen, wohl wissend, daß diese damit überfordert sind. So bleibt es denn vorläufig bei der mangelhaften Versorgung unserer Säuglinge mit qualitativ einwandfreiem Trinkwasser.
Sicherlich ist es kein Zufall, daß sich in meiner Praxis in den letzten Jahren Nierenkarzinome gehäuft haben, sind doch gerade diese Nieren für die Ausscheidung von Giftstoffen verantwortlich.
Bei § 2 Abs. 3 der Trinkwasserverordnung, der fordert, daß die Konzentrationen so niedrig gehalten werden, wie dies „nach dem Stand der Technik mit vertretbarem Aufwand unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles" möglich ist, haben wir es mit einer Anhäufung von unbestimmten Rechtsbegriffen und vagen Absichtserklärungen zu tun.
Tür und Tor für die Umgehung der Vorschriften sind bei dem allgemein herrschenden Mangel damit geöffnet. Es fehlen eine verbindliche Rechtsvorschrift zur Trinkwasserversorgung, die Feststellung von Grenzwertüberschreitungen, die Gestaltung von Ausnahmeregelungen und Sanierungsmaßnahmen. Die Forderungen werden in unserem Antrag zur Sanierung der Trinkwasserversorgung in den neuen Bundesländern unterstrichen.
Es wäre bei der Bedeutung des Problems Trinkwasser für den ökologischen und ökonomischen Neuaufbau der neuen Bundesländer nötig gewesen, eine weitsichtige und umfassende Strategie der Zusammenarbeit von Bund, Ländern, Kommunen und Wasserversorgungsunternehmen unter Einbeziehung auch der Landwirte und der Bürger als Verbraucher zu veranlassen. Prophylaxe ist allemal billiger und besser als Therapie.
Lange Leitung bei unserer Bundesregierung auch in Sachen Trinkwasser!
Ich danke.
Nun hat der Abgeordnete Ehlers das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über ein wirklich äußerst ernsthaftes Problem. Um den Antrag der SPD richtig bewerten zu können, ist es meines Erachtens unerläßlich, auf die Leistungen der Bundesregierung und dabei auf die des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu verweisen.
Ich möchte aus diesem Grund auf einige umweltpolitische Aspekte eingehen, die im Antrag der SPD eine Rolle Spielen. Dabei, meine Damen und Herren von der SPD, stelle ich viele Übereinstimmungen fest; das möchte ich vorausschicken.
Es wurde schon auf die Verantwortung der Kommunen hingewiesen. Sie ist sicher in den alten und neuen Ländern unbestritten. Daher wird gegenwärtig an der Kommunalisierung der ehemaligen Volkseigenen Betriebe für Wasserversorgung und Abwasserbehandlung gearbeitet. Dabei stellen nach meiner Auffassung Versorgungssicherheit und vor allem Effizienz die wichtigsten Kriterien für die Umstrukturierung der Wasserversorgung dar.
Ein Großteil der rd. 7 500 Kommunen — da gebe ich Ihnen recht — dürfte nicht in der Lage sein, ohne fremde Hilfe diesen Versorgungsauftrag zu erfüllen.
Deshalb scheint mir die Bildung von Zweckverbänden oder ähnlichen Strukturen notwendig und zweckmäßig zu sein.
Ich möchte aber auch nicht das außer acht lassen, was meine Kollegin von der FDP sagte: Man sollte daneben überlegen, ob man nicht hier und da, wo private Betreiber kostengünstig und sicher die Versorgung betreiben können, dies in Betracht ziehen sollte.
Zu einem weiteren Punkt:
— Ich sagte ja: Viele Übereinstimmungen gibt es.
Das Wassergesetz der ehemaligen DDR — das haben Sie selber in Ihrem Antrag geschrieben — gilt als Landesrecht fort, hat also nach meiner Ansicht die gleiche Rechtsqualität wie die zu erlassenden neuen Landeswassergesetze. Insofern bedarf es in diesem Punkt keiner besonderen Maßnahmen der Bundesregierung, um die Anwendung des Wassergesetzes in den neuen Ländern sicherzustellen; denn nach meinen Informationen wurden in allen neuen Bundesländern Entwürfe von Landeswassergesetzen erarbeitet, die im nächsten Jahr verabschiedet werden sollen.
— Wir haben ja in der alten DDR erlebt, daß Gesetze gut waren, aber nicht erfüllt wurden.
— Dazu komme ich noch.
Ihre nächste Forderung — ich beschränke mich auf den umweltpolitischen Teil — ist grundsätzlich zu begrüßen, da die Durchsetzung des geltenden Rechts
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Wolfgang Ehlers
wohl von jedem Abgeordneten unterstützt werden muß; ich denke hier an alle Fragen der Gülle-Wirtschaft und an die Einhaltung der Bestimmungen in den Trinkwasserschutzgebieten.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf verweisen, daß die von Ihnen erwähnte Düngemittelanwendungsverordnung im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorbereitet wird, mit der die kürzlich verabschiedete EG-Nitrat-richtlinie umgesetzt werden soll. Kernstück des Verordnungsentwurfes ist der flächendeckende Ansatz, wonach das gesamte Gebiet Deutschlands als gefährdetes Gebiet ausgewiesen werden soll. Nach meiner Auffassung werden die strengen Anforderungen der Richtlinie zur Sanierung von mit Nitrat belasteten Gewässern in wesentlichen Punkten bei der Anwendungsverordnung berücksichtigt werden.
Auf Grund der kürzlich verabschiedeten und von Ihnen erwähnten EG -Pflanzenschutzmittelzulassungsrichtlinie wird die Pflanzenschutzgesetzgebung in Deutschland zu novellieren sein — eindeutig; da gibt es keinen Widerspruch.
Mit den für die Richtlinie noch zu erarbeitenden einheitlichen Bewertungsgrundsätzen unter Einarbeitung einer Positivliste, die die für die Umwelt unbedenklichen Wirkstoffe beinhaltet, ist aus meiner Sicht eine Verbesserung des Gewässerschutzes im nationalen Maßstab auf alle Fälle möglich.
Ich komme zu einem letzten Punkt im Zusammenhang mit der Umwelt, zu den Altlasten. Auch hier ist die Zuständigkeit eindeutig geklärt. Ich gehe aber davon aus, daß die Bundesregierung insbesondere die neuen Länder unterstützt. Die Summen, die hierfür im letzten Jahr ausgegeben wurden, möchte ich auf Grund des roten Lämpchens nicht — —
— Im letzten Jahr wurden nach meiner Information alle zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von 500 Millionen DM für über 600 Projekte ausgegeben. Für die Erfassung, Bewertung, Gefährdungsabschätzung der Altlasten werden 70 Millionen DM bereitgestellt. Man geht davon aus, daß insgesamt 1 Milliarde DM erforderlich ist, die zur Zeit noch nicht bereitsteht. Da gibt es keine Widersprüche.
Ich möchte zu diesem Punkt zusammenfassend kurz sagen, daß meiner Meinung nach in Anbetracht der bisherigen und geplanten Unterstützungsleistungen durch die Bundesregierung hier eigentlich Übereinstimmung besteht und aus meiner Sicht ein zusätzlicher Handlungsbedarf nicht erforderlich ist.
Ganz kurz zu meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern, Herr Kollege Dr. Feige, aus dem auch Sie kommen: Wir haben das Glück, daß wir neben dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" haben. Daraus kamen letztes Jahr neben dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost rund 30 Millionen DM, insgesamt 34,3 Millionen DM nur für die Verbesserung der Trinkwasserversorgung. Für nächstes Jahr sind bereits Verpflichtungsermächtigungen für 12 Millionen DM ausgesprochen worden.
Ende letzten Jahres hatten wir bereits den Stand, daß 94,6 % der Einwohner an zentrale Anlagen angeschlossen waren, 4,2 % an Anlagen sonstiger Rechtsträger. Nur 1,2 % der Einwohner versorgten sich aus Eigenwasserversorgungsanlagen. 99,6 % der Einwohner, vor allen Dingen diejenigen, die an zentrale Anlagen und Anlagen sonstiger Rechtsträger angeschlossen sind, erhalten Trinkwasser mit einem Nitratgehalt von 0 bis 40 mg pro Liter.
Das gilt, wie gesagt, für Mecklenburg-Vorpommern.
Herr Abgeordneter Ehlers, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Ihnen seit längerer Zeit gewisse Zeichen gebe.
Ich bin sofort fertig. An meinem Geburtstag durfte ich aus Zeitgründen die erste Rede nicht halten. Heute halte ich meine erste Rede. Deshalb bin ich für das Verständnis des Präsidenten dankbar.
Ich wollte sagen: Die Lage ist ernst. Das darf man nicht verniedlichen. In Mecklenburg-Vorpommern sind wir recht gut dran. Deswegen sind wir Mecklenburger und Vorpommern, vielleicht mit Ausnahme des Kollegen Dr. Feige, mit der Bundesregierung und unserem Bundesumweltminister sehr zufrieden.
Schönen Dank.
Nun erteile ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren von der SPD, für die Öffentlichkeit muß beim Lesen Ihres Antrags der Eindruck entstehen — die bisherigen Beiträge von Ihnen bestärken dies —, die Bundesregierung habe für die Sanierung der Trinkwasserversorgung zuwenig getan.
Dem muß ich aber entschieden widersprechen.
Zur Erinnerung: Bereits im Frühjahr 1990 hatte die Arbeitsgruppe „Trinkwasser" der damaligen gemeinsamen Gesundheitskommission des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR einen Aufgabenkatalog zur Lösung der Schwierigkei-
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
ten bei der Trinkwasserversorgung im Beitrittsgebiet erstellt.
Ich nenne beispielhaft aus den aktuellen und langfristigen Maßnahmen des Katalogs ein Trinkwasser-monitoring in den neuen Bundesländern, die Installation der notwendigen technischen Einrichtungen zur Wasseraufbereitung, um kurzfristig eine Verbesserung der Trinkwasserqualität zu erreichen.
— Frau Kastner, Sie haben sicherlich ein Wissensdefizit. Darum zähle ich Ihnen auf, was wir alles gemacht haben.
Dazu gehört weiterhin die Verringerung des Eintrags von Schadstoffen wie beispielsweise Nitrat oder Pflanzenschutzmittel in das Grund-und Oberflächenwasser, die Beendigung der Einleitung ungeklärter Abwässer und die Sanierung von industriellen und militärischen Altlasten.
Es war von vornherein klar, daß diese Maßnahmen über den unmittelbaren Bereich Trinkwasser hinausreichen und auch Gebiete wie den Umweltschutz
— hier insbesondere den Grundwasserschutz — , die Landwirtschaft, den industriellen und den militärischen Bereich betreffen.
Nach dem 3. Oktober 1990 wurden dem damaligen Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit die „Berichte der Staatlichen Hygieneinspektion der DDR über die Situation auf dem Gebiet der Wasserhygiene 1988 und 1989" bekannt, denen die Zahlen der Ziffer 1 Ihres Antrages entstammen.
Auf Grund dieser Berichte initiierte der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein „Sofortprogramm Trinkwasser", mit dem — unter Koordinierung durch das Bundesgesundheitsamt — mehr als 800 Wasserwerke
auf bestimmte Trinkwasserparameter untersucht wurden, um möglicherweise vorhandene akute Gesundheitsgefährdungen aufzuspüren und zu unterbinden.
Der Abschlußbericht des Sofortprogramms lag zwar erst im Juni 1991 vor. Aber entsprachen die Ergebnisse der Untersuchung nicht den Normen der Trinkwasserverordnung, wurden die G esundheitsb ehörden unmittelbar informiert und vom Bundesgesundheitsamt über die notwendigen und zu ergreifenden Maßnahmen beraten.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Glauchau. Dort wurden
wegen Überschreitung der Grenzwerte für Lösungsmittel sofort Aktivkohlefilter eingebaut. Auch wurden
— als Ergebnis dieser Untersuchung — eine ganze Reihe von Brunnen vom Netz genommen und einzelne Wasserwerke stillgelegt.
Parallel dazu setzte der Bundesminister für Gesundheit bereits im November 1990 die Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser" ein.
— Ich komme noch darauf, seien Sie doch nicht so ungeduldig! — Sie setzt sich aus Fachleuten des Bundesministers für Gesundheit, des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, der Gesundheitsbehörden der neuen Länder sowie der Wasserwirtschaft zusammen.
Frau Kastner, damit Sie durch meine Rede befriedigt werden:
Der Bericht an die EG wird natürlich termingemäß abgegeben; das wollten Sie doch wissen. Die EG-Richtlinie, Frau Kastner, nehmen wir natürlich sehr ernst.
Jetzt geht es darum, alle rund 8 500 zentralen Wasserversorgungsanlagen in den neuen Ländern auf alle Parameter der Trinkwasserverordnung zu untersuchen. Noch 1991 werden von rund 1 000 Wasserwerken, die annähernd 50 % der Bevölkerung versorgen, die entsprechenden Daten vorliegen. 1992 werden die meisten Wasserwerke untersucht sein; damit wird dann die Trinkwasserqualität für mehr als 95 der Bevölkerung bekannt sein.
Entsprechend Ihrem Antrag müßten auch die mehr als 300 000 Eigenwasserversorgungsanlagen in diese Untersuchung einbezogen werden. Angesichts dieser Anzahl ist es allerdings verständlich, daß dies nur in begründeten Einzelfällen geschehen kann.
Die Daten werden der Bundesregierung durch die neuen Länder zur Verfügung gestellt. Die Fachkommission wird sie aus- und bewerten und die betroffenen Wasserversorgungsunternehmen und zuständigen Gesundheitsbehörden im Falle von Grenzwertüberschreitungen bei der Beseitigung der Mißstände beraten. Diese Beratung beinhaltet auch das tolerierbare Ausmaß der Grenzwertüberschreitungen.
Die Fachkommission hilft bereits — entsprechend der Forderung der Opposition — bei der Qualifizierung und Weiterbildung von Personal der Länder sowohl in der Verwaltung als auch in den Gesundheitsbehörden. Vom Bundesminister für Gesundheit sind hierfür bereits Mittel in Höhe von 140 000 DM für Seminare zur Verfügung gestellt worden. Ich werde mich dafür einsetzen, daß diese wichtigen Seminare weitergeführt werden können.
Und weil auch das vorhin angeklungen ist: Wir haben für die Geräteausstattung immerhin 5 Millionen DM bereitgestellt.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Unsere Fachleute beraten die Länder auch bei der Neustrukturierung der Trinkwasserversorgung. Da diese in der Bundesrepublik Deutschland Aufgabe der Kommunen ist, wird zur Zeit an der Kommunalisierung der ehemaligen, nach Bezirken gegliederten Unternehmen für Wasserversorgung und Abwasserbehandlung gearbeitet.
Frau Staatssekretärin, die Frau Kollegin Kastner hat die Bitte um Beantwortung einer Zwischenfrage.
Herr Präsident, da Sie uns auf das Zeitlimit hingewiesen haben, möchte ich davon absehen.
Das ist Ihr gutes Recht.
Die wichtigsten Kriterien bei der Umstrukturierung sind die Versorgungssicherheit und die Effizienz. Deshalb ist hier die Bildung von Zweckverbänden oder ähnlichen Strukturen notwendig; das ist schon gesagt worden.
Angesichts des enormen Investitionsbedarfs
— denken Sie an das völlig überalterte Rohrleitungsnetz — ist zumindest überlegenswert, ob die Kommunen nicht auch private Betreiber mit der Trinkwasserversorgung beauftragen sollten.
— Ich habe Ihnen doch gesagt, der Bericht wird termingemäß abgegeben.
Die Unternehmen müssen sich dann die notwendigen Investitionsmittel auf dem Kapitalmarkt beschaffen.
Ein weiterer Punkt Ihres Antrags betrifft das Wassergesetz der DDR. Bis die neuen Landeswassergesetze in Kraft sind — in Sachsen-Anhalt befindet sich ein entsprechender Entwurf bereits in der parlamentarischen Beratung — gilt das Wassergesetz der DDR als jeweiliges Landesrecht fort. Es bedarf also keiner besonderen Maßnahme der Bundesregierung, um die Anwendung des Wassergesetzes in den neuen Bundesländern sicherzustellen; der Vollzug des Wasserrechts ist allein Ländersache. Ich möchte aber betonen, daß der Bund beim Verwaltungsaufbau der neuen Länder erhebliche Hilfe leistet.
Die Beseitigung der Belastung von Grundwasser mit Nitrat oder Pflanzenschutzmitteln ist nur in langen Zeiträumen möglich. Das ist auch mehrfach zum Ausdruck gebracht worden. Die Forderung nach konsequenter Durchsetzung geltenden Rechts ist deshalb zu begrüßen. Dies beinhaltet jedoch, daß von den neuen Ländern in bereits ausgewiesenen Grundwasserschutzgebieten die Schutzbestimmungen durchgesetzt, zusätzliche Schutzgebiete ausgewiesen und vorhandene Mißstände, wie etwa unzureichende Güllelagerung oder übermäßiges Ausbringen von Gülle aus Massentierhaltungen, beseitigt werden.
Eine Hilfe dazu bietet die Düngemittelanwendungsverordnung, die derzeit vorbereitet und mit der die vor kurzem verabschiedete Nitratrichtlinie der EG in nationales Recht umgesetzt wird. Ich gehe davon aus, daß diese Verordnung erheblich dazu beitragen wird, die Grundwasserbelastung durch Nitrat aus der Landwirtschaft zu vermindern.
Auch die Pflanzenschutzgesetzgebung wird zu novellieren sein, um die kürzlich verabschiedete EGPflanzenschutzmittelzulassungsrichtlinie umzusetzen. Es ist zu erwarten, daß dadurch auch die Belastung von Grundwasser mit Pflanzenschutzmittelwirkstoffen abnehmen wird.
Wie die Durchführung der Trinkwasserverordnung liegt auch die Erfassung, Untersuchung, Bewertung und Sanierung von Altlasten in der Zuständigkeit der Länder. Dennoch unterstützt die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Bemühungen der Länder bei der Bewältigung der Altlastenproblematik.
So hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1990 alle verfügbaren Mittel in Höhe von 500 Millionen DM in über 600 Projekten für Umweltschutzmaßnahmen ausgegeben.
Weiter möchte ich anmerken, daß die Mittel des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ebenfalls überwiegend in die Sanierung der Trinkwasseraufbereitung eingegangen sind.
— Wir machen doch etwas. Ich lese Ihnen das doch andauernd vor. Sie hören offensichtlich nicht zu.
Für die Erfassung, Bewertung und Gefährdungsabschätzung von Rüstungsaltlasten in den neuen Ländern und auf den Liegenschaften der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte sind bereits kurzfristig 70 Millionen DM bereitgestellt worden.
Es wird also aus meinen Ausführungen deutlich, daß die genannten Schwerpunkte von der Bundesregierung bereits berücksichtigt worden sind.
Damit die Trinkwasserqualität in Zukunft den Anforderungen der Trinkwasserverordnung entspricht, werden auch weiterhin Anstrengungen finanzieller Art notwendig sein. Obwohl Länderangelegenheit, wird sich der Bund — nicht zuletzt auch im Hinblick auf seine Verpflichtung gegenüber den Bürgern in den neuen Bundesländern — seiner Verantwortung nicht entziehen.
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Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, diesen Antrag federführend an den Ausschuß für Gesundheit zu überweisen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor wir darüber abstimmen, möchte ich mir die Zustimmung des Hauses einholen, daß die Rede der Abgeordneten Frau Braband zu Protokoll gegeben werden kann. — Dagegen gibt es keine Einwände. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. *)
Wir haben nun folgendes Problem. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP schlagen vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1477 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ausschuß für Wirtschaft, Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Die SPD ist anderer Auffassung. Sie wünscht hingegen, daß der Antrag an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen wird.
Wer stimmt dem Überweisungsvorschlag der CDU/CSU und FDP zu? — Wer stimmt dagegen? — Dann ist das mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen so beschlossen worden.
Damit erübrigt sich eine Abstimmung über den anderen Überweisungsvorschlag.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes sowie Beratung eines Antrages zu den Richtlinien zur Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit
— Drucksache 12/1324 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1737 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Manfred Richter
b) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung
*) Anlage 2
des Bundesministergesetzes
— Drucksache 12/1325 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
— Drucksache 12/1737 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Manfred Richter
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Stasi-Kontakte
— Drucksachen 12/586, 12/1737 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Manfred Richter
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Vollständige Überprüfung von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung auf mögliche Kontakte zum MfS/AfNS und zum BND, MAD, VS und ausländischen Geheimdiensten
— Drucksachen 12/1148, 12/1737 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster Manfred Richter
Zu dem interfraktionellen Gesetzentwurf liegt uns ein Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor.
Interfraktionell wird Ihnen eine gemeinsame Aussprache über die soeben aufgerufenen Gesetzentwürfe und den Änderungsantrag von anderthalb Stunden empfohlen. Ich bitte das Haus um Zustimmung zu diesem Vorschlag, wobei ich bemerken möchte, daß ich, soweit es sich bei den Wortmeldungen um Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung handelt, diese vor der Abstimmung aufrufen werde. Ich behalte mir allerdings vor, wenn es des Guten zuviel wird, diese Wortmeldungen erst nach der Abstimmung zu berücksichtigen. Wer ist mit diesem Verfahrensvorschlag einverstanden? — Das ist das Haus offensichtlich. Dann kann ich das als beschlossen feststellen.
Ich erteile dem Abgeordneten Wiefelspütz das Wort.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5469
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem halben Jahr begann die Diskussion, ob Mitglieder des Deutschen Bundestages auf eine Tätigkeit für die Stasi überprüft werden sollten. Ich war damals mit Leidenschaft der Auffassung, daß eine Überprüfung von frei gewählten Mitgliedern des Bundestages mit der verfassungsrechtlich verbürgten Freiheit des Mandats und der Unabhängigkeit des Abgeordneten nicht vereinbar sei. Ich habe meine Meinung geändert.
Die deutsche Einheit ist ein Vorgang ohne Beispiel, aber auch die Stasi ist ohne Beispiel. Die deutsche Öffentlichkeit wird Tag für Tag mit neuen bestürzenden Tatsachen aus dem Schreckensreich der Stasi konfrontiert. Trotzdem glaube ich, daß wir noch lange nicht die volle Tragweite des Stasi-Syndroms zu überblicken imstande sind.
In dieser Situation kommt dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Parlamente unserer Bundesrepublik besondere Bedeutung zu. In den Landtagen der neuen Bundesländer hat man sich der Verantwortung in eigener Sache gestellt. Dies war und ist ein schmerzhafter Prozeß, der nahezu abgeschlossen ist. Für den Deutschen Bundestag dürfen keine anderen Maßstäbe gelten. Wir wollen gemeinsam auch die Lasten der deutschen Einheit tragen, und der Nachlaß der Stasi ist die schlimmste dieser Lasten.
Nicht ganz wenige Abgeordnete der neuen Landtage sind der Tätigkeit für die Stasi überführt worden. Die meisten — nicht alle — haben das Mandat niedergelegt.
Wir wollen, daß auch die Mitglieder des Bundestages die Möglichkeit erhalten, sich überprüfen zu lassen. Wir wollen kein Tribunal, kein gerichtsähnliches Verfahren im Parlament. Wir wollen keinen Wohlfahrtsausschuß. Im zuständigen Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages sitzt niemand, der Robespierre oder McCarthy hieße. Unsere wochenlangen intensiven Beratungen am vorliegenden Entwurf geben mir Grund zu Zuversicht. Wir wollen keine Guillotine, keine Schlammschlachten. Wir wollen nicht selbstgerecht sein, sondern uns verantwortlich und verantwortungsbewußt einer singulären historischen Situation stellen.
Selbstverständlich müssen wir uns den Spiegel unserer Verfassung vorhalten lassen. Eine Zwangsüberprüfung aller Abgeordneten kommt nicht in Betracht. Ich empfinde es geradezu als einen Hohn, als einen späten Triumph der Stasi, wollte man dem frei gewählten deutschen Parlament ausgerechnet aus Anlaß der deutschen Einheit einen Totalverdacht entgegenbringen.
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Überprüfung darf nur auf strikt freiwilliger Basis erfolgen. Nur bei konkreten Anhaltspunkten für eine Tätigkeit für die Stasi kann eine Überprüfung auch ohne Zustimmung des Abgeordneten erfolgen. Aus naheliegenden Gründen glaube ich, daß dieser Fall kaum praktische Bedeutung haben wird.
Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen? Ich rechne das nicht an. — Bitte, Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Kollege Wiefelspütz, räumen Sie ein, daß eine Mitarbeit für die Stasi für einen Abgeordneten aus Westdeutschland einen Straftatverdacht der Spionage oder des Landesverrats begründen könnte und daß für einen solchen Straftatsverdacht die ordentliche Gerichtsbarkeit und das normale Verfahren — Aufhebung der Immunität — das Übliche sind, nicht freiwillige Überprüfungsbegehren und Untersuchungen durch einen Geschäftsordnungsausschuß?
Herr Kollege Conradi, ich stimme Ihnen zu. Soweit wir das im Moment beurteilen können, wäre die Mitarbeit für die Stasi für einen westdeutschen Abgeordneten voraussichtlich ein Straftatbestand. Nur haben wir hier keine Fragen von Strafe, von Strafwürdigkeit zu beurteilen, sondern hier erklärt sich das Parlament in eigener Verantwortung. Es ist kein gerichtsähnliches Verfahren. Die ganze Verfahrensweise ist auch nicht darauf angelegt, strafwürdige Vorwürfe zu erheben, sondern wir treffen Feststellungen. Die Würdigungen haben die Fraktionen und Gruppen zu treffen und die deutsche Öffentlichkeit.
Ich will fortfahren. Gleichwohl sind eine Reihe von Abgeordneten der Auffassung, eine Überprüfung sei mit der Freiheit des Mandats nicht vereinbar. Auch diese Auffassung ist in allen Fraktionen vertreten und verdient Respekt. Sie wird in dieser Debatte noch zum Ausdruck kommen. Es gehört für mich zu den beeindruckenden Erlebnissen, wie fruchtbar man innerhalb und zwischen den Fraktionen ringen, auch streiten kann um den richtigen Weg in schwierigem Gelände. Ich danke deshalb besonders den Kollegen Hörster, Manfred Richter und Singer, aus gegebenem Anlaß auch den Mitarbeitern des 1. Ausschusses.
— Bitte, Herr Kollege Schily.
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben von einer singulären Situation gesprochen. Da kann man geteilter Auffassung sein. Es gibt ja auch eine historische Situation mit einer Gestapo, deren Tätigkeit vielleicht noch schlimmer war als die der Stasi. Sind eigentlich Abgeordnete des Deutschen Bundestages irgendwann einmal auf Kontakte zur Gestapo überprüft worden?
Herr Kollege Schily, das ist meines Wissens nicht der Fall. Nur, was lernen wir daraus eigentlich? Ich habe den Eindruck — darüber können wir uns bei anderer Gelegenheit auch einmal vertieft unterhalten —, daß die Maßstäbe, die in der Nachkriegszeit herangezogen worden sind, nicht unbedingt unsere Maßstäbe heute sein sollten.
Ich sage das in aller Bescheidenheit; ich mache da anderen gar keine Vorwürfe. Ich bin froh, daß wir uns heute interfraktionell einigen und Maßstäbe vorschlagen, die, wie ich finde, ausgewogen sind. Wenn das früher anders gemacht worden ist, dann bin ich froh, daß wir heute aus der Erkenntnis, daß es damals viel-
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Dieter Wiefelspütz
leicht sehr unvollkommen war, heute andere Maßstäbe einvernehmlich anwenden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geschäftsordnungsausschuß ist kein Gericht, und seine Mitglieder sind keine Richter, schon gar nicht Scharfrichter. Wir wollen auf der Grundlage eines Antrages eines Abgeordneten und unter Wahrung rechtlichen Gehörs feststellen, ob eine Tätigkeit oder Verantwortung für die Stasi tatsächlich vorlag oder nicht. Uns interessieren nüchterne Tatsachen, sonst nichts. Es steht uns nicht zu, Wertungen vorzunehmen oder gar die Empfehlung auszusprechen, das Mandat niederzulegen. Die Fraktionen oder Gruppen des Bundestages müssen eigenverantwortlich, allerdings vor den Augen der Öffentlichkeit entscheiden und begründen, wie mit einem belasteten Mitglied zu verfahren ist.
Die wichtigsten Entscheidungen des 1. Ausschusses bei der Überprüfung bedürfen einer Zweidrittelmehrheit. Hiermit wird deutlich, daß angesichts der möglichen Tragweite der Feststellungen des 1. Ausschusses ein besonders großes Maß an Überzeugungskraft geboten ist.
Es geht nicht um Ächtung oder Boykott eines unserer Kollegen.
— Wir reden, Herr Kollege Conradi, über den Deutschen Bundestag. Ich äußere mich nur sehr zurückhaltend über andere autonome Parlamente, die ihrer eigenen Verantwortung auf ihre Weise gerecht werden müssen.
Ich sage noch einmal: Für uns im Deutschen Bundestag geht es nicht um Ächtung oder Boykott eines unserer Kollegen, sondern es geht darum, daß wir uns dem langen Schatten der Geschichte stellen.
Ich wehre mich gegen die Mystifizierung oder Dämonisierung der Stasi; aber die durch die Stasi hervorgerufenen Verletzungen, Beschädigungen von Menschen und Verwüstungen in der Gesellschaft sind bedrückende Einsichten in das, was menschenmöglich ist und wozu Menschen imstande sind.
Auch unser Differenzierungsvermögen wächst. Das Urteil nach dem Raster „schwarz-weiß" mag in vielen Fällen ausreichend und geboten sein. Allein, es mehren sich die Fälle, bei denen uns eine eigentümliche Unsicherheit beschleicht, bei denen unser Urteil nicht von der erwünschten Sicherheit geprägt ist. Ich bin nicht gegen die vorschnelle und gelegentlich wohlfeile Wendung von Tätern in Opfer. Es gibt aber Verstrickungen, die uns ratlos machen. Der Urteilsspruch mag nicht so recht über die Lippen derjenigen gehen, die ein Urteil fällen müssen.
Dies bedenkend, bleibe ich dabei: Mitarbeit für die Stasi oder gar politische Verantwortung für die Stasi läßt sich grundsätzlich nicht mit einer Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag vereinbaren.
Wer das eigene Volk bespitzelt und unterdrückt hat, wer es hintergangen, verraten und betrogen hat oder wer all dies zu verantworten hatte, gehört nicht in den Bundestag, auch wenn ihm das Mandat nicht entzogen werden kann.
Die praktische Umsetzung des neuen § 44 b Abgeordnetengesetz und der Richtlinien ist für uns alle auch eine Herausforderung und Prüfung, bei der wir versagen oder uns bewähren können. Im Interesse des Ansehens des Bundestages, vor allem aber im Interesse aller Abgeordneten und ihrer schutzwürdigen und schützenswerten Belange wünsche ich uns allen, daß wir diese Herausforderung und Prüfung bestehen.
Schönen Dank.
Jetzt hat der Abgeordnete Hörster das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die seit 1949 in der Bundesrepublik Deutschland praktizierte parlamentarische Demokratie findet ihren entscheidenden Ausdruck darin, daß die vom Volk in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählten Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.
Die Regel unseres Grundgesetzes, daß Abgeordnete allein durch ihre Wahl für ihre verantwortungsvolle Aufgabe legitimiert sind, hat sich trotz des Fehlverhaltens einzelner in der mehr als 40jährigen Geschichte des Deutschen Bundestages bewährt. Gleichwohl ergibt sich für das Parlament nach der ersten unmittelbaren Wahl des Bundestages im wiedervereinigten Deutschland am 2. Dezember 1990 eine besondere Situation.
Auf Grund des bis zu den ersten freien und allgemeinen Wahlen in der ehemaligen DDR am 18. März 1990 herrschenden totalitären SED-Unrechtregimes haben sich sowohl die Mitglieder der damals gewählten Volkskammer als auch der später gewählten Landtage in den fünf neuen Bundesländern davor zu schützen versucht, daß unter dem Deckmantel demokratischer Legitimation Abgeordnete den Parlamenten angehören, die dem früheren Unterdrückungsregime durch hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeit für das Ministerium für Staatssicherheit besondere Dienste geleistet haben. Dabei wurden unterschiedliche Überprüfungsverfahren für die Abgeordneten entwickelt.
Vor allem aus der Bevölkerung in den fünf neuen Bundesländern, aber auch von den dortigen politischen Parteien wird die Forderung erhoben, eine entsprechende Überprüfung der Mitglieder des Deutschen Bundestages zu veranlassen. Tatsächlich stehen hier insbesondere die Abgeordneten aus den fünf neuen Bundesländern unter einem ganz besonderen öffentlichen Druck.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5471
Joachim Hörster
Ohne den Grundsatz aufzugeben, daß der Deutsche Bundestag seine Legitimation allein aus der Wahl seiner Abgeordneten durch das Volk herleitet und daß deswegen eine besondere Überprüfung von Abgeordneten grundsätzlich ausscheidet, will der Gesetzentwurf, über den hier zu beraten ist, einen Weg eröffnen, der der besonderen Situation auch in den fünf neuen Bundesländern Rechnung trägt, zugleich aber die Gleichbehandlung aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages ermöglicht.
Durch eine Ergänzung des Abgeordnetengesetzes wird ermöglicht, daß sich jedes Mitglied des Deutschen Bundestages freiwillig auf eine mögliche Mitarbeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter oder als für das MfS politisch Verantwortlicher hin überprüfen lassen kann.
Darüber hinaus findet eine Überprüfung ohne Zustimmung des Abgeordneten dann statt, wenn konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht einer solchen Tätigkeit oder Verantwortung vorliegen.
— Ich möchte den Kollegen Conradi darauf hinweisen, daß wir bereits nach § 8 der Verhaltensregeln des Deutschen Bundestages
den Tatbestand einer Überprüfung von Amts wegen haben, nämlich dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß sich ein Mitglied des Deutschen Bundestages über seine wirtschaftlichen Beziehungen falsch geäußert hat.
— Es geht nicht um den Mißbrauch, sondern um die falsche Angabe.
Die entsprechende Feststellung trifft der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der in jedem Fall das Überprüfungsverfahren durchführt. Das Überprüfungsverfahren erfolgt auf Grund von Richtlinien, die der Deutsche Bundestag heute zugleich mit dem Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes beschließen soll. Der Kollege Wiefelspütz hat die einzelnen Positionen dieser Überprüfung dargestellt. Deshalb möchte ich von meiner Seite aus darauf verzichten.
Außer im Falle des Vorliegens konkreter Anhaltspunkte — darauf lege ich allerdings Wert — ist kein Abgeordneter — weder rechtlich noch moralisch — verpflichtet, sich überprüfen zu lassen. Jeder trifft seine Entscheidung auf Grund des freien, ihm von den Wählern übertragenen Mandats in freier Verantwortung.
Die Änderung des Abgeordnetengesetzes — auch das bitte ich zu bedenken — beinhaltet zugleich eine
Schutzfunktion für die Mitglieder des Bundestages, die ungerechtfertigt einer Tätigkeit oder politischen Verantwortung für das MfS verdächtigt werden. Sie erhalten nunmehr die Möglichkeit, sich in einem geordneten Verfahren des Deutschen Bundestages gegen solche Vorwürfe zur Wehr zu setzen. Auch das bitte ich bei diesem Gesetzentwurf zu berücksichtigen.
Im Hinblick auf die Anträge der Gruppen der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/DIE GRÜNEN möchte ich keinen Zweifel daran lassen, daß die Freiwilligkeit einer etwaigen Überprüfung die wesentliche Entscheidung bei der heutigen Änderung des Abgeordnetengesetzes ist. Vor der Wiedervereinigung haben 60 Millionen Deutsche im freien Teil Deutschlands das Glück gehabt, aber auch immer wieder den Willen bewiesen, freiheitlich-parlamentarische Demokratie zu praktizieren. Die in mehr als 40 Jahren dort gesammelten Erfahrungen helfen uns auch, die Folgen der 40jährigen Trennung leichter zu überwinden. Die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland sind als Garanten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung unbestritten.
Es wäre — hier darf ich das wiederholen, was der Kollege Wiefelspütz schon gesagt hat — geradezu ein Hohn, ein später Triumph des Unterdrückungssystems des SED-Staates, wollte man das erste frei gewählte gesamtdeutsche Parlament mit einem Verdacht belasten, von dem es sich zum Nachweis seiner Legitimität zunächst befreien müßte.
Ich möchte daher den Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern ausdrücklich dafür danken, daß sie trotz des öffentlichen Drucks, der vor allem auf ihnen lastet, es verstehen und respektieren, daß andere Mitglieder dieses Bundestages auf Grund ihrer politischen Lebenserfahrungen die Regelüberprüfung eines Abgeordneten mit dem Verfassungsgrundsatz des freien Mandats für unvereinbar halten. Die heutige Änderung des Abgeordnetengesetzes baut die Brücke, die es uns erlaubt, bei so unterschiedlichen Lebenserfahrungen offen und freimütig aufeinander zuzugehen.
Noch etwas möchte ich hinzufügen: Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Bespitzelungssystem der Stasi die perfideste Einrichtung war, die das SEDRegime gebrauchte, um Menschen systematisch zu zerbrechen, ihre Lebensschicksale zu zerstören und Mißtrauen und Angst bis hinein in die Familien zu erzeugen. War die Stasi aber das einzige Instrument?
Wie war es in der Hierarchie der Schulen, der Hochschulen, der Betriebe, der Justiz, um nur einige Anhaltspunkte zu nennen?
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Joachim Hörster
Die Befassung mit der Stasi allein wird nicht ausreichen, um den SED-Unrechtsstaat zu begreifen.
Daher sollten wir uns ehrlicherweise darauf ausrichten, daß uns die Folgen des SED-Staates noch sehr lange und aus unterschiedlichen Anlässen beschäftigen werden.
Dennoch möchte ich auch bei dieser Debatte in den Vordergrund stellen, daß uns der Prozeß der inneren Wiedervereinigung unseres Volkes zwar vor neue und bisher nicht gekannte Aufgaben stellt; gleichwohl empfinde ich gerade auch in Anbetracht der Entwicklungen in den ehemals sozialistischen Staaten die inneren und äußeren Umstände, die zur Überwindung der Teilung Deutschlands und zur Erlangung der Freiheit für die Deutschen in den fünf neuen Bundesländern geführt haben, als eine Gnade für unser Volk.
Dafür bin ich trotz aller aktuell zu lösenden Probleme dankbar.
Das Wort hat der Abgeordnete Manfred Richter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann direkt an den Beitrag von Herrn Hörster anschließen. Auch ich glaube, daß wir heute zwar über einen Gesetzentwurf abschließend beraten, die Sache selber aber noch lange Zeit auf der Tagesordnung stehen wird.
Die Aufarbeitung und Bewältigung des Stasi-Erbes wird auch in den nächsten Jahren ein Dauerthema bleiben. Deshalb warne ich vor der Illusion, daß mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs oder nach der Durchführung der Überprüfung von Abgeordneten die Diskussion beendet sein wird. Formal mag das vielleicht zutreffen; aufgearbeitet und bewältigt wird dieser Teil der jetzt gemeinsamen deutschen Geschichte damit aber keineswegs. Da werden uns noch Fragen einholen, die selbst bei der lebhaftesten Phantasie nicht auszumalen sind. Ich halte deswegen sehr viel davon — und möchte das auch durchaus als Anregung verstanden wissen — , daß wir uns fraktionsübergreifend schnellstmöglich damit beschäftigen, in welcher Form wir uns angemessen und ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen können.
Der Kollege van Essen hat vorgestern im Zusammenhang mit der Arbeit der Arbeitsgruppe DDR-Regierungskriminalität darauf hingewiesen, daß das Rechtsstaatsbewußtsein der Bevölkerung auf Dauer nachhaltig Schaden leidet, wenn uns die strafrechtliche Bewältigung von 40 Jahren Unrecht nicht gelingt.
Ich möchte hinzufügen: Das Parlament leidet auf Dauer nachhaltig Schaden, wenn die politische Aufarbeitung von 40 Jahren Unrecht nicht gelingt.
Das Parlament darf in diesem Punkt keine Machtlosigkeit demonstrieren. Dafür hätten insbesondere die Bürger in den fünf neuen Ländern kein Verständnis, und das zu Recht.
Meine Damen und Herren, in einem Beitrag des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts" hat Professor Rittstieg von der Universität Hamburg die Auffassung vertreten, daß der Deutsche Bundestag mit der Überprüfung seiner Mitglieder auf frühere Stasi-Tätigkeit dem Volkszorn folge und damit Recht der Abgeordneten verletze.
Ich zitiere: „Durch die Stasi-Überprüfung würde der Immunitätsausschuß eine billige Karikatur des Wohlfahrtsausschusses aus der Zeit der Französischen Revolution, der nicht nur anstelle des Parlaments, sondern auch über das Parlament herrschte, indem er zahlreiche Abgeordnete ausstieß und sie der Guillotine überantwortete. "
Ich halte diesen Vergleich für maßlos überzogen.
Der Geschäftsordnungsausschuß herrscht nicht über das Parlament. Er ist einer seiner Ausschüsse, also selbst Teil dieses Parlaments. Dennoch glaube ich, daß diese Ausführungen für uns ein Appell sein sollten, ein Appell im Hinblick auf die praktische Durchführung dieser Überprüfung.
Die Mitglieder des 1. Ausschusses und die Fraktionen des Deutschen Bundestages tragen bei der Lösung jedes einzelnen Falles eine große Verantwortung, und wir sollten uns ihrer bewußt sein.
Verantwortung und Schuld für die hauptamtliche oder inoffizielle Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR kann nur individuell nachgewiesen werden. Aufgabe des Ausschusses wird es sein, darauf zu achten, daß möglichst keine Emotionalisierung erfolgt, keine Vorverurteilung vorgenommen wird. Es ist auch sorgfältig selbst der Anschein zu vermeiden, daß es sich um parteipolitische Auseinandersetzungen handeln würde. Es darf keine pauschale Beschuldigung und keine pauschale Ausgrenzung geben. Kurz: Es geht um eine rechtsstaatliche Aufarbeitung.
Meine Damen und Herren, in diesem Gesetz steckt mehr Zündstoff, als dem einen oder anderen vielleicht zur Zeit bewußt ist.
Schon nach den ersten Überprüfungen werden sich die Medien verstärkt des Themas annehmen. Es wird damit auch zu einem Thema in der Bevölkerung. Entscheidend wird deshalb sein, wie wir gemeinsam
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Manfred Richter
— ich betone hier besonders die Gemeinsamkeit — darauf reagieren. Die Überprüfung des Abgeordneten darf für den Betroffenen nicht zu einem Spießrutenlaufen werden.
Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz zur Überprüfung von Abgeordneten auf frühere Stasi-Tätigkeit folgen wir auch nicht dem Volkszorn. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wir wollen verhindern, daß sich der Volkszorn daran entlädt, daß Abgeordnete anders behandelt werden als all diejenigen, die nach dem am 14. November 1991 verabschiedeten StasiUnterlagen-Gesetz überprüft werden.
Nach diesem Gesetz wird eine ganze Reihe von Personengruppen überprüft: Abgeordnete und Angehörige kommunaler Vertretungskörperschaften ; Bundes- oder Landesvorsitzende von politischen Parteien; Personen, die im öffentlichen Dienst des Bundes, der Länder, der Gemeinden, in Gemeindeverbänden, über- oder zwischenstaatlichen Organisationen, in denen die Bundesrepublik Deutschland Mitglied ist, sowie im kirchlichen Dienst beschäftigt sind oder weiterverwendet werden wollen; Personen, die als Notar weiterverwendet oder als Rechtsanwalt tätig bleiben wollen; Vorstandsmitglieder, Geschäftsführer, Betriebsleiter oder vergleichbare leitende Angestellte in Betrieben einer juristischen Person; durch Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Vertretung der Personenmehrheit berufene Personen; Geschäftsführer, Betriebsleiter oder vergleichbare leitende Angestellte in Betrieben einer Personenmehrheit und Personen, die in Verbänden auf Bundes- und Landesebene leitende Funktionen wahrnehmen.
Meine Damen und Herren, es darf nicht der Eindruck entstehen, die Bundestagabgeordneten wollten für sich ein Schlupfloch offenlassen.
Herr Abgeordneter Richter, beantworten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Sehr gern.
Bitte sehr.
Herr Kollege, die Liste der zu Überprüfenden, die Sie gerade vorgelesen haben, bezieht sich ausschließlich auf ostdeutsche Bürger. Wollen Sie diese Liste und diese Überprüfungsmöglichkeit nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz auch auf westdeutsche Bürgerinnen und Bürger übertragen?
Nein, darum geht es ja nicht. Die Frage ist aber, ob wir hier ein Verfahren für die Mitglieder dieses Hauses wollen, in dem wir sie nach Ostabgeordneten und Westabgeordneten separieren. Das hielte ich für ganz fatal.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Bitte sehr.
Herr Kollege, warum halten Sie diese Separierung bei anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes für gerechtfertigt?
Wir diskutieren doch jetzt nicht über das Stasi-Unterlagen-Gesetz, Herr Schily; das haben wir schon getan.
Doch, ich möchte die Logik erfassen!
Wenn Sie mir gestatten, Ihre Frage zu beantworten, dann will ich das gerne versuchen: Wir diskutieren jetzt über das Gesetz, das die Verfahren festlegt, nach denen Mitglieder dieses Hauses überprüft werden sollen. Ich komme auf die Freiwilligkeit noch zu sprechen; ich halte das in der Tat für einen wesentlichen Punkt. Ich sehe durchaus die Probleme, die einige Mitglieder dieses Hauses mit den Regelungen haben. Ich respektiere das auch. Aber ich teile da die Auffassung von Herrn Wiefelspütz, daß dies in dieser exzeptionellen Situation nicht nur notwendig ist, sondern auch schnell durchgeführt werden muß. Meiner Meinung nach ist der Zeitfaktor hier ein ganz entscheidender.
Meine Damen und Herren, ich will es noch einmal sagen: Wir dürfen nicht den Anschein erwecken, als wollten wir ein Schlupfloch für uns selbst. Die öffentliche Diskussion über diesen Verdacht möchte ich diesem Haus und seinen Mitgliedern gerne ersparen. Aber es gibt in der Tat einen Unterschied zwischen den zu überprüfenden Personengruppen nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und nach den Regelungen dieses Gesetzes: Das ist die grundgesetzlich verbriefte Freiheit der Mandatsausübung. Das ist ein hohes Rechtsgut. Ich meine, es wird durch die im Gesetz vorgesehene Regelung nicht angetastet.
Das ist auch der Grund, weswegen wir den Änderungsantrag vom Bündnis 90/GRÜNE ebenso wie die anderen vorgelegten Anträge ablehnen; denn das Prinzip der Freiwilligkeit ist wirklich von absoluter Notwendigkeit, damit an diesem entscheidenden Punkt nicht Zweifel entstehen.
Meine Damen und Herren, Goethe sagte schon 1830:
Der wahre Liberale
sucht mit den Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, soviel Gutes zu bewirken, als er nur immer kann, aber er hütet sich, die oft unvermeidlichen Mängel sogleich mit Feuer und Schwert vertilgen zu wollen. Er ist bemüht, durch ein kluges Vorschreiten die öffentlichen Gebrechen nach und nach zu verdrängen, ohne durch gewaltsame Maßregeln zugleich ebensoviel Gutes mit zu verderben.
Das Gesetz gibt uns ein Instrument zur historischen und politischen Aufarbeitung des Stasi-Unrechts an die Hand. Das Verfahren ist so angelegt, daß es rechts-
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Manfred Richter
staatlichen Grundsätzen entspricht; jeder Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Verfahrens wird ausgeschlossen. Die Richtlinien zum Gesetz machen deutlich, daß wir mit den gewonnenen Erkenntnissen sensibel umgehen wollen und müssen.
Es ist jetzt an uns, dieses Gesetz auszufüllen und vernünftig damit umzugehen. Ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung eines Aspekts der gesamtdeutschen Vergangenheit liegt in unserer Hand.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein ganzes Jahr ist seit der Wahl des 12. Bundestages vergangen, ohne daß es zu einer angemessenen Überprüfung der Abgeordneten auf Stasi-Kontakte gekommen ist. Daß der Überprüfungsbeschluß vom 20. Dezember 1990 selbst in sich aufdrängenden Fällen keine Überprüfung ermöglichte und somit inzwischen anerkanntermaßen nicht befriedigen kann, liegt schon daran, daß die Einwilligung der betreffenden Abgeordneten vorausgesetzt wird. Insoweit sollen mit dem heute anstehenden Beschluß die Weichen offenbar leider abermals in Richtung totes Gleis gestellt werden.
Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat immer wieder eine umfassendere Regelung angemahnt, im Mai förmlich beantragt und jetzt mit einem Gesetzentwurf sowie präzisen Verfahrensrichtlinien auch ausformuliert.
Erst auf den Druck der Bevölkerung und der Überprüfungsergebnisse in den Landtagen im Osten Deutschlands hin haben sich die Fraktionen zu einer weiteren Regelung bequemt. Was dabei jetzt herauszukommen droht, ist allerdings vollkommen unzureichend. Statt der notwendigen obligatorischen Überprüfung aller Abgeordneten wird die nun vorgeschlagene freiwillige Überprüfung nach Angaben aus den Fraktionen sowie Umfragen dazu führen, daß allein aus CDU/CSU und SPD 100 bis 180 Abgeordnete nicht überprüft würden.
Mit Recht fordern nach Umfragen
andererseits 97 % der Bevölkerung eine generelle Überprüfung der Bundestagsabgeordneten ohne Einwilligung,
wie sie Tausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zum Erhalt ihres Arbeitsplatzes derzeit und auch zukünftig hinzunehmen haben. Die Grundlage dessen ist von den gleichen Abgeordneten dieses Hauses beschlossen worden, die jetzt offenbar für ihre Person auf die Freiwilligkeit pochen.
Ein weiterer großer Mangel des Fraktionsentwurfs und der Beschlußempfehlung liegt darin, daß völlig auf den Versuch verzichtet wird, vorab möglichst präzise Kriterien für die Bewertung der etwa festgestellten Stasi-Kontakte festzustellen und dabei die Erfahrungen der Landtage zu nutzen. Außerdem wurde nicht aufgezeigt, welche Empfehlung der Bundestag in bestimmten Fallgruppen abgeben sollte. Dies beides in die Regelung aufzunehmen ist jedoch wichtig, damit bei aller notwendigen Einzelfallwürdigung, Bewertung und Empfehlung im Falle bestimmter Abgeordneter dann nicht nach parteitaktischen Gesichtspunkten entschieden wird. Was sich dazu im Brandenburger Landtag an unwürdigen Szenen abgespielt hat,
sollte uns nachhaltig lehren, daß wir so etwas hier im Bundestag vermeiden müssen.
Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN hat für die zweite Lesung einen Änderungsantrag zu dem Fraktionsentwurf eingebracht, und zwar beschränkt auf die Forderung nach genereller Überprüfung. Da diese Forderung auch von den CDU-Landesgruppen Sachsen und Brandenburg bereits öffentlich unterstützt wurde und da uns auf unsere Bitte an die anderen östlichen Landesgruppen hin bereits weiterer Zuspruch aus den anderen Fraktionen zugesagt wurde, werden wir diesen Änderungsantrag zur namentlichen Abstimmung stellen und bitten für den Beschluß über diese Verfahrensweise sehr herzlich um die nötige Zustimmung von mindestens 34 Kolleginnen und Kollegen.
Für die dritte Lesung bitten wir um Unterstützung unseres Gesetzentwurfs und unseres Antrags, der an den wichtigen Punkten einfach die angemesseneren und ausgereifteren Regelungen enthält. Ich bin mir sicher, daß die Bevölkerung, insbesondere in Ostdeutschland, unsre heutige Abstimmung und das jeweilige Stimmverhalten sehr aufmerksam verfolgen wird, um die Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern bewerten zu können.
Ich danke Ihnen.
Frau Abgeordnete Köppe, darf ich noch einmal präzisieren: Sie beantragen die namentliche Abstimmung ausschließlich für den Änderungsantrag?
— Danke schön. Damit haben wir klare Geschäftsordnungsverhältnisse.
Nun hat die Abgeordnete Frau Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Überprüfung der Bediensteten des öffentlichen Dienstes in der ehemaligen DDR auf Stasi-Tätigkeit, SED-Mitgliedschaft und
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Ulla Jelpke
Mitgliedschaft in den Massenorganisationen wurde zügig durchgeführt. Schon im Sommer 1990 legte das BMI mit entsprechenden Richtlinien für diese Massenüberprüfung die Richtung fest.
Wesentlich schwerer fällt die Regelung der Überprüfungen, wenn es die Abgeordneten des Deutschen Bundestages betrifft. Abgeordnete und Ministerialbeamte verlieren nun ihren vorher gezeigten Schneid. Datenschutzrechtliche und verfassungsrechtliche Bedenken werden nun mit einem Mal zur Schau gestellt. Keine zwangsweisen Überprüfungen wie bei allen Lehrerinnen und Lehrern in der ehemaligen DDR werden durchgeführt, sondern es sollen nur einzelne überpüft werden. Das soll auf freiwilliger Basis vorgenommen werden, und das nur dann, wenn konkreter Verdacht besteht.
Als es um Ihre Überprüfungen ging, meine Damen und Herren, besannen Sie sich plötzlich auf rechtsstaatliche Grundsätze. Für andere, insbesondere für die Parlamente im Osten, wurden die kurzerhand außer Kraft gesetzt. Diese Überprüfungen der Abgeordneten sind in der Tat äußerst fragwürdig und mit der Tradition des Parlamentarismus und insbesondere mit dem Grundsatz des freien Mandats nicht zu vereinbaren.
Ich frage: Wieso haben diese Abgeordneten nicht öffentlich und lautstark protestiert, als alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der ehemaligen DDR zwangsweise überprüft wurden? Deutlicher kann man nicht unterstreichen, wie man das Recht biegt und eine Ungleichbehandlung praktiziert.
Meine Damen und Herren, auch ich wollte an dieser Stelle das Zitat von Professor Helmut Rittstieg aus dem „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" bringen. Ich werde den Abgeordneten Richter an dieser Stelle nur ergänzen, denn dieser Professor hat unter anderem auch davon gesprochen, mit der Änderung des Abgeordnetengesetzes werde das Siegerrecht auch im Abgeordnetengesetz niedergeschrieben.
Meine Damen und Herren, falls denn hier überhaupt noch Argumente zur Kenntnis genommen werden, möchte ich auf die Möglichkeit hinweisen, wenigstens ein demokratisches Prinzip wieder einzusetzen, nämlich das der Gleichheit. Das heißt: Wenn schon, denn schon. Neben dem MfS wurde in den letzten Monaten die organisierte Kriminalität in solchen Zeitungen wie „Bild" , „FAZ", „Welt" als besonders gefährlich, verrucht und verbreitet dargestellt. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, daß besonders viele politische Mandatsträgerinnen und -träger hierin verstrickt sind. Wieso also wird beispielsweise hier keine Überprüfung auf Verbindungen zur organisierten Kriminalität oder zum illegalen Waffenhandel durchgeführt?
Meine Damen und Herren, daß bei den Überprüfungen der Abgeordneten nur eine eventuelle Tätigkeit für das MfS zur Debatte stehen soll, unterstreicht den blanken Versuch der Abrechnung mit dem alten DDR-System. Nicht die schmutzige Arbeit von Geheimdiensten im allgemeinen soll angeprangert werden. Aber Sieger gehen großzügig über solche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hinweg.
Daß bundesdeutsche Geheimdienste und ihre befreundeten ausländischen Dienste jahrelang ohne irgendeine gesetzliche Grundlage — genau genommen ist die erst 1989 hier beschlossen worden — das informationelle Selbstbestimmungsrecht mit Füßen getreten haben, soll irrelevant sein. Daß bundesdeutsche Geheimdienste mit Waffenlieferungen den Tod exportiert haben, soll gleichfalls irrelevant sein, genauso wie die Tatsache, daß Agenten bundesdeutscher Geheimdienste in Mordanschläge gegen Führer von Befreiungsbewegungen verstrickt waren.
— Das ist nicht die Höhe, sondern die Wahrheit! Das sollten Sie selber einmal genauer recherchieren. Dann wüßten Sie auch, daß das von internationalen Menschenrechtsorganisationen angeprangert worden ist.
In den alten Bundesländern wanderten Hunderttausende Linke und Oppositionelle in Staatsschutzdateien und wurden mit Berufsverboten belegt oder bedroht.
Ich gebe Ihnen ein nettes Beispiel. Dazu können Sie ja einmal Stellung nehmen: 1982, als das BKA widerrechtlich gespeicherte Daten aus der NAVIS-Datei löschen mußte, war eine 15köpfige Sonderabteilungsgruppe allein 14 Monate damit beschäftigt, diese Daten zu löschen.
Als West-Linke, die seit 20 Jahren in den Altländern aktiv ist, bin ich mir sicher, daß meine Akte beim VS und Staatsschutz recht dick sein dürfte.
Mir persönlich ist die Vorstellung ausgesprochen zuwider, im Bundestag neben VS- oder BND-Spitzeln oder -Schnüfflern zu sitzen.
— Aber Sieger wollen sich so etwas nicht sagen lassen. Ich weiß, das hören Sie nicht so gerne.
Erst recht sollen daraus keine Konsequenzen gezogen werden können.
Bis heute dürfen nur einige führende Politiker sowie einige hohe Polizei- und Geheimdienstführer wissen, ob der bundesdeutsche Sicherheitsapparat nicht über mehr personenbezogene Daten verfügt als das MfS. Ein umfassendes Akteneinsichtsrecht — das wissen Sie sehr genau — gab es in den alten Ländern nämlich nicht, geschweige denn, daß es überhaupt eine Rechenschaftspflicht darüber gibt.
Hermann Gremliza sagt in der Zeitschrift „Konkret" mit Recht, daß nicht nur der Gebrauch ihrer Macht, sondern ihr Bedarf an Moral die deutschen Sieger zu furchtbaren Siegern macht. Mit dieser angemessenen
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Ulla Jelpke
Moral werden mehr als fragwürdige Abrechnungen durchgezogen, wie der Fall Fink ganz aktuell zeigt,
der eigentlich mehr ein Fall Gauck und ein Fall Erhardt ist. An dem Beispiel Fink sieht Mensch, wie mit Stasi-Akten umgegangen wird.
— Hören Sie doch erst einmal zu! Wir reden im Moment nicht über Herrn Modrow, sondern über Falschanschuldigungen der Gauck-Behörde.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, weniger Zwischenrufe zu veranstalten, damit Sie die Rednerin noch hören können.
Ich freue mich, daß Sie sich auch einmal über ein paar Sachen aufregen. Das zeigt wenigstens, daß Sie mir einmal zuhören.
In Zweifel zu ziehen ist jedenfalls auch das, was Herrn Fink betrifft. Ganz offensichtlich geht es erst einmal gegen den Angeklagten.
Es wird nicht im Grundsatz recherchiert. Stefan Heym charakterisiert das Verfahren treffend — ich zitiere — :
Das System ist in allen Diktaturen verbreitet. Wozu Fragen stellen? Erst einmal Kopf ab! Überschrift: Der Rechtsstaat.
Die PDS/Linke Liste wird also gegen die Änderung des Abgeordnetengesetzes, wie von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/GRÜNE vorgeschlagen,
stimmen. Wenn schon Überprüfung, dann, bitte schön, aller in- und ausländischen Geheimdienste.
Zum Schluß möchte ich noch einige Worte zu den GRÜNEN sagen. Ich finde es sehr bedauerlich, daß immer mehr GRÜNE Abstand davon nehmen, wofür sie einst hier angetreten sind, nämlich gegen alle Geheimdienste vorzugehen. Ich denke, daß das sehr zu bedauern ist, insbesondere wenn man berücksichtigt, daß sämtliche Akten inzwischen bei Verfassungsschutz und BND gelandet sind. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, daß langsam einmal die Zeit kommt, daß sich das Bündnis 90/GRÜNE damit auseinandersetzt, was mit den westlichen Geheimdiensten passiert. Deswegen werden wir auch diesen Antrag ablehnen.
Danke.
Frau Abgeordnete Jelpke, den Ausdruck „Schnüffler" habe ich so verstanden, daß Sie das im Zusammenhang mit Schnupftabak gesehen haben, und sehe deswegen von einer Rüge ab. Andernfalls müßte ich mich gegen den Ausdruck wehren.
Der Abgeordnete Poppe hat das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sehe mich zu dieser Kurzintervention veranlaßt, weil ich hier in aller Öffentlichkeit deutlich machen will, daß es sehr unterschiedliche Motive gibt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen, und daß ich mich mit den von Frau Jelpke genannten Motiven überhaupt nicht einverstanden erklären kann.
Ich verwahre mich außerdem gegen die hier geäußerte Behauptung, die Gauck-Behörde hätte eine Falschanschuldigung getroffen.
Schließlich möchte ich mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, daß die Gruppe der PDS nicht diese — wenn auch späte — Gelegenheit ergriffen hat, daß zu diesem Thema jemand spricht, der auf Grund seiner Vergangenheit in der ehemaligen DDR vielleicht eher dazu etwas auszusagen in der Lage wäre.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Küster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Änderung des Abgeordnetengesetzes durch Ergänzung um einen § 44 b ist die logische Folge der Verabschiedung des Stasi-Unterlagengesetzes. Mit dieser Konsequenz sichert der Deutsche Bundestag, daß er Handelnder ist und nicht Getriebener, daß nicht allein der Bundesbeauftragte gelegentlich der Erfüllung seiner Aufgabe mit der Vergangenheitsbewältigung befaßt ist oder nur die Medien diese ihre Möglichkeiten betreiben. Der Deutsche Bundestag stellt sich verantwortlich dieser Aufgabe.
Die Ergänzung des Abgeordnetengesetzes hat zum Inhalt, daß die Mitglieder des Bundestages beim Präsidenten eine Überprüfung auf hauptamtliche oder
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Dr. Uwe Küster
inoffizielle oder gar politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der DDR beantragen können. In Ausnahmefällen kann eine Überprüfung ohne ihre Zustimmung stattfinden, wenn der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung das Vorliegen von konkreten Verdachtsmomenten für eine solche Tätigkeit festgestellt hat. Als zuständiges Gremium für die Überprüfung benennt das Gesetz den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung.
Bei der Erarbeitung dieses Gesetzes und der Richtlinien zur Überprüfung hat sich der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung seine Aufgabe nicht leicht gemacht. Es gab bei diesem interfraktionellen Gesetzentwurf parteiübergreifend erheblichen Klärungsbedarf. Die durch das Grundgesetz garantierte Unabhängigkeit des Abgeordneten und der ungeheure Legitimationsdruck, der vor allem auf den Abgeordneten der ostdeutschen Länder lastet, sind das Kräftefeld, in dem wir unsere Entscheidung fällen müssen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich hier besonders die Sicht, den Standpunkt eines Kollegen aus den neuen Bundesländern darstellen. Nach dem Untergang des SED-geführten, Stasikontrollierten Staates sind wir zur Aufarbeitung von 40 Jahren DDR-Geschichte verpflichtet. Wir wissen heute erst teilweise, wie der Unterdrückungsapparat Stasi in seinem Wesen funktionierte, wie er seine Mitarbeiter rekrutierte, aus verbohrten Stalinisten, aber auch aus fehlgeleiteten Jugendlichen, die nicht die Chance hatten, ihre Ideen an der Realität demokratischer Strukturen anderer Länder zu überprüfen. Aber wir wissen, wie die Nomenklatura quasi Bestandteil der Staatssicherheit der DDR war. Deshalb ist gerade die Überprüfung auf politische Verantwortung für die Staatssicherheit der DDR ein wichtiger Punkt dieses Gesetzes.
Natürlich waren Herr Modrow und Herr Keller keine Mitarbeiter der Staatssicherheit. Nein, sie waren auf Grund ihrer Position im System der DDR die Auftraggeber.
Sie mußten keine Berichte über Betroffene schreiben, sondern lesen. Die Lageberichte der Stasi bestimmten ihre Handlungen.
Dies wissen die Menschen in den ostdeutschen Ländern. Das treibt sie um. Sie wissen aber auch aus der jüngsten Geschichte, daß es die Strategie der Stasi war, Gruppierungen Andersdenkender in der ehemaligen DDR, die alten Blockparteien und natürlich auch die neuen Parteien zu unterwandern. Im Ergebnis dieser Strategie kamen Mitarbeiter der Stasi in die Landtage der neuen Länder und vielleicht auch in den Deutschen Bundestag. Auch dies wissen die Menschen in den ostdeutschen Ländern. Das empört sie und macht sie unsicher. Sollen, können sie ihren Repräsentanten vertrauen? Es ist gegenwärtig ein breites Mißtrauen zu spüren, verbunden mit einer deutlichen Politikmüdigkeit, frei nach dem Motto: Wir hier unten, ihr da oben. Seid ihr da oben wieder die alten?
— Ich weise diesen Generalverdacht gegen das Parlament entschieden zurück und sage gleichzeitig, daß wir etwas für die Glaubwürdigkeit des Parlaments hier in Bonn tun müssen.
Es sei mir der dezente Hinweis gestattet, daß die Stasi im wesentlichen ein ostdeutsches Problem ist. Sie hatte aber als bevorzugtes Betätigungsfeld die alte Bundesrepublik Deutschland. Auch für diese Art der Verstrickung sind einige Beispiele bekannt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte auf die Richtlinien zur Überprüfung auf eine Tätigkeit oder politische Verantwortung für den Staatssicherheitsdienst der DDR zurückkommen, die sich der Deutsche Bundestag geben wird. In Abs. 1 ist festgelegt, daß das zuständige Gremium seine Entscheidung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder trifft. Das ist ein wichtiges Instrument, wie ich meine, um von vornherein parteipolitisches und parteipolitisch motiviertes Vorgehen zu unterbinden. Davon sind die Entscheidungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung betroffen, insbesondere Entscheidungen über eine Überprüfung ohne Zustimmung des Betroffenen bei Vorliegen konkreter Verdachtsmomente, über das Ersuchen auf zusätzliche Auskünfte des Bundesbeauftragten und über die Feststellung des Prüfungsergebnisses.
Wir halten das Quorum, das wir hier gesetzt haben, für außerordentlich hilfreich. Im Falle eines möglichen positiven Prüfungsergebnisses entsteht ein Zwang zum Konsens, der breite menschliche Erfahrung einbindet, um zu einer gerechten Entscheidung zu kommen. Einige der offengelegten Fälle zeigen, wie bewußte Täter im Laufe ihres Lebens zu Opfern wurden, wie ganz normale, anständige Menschen zu niedrigen Spitzeldiensten gepreßt wurden und wie die Opfer des Regimes zu Tätern gemacht worden sind. Hier ist eine individuelle und differenzierte Behandlung dieser Fälle wichtig.
Die Erfahrungen der Landtage in den fünf neuen Ländern zeigen nur in wenigen Fällen unterschiedliche Standpunkte, die auch nicht so sehr parteipolitischer Natur waren, sondern eher den verschiedenen Erlebnisbereichen der mit der Feststellung der Tatsachen betrauten Menschen entsprechen.
Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ist an eine Feststellung der Tatsachen gebunden. Eine Beurteilung der Tatsachen ist nicht seine Aufgabe. Vor Abschluß der Feststellung werden die Tatsachen dem betroffenen Mitglied des Deutschen Bundestages eröffnet und mit ihm erörtert. Selbstverständlich kann das betroffene Mitglied Einsicht in die beim Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung befindlichen Unterlagen verlangen und sich einer Vertrauensperson bedienen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist für mich eine positive politische Erfahrung, wie die Abgeordneten aus Regierungskoalition und Opposition bei diesem das Hohe Haus betreffenden Gesetz zusammengearbeitet haben, um einen wichtigen Schritt der Vergangenheitsbewältigung zu gehen, die für die künftige Akzeptanz von großer Bedeutung ist. Ich
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Dr. Uwe Küster
habe bei dieser gemeinsamen Arbeit viel von meinen westdeutschen Kollegen und Kolleginnen — unabhängig von ihrem Eingebundensein in eine Partei — gelernt; insbesondere habe ich die Bedeutung des Selbstverständnisses des unabhängigen, freigewählten Abgeordneten erfahren, das für die Funktion der repräsentativen parlamentarischen Demokratie unerläßlich ist.
Ich habe auch den Standpunkt akzeptiert: Muß ich mich jetzt nach jahrelanger Tätigkeit als Abgeordneter überprüfen lassen, ob ich für die Stasi tätig war, die ich in meiner gesamten politischen Arbeit bekämpft habe? Aber gerade jetzt ist es nötig, daß das Vertrauen in den Staat und die ihn repräsentierenden Abgeordneten zu stärken. Der Deutsche Bundestag sollte sich von Verdächtigungen freihalten. Es ist eine Gratwanderung, die für diesen Teil der Vergangenheitsbewältigung nötig ist. In dieser besonderen geschichtlichen Situation haben wir auch eine außergewöhnliche Verantwortung zu tragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluß möchte ich denjenigen Mitgliedern des Hohen Hauses aus den westdeutschen Ländern, die sich keiner Überprüfung unterziehen wollen, meinen Respekt vor ihrer Entscheidung übermitteln. Ich bitte sie aber auch, den geschichtlichen Hintergrund der Ostdeutschen zu verstehen und deren Willen zur Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte zu unterstützen. Ich hoffe, daß dieses Gesetz mit einer breiten Mehrheit verabschiedet wird.
Ich danke Ihnen.
Nun spricht die Abgeordnete Frau Brudlewsky.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir gehen vorsichtig tastend diesen ungewohnten Weg: Ein Parlament, welches Einsicht nehmen möchte in Schriftstücke, die uns Parlamentarier betreffen, von Menschen geschrieben, die uns in Schubladen steckten und Teile unseres Lebens in Panzerschränken stapelten. Es wird viel Schmutz zutage treten, zusammengetragen von den großen und kleinen Schmutzfinken vergangener Zeit. Es schaudert mich bei dem Gedanken, daß im Leben eines jeden Parlamentariers gewühlt werden kann, auch in meinem.
Trotz des verfassungsrechtlich geschützten freien Mandats und der Unabhängigkeit der Abgeordneten wollen wir diesen besonderen Beitrag zur Vertrauensbildung freiwillig leisten. Wir wollen es durchstehen. Denn es ist wichtig, daß das Gerede derer aufhört, die da meinen: Ob der nicht auch ein Stasi war? Ob die nicht auch IM war?
Wir wissen durch viele Gespräche: In der ehemaligen DDR gab es erstens die Menschen, die in der Nische gelebt haben. Ein Teil von ihnen hatte resigniert. Ein anderer Teil — er ist nicht gering — hat nicht resigniert. Sie versuchten, nach ihrem Gewissen zu leben, und verzichteten oft auf höhere Posten. Von solchen haben wir sehr viele hier im Parlament. Auch ich zähle mich dazu.
Es gab — zweitens — Menschen, die als offizielle oder inoffizielle Mitarbeiter der Stasi oder als hohe SED-Funktionäre überzeugt waren, das Richtige zu tun. Zur Zeit gibt es bei Entdeckungen nur solche Edlen. Wir möchten gerne wissen, ob diese Edlen auch unter uns sind.
Es gab — drittens — die Menschen, die für Geld oder Vorteile ihre Gesinnung verkauften. Diese gab es nach vielen Aussagen heute nie. Sie müssen erst recht entlarvt werden.
Und es gab die großen Täter, die Auftraggeber, die alle Privilegien genossen. Viele genießen sie leider heute noch. Haben wir solche unter uns?
Es gab die Mutigen, die im Verborgenen und später immer offener die Revolution vorbereiteten. Auch diese haben wir unter uns: im Bündnis 90, in der SPD, in der FDP und in der CDU.
— Auch unter uns.
Denken Sie an Herrn Eppelmann.
Die Revolution — das ist einmalig — war die Revolution der Kerzen. Auch jetzt soll es so bleiben. Keine Gewalt, kein lodernder Haß! sollte weiterhin unsere Devise bleiben. Aber das geht nur, wenn man das Volk nicht noch reizt. In einem kleinen Büchlein „Die Wahrheit über die Ossis" zeigt ein Herr Rainer Schwane mittels einer Karikatur zwei Männer. Der eine sagt: „Wie geht's?" Da antwortet der andere: „Gut — ein tolles Gefühl, unter 16 Millionen Widerstandskämpfern zu leben! "
Das Mißtrauen geht landesweit um, von den Kommunen angefangen bis hin zum Bundestag. Auch hier möchte ich sagen: Der Apparat der Stasi war der gemeinste Teil der Unterdrückung der SED, aber bei weitem nicht der einzige. Die Menschen hatten auch unter den Kaderleitern in den Betrieben, unter Teilen der Volkspolizei und der Grenztruppen zu leiden, die alle in den mittleren und oberen Etagen Hilfstruppen der Stasi bei der Unterdrückung des Volkes waren.
Wir brauchen klare Verhältnisse, Ruhe und Ausgeglichenheit bei unserer verantwortungsvollen Arbeit als Parlamentarier. Die Vertrauenskrise muß überwunden werden, und zwar sehr bald. Wir sollten uns in Zukunft gegenseitig wieder achten können, damit nicht mehr vorkommmt, wie z. B. mir im Hause geschah. Man wird von irgend jemandem angegriffen, weil man in der Ost-CDU war. Ich dachte: Was will denn der? Ich hätte gern einmal die Einleitung zu seiner Doktorarbeit gelesen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5479
Monika Brudlewsky
Lassen Sie sich eines sagen. In der DDR parteilos gewesen zu sein ist kein Persilschein. Das haben wir schon oft genug gehört.
Es gibt auch einen Abgeordnetenkollegen, der mit mir redete und dann sagte: Eigentlich könnte ich Ihnen vertrauen, wo Sie mir so gegenübersitzen. Aber bei mir zu Hause war ein Bürgermeister auch ganz sauber. Er schien so. Ich hatte großes Vertrauen. Dann aber kam der Schock: Er war inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Das sitzt in diesem Abgeordneten tief. Das nagt. Mein Gesprächspartner meinte, er glaube nun keinem mehr.
Das Stasi-Gespenst steht zwischen uns. Das StasiGespenst verunsichert uns in der Begegnung miteinander, ganz abgesehen von den Wählern, die uns zwar vertrauten, aber durch die Diskussion immer wieder fragen: Warum laßt ihr euch nicht überprüfen, wenn ihr sauber seid? Diese Möglichkeit der freiwilligen Überprüfung wird uns helfen, mehr Vertrauen zu haben und zu erhalten.
Es gibt natürlich wiederum Furcht: Welche Namen werden mir begegnen? Werden Freunde dabei sein, Nachbarn, Mitglieder der Gemeinde?
Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes beugt weiteren Verdächtigungen vor. Jeder hat nun die Möglichkeit, freiwillig in seine Akte Einsicht zu nehmen. Wir Abgeordnete aus den neuen Bundesländern werden unseren Wählern keinen Anlaß zu Mißtrauen geben wollen und schnellstens eine Überprüfung beantragen. Ich nehme das jedenfalls an.
Die westdeutschen Kollegen sollten wir nicht bedrängen. Sie haben den Druck im Wahlkreis nicht wie wir. Aber ich habe schon von vielen gehört, die zu Besuch in der ehemaligen DDR waren, daß sie sehr interessiert sind, ihre Akte einzusehen, falls es eine gibt.
Bei ihnen liegt der Fall ja auch anders. Sie haben nie in diesem System gelebt, von eiligen dienstlichen Kontakten abgesehen, die sicher bespitzelt wurden, und auch da besteht bei den westdeutschen Kollegen die Sorge, inwieweit der Spitzel die Ereignisse ausgemalt und eventuell verfälscht hat.
Es erfordert sicher von unseren westdeutschen Kollegen großes Einfühlungsvermögen in unsere Situation, um die einzelnen zu bewegen, aus Solidarität mit uns diese Überprüfung mitzumachen. Ich möchte Sie herzlich darum bitten, weil es uns allen nützt, es zu tun. Je eher wir das alles gemeinsam hinter uns bringen, um so eher kann zumindest bei uns Ruhe einziehen, und da hilft die Freiwilligkeit sicher mehr, als wenn man Zwang ausüben würde.
Manchmal habe ich den Eindruck — und der wird sicher nicht falsch sein — , man möchte nach altem Strickmuster der sozialistischen Ära alle Bonner Politiker vorführen, vor allem diejenigen, die sich in letzter Zeit hohe Verdienste bei der Wiedervereinigung erworben haben. Aber wir sollen doch festhalten: Es geht hauptsächlich um die Aufarbeitung der StasiVergangenheit in der ehemaligen DDR und nicht um irgendwelche Abrechnungen an Parlamentariern der alten Bundesländer. Die wahren Stasi-Täter haben derweil noch immer die Fäden in der Hand und lachen sich ins Fäustchen. Die Aufarbeitung hat die Partei dort ganz links bisher eher behindert als gefördert.
Wie war es denn z. B. während der Modrow-Zeit, als die billigen Häuser in Berlin zu Schleuderpreisen an linientreue Genossen verkauft wurden? Ich möchte nur daran erinnern.
Die Partei PDS — sie lenken jetzt wieder so von sich ab, und diese Täter, die von sich ablenken, sitzen eventuell weiter mit schneeweißen Westen im Parlament, und das darf nicht sein!
Darum ist es gut, daß trotz aller Freiwilligkeit insgesamt in Einzelfällen doch gegen den Willen der Abgeordneten überprüft werden kann, wenn denn konkrete Verdachtsmomente das erforderlich machen.
Frau Abgeordnete, der Abgeordnete Dr. Seifert möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Ich möchte keine Frage beantworten. Das Thema ist so ernst und so brisant; ich möchte sagen, das lasse ich jetzt.
So besteht durch diese Freiwilligkeit und durch dieses neue Gesetz die Chance, daß wir wirklich ein Parlament von ehrlichen Demokraten sein werden und nicht von heuchlerischen Wendehälsen.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hoth.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte wurde es bereits mehrfach gesagt: Für den erfolgreichen Abschluß des langjährigen Prozesses der deutschen Wiedervereinigung ist die Aufarbeitung des geschichtlichen Erbes „Stasi-Vergangenheit" eine wichtige Voraussetzung.
Daher wurde bereits im Einigungsvertrag festgeschrieben, daß Personen, die — im weitesten Sinne — politische Verantwortung tragen, einer Überprüfung auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu unterziehen sind. Da die Mitglieder des Deutschen Bundestages in besonderem Maße politische Verantwortung tragen, ist ihre Überprüfung auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit die logische Konsequenz. Es ist meiner Meinung nach unumgänglich, daß wir feststellen, ob Abgeordnete mit StasiVergangenheit im Deutschen Bundestag vertreten sind. Es wäre doch eine groteske Vorstellung, wenn Mitglieder des Bundestages als Vertreter des Volkes
5480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Sigrid Hoth
auftreten könnten, das sie noch vor kurzer Zeit schikaniert haben.
Genauso untragbar ist es jedoch, ungerechtfertigte Vorwürfe und Verdächtigungen zuzulassen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auf Grund der geltenden rechtlichen Regelungen hat die konkrete Ausgestaltung des Überprüfungsverfahrens für Bundestagsabgeordnete jedoch einige Schwierigkeiten bereitet. So wird in § 2 Abs. 1 des Abgeordnetengesetzes garantiert: Niemand darf gehindert werden, sich um ein Mandat im Bundestag zu bewerben, es anzunehmen oder auszuüben, und deswegen — nur deswegen, Frau Kollegin Köppe — darf auch kein Abgeordneter zwangsweise überprüft werden. Gerade wir beide aus der ehemaligen DDR sollten doch froh sein, daß wir jetzt in einem Staat leben, in dem Grundgesetz und Verfassung nicht nur auf dem Papier stehen, sondern tatsächlich umgesetzt werden.
Frau Kollegin Köppe, ich kann einfach nicht glauben, daß es Ihr Wunsch sein sollte, dies zu ändern.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sieht deshalb die freiwillige Überprüfung aller Abgeordneten vor.
Frau Dr. Hoth, jetzt möchte Frau Köppe gerne eine Zwischenfrage stellen.
Wenn Sie die Uhr anhalten.
Ich halte die Uhr an. Sie können ganz beruhigt sein.
Ja, bitte.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete Köppe.
Ist Ihnen bekannt, daß es verschiedene Rechtsgutachten gibt, die sich genau mit der Frage beschäftigen, ob die freiwillige oder die generelle Überprüfung auf verfassungsrechtliche Bedenken stößt, und daß in diesen Rechtsgutachten festgestellt wird, daß es sowohl gegen die freiwillige wie auch gegen die generelle Überprüfung keinerlei verfassungsrechtliche Bedenken gibt?
— Das steht so drin.
Frau Kollegin Köppe, mir ist bekannt, daß jeder Abgeordnete das Recht auf freie Mandatsausübung hat. Ich persönlich möchte an keiner Stelle Zwang gegen einen Abgeordneten ausgeübt sehen.
Auch wenn mir an dieser Stelle ein anderes Verfahren angenehmer wäre, so sehe ich doch hier die verfassungsrechtliche Notwendigkeit ein, der ich mich beugen will.
Durch eine schriftliche Erklärung können die Abgeordneten freiwillig ihre Überprüfung beim Präsidenten beantragen. Eine Stasi-Überprüfung soll aber auch ohne Zustimmung des Abgeordneten stattfinden können, wenn der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung das Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten auf Verdacht einer Tätigkeit für die Staatssicherheit mit einer Zweidrittelmehrheit festgestellt hat.
Die Überprüfung soll nach den Richtlinien erfolgen, die dem gemeinsamen Antrag beigefügt sind. Danach ersucht der Präsident des Bundestages den Sonderbeauftragten für die Stasi-Unterlagen um Mitteilung aus den Unterlagen; über das Ersuchen muß der Abgeordnete in Kenntnis gesetzt werden.
Bevor durch den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung festgestellt wird, ob ein Abgeordneter belastet ist, sind mit dem Betroffenen die festgestellten Tatsachen zu erörtern. Die Überprüfungsergebnisse werden durch den Ausschuß unter Angabe der wesentlichen Gründe als Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Erklärungen des betroffenen Abgeordneten können, wenn von diesem gewünscht, ebenfalls in diese Drucksache aufgenommen werden. Eine Veröffentlichung soll entfallen, wenn der Betroffene sein Mandat vorher niedergelegt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihnen allen ist bekannt, daß die Überprüfung der Abgeordneten jedoch nicht völlig unumstritten ist. Häufiges Argument ist die Sorge, mit der Überprüfung auch die Rechte Dritter einzuschränken öder deren Ansehen bzw. dem Ansehen des Deutschen Bundestages zu schaden. Die Richtlinien des Gesetzentwurfes und die Verfahrensweise im Wahlprüfungsausschuß scheinen mir jedoch Gewähr dafür zu sein, daß auch die Rechte Dritter gewahrt bleiben und eine parteipolitisch geprägte Auseinandersetzung verhindert wird.
Die Gegner einer Überprüfung bitte ich aber auch, sich vorzustellen, welcher Eindruck insbesondere bei den Menschen in den neuen Bundesländern entstehen würde, wenn z. B. die Mitarbeiter der Verwaltungen in den neuen Bundesländern überprüft und bei nachgewiesener Stasi-Tätigkeit entlassen werden, die obersten Volksvertreter sich selbst jedoch nicht überprüfen ließen. Letzteres, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde meiner Ansicht nach dem Ansehen des Parlaments tatsächlich Schaden zufügen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5481
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe großes Verständnis für die Forderung unserer ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen und vieler ihrer Wähler, aufzuklären, wer unter uns in die Aktivitäten des Miniteriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR verstrickt war. Ich will dem Gesetzentwurf gleichwohl nicht zustimmen. Ich spreche hier nicht für die Mehrheit meiner Fraktion, die — ich bedaure das — dem Gesetz zustimmen wird, sondern für die Kolleginnen und Kollegen, die nicht zustimmen. Ich weiß aber, daß auch einige, die zustimmen, meine grundsätzlichen Bedenken teilen und ernst nehmen.
Nach Art. 38 Abs. 1 sind wir als Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, nur unserem Gewissen unterworfen. Unsere Immunität nach Art. 46 des Grundgesetzes schützt uns nicht als Personen, sondern als die frei gewählten Vertreter des Volkes vor Pressionen der Regierung oder der Justiz. Diese Immunität ist also kein Privileg, sie ist Ausdruck des Respekts vor der Vertretung des Volkes.
Das freie Mandat nun, so meine ich, erlaubt keine Überprüfung, auch keine freiwillige. Wir haben hier den Zungenschlag gehört: Wer nichts zu verbergen hat, der muß eine Überprüfung nicht scheuen. Das ist ein böses Argument, das in einem Rechtsstaat nichts zu suchen hat.
Das freie Mandat erlaubt schon gar keine Zwangsüberprüfung auf Tatbestände, die vor der Wahl liegen. Es ist vorhin schon in der Frage angeklungen, daß es sich bei westdeutschen Abgeordneten hier möglicherweise um einen Straftatbestand handelt, nämlich den des Landesverrats oder der Spionage. Bei dem Verdacht auf Straftatbestände gibt es im Rechtsstaat keine Untersuchung und keinen Geschäftsordnungsausschuß, sondern mit der Aufhebung der Immunität des Abgeordneten ein klar umrissenes Verfahren.
Ich verstehe die Absicht, nicht nur die Informellen, sondern auch die Amtlichen Mitarbeiter des DDRStaatssicherheitsdienstes herauszufinden und auch die zu benennen, die politische Verantwortung trugen. Nur, wo kommen wir denn damit hin? Die ostdeutschen Wähler haben am 2. Dezember 1990 Herrn Modrow gewählt — in Kenntnis seiner Funktion, in Kenntnis seiner Machtbefugnisse, in Kenntnis dessen, was er getan hat.
Herr Wiefelspütz hat in der ersten Lesung gesagt, er sei der Meinung, die politische Verantwortung für die Stasi sei mit einer Mitgliedschaft im Bundestag nicht vereinbar. Ich teile seine Meinung.
Aber weder Herr Wiefelspütz noch ich noch eine Zweidrittelmehrheit des Hauses hat das Recht, den Wählerwillen zu korrigieren.
Wir haben auch nicht das Recht, solche Abgeordneten zu ächten.
— Einen Moment, Herr Präsident. — Ich finde das, was im sächsischen Landtag geschieht — Abgeordnete unter Druck zu setzen, sie mit massivem Druck zum Rücktritt zwingen zu wollen, ihre Anträge nicht mehr zu behandeln — , eines Parlaments unwürdig.
Herr Abgeordneter Wiefelspütz, Sie haben das Wort.
Herr Conradi, ich finde es — dies sage ich wirklich ohne jede Ironie — großartig, wie sehr wir um die Problematik, die uns hier betrifft, ringen können. Aber wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß nach dem § 44b Abgeordnetengesetz, also im Gesetz neuer Fassung, und den Richtlinien nicht die Rede davon sein kann, daß ein Abgeordnetenmandat aberkannt wird! Dies ist nicht vorgesehen.
Wir haben ja die Feststellungen gelesen, die das Präsidium zu den Abgeordneten Modrow und Keller getroffen hat. Ich sehe keine Notwendigkeit, in einem Überprüfungsverfahren im Geschäftsordnungsausschuß Feststellungen über die politische Verantwortung zu treffen, die nicht seine Sache sind.
Ich will das NS-Regime nicht mit der Diktatur der SED gleichsetzen,
obwohl es da durchaus Vergleichbares gibt. Aber ich will an das Thema der ungesühnten Nazi-Justiz erinnern. Als Anfang der 60er Jahre bekannt wurde, daß 800 Richter von Volksgerichten, Sondergerichten und Wehrmachtsgerichten noch im Dienste der Republik waren, die zum Teil unvorstellbare Todesurteile gefällt hatten — 45 000 Todesurteile allein durch die Sondergerichte, 30 000 Todesurteile an deutschen Soldaten durch die Wehrmachtsgerichte — , hat der Bundestag diese Richter nicht entlassen. Er hat diesen furchtbaren Juristen nur angeboten, in Pension gehen zu können, wenn sie das wollten — eine führwahr milde Strafe!
Der Bundestag wollte das Rechtsstaatsprinzip des Art. 97 GG, daß Richter im Grundsatz nicht absetzbar sind, nicht durchlöchern, auch nicht für die Blutrichter der Nazis.
Auch ich will das Rechtsstaatsprinzip des freien Mandats nicht durchlöchern, auch nicht für die Stasi. Zu
Recht ist hier angemerkt worden, daß es im Bundestag
5482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Peter Conradi
zu keiner Zeit eine Untersuchung darüber gegeben hat, welche Abgeordnete für das Reichssicherheitshauptamt oder die Gestapo mitgearbeitet haben.
Wir müssen das Stasi-Problem politisch lösen, nicht juristisch. Die Parteien haben die Möglichkeit, für die Wahl 1994 ab 1993 alle Abgeordneten, alle Kandidaten — das sind ja wohl die meisten, die hier sitzen —zu untersuchen. Die Parteien können dann bewerten, ob sie diese aufstellen oder nicht aufstellen.
Sie müssen das tun, was der Geschäftsordnungsausschuß nicht kann und nicht darf.
Neben den verfassungsrechtlichen Bedenken habe ich auch andere Vorbehalte. Ich muß sagen, ich bin betroffen über die Selbstgerechtigkeit, mit der hier in einigen Reden gesprochen worden ist.
— Ich finde, Herr Kollege Weng, das Wort des Bundeskanzlers von der „Gnade der späten Geburt" ein gutes Wort — vielleicht am falschen Platz, aber im Prinzip war es ein gutes Wort.
Ich bin froh, daß ich 1932 und nicht 1922 geboren bin. Nun kommt zur Gnade der späten Geburt auch noch die Gnade des richtigen Wohnsitzes: 1945, 1949 oder 1961. Was wissen wir, die wir das Glück der späten Geburt und das Glück des richtigen Wohnsitzes hatten, von den Nöten der Menschen, die in einem Zwangsstaat, in einer Diktatur leben, denen sie ausgesetzt sind.
In der Haushaltsdebatte hat der Bundeskanzler gesagt:
— Ich will das zu Ende führen, dann gerne.
Der Bundeskanzler hat in der letzten Woche gesagt:
Beim Umgang mit der Vergangenheit im SEDRegime müssen die Deutschen im Westen die notwendige Zurückhaltung üben, wenn sie die Verhältnisse von Menschen beurteilen, die in einer ganz anderen Lage waren. Wer in Freiheit gelebt hat, muß sich ehrlich fragen, wie er sich in einer Diktatur verhalten hätte, ob er sich in eine Nische zurückgezogen hätte. Wer weiß schon, wieviel Mut er selbst gehabt hätte.
Soweit der Bundeskanzler. Ich sage Ihnen: Wir sind doch politische Menschen. Wir sind extrovertiert und an Macht interressiert. Wir sind sicher gelegentlich auch opportunistisch und in Maßen eitel. Was wäre denn aus uns geworden? Was wäre aus mir geworden, wäre ich in der DDR aufgewachsen? Ein Kombinatsleiter oder ein Professor oder ein Parteisekretär der SED? Ich kann die Selbstgerechtigkeit, mit der hier
aus dem Westen über die Verhältnisse in Ostdeutschland geredet wird, nicht gut finden.
Der Abgeordnete Dr. Brecht möchte eine Frage stellen. Sie beantworten diese? — Bitte sehr, Herr Dr. Brecht.
Herr Abgeordneter Conradi, Sie haben von der Gnade der späten Geburt gesprochen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Widerstand gegen dieses Gesetz nicht aus den Reihen der ostdeutschen Abgeordneten, sondern gerade aus den Reihen der westdeutschen Abgeordneten kommt?
Das habe ich zur Kenntnis genommen. Aber ich habe mich hier auf eine Selbstgerechtigkeit bezogen, mit der hier geredet worden ist. Ich sage, wer sich als westdeutscher Abgeordneter hier eilfertig freiwillig überprüfen läßt und dann als sauber ausweisen läßt, der handelt eher selbstgerecht als gerecht. Da werfen manche mit Steinen auf andere, die ohne eigenes Verdienst schuldlos sind.
Ich habe als junger Mensch gegen die Verdrängung des Naziunrechts, gegen die Globkes und Oberländers demonstriert. Es ist gut, daß das DDR-Unrecht nicht wie damals 15 Jahre lang unter den Teppich gekehrt wird, sondern daß wir darüber reden. Wir müssen daran arbeiten, nicht in Form von Tribunalen, bei denen die Selbstgerechten über die Ungerechten entscheiden, sondern in mühsamer Aufklärung und Erinnerung.
Es ist für viele Menschen in Ostdeutschland bitter, daß es nachträglich keine vollkommene Gerechtigkeit gibt. Der Preis für vollkommene Gerechtigkeit wäre zu hoch. Die schreckliche Saat der Stasi würde aufgehen, würden wir hier auf vollkommene Gerechtigkeit drängen. Ich will den Preis einer Durchlöcherung des freien Mandats durch den vorliegenden Gesetzentwurf nicht zahlen, und ich hoffe, daß viele von Ihnen diesem Gesetzentwurf so wie ich nicht zustimmen werden.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Schwalbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag verabschiedet heute ein Gesetz zur Selbstüberprüfung auf eventuelle Verstrickung mit dem Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Wegen der unterschiedlichen Befindlichkeiten haben wir uns damit sehr schwergetan, aber insbesondere auch wegen der Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Dies war gut so. Ich meine, wer dem Grundgesetz zugestimmt hat, muß diesem auch Rechnung tragen.
Die Aufarbeitung des SED-Unrechtsregimes und insbesondere der Bespitzelungstätigkeit der Stasi ist ein zentrales Anliegen der Menschen in den neuen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5483
Clemens Schwalbe
Bundesländern und wird vielfach von den Menschen in den alten Bundesländern unterschätzt. Aber auch das ist ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Grund dafür ist die Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit, die das Vorstellungsvermögen der Menschen übersteigt, die das Glück hatten, in einer Demokratie aufzuwachsen.
Fest steht aber heute schon, daß der Bespitzelungsapparat des Naziregimes nur einen Bruchteil von dem ausmachte, was nachher auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geschah.
Ich begrüße es ausdrücklich, meine Damen und Herren, daß sich alle Fraktionen zu einer freiwilligen Überprüfung entschlossen haben. Ich danke allen Abgeordneten aus den alten Bundesländern, die sich überprüfen lassen, für ihr Solidarverhalten. Ich habe aber auch Respekt vor jenen, die sagen: Ich war weit entfernt von diesem System, und ich mache mich nicht zum Büttel dieses Systems.
Eine Entscheidung zur Überprüfung, meine Damen und Herren, fällt vielen nicht leicht, sei es aus dem Grunde, daß sie bis heute noch nicht das Verständnis haben: Was geht eigentlich in den Menschen in Ostdeutschland vor?, oder sei es, daß sie einfach sagen: Ich habe dieses System abgelegt, und ich will damit nichts mehr zu tun haben.
Herr Abgeordneter Schwalbe, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche.
Meine Herren Eylmann und Professor Scholz, ich wäre Ihnen schon dankbar, wenn Sie Ihre Gespräche notfalls draußen führten. Danke schön. —
Herr Abgeordneter Schwalbe, Sie haben das Wort.
Es kann nicht unser Anliegen sein, meine Damen und Herren, in einem Rechtsstaat innerhalb einer frei gewählten Volksvertretung ein Tribunal gegen jedermann mit dem Ergebnis zu veranstalten, daß einerseits Unschuldige wegen falscher Verdächtigungen an den Pranger gestellt werden, öffentlich moralisch hingerichtet werden und die eigentlichen Leidtragenden die Angehörigen sind, andererseits Befehlsgeber dieser Terrororganisation unbeschadet in der Volksvertretung sitzen.
Die Erfahrungen in der Volkskammer haben hierzu ein Lehrbeispiel gegeben. Frau Köppe, ich weiß nicht, ob Ihr Empfinden von Gerchtigkeit nicht vielleicht eher einem Tribunal ähnelt.
Es kann nur darum gehen, den Tausenden von Opfern des SED-Regimes Schutz zu bieten, Vertrauen zum Parlament zu erhalten und dem Ansehen des Parlaments keinen Schaden zuzufügen. Es geht aber auch darum, dem Verfassungsschutz und dem Bundesnachrichtendienst in der Form wie in der alten Bundesrepublik Vertrauen entgegenzubringen, insbesondere Verständnis dafür zu wecken, was dieser Bereich für die Bürger der neuen Bundesländer bedeutet.
Wenn die Verantwortlichen der ehemaligen DDR, die zum großen Teil aus der SED kommen und teilweise heute noch der PDS angehören, den Stasi-Apparat und den Bundesnachrichtendienst gleichsetzen, wie es im Antrag der Abgeordneten Jelpke und der Gruppe PDS/Linke Liste gefordert wird, so kann dies nicht mit einer billigen Polemik abgetan werden. Sie wollen bewußt, meine Damen und Herren — bewußt! — , nachträglich Ihren Unterdrückungsapparat rehabilitieren,
indem sie ihn mit einem verfassungsmäßig legitimierten und parlamentarisch kontrollierten Geheimdienst gleichsetzen. Dies ist nicht nur eine Schande, dies ist eine Ohrfeige für einen Rechtsstaat. Aber das wollen Sie, weil Sie ihn ablehnen.
Um so mehr hoffe ich, daß Abgeordnete, die vielleicht hier unter uns sind und entsprechend belastet sind, noch zur Besinnung kommen, bevor wir mit der Überprüfung anfangen.
Herr Abgeordneter Schwalbe, Entschuldigung, wenn ich Sie noch einmal unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Seifert möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?
Nein, ich bin nicht bereit, eine Zwischenfrage von der PDS zu beantworten,
Sie können fortfahren.
Sie sollten Ihr Mandat niederlegen, aber nicht weil man sie zwingt, sondern weil sie einmal Anstand beweisen sollten.
Ziel unserer Überprüfung ist es, meine Damen und Herren, Befehlsgeber und Handlanger dieser Unterdrückungsorganisation zu entlarven, weil ich der Meinung bin, sie haben im Bundestag nichts zu suchen — auch wenn mir hierbei das Rechtsverständnis manchmal schwerfällt.
— Herr Conradi, ich gebe Ihnen vollkommen recht: Es ist manchmal sehr schwer — darum sage ich das so —, die Befindlichkeit und den Rechtsstaat für Bürger aus den neuen Bundesländern begreiflich zu machen.
5484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Clemens Schwalbe
Ich bitte Sie einfach, dem Verständnis entgegenzubringen. Ich glaube, mit diesem Gesetz bringen wir dem großes Verständnis entgegen.
Zum Abschluß möchte ich noch auf einen ganz anderen Aspekt hinweisen. Ich denke daran: Was machen wir eigentlich mit den Akten, die über uns angelegt wurden? Ich spreche nicht von den Täterakten, ich spreche von den Opferakten? Wie gehen wir selbst eines Tages mit denjenigen aus unserem Umfeld um, von denen wir vielleicht gedacht haben, es waren Freunde, die uns im Endeffekt aber bespitzelt haben?
Ich für meine Person habe vielleicht den Vorteil, daß ich viele von denen kenne, die den Befehl gegeben haben, mich zu bespitzeln, und die mich bespitzelt haben. Aber das wissen viele nicht. Ich kann damit leben, daß diejenigen, die damals den Befehl gegeben haben, wenn sie mir heute auf der Straße in meinem Heimatort begegnen, nicht wissen, wohin sie gucken sollen. Ich kann damit leben, daß sie keine Führungsfunktionen mehr ausüben. Aber wir müssen akzeptieren, daß wir im Herbst 1989 und im Frühjahr 1990 bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale gerufen haben: Stasi in die Volkswirtschaft! Dort sollten wir sie auch lassen, aber auch dort finden sie immer weniger Akzeptanz. Wenn wir sie dort nicht akzeptieren, dann grenzen wir eine Gruppe aus, und wir schaffen zusätzliches Potential, das im Rechtsstaat vielleicht den Rechtsstaat wieder abschaffen will.
Deshalb möchte ich von dieser Stelle aus an alle unsere Mitbürger appellieren, sich genau zu überlegen, wie sie mit diesem Potential umgehen.
Meine Damen und Herren, wie wir mit unserer Vergangenheit nach 40 Jahren und der Aufarbeitung des Unrechtssystems der SED fertigwerden, daran müssen wir uns — vor allen Dingen auch als Demokraten gegenüber unserer nächsten Generation — messen lassen. Deshalb ist eine freiwillige Überprüfung auch ein Stück parlamentarischer Demokratie, um vielleicht manchen Fehler aus der Nachkriegszeit zu vermeiden.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich möchte nunmehr das Haus über das weitere Verfahren unterrichten. Zunächst einmal habe ich drei Wortmeldungen zu Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen. Ich frage die Herren Abgeordneten Schily, Poppe und Ullmann, ob ihre Erklärungen sich auf den Änderungsantrag, im Hinblick auf den ich gleich darüber befinden lassen muß, ob über ihn namentlich abgestimmt wird, beziehen.
Wenn das nicht der Fall ist, dann würde ich erst feststellen, ob das notwendige Quorum für die namentliche Abstimmung erreicht wird. Wird dieses Quorum erreicht, würde ich die namentliche Abstimmung durchführen und dann zu den persönlichen Erklärungen das Wort erteilen, weil mir das am vernünftigsten erscheint.
Wenn das so ist, dann frage ich, ob der Wunsch des Abgeordneten Schulz über den Änderungsantrag des Bündnisses 90/GRÜNE namentlich abstimmen zu lassen, von 34 Abgeordneten des Hauses unterstützt wird. Ich bitte diejenigen, die das wünschen, um das Handzeichen. —
Meine Damen und Herren, das Präsidium ist einstimmig der Meinung, es handelt sich um 31 Zustimmungen.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung. Ich erteile dem Abgeordneten Schily das Wort zu einer persönlichen Erklärung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich kann der Beschlußempfehlung in der Drucksache, über die wir verhandeln, unter Ziffer 1 und Ziffer 2 nicht zustimmen. Ich begründe das wie folgt. Selbstverständlich haben alle recht, die es als einen Skandal empfinden, daß womöglich ehemalige Stasi-Mitarbeiter dem Parlament angehören.
Ich kann und ich will niemanden — auch nicht die Gauck-Behörde — daran hindern, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, wenn belastendes Material über eine frühere Stasi-Tätigkeit eines Abgeordneten vorliegt. Die Medien haben in der Vergangenheit solches Material aufgegriffen und werden das auch in Zukunft tun.
Die dadurch ausgelöste öffentliche Diskussion hat in der Mehrzahl der Fälle dazu geführt — erfreulicherweise — , daß die betroffenen Abgeordneten ihr Mandat niedergelegt haben.
Nach meiner Auffassung ist es jedoch nicht mit der Würde des Parlaments, des obersten Verfassungsorgans unserer parlamentarischen Demokratie, vereinbar, daß sämtliche Parlamentarier von einer weisungsgebundenen Behörde der Bundesregierung überprüft werden, ob sie in der Vergangenheit Verbindungen zur Stasi hatten oder für deren Tätigkeit politisch verantwortlich waren.
Wer gibt Ihnen und anderen das Recht, alle Abgeordneten de facto unter einen Generalverdacht zu stellen? Daß das so geschieht, hat man heute abend an manchen Redewendungen gehört. Manche nennen das einen Akt der Selbstreinigung. Aber müssen wir zunächst das Parlament besudeln, um den allgemeinen Waschzwang zu rechtfertigen?
Die mit dem Gesetz gewollte „ Röntgenreihenuntersuchung " sämtlicher Parlamentarier ist rechtsstaatswidrig und mit dem verfassungsrechtlichen Rang der Abgeordneten und des Parlaments insgesamt nicht vereinbar. Daß die Überprüfung nur auf freiwilliger Basis — abgesehen von den Fällen, in denen konkrete Anhaltspunkte vorliegen — vorgenommen werden soll, macht die Sache kaum besser.
Die Freiwilligkeit ist schon dadurch in Frage gestellt, weil sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit versucht werden wird, psychologischen Druck auszuüben. Gegen diesen Druck sollten sich gerade unsere Kolleginnen und Kollegen zur Wehr
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5485
Otto Schily
setzen, denen die Schrecken der Stasi-Herrschaft noch gegenwärtig sind.
Wir wissen doch sehr genau, welche tückischen Argumentationsfallen in solchen Situationen aufgestellt werden, z. B. in der Weise, daß gesagt wird: Wer sich nicht überprüfen läßt, hat etwas zu verbergen. — Das erinnert fatal an den Satz: Wer schweigt, klagt sich an.
— Wer solche Vorurteile füttert, gibt die Freiheit des einzelnen zugunsten allmächtiger und umfassender Staatskontrolle auf.
Wird eine generelle Überprüfung sämtlicher Abgeordneten — auch nur durch psychologischen Druck — erzwungen, könnte mit demselben Recht gefordert werden, daß sämtliche Richter — einschließlich der Richter am Bundesverfassungsgericht — auf StasiKontakte überprüft werden. Warum sollte man dann dabei stehenbleiben? Sie könnten folgerichtig auch verlangen, daß sämtliche Richter in gewissen Zeitabständen durchleuchtet werden, um herauszufinden, ob sie sich strafbar gemacht haben.
Mit den Abgeordneten könnte man gleichermaßen verfahren, vielleicht sogar unter Ausdehnung auf eventuelle Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten. Warum wird dann nicht gleich eine oberste Kontrollbehörde eingerichtet, bei der sich die Abgeordneten turnusmäßig ihre TÜV-Plakette abholen müssen oder einen „Mängelbericht" verpaßt bekommen?
Manche wenden ein, das alles sei richtig, dennoch müßten wir in einer historischen Ausnahmesituation gleichwohl anders entscheiden.
Die deutsche Geschichte läßt sich aber nicht dadurch vom Stasi-Gift dekontaminieren, das sich das Parlament einer Prozedur unterwirft, die seinem Ansehen schadet. In einer Demokratie sind die einzigen Instanzen, gegenüber denen sich Parlamentarier politisch zu verantworten haben, das Gewissen jedes einzelnen Abgeordneten und das Volk. Beide Instanzen können und dürfen nicht durch eine Regierungsbehörde oder einen Parlamentsausschuß ersetzt werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ja nun eben mehr ein zusätzlicher Redebeitrag gegen die Überprüfung. Ich hingegen will jetzt nur eine Erklärung zur Abstimmung abgegeben.
Ich werde gegen den Gesetzentwurf stimmen
— dem die Mehrheit hier vermutlich zustimmen wird —, und zwar nicht etwa deshalb, weil ich, wie andere Abgeordnete auch, die sich hier geäußert haben, gegen eine solche Überprüfung wäre. Ich halte es schon für einen Teilerfolg, wenn nach diesem Gesetz nunmehr mit einer Überprüfung begonnen werden kann. Ich bin aber der Meinung, daß die Probleme, die zu diesem Gesetz geführt haben, mit dem Gesetz nicht
oder voraussichtlich nicht oder höchstwahrscheinlich nicht lösbar sind.
Wir haben die Zielstellung gehört. Das eine war: Wir wollen keine Stasi-Mitarbeiter in diesem Hause.
— Ich denke, darin ist sich die große Mehrheit einig.
Das zweite ist: Der Bundestag soll unbelastet von Verdächtigungen und Spekulationen seine Arbeit tun. — Ich glaube, auch hierin ist sich die große Mehrheit einig.
Wenn aber die Umfragen stimmen, von denen Frau Köppe vorhin gesprochen hat, dann werden diese Probleme eben nicht gelöst, dann wird es weiterhin bei Verdächtigungen und Spekulationen bleiben, und dann werden unter Umständen auch weiterhin belastete Abgeordnete in diesem Hause sitzen.
Schließlich ein drittes Problem. Durch dieses Gesetz, das ja für sich beansprucht, gerade wegen der Herstellung der Gleichheit entstanden zu sein, wird faktische Ungleichheit entstehen. Der Druck, der auf den Abgeordneten aus den neuen Bundesländern
— aus deren Wahlkreisen usw. — lasten wird, ist unvergleichlich höher als der, der auf den Abgeordneten der alten Bundesländer lastet. Damit ist die Gleichheit ohnehin nicht mehr gegeben.
Alle drei genannten Probleme können nur durch eine generelle Überprüfung gelöst werden. Deshalb werde ich für diese Lösung stimmen, auch wenn es dagegen Bedenken der einen oder anderen Art geben mag, die berechtigt sind.
Die einzige Lösung, die es sonst noch gäbe, wäre die, daß Sie alle in diesem Hause sich zu einer freiwilligen Überprüfung bereit erklären. Wenn Sie für den Gesetzentwurf, der die freiwillige Überprüfung vorsieht, stimmen, dann würde ich herzlich an Sie appellieren, sich dann zumindest möglichst vollzählig der freiwilligen Überprüfung zu unterziehen. Im Ergebnis wäre das dann das gleiche, als wenn eine generelle Überprüfung stattfände.
Herzlichen Dank.
Als letzter gemäß § 31 der Geschäftsordnung Herr Professor Ullmann!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde für den Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90 stimmen.
Beim Mehrheitsentwurf werde ich mich zwar nicht für eine Zustimmung entscheiden können, aber — deshalb rede ich jetzt hier — ich werde mich der Stimme enthalten. Da das eine Mehrdeutigkeit bedeutet, bitte ich Sie, mein Abstimmungsverhalten jetzt erläutern zu dürfen.
5486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Wolfgang Ullmann
Ich bin für eine Überprüfung, und zwar für eine Überprüfung auf geseztlicher Grundlage. Insofern begrüße ich es, daß sich dieses Hohe Haus zu dieser Initiative entschlossen hat. Ihr Gesetzentwurf enthält aber soviel Bedenkliches, daß ich ihm nicht zustimmen kann. Er bewegt sich in einer Grauzone zwischen Disziplinargericht, Ehrengericht und sogar am Rande des Strafrechts.
Ich muß es nun mit allem Nachdruck sagen — gegen die Verdächtigungen, die gegenüber der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN hier immer wieder erhoben worden sind —: Eine generelle Überprüfung bedeutet doch nicht eine generelle Verdächtigung dieses Parlaments, sondern die generelle Entschlossenheit, mit vagen Verdächtigungen endlich Schluß zu machen.
Wenn Sie mit der Freiwilligkeit operieren, meine Damen und Herren, warum stimmen Sie denn dann nicht für unseren Gesetzentwurf? Das können Sie auch nur freiwillig tun.
Ich sage Ihnen eines: Die geschichtliche Situation kann man sich nicht aussuchen, und daran wird Ihr Freiwilligkeitsprinzip immer scheitern. Was tun Sie denn dann, wenn unqualifizierte Verdächtigungen aufkommen? Wo bleiben Sie denn dann mit Ihrer Freiwilligkeit?
Ich will noch eines hinzufügen: Ich bin froh darüber, daß wir wenigstens durch diese Gesetzesinitiative auf die geschichtliche Herausforderung geantwortet haben, aber ich bin sehr bedrückt darüber, daß wir es nicht gemeinsam tun können, und ich bin betroffen über die unqualifizierten Verdächtigungen, die ich heute hier gegen die Gruppe Bündnis 90 habe anhören müssen. Als ob wir je im geringsten einen Schritt außerhalb der Rechtsstaatlichkeit zu tun bereit wären!
— Herr Schwalbe, ich will Ihnen eines sagen: Ich höre mir nicht noch einmal an, daß die Kollegin Köppe so unqualifiziert angegriffen wird wie von Ihnen.
Ich kann das nur mit Ihrer Unwissenheit entschuldigen.
Meine Damen und Herren, ohne die Entschlossenheit dieser Frau wäre der Beschluß des Runden Tisches, das MfS/AfNS sei aufzulösen — das ist die einzige gesetzliche Grundlage, die es bis heute gibt —, nie ausgeführt worden, sondern es wäre zu dem gekommen, was die Regierung Modrow ursprünglich vorhatte, nämlich eine Umwandlung.
— Wer sagt denn solchen Unsinn? — Aber die Wahrheit muß bleiben.
Ich sage Ihnen noch eines: Wir können mit gewissen Abgeordneten auch so umgehen, wie Sie es tun. Ich hoffe nicht, daß es dahin kommen muß.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Abstimmung.
Ich teile dem Haus zunächst mit, daß mehrere Abgeordnete Ihre Erklärungen nach § 31 schriftlich abgegeben haben. Es handelt sich um die Abgeordneten Hermann Bachmaier, Konrad Gilges, Klaus Kirschner, Michael Müller, Horst Peter, Günter Verheugen, Wolf-Michael Catenhusen und Uwe Lambinus. *)
Mir liegen weitere Wortmeldungen nach § 31 vor, die ich, wie angekündigt, nach der Abstimmung aufrufen werde.
Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den interfraktionellen Gesetzentwurf.
Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1738 abstimmen. — Wer für diesen Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Dann ist dieser Antrag mit der überwiegenden Mehrheit des Hauses aus allen Fraktionen abgelehnt worden.
— Entschuldigung. — Enthaltungen? — Aus allen Fraktionen gibt es dazu einige Enthaltungen.
Wir stimmen jetzt über den interfraktionellen Gesetzentwurf auf Drucksache 12/1324 in der Ausschußfassung auf Drucksache 12/1737 ab. — Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Gesetzentwurf in der zweiten Lesung mit der überwiegenden Mehrheit der Stimmen aus allen Fraktionen des Hauses in dieser Fassung angenommen worden.
— Nach Enthaltungen habe ich gefragt.
— Ja, das ist völlig korrekt.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die-
jenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben und,
*) Anlage 3
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5487
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
soweit Sie in den hinteren Reihen stehen, stehenzubleiben bzw. sich freundlicherweise zu ducken. —
Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist der Gesetzentwurf mit überwiegender Mehrheit — Zustimmung aus den drei Fraktionen, Enthaltungen und Gegenstimmen, außer bei der FDP — angenommen worden.
Meine Damen und Herren, der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt unter Nummer 2 seiner Beschlußempfehlung, die Richtlinien zur Überprüfung in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? Das ist mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Unter Nummer 3 der Beschlußempfehlung empfiehlt der Ausschuß, den Entwurf des Stasi-Überprüfungsgesetzes der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/1325 abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/1325 abstimmen. Wer stimmt dafür? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Stimmenthaltungen und gegen die Stimmen von PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE ist der Gesetzentwurf abgelehnt.
Unter Nummer 4 empfiehlt der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zur Überprüfung auf Stasi-Kontakte -- das ist die Drucksache 12/586 — abzulehnen. Wer dieser Empfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt gegen die Empfehlung? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.
Unter Nummer 5 wird empfohlen, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1148 abzulehnen. Wir dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen aus der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE ist die Beschlußempfehlung angenommen worden.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Duve nach § 31 der Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe — nach langer Abwägung — gegen das Gesetz gestimmt. Das Motiv, das zu diesem Gesetz geführt hat, achte und respektiere ich. Es ist ein wichtiges Motiv. Aber in der Abwägung mußte ich mir folgende Frage stellen: Dieses Parlament, der Parlamentarismus, die Kultur der Demokratie waren — wenn ich es richtig verstanden habe — über viele Jahrzehnte das Ziel derjenigen, die in einer Diktatur gelebt haben. Parlament, freie Demokratie waren das Ziel. Ich muß daher in Kauf nehmen, daß sich möglicherweise der eine oder andere derjenigen, die sich an der Unterdrückung beteiligt haben, auch in ein solches Parlament schmuggelt. Ich muß das in Kauf nehmen um des Zieles willen, daß wir nichts, aber auch gar nichts tun, was sozusagen unsere grundsätzliche Verfassung, unsere freiheitliche Verfassung stört oder berührt. Ich denke, der Kollege Schily hat sehr deutlich gesagt, was Parlamentarier nicht tun können und welchen Aktionen der Exekutive sie sich nicht unterwerfen dürfen. In der Abwägung habe ich mich so entschlossen und deswegen so gestimmt.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes, weil weitere Meldungen nach § 31 der Geschäftsordnung zurückgezogen worden sind.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt auf: Aktuelle Stunde
Zum Rücktritt des Staatsministers im Bundeskanzleramt, Dr. Lutz G. Stavenhagen
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Penner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An den Anfang einer solchen Aktuellen Stunde gehört die selbstverständliche Feststellung, daß der Schritt des Kollegen Dr. Stavenhagen Respekt verdient.
Er hat die politische Verantwortung auf sich genommen und daraus die Konsequenzen gezogen. Das ist bei uns leider nicht selbstverständlich. Aber er hat es getan. Jetzt geht es darum, einen Respekt für die menschliche Integrität des Kollegen Stavenhagen zu beweisen.
Bei der Aktuellen Stunde, die wir beantragt haben, geht es aus meiner Sicht auch und besonders um die Unkenntnis gesetzlicher Regelungen für den BND, die fast schon symptomatisch ist, besonders für die Regierungszentrale.
Das Gesetz über den BND ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Aber was in aller Welt hat die Verantwortlichen geritten, am 20. Dezember 1990, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes über den BND, per Lufttransport an Israel u. a. eine Zündeinrichtung für den Suchkopf einer SA-5-Radar-Mig-29, zwei Dutzend IFF-Kenngeräte, zwei Luft-Luft-FKs abzugeben?
In diesem Gesetz — es ist vielleicht altmodisch, überhaupt noch an Gesetzestexte zu erinnern — steht nichts über Beteiligungsmöglichkeiten des BND für die Abgabe von Waffen. Der BND ist nach dem Willen des Gesetzgebers zuständig für das Sammeln und Auswerten von Informationen aus dem Ausland. So steht es geschrieben in § 1 Abs. 2 des Gesetzes. Da bleibt kein Platz für andere Tätigkeiten, besonders aber nicht für solche, die andere Institutionen und Behörden, wie die Zollverwaltungen, zu falschen Deklarierungen veranlassen. Das ist gerade unter der Verantwortung des Bundesministers der Verteidigung geschehen.
Dabei hat der BND als Erfüllungsgehilfe mitgespielt.
5488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Dr. Wilifried Penner
Aus dem Bericht des BMVg, der vom BND und vom Bundeskanzleramt mitgetragen wird, ergibt sich, daß der BND im Jahre 1991 an weiteren solcher Aktionen beteiligt gewesen ist: zweimal im Januar, zweimal im Februar, einmal im Mai, einmal im Juni und je einmal im September und im Oktober dieses Jahres. Immer ging es um Waffen.
Der Bundeskanzler und der Bundesverteidigungsminister haben vor diesem Haus geschworen, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Das ist ernstgemeint; das ist kein Spaß. Der Bundeskanzler hat danach selber in seinem Verantwortungsbereich dafür Sorge zu tragen, daß sich der ihm unterstellte BND an das Gesetz hält.
Der Verteidigungsminister darf es nach seinem Amtseid nicht zulassen, daß der BND zur Erfüllung seiner Aufgaben in gesetzeswidriger Weise eingespannt wird.
Die Allgemeinverbindlichkeit des Rechts gilt insonderheit für Minister und den Bundeskanzler, ja, mehr noch: Sie haben dafür geradezustehen, daß das auch durchgesetzt wird. Wenn das dem Herrn Bundeskanzler oder dem Herrn Bundesverteidigungsminister nicht paßt: Wohlan, die Annehmlichkeiten des privaten Lebens bleiben ihnen nicht versperrt.
Um Irrtümern vorzubeugen: Dem Recht und dem Grundsatz der politischen Verantwortung wird nicht schon dadurch Genüge getan, daß sich demnächst nachgeordnete Beamte oder Offiziere gerichtlich verantworten müssen und daß sich die politisch Verantwortlichen hinter dem Schutzschirm der Unkenntnis wohlig verbergen.
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist eine Erblast der Personalquerelen in der SPD.
Jeder, der weiß, wer mit wem hier über die Frage gerungen hat,
ob diese Aktuelle Stunde beantragt wird, weiß, daß dies der SPD peinlich ist. Das ergibt sich auch daraus, daß der Kollege Penner nicht das Thema, das beantragt worden ist, behandelt hat, sondern versucht hat, das Thema klammheimlich zu wechseln.
Der Antrag der SPD, der dieser Aktuellen Stunde zugrunde liegt — für den ich kein Verständnis habe, weil er auch etwas mit der Streitkultur in diesem Hause zu tun hat —, geht dahin, daß die SPD über den Rücktritt des Staatsministers Stavenhagen reden will.
Nun ist das ja ein Thema, mit dem sich die SPD bereits seit einem Jahr auseinandersetzt. Bereits vor der Bundestagswahl hat die SPD versucht,
Wahlkampfmunition in der Sache Schalck-Golodkowski zu finden. Es ging der SPD in dieser Angelegenheit nicht um Aufklärung.
Seit Monaten wird von seiten der SPD behauptet, der Kollege Lutz Stavenhagen habe das Parlament in einer Antwort auf eine Anfrage belogen. Diese Behauptung ist immer wieder in der Öffentlichkeit wiederholt worden. Im Ausschuß haben die Kollegen der SPD etwas anderes festgestellt, nämlich daß das nicht bewiesen werden könne. Es ist auch nicht zu belegen. Im Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen: In den heutigen Vernehmungen hat sich eindeutig herausgestellt, daß Lutz Stavenhagen über die Ausstellung der Decknamenpapiere für Alexander Schalck-Golodkowski und seine Frau zum damaligen Zeitpunkt nicht informiert war. Das gleiche ergibt sich aus den vorliegenden Akten.
Das alles hat die Opposition nicht zur Kenntnis genommen, ja nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Tatsachen muß man aber bekanntlich auch zur Kenntnis nehmen wollen.
Als man diesen Vorwurf nicht aufrechterhalten konnte, hat man den Vorwurf erhoben, er habe, als er Kenntnis erlangte, seine Antwort nicht korrigiert. Auch dieser Vorwurf, das hat sich heute in der Ausschußsitzung klar erwiesen, kann nicht aufrechterhalten werden.
Es würde der Opposition gut zu Gesicht stehen, wenn sie nicht nur die Bemerkung des Kollegen Penner, die dieser zu Beginn seiner Rede machte, hier vortrüge — die ich im übrigen akzeptiere, Kollege Penner —, sondern wenn diejenigen, die in der Öffentlichkeit den Kollegen Lutz Stavenhagen mit unhaltbaren Beschuldigungen überzogen haben, diese hier heute zurücknähmen.
Lutz Stavenhagen hat um seine Entlassung gebeten. Nach der heutigen Ausschußsitzung sage ich: Nach der Sachlage gibt es keinen Vorwurf gegen ihn.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5489
Dr. Jürgen Rüttgers
Menschlich ist der Schritt seines Rücktritts jedoch — so meine ich — nach den Angriffen der vergangenen Wochen und Monaten verständlich.
Politisch war er nicht geboten. Ich sage hier für meine Fraktion: Wir freuen uns, wenn er wieder in unserer Fraktion an verantwortlicher Stelle mitarbeiten wird.
Weil man nichts nachweisen konnte, ist gesagt worden, die Grundsätze der politischen Verantwortung würden den Rücktritt von Lutz Stavenhagen nahelegen. Legt man die Maßstäbe der politischen Moral an, dann darf aber auch anderes nicht vergessen werden. Vom ersten Tag an hat die SPD versucht, statt das DDR-Unrecht aufzuarbeiten, politische Kampagnen zu organisieren.
Zuerst hat Herr von Bülow eine schamlose Schmutzkampagne gegen Franz-Josef Strauß versucht. Diese ist jedoch zusammengebrochen.
Statt dessen kommt zutage: Die SED hat versucht, der SPD 1981 in Berlin zu helfen, die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu gewinnen. Sie hat ihr massiv unter die Arme gegriffen,
und dabei wurden ungeniert Beamte des Bundeskanzleramtes eingesetzt. Johannes Rau hat als Kanzlerkandidat im September 1986 unmittelbar Wahlhilfe durch die SED erfahren. Man wird das sicher noch weiter aufklären müssen.
Es wird — wider besseres Wissen — Lutz Stavenhagen über Wochen und Monate vorgehalten, er habe das Parlament belogen. Gleichzeitig kann sich Herr Bölling vor dem Untersuchungsausschuß nicht daran erinnern, was er als Beamter gemacht hat. Es geht sogar noch weiter. Der andere Teil der Opposition — das Bündnis 90/GRÜNE — hat nicht davor zurück. geschreckt, mit Herrn Schalck die Frage der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Vorfeld als politisches Thema zu erörtern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies alles ist ein Signal dafür, daß es hier eben nicht in erster Linie um Aufklärung, sondern nur um Grabenkämpfe geht. Ich finde das nicht schön. Ich finde das abscheulich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Köppe.
Meine Damen und Herren! Herr Stavenhagen ist zurückgetreten. Eine Begründung für diesen Rücktritt hat es bisher nicht gegeben, jedenfalls nicht offiziell. Ich habe vorhin nur kurz im Fernsehen gesehen, wie Herr Stavenhagen sagte, er sei u. a. deswegen zurückgetreten, weil sich für ihn gezeigt habe, daß die Dienste nicht kontrollierbar seien.
Wir hätten aber schon erwartet, daß wir von der Bundesregierung eine Rücktrittsbegründung bekommen würden. Natürlich interessiert uns die Frage: Welche Fehler hat Herr Stavenhagen gemacht? Denn wenn die Bundesregierung der Meinung ist, Herr Stavenhagen habe keine Fehler gemacht, oder wenn Herr Stavenhagen kein Wort des Bedauerns über seine Fehler findet, heißt das doch nur, daß mit seinem Nachfolger die unhaltbaren Zustände im Kanzleramt fortbestehen bleiben sollen.
Im Kanzleramt nämlich — das haben wir heute im Ausschuß erfahren — werden geheime Briefe ungelesen in den Panzerschrank gelegt und verschwinden dort für eindreiviertel Jahre.
Bei den wöchentlichen Lagebesprechungen mit den Geheimdiensten fertigt das Kanzleramt keine Notizen und keine Protokolle an. Damit stellt das Kanzleramt den Diensten einen Freibrief aus. Die Dienste können tun und lassen, was sie wollen.
Im Kanzleramt sitzt ein Geheimdienstkoordinator, der nicht weiß, was die Dienste tun, und es wohl auch nicht wissen will. Nur wenn gelegentlich einmal ein Geheimdienstskandal an die Öffentlichkeit gerät, reagiert das Kanzleramt, und zwar mit Ahnungslosigkeit.
Das alles beweist: Die Dienste werden durch das Kanzleramt nicht effektiv kontrolliert. Das ist der Vorwurf, den wir Herrn Stavenhagen machen. Sie wurden auch unter Herrn Stavenhagen nicht effektiv kontrolliert.
Die Affären um die Betreuung Schalck-Golodkowskis und um die ungenehmigten Waffenlieferungen an Israel, die beide von Herrn Stavenhagen mit zu verantworten sind, haben gezeigt, daß im Kanzleramt gar kein Wille vorhanden ist, die Geheimdienste zu kontrollieren. Der BND würde sich keinerlei Eigenmächtigkeit leisten, wenn klar wäre, daß Disziplinarmaßnahmen oder sogar die Auflösung des Dienstes als Möglichkeiten im Raume stünden. Der BND würde auch keine ungesetzlichen Mittel anwenden wie die illegale Lieferung von Kriegsgerät in Spannungsgebiete, wenn klar wäre, daß dies von der Bundesregierung und dem Bundeskanzleramt wirklich als Tabu betrachtet würde.
Daß die Öffentlichkeit immer wieder von solchen Meldungen aufgeschreckt werden kann, hängt damit zusammen, daß der Bundeskanzler im Grunde mit den vom BND getroffenen Maßnahmen so lange ein-
5490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Ingrid Köppe
verstanden ist, wie sie nicht an die Öffentlichkeit dringen und Gegenstand kritischer Erörterungen sind.
Die Frage, die sich jetzt stellt, ist die nach der Rolle des Kanzlers — wo ist eigentlich Herr Kohl? — , wenn es um die Pannen der Herren Schreckenberger und Stavenhagen geht. Braucht der Kanzler als Geheimdienstkoordinatoren vielleicht Männer, die den Diensten keinen Ärger machen und die Dunkelmänner in Pullach und anderswo gewähren lassen?
Der Ex-BND-Chef Wieck hat — zu Recht, denke ich — darauf hingewiesen, daß Herr Stavenhagen und das Kanzleramt zu keinem Zeitpunkt die Ausstellung falscher Pässe für Schalck-Golodkowski als unzulässig kritisiert haben, auch nicht im August 1991, als die Maßnahme bekannt wurde.
Stavenhagen mußte nicht wegen der falschen Pässe gehen, die es Herrn Schalck-Golodkowski möglicherweise erlaubt haben, Konten auf den Namen Gutmann abzuräumen, wie dies ein BND-Beamter zu Recht befürchtete. Er mußte auch nicht wegen der illegalen Waffenlieferungen an Israel gehen. Er mußte einzig und allein deswegen gehen, weil er mit seinen ungeschickten Verteidigungsaktionen die Bundesregierung und den Kanzler insgesamt in den Strudel dieser BND-Affären hineinzureißen drohte.
Neben der Diskussion über die Rolle der Bundesregierung beim Schutz Schalck-Golodkowskis und bei den illegalen Waffenlieferungen im Staatsauftrag muß ein weiteres Thema behandelt werden. Dieses Thema heißt: die ersatzlose Abschaffung der Geheimdienste. Denn nicht ein bloßer Personalwechsel im Kanzleramt wird die in der Schalck-Affäre und bei den Waffenlieferungen, u. a. an Israel, öffentlich gewordene skandalöse Rolle der strukturell unkontrollierbaren Geheimdienste verhindern, sondern nur die Abschaffung der Dienste selbst.
Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Staatsminister Lutz Stavenhagen tritt zurück, und die SPD tritt mit dieser Aktuellen Stunde nach.
Ich weiß, etliche Kollegen aus der Opposition haben heute abend ebenfalls ein ungutes Gefühl.
Kaum eine Frage ist mir von den Medien in dem einen Jahr meines Abgeordnetendaseins häufiger gestellt worden als die, ob ich den Rücktritt dieses oder jenes Ministers fordern würde. Jeder, der mit Sicherheit in den Medien zitiert werden will, kommt einer derartigen Aufforderung nach. Ich habe mich nie daran beteiligt und werde es auch in Zukunft nicht tun.
Dieses Spiel ist mir zu durchsichtig. Es ist mir zu theatralisch, und es ist auch wirkungslos. Denn ebenso wie die Rücktrittsforderungen selbst gehört es zum Ritual in der Bundesrepublik Deutschland, daß ihnen nicht gefolgt wird.
Herr Stavenhagen hat sich anders entschieden. Man hat ihn zu respektieren. Zu diesem Respekt gehört es auch, daß man diesen Schritt nicht nachträglich zerredet.
Der Rücktritt von einem politischen Amt ist eine höchstpersönliche Entscheidung des Amtsträgers, die aus vielen Gründen möglich ist. Es gibt höchstpersönliche Gründe, familiäre, gesundheitliche, aber auch den, sich nicht weiter anschießen zu lassen. Es gibt politische Gründe, angefangen bei der Wahrnehmung der politischen Verantwortung sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft. Es gibt solche aus der Zusammenarbeit mit den politischen Freunden oder dem Koalitionspartner. Den wirklichen Grund oder die Gründe für seinen Schritt kennt Staatsminister Stavenhagen nur selbst. Frau Köppe, er ist nicht verpflichtet, sie uns hier vorzutragen. Dennoch wird öffentlich über die Gründe spekuliert.
Ich stelle fest, es besteht ebenfalls kein Anlaß, wegen der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses „Kommerzielle Koordinierung" des Deutschen Bundestages diesen Schritt zu ergreifen. Die bisherigen Beweiserhebungen, insbesondere die Zeugenvernehmungen, haben keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, daß Herr Stavenhagen die Anfrage des SPD-Kollegen Peter Conradi vom 14. Februar 1990 wissentlich falsch beantwortet hat.
Es steht im Gegenteil fest: Der ehemalige Präsident des BND, Dr. Wieck, hat bis zum 28. März 1990 Staatsminister Stavenhagen weder schriftlich noch mündlich über die vom BND ausgestellten Decknamenpapiere unterrichtet. Insbesondere ist das Thema der Decknamenpapiere von Dr. Wieck am 28. Februar 1990 nicht erwähnt worden. Keiner der Teilnehmer dieses Gespräches im Bundeskanzleramt, in dem verschiedene Aspekte der Befragung Schalck-Golodkowskis durch den Bundesnachrichtendienst mit Staatsminister Stavenhagen erörtert wurden, konnte sich erinnern, daß Dr. Wieck, wie von ihm behauptet, ausdrücklich von Papieren auf den Namen Gutmann für die Eheleute Schalck-Golodkowski gesprochen hat.
Im Gegenteil, der Leiter der operativen Abteilung des Bundesnachrichtendienstes, der interne Gegner der Ausstellung dieser Decknamenpapiere, ist sich sicher, daß Dr. Wieck die Frage der Decknamenpapiere nicht erwähnt und er selbst diesen Punkt im Gespräch mit Dr. Stavenhagen nicht ergänzt hat, um seinen damaligen Präsidenten nicht zu desavouieren.
Zwar mag die Ausstellung von Decknamenpapieren zur Sicherung einer Befragung zum üblichen Geschäft gehören. Hier jedoch war die Befragung des DDR-Staatssekretärs Schalck-Golodkowski wegen dessen herausgehobener Funktion kein normales Geschäft. Es bestand daher die Pflicht, den zuständigen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5491
Jörg van Essen
Staatsminister über diese Entscheidung zumindest zu unterrichten.
Aber wir mußten noch etwas zweites lernen,
insbesondere aus der heutigen Vernehmung von Dr. Jung: Auch die beste Unterrichtung versagt, Kontrolle wird unmöglich, wenn die Verwaltung in der Koordination der Nachrichtendienste nicht intakt ist.
Ich will das Ergebnis der Beweisaufnahme für das Untersuchungsausschußverfahren wirklich nicht vorwegnehmen. Aber es erscheint mir schon als ein besonders starkes Stück von Schlamperei, was wir heute früh über die Verwahrung von laufenden Geschäftsvorgängen im Panzerschrank des zuständigen Abteilungsleiters im Bundeskanzleramt zu hören bekommen haben.
Es spricht auch nicht für die von einem Beamten zu erwartende Sorgfalt, wenn einem vielbeschäftigten Staatsminister der Entwurf einer Presseerklärung vorgelegt wird, in dem die Tatsachen nicht sorgfältig geprüft sind. Die politische Verantwortung hierfür muß nicht durch Rücktritt wahrgenommen werden, sondern insbesondere dadurch, daß die offenbar gewordenen Zustände schnellstens beseitigt werden
und die Grundprinzipien einer ordnungsgemäßen Verwaltung und Registrierung von Vorgängen durchgesetzt werden.
Staatsminister Stavenhagen stand auch noch in einem zweiten Schußfeld. Ich verwende bewußt diese militärische Bezeichnung, möchte ich doch kurz über die wehrtechnische Zusammenarbeit mit Israel sprechen. Es war überall zu hören, daß die SPD nach der gestrigen Unterrichtung im Verteidigungsausschuß unter lautem Knirschen den Rückwärtsgang eingelegt hat. Ich erlaube mir daher nur einen Satz: Es geht nicht an, dem für die Koordinierung der Geheimdienste zuständigen Staatsminister Vorwürfe zu machen, wenn der unmittelbar zuständige Behördenleiter, nämlich der neue Präsident des Bundesnachrichtendienstes, ebenfalls nicht informiert war.
Ich mahne zu mehr Stil in diesem Hause. Dazu gehört es auch, einen Rücktritt einfach zu respektieren.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Beucher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Rüttgers unternahm hier einen weiteren seiner bisher ungezählten Versuche, Nebelkerzen zu werfen und vom Kern der Sache abzulenken.
Die Diskussion nach dem längst überfälligen Rücktritt des Staatsministers Stavenhagen müßte hier nicht geführt werden, wenn der Fall Stavenhagen nicht auch ein Fall des Bundeskanzleramtes wäre.
Ein Fall des Bundeskanzleramtes ist es deshalb, weil beim Hinterfragen von Geschäftsabläufen und der Wege von Briefen in diesem Amt zuletzt noch heute morgen gemeinsam im Untersuchungsausschuß Zustände zutage gefördert wurden, die an Schlamperei einfach nicht zu überbieten sind.
Mit der Überschrift „Durcheinander im Kanzleramt" titelte bereits „Die Welt" — bestimmt keine sozialdemokratische Zeitung — eine unserer heutigen Morgenlektüren
und lieferte dabei eine vergleichsweise harmlose Einstimmung auf die Offenbarungen des heutigen Tages.
Da sagt doch allen Ernstes der Sicherheitsbeauftragte beim Bundeskanzler — das ehrt nach den vielen Vertuschungsmanövern aus dem Bundeskanzleramt diesen Mann — , daß es seit Jahren bekannt sei, daß beim Leiter der Abteilung VI — das ist der mittlerweile bekanntgewordene Herr Ministerialdirigent Hermann Jung, ein Freund Helmut Kohls — immer ein übervoller Panzerschrank mit Akten vorzufinden sei, ein so proppevoller Panzerschrank voller Verschlußsachen, das heißt Geheimpapiere, daß man diese in diesen Tagen mit einem Aktenwagen habe abfahren müssen.
Das kann und will man einfach nicht glauben: nicht gelesene Geheimpapiere, teilweise registriert, teilweise nicht registriert! Darauf angesprochen, wie das alles geordnet sei, sagt dieser Ministerialdirigent, der immerhin mit der Besoldungsgruppe B 9 fürstlich alimentiert wird: Es gab kein Konzept!
Man muß hier nicht den in BND-Sachen erfahrenen Franz Josef Strauß zitieren, der einfache Kommentar hier lautet! Saustall!
Daß dieser Skandal aber nicht nur die eigenwillige Aktenentsorgungsmentalität des Abteilungsleiters betrifft, wird daran deutlich, daß die letzte Kontrolle dieses Panzerschrankes vor eineinhalb Jahren stattgefunden hat.
Man könnte — ich habe fast Angst, daß ich „Die Welt" zum zweiten Mal zitieren muß — der Welt fast
5492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Friedhelm Julius Beucher
zustimmen, wenn sie heute morgen ebenfalls fordert: Es wird höchste Zeit, daß Kohl da Ordnung schafft,
gäbe es nicht auch noch einen Chef im Bundeskanzleramt!
Ich habe mich bezüglich der Verwendung des Panzerschrankes ernsthaft gefragt, ob er nicht an anderer Stelle in unserem Lande besser zu gebrauchen wäre, weil er hier sowieso nicht genutzt wird.
Hier müssen sich Herr Schäuble und danach Herr Seiters und der jetzt noch Schonfrist genießende Herr Bohl fragen lassen: Wissen Sie eigentlich, was da los ist?
Ist es nicht eine ebenso gefährliche wie auch unverantwortliche Aussitzmentalität, die dieses Amt offensichtlich kennzeichnet?
Nach allem, was wir von den abenteuerlichen BNDUnternehmungen und BND-Aktivitäten gehört haben, die ja angeblich alle ohne das Wissen des Kanzleramtes gelaufen sind, ticken da doch Zeitbomben. Wer von Ihnen garantiert mir eigentlich, daß demnächt nicht international gesuchte Verbrecher unter dem sattsam bekannten Motto „Befragung ja, Betreuung nein" mit Hilfe des BND gefälschte Ausweispapiere bekommen, munter durch die Bundesrepublik spazieren und hier ihr Unwesen betreiben, Herr Bohl dann aber von alledem nichts weiß!
Meine Damen und Herren, hier reichen keine Bauernopfer, egal wie sie immer heißen mögen, hier muß einfach ausgemistet werden und müssen klare Zuständigkeiten geschaffen werden, damit in diesen sensiblen Sicherheitsbereichen nicht mehr scheinbar jeder machen kann was er will. Denn das, was der werte Kollege Rüttgers hier gesagt hat, konnte er weder heute im Ausschuß noch in den anderen Tagen vertuschen: das pure Entsetzen und Kopfschütteln über all das, was zwischen Pullach und Bonn möglich war und wie in Bonn damit umgegangen wird! Da werden die Sozialdemokraten immer auf der Seite derer sein, die hier die Zuständigkeiten einfordern.
Der nächste Redner in der Aktuellen Stunde ist unser Kollege Horst Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte keine Vorschußlorbeeren! — Man beklagt des öfteren, daß Aktuelle Stunden keinen aktuellen Gegenstand hätten. Mangelnde Aktualität kann man dieser Aktuellen Stunde nicht vorwerfen.
Herr Stavenhagen ist vorgestern als Staatsminister zurückgetreten. Heute wurde er vor dem Ausschuß vernommen. Die Aktualität des Themas ist allerdings das einzige, was man den Initiatoren dieser Debatte zugute halten kann.
Herr Kollege Penner, der alte Fuchs, hat das gleich gemerkt und versucht, das Thema zu wechseln. Herr Beucher muß es noch lernen.
— Ich nehme das mit Bedauern zurück und sage: der erfahrene Fuchs.
Zunächst offenbart diese Debatte einen betrüblichen Mangel an politischem Stil.
Denn nicht nur im Fußball gilt es als besonders schäbig, einen Kollegen zu treten, der am Boden liegt, erst recht dann, wenn er nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch Fremdverschulden zu Boden gegangen ist.
Wenn es für das Fremdverschulden noch eines Beweises bedurft hätte, ist er heute morgen vor dem Ausschuß geführt worden. Ich will darauf aber nicht näher eingehen.
Im übrigen ist es natürlich eine Stilfrage, ob wir dazu übergehen wollen, Einzel- und Zwischenergebnisse einer Beweisaufnahme vor dem Untersuchungsausschuß noch am selben Tag abends in Aktuellen Stunden zu erörtern. Es ist leider ohnehin üblich geworden, sich in Presseerklärungen über die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen noch während der Aussage, zuweilen auch schon vor Beginn der Zeugenvernehmung zu äußern.
Es wäre eine weitere Steigerung, wenn wir jetzt dazu übergingen, eine Zeugenaussage sofort in einer parlamentarischen Debatte zu parteipolitischen Zwecken auszuschlachten. Das wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg, Untersuchungsausschüsse für die parteipolitische Auseinandersetzung zu instrumentalisieren.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5493
Horst Eylmann
Diese von der SPD beantragte Aktuelle Stunde zeigt aber auch, daß es der Opposition zur Zeit an Themen fehlt,
mit denen sie den Regierungsparteien ernsthaft Paroli bieten kann.
So ist sie bestrebt, den Rücktritt von Herrn Stavenhagen als großen Erfolg darzustellen, und konnte der Versuchung offensichtlich nicht widerstehen, einigen Fraktionsmitgliedern die Gelegenheit zu bieten, in der Sonne dieses Erfolges noch ordentlich das Gefieder zu sträuben. Die Sonne war aber nur ein Talglicht. Denn Sie haben Herrn Stavenhagen nicht vom Ministersessel gestoßen. Sie haben das wochenlang mit der vollmundigen Behauptung versucht, er habe gelogen. Wer das Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Untersuchungsausschuß auch nur halbwegs objektiv würdigt, wird sagen müssen, daß es dafür keine ernsthaften Anhaltspunkte gibt.
Nun könnte man — ich blicke dabei auf Sie, Herr Kollege Conradi —
der heutigen Debatte einen Rest an Stil verleihen, wenn sich diejenigen, die vor Wochen immer wieder das Wort Lüge hinausposaunt haben, heute ganz schlicht hinstellen und sagen: Diesen Vorwurf können wir nicht aufrechterhalten. Wir haben uns geirrt.
Oder wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihren Parteifreund Porzner beschämen, der vor dem Ausschuß gesagt hat, es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß Staatsminister Stavenhagen die Unwahrheit bewußt gesagt hat.
Herr Stavenhagen ist zurückgetreten, weil das Wiederauffinden eines Briefes im Panzerschrank eines Abteilungsleiters — das räume ich offen ein — ein Maß an Unordnung in der Kommunikation zwischen BND und Kanzleramt offenbarte, das man nicht mehr als einmalige Panne werten kann.
Für diese Fehler hat Herr Stavenhagen die politische Verantwortung übernommen und ist zurückgetreten.
Das ist honorig, und das ehrt ihn.
Die Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen BND und Kanzleramt sind längst behoben.
Wenn Sie das nicht glauben wollen, sprechen Sie wiederum mit Ihrem ehemaligen Kollegen Porzner. Dessen Rücktritt hätten Sie längst gefordert, meine Damen und Herren, wenn er nicht der SPD, sondern der CDU angehört oder nahegestanden hätte.
Gerade daran, daß Sie Ihre Rücktrittsforderungen und Ihre verbalen Äußerungen über Lügen und Unfähigkeit so gezielt danach verteilen, welcher Partei der jeweils Angegriffene angehört, zeigt sich doch, daß das meiste von dem, was Sie von sich geben, reine Schaumschlägerei ist.
Herr Kollege Dr. Ullmann, Zwischenfragen sind in der Aktuellen Stunde leider nicht zulässig.
Als nächstem Redner erteile ich das Wort unserem Kollegen Peter Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Rücktritt und die Entlassung des Staatsministers im Bundeskanzleramt, das ist kein Sieg der Opposition, es ist ein Sieg der parlamentarischen Demokratie. Wer dem Parlament, der Volksvertretung, die Unwahrheit sagt — wissentlich oder unwissentlich — , der kann nicht im Amt bleiben.
Wir treten hier niemanden; das ist eine böse Unterstellung.
Es geht hier nicht um einen Abgeordnetenkollegen, den viele von uns persönlich schätzen; es geht um das Amt des Staatsministers im Kanzleramt, und damit haben wir uns auseinanderzusetzen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Entschuldigt, da ist etwas schiefgegangen, dann wäre es nie zu der Affäre gekommen. Die Affäre ist doch durch die immer neuen Vertuschungsversuche zustande gekommen, durch die Erklärungen, durch die Persilscheine, durch die Hilfskonstruktionen des BND. Durch all das sind doch der Staatsminister, das Kanzleramt und der BND immer tiefer in den Verdacht hineingeraten, hier sei etwas nicht mit rechten Dingen gelaufen. Die Vermutung drängt sich auf, daß es sich hier nur um ein Bauernopfer gehandelt hat, um den Rücktritt des Staatsministers, mit dem andere, mächtigere Regierungsmitglieder geschützt werden sollen.
5494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Peter Conradi
Der Untersuchungsausschuß wird prüfen, wer sonst noch von der Sonderbehandlung des BND für Schalck-Golodkowski gewußt hat.
Es ist auch nicht in Ordnung, wenn der BND dem Bundestag die Unwahrheit sagt.
Der ehemalige BND-Präsident — Herr Kollege Eylmann, nicht ich — hat den Staatsminister der Unwahrheit bezichtigt.
Er ist Botschafter in Indien. Sie hätten die Möglichkeit, ihn dienstrechtlich zu belangen. — Ich wiederhole: Er hat den Staatsminister der Unwahrheit bezichtigt.
— Unwahrheit und Lüge sind das gleiche.
Sie haben keine Konsequenzen daraus gezogen. Und wenn der jetzige BND-Präsident erklärt, er stehe zu seiner Verantwortung, dann muß er entweder die Leute, die das eingebrockt haben, auch die Leute, die ohne sein Wissen Waffenlieferungen gemanagt haben, hinauswerfen, oder er muß andere Konsequenzen ziehen. So weiterzumachen wie bisher, geht beim BND nicht.
Ich will zum Schluß etwas zitieren, was vor vielen Jahren anläßlich der Affäre John — damals ging der Präsident des Verfassungsschutzes in die DDR, und es gab eine Regierungskrise — Reinhold Maier hier über Ministerverantwortung gesagt hat:
Zu den obersten Gesetzen der parlamentarischen Demokratie zählt der Grundsatz, daß Männer ohne die herkömmlichen Laufbahnen unter Überspringung aller Zwischenstationen in das höchste Staatsamt, das Ministeramt, berufen werden, daß dafür aber von solchen Männern die schwere Last der Verantwortung für alle Vorgänge in ihren Ressorts übernommen wird, die Last der vollen Verantwortung auch ohne eigenes persönliches Verschulden. Diesen Sichtwechsel unterschreibt jeder, der ein parlamentarisches Ministeramt übernimmt.
Mehr und mehr kommt die Einlösung bei Fälligkeit aus der Übung.
So damals Reinhold Maier.
... man wartet, bis eine Panne ... durch eine noch größere Panne abgelöst ... wird. An die Stelle der unbedingten Achtung vor dieser verpflichtenden Regel tritt zusehends in der durch das konstruktive Mißtrauensvotum unangreifbaren Regierungsmaschinerie ein Standpunkt, welcher, in die Sprache der unteren Ränge der Ausführungsorgane übersetzt, heißt: Uns kann keener! Ein schnöder Standpunkt, ein volksverachtender, ein volksvertretungsverachtender Standpunkt, vor allem ein überheblicher Standpunkt.
Das sage ich hier zum Bundesverteidigungsminister. — Reinhold Maier hat damals weiter gesagt:
Einem parlamentarischen Minister darf die harte Lebensschule der Kontrolle durch das Parlament nicht erspart bleiben ... Wie der Autofahrer auf Bergstraßen an den dünnen Warnbrettern vor dem steilen Felsenhang des Abgrunds entlangfährt, so muß dem parlamentarischen Minister stets der Blick auf die politischen Absturzstellen geöffnet bleiben . . .
Verzichten wir auf das Wirksamwerden dieser inneren Kräfte des parlamentarischen Prinzips, dann setzen wir das parlamentarische Prinzip außer Kurs.
Besser als Reinhold Maier das damals in der Affäre John gesagt hat, daß Minister für alles verantwortlich sind, was in ihrem Ressort geschieht, auch wenn sie nichts davon wußten, kann man es auch heute nicht sagen.
Ich erteile jetzt dem Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Friedrich Bohl, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Conradi, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Ihnen der Unterschied zwischen dem Sagen der Unwahrheit und Lügen verborgen geblieben sein sollte.
Ich meine, daß Ihre Ausführungen über die Ministerverantwortlichkeit sicherlich erheblich glaubwürdiger gewesen wären, wenn Sie hier in der Tat ein Wort der Entschuldigung gefunden hätten. Ich finde, das wäre gut gewesen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, Staatsminister Stavenhagen hat am 2. Dezember seinen Rücktritt erklärt. Der Bundeskanzler hat dieses Gesuch angenommen. Wie Sie wissen, ist ein Rücktritt nicht zu begründen. Ich glaube, es ist durch Diskussionsbeiträge von Vertretern der Koalition schon zum Ausdruck gekommen, daß die Arbeit von Herrn Staatsminister Stavenhagen auch in diesem Hohen Hause durchaus Anerkennung verdient.
Er war über viele Jahre in verantwortlicher Tätigkeit. Er hat sich um die europäische Einigung große Verdienste erworben. Er hat am Schengener Abkommen mitgewirkt. Ich meine, er hat auch als Koordinator für die Nachrichtendienste gute Arbeit geleistet. Der Bundeskanzler hat ihm dafür gedankt, und ich meine, diesen Dank für die Bundesregierung heute einmal mehr bekräftigen zu sollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es sind, glaube ich, zwei Komplexe, die hier eine Rolle spielen. Das eine ist das Problem der wehrtechnischen Zusammenarbeit mit dem Staate Israel. Der Bundesverteidi-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5495
Bundesminister Friedrich Bohl
gungsminister hat gestern im Verteidigungsausschuß einen umfassenden Bericht, ich möchte sagen: einen erschöpfenden Bericht, vorgelegt.
Sie haben noch die eine oder andere ergänzende Frage; das ist Ihr gutes Recht. Diese Fragen werden noch beantwortet werden bzw. sind heute im Laufe des Tages zum Teil schon beantwortet worden.
Ich glaube auch, daß die Ausführungen des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, die an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig ließen, klargemacht haben, daß nicht das politisch im Raume stehenbleibt, was Sie versucht haben, in den ersten Tagen nach der Aktion daraus zu machen.
Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen laufen; man sollte sie in der Tat abwarten. Im übrigen glaube ich, daß der Bericht klarstellt, daß der politischen Leitungsebene kein Vorwurf zu machen ist. Ich erinnere Sie auch daran, daß der Bundesverteidigungsminister aus dem Brief eines ehemaligen hohen Offiziers zitiert hat, der das für mich auch menschlich sehr verständlich machte.
Der zweite Komplex, um den es geht, betrifft die Antwort auf die Frage von Herrn Conradi und die sich daraus ergebenden Komplikationen. Ich glaube, daß insbesondere die Vernehmung heute im Untersuchungsausschuß deutlich gemacht hat, daß sich Herr Staatsminister Stavenhagen auch in dieser Frage nichts vorzuwerfen hat.
Ich glaube, daß man auch Verständnis dafür haben sollte — ich darf vielleicht auch ein bißchen an Ihre kollegiale Fairneß appellieren— ,
daß Herr Staatsminister Stavenhagen — ich sage es einmal mit meinen Worten, nach meinem Eindruck — offensichtlich angenommen hat, er habe den Brief vom 28. März 1990 tatsächlich bekommen.
Das ist doch, glaube ich, offensichtlich der Punkt.
Darüber können Sie nun die Nase rümpfen, können das kritisieren. Ich finde aber, auch dies passiert uns in unserem alltäglichen Geschäft, und keiner sollte den ersten Stein werfen.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang auch sagen, daß ich ganz persönlich hohen Respekt vor Herrn Stavenhagen habe. Ich finde, seine Leistung verdient Beachtung. — Ich weiß im Moment nicht, wie ich mich richtig ausdrücken soll. Ich habe, wie Sie sehen, kein Manuskript vor mir. Jeder, der Herrn Stavenhagen kennt, spürt, was ich meine. — Namens der Bundesregierung Herrn Stavenhagen noch einmal herzlichen Dank und alles Gute!
Ich möchte die Vorwürfe, die insbesondere seitens der Vertreterin vom Bündnis 90 gekommen sind, mit
Nachdruck zurückweisen. Die Bundesregierung hat vollstes Vertrauen in die Amtsführung des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Sie ist ihm dankbar für seine bisherige Arbeit und geht davon aus, daß wir zum Wohle unseres Landes weiterhin vertrauensvoll zusammenarbeiten werden.
Zu der von Ihnen angesprochenen und in der heutigen Sitzung des Untersuchungsausschusses noch einmal vertieften Problematik bezüglich der Aktenführung im Panzerschrank möchte ich dem Hohen Haus folgendes gerne zur Kenntnis geben: In der letzten Woche ist von mir gegen den zuständigen Abteilungsleiter VI nach der Disziplinarordnung ein Vorermittlungsverfahren eingeleitet worden.
— Ich habe, Herr Kollege Gansel, im Laufe des heutigen Tages den zuständigen Abteilungsleiter VI mit sofortiger Wirkung von seinen Pflichten entbunden. Ich wollte dem Hohen Hause dies gerne mitteilen, damit das Hohe Haus auch diesen Sachverhalt zur Kenntnis nimmt
und daraus den Schluß zieht, daß auch weitere notwendige Entscheidungen seitens der Bundesregierung getroffen werden.
Ich glaube, daß die Aufregung, die zu erzeugen versucht wurde, keineswegs berechtigt ist. Die Bundesregierung wird sich weder durch Zwischenrufe des Herrn Kollegen Gansel noch durch sonstige Dinge in einer erfolgreichen Fortführung ihrer Arbeit beeinträchtigen lassen.
Ich danke dem Hohen Haus für die Aufmerksamkeit.
Als nächster hat unser Kollege Rudolf Kraus das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der wohl mieseste Beitrag, der bisher geleistet wurde, kam von der Kollegin von den GRÜNEN: eine ganz pauschale Verunglimpfung der Mitarbeiter des BND, einer Behörde, die für diesen Staat in der Vergangenheit ganz ohne Zweifel vieles geleistet
und wesentlich zum Schutz dieses Staates beigetragen hat.
Meine Damen und Herren, dann redet die Dame von „Dunkelmännern in Pullach". Ich halte es einfach für völlig unzulässig, einen demokratisch kontrollier-
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Rudolf Kraus
ten Dienst unseres Staates in dieser Weise zu verunglimpf en.
— Natürlich. Sie waren doch auch einmal in der Regierung. Das ist doch noch gar nicht so lange her. Gab es da keinen BND? Waren Sie da auch der Meinung, daß das eine Vereinigung von Dunkelmännern ist? Was besonders auffällig ist: Der Präsident des BND war noch vor wenigen Monaten Mitglied der Fraktion der SPD.
Haben Sie von dieser Seite des Hauses irgendein Anzeichen von Empörung gesehen? Ich nicht!
— Das war außerordentlich zurückhaltend.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt Leute in diesem Land — auch wir haben das immer gedacht — , die die SPD für eine Partei der Solidarität halten. Ich kann Ihnen nur sagen: Wehe dem, der solche Freunde hat.
Das erklärt den Umgang mit dem politischen Gegner dann natürlich in ganz besonderer Weise.
Es gab einen kurzfristigen Anfall — ganz kurzfristig! — von Herrn Penner von Fairneß; das soll erwähnt werden. Man freut sich über die kleinste Kleinigkeit. Aber das hat nicht lange angehalten. Es ging dann wieder über in das übliche Schema, mit dem diese Debatte all die Wochen und Monate geführt worden ist.
Diese Art und Weise, mit der der ehemalige Staatsminister im Bundeskanzleramt, unser Kollege Lutz Stavenhagen, von der Opposition wider besseres Wissen angegriffen worden ist, hat mit einer sachlichen Auseinandersetzung — das war wohl auch nicht anders zu erwarten — überhaupt nichts zu tun.
Tatsache ist, daß in der Parlamentarischen Kontrollkommission, der ich angehöre, die Vorwürfe gegen Lutz Stavenhagen entkräftet werden konnten.
Das ändert aber überhaupt nichts daran, daß wir hinterher in der Presse etwas ganz anderes lesen mußten.
Man hatte den Eindruck, daß die Leute, die darüber informiert haben, ganz offensichtlich auf einer völlig anderen Veranstaltung waren. Ich habe gerade dies dem Kollegen hier vorn bereits einmal vorwerfen müssen. Aber er hat dann keine Konsequenzen daraus gezogen.
— Entschuldigung, das ist doch gar nicht die Frage. Die Frage ist doch, wie man mit den Leuten umgeht. Auf das kommt es doch heute an.
— Der Herr Penner weiß fast alles.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, wir müssen doch eines feststellen: In den letzten Wochen wurde eine Kampagne geführt.
Das, was außerhalb der Gremien gesagt wurde, war eine öffentlich geführte Kampagne gegen eine ganz bestimmte Person. Über den scheinbaren Erfolg — es ist ein sehr trauriger Erfolg — können Sie sich vielleicht freuen. Ich versichere Ihnen aber, daß Ihnen das in der Zukunft nicht mehr so leicht gelingen wird. Wir werden ganz besonders aufpassen, daß derartige Verfahrensweisen hier nicht die Überhand gewinnen.
Ich hoffe, daß wir ein solches Dilemma nicht mehr erleben müssen.
Ich bedanke mich.
Nächster Redner ist unser Kollege Walter Kolbow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir respektieren einen Rücktritt, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, selbst wenn er, wie in vielen Kommentaren heute zu lesen ist, ein „Bauernopfer" darstellt, so zumindest „Die Welt" am heutigen Tage. „Die Zeit" stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach Stoltenberg.
Die „Neue Ruhr-Zeitung" sagt: Stoltenberg als nächster. — Stoltenbergs Flucht nach vorn ist ehrenwert, aber es könnte bereits zu spät für ihn sein. Auch nach der Sitzung des Verteidigungsausschusses bleibt der fatale Eindruck, der Minister habe sein Ressort nicht mehr voll unter Kontrolle, so die „Neue Osnabrücker Zeitung". Noch einmal „Die Welt", meine Damen und Herren: Sie legt die Vermutung nahe, daß man mit
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Walter Kolbow
dem Rücktritt Stavenhagens den ungleich wichtigeren Minister Stoltenberg schützen wollte.
Warum, meine Damen und Herren? — Herr Stoltenberg ist der zweite, der in hoher politischer Verantwortung von nichts gewußt hat, nichts von den getarnten, nicht genehmigten Waffenlieferungen aus den Beständen der ehemaligen NVA. Aber er ist noch im Amt. Wenn der vom Verteidigungsminister vorgelegte Bericht allen Einzelheiten entspricht und sie alle enthält, ist zumindest der Komplex der wehrtechnischen Zusammenarbeit mit Israel fast aufgeklärt. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß es sich bei der Art der Abwicklung um Rechtsverstöße
— hören Sie einmal bis zum Ende gut zu — gehandelt hat. Der SPD
hier zu unterstellen, sie habe zu Zeiten der sozialliberalen Koalition ein gleiches, falsches Verhalten an den Tag gelegt, ist unseriös und sogar unehrlich. Die damalige Rüstungszusammenarbeit mit Israel ist auf der Basis von Regierungsentscheidungen immer rechtmäßig abgewickelt worden. Dies ist hier eben nicht der Fall.
Lassen Sie mich hier noch einmal deutlich feststellen: Es geht der SPD nicht um Diskreditierung der Zusammenarbeit mit einem Staat — was Sie immer wieder zu unterstellen versuchen —, zu dem wir besondere Beziehungen und gegenüber dem wir besondere Verpflichtungen haben.
Hier wird von Ihrer Seite gezielt ein unzutreffender Eindruck erweckt. Denn so wie diese von Herrn Stoltenberg zu verantwortenden Waffenlieferungen abgewickelt worden sind, wären sie auch bei jedem anderen Zielland zur Affäre geworden.
Der Minister der Verteidigung bewegt sich in all diesen Fragen auf dünnem Eis.
Er ist heute noch nicht in der Lage gewesen — Sie haben das angesprochen, Herr Bohl, deswegen darf ich mich auch darauf beziehen — , zu bestätigen, daß die vorgelegte Auflistung von Rüstungsexporten aus NVA-Beständen nun endlich vollständig ist. Auf der Hardthöhe weiß die Linke ganz offensichtlich nicht, was die Rechte tut. Auch hier herrscht Konfusion der Kompetenzen. Es regieren Unordnung und Orientierungslosigkeit. Und dabei haben wir auf der Hardthöhe noch gar nicht in die Panzerschränke geschaut.
Die lückenlose Feststellung der Verantwortlichkeit muß auch hier praktische Konsequenzen haben. Solche das Ansehen der Bundesrepublik schädigenden Aktionen darf es künftig nicht mehr geben. Deshalb fragt die SPD, welche Maßnahmen der Bundeskanzler durchsetzen wird, um die politische Kontrolle und eine politische Leitung des BMVg wiederherzustellen, die diesen Namen verdienen.
Hinter der Waffenaffäre tut sich eine sehr viel breitere Problematik auf, die alle Fraktionen dieses Hauses zum Handeln veranlassen sollte. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie mit dem umfangreichen und zum Teil erhebliche materielle Werte darstellenden Erbe der ehemaligen NVA umgegangen wird und wie wir hier parlamentarische Kontrolle einrichten können, um administrative Willkürakte zu verhindern, die täglich ans Licht zu kommen drohen.
Deshalb haben wir einen Antrag vorbereitet — dazu Stellung zu nehmen sind Sie in diesem Augenblick eingeladen, nicht zu Zwischenrufen —,
der die parlamentarische Kontrolle der Auflösung der NVA sicherstellen soll. Dazu erwarten wir die Unterstützung der Koalitionsfraktionen.
Wir meinen, daß sich Herr Stoltenberg an Herrn Stavenhagen ein Vorbild nehmen sollte.
Dann gebührte ihm unser Respekt vor richtig verstandener Ministerverantwortung im Sinne des Liberalen, Herr Nolting, Reinhold Maier.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Joachim Hörster das Wort.
— Das Wort hat jetzt der Kollege Hörster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das direkte Auf einander-folgen der Diskussion über das Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und der Diskussion, die wir jetzt hier führen, hat, Herr Kollege Conradi, doch zu überraschenden Eindrücken geführt. Sie haben bei der Beratung dieses Gesetzes in einer sehr staatstragenden und verfassungstreuen Weise sehr feine Unterschiede gemacht zwischen Verdächten, Vorwürfen und Dingen, von denen man sich nicht befreien müsse, wenn es keine Anhaltspunkte gebe. Anschließend schämen Sie sich überhaupt nicht, aus Gründen der politischen Opportunität keinen Unterschied mehr zu machen zwischen der Unwahrheit und der Lüge, obwohl ihn jedes kleine Kind kennt.
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Joachim Hörster
Ich erlebe nun seit Beginn der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses Schalck-Golodkowski, daß die Sozialdemokraten diesen Untersuchungsausschuß zu nichts anderem nutzen als dazu, ein Kesseltreiben gegen die Bundesregierung zu organisieren und erbärmliche marginale Erscheinungen zu Staatsproblemen hochzustilisieren, während Hunderttausende von Menschen in den fünf neuen Bundesländern darauf warten, daß wir in diesem Untersuchungsausschuß endlich aufklären, was das Unternehmen Kommerzielle Koordinierung alles an Schandtaten angerichtet hat, wie es die Leute ausgenommen hat.
— Herr Duve, das mag Sie jetzt alles nicht mehr interessieren, weil Sie eine andere Zielrichtung haben. Nur, wenn Sie wollen, daß etwas anderes untersucht wird, sollten Sie den Leuten nicht vormachen, wir hätten im Untersuchungsausschuß Schalck-Golodkowski als zentrales Thema die Kommerzielle Koordinierung.
Herr Kollege Beucher hat soeben die Katze wirklich aus dem Sack gelassen, als er sich darauf konzentriert hat, von irgendwelchen Vertuschungsmanövern aus dem Kanzleramt zu berichten.
Ich muß schon sagen: Sie müssen wohl heute morgen die ganze Zeit nicht im Untersuchungsausschuß gewesen sein, als wir Herrn Stavenhagen als Zeugen gehört haben. Wir haben feststellen können, daß ihm persönlich kein Vorwurf aus diesen ganzen Vorgängen zu machen ist und daß noch nicht einmal der Vorwurf aufrechterhalten werden kann, den Sie wochenlang durch die Presse gedroschen haben, daß er das Parlament belogen habe. Alles ist nicht zutreffend, alles ist unwahr.
Ich frage mich: Soll das künftig der Stil werden, wie wir im Zusammenwirken von Untersuchungsausschüssen und anderen parlamentarischen Debatten wirken? Werden wir demnächst morgens die Zeugen vernehmen und abends anschließend eine Aktuelle Stunde über das Ergebnis der Zeugenvernehmung machen? Das könnte ja recht interessant werden, wenn wir z. B. die Vorgänge aus dem Jahre 1981 über die angebotene Wahlhilfe für den sozialdemokratischen Kandidaten Vogel in Berlin diskutieren. Es könnte aber auch interessant werden, wenn wir die Frage — heute ist so oft die „Welt" zitiert worden, und ich möchte das dann auch mal gern machen — diskutieren, wie es mit den Verhandlungen zwischen der SPD und der PDS über die Rückgabe früheren SPDVermögens ist, die ja irgendwer in der SPD geführt haben muß, vielleicht im Auftrage des Herrn Klose oder so. Sollen wir die Tätigkeit des Parlaments auch auf diese Dinge ausrichten? Wir können das gern tun, wenn Sie die Aufgaben dessen, was wir im Untersuchungsausschuß zu tun haben, darauf begrenzen wollen.
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe.
Der Redner hat heute schon sehr viel gearbeitet, aber er hat z. B. auch festgestellt, daß die SPD-Fraktion dann, als wir uns zum erstenmal mit Betroffenen aus der DDR im Untersuchungsausschuß befaßt haben, kaum vertreten war. Frau Köppe war auch überhaupt nicht da; das will ich auch noch sagen.
Ich sehe hier eine Situation, über die wir in diesem Parlament wirklich einmal nachdenken sollten: ob wir in Anbetracht der besonderen Bewältigung der Situation, die die Einheit Deutschlands gebracht hat, der Belastungen, die in allen Regierungsstellen aus diesem Anlaß vorhanden waren, in dieser Weise miteinander umgehen müssen und Marginalien hochspielen zu einem Versagen der Regierung, obwohl es hierfür keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, und ob wir das Instrument eines Untersuchungsausschusses dazu nutzen, die Öffentlichkeit darüber zu täuschen, was eigentlich der Zweck dieses Untersuchungsausschusses ist.
Als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde erteile ich unserem Kollegen Christian Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lutz Stavenhagen ist persönliches Verschulden nicht vorzuwerfen. Ich möchte vorneweg dem Kollegen Stavenhagen noch einmal ausdrücklich den Dank abstatten, den er für seine Tätigkeit als Staatsminister, insbesondere auch im Bereich der Europapolitik, verdient hat.
Es gab mal einen Bundeskanzler der SPD, der sich beim Parteitag beklagt hat, daß an einer Stelle der Applaus gefehlt habe. Er hat vorhin auch gefehlt, als der Dank an Lutz Stavenhagen abgestattet worden ist.
— Sie haben nicht geklatscht; ich habe genau hingesehen. Wir haben auch beobachtet, wie schnell erstaunlicherweise schnell ein Rücktritt mit unzutreffenden Begründungen versehen wird.
Leider ist Frau Köppe nicht mehr da. Professor Ullmann, ich bitte, ihr das auszurichten, daß es schon ein gehöriges Stück ist, daß sie mit dem Anlaß des Rücktritts die Legende fortzustricken versucht, die Beziehungen des Kanzleramts zu Schalck-Golodkowski, so ihr Zitat, seien weitaus intensiver — gemeint ist natürlich: verwerflicher — gewesen, als noch vor einem halben Jahr der Öffentlichkeit bekannt war. Das ist bewußte Verdrehung der Tatsachen und lenkt — dessen sollten wir uns bewußt sein, doch nur von der Schuld und Vertrickungen der Ulbrichts, der Honek-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5499
Christian Schmidt
kers und der Krenzens ab, die wir in diesem Untersuchungsausschuß zu untersuchen hätten.
Der Rücktritt von Lutz Stavenhagen dokumentiert allenfalls seine noble Haltung, für Ungeschicklichkeiten anderer einzustehen, die für sich genommen praktisch ein Muster ohne Wert und Bedeutung sind.
Oder wollten Sie sagen: dunkle Ränke des BND? Natürlich sind an den früheren Präsidenten des BND, Herrn Wieck, der von Herrn Conradi schon zitiert und in Anspruch genommen worden ist, sehr deutliche Fragen zu stellen, wieso er seine Entscheidung, die Aktion „Schneewittchen" mit Decknamenpapieren zu versehen, nur derart nebulös nach Bonn weitergedeutelt hat.
— Der Brief kam zu spät.
— Wer sich im Untersuchungsausschuß mit der Angelegenheit beschäftigt, weiß, wovon ich rede. Andere sollten sich darüber informieren.
Die Ereignisse der letzten Tage sollten uns aber auch Anlaß geben, uns auf das zurückzubesinnen, um was es bei der Auseinandersetzung mit der Erblast des SED-Staates eigentlich geht.
Leider kann die Opposition der Versuchung nicht widerstehen, sich im Schalck-Untersuchungsausschuß — an der eigentlichen Themenstellung vorbei — bei günstiger Gelegenheit ein Opfer unter den heute politisch Verantwortlichen herauszusuchen. Grundsätzlich wird ihr dies zwar nicht gelingen, dennoch muß sie sich darüber im klaren sein, daß sie damit der gesamten Demokratie Schaden zufügt.
— Ja, hören Sie nur zu.
Ich lese Ihnen gern den Untersuchungsauftrag vor, falls er Ihnen entfallen sein sollte.
— Sie haben aber auch zugestimmt.
Er lautet: Der Ausschuß soll untersuchen, welche Rolle der Arbeitsbereich KoKo und sein Leiter, Dr. Schalck-Golodkowski, im System von SED-Führung, Staatsleitung und Volkswirtschaft der früheren DDR spielte und wem die wirtschaftlichen Ergebnisse der Tätigkeit dieses Arbeitsbereichs zugute kamen und gegebenenfalls heute noch zugute kommen.
Tausende von Fällen müssen aufgearbeitet werden. Der Ausschuß bewegt sich aber nur auf Nebenkriegsschauplätzen.
Mich läßt der Satz eines Bürgers nicht los, der mir am Wochenende gesagt hat: Ihr habt die Dimensionen vergessen, ihr habt die Dimensionen verwechselt, ihr kümmert euch um einen verlegten Brief, während
draußen alte Seilschaften noch ihr Unwesen treiben.
Ich kann nur hoffen, daß sich Frau Köppe und die Kollegen von der SPD um die Schicksale der Verfolgten und ungerecht behandelten Bürger der DDR im Untersuchungsausschuß mit gleicher Intensität kümmern, wie sie verlegten Briefen nachjagten.
Ich darf festhalten: Der Untersuchungsauftrag liegt klar auf dem Tisch. Wenn er nicht ausreichen sollte, dann muß in Form einer Enquete-Kommission SEDUnrecht und anderes behandelt werden. Man könnte dort interessante Themen aufnehmen, z. B. die Frage nach gemeinsamen SPD-SED-Papieren aus vergangenen Zeiten.
— Das würden wir gern in einer solchen Kommission diskutieren. Sie sind herzlich eingeladen, Ihre Unterlagen, die Sie hoffentlich nicht in Aktenschränken versteckt haben, sondern noch parat haben, die vor zwei Jahren aktuell waren, auch heute noch auf den Tisch zu legen.
Das würde der geschichtlichen Wahrheit auch in diesem Hause und in diesem Lande dienen.
Herzlichen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 12:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Fritz Schumann , Dr. Ilja Seifert, Jutta Braband und der Gruppe PDS/Linke Liste Sicherung des Weiterbetriebs der Zeche SOPHIA-JACOBA durch finanzielle Sonderhilfen des Bundes — perspektivisch eine volkswirtschaftlich und energiepolitisch sinnvolle Maßnahme für die Zukunft
— Drucksache 12/1623 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Im Ältestenrat ist eine Aussprache mit einer FünfMinuten-Runde vereinbart worden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich danke Ihnen und eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Ulrich Briefs das Wort.
5500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben diesen Antrag gestellt, um ein Zeichen zu setzen.
Arbeitsplätze werden heute im Westen und insbesondere im Osten buchstäblich tagtäglich zu Hunderten und zu Tausenden zerstört. Die Treuhand tut sich dabei im Osten unrühmlich hervor; im Westen tut es das harte Gesetz der sogenannten sozialen Marktwirtschaft, die immer mehr Menschen ausgrenzt. Gestern haben wir hier über Olympia, Wilhelmshaven, und die arbeitsmarktpolitische Verödung einer ganzen Küstenregion debattiert; morgen werden wir über die massenhafte Vernichtung von Stahlarbeitsplätzen im Osten durch die Treuhandanstalt hier reden; heute reden wir hier über den geplanten Tod der Zeche Sophia-Jacoba, der nördlichsten Zeche des Aachener Steinkohlereviers, unmittelbar an der niederländischen Grenze gelegen.
— Sie sind doch noch nie dort gewesen, Herr Laermann! — Auch hier droht eine kleine Stadt, Hückelhoven, in eine völlig perspektivlose soziale Situation katapultiert zu werden, und zwar durch die gemeinsamen Bemühungen kapitalistischer Unternehmenspolitik und unsozialer staatlicher Wirtschaftspolitik.
Es ist schändlich, daß durch die Politik des Bundeswirtschaftsministers Möllemann in einem Zuge Arbeitsplätze durch Subventionsstreichung vernichtet werden, während den Reichen und Superreichen Steuergeschenke gemacht werden.
Wir klagen nicht, wir klagen an. Wir klagen die Verantwortlichen in den Konzernzentralen ebenso wie die in der Bundesregierung an. Diese Gesellschaft ist reich genug, um nicht immer größere Teile ihrer Menschen um Arbeitsplätze, Lebensgrundlage und Zukunftsperspektiven zu bringen. Hören Sie auf — dies an die Adresse der Bundesregierung — mit der unsozialen Umverteilung von unten nach oben! Legen Sie Hand auf den Reichtum dieser Gesellschaft, und sichern Sie Arbeitsplätze, statt sie zu zerstören!
Wir wollen ein Zeichen setzen im Falle der drohenden Schließung der Zeche Sophia-Jacoba, ein Zeichen dafür, daß es eben auch anders geht.
Deshalb fordern wir ganz konkret, keine Maßnahmen gegen den Weiterbetrieb der Zeche jetzt und in den nächsten Jahren zu ergreifen. Deshalb fordern wir, bis 1995 einen Rahmenplan zu entwickeln, der es erlaubt, die Förderung in Hückelhoven aufrechtzuerhalten, und zwar unter Berücksichtigung einerseits der in Hückelhoven erreichbaren Förderkostenreduzierungen, unter Berücksichtigung andererseits der sich abzeichnenden Preissteigerungen für fossile Energieträger auf dem Weltmarkt.
Deshalb fordern wir Sie des weiteren auf, 150 Millionen DM für die Erschließung des Abbaufeldes in Wildenrath zur Verfügung zu stellen. Dieses Abbaufeld kann jetzt abgebaut werden, weil die britische Luftwaffe den Standort Wildenrath räumt.
Wir fordern Sie auf, unverzüglich ein Konzept für den Einsatz der hochwertigen Hückelhovener Steinkohle an Stelle der besonders umweltschädlichen Braunkohle als Hausbrandkohle in den fünf neuen Ländern im Osten zu entwickeln und dieses Konzept mit entsprechenden finanziellen Markteinführungshilfen umzusetzen. Damit läßt sich in kürzester Zeit die Umweltbelastung reduzieren und die Luft nachhaltig entlasten.
Schließlich fordern wir Sie auf, Energieversorgungsunternehmen, den kommunalen Stromerzeugern und der Industrie mit ihren Stromerzeugungskapazitäten im Osten Zugang zu verbilligter Steinkohle im Rahmen der Aufrechterhaltung des Jahrhundertvertrages zu verschaffen.
Wie gestern im Falle Olympia, Wilhelmshaven, zeigt sich auch heute im Falle der Zeche Sophia-Jacoba in Hückelhoven, daß es Alternativen gibt, Alternativen, die es erlauben, die Arbeitsplätze der Zeche zu erhalten, Alternativen, die die Umwelt entlasten, Alternativen, die es erlauben, den Arbeitsplatzkiller Atomenergieerzeugung zurückzudrängen und abzubauen, Alternativen, die den westlichsten Landkreis der Bundesrepublik, den Landkreis Heinsberg, nicht in eine aussichtslose Beschäftigungsdepression stoßen, Alternativen, die aber — daran mangelt es allerdings — den entschlossenen Willen zu einer Politik im Interesse der arbeitenden Menschen und nicht im Interesse des großen Geldes voraussetzen.
Wir, die Neue Linke,
solidarisieren uns mit dem Kampf der Bergarbeiter, ihrer Frauen, ihrer Familien, der Gemeinde Hückelhofen und ihres Umlandes um die Erhaltung der Zeche Sophia-Jacoba und ihrer Arbeitsplätze.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich muß ein Versäumnis nachholen. In der Aktuellen Stunde hat die Frau Kollegin Andrea Lederer darum gebeten, daß ihr Beitrag zu Protokoll genommen wird. *) Nach dem Verfahren, das wir eingeführt haben, bitte ich das Plenum um Zustimmung. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Als nächster Redner hat das Wort Dr. Karl H. Fell.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag geht die PDS auf Dummenfang.
Dieser Antrag soll, so wie die Vorgängerin der PDS,
die SED, das in der früheren DDR gemacht hat, ohne
') Anlage 4
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5501
Dr. Karl H. Fell
Rücksicht auf ökonomische Ressourcen Energiepolitik fortsetzen.
Das soll jetzt auch im vereinigten Vaterland nach den Vorstellungen der PDS geschehen.
Den Bergleuten auf Sophia-Jacoba wird vorgegaukelt, es gebe eine realistische Chance, das Bergwerk auf Dauer zu erhalten. Keiner von uns kann aber an der Tatsache vorbei — Herr Briefs, auch Sie nicht —, daß die auf Sophia-Jacoba geförderte Steinkohle am Markt noch einmal um gut 90 DM je Tonne teurer ist als die im Ruhrgebiet geförderte Steinkohle. Sie ist damit im Ergebnis fast viermal so teuer wie Kohle am Weltmarkt.
Da feststeht, daß die Fördermenge in Deutschland schon im Hinblick auf die EG-Vereinbarungen insgesamt gesenkt werden muß, ist es auch unvermeidlich, die Förderung an den kostenungünstigsten Standorten zurückzunehmen. Nichts anderes hat die MikatKommission vorgeschlagen. Diese Konsequenz ist unvermeidlich.
In der Aktuellen Stunde vor einem Monat habe ich selbst allerdings dafür geworben, Zeit für die notwendige Umstrukturierung in der Region Heinsberg zu gewinnen und deshalb Sophia-Jacoba noch für eine Reihe von Jahren, möglichst für zehn Jahre, zu subventionieren.
Dabei ging es aber nicht, Herr Briefs, um eine Existenzsicherung auf Dauer, sondern nur um den Zeitgewinn für die notwendige Umstrukturierung.
Die Gegenrechnung zu den gesamtwirtschaftlich notwendigen Aufwendungen für Arbeitsplätze hat mir im übrigen noch eine etwas bösartige Kommentierung in der „Wirtschaftswoche" eingetragen, offensichtlich auf Grund einer etwas unzutreffenden Information aus dem Wirtschaftsministerium über die Diskussion, die seinerzeit mit dem Minister im Sitzungssaal des Kreistags in Heinsberg geführt worden ist.
Dort hatte ich dargestellt, daß bei Investitionskosten je neuem Arbeitsplatz von angenommen 200 000 DM insgesamt für die Ersatzarbeitsplatzbeschaffung etwa 1,6 Milliarden DM notwendig sein würden, während sich die Kosten für eine längerfristige Fortexistenz von Sophia-Jacoba auf jährlich rund 100 Millionen DM belaufen.
Natürlich — das hatte der Minister eingewandt — werden Investitionen in neue Arbeitsplätze von den Unternehmen getätigt. Richtig ist aber auch — darum ging es mir — , daß die Investitionen in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingestellt werden müssen. Sollte Arbeitslosigkeit entstehen, dann sind auch die dafür erforderlichen Aufwendungen in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung natürlich nicht zu unterdrücken und zu unterschlagen.
Die Kohle-Runde, meine Damen und Herren, hat eine insgesamt sozial und politisch ausgewogene Gesamtlösung vereinbart. Sophia-Jacoba wird danach bis 1997 fortbestehen. Damit ist wenigstens etwas Zeit gewonnen, um die Umstrukturierung zu schaffen, und auf die kommt es an, nicht auf falsche Hoffnungen.
Im Gegensatz zu dem Antrag der PDS, der lediglich auf die Erhaltung bestehender Strukturen zielt, geht es für uns um Geld für neue Strukturen für die Zukunft. Nur das ist perspektivisch.
Statt falsche Hoffnungen zu wecken, sollte die PDS mit dafür eintreten, daß die Verkehrsinfrastruktur in der Gesamtregion durch den vierspurigen Weiterbau der Autobahn 46
bis über die deutsch-niederländische Grenze hinweg, bis zum Anschluß an das niederländische Autobahnnetz,
ebenso wie durch den Ortslagenausbau der B 21 verbessert wird. Damit, Herr Briefs, gelingt der Region der Anschluß an Europa, und damit gewinnt die Region auch wirkliche Zukunftschancen.
Der Antrag der PDS ist dazu ungeeignet. Er wird im Ergebnis auch abzulehnen sein. Er hilft den Menschen nicht. Er führt in die Irre. Und was das bedeutet, hat die PDS-Vorgängerin SED in der früheren DDR für alle sichtbar gemacht.
Der Überweisung des Antrags stimmen wir gleichwohl zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Karl-Hans Laermann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schließe mich den Ausführungen des Kollegen Fell weitgehend an. Der Antrag der PDS zur Sicherung des Weiterbetriebs der Zeche Sophia-Jacoba ist unseriös und unglaubwürdig. Die fachlich verqueren Forderungen dieses Antrages zeugen von wenig Sachverstand
und entlarven den Zweck der Antragsteller. Ihnen geht es nicht um die Lösung der Probleme und der für viele Menschen sehr schmerzlichen Auswirkungen der nun zu erwartenden Stillegung der Zeche.
Vielmehr wird in unverantwortlicher Weise versucht,
nicht erfüllbare Erwartungen und Hoffnungen neu zu
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Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann
wecken. Es wird versucht, Verunsicherung zu betreiben, wo rationale Perspektiven vermittelt werden müßten.
Da Herr Briefs behauptet, ich sei noch nicht dagewesen, will ich ihm sagen: Ich wohne gleich nebenan. Herr Briefs, ich kenne das wie meine Westentasche. Ich spreche auch mit vielen Menschen dort.
In der Kohlerunde sind die Entscheidungen über die Zukunft von Sophia-Jacoba im Grundsatz gefallen, die von allen an der Kohlerunde Beteiligten — auch von der IG BE — akzeptiert wurden. Betroffen von der Stillegung sind in erster Linie sicherlich die Kumpel und die Beschäftigten der Zeche Sophia-Jacoba.
Dies wird sich aber darüber hinaus negativ auf die gesamte wirtschaftliche Struktur und die Lebensverhältnisse aller im unmittelbaren Umfeld von Hückelhoven auswirken.
Viele Menschen in dieser Region sind zudem durch den Truppenabbau und durch die wirtschaftliche Situation der wenigen größeren Industrieunternehmen ohnehin hart betroffen. Es kommt nun wirklich darauf an, Konzepte und Strategien für den strukturellen Wandel zu entwickeln. Es gilt vor allem, dann auch unverzüglich und zügig solche Konzepte zur Schaffung neuer Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der Region umzusetzen.
Zu einem solchen Konzept gehören auch Maßnahmen zur Verbesserung der Standortqualität als Voraussetzung für Gewerbe- und Industrieansiedlung. Dazu gehören insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur. Ich folge dem Kollegen Fell in seiner Auffassung, daß es notwendig ist, den Autobahnausbau weiter zu betreiben, Umgehungs- und Landstraßen weiter auszubauen.
Vor allem, Herr Briefs — da hören Sie einmal gut zu; darum sollten Sie sich bemühen, statt solche dusseligen Anträge zu stellen —,
geht es z. B. auch darum, die Bahnlinie Mönchengladbach—Roermond zu erhalten und auszubauen;
denn wir sind hier in der Grenzregion. Wir können das Problem nur grenzüberschreitend lösen. Deshalb brauchen wir diese Bahnlinie.
Auf Grund meiner konkreten Erfahrung aus dem Aachener Revier weiß ich, Herr Briefs, wie schwierig es ist, einen solchen Umstrukturierungsprozeß einzuleiten, wie langsam und zäh ein solcher Prozeß anläuft. Bis 1997 sollte dafür allerdings hinreichend Zeit sein; aber dann muß dieser Zeitrahmen auch garantiert werden.
Neue Irritationen müssen dann unbedingt vermieden werden.
Bundes- und Landesregierung wollen den Auslaufprozeß finanziell flankieren und durch ein regionales Sonderprogramm unterstützen. Die Bundesregierung hat die entsprechende Haushaltsvorsorge schon getroffen. Dieses Sonderprogramm kann im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe aber nur präsentiert werden, wenn definitiv feststeht, daß die Förderung der Zeche ausläuft. Die konkreten Konzepte können nur in der Region entwickelt, die Prioritäten müssen dort gesetzt werden. Aber Bundes- und Landesregierung müssen das handfest unterstützen.
Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister für eine diesbezügliche Zusage. Ich bin sicher, daß auch die Landesregierung entsprechende Hilfen, nicht nur finanzielle Hilfen, geben wird.
Herr Briefs, um auf Sie einzugehen: Ich biete der Region und den Menschen dort meine Mithilfe und Unterstützung an. Ich bin sicher, daß die Kolleginnen und Kollegen des Landtages und des Bundestages aus der Region und in ihrem Umfeld gemeinsam bei der Erarbeitung der Konzepte und deren Umsetzung mitwirken werden.
Nicht große Reden halten, sondern vor Ort helfen, mit den Menschen reden und mit den Menschen zusammen Konzepte entwickeln und sich für die Umsetzung einsetzen, das ist die Aufgabe der Stunde.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Laermann, eins ist sicher: Dusselige Anträge können hier nicht gestellt werden; das gebietet schon der Respekt vor allen Mitgliedern dieses Hauses.
Nun hat unser Kollege Dr. Christoph Zöpel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört ja fast schon zu den Ritualen in diesem Hause, daß Anträge, die die PDS stellt, zunächst damit beantwortet werden, daß man auf das Versagen ihrer Vorgängerorganisation hinweist. Wer dies so gebetsmühlenhaft tut, macht es sich mit der staatlichen Verantwortung im demokratischen Staat zu leicht.
Wenn es irgendeinen Sinn macht, aus den Vorwürfen gegenüber der PDS und der SED Lehren zu ziehen, dann sind es die, daß der demokratische Staat besonders verantwortungsvoll handeln muß. Für die Energie- und Kohlepolitik vor allem des Bundeswirtschaftsministers in den letzten Monaten, trifft das in keiner Weise zu.
Das begann damit, was ja schon dem Einheitsgedanken in Deutschland keineswegs zuträglich ist, die
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Dr. Christoph Zöpel
Arbeitsplätze im Bergbau, hier speziell in Hückelhoven, bei Sophia-Jacoba, gegen Arbeitsplätze in den neuen Ländern auszuspielen, eine einheitsschädliche Argumentationsweise, und eine unverantwortliche dazu.
In keiner Weise hat der Bundeswirtschaftsminister klargemacht, welche besondere Verantwortung der demokratische Staat für Arbeitsplätze im Bergbau hat, auch im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen in den alten Ländern. Ich will auch sagen, warum: weil inzwischen der Staat und die Bundesregierung durch ihr Handeln seit Jahrzehnten Mitverantwortung übernommen haben, überwiegend in der Verantwortung von freidemokratischen Wirtschaftsministern, und zwar durch zwei Jahrzehnte hindurch. Das kann man nicht plötzlich in Frage stellen.
Der Bundeswirtschaftsminister hat ein hervorragendes Modell zur Lösung strukturpolitischer Probleme
— Sie klatschen viel zu früh — in diesem Staate, nämlich der Zusammenarbeit von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften, willkürlich in Frage gestellt, vor allem durch die Attacken und die Beleidigungen, die er gegenüber den Bergleuten ausgesprochen hat — ein weiterer Beitrag zum Glaubwürdigkeitsverlust demokratischen Handelns in diesem Staate.
Er hat schließlich Kohlepolitik im Grunde genommen als Medienrummel inszeniert. Ich habe es selten erlebt, wie Kohlepolitik um billiger Effekte willen als Medienrummel inszeniert wurde. Vielleicht das Beste dazu hat der Betriebsratsvorsitzende von Sophia-Jacoba gesagt, als er die Konferenz bewertet hat, die der Bundeswirtschaftsminister in Hückelhoven abgehalten hat. Er hat gesagt: „Ich glaube, die ganze Nation hatte Achtung vor der Entschlossenheit und Besonnenheit, mit der die Bergleute von Sophia-Jacoba hier demonstriert haben. "
Darunter waren Mitglieder der CDU, der FDP und der SPD, gleichgültig, in welcher Partei sie sich Achtung verdient haben. Ihr Zwischenruf zeigt: Dieselbe Mißachtung, die Möllemann gegenüber diesen Herren hat, haben auch Sie.
Er hat einen Medienrummel inszeniert. Was Sonnen gesagt hat, war richtig. Man stelle sich vor: Möllemann ruft, und keiner geht hin. Ich glaube, das wäre das richtige Verhalten gegenüber diesem Medienrummelminister.
Herr Kollege Dr. Zöpel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Laermann?
Aber selbstverständlich, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Zöpel, stimmen Sie mit mir in der Beurteilung überein, daß die Probleme der Zeche Sophia-Jacoba schon seit vielen Jahren existieren? Wenn diese Entwicklung seit vielen Jahren absehbar war, warum haben Sie sich dann als zuständiger Minister der nordrhein-westfälischen Landesregierung nicht intensiver um die Entwicklung der Infrastruktur, auch der Verkehrsinfrastruktur, in dieser Region bemüht?
Herr Kollege Laermann, es gibt zwar keinen Grund dafür, daß sich ein ehemaliger Minister der Landesregierung vor dem Bundestag verteidigen muß.
Aber hier ist es einfach: Die Entscheidung zum Bau der A 46 ist nach einem Ortstermin von mir als nordrhein-westfälischem Minister für Verkehr, also durch mich persönlich, getroffen worden. Herr Kollege Dr. Fell wird das bestätigen müssen. Daß sie gebaut wird, habe ich entschieden. Es ist so!
— Entschuldigen Sie bitte: Diese Straße ist planfestgestellt. Die Verzögerungen, die in den letzten sechs Monaten eingetreten sind, sind darauf zurückzuführen — ich sage das ganz objektiv —, daß die Umschichtungen im Verkehrsressort wegen der Vereinigung einige Monate Zeit gekostet haben. Ich werfe das niemandem vor.
Sie wird allein bundesfinanziert.
Ich komme jetzt zum zweiten Teil meiner Antwort auf Ihre Frage, nämlich zu der Konferenz, die Herr Möllemann dort durchgeführt hat. Er hat dort eine Konferenz durchgeführt und wollte über Strukturprobleme sprechen. Er hatte keine einzige konkrete Aussage, was er sich denn vorstellt, was geschieht, wenn Sophia-Jacoba stillgelegt wird, und das, obwohl er lange wußte und gezielt plante, diese Zeche zuzumachen. Hier liegt die eigentliche Unverantwortlichkeit, nämlich daß man, wenn es notwendig ist — was auch Bergbau und IG Bergbau einsehen —, langfristig Zechen stillzulegen, kein Konzept hat, das in angemessenen Zeiträumen die strukturellen Alternativen bietet, die notwendig sind. Das war der letzte Punkt staatlich unverantwortlichen Handelns durch den Bundeswirtschaftsminister.
Herr Kollege Dr. Zöpel, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Fell? — Bitte.
Bitte.
Herr Zöpel, ich kann Ihnen bestätigen, daß im Juni 1987 nach einem Ortstermin Sie als damals verantwortlicher Minister die
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Dr. Karl H. Fell
Entscheidung für den Ausbau der A 46 getroffen haben.
Aber darf ich Sie fragen, ob Ihnen unbekannt ist, daß die Verzögerungen beim Weiterbau der A 46 im Kreise Heinsberg u. a. darauf zurückzuführen sind, daß die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Autobahnausbaumittel vornehmlich auf den Ausbau in Düsseldorf konzentriert hat?
Herr Kollege Fell, es ist nicht richtig, was Sie in Ihrer Frage implizieren, daß es irgendeine Verzögerung beim Mittelabfluß zugunsten des Weiterbaus der A 46 gegeben habe, nachdem die Planfeststellung rechtskräftig geworden war. Das war die Hauptverzögerung. Es lag daran, daß ein Mitglied Ihrer Partei gegen den Planfeststellungsbeschluß Klage geführt hat. Sie können nichts dafür, daß der Mann in Ihrer Partei war.
Aber wenn man mit solchen Kinkerlitzchen anfängt, sitzt man meistens im Glashaus, Herr Kollege Fell.
— Herr Kollege, es ist eben peinlich, wenn man uninformiert Fragen stellt. Das wird immer peinlich. Und Sie machen das unablässig weiter.
Wir werden diesen Antrag überweisen. Er wird dem Ausschuß vorliegen. Es ist gut, daß der dort liegen wird; denn der letzte Punkt, den man zu der Energiepolitik des Bundeswirtschaftsministers sagen muß, ist: Die Probleme sind ja nicht gelöst. Wir haben noch nicht die Genehmigung für die Vereinbarung durch die EG, und wir haben noch keine Regelung der Finanzierung der Verstromung über 1995 hinaus.
Ich habe das dumpfe Gefühl, daß es schneller sein kann, als man glaubt, weil erneut tiefe Verunsicherung bei den Bergleuten in Hückelhoven und woanders auftritt, weil diese Probleme eben nicht gelöst sind.
Mein letztes Wort: Ich habe die Bergleute dort erlebt, einerseits entschieden und besonnen, aber andererseits in ihren Köpfen und ihren Seelen schon mit kritischen Fragen bezüglich der Glaubwürdigkeit dieser Demokratie. Damit komme ich zu dem zurück, womit ich begonnen habe. Unsere Antwort auf einen unglaubwürdigen Staat kann nur erhöhte Sensibilität hinsichtlich unserer Glaubwürdigkeit im demokratischen Staat sein. Die hat bei Möllemann total gefehlt.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, unserem Kollegen Klaus Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Zöpel, Sie haben heute abend hier einen Ton in die Debatte gebracht, den ich für unverantwortlich halte.
Es hat sich mir hier jedenfalls der Eindruck aufgedrängt, daß Sie die berechtigten Sorgen der Bergleute und ihrer Familien um die Sicherung ihrer Existenz in wirklich brutaler Weise instrumentalisieren. Das ist unverantwortlich.
Ich möchte lieber zur Sache sprechen, statt diesen Stil hier fortzusetzen. Ich erlaube mir eine Frage an meinen Vorredner, die dort anschließt, wo vorhin Professor Laermann aufgehört hat. Vorhin war die Rede von der A 46. Es geht nicht nur um die A 46, sondern um die gesamte Strukturpolitik für diesen sehr benachteiligten Raum. Da muß ich Sie nun wirklich fragen, Herr Zöpel: Sie waren jahrelang Mitglied der nordrhein-westfälischen Landesregierung, und die Landesregierung ist im wesentlichen zuständig für die regionale Strukturpolitik. Was haben Sie persönlich getan? Das möchte ich gern wissen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen sind, wie Sie wissen, in der Kohlerunde am 11. November dieses Jahres übereingekommen, die Anträge von Sophia-Jacoba auf Sonderhilfe zum Aufschluß neuer Kohlefelder wegen der Kostensituation des Unternehmens und auch wegen der finanzpolitischen Handlungsspielräume, die wir haben, abzulehnen.
Die Geschäftsführung von Sophia-Jacoba hat daraufhin der Kohlerunde erklärt, daß sie ihrem Aufsichtsrat die Einstellung der Kohleförderung im Laufe des Jahres 1997 vorschlagen muß. Sophia-Jacoba fördert — das ist hier soeben schon ausgeführt worden — Kohle, die gut mehr als dreimal so teuer wie die Kohle vom Weltmarkt und auch im deutschen Vergleich besonders kostenungünstig ist. Dies gilt auch für die Vorräte, die das Unternehmen mit öffentlicher Hilfe neu aufschließen sollte. Damit diese Kohle überhaupt an Kraftwerke abgesetzt werden kann, muß zusätzlich zu den üblichen Verstromungshilfen der Preis- und Qualitätsnachteil gegenüber normaler Ruhrkohle mit öffentlichen Mitteln ausgeglichen werden.
Der Antrag der PDS fordert auch die Einführung einer Absatzhilfe, um westdeutsche Steinkohle im Wärmemarkt der ostdeutschen Länder unterzubringen. Ich kann die Aufforderung an Herrn Briefs nur wiederholen: Die PDS möge den Kumpeln in den ostdeutschen Revieren doch einmal erklären, warum sie mit ihrer im Prinzip wettbewerbsfähigen Kohle zu-
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Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann
gunsten subventionierter Kohle aus dem Westen arbeitslos werden sollten.
Diese Frage beantworten Sie nicht. Im übrigen hätte eine derartige Ausweitung der Subventionen auch keinerlei Genehmigungschance in Brüssel.
Auch der Vorschlag der PDS, aus dem Jahrhundertvertrag den neuen Ländern Kohle zur Verfügung zu stellen, zeugt von wenig Sachkenntnis. Es gibt dort derzeit kaum ein Kraftwerk, das auf den Einsatz von Steinkohle ausgelegt ist. Neue Steinkohlekraftwerke werden kaum vor 1995/96 zur Verfügung stehen. Wer will, kann sich aber nach 1995 an der Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag beteiligen und deutsche Kohle kontrahieren, wenn er nicht die dortige Braunkohle vorzieht.
Bund und Land sind bereit, die Stillegung von Sophia-Jacoba finanziell zu flankieren und mit einem Sonderprogramm Anstöße für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Region zu geben.
Der Bund hat hier entsprechende Haushaltsvorsorge getroffen. Ich denke, daß ein Stillegungstermin 1997 hinreichend Zeitvorlauf bietet, um die wirtschaftliche Umstrukturierung der Region auf den Weg zu bringen. Ziel sind zukunftsträchtige Arbeitsplätze und zukunftsträchtige Wirtschaftsstrukturen. Hierauf haben die betroffenen Bergleute und ihre Familien, deren Sorgen wir sehr ernst nehmen, einen berechtigten Anspruch.
Dieses Sonderprogramm kann im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe mit Erfolg nur dann präsentiert werden, wenn feststeht, wann die Förderung ausläuft. Ich gehe davon aus, daß das Unternehmen jetzt rasch die entsprechenden Beschlüsse faßt. Die regionalpolitischen Angebote, denke ich, sind für alle Beteiligten vor Ort Herausforderung, aber auch Chance.
Die Vorschläge für konkrete Projekte, Herr Zöpel, müssen in dieser Region erarbeitet werden. Die Prioritäten müssen dort gesetzt werden. Erst dann kann die Bonner Politik helfen. Insofern geht Ihr Vorwurf gegen den Bundeswirtschaftsminister völlig ins Leere.
Wenn wir für dieses Programm Geld aufwenden, dann, davon bin ich überzeugt, ist dies volkswirtschaftlich viel besser angelegtes Geld als ein Neuaufschluß von Kohlefeldern, deren Kohle selbst innerhalb der deutschen Kohle nie wettbewerbsfähig werden kann.
Deswegen noch einmal meine herzliche Bitte an das Plenum, den Antrag der PDS auch in der parlamentarischen Beratung abzulehnen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1623 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des GolfKrieges
— Drucksachen 12/779, 12/1578 —
Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Harries
Dr. Klaus Kübler Birgit Homburger
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine 10-Minuten-Runde vereinbart worden. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu nachtschlafender Zeit, praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit,
wird heute die Beschlußempfehlung über den Antrag von Bündnis 90/DIE GRÜNEN mit dem schwierigen Titel „Nationale und internationale Konsequenzen der ökologischen Auswirkungen des Golf-Krieges" abgestimmt und, wie es bereits annonciert ist — ich gehe einmal davon aus —, abgelehnt. Diesmal ist das aber kein Ausschluß der Öffentlichkeit durch Militärzensur, sondern durch die Vertreter der großen Fraktionen dieses Hauses, die ganz klar signalisiert haben, daß eine frühere Behandlung unseres Antrages auf keinen Fall in Frage kommt.
Angesichts der zahlreichen Berichte, die uns aus Kuwait in den letzten Monaten erreicht haben, ist eine solche Haltung meines Erachtens aber mehr als fragwürdig. Sie tun gerade so, als wenn mit dem Löschen der brennenden Ölquellen, die vielen Menschen noch in schlechter Erinnerung sind, alles wieder beim alten wäre.
Am 5. November meldete Greenpeace, daß die seit dem Golfkrieg brennenden Ölquellen eine riesige Katastrophe ausgelöst haben. 50 To des kuwaitischen Territoriums seien mit ölig-teerigem Ruß bedeckt. Die Menschen leiden an Augen- und Hautreizungen sowie Bronchialerkrankungen. Ärzte rechnen mit einem drastischen Anstieg von Lungen-, Haut- und Blutkrebserkrankungen. Im „Spiegel" der vorigen Woche können Sie nachlesen, daß die Lebensbedingungen in
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Dr. Klaus-Dieter Feige
der gesamten Region noch über Jahrzehnte beeinträchtigt sein werden.
— Nein. Aber was die Ärzte sagen, ist sehr oft wahr und gerade in dieser Hinsicht mitunter viel drastischer, als man glaubt. Sie haben eine ganze Menge Deutliches dazu gesagt.
Zwischen 5,5 Millionen und 20 Millionen Tonnen Öl lagern in zähflüssigen schwarzen Teichen rund um die Ölfelder. Eine andere Zeitschrift, das „Allgemeine Deutsche Sonntagsblatt", schreibt in seiner Ausgabe vom 29. November, daß die schwarzen Teiche vor allem in den nördlichen Ölfeldern zu kilometerlangen Flüssen zusammengelaufen sind und zu befürchten ist, daß das klebrige Zeug ähnlich wie schon während des Golfkriegs in tiefen Gräben versenkt wird und somit das Grundwasser gefährden wird. Das muß nicht sein. Aber irgend etwas muß ja damit passieren.
Und das geschieht in einer Region, in der die Wasserknappheit schon heute zu erheblichen Konflikten führt! Welcher Aufwand zur Wasserversorgung notwendig ist, zeigt beispielsweise die Vereinbarung zwischen dem Ölscheichtum Katar und dem Iran über den Bau einer 2 000 km langen Wasser-Pipeline durch den Golf vor wenigen Wochen.
Unsere Forderungen seien überholt und zu umfangreich, meinen die Mehrheitsfraktionen. Nein, meine Damen und Herren, mit solchen Äußerungen zeigen Sie nur, daß Sie sehr wenig von unserem ganzheitlichen Ansatz verstanden haben. Es wundert mich dann auch nicht, wenn die Sozialdemokraten den Antrag interessant finden, aber dennoch, wie sie sagen, mit Bedauern ablehnen müssen.
Auch über eine neue Weltwirtschaftsordnung und neue Energiekonzepte mag die SPD in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Da müssen Sie sich allerdings fragen lassen: In welchem Zusammenhang dann?
In diesem Sinne sind Sie dann doch schon der Regierung eigentlich ein bißchen näher, vielleicht nur noch halb Opposition.
— Einer muß ja.
— Ja, es sind nicht so viele Grüne da. Aber die kommen ja wieder.
Ich kenne noch andere Parteien in diesem Hause, die nicht jedem Blick standhalten würden.
Die Abgeordneten im Haushaltsausschuß müssen sich fragen lassen, ob es an ihrer intellektuellen Aufnahmefähigkeit liegt, wenn sie freundlicherweise festhalten, daß einige unserer Forderungen überdenkenswert seien, dem Sammelsurium von Forderungen aber die Zustimmung verweigert werden müsse.
Die Bundesregierung teilte Anfang August dieses Jahres selbstgerecht mit, sie habe die ökologischen Auswirkungen des Golfkriegs von Anfang an mit Besorgnis und Aufmerksamkeit verfolgt. Na, prima, materiell hat sich das im August so ausgedrückt, daß sich der Gesamtwert der Leistungen der Bundesregierung zur Analyse und Begrenzung der Öko-Schäden des Golfkrieges auf 20 Millionen DM belief, während allein die finanzielle Beteiligung an den sogenannten militärischen Lasten 15 Milliarden DM betrug. Das muß man wohl nicht weiter kommentieren.
Aber einen Erfolg können wir uns, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, durchaus auf unsere Fahne schreiben. Ich hoffe, erst unserem Antrag ist es zu verdanken, daß sich die Bundesregierung am 14. August dieses Jahres endlich bequemte, das Zusatzprotokoll 1 zu dem Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 zu ratifizieren.
— Ja, es ist ein Erfolgserlebnis; das können Sie glauben.
Vielleicht könnte die Bundesregierung darüber hinaus heute berichten, was sie denn im letzten halben Jahr unternommen hat, um dem Grundgedanken der Vermeidung der Umweltkriegsführung weltweit Geltung zu verschaffen. Haben denn wenigstens alle NATO-Partner das Umweltkriegsverbots-Übereinkommen und das 46. Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention der Vereinten Nationen von 1977 inzwischen verbindlich anerkannt?
Ein Grund für den Ausbruch des Golfkrieges war die Abhängigkeit der westlichen Industriegesellschaften von fossilen Energieträgern. Und alle schönen Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, daß es nicht um hehre Prinzipien, sondern vielmehr um einen kostbaren Rohstoff, nämlich Erdöl, ging.
Oder glauben Sie etwa, die USA oder die UN hätten sich so engagiert, wenn es sich um Erdnüsse gehandelt hätte?
— Israel hat keine Erdnüsse.
Wir haben ja schon so viel über diesen Antrag diskutiert. Ich glaube schon, daß Israel eine ganz wichtige und bedeutende Rolle in diesem Krieg gespielt hat, aber die Ursachen für solche Kriege werden wir mit dieser Art und Weise des Vorgehens nicht verhindern.
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Dr. Klaus-Dieter Feige
— Das weiß ich nicht. Ich muß auf meine Figur achten. Deshalb kann ich nicht so sehr darüber nachdenken.
Das konservative Wallstreet Journal formulierte am 16. August 1990 in aller Deutlichkeit, warum die USA zum Beispiel in Saudi-Arabien seien: „Die USA sind dort, um die Sicherheit der Weltölversorgung zu schützen. "
Die Abhängigkeit vom Erdöl bedroht zum einen die Grundlagen der Weltwirtschaft und zum anderen unsere ökologischen Lebensgrundlagen. Es gilt deshalb endlich die richtigen Lehren aus der Golfkrise zu ziehen.
Falls die Golfkrise zu keiner Änderung der Energiepolitik führt — ich bin schon wieder bei der Energie —, wird der Ölverbrauch weiter steigen. Diese zusätzliche Nachfrage kann aber nur aus den Golfstaaten befriedigt werden. Dies gilt kurzfristig, aber noch viel mehr auf lange Sicht. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre werden die westlichen Industriestaaten aus diesem Grund noch wesentlich ölabhängiger von dieser politisch so instabilen und konfliktbeladenen Region sein. Die Golfkrise war dann nicht die letzte Bedrohung der Energiesicherheit des Westens, sondern der Auftakt zur dritten globalen Energiekrise.
Und wenn wir gerade dabei sind, muß ich Herrn Schmidbauer zitieren, der im Juni ausführte:
Wir verkennen nicht, daß wir eine bestimmte Unabhängigkeit
— ich glaube, vom Erdöl war damals die Rede —
erreichen und daß wir diesen Weg weiterverfolgen müssen. Aber dem Ausstieg, so wie er hier gefordert wird, kann ich nicht folgen.
Wie groß soll denn der Grad der Unabhängigkeit werden? Von welchem Weg sprechen Sie denn, den wir da weiter verfolgen müssen? Wie gedenken Sie denn nun diesen Ausstieg zu erreichen, wenn Sie nicht unseren Forderungen entsprechen? Schauen Sie doch bitte in die Berichte der Dritten Enquete-Kommission; Sie kennen sie doch sehr gut. Dort sind diese ganzheitlichen Ansätze mit nur relativ geringen Abweichungen von dem, was insgesamt aufgeführt wird, dargestellt.
Unser Antrag fordert nicht nur die zum Zeitpunkt der Einbringung unmittelbar notwendigen Hilfeleistungen in Sachen Ölbrände und Ölpest am Persischen Golf ein, die heute — das gebe ich natürlich zu; das hat ja sehr lange gedauert, bis wir das durchdiskutiert haben — teilweise überholt sein mögen.
Einige Positionen haben sich inzwischen erledigt, allerdings nicht mit deutscher Hilfe.
Wir schlagen darüber hinaus weiterreichende Maßnahmen für einen Abbau der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Kriegsursache „Erdöl" vor. Es reicht nämlich nicht, mit Nachsorgemaßnahmen oder einer internationalen Neubewertung der Umweltauswirkungen durch Kriege den Eindruck zu erwecken, als wäre durch technischen Umweltschutz und völkerrechtliche Vereinbarungen die ökologische Bedrohung der Menschheit zu bewältigen. Es muß um die Beseitigung der Kriegsursachen selbst gehen.
Notwendig ist dabei erstens ein konsequenter Umbau der nationalen Wirtschaftsweise. Im Energiesektor bedeutet das Einsparung und regenerative Energieträger im großen Umfang sowie den schnellstmöglichen Ausstieg aus der Atom- und in Zukunft auch aus der Erdölwirtschaft.
— Sparen, Herr Klinkert! Und denken Sie an die Sonne! Dann wissen Sie, woran ich denke, wenn ich von Energie und Wärme spreche.
Eine dritte Energiekrise kann vermieden werden, allerdings nur, wenn jetzt gehandelt wird und die richtigen energiepolitischen Lehren aus der Golfkrise gezogen werden. Bitte verkennen Sie dabei eines nicht. Man kann es lächerlich machen. Aber es geht um eine langfristige Sache. Alle Ressourcen sind begrenzt: Erdöl, Erdgas. Selbst das, was wir über die Atomwirtschaft machen werden, ist begrenzt. Eines Tages haben wir keine andere Chance — —
— Wenn Sie so viel Geld und so viel Zeit haben! Ich glaube, das wird wesentlich problematischer werden.
— Die Sonne ist die natürliche Kernfusion. Dort anzugreifen ist möglicherweise weitaus billiger.
Ich wiederhole, da meine Redezeit abgelaufen ist, nicht die Forderungen aus unserem Antrag. Ich kenne ja die Beschlußempfehlung. Ich bitte Sie, sich die Forderungen trotz allem in Erinnerung zu rufen.
Vielleicht denken wir eines Tages ein bißchen weiter über diese Probleme nach. In Konsequenz — so habe ich Ihre Empfehlung verstanden — soll unser Antrag aufgeteilt werden, damit er überschaubar wird
— auch für Sie nachvollziehbar ist — , um sich Einzelpositionen für konsequente und ökologisch intelligente Lösungen vorzunehmen.
Wir fordern Sie auf, die vorliegende Beschlußempfehlung abzulehnen und unserem Antrag zuzustimmen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile unserem Kollegen Dr. Klaus Kübler das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 6. November 1991 wurde die letzte brennende Ölquelle — noch nicht die brennenden Ölseen — gelöscht. Das ist jedoch noch keineswegs das Ende der Umweltkatastrophe in Kuwait.
— Ich komme gerade darauf.
Lassen Sie mich hier ausdrücklich auch vom Deutschen Bundestag allen 29 Löschmannschaften aus neun Ländern, auch dem kleinen Land Ungarn, herzlichen Dank sagen,
auch den Regierungen dieser Länder. Herr Harries wird es jetzt schon erraten: Ich sage auch industriepolitisch mit Bedauern: Diesen Dank kann ich — ich würde es wirklich gern tun — der deutschen Bundesregierung nicht aussprechen,
weil sie nach meiner Auffassung weder umweltpolitisch noch industriepolitisch das Talent entwickelt hat, sich an diesen Löschaktionen zu beteiligen
oder die notwendigen Rahmenvoraussetzungen zu schaffen, daß sich die deutsche Industrie daran hätte beteiligen können.
Ich habe mir lang Gedanken gemacht, welche tieferen Gründe dahinterstehen mögen. Ich will es nicht nur als ein Versagen der Bundesregierung im simplen Sinn beschreiben. Ich will es so formulieren: Offensichtlich litt die deutsche Außenpolitik — darunter hat auch der Forschungsminister gelitten, der federführend war — an einer Unsicherheit im Verhalten gegenüber Kuwait und in dieser Frage wohl auch an einer Unsicherheit im Verhalten gegenüber den Vereinigten Staaten.
Mir wäre es aus umweltpolitischen und industriepolitischen Gründen lieber gewesen und ich hätte es für notwendig gehalten, die deutsche Außenpolitik — in diesem Falle auch der zuständige Forschungsminister — hätte das notwendige Selbstbewußtsein entwickelt, genauso wie andere Staaten den Anspruch anzumelden, umweltpolitisch und industriepolitisch tätig werden zu können, zumal da — ich wiederhole das hier, aber das sind im wesentlichen außenpolitische Ausführungen — der Anteil der Bundesrepublik Deutschland, was die Milliardenzahlungen angeht, egal, wie man zu dem Krieg als solchem steht, ein enormer war, wenn nicht sogar der größte. Ich sage das auch deshalb, weil es auch industriepolitisch nachwirkt.
Weder der Bundesaußenminister noch der Bundesumweltminister — zu Zeiten, wo es möglich war —, noch der Bundesforschungsminister reisen in diesen Raum. Ich betrachte das als eine Vernachlässigung — —
— Aber sie wissen doch, wie er da war. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht landen. Ich sagte: zu einem Zeitpunkt, zu dem er hätte einreisen können.
Ich habe ausdrücklich gesagt: zu einem Zeitpunkt, zu dem er konnte.
Lassen Sie mich zu der aktuellen umweltpolitischen Situation in Kuwait kommen. Es ist richtig, und wir sind alle froh darüber — auch dies will ich ohne Wenn und Aber sagen —, daß die von vielen vorhergesagten glob alen Klimaveränderungen offensichtlich nicht eintreten werden.
Dazu darf ich nur sagen, daß die CDU bei der Anhörung am 29. April in dieser Einschätzung durchaus genauso unsicher war wie wir.
Das ändert nur überhaupt nichts daran, daß nach den Schätzungen — und das sind Schätzungen von seriöser Seite, überhaupt keine Panikschätzungen — zwei Milliarden Barrel Öl, die verbrannt sind, und sechs bis acht Millionen Barrel Öl, die in den Golf geflossen sind, nach wie vor für diese Region — nicht global, aber für diese Region — in der Tat auf mittelfristige Zeit verheerende Auswirkungen haben.
Herr Kollege Feige hat schon einiges gesagt; ich will nur das eine oder andere ergänzen. Ich meine die großen Konzentrationen von Schwefeldioxid, Kohlenmonoxid und Stickoxiden, die in der Luft sind. Die Lungen geschlachteter Tiere sind schwarz; wir haben dies gesehen. Es gibt Experten zufolge nach kuwaitischen Angaben Schätzungen, daß in den nächsten zwölf Monaten tausend Menschen sterben werden. Das sind ganz vage Zahlen, weil die Todesursachenfeststellung in Kuwait sicherlich auf jeden Fall nicht unbedingt besser ist als bei uns.
Weiter hören wir, daß ein Drittel des Öls, das im Golf ist, die Küste auf einer Länge von vielleicht 700 Kilometern verkrustet hat, daß wir heute — ich kann die Zahl nicht überprüfen — wohl etwa 200 Ölseen riesigen Ausmaßes haben und daß der verlorene Marktwert an Öl auch eine große ökonomische Bedeutung hat. 132 Milliarden DM betragen allein die Kosten des verbrannten Öls, die Kosten der Beseitigung der sonstigen Schäden nicht eingerechnet.
Der Irak hat eine halbe Million Minen in Kuwait verlegt. Beide Kriegsparteien hinterließen eine riesige Menge Munition im Wüstensand. Darunter befinden sich nach Pressemitteilungen — ich wäre froh, sie würden sich nicht bestätigen — panzerbrechende Geschosse mit Urankernen — das ist wohl eine Frage der besonderen Härte und der Durchschlagskraft dieser Geschosse — , die von alliierter Seite abgefeuert wurden, und einer Studie der britischen Atombehörde AEA zufolge reichen die 40 000 Tonnen vermindertes Uran theoretisch aus, 500 000 Menschen zu vergiften.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5509
Dr. Klaus Kübler
Ich wäre dankbar — ich stelle das hier in den Raum — , wenn dazu Äußerungen erfolgen könnten oder zumindest Nachforschungen zugesagt würden.
Die Folgen der Bombardierung irakischer Atomreaktoren und C-Waffen-Fabriken sind weitgehend unbekannt. Es gibt — auch dies muß man sagen — nicht auf Kuwait beschränkte Folgen, sondern es gibt riesige Umweltschäden auch im Irak, es gibt riesige Umweltschäden in Saudi-Arabien, und es gibt praktisch in allen Golf-Anrainerstaaten riesige Umweltschäden.
Wir haben somit, wenigstens was das öffentliche Bewußtsein angeht, erstmals eine militärische Auseinandersetzung gehabt, die man zumindest auch als Öko-Krieg bezeichnen kann.
Man hat eine Kriegführung mit zwei Formen der ÖkoWaffen gehabt.
Lassen Sie mich — wir müssen ja weiterkommen — überlegen und auch aussprechen, was für die Zukunft getan werden muß. Ich habe schon mehrmals geäußert, daß eine umgehende Verbesserung des völkerrechtlichen Schutzes vor umweltzerstörerischer Kriegführung notwendig ist. Dazu gehören — jetzt will ich fünf oder sechs Punkte aufzählen — vor allem die vorbehaltlose Ratifizierung der Zusatzprotokolle zur Genfer Konvention von 1977 durch alle NATOPartner einschließlich der Bundesrepublik,
ein generelles Vorrecht der ökologischen Schadensbekämpfung gegenüber militärischer Geheimhaltung im Konfliktfall — dies hatten wir in der Kuwait-Situation sehr lange — , die Schaffung — dies, so hoffe ich, ist wohl unbestritten — einer internationalen Organisation, auf die die UN bei Bedarf zur Bekämpfung von Naturkatastrophen und Umweltgefährdungen zurückgreifen kann. Ein weiterer Punkt ist eine Überprüfung des bisher noch festgeschriebenen Vorrangs des militärischen Bedürfnisses für die Legitimation einzelner Kriegshandlungen vor den ökologischen Bedürfnissen oder Notwendigkeiten — ein ganz zentraler Punkt —; weiter das ganz generelle Verbot des Einsatzes ökologischer Zerstörungen als Waffen.
Ich könnte mir vorstellen, daß sind doch wohl Überlegungen, an die man gemeinsam herantreten kann. Ich weiß, wie lang dieser Weg sein wird, bis wir soweit sind.
Es ist auch die Frage zu stellen, ob es nicht so etwas wie Rot-Kreuz-Regelungen für bestimmte ökologische Situationen geben kann, nach denen zumindest partiell Kriegshandlungen ausgesetzt werden, damit man ökologische Schäden wenigstens eingrenzen, in den Griff bekommen kann.
Ich kann nur sagen: Dieser Krieg in dieser Dimension war eine letzte, eine ganz nachdrückliche Ermahnung — ich will es nicht dramatisieren —, uns der Fortschreibung des internationalen Umweltvölkerrechtes zu widmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, Frau Kollegin Jutta Braband ist die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure sehr, daß dieser Antrag in den Ausschüssen nicht mehr Erfolg hatte. Ich habe bereits in der ersten Stellungnahme zu diesem Antrag gesagt, wie hoch unsere Gruppe diesen Antrag bewertet gerade wegen seines ganzheitlichen Anspruches und wegen der Tatsache, daß uns nach all den Veränderungen in Osteuropa nichts anders nötiger erscheint, als zu versuchen, diesen ganzheitlichen Anspruch in diesem Bundestag durchzusetzen.
Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE enthält in seinem ersten Teil ein umfassendes Soforthilfeprogramm für die durch den Golfkrieg geschädigte Region. Zum anderen wird in diesem Antrag unmißverständlich klargemacht, welche Konsequenzen sich nach Auffassung der Antragsteller und Antragstellerinnen aus der Beurteilung der zugrundeliegenden Problematik der zunehmenden Möglichkeit von Umweltkriegen sowohl innen- als auch außenpolitisch für die Bundesrepublik Deutschland und damit übrigens nicht nur für die gegenwärtige Regierung ergeben.
Die Behandlung dieses umfassenden Antrags in den Ausschüssen ist beeindruckend. In fast allen wurde der Antrag abgelehnt, in einigen Fällen bei Stimmenthaltungen durch die SPD. Ausgerechnet der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, der Ausschuß für Wirtschaft und der Rechtsausschuß haben es überhaupt nicht nötig gehabt, sich mit diesem Antrag zu beschäftigen, geschweige denn ein Votum abzugeben. Es wäre schon gewesen, wenn Sie dem Inhalt nach diesem Antrag zugestimmt hätten, statt zu sagen, er sei so verwirrend, vielfältig und umfangreich.
In der Begründung des Umweltausschusses heißt es sinngemäß, der Ausschuß sehe den Antrag hinsichtlich des Soforthilfeprogramms als überholt an, der andere Teil sei zu umfangreich und zu verschiedenartig. Ich gebe — gelinde gesagt; ich drücke mich sehr vorsichtig aus — meinem Unverständnis Ausdruck, daß dieses Parlament oder zunächst einmal seine Ausschüsse sich nicht in der Lage sehen, globalen Problemen durch umfassende Diskussionen auch adäquat zu begegnen.
Niemand hier, so glaube ich, bestreitet, daß der Antrag einer differenzierten Untersetzung bedarf.
Ich denke, Herr Feige hat das wirklich deutlich gemacht. Wenn dem Anliegen dieses Antrags nicht grundsätzlich entsprochen wird, bleiben alle, wirklich alle Bekundungen in Richtung Umweltschutz und Abrüstung bloßes Geschwafel.
Die PDS/Linke Liste teilt nach wie vor die Auffassung, daß völkerrechtliche Konsequenzen aus diesem Krieg gezogen werden müssen, dessen Folgen auch den vielen, die nicht wie ich Krieg als Fortset-
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Jutta Braband
zung der Politik mit anderen Mitteln ablehnen, gezeigt haben, daß die Probleme in dieser Region nicht gelöst wurden und auch in Zukunft durch solche Kriege nicht zu lösen sind.
Wir unterstützen auch die Forderung nach Einsetzung eines internationalen Untersuchungsausschusses, der die Methoden der kriegführenden Parteien am Golf gegen die Zivilbevölkerung und Umwelt zu untersuchen hat.
Außerdem ist ein Hilfsprogramm für die Menschen nötig, die am Golf leben und die die Kriegsschäden nun auszubaden haben. Ich will noch einmal darauf verweisen — ich bin Herrn Feige und Herrn Kübler sehr dankbar, daß sie darüber ausführlicher gesprochen haben — : Diese Probleme sind nicht beseitigt.
Auch ich finde, es ist ein Erfolg, daß die letzte brennende Ölquelle gelöscht worden ist. Aber damit sind die Probleme keineswegs beseitigt.
Es sind also Maßnahmen nötig, die auch darauf gerichtet sind, Kriegsursachen weltweit zu beseitigen.
Was aber geschieht eigentlich in diesem Gebiet? Fragen wir doch noch einmal nach der Untersetzung. Sie sagen: Wir gehen global an die Lösung dieser Probleme heran. Wir sind bereit, die Probleme zu lösen. Fragen wir doch einmal, wie das aussieht.
— Wir rüsten ab, was wir eh nicht mehr brauchen. — In den letzten Wochen wurden das Umweltministerium und Herr Töpfer überhaupt nicht müde, auf die besondere Bedeutung der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im nächsten Jahr in Rio hinzuweisen.
Dieser besonderen Bedeutung könnte der Bundestag doch in angemessener Weise Rechnung tragen, indem er beschließt, wirksame Schritte zu einer solidarischen Neuordnung der Weltwirtschaft einzuleiten.
Grundsätzlich liegen die Ursachen für die globalen Bedrohungen in den durch Ausbeutung und Ressourcenplünderung charakterisierten Ökonomien des Nordens. Mit den technokratischen Umweltreparaturkonzepten, die uns die Bundesregierung anbietet, kann in den Ländern des Nordens vielleicht ein kurzfristiger Aufschub des ökologischen Zusammenbruchs bewirkt werden. Anders verhält es sich aber in den Ländern der Dritten Welt, wo soziale Not ganz direkt mit dem ökologischen Notstand verbunden ist.
Unabdingbare Voraussetzung für eine solche solidarische Weltwirtschaftsordnung wäre eine b edingungslose und umfassende Schuldenstreichung. Darüber hinaus fordern wir auch die Einrichtung eines internationalen Reparationsfonds, dessen Gelder, orientiert an den Bedürfnissen der ärmsten Bevölkerungsschichten, von den Vertretern und Vertreterinnen der Dritten Welt selbst verwaltet werden. Wir müssen uns ebenso dafür einsetzen — wenn wir denn diese solidarische Weltwirtschaftsordnung wollen —, daß die internationalen Produktions- und Konsumtionsstrukturen nicht mehr auf einem ausbeuterischen Verhältnis zwischen Menschen und Natur beruhen.
Das ist das grundlegende Problem, das wir auch hier antreffen. Ich sehe bisher nicht, daß diesem Problem in irgendeiner Weise wirklich begegnet wird. Alles, was wir tun, ist bis jetzt Nachsorgepolitik. Sie sind weder in der Energiepolitik noch in der Verkehrspolitik dazu bereit, aus unserer Art zu produzieren, aus unserer Art, Ressourcen und Natur zu verschwenden, Konsequenzen zu ziehen.
Ich denke, daß wir deswegen bei den Hauptverursachern dieser globalen Krise ansetzen müssen, nämlich bei uns selbst, den Ländern des Nordens, und damit vor allem auch bei diesem Land. Wir sind ein sehr reiches Land. Wir haben die Möglichkeiten dazu.
— Nein, das sehe ich nicht so. Wenn Sie sich wirklich kundig machen würden, dann wüßten Sie, daß umweltschonende Politik letztlich sehr viel billiger wäre, als diesen Planeten zu sprengen, ob nun durch Atomkraft oder durch Kriege.
Gerade weil die Bundesrepublik eines der reichsten Länder ist, sind wir also der Auffassung, daß wir sehr gute Möglichkeiten haben, damit zu beginnen. Eine Vorreiterrolle kann nur darin bestehen, in diesem Punkt umzudenken und nicht einfach so weiterzumachen, weiter zu reparieren und den alten Schäden neue hinzuzufügen.
Es ist schon gesagt worden, daß auch der amerikanische Präsident zu zitieren wäre, wenn wir über die Gründe des Golfkrieges zu sprechen hätten. Ich werde darauf verzichten;
dafür will ich noch einmal etwas zu der Ölpolitik sagen. Ein Umdenken in der Energiepolitik ist — Herr Feige hat es schon ausgeführt — gerade wegen der weltweit mangelnden Ressourcen nötig. Jeder und jede von Ihnen haben die Möglichkeit, sich darüber kundig zu machen, wie viele Ölreserven es in der Welt eigentlich noch gibt. Ich will das ganz kurz sagen — ich nehme an, Sie wissen es alle — : Die Ressourcen in Amerika und Europa sind knapp bemessen. Sie reichen noch zehn Jahre, vielleicht ein bißchen länger. Die Ressourcen aber, die vor allem in Südamerika und im Mittleren Osten liegen, sind diejenigen, die sehr viel länger halten.
Die Frage ist: Kann weiter so gewirtschaftet werden, wenn die Industrie auf Ölverbrauch, auf Energieverbrauch aufbaut? Was anderes sollen denn die ständig geforderten — nicht von Ihnen — schnellen Eingreiftruppen, als unsere Ölversorgung sicherzustellen? Wofür sollen die denn in der Zukunft sein? Können Sie das einmal sagen? Wenn wir nicht von diesem
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Jutta Braband
Ölverbrauch, von diesem hohen Energieverbrauch herunterkommen und wirklich auf eine umweltschonende Energie umsteigen, — —
— Herr Feige hat es Ihnen doch gesagt: auf Sonnenenergie. Sie können doch all die Mittel, die wir gegen meinen Willen bewilligt haben, um z. B. Atomtechnologie zu fördern, einsetzen, um andere Energieformen zu fördern, z. B. regenerative Energien, und dann sehr viel mehr erreichen. Aber solange Sie nur darüber reden, daß es gemacht werden muß und nicht gemacht wird, wird es auch nicht geschehen.
Ich möchte Ihnen zum Schluß ein Zitat mit nach Hause geben von einem nicaraguanischen Mann, der Thomás Borge heißt. Ich finde, es klingt wie eine Warnung, aber es ist auch eine Wahrheit und hat etwas mit uns zu tun. Er hat 1990 gesagt:
Der Sturz der Berliner Mauer ist nur ein unbedeutendes Geräusch, verglichen mit dem Krachen, das zu hören sein wird, wenn die stinkende Barriere fällt, die Harlem von Manhatten trennt, oder erst recht mit dem dröhnenden Fall der riesigen Mauer, die Nord und Süd trennt, die siegreichen von den besiegten Ländern, jene Mauer, die aus Bergen von Totenköpfen, Geldscheinen und Eitelkeiten erbaut wurde, mit dem Schweiß und Blut unserer verarmten Parzellen der Dritten Welt.
Das sollten wir fürchten und bedenken. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Klaus Harries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Feige, Herr Kübler, ich höre Ihnen in aller Regel gern zu und auch mit großem Respekt, gelegentlich auch Ihnen, Frau Braband. Heute habe ich mich aber doch gewundert, als ich Ihre Reden gehört habe. Da hatte ich zeitweilig den Eindruck, wir Deutschen sind schuld an der Katastrophe am Golf. Sie haben nicht mit einem Wort den irakischen Diktator genannt, der dort den Krieg angefangen hat,
den die Amerikaner gehindert haben, daß aus dem lokalen Krieg ein Weltkrieg wird. Ich nenne nur Israel. Er hat die ökologischen Katastrophen, über die wir reden, eingeleitet und verbrochen. Darüber kein Wort. Das war mir zuwenig.
Wir haben über die ökologischen Verbrechen, die der Herr Saddam Hussein begangen hat — es waren Verbrechen, und sie wirken nach; das haben Sie völlig zu Recht gesagt — in diesem Haus wiederholt diskutiert. Wir haben sogar weitgehend einvernehmlich darüber diskutiert. Wir haben in den Fachausschüssen darüber diskutiert. Wir haben uns also dieses Themas angenommen. Das ist überhaupt keine Frage.
Dabei ist ganz interessant, daß die Damen und Herren der großen Oppositionspartei von vornherein eine weltweite Katastrophe vorausgesagt und gemeint haben, hier würden Luft, Wasser und Boden nicht nur regional im Irak und Kuwait begrenzt geschädigt werden, was schlimm genug ist und was Hussein überhaupt nicht entschuldigt und entlastet. Vielmehr hat die SPD das sehr lange — ich meine schon, aus politischen Gründen; das war wieder so etwas Katastrophenpolitik, was oft im Mittelpunkt Ihrer Politik steht — ganz generell gesagt. Aber ich betone ausdrücklich: Auch die regional begrenzte Katastrophe durch die Ölbrände und durch das Einleiten von Öl in den Golf war schlimm genug.
Herr Kollege Harries, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kübler? — Bitte.
Herr Harries, stimmen Sie mir zu, daß wir von der SPD keine vorgefaßte Meinung hatten, daß wir deshalb erstens ein FachHearing innerhalb der SPD-Fraktion durchgeführt — das können Sie im Detail nicht wissen — und zweitens dieses Hearing im Umweltausschuß beantragt haben, um ausdrücklich Experten zu hören und uns eine Meinung zu bilden?
Wir haben eine Anhörung durchgeführt. Das habe ich hier gesagt. Ich habe auch von der sehr intensiven Diskussion im Umweltausschuß gesprochen. Für uns war deutlich, daß gerade die Wissenschaftler in dieser Anhörung bereits weitgehend übereinstimmend gesagt haben: Die Katastrophe ist regional begrenzt auf Kuwait und den Golf. Da kamen von Ihnen und von anderen immer noch Töne in anderer Richtung.
Herr Kollege Harries, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Feige?
Ja, aber gerne.
Herr Harries, glauben Sie mir, daß ich mich oft genug gegen das, was Saddam Hussein getan hat, in der Öffentlichkeit geäußert, mich davon distanziert und diesen Mann einen Verbrecher genannt habe, auch wenn es mich jetzt die Verfolgung durch proirakische Gruppen auch im Norden Mecklenburg-Vorpommerns kostet?
Herr Feige, ich habe von Ihren Äußerungen heute hier berichtet. Die habe ich moniert. Da fiel das Wort der Verbrechen von Hussein an keiner Stelle. Wir diskutieren hier und heute über Ihren Antrag. Da war das für meine Begriffe fällig.
Ich sehe durchaus ein Motiv für das Erzeugen von Katastrophenstimmung. Sie wollten über Wochen und Monate der Bundesregierung vorwerfen: Ihr tut
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Klaus Harries
nichts. Das ist der weitere Punkt, zu dem ich kurz etwas sagen will.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat von vornherein Hilfe angeboten. Der Bundesumweltminister war dort.
— Sie haben völlig recht, er durfte nicht in Kuwait landen.
Wir haben Schiffe hingeschickt. Wir haben Meßstationen angeboten. Wir haben später Löschtrupps angeboten, die zusammen mit der Industrie löschen sollten.
Es ist schon sehr wichtig und auch nachdenkenswert, warum wohl diese Hilfe nicht angenommen worden ist. Darüber kann man spekulieren. Ich sage Ihnen einmal, worin ich den Grund sehe, warum die Kuwaiter das Angebot der Bundesrepublik nicht angenommen haben. Ist das nicht vielleicht darauf zurückzuführen, daß das Bild Deutschlands in den schlimmen Tagen des Ölkrieges weltweit bestimmt wurde durch Presse-, durch Fernsehberichterstattung über die sogenannten Friedensdemonstrationen, die hier wochenlang angeheizt wurden, unter Führung der Lehrer teilweise von Kindern auf den Straßen durchgeführt wurden? Dieses Bild hat dem Ansehen Deutschlands in der Welt sehr geschadet.
Fahren Sie hinaus, dann können Sie es feststellen. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, daß das der Grund war, warum die Kuwaiter gesagt haben: Wer sich nicht rechtzeitig zu dem bekennt, was sich abspielt, der kriegt nachher auch nicht die Aufträge.
Herr Kollege Harries, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Braband?
Ja, gerne.
Herr Harries, habe ich eben richtig gehört, daß Sie der Auffassung sind, daß die Meinungsbekundungen der vielen jungen Menschen, der vielen Schülerinnen und Schüler — nicht nur der, aber es waren ja sehr, sehr viele junge Leute; Sie haben es eben ausdrücklich gesagt —,
die auf den Straßen dafür demonstriert haben, daß kein Krieg stattfindet — sie haben ausdrücklich nicht für Saddam Hussein demonstriert, sondern sie haben für die Beendigung dieses Krieges demonstriert; ich will das noch einmal sagen —,
dem Bild dieses Landes in der Welt abträglich waren?
Ja, der Meinung bin ich, Frau Braband.
Die haben doch nicht einmal — ich rede nicht von irgendwelchen Ausnahmen — gegen Saddam Hussein demonstriert,
es wurde doch gegen die Amerikaner demonstriert.
Es ist doch geradezu typisch, daß jetzt während der Monate des schlimmen serbischen Angriffs auf Kroatien nicht eine Demonstration stattfindet.
Warum denn? Wenn die Amerikaner dort wären, wären auch wieder die Demonstrationen im Gange.
Meine Damen und Herren, ich darf jetzt aber auf Ihren Antrag kommen. Ich habe ausdrücklich gesagt: Es ist gut, daß die Katastrophe am Golf auf Kuwait begrenzt werden konnte. Die Ölbrände sind gelöscht, und auch die dramatischen Folgen im Golf sind dort begrenzbar.
Sie wollen mit Ihrem Antrag Konsequenzen auch aus diesem Krieg ziehen. Das war übereinstimmend in Ihren Ausführungen zu hören. Nur, Sie sind einfach zu kurz gesprungen. Ich habe im Umweltausschuß Ihren Antrag als Fleißarbeit bezeichnet, weil er eine Fülle, Dutzende von Forderungen enthält.
Man kann es auch anders formulieren. Man kann auch von einem Warenhauskatalog sprechen, der zwei Sorten von Waren anbietet: einmal Waren, die längst im Handel sind, mit denen sich die Welt weitgehend und schon lange beschäftigt, die aber von Dritten angeboten werden und über die zur Zeit ernsthaft diskutiert wird. Da kommen Sie zu spät. Dann werden von Ihnen Waren angeboten, die niemand in der Welt, weder in Ost noch West, weder im Norden noch im Süden, anzukaufen bereit ist.
Diese allgemeine Behauptung, die ich gemacht habe, darf ich jetzt durch einige Punkte aus Ihrem Katalog konkretisieren. Sie haben, Herr Feige, in Ihrem Antrag mit Ihrer Gruppe z. B. vorgeschlagen, den armen Völkern der Dritten Welt Schuldenerlaß zu gewähren. Ist es eigentlich originell, was Sie da vorschlagen? Das haben wir vor Jahr und Tag bereits getan. Die Bundesrepublik Deutschland war mit ihren Entscheidungen, mit ihrem Schuldenerlaß einer der ersten, der überhaupt in der Gruppe der G 7 das diskutiert und durchgesetzt hat. Das ist doch, so wichtig es ist und so wichtig es weiterhin ist, an dieser Stelle ein alter Hut.
Sie sagen weiter, die Tropenwälder müßten geschützt werden. Wir gehen doch längst einen Schritt weiter und sagen: Nicht nur die Tropenwälder, die
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Klaus Harries
Wälder generell auf dieser Erde, auf der wir wohnen, müssen geschützt werden, auch unsere. Aber wer ist denn bei dieser Debatte wieder der Vorreiter, wer ist denn derjenige, der im Grunde in der Gruppe der G 7, also der großen reichen Industrieländer, der Vorreiter war und das zum Thema gemacht hat?
Welches Land hat denn die ersten Millionen auf den Tisch gelegt? 250 Millionen DM, bestimmt für Brasilien. Wir haben es gestern wieder in einer gemeinsamen Sitzung zweier Fachausschüsse gehört und darüber diskutiert. Warum sind sie nicht abgerufen? Es liegt nicht an uns, es liegt am Empfängerland, in diesem Fall Brasilien. Ich will nur sagen: Auch das ist ein alter Hut.
Wenn Sie leichtfertig über die Rio-Konferenz hinweggehen: Im Grunde ist das ein mühsamer, schwieriger Weg, aber wir gehen ihn schon lange.
Sie plädieren für den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie.
— In Ihrem Antrag steht Sofortausstieg aus der Kernenergie; lesen Sie nach. — Selbst unsere große Oppositionspartei tut es nicht mehr. Die Frist ist doch längst über zehn Jahre hinausgegangen. Man redet schon ausdrücklich von 15 Jahren und mehr. Niemand kann das Energieproblem weltweit lösen ohne Kernenergie. Wir müssen natürlich Schritte einleiten, um beim Öl etwas zu tun. Da sind wir doch dabei. Kommen Sie wieder einmal — Sie gehören doch zu uns — in die Enquete-Kommission. Dann wissen Sie, worüber wir im Energiesektor diskutieren.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Sie wollen den öffentlichen Personennahverkehr fördern. Das ist doch schon eine lange Diskussion, und es gibt erfolgreiche Schritte dahin. Sie wollen das nur wieder sofort und abrupt. Sie wollen im Grunde den Sofortausstieg auch hier von den Autos. Das geht nicht.
Sie plädieren für eine neue Weltwirtschaftsordnung, Sie plädieren für ein neues internationales Verhalten der Banken gegenüber der Dritten Welt. Darüber wird doch diskutiert, und da sind wir nicht hinten, sondern vorne. Wir sind dabei, die GATT-Verhandlungen zu einem Erfolg zu machen.
Wissen Sie denn gar nicht, Herr Feige mit Ihren Freunden in der Gruppe, daß Politik ein mühsamer Weg, das Bohren von dicken Brettern ist? Darum geht es. Das tun wir. Ihr Warenhauskatalog ist wirklich zu leicht, um diesen schwierigen Weg zu gehen. Deswegen bleiben wir auf unserem Kurs.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie, einverstanden zu sein, daß die Rede zu diesem Tagesordnungspunkt, die Frau Kollegin Birgit Homburger halten wollte, zu Protokoll gegeben wird. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. *)
') Anlage 5
Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/779. Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf der Drucksache 12/1578, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/GRÜNE und PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ottmar Schreiner, Dr. Peter Struck, Hans-Ulrich Klose und der Fraktion der SPD
Verlängerung und Verbesserung der in den
neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland geltenden Kurzarbeitergeld-Regelungen
— Drucksache 12/1645 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Die muß jedoch nicht ausgenutzt werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erste Rednerin unsere Kollegin Frau Renate Jäger. Bitte sehr.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist sinnvoll, daß wir bei dieser Thematik — Sonderregelungen des Kurzarbeitergeldes für die neuen Länder — noch einmal ein Stück zurückblicken. Im Frühjahr haben wir uns mit der Verlängerung der Regelung für die neuen Länder schon einmal beschäftigt und diesbezüglich am 17. April eine Anhörung durchgeführt.
Wer anhand des Protokolls die Expertenäußerungen nochmals Revue passieren läßt, wird feststellen, daß die Aussagen der Fachleute auch jetzt noch zutreffen, da sich die arbeitsmarktpolitische Situation in den neuen Ländern nicht wesentlich verändert hat. Die Gefährdung der Arbeitsplätze ist nach wie vor enorm groß.
Der Verwaltungsausschuß des Landesarbeitsamtes Sachsen macht in einem Papier zu Fragen des arbeitsmarktpolitischen Entscheidungsbedarfs vom 18. November 1991 auf folgende Gefahren aufmerksam, wenn die bisherigen arbeitsmarktpolitischen Regulative wegfallen oder eingeschränkt werden: aufgebautes Vertrauen in die Politik auf sozialverträgliche Gestaltung würde gestört; erreichte Beschäftigungswirkungen von begonnenen ABM würden gefährdet; ein weiterer rapider Anstieg der Arbeitslosigkeit birgt die Gefahr des Abwanderns qualifizierter Arbeitnehmer
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Renate Jäger
in sich; der erreichte soziale Konsens von Arbeitgebern, dem Land sowie den Gewerkschaften würde gefährdet.
Alle gemeinsam sind wir uns wohl darüber im klaren, daß die Arbeitsmarktinstrumente wie die Kurzarbeitergeldregelung, ABM, Altersübergangsgeld und Beschäftigungsgesellschaften keine idealen Dauerlösungen darstellen.
Als Übergangslösungen zur Entlastung der überaus komplizierten und — ich betone — besonders gefährlichen und politisch unberechenbaren Arbeitsmarktsituation sind diese Instrumente aber derzeit unverzichtbar.
An den konkreten Zahlen könnten wir nachweisen, daß das Kurzarbeitergeld bei diesen Regulativen immer noch an erster Stelle steht und meistbietend bei der Entlastung des Arbeitsmarktes mitwirkt.
Läuft die derzeit bestehende Regelung für das Kurzarbeitergeld wie vorgesehen zum Ende des Jahres aus, würden die ohnehin noch schwachen Betriebe gemäß § 63 Abs. 4 AFG mit höheren Kosten belastet, da sie für den Arbeitgeberanteil der Sozialbeiträge aufkommen müßten. Vom Standpunkt der Unternehmen ist es dann verständlich, wenn Kurzarbeit rasch in Entlassung umgewandelt würde.
Nach Auskunft meines heimatlichen Arbeitsamtes Dresden wird außer dem sprunghaften Arbeitslosenanstieg zum Jahreswechsel noch ein weiterer Anstieg zum März erwartet, wenn nämlich die Betriebe liquidiert werden, die sich gerade noch so über den Jahresanfang hinwegretten konnten.
Ein typisches Beispiel, das ich an alle Abgeordneten der CDU/CSU- und FDP-Fraktion aus den neuen Bundesländern übersandte, ist das des ehemaligen LKWWerkes in Zittau, jetzt ROBUR-Werke GmbH genannt. Der Vorstand der Treuhandanstalt beschloß für das Werk Liquidation zum Jahresende. Damit würde die Arbeitslosenquote in dieser Gegend auf 25 % ansteigen, nachdem bereits die Textilindustrie, die Braunkohleförderung und eine Offiziersschule ins „Aus" gegangen sind. Alternativ zur Liquidation hat die Geschäftsleitung ein Sanierungskonzept entwikkelt, das für 1992 505 Arbeitsplätze und für 1993 1 085 Arbeitsplätze schafft bzw. erhält.
Zum Überleben dieses Betriebes, d. h. zur Realisierung seines Konzeptes, benötigt der Betrieb die Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung Ost. Der Betriebsrat wandte sich mit diesem Anliegen bereits an den Arbeitsminister. Der Bürgermeister und der Landrat von Zittau, beide CDU, unterstützten dies in einem Begleitschreiben. Der Arbeitsminister hat den Betriebsrat der Robur-Werke darüber informiert, daß er das Anliegen des Betriebs aus Zuständigkeitsgründen an die Bundesanstalt für Arbeit weitergeleitet habe.
Warum bloß? — Hier gehört eine generelle Entscheidung her; denn es handelt sich nicht um einen Einzelfall.
Von unserer Entscheidung hängt das Überleben dieses Betriebs sowie das nicht weniger weiterer betrieblicher Einrichtungen ab.
Nun zurück zu meinem kurzen Blick in die Vergangenheit: Kurzarbeiterregelung Ost. In der Begründung zu dem im Frühjahr von der Regierung vorgelegten Gesetzentwurf heißt es:
Es muß davon ausgegangen werden, daß die Lage auf dem Arbeitsmarkt in diesem Jahr sehr schwierig sein wird und sich auch nicht kurzfristig deutlich verbessern wird. Anliegen des Anderungsgesetzes muß es jedoch sein, jetzt verbindliche Grundlagen für die Arbeitsförderung in den neuen Ländern zu schaffen, die keine weiteren Nachkorrekturen mehr erfordern.
Nun frage ich Sie, insbesondere Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern: Ist dieses Ziel erreicht? Haben wir eine Situation, die keine weiteren Nachbesserungen mehr erfordert?
Ich will nicht verhehlen, daß seit der Zeit der höchsten Kurzarbeiterquote im April die Zahl der Kurzarbeiter um 40 To gesunken ist —
zugunsten der anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. Wie bereits betont: Kurzarbeit rangiert immer noch an erster Stelle bei der Entlastung des Arbeitsmarktes.
Wie haben Sie, die Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, damals ihren Gesetzentwurf begründet? Bezug nehmend auf die zu schaffende wirtschaftliche Einheit, schrieben Sie, die Probleme seien
weder in Monats- noch in Jahresfrist zu lösen. Dies gilt auch für die durch diesen Umstellungsprozeß bedingten Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Weiter hieß es:
Es zeigt sich jetzt, daß der zunächst angenommene Zeitraum von zwölf Monaten zu kurz sein wird, um mit Hilfe der Sonderregelung für das Kurzarbeitergeld Beschäftigungseinbrüche größeren Umfangs zu vermeiden.
Glauben Sie wirklich, daß es Beschäftigungseinbrüche nun nicht mehr geben wird?
Als die SPD-Fraktion damals längere Fristen für die Gültigkeit des Gesetzes beantragte, lehnten die Koalitionsfraktionen dies mit der Begründung ab, bei entsprechender Situation und Notwendigkeit könne man ja neu befinden.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5515
Renate Jäger
An der vorliegenden Notwendigkeit besteht meines Erachtens kein Zweifel. Nach mir vorliegenden Informationen aus Thüringen ist auch die dortige CDULandtagsfraktion mehrheitlich für eine Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung,
weil eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt in den Wintermonaten unwahrscheinlich sei.
Im Landtag Sachsen-Anhalts ist mit übergroßer Mehrheit von allen Fraktionen für eine Fortführung aller Übergangsregelungen für die neuen Länder, somit auch für die Fortführung der bestehenden Kurzarbeitergeldregelung, gestimmt worden.
Auch der von mit bereits erwähnte Verwaltungsausschuß des sächsischen Landesarbeitsamtes mahnt weiteren politischen Regelungsbedarf in mehreren Punkten an:
Erstens. Die Regelung der Fragen einer erhöhten Belastung der Unternehmen bei Anwendung der Kurzarbeitergeldregelung nach § 63 Abs. 4 AFG. — Zur Unterstützung des Strukturwandels wird eine Verlängerung der derzeitigen Regelung für erforderlich gehalten.
Zweitens. Es fehlen notwendige Übergangsregelungen von der einen zu der anderen Gesetzeslage.
Drittens. Es muß eine unbürokratische Übernahme bereits erteilter Genehmigungen für Kurzarbeit in die neu entstehenden Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigung und Strukturentwicklung geregelt werden.
Wie Sie sicherlich wissen, sollen diese ABS in Zukunft die Kurzarbeiter in großem Umfang aufnehmen. In Sachsen sind zur Gründung der ABS vom Arbeitsamt elf Trägergesellschaften vorgesehen, von denen erst eine verschwindend kleine Zahl arbeitsfähig ist. Das bedeutet, daß die Gründung von ABS noch in den Kinderschuhen steckt und diese daher nicht in umfassendem Maße Kurzarbeiter nach Regelung AFG West aufnehmen könnten.
Im Oktober hat die Konferenz der Minister und Senatoren für Arbeit und Soziales die Einführung eines Strukturanpassungsgeldes gefordert, das aus Steuergeldern zu finanzieren ist und nur in Verbindung mit der Tätigkeit einer ABS gewährt wird. Sollte diese Variante als ein zukünftiges arbeitsmarktpolitisches Instrument favorisiert werden, wäre bis zu ihrer Realisierung die Fortführung der derzeitigen Regelungen ebenfalls notwendig.
Auch die Koalitionsfraktionen beabsichtigten damals, die Verlängerung der besonderen Regelungen mit Maßnahmen der Qualifizierung und Umschulung zu verbinden. Es war nicht ihre Schuld, daß die kurzarbeitenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damals für Umschulungsmaßnahmen noch wenig motiviert waren. Aber ein Gesetz, das die Nichtqualifizierer bestraft, anstatt die Qualifizierer zu belohnen, wirkt vielleicht auch nicht motivierend.
Trotzdem wächst inzwischen das Interesse an beruflicher Weiterbildung und Qualifizierung.
Wir sollten bemüht sein, es wachzuhalten und zu befördern.
Es wäre unverantwortlich, diese Entwicklung durch eine falsche oder nicht erbrachte Maßnahme abzubrechen.
Wir streben daher mit unserem Antrag die Gleichzeitigkeit von Kurzarbeit und Qualifizierung in einem größeren Umfang an. Nimmt der Kurzarbeiter an einer Qualifizierungsmaßnahme teil, soll er in dieser Zeit 90 % des durchschnittlichen Arbeitsentgelts nach Abzug der Sozialabgaben erhalten, in dem anderen Fall nur 68 % bzw. 63 %. Deshalb sollten Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung und Umschulung vorrangig solchen Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeitern angeboten werden, die 50 % und mehr Arbeitsausfall haben.
Die neuesten Arbeitsmarktzahlen von heute morgen aus dem Dresdner Arbeitsamt belegen, daß immer noch knapp die Hälfte aller Kurzarbeiter im November mehr als 50 % Arbeitsausfall hatte. Im gesamten Beitrittsgebiet sind es mehr als 645 000 Kurzarbeiter mit einem Arbeitsausfall von mehr als 50 % — mehr als die Hälfte aller Kurzarbeitenden!
Die von uns eingeforderte Qualitätskontrolle bei Fortbildungsmaßnahmen für Kurzarbeiter wäre über die derzeit besser funktionierenden Arbeitsämter entsprechend zu realisieren. Sie ist für diese Fälle besonders notwendig, da es nach wie vor auch qualitativ unzureichende Angebote bei Bildungsmaßnahmen gibt.
Frau Kollegin Jäger, Ihre Zeit ist bei weitem überschritten! Sagen Sie noch einen Schlußsatz.
Die Kopplung würde garantieren, daß wir zukunftsträchtige Arbeitsmarktpolitik betreiben, statt Arbeitslosigkeit zu bezahlen, und so-
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Renate Jäger
mit politisch, wirtschaftlich, strukturell weitaus positiver in die Zukunft wirken können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Franz Romer.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zu später Stunde beschäftigt uns ein zentrales Thema des deutschen Einigungsprozesses: die Arbeitsmarktpolitik in den fünf neuen Ländern. Aktive Arbeitsmarktpolitik Ost, das hieß und heißt für die Regierung Kohl — sie ist die Regierung der deutschen Einheit — die erfolgreiche Bündelung von Maßnahmen gegen die negativen Auswirkungen der tiefgreifenden Umwälzungen in der ehemaligen DDR.
Fortbildungs- und Umschulungsprogramme, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Kurzarbeit haben die Arbeitslosigkeit von fast zwei Millionen Menschen in den fünf neuen Ländern verhindert.
Dies ist ein großer Erfolg, meine Damen und Herren, und durch eine weitere Erhöhung der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik werden wir 1992 dafür sorgen, daß wir auch auf diesem Gebiet weiter erfolgreich bleiben.
Allerdings können staatliche Maßnahmen auch hier nicht auf Dauer die Marktwirtschaft ersetzen;
denn wohin es führt, wenn der Staat zentrale Bereiche der Wirtschaft lenkt, hat uns nicht zuletzt der Bankrott der ehemaligen DDR gezeigt.
Erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik muß auch nicht gleichzeitig heißen, daß man stur an einem Maßnahmenkatalog festhält. Flexibilität ist auch hier Trumpf. Heilige Kühe können wir uns auch in der Arbeits- und Sozialpolitik nicht leisten.
Daher muß es auch möglich sein, eine zeitweise notwendige und erfolgreiche Regelung wie die Kurzarbeit nach § 63 Abs. 5 AFG wieder abzuschaffen, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat.
Ihre Einführung war ja nun doch ein Produkt des berühmten 1. Juli 1990. Wir alle können uns noch an die Bilder erinnern, als in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1990 Tausende begeistert auf den Übergang von der Ostmark zur D-Mark, auf den Empfang des ersten Westgeldes warteten.
Wir wissen auch, wie turbulent es dabei zuging. Die Banken und Zahlstellen waren diesem positiven Ansturm kaum gewachsen.
Aber der Wechsel vom bankrotten Planwirtschaftsystem zur Marktwirtschaft mußte ebenfalls Turbulenzen verursachen; das war klar. Er würde auch Probleme einschließlich Arbeitslosigkeit mit sich bringen; auch das war klar.
Mit der Einführung eines für die DDR erweiterten § 63 AFG wurde im Juli 1990 rechtzeitig ein Instrument gegen den zu erwartenden negativen Ansturm von Arbeitssuchenden aus nicht überlebensfähigen Wirtschaftsbereichen geschaffen. Durch die Übernahme dieser Regelung im Einigungsvertrag wurde der Übergang von einem System zum anderen — ein Unterfangen, das Norbert Blüm mit dem Aneinander-koppeln zweier fahrender Züge verglichen hat — viel fließender, weniger abrupt.
Zum einen konnten sich die Arbeitsämter erst einmal mit Westhilfe auf ihre ungeheuere Aufgabe vorbereiten. Mittlerweile sind hier 20 000 Mitarbeiter eingewiesen und geschult, die ihrer Aufgabe fachlich wirklich gewachsen sind.
Aber vor allem für die Arbeiter in den vielen unrentablen Betrieben gestaltete sich der Wechsel weniger heftig. Sie konnten sicher sein, für eine Übergangszeit in ihrem Betrieb bleiben zu können.
Daher war es im Juli 1990 richtig, die Kurzarbeiterregelung einzuführen, und es war richtig, sie im Oktober 1990 beim Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik zu übernehmen. Im Sommer 1991 war es richtig, die erprobte Regelung noch einmal um ein halbes Jahr zu verlängern.
Aber so richtig die Anwendung dieses Paragraphen während dieser Phase war, so falsch wäre seine weitere Verlägerung; denn er hat nun, fast eineinhalb Jahre nach diesem schicksalhaften Tag, dem 1. Juli 1990, seinen Zweck erfüllt.
Die Arbeitsverwaltung ist aufgebaut; das im Juli 1990 befürchtete Chaos wird ausbleiben. Beschäftigungspolitisch würde der bisherige Vorteil, durch Kurzarbeit den notwendigen Strukturwandel in die Länge zu ziehen und damit sozial erträglich zu machen, zum Nachteil. Der notwendige schnelle Strukturwandel, der sich zum Beispiel im Handwerk oder auch in der Bauwirtschaft bereits rasant vollzieht, würde in den anderen Wirtschaftsbereichen durch ein Weiterbestehen des § 63 Abs. 5 AFG nur behindert. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer würden nur zur Passivität erzogen; der erhoffte Aufbruch, die Umorientierung, das — wie Norbert Blüm es ausdrückte — VomKanapée-Aufstehen würde nicht gefördert, sondern erschwert. Das kann nicht unser Ziel sein.
Statt Aufbruchstimmung Anspruchsgeist — das war
vielleicht ein Grundprinzip der sozialistischen Plan-
wirtschaft, ist aber für die führende europäische Wirt-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5517
Franz Romer
schaftsnation kurz vor der Jahrtausendwende keine elfolgversprechende Einstellung.
Herr Kollege Romer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Andres?
Nein, zu dieser späten Stunde machen wir keine Zwischenfragen mehr.
Dieses Sich-auf-den-Staat-Verlassen ist aber nicht nur zukunftsfeindlich; es widerspricht auch dem Ideal von der Eigenbestimmung des Menschen, einem Grundprinzip christlich-demokratischer Arbeits- und Soziallehre. Den Staat schwächt solches Anspruchsdenken ebenfalls; denn er setzt seine finanziellen Mittel ja nicht für den Fortschritt ein, sondern für die Zementierung eines eigentlich unhaltbaren Zustands.
Die Wirtschaftsentwicklung der fünf neuen Länder wäre durch die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung sogar doppelt betroffen: Sie würde durch die künstliche Beatmung ansonsten nicht lebensfähiger Betriebe gehemmt. Denn was ist Kurzarbeit Null wohl anderes als der Atemstillstand der Produktion? Aufstrebende Firmen — von denen gibt es in den fünf neuen Ländern ständig mehr —
müßten zusehen, wie dringend benötigte Arbeitskräfte in kurzarbeitenden Betrieben an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, wo doch die Vorbereitung und Schulung von zukünftigen Mitarbeitern viel zweckmäßiger von den zukünftigen Arbeitgebern durchgeführt werden könnten.
Unsere Arbeitsmarktpolitik in den fünf neuen Ländern war und ist erfolgreich.
Die Kurzarbeit gehörte bisher als Instrument dazu. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, in der Phase des Übergangs Turbulenzen vorzubeugen. Aber jetzt, wo es bergauf geht, ist sie eher ein Hemmnis als eine Hilfe, eher ein Zeichen des Stillstandes als des Fortschritts. Denn was ist Kurzarbeit Null, wenn sie zum Dauerzustand wird, anderes als staatlich subventionierte verdeckte Arbeitslosigkeit oder, wie Minister Blüm es nannte, ein Etikettenschwindel?
Sie wollen diese Notlösung zum Dauerzustand befördern. Saurer Wein wird aber nicht dadurch besser, daß man ihm per Etikett ein Prädikat verleiht. Er wird nur teurer, ohne den Preis wert zu sein. Eine Übergangsmaßnahme wie die Kurzarbeit nach § 63 Abs. 5 AFG wird nicht dadurch zur Patentlösung, daß Sie ihr das Etikett „auf Dauer unverzichtbar" ankleben oder umhängen.
Sehen Sie doch endlich ein, werte Kollegen von der Opposition:
Der Gesundungsprozeß der ostdeutschen Wirtschaft erfordert entschlossene Maßnahmen. Ein Einschnitt zur rechten Zeit ist zwar schmerzhaft, aber er hilft dem Patienten im Endeffekt mehr als die lang dauernde Verabreichung von Beruhigungsmitteln.
Noch eines möchte ich den Unterstützern dieses Entwurfs mit auf den Weg geben: Hören Sie endlich auf, das Gespenst der Massenverelendung der ostdeutschen Bevölkerung zu beschwören.
Gerade als Arbeitnehmervertreter innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nur nachdrücklich vor weiterer Stimmungsmache in den östlichen Bundesländern warnen. Sie schüren bei den Bürgern Ängste, die aber im Verlauf der wirtschaftlichen Erholung Ostdeutschlands bald vergehen werden. Darüber, daß dieser Gesundungsprozeß mittlerweile in Gang gekommen ist, herrscht bei allen Verantwortlichen in allen Lagern breite Übereinstimmung.
Oder ist es für Sie unwichtig, wenn sich beim Kanzlergespräch Arbeitgeber wie Gewerkschaften überzeugt zeigen,
daß der Gesundungsprozeß der ostdeutschen Wirtschaft unumkehrbar ist, wenn sich sogar der brandenburgische Ministerpräsident Stolpe, meines Wissens Mitglied Ihrer Partei,
laut „Handelsblatt" zuversichtlich zeigt, daß die Bewältigung des Strukturwandels gelingen wird?
Jedenfalls halte ich es für unverantwortlich, wenn Sie für den Fall der Nichtannahme Ihres Gesetzentwurfes große soziale Instabilität und Gefahren für die Demokratie an die Wand malen.
Politische Schwarzmalerei sollten Sie den Damen und Herren von der PDS überlassen. Sie ist reine Ablenkung und hilft überhaupt nicht, die anstehenden Probleme anzupacken und zu bewältigen. Mehr noch: Sie schafft erst die Atmosphäre der Verunsicherung, in der Mißtrauen, Neid und Haß auf den,
dem es anscheinend besser geht, gedeihen.
Herr Kollege Romer, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen. Sie haben noch einen Schlußsatz. — Bitte.
5518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Wenn man einem Problem rechtzeitig zu Leibe rückt und es dann entschlossen aus der Welt schafft, nennt man das bei uns im Schwabenland „'n Knopf 'namache".
— „'n Knopf 'namache". Ich werde es Ihnen später erklären.
Mit dem Auslaufen der Kurzarbeiterregelung nach § 63 Abs. 5 AFG macht die Bundesregierung einen solchen notwendigen Abschluß.
Aber jetzt ist Ihre Redezeit um. Ich muß Ihnen das Wort entziehen, Herr Kollege Romer. Es geht nicht anders.
Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich vorausschicken, daß ich es als skandalös empfinde, welche Bedeutung der Bundestag einem so brennenden Problem in den neuen Bundesländern beimißt, wenn ich jetzt auf die Uhr gucke.
Zum zweiten möchte ich dem Kollegen Romer noch einmal — —
Frau Kollegin Bläss, darf ich Sie einmal unterbrechen: Für die Abwicklung dieser Tagesordnung ist der Ältestenrat zuständig. Das wird zwischen den Fraktionen vereinbart. Es hat überhaupt keinen Sinn, hier darüber zu diskutieren, welcher Punkt der letzte ist. Dies wird interfraktionell festgelegt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Trotzdem ist es ja wohl mein Recht, meine Meinung zu sagen.
An Herrn Kollegen Romer hätte ich die kleine Anmerkung zu machen: Es wäre vielleicht günstiger gewesen, sich mehr auf die reale Situation in den neuen Ländern einzustellen und nicht nur die Maßstäbe von Baden-Württemberg anzulegen.
Daß die Arbeitsmarktsituation dort besser ist, will ich zugeben.
Die PDS/Linke Liste spricht sich für eine Verlängerung der Kurzarbeiterinnenregelung in den neuen Bundesländern aus
und wird es in diesem Punkt dem Antrag der SPD zustimmen.
Ich will kein Hehl daraus machen, daß wir dabei
Bauchschmerzen haben; denn wir sehen in der
Kurzarbeiterinnenregelung nur eine Krücke bei der Bewältigung der aktuellen Probleme in den neuen Bundesländern.
— Eine Krücke.
Es wäre natürlich viel besser, wenn all jenen Frauen und Männern, die auf Kurzarbeit gesetzt sind und mehrheitlich — das wurde ja schon deutlich — nur noch bis zu 50 % ihrer Arbeit leisten dürfen, unbefristete Arbeitsplätze mit voller Stundenzahl zur Verfügung gestellt werden könnten. Doch Dank der konzeptionslosen Politik der Bundesregierung und ihrer Treuhandanstalt ist mit dem Gegenteil zu rechnen.
Das Plattmachen geht weiter. Nach wie vor wird das Schicksal ganzer Industriestandorte in Frage gestellt.
Die Stahlbranche ist dafür das aktuellste Beispiel. Allein im Land Brandenburg stehen 8 000 Arbeitsplätze auf dem Spiel, wenn die Treuhand ihre Privatisierungsabsichten auf Kosten der Interessen der Stahlarbeiter durchsetzen kann.
Für uns war das Grund genug, zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde zu beantragen und auch trotz des gestrigen Verhandlungsabschlusses daran festzuhalten. Denn eines ist klar: Daß die Hennigsdorfer dieses Ergebnis in Auseinanderstzung mit der Treuhand erzielt haben, ist ihrem hartnäckigen und solidarischen Kampf zu verdanken.
Ein zentraler Punkt im Forderungskatalog der Kolleginnen und Kollegen von Hennigsdorf für die Verkaufsverhandlungen mit dem italienischen Konzern Riva ist übrigens die Forderung nach Verlägerung der Kurzarbeitsgeldzahlung bis Ende 1992.
Aber nicht nur Industriekapazität wird vernichtet. Auch in der Landwirtschaft werden Zehntausende in die Arbeitslosigkeit entlassen, und zwar ohne absehbare Berufs- und Lebensperspektive im ländlichen Raum.
Angesichts dieser Lage und mit dem Wissen, daß ein Auslaufen der Kurzarbeiterinnenregelung auf einen Schlag für weitere 400 000 Menschen Arbeitslosigkeit und existentielle Sorgen heißt, sehen wir uns gezwungen, solchen Notlösungen wie der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes zuzustimmen, um den Betroffenen wenigstens darüber ein Minimum an sozialer Sicherheit zu geben.
Wir treten aber auch dafür ein, daß über die Kurzarbeiterregelung die Beschäftigten den Betrieben bzw. der Region erhalten bleiben. Schließlich haben wir es in den neuen Bundesländern ja nicht nur mit dem Fakt zu tun, daß inzwischen Tag für Tag etwa eine halbe Million Frauen und Männer in die alten Bundesländer zur Arbeit pendeln und die ihnen ständig abgeforderte Mobilität nicht selten unter skandalösen Bedingungen unter Beweis stellen. Wir müssen auch mit der Tatsache umgehen, daß sich ganze Regionen entvölkern und besonders junge und hochqualifizierte Fach-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5519
Petra Bläss
kräfte auf die Dauer ihre Städte und Dörfer verlassen. Das ist sicher eine der schlechtesten Voraussetzungen dafür, eine wirklich neue Industrie- und Wirtschaftsstruktur zu schaffen.
Probleme haben wir damit, daß die SPD das Kurzarbeitergeld an die Teilnahme an Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen gekoppelt wissen will. Ich will hier überhaupt nichts gegen Qualifizierung sagen. Aber diese Form von Disziplinierungs- oder besser Erziehungsmaßnahmen für erwachsene Menschen, die nicht selten mehrere qualifizierte Berufsabschlüsse vorweisen können, lehnen wir ab. Wir sind der Auffassung, daß zuerst dafür zu sorgen ist, daß ein umfassendes und gutes Angebot an Umschulungsund Qualifizierungsmaßnahmen bereitgestellt wird. Kontrolle der Weiterbildungsanbieter durch die Arbeitsverwaltung tut hier wahrlich not.
Außerdem muß den Betroffenen deutlich werden, daß Umschulung und Qualifizierung ihre Berufs- und Arbeitschancen tatsächlich verbessern. Wie sie davon angesichts der fehlenden Beschäftigungs- und Strukturpolitik für die Regionen überzeugt werden können, bleibt uns ein Rätsel. Solange diese Voraussetzungen nicht geschaffen sind, können wir einer Kopplung der Erhöhung des Kurzarbeitergeldes an die Teilnahme an Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nicht zustimmen.
Im Namen der Gruppe PDS/Linke Liste bitte ich deshalb die Antragsteller um getrennte Abstimmung über ihren Antrag und möchte noch einmal ausdrücklich hinzusetzen, daß wir grundsätzlich für eine Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung sind.
Danke.
Meine Damen und Herren, auch hier ist die Redezeit kurz überschritten worden.
Ich erteile jetzt Herrn Kollegen Heinz Hübner das Wort.
Da können Sie auch gespannt sein!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD ist nicht nur für mich ein weiteres Beispiel für die Verkennung der durchaus ernsten, aber realen Lage in den neuen Bundesländern.
Die Forderung nämlich, die Kurzarbeitergeldregelung bis zum 31. Dezember 1993 durchzuführen, ist in meinen Augen nicht nur blauäugig, sondern auch gefährlich für einen wirkungsvollen Aufbau einer wettbewerbsfähigen, arbeitsplätzeschaffenden Wirtschaft.
Abgesehen davon, Kollege Andres, daß die SPD deutlich über den Bundesratsantrag, der nur eine Verlängerung von einem halben Jahr vorsieht, hinausgeht, verkennen die Antragsteller, was jetzt not tut.
Was dieses halbe Jahr betrifft, bin ich der Meinung: Darüber läßt sich durchaus reden.
Wir werden die Möglichkeit haben, im Ausschuß darüber ausführlich Argumente und Gegenargumente auszutauschen. Wir werden das natürlich mit praktischen Beispielen aus den neuen Bundesländern unterfüttern. Ich werde mich da durchaus auch im Streit mit meiner Kollegin Jäger befinden; denn ich habe zum Teil andere Erfahrungen gemacht.
— Herr Kollege Schreiner, konfrontieren Sie mich jetzt bitte nicht mit den Ausführungen der Kollegen der CDU!
Eine Sekunde! Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist zwar jetzt schon spät, aber ich bitte trotzdem, daß wir die nötige Ruhe herstellen, damit sich der Redner hier bemerkbar machen kann.
Nun hat der Kollege Andres um eine Frage gebeten. Gestatten Sie diese Frage?
Ich gestatte sie. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr.
Herr Kollege Hübner, darf ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie im Ausschuß einen Antrag stellen werden,
die Kurzarbeitergeldregelung bis zum 31. Dezember 1992 zu verlängern,
und daß Sie sich natürlich ganz ausführlich mit den bedeutsamen und wichtigen Ausführungen des Kollegen Romer hier auseinandersetzen wollen?
Sie können meiner Äußerung entnehmen, daß wir uns über diese Problematik, auch was eine eventuelle Verlängerung um einen kürzeren Zeitraum betrifft, unterhalten werden.
5520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Heinz Werner Hübner
— Ich habe mich eigentlich konkret ausgedrückt. Ich habe gesagt, was wir tun werden.
Kollege Schreiner, wenn man dem Antrag Ihrer Partei zustimmen würde, bestünde die Gefahr der Verlängerung der Agonie der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung.
Kollegin Jäger, was Ihr konkretes Beispiel betrifft: Es ist durchaus möglich — ich werde das nicht negieren —, daß es solche Probleme gibt, nicht nur als Einzelfall. Aber ich verweise auch hier auf § 63 Abs. 4 AFG. Ganz konkret, im Einzelfall ist diese Regelung anzuwenden; denn es gibt auch eine ganze Menge anderer Erfahrungen, was die Wirtschaftssituation betrifft.
Wenn wir die Agonie verlängern würden, dann würde das unproduktive Strukturen konservieren, wie wir sie leider in einer Reihe von Betrieben heute in den ostdeutschen Bundesländern antreffen. Das zeigt sich besonders in Unternehmen, die von Subventionszahlungen der Treuhandanstalt existieren.
Wir wissen, daß im Osten gerade die Bauwirtschaft boomt. Es gibt eine ganze Reihe von Bauunternehmen und nachgeordneten Betrieben, und zwar nicht wenige, die verzweifelt qualifizierte Arbeitskräfte suchen, aber diese nicht finden, weil eine große Anzahl von Arbeitnehmern als Kurzarbeiter null „tätig" sind. Mir sind Fälle bekannt, in denen Unternehmen nur noch durch eine Handvoll Verwaltungskräfte betrieben werden. Produziert wird nichts mehr außer leerem Papier. Vielleicht sind ein paar Strichmännchen daraufgemalt.
Gerade diese Arbeitnehmer sind es, die letztendlich nur wegen einer bevorstehenden Abfindung und der Kurzarbeit-Null-Regelung den täglichen Anmarsch zum früheren Arbeitsplatz wagen. Dabei werden immer wieder Klagen laut, daß die Kurzarbeiterregelung die Bereitschaft zum Wechsel auf den ersten Arbeitsmarkt behindert. Das sind nicht nur Klagen, die ich aus der Zeitung entnehme, sondern aus täglichen Gesprächen in meinem Wahlkreis.
Im übrigen ist es nicht so, daß unsere Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern überhaupt kein Kurzarbeitergeld mehr bekommen können. Es gilt, wie ich bereits andeutete, vielmehr die Regelung, die für Ruhrkumpel gut war und die auch für unsere Arbeitnehmer praktikabel und anwendbar ist, AFG § 63 Abs. 4.
Daß künftig Sozialversicherungsbeiträge auch vom Arbeitgeber zu zahlen sind, ist meines Erachtens ein wesentlicher Beitrag zum Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen und verhindert, daß ohnehin schon hoch subventionierte Unternehmen insbesondere der Treuhand gegenüber anderen Unternehmen bessergestellt werden. Das kommt leider vor. TreuhandBetriebe werden subventioniert, die dann in der Lage sind, durch Preisdumping neu entstehende Betriebe von vornherein kaputtzumachen. Auch dafür habe ich konkrete Beispiele und befinde mich derzeit auch in Auseinandersetzungen mit der Treuhandanstalt.
Die heutigen Arbeitsmarktzahlen zeigen, daß die Zahl der Kurzarbeiter um 90 000 abgenommen hat. Das ist natürlich noch kein Grund, um Entwarnung zu geben. Aber es ist ebenso falsch, wenn die Antragsteller behaupten, daß in den neuen Bundesländern die Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit dadurch wächst. Nicht die Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit wächst. Es wächst natürlich die Gefahr der Arbeitslosigkeit. Aber wenn wir wettbewerbsfähige Strukturen garantieren, dann wird auch diese Gefahr ganz schnell vorbei sein. Davon bin ich überzeugt.
Eine Gefahr für Langzeitarbeitslosigkeit besteht dann, wenn wir Strukturen aufrechterhalten, die maroden Betrieben die Chance geben, künftig weiterhin zu existieren. Gerade weil wir uns vorrangig den Interessen der Arbeitnehmer verpflichtet fühlen, setzen wir, auch wenn es schmerzhaft ist, die Akzente auf den Aufbau fester und sicherer Arbeitsplätze
— das ist nicht neu für die FDP; das mag vielleicht aus Ihrer Sicht so sein —
anstelle von Arbeitsmarktinstrumenten, die lediglich der Verlängerung unproduktiver Strukturen dienen.
Am Ende meiner Rede noch einmal das Angebot: Tauschen wir die Argumente und Gegenargumente in unseren Ausschußsitzungen aus. Dann bin ich überzeugt davon, daß wir zu einer gemeinsamen, verträglichen Regelung kommen, die vernünftig ist. Das ist eine Voraussetzung.
Danke schön.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Sie zunächst darum bitten, daß Sie zustimmen, daß die Redebeiträge der Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige und Adolf Ostertag zu Protokoll gegeben werden. —
Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. *)
Nun habe ich noch die Wortmeldung unseres Parlamentarischen Staatssekretärs Horst Günther und zwei Interventionen nach § 27 der Geschäftsordnung, die dann folgen.
Bitte sehr, Herr Kollege.
*) Anlage 6
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5521
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit einem Blick auf die Uhr entbiete ich Ihnen erst einmal einen Gutenmorgengruß.
Meine Damen und Herren, allen Unkenrufen zum Trotz ist der Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern nicht abgestürzt. Dies ist das Ergebnis erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland. Die Kurzarbeit ist seit dem Frühjahr dieses Jahres um rund 800 000 zurückgegangen, ohne daß in gleicher Weise die Zahl der Arbeitslosen nach oben geschnellt wäre. Dies ist sicherlich kein Grund, sich beruhigt im Sessel zurückzulegen, aber wir sollten auch nicht so tun, meine Damen und Herren von der Opposition, als wenn es keine Gründe für Zuversicht gäbe.
Ohne die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung wäre die Arbeitslosigkeit um rund 1,9 Millionen Personen größer, als sie es tatsächlich ist.
Ich möchte aber gleichzeitig vor einer Überschätzung der Möglichkeiten, die die Arbeitsmarktpolitik hat, warnen. Diese Arbeitsmarktpolitik kann weder unternehmerische Verantwortung noch die Wirtschaftspolitik ersetzen. Wir haben die Kurzarbeit als ein arbeitsmarktpolitisches Instrument so gestaltet, daß es für den einzelnen die Möglichkeit gibt, die Zeit der verringerten Arbeit aktiv zur Gestaltung seiner beruflichen Zukunft zu nutzen.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Bitte sehr.
Herr Kollege Staatssekretär, ist das Bundesarbeitsministerium ähnlich, wie die FDP-Bundestagsfraktion soeben vorgetragen hat, der Meinung, daß man über eine eventuelle Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung Ost reden muß?
Horst Günther, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter Schreiner, Ihre Frage kommt zu früh.
Sie werden im Laufe meiner Ausführungen dazu eine umfassende Antwort bekommen.
— Ich werde das im Rahmen meiner Redezeit tun; haben Sie keine Sorge!
Die SPD hat mit ihrem Antrag zur Kombination von Kurzarbeit und Qualifizierung aus unserer Sicht das Augenmaß für das Machbare verloren. Sie hat im übrigen auch nichts Neues entdeckt, sondern uralte Kamellen vorgetragen.
Herr Abgeordneter Andres, Sie würden das mit Sicherheit uns gegenüber als eine arbeitsmarktpolitische Mogelpackung bezeichnen. Der Antrag der SPD bedeutet in Wahrheit, daß § 63 Abs. 5 des Arbeitsförderungsgesetzes verlängert werden müßte.
— Der Gesetzgeber hat aus guten Gründen gerade diese Vorschrift als Zeitgesetz angelegt, Kollege Schreiner.
Wie bereits erwähnt, sinken die Kurzarbeiterzahlen von Monat zu Monat, ohne sich voll in Arbeitslosigkeit niederzuschlagen. Übrigens sind sie auch in dem schwierigen Monat November um 96 000 gesunken. Gleichzeitig sank die Zahl der Arbeitslosen um 18 000.
Die Vorschrift des § 63 Abs. 5 Arbeitsförderungsgesetz war als Sondervorschrift im engen Zusammenhang mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom Gesetzgeber geschaffen worden, aber wir meinen, eineinhalb Jahre nach ihrer Einführung im Jahre 1990 müssen derartige Sonderregelungen abgelöst werden.
In einer Vielzahl von Fällen wird ab 1. Januar 1992 ersatzweise Kurzarbeitergeld nach § 63 Abs. 4 des Arbeitsförderungsgesetzes bezogen werden können, da derzeit noch viele Wirtschaftszweige in den neuen Bundesländern — ich glaube sogar die Mehrheit — von einer schwierigen strukturellen Verschlechterung betroffen werden.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wollen mit Ihrem Vorschlag offensichtlich so etwas wie eine Zweiklassengesellschaft in der Weiterbildung einführen. Stellen Sie sich einmal einen Weiterbildungskurs vor, in dem zwei Fortbildungsteilnehmer nebeneinander sitzen, von denen einer nach dem Willen der SPD 90 To des Arbeitsentgelts erhält, weil er aus der Kurzarbeit kommt, sein Banknachbar dagegen als schlichter Arbeitsloser nur 65 % beziehungsweise 73 %.
Dieses, meine Damen und Herren, ist unausgewogen; das ist eine Ungleichbehandlung, die wir nicht mitmachen können.
Im übrigen: Kurzarbeit mit Qualifizierungsmaßnahmen zu kombinieren ist ja bereits heute möglich. Davon wird auch reger Gebrauch gemacht, ohne daß diese Maßnahmen wegen der Höhe des Lebensunterhalts während der Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen zu sozialem Unfrieden führen werden.
Meine Damen und Herren, die Vorschläge der SPD sind aus gutem Grund schon früher abgelehnt worden. Auch wenn sie heute in neuer Verpackung daherkommen, sollte es bei dieser Ablehnung verbleiben. Mein Rat an die SPD: Machen Sie es in Zukunft
5522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991
Parl. Staatssekretär Horst Günther
anders. Weniger Verpackung und mehr Inhalt, das ist auch politisch umweltfreundlicher!
Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Andres.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es für außerordentlich bedeutsam — und finde, daß das hier festgehalten gehört —, daß der Kollege Romer für die CDU/CSU-Fraktion eine Rede gehalten hat, in der er alles restlos in Bausch und Bogen abgelehnt hat. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß der Kollege Romer aus seiner baden-württembergischen Sicht den Arbeitsmarkt natürlich ganz anders beurteilen und betrachten muß, als das möglicherweise Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern tun.
Für besonders bedeutsam halte ich die Äußerung des Kollegen Hübner, das mit dem 31. Dezember 1993 könne er überhaupt nicht mitmachen, aber man könne im Rahmen der Ausschußdiskussion über die Verlängerung von Fristen reden. Das gehört in dieser Art und Weise im Plenum des Deutschen Bundestages artikuliert und auch in der parteipolitischen Konstellation ganz besonders festgehalten, auch im Protokoll des Deutschen Bundestages.
Deswegen habe ich diese Kurzintervention gemacht.
Ich bedanke mich dafür.
Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Heribert Scharrenbroich das Wort.
Herr Vorsitzender!
— Ich bin Mitglied der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Ich möchte feststellen, daß es überhaupt keinen Widerspruch zwischen den Ausführungen des Kollegen Romer und des Kollegen Hübner gibt. Der Kollege Romer hat sich zum Antrag der SPD dezidiert geäußert, der so abzulehnen ist. So werden wir im Ausschuß auch verfahren. Aber ich meine trotzdem, daß wir uns sehr sorgfältig darüber unterhalten können, wie weit wir kurzfristig, eventuell modifiziert, die
Kurzarbeitergeld-Regelungen verlängern können. Darüber werden wir uns unterhalten.
Danke schön.
Herr Kollege Hübner, wünschen Sie noch das Wort? — Nein.
Dann schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1645 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 16 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Verhältnisses von Kriegsfolgengesetzen zum Einigungsvertrag
— Drucksache 12/1504 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 12/1725 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach-Hermann Gerd Wartenberg
Wolfgang Lüder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Inzwischen haben jedoch alle Rednerinnen und Redner darum gebeten, Ihre Redebeiträge zu Protokoll geben zu dürfen.
Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Hartmut Koschyk, Gerlinde Hämmerle, Wolfgang Lüder und Parlamentarischer Staatssekretär Eduard Lintner. Sind Sie mit dieser Regelung für heute abend einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. *)
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksache 12/1504. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1725, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der SPD angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die-
jenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. —
Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Wie vorhin
*) Anlage 7
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 64. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 5. Dezember 1991 5523
Vizepräsident Helmuth Becker
ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, 6. Dezember 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.