Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich bekannt:
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Beschlußempfehlung des Ältestenrates zur Einsetzung einer Gemeinsamen Verfassungskommission auf Drucksache 12/1590 bereits nach der Beratung des Einzelplans 15 aufzurufen.
Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Antrag der Fraktion der SPD „Wohnen im Alter" auf Drucksache 12/1571 zusammen mit dem Einzelplan 18 aufzurufen und ohne Debatte an die zuständigen Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.
Die Kollegin Margitta Terborg legt ihr Amt als Schriftführerin nieder. Ich möchte ihr für die langjährige Unterstützung herzlich danken.
Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Antje-Marie Steen vor. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? — Das ist der Fall. Die Kollegin Antje-Marie Steen ist als Schriftführerin gewählt.
Wir setzen die Haushaltsberatungen fort. Ich rufe auf:
Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992
— Drucksachen 12/1000, 12/1329 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses
Einzelplan 07
Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz
— Drucksachen 12/1407, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Hinrich Kuessner Michael von Schmude
Dr. Wolfgang Weng
Einzelplan 19
Bundesverfassungsgericht
— Drucksachen 12/1419, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Conrad Schroeder Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
Hans-Georg Wagner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache 1 Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Herr Abgeordnete de With.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst vornehmlich der Justizgemeinde und den Haushältern einen schönen guten Morgen!
Doch zur Sache: Wer sieben Jahre lang warten muß, bis er sich durch die Instanzen gequält hat und endlich der Bundesfinanzhof entscheidet, wird an unserem Staat zweifeln, wenn er nicht ein routinierter Prozeßkenner ist. Wer beim Vermögensamt der Stadt Leipzig einen Antrag auf Rückübertragung seines Elternhauses stellt, lange genug warten muß, aber endlich den Vorabbescheid erhält, daß sein Antrag wohl abgelehnt werde, wird sich fragen, was „die da oben" nach der Wiedervereinigung wohl bloß gemacht haben. Wer durch einen Konkurs sein Leben und seinen Betrieb völlig ruiniert, seine Arbeiter auf der Straße stehen und andere trotz Konkurses als Geschäftsführer bei der Ehefrau lustig Geld verdienen sieht, wird entweder verzweifeln oder sich ebenfalls an den Gesetzen vorbeischlängeln.Das sind drei Beispiele, die belegen, was geschieht, wenn die Rechtspolitik nicht vorsorgt, aber drei Beispiele aus unserer Zeit.Natürlich wissen wir, daß auf Betreiben des Bundesministers der Justiz — er unterhält sich gerade angelegentlich — der Bundesfinanzhof in den letzten Jahren personell erheblich aufgestockt wurde, immer mit
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5132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Hans de Withgroßer Unterstützung durch die Opposition. Natürlich wissen wir, daß das Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 8. Juli 1975 — also noch zu Zeiten der sozialliberalen Koalition verabschiedet — immer und immer wieder verlängert wurde — zuletzt vorige Woche.Daneben aber lag ein Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung vor, das im Rechtsausschuß jedoch nicht rechtzeitig verabschiedet werden konnte, weil die Koalitionsfraktionen keine Eile zeigten. Und im selben Rechtsausschuß haben wir gehört, daß das Bundesministerium der Finanzen an einer Änderung der Abgabenordnung arbeitet, um den Verfahrensgang bei Einsprüchen gegen Finanzamtsbescheide zu beschleunigen und die Gerichte zu entlasten.Schließlich haben wir — ich sage das, um das einmal aufzuzählen — in der vorigen Woche das berühmt-berüchtigte Justizentlastungsgesetz behandelt. Mit geplanten Entlastungseffekten auch für die Finanzgerichte.Der Normalbürger wird sich bei dem Wust von Gesetzen und Verfahrensmöglichkeiten fragen, wo bleibt aber die tatsächliche Abhilfe für mich. Und das bei einer noch zunehmenden Verfahrensdauer bei den Finanzgerichten.
Es winkt schon Straßburg. Die Bundesrepublik wurde bereits verurteilt, weil bei uns zum Teil die Verfahrensgänge zu lang sind.
Die Frage gibt aber schon — hören Sie gut zu, Herr von Stetten — die Antwort. Hier hat die Bundesregierung — sprich der Bundesminister der Justiz — nicht strategisch gedacht, und sie hat es versäumt, mit Macht und Mut eine wirkliche Reform, die Abhilfe gebracht hätte, durchzuboxen. Hier wurde — um es platt zu sagen — mehr oder weniger von der Hand in den Mund gelebt. Das büßen der rechtsuchende Bürger, die Staatsfinanzen und die Glaubwürdigkeit unseres Staates.Natürlich wissen wir auch, daß es der damalige Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz — der heutige Bundesminister der Justiz — war, der wesentliche Grundlagen für das Werk des Einigungsvertrages gelegt und damit dafür gesorgt hat, daß unser Rechtssystem im Kern rasch auf die neuen Länder übertragen wurde.Wir wissen auch, daß er sich größte Mühe gegeben hat — das sei anerkannt — und noch gibt, daß bei den Gerichten drüben bestehende Lücken aufgefüllt werden.Wir Sozialdemokraten haben ihn dabei — das weiß er — stets nachhaltig unterstützt. Wir wissen auch um die Schwierigkeiten mit den Ländern, die selbst eine Menge leisten, deren Arbeit aber oft wenig koordiniert zu sein scheint. Das belegen uns die vielen Briefe von Leuten, die gern drüben mitarbeiten würden, aber häufig einfach lange keine Antwort erhalten.Schließlich kennen wir auch die rastlose Tätigkeit des Ministers bei der Bewältigung der Reparatur der Gesetze zum Einigungswerk — das war im Frühjahr dieses Jahres — , der Reparaturgesetze, die mehr oder weniger durch das Parlament gedrückt wurden, um nicht zu sagen, gepeitscht wurden. Doch schon wieder gibt es Unzuträglichkeiten. Zigtausende von früheren kleinen Hauseigentümern wollen ihr Grundstück in Görlitz oder in Schwerin, in Leipzig oder in Gera wieder zurückhaben. Sie müssen aber warten und warten und wissen nicht, ob sie erfolgreich sein werden. Auf der anderen Seite fürchten Mieter und gutgläubige „Häuslebauer" — wie wir sagen würden — von damals um die Frucht ihrer Arbeit und fürchten Vertreibung aus ihrem Haus.
Da gibt es Existenzangst.Daneben aber stagnieren die Investitionen im Osten — in Berlin und anderswo — , weil die Eigentumsverhältnisse und Entschädigungsregelungen nicht geklärt sind und die sogenannten Vorfahrtsregelungen entweder nicht greifen oder nicht angewandt werden können. Lesen Sie dazu doch einmal die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", die bei Gott kein SPD-Blatt ist, von vorgestern. Dort wurde alles aufgelistet.
Deshalb stehen schon wieder dringende Reparaturen an.
Die Bürger sind ungeduldig. Herr Gerster, Sie sollten es etwas ernst nehmen. Das betrifft nämlich Bürger, die warten und die sich Mühe gegeben haben. Und das darf man nicht mit Gespött abtun.
Hätten nicht schon längst die Lehren aus den Erfahrungen dieses Sommers gezogen werden müssen, Herr Minister, oder waren die Maßnahmen vom Frühjahr dieses Jahres nicht doch zu überhastet? Den guten Willen unterstellen wir. Daß das alles keine einfache Materie ist, ist unbestritten. Das wissen wir auch. Aber wäre es nicht klüger gewesen — auch wenn ich mich jetzt wiederhole — , einen Koordinator einzusetzen, der nichts anderes tut und wirklich auch nichts anderes macht, als sich tagtäglich um die Belange der neuen Länder zu kümmern und darum, daß die Eigentumsverhältnisse, die Investitionsvorhaben und die Rehabilitierung rascher zu einem Ende geführt werden können?Das Reformgesetz für das Vergleich- und Konkurswesen liegt seit dem 21. November, also seit wenigen Tagen, vor. Aber, es hat eine lange Geschichte. Sie reicht tief in die Zeit der sozialliberalen Koalition hinein. Noch — und ich schaue ihn an — unter Hans-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5133
Dr. Hans de WithJochen Vogels Regiment wurde die Insolvenz-Rechtskommission einberufen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika — von uns oft des rüden Kapitalismus, der Umständlichkeit und der Langsamkeit gescholten — praktizieren längst ein modernes Insolvenzrecht zur Sicherung von Sachwerten, zur Aufrechterhaltung von Betrieben und zur Vermeidung der Restzerschlagung von Vermögensmassen, verbunden mit einer Schuldnerbefreiung. Ich erinnere hier nur an das Stichwort „Schuldturm". Den gibt es bei uns noch immer.Weil die Reform bei uns noch nicht durchgeführt ist, war erst jüngst wieder ein Flickwert vonnöten. Wir mußten das Konkursrecht erneut ändern, einfach um den Sozialplan zu sichern, und das zum x-ten Male, weil die Reform so lange auf sich warten ließ.Der Bundesminister der Justiz darf versichert sein, daß wir Sozialdemokraten nach Kräften an dieser Reform mitarbeiten werden. Unsere Vorstellungen sind Ihnen bekannt. Aber, Herr Minister, rügen darf ich schon, daß sich die Bundesregierung hierzu zu lange Zeit genommen hat, zu lange Zeit gelassen hat zu einer Reform, die geeignet ist, Geld, Arbeitslosigkeit und — ich sage — auch Tränen zu ersparen.Eine Änderung des Namensrechts hat der Bundesminister der Justiz angekündigt, um das Vorrecht des Mannes im Interesse der Gleichheit von Mann und Frau zu brechen. Hier ist er ein Getriebener. Ohne die entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hätte er diese Ankündigung wohl nicht vorgenommen.
Dabei wäre es für ihn ganz einfach und leicht gewesen. Er hätte nur die Vorschläge der SPD zu übernehmen brauchen. So einfach ist die Sache.
— Natürlich, wir liefern Ihnen die Vorlagen. Übernehmen Sie sie, und alles ist in Ordnung, und ich brauche hier nicht so heftig zu reden.
Was die Bekämpfung der organisierten Kriminalität angeht, so war die Bundesregierung auch hier eine Getriebene. Zur Geldwäsche, zur Gewinnabschöpfung und zur Beschlagnahme zur Sicherung der Gewinnabschöpfung liegt seit 1989 ein Gesetzesentwurf der SPD vor, wie Sie wissen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, gehören zu den wenigen Staaten europäischen Zuschnitts, die noch keinen Geldwäschestraftatbestand haben. Wir sind so ziemlich die langsamsten im europäischen Geleitzug. Einen Gesetzentwurf gibt es inzwischen. Dabei frage ich mich jedoch, warum der Bundesminister der Justiz noch immer nicht Abstand genommen hat von seinem Vorschlag einer — ich sage es so — fiskalischen und verfassungswidrig höchst bedenklichen Vermögensstrafe, an der die Sachverständigen im Anhörungsverfahren aber wirklich kein gutes Haar gelassen haben.Wenn ich freundlicherweise vorgestern mit der Post den Referentenentwurf, nicht Gesetzentwurf, eines Gesetzes zur Begrenzung des Mietanstieges erhalten habe, darf ich sagen und fragen:
Bei den Mietern brennt es schon allzu lange. Wann wird der Mietpreistreiberei endlich ein Ende gesetzt werden können? Wann kommt hier endlich eine Begrenzung?
Mehr als Hunderttausende warten darauf und nicht nur in den Großstädten, auch schon in den mittleren und kleineren Städten.
— Da ändern Ihre Zwischenrufe überhaupt nichts. Sie wissen zu genau aus Ihren Wahlkreisen, wie schlimm es um die Mieter steht.Obwohl wir nunmehr seit Jahren beinahe wöchentlich mit Meldungen konfrontiert werden, nach denen deutsche Firmen an Rüstungsmaßnahmen im Irak, am Aufbau von Giftgasfabriken, z. B. in Libyen, am Verkauf von U-Boot-Blaupausen beteiligt sind oder beteiligt sein sollen, und geradezu nach einem zupackenden Außenwirtschaftsgesetz gefragt wird zur Unterbindung dieser Rüstungsexporte, sind wir — auch das müssen Sie einräumen — hier noch immer nicht perfekt. Wir Sozialdemokraten hatten — ich darf daran erinnern — eine Telefonabhörregelung nach der Strafprozeßordnung eingeführt wissen wollen. Sie, die Regierungsfraktionen, wollten einen sehr viel umständlicheren und — ich sage auch — rechtsstaatlich äußerst bedenklichen Weg gehen, der die Gefahr heraufbeschworen hätte, daß schon im Vorfeld ganze Firmen mit zigtausenden von Beschäftigten abgehört werden können. Wolfgang Hoffmann hat das letzte Woche in der „Zeit" heftig kritisiert und gegeißelt.Weil das nun aber am Einspruch des Bundesrats gescheitert ist, sind Sie dabei, ein Gesetz zu schmieden, das der Zustimmung des Bundesrates nicht bedarf.
Ich frage mich, ob das dem Gesichtspunkt des Respekts der Verfassungsorgane untereinander ent-
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Dr. Hans de Withspricht und das nicht längst hätte geregelt sein sollen.
Die Reihe der Versäumnisse — sehr spät eingebrachte Gesetzesvorlagen und mangelnde Koordination; hören Sie gut zu! — könnte ich fortsetzen. Es sei nur daran erinnert, daß die Vergewaltigung in der Ehe noch immer nicht unter Strafe steht, daß sich das Staatsziel Umweltschutz noch immer nicht im Grundgesetz findet und daß Regelungen für nichteheliche Lebensgemeinschaften noch immer fehlen.
Sicherlich werden Sie es hier noch so machen wie in fast jedem Fall, nämlich hinterherkommen und sagen: Wir haben es gemacht.
— So ist es, und das sind meist nicht Sie von der Union.Sicherlich kann ein Justizminister nicht allein handeln. Er hat — das sei eingeräumt — manches auf den Weg gebracht. Er hat rastlos gearbeitet wie die Bediensteten seines Hauses, denen ich dafür und für die stete Zuarbeit im Rechtsausschuß sehr herzlich danken möchte.
Nur, bei aller Sympathie für Sie: Ist da nicht manchmal ein Stück zuviel Rastlosigkeit zu spüren? Weht da nicht manchmal zu sehr der Hauch des troubleshooting oder Krisenmanagements?
Was ich sagen will, ist dies: Es sollten — Sie wissen es ganz genau — langfristig angelegte Reformziele deutlich werden.
— Ich werde es gleich sagen; Sie brauchen nicht ungeduldig zu werden. — Wie steht es denn, meine sehr verehrten Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Herr Minister, um die Reform der Juristenausbildung? — Es ist und bleibt eine Quelle des Ärgers, daß die deutschen Juristen im Vergleich zu allen anderen schon graue Bärte haben, wenn sie ihr erstes Amt antreten.
Im Vergleich zum westlichen Ausland hinken wir ganz jämmerlich hinterher. Das kostet zuviel Geld. Dadurch werden — das sage ich ganz ernst — zu viele Ausbildungsplätze zu lange belegt. Dabei geht ein Stück jugendliche Kraft auch für diesen Staat verloren. Und: Es nistet sich Unbeweglichkeit ein.Noch aus Hans-Jochen Vogels Zeiten — er kommt schon wieder vor — stammt der Gedanke einer großen Schuldrechtsbereinigung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Mit welchen Zielen und unter welchen Zeitvorstellungen soll es weiterentwickelt werden?
Wie steht es mit einer Reform des Erbrechts? —Dazu gibt es ja Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Da hängen wir wieder hintendrein. Muß das Testamentsrecht nicht der Lebenswirklichkeit angepaßt werden? Kann das Pflichtteilsrecht eigentlich so bleiben, wie wir es noch im Bürgerlichen Gesetzbuch finden?Meine sehr verehrten Damen und Herren, müßte nicht auch einmal unser Versicherungsvertragsrecht — darüber wird oft nicht viel geredet, aber die Betroffenen spüren es allzusehr — ganz gründlich überprüft werden? Die Ärgernisse von Bürgern, die sich mit ihren Versicherungen herumschlagen und gegen sie herumprozessieren, sind Legion, und das wissen Sie ja auch von Ihren Wahlkreisen.
Welche Vorstellungen hat eigentlich die Bundesregierung
für die Beratungen der heute auf Grund des Auftrags des Einigungsvertrags einzusetzenden Verfassungskommission? Da hören wir wenig. Oder ist das eine Geheimsache?
Weil ich auch heute die Zeitung gelesen habe, lese ich Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung" vor. Da gibt es eine schöne Karikatur und unten eine Überschrift, die da lautet:
„Unredlicher Unionsstreit zur Abtreibungsfrage".Dann möchte ich fragen: Wie steht es denn um die wenigen, die die einen Andersdenkende, die CSU hingegen Abweichler nennen? Ganz ernst, meine Damen und Herren:
Es ist nicht bloß eine Sache der CDU/CSU, wenn da Druck auf Leute ausgeübt wird, die allein ihrer Gewissensfreiheit folgen wollen. Es ist eine Sache des ganzen Parlaments.
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Dr. Hans de WithDie Gewissensfreiheit muß nun einmal über die Fraktionsarbeit gestellt werden. Das schreibe ich ins Stammbuch der CDU, vor allem aber ins Stammbuch der CSU. Ich erinnere nur an Ihren Parteitag vom letzten Wochenende.
— Der getroffene Hund bellt.
Das haben Sie wieder einmal gespürt.
Ich sage in allem Ernst: Nehmen Sie diese Sache bitte nicht zu leicht. Die Bevölkerung paßt nicht nur bei dieser sehr heiklen Materie auf. Sie wird sich fragen: Wer hat da welche Interessen, und wer schiebt wen wohin?
Ich sage noch einmal: Es sollte einzig und allein darauf ankommen, was der einzelne denkt. Er sollte seine Chance haben, dazu sein Votum und seine Stimme abgeben zu können.
— Ich wünschte nur, die Zuschauer draußen könnten ihre ständigen Zwischenrufe hören, damit einmal deutlich wird, von welch großer Disziplin allein Ihr Zuhören ist.
Sind nicht, so frage ich, um ein anderes Thema aufzugreifen, auch einige Korrekturen fällig?
— Ich könnte da weiterfahren, und Sie würden ebenso ärgerlich bellen. Aber meine Zeit eilt. Deswegen muß ich zum Schluß kommen.
Sind nicht auch einige Korrekturen fällig? — Wie wäre es mit einem Wort zur Kronzeugenregelung? Eine Regelung, von uns heftig bekämpft, die nur Verwirrung gestiftet und die bisher so gut wie niemand gutgeheißen hat, jedenfalls weder die Richter noch die Staatsanwälte, noch die Rechtsanwälte.
Den Betroffenen hat sie auch nicht geholfen. Herausgekommen im Sinne der Erfinder ist gar nichts.
Kurz: Sie sollten nicht warten, bis das Verfassungsgericht oder bis oberste Bundesgerichte Wege weisen oder bis die Bürger verdrossen werden.Sie sollten — meine Schlußbemerkung, Herr Minister — den Ruf zur Gesetzgebung in unserer Zeit systematisch aufspüren. Schnelles Reagieren ist auch imBereich der Justiz oft gefragt und natürlich möglich, langfristiges Agieren aber immer nötig. Eine solche Rechtspolitik ist meist nicht spektakulär. Ich werfe Ihnen, Herr Minister, mit meinem Schlußsatz nichts vor, aber ich warne: Keine Rechtspolitik dieser Art ist dann aber wirklich fast immer reaktionär.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Michael von Schmude.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was der Herr Kollege de With hier eben im Zusammenhang mit der Diskussion des § 218 ausgeführt hat,
dient nicht der sachlichen Zusammenarbeit in diesem Hause.
Es dient auch nicht dazu, das Ansehen der Bundestagsabgeordneten draußen im Lande zu fördern. Wir lassen uns von niemandem in diesem Hause und auch außerhalb des Hauses unterstellen, wir in der CDU/ CSU-Fraktion würden hier anders als nach unserem Gewissen entscheiden.
Herr Kollege Dr. de With, es gibt aus keiner Fraktion des Deutschen Bundestages — bis auf unsere — zwei Gesetzentwürfe zu diesem Bereich.
— Es geht nicht darum, ob Sie einen dieser Entwürfe kritisiert haben oder nicht; vielmehr geht es darum, daß die Meinungsvielfalt in unserer Fraktion durch niemanden aus der Fraktionsführung beeinflußt wird. Das möchte ich hierzu ganz deutlich feststellen.
Herr Dr. de With, wir beklagen gemeinsam den viel zu langen Rechtsweg in unserer Demokratie. Darin stimmen wir überein. Allerdings müssen wir auch einmal nach den Ursachen dafür fragen. Dann werden wir feststellen, daß der Rechtsweg, der heute angeboten wird, in zunehmendem Maße auch mißbräuchlich genutzt wird. Wir können einen Beitrag leisten, dem Einhalt zu gebieten, indem wir den Bürgerinnen und Bürgern draußen im Lande auch einmal deutlich sagen, daß man weiß Gott nicht mit jeder Kleinigkeit bis zur letzten Instanz durchprozessieren muß. Die Gerichte klagen nicht zu Unrecht darüber, daß sie heute mit vielen Bagatellfällen überfordert werden.Meine Damen und Herren, schon ein kurzer Blick in den Justizhaushalt 1992 zeigt, daß auch im zweiten Haushaltsjahr des wiedervereingten Deutschlands der Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den neuen Bundesländern von dieser Bundesregierung
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Michael von Schmudemit besonderem Nachdruck vorangetrieben wird. Das Haushaltsvolumen, das bereits 1991 außerordentlich stark expandierte, weist jetzt keine extremen Veränderungen mehr auf. Gleichwohl haben wir im Haushaltsausschuß allen Wünschen des Bundesjustizministers Rechnung tragen können.Anläßlich der Aussprache über den Haushalt 1991 hatte ich auf die für uns nicht länger hinnehmbare Situation beim Bundeszentralregister hingewiesen, wo durch Abrechnungspannen allein in den Jahren 1989 und 1990 4,5 Millionen DM Gebühreneinnahmen für den Bund verlorengegangen sind. Inzwischen hat der Minister für andere Verfahrensabläufe bei dieser Behörde gesorgt. Wir werden gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof die weitere Entwicklung dort aufmerksam verfolgen.Ein besonderes Sorgenkind im Bereich des Einzelplans 07 ist die Juris GmbH. Diese vom Bund gegründete und zu 95 % in Bundesbesitz befindliche Gesellschaft weist die Gesetzgebung, die Rechtsprechung und die Rechtsliteratur der Bundesrepublik aktuell nach.Für die Gesetzgebung, für die Rechtsprechung und natürlich auch für die obersten Bundesgerichte ist die Juris sicherlich unverzichtbar. Andererseits müssen wir heute feststellen, daß das seinerzeit gesteckte ehrgeizige Ziel, Juris mittelfristig aus der Verlustzone herauszuführen, nicht erreicht worden ist. Die Verluste summieren sich ganz erheblich. Allein im operativen Bereich sind zwischen 1986 und 1991 27 Millionen DM Verluste angefallen. Insgesamt dürfte uns Juris inzwischen mehr als 100 Millionen DM gekostet haben.Mit dem jetzt vorgelegten Konzept soll durch eine Neubewertung des Leistungsaustauschs zwischen dem Bund und der GmbH erreicht werden, daß das Unternehmen endlich auf eigenen Füßen stehen kann. Dies ist allerdings die letzte Chance für Juris; denn dieses Unternehmen darf nicht zu einem Dauersubventionsfall werden.Die Beratungen über den Einzelplan 07 in der Vergangenheit haben wiederholt gezeigt, daß in vielen Bereichen ein breites Maß an Übereinstimmung zwischen Regierung und Opposition gegeben ist. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Einbeziehung der neu einzurichtenden Tagungsstätte in Wustrau, Brandenburg, in die Richterakademie Trier. Der Haushaltsplan sieht hier zunächst 3 Millionen DM Verpflichtungsermächtigungen für Umbau- und Sanierungsmaßnahmen vor. Darüber hinaus sollen bis 1997 10 Millionen DM für Baumaßnahmen bereitgestellt werden.Diese Liegenschaft, einst Schloß von General Ziethen, soll künftig als Fortbildungsstätte für Richter und Staatsanwälte genutzt werden.
Das Fortbildungsbedürfnis der Richter und Staatsanwälte ist außerordentlich groß, und es kann durch die Richterakademie in Trier nicht allein befriedigt werden.Das Interesse von Richtern und Staatsanwälten in den neuen Bundesländern an diesem Weiterbildungsangebot nimmt außerordentlich zu. Aus diesem Personenkreis heraus wurde die Anregung an mich herangetragen, vergleichbar mit der von uns geschaffenen Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus" eine Ausstellung über Justiz im SED-Unrechtsstaat durchzuführen.
Dies wäre, so meine ich, ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der unseligen DDR-Vergangenheit. Ich gebe diese Anregung gerne an Sie weiter.
Schon bei der ersten Lesung des Etats 1992 haben wir gemeinsam festgestellt und auch beklagt, daß die Umsetzung der Hilfsprogramme des Bundesjustizministers nicht wie geplant verläuft. Für 1991 hatten wir 117,4 Millionen DM an Bundesmitteln bereitgestellt, und im Haushaltsjahr 1992 werden es 104,5 Millionen DM sein. Damit soll die Abordnung von 1 000 Richtern und 500 Rechtspflegern in die neuen Bundesländer ermöglicht werden. Die alten Bundesländer haben bisher aber erst 654 Richter und Staatsanwälte abgestellt. Bei den Rechtspflegern ist die Sollzahl von 500 jetzt erreicht.Geradezu enttäuschend verläuft die Umsetzung des Seniorenmodells. Hier hatten wir große Hoffnungen. 500 pensionierte Richter und Staatsanwälte aus den alten Bundesländern sollten für eine Tätigkeit in den neuen Bundesländern gewonnen werden. Bis einschließlich November waren es erst 25 Bewerber. Demgegenüber stehen Hunderte von Anfragen bei den Landesregierungen in den alten Bundesländern, die diese Bewerbungen nicht zügig genug bearbeiten. Bürokratische Hemmnisse wie Beihilfeprobleme oder Vorschriften bezüglich der Altersgrenze blockieren den Vollzug und führen bei überaus engagierten Bewerbern zu Unverständnis und Frust.
Es muß noch einmal besonders bei den SPD-regierten Bundesländern versucht werden, den Weg für dieses nicht ausgenutzte, fachlich hochmotivierte und hochwertige Personal von Juristen frei zu machen.
Aus diesem Programm, meine Damen und Herren, werden wir 1992 rund 20 Millionen DM für die EDV-Ausrüstung der Grundbuchämter in den neuen Bundesländern frei machen können. Ich halte dies für außerordentlich wichtig, um dort die Arbeit — Umschreibung von Eigentum und Klärung der ganzen Eigentumsfragen — zu beschleunigen.
Eine erfreuliche Entwicklung hat sich bei der Neueinstellung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern in den neuen Bundesländern selber ergeben. Dieses Hilfsprogramm von 300 Stellen ist inzwischen ausgefüllt. Ich möchte an dieser Stelle einmal sehr herzlich all jenen ganz nachdrücklich danken, die sich im Wege der Abordnung oder auf Dauer für
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Michael von Schmudeden Aufbau der Justizverwaltung in den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt haben.
Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen vor Ort mit den dort Tätigen eine große Last. Die Leistungsfähigkeit unserer Rechtspflege hat in Anbetracht der Reinigung der DDR-Justiz bewirkt, daß es trotz allem keinen Stillstand bei den Gerichten gegeben hat. In einigen Bereichen konnten sogar schon Rückstände abgebaut werden.Es liegt nun auch an uns, der Justiz die Arbeit nicht unnötig zu erschweren. Gesetze, die wir machen — etwa das Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht sowie zur Regelung von Entschädigungsfragen —, sollten deshalb nicht mit bürokratischen Details überfrachtet werden. Für die Koalitionsparteien gilt in diesem Zusammenhang nach wie vor der Grundsatz: Rückgabe hat Vorrang vor Entschädigung. Dies entspricht nicht nur unseren Vorstellungen von Eigentum, sondern auch den Vorstellungen und den Festlegungen in unserem Grundgesetz.
Die Sozialdemokraten — wir wissen das — sehen dies ein bißchen anders,
aber sie sehen es auch unterschiedlich. Ihre Kollegin Frau Däubler-Gmelin — Sie werden gleich noch Grund haben, unruhig zu werden — hat sich hier bei den Haushaltsberatungen 1991 ausdrücklich zu dem Prinzip bekannt: Entschädigung vor Rückgabe.
Aber Ihr neuer SPD-Fraktionsvorsitzender Klose hatte Monate zuvor einen unseligen Rechtsstreit gegen die Treuhand anhängig, insgesamt über 20 Prozesse.
In den Prozessen hat er, als es um den SPD-Parteibesitz, um die Rückgabe von Zeitungen, ging, das Prinzip umgedreht und hat Rückgabe vor Entschädigung gefordert.
Er mußte sich dann von den Gerichten eines Besseren belehren lassen, daß es sich nämlich bei den reklamierten Objekten nicht um Parteivermögen, sondern um Volksvermögen handelt.
Sie werden auch dieses noch ertragen müssen. Die Treuhandanstalt hat dazu festgestellt — ich zitiere —:Die SPD hatte Ansprüche auf Rückübertragung von 13 der insgesamt 14 von der Treuhandanstalt zu privatisierenden Regionalzeitungen geltend gemacht. Dadurch wurde der Abschluß der Verträge von der Treuhandanstalt um mehrere Monate verzögert. Um weiteren Schaden zu vermeiden— darauf liegt die Betonung —und die Zukunft der Arbeitsplätze zu sichern, wurde nach schwierigen Verhandlungen ein Vergleich geschlossen.So sieht die Wirklichkeit aus. Ich sage noch einmal: Herr Klose hält das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung für richtig. — Und er ist Fraktionsvorsitzender geworden.
— Ich kann Ihre Aufregung darüber verstehen; aber das sollten Sie in Ihren Reihen klären.Das Gesetz zur Regelung der Höhe der Entschädigungen und der staatlichen Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Basis muß jetzt schnell kommen. Daß erhaltener Lastenausgleich bei der Rückgabe von Eigentum zurückzuzahlen ist, wird auch allgemein akzeptiert. Eine neue zusätzliche Vermögensabgabe sozusagen als Bundessteuer auf zurückerhaltenes Eigentum muß nach rechtlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sorgfältigst geprüft werden, weil ich meine, daß eine solche Steuer doch recht fragwürdig ist.Jene, die in den neuen Bundesländern investieren wollen, dürfen nicht durch finanzielle Bürden überfordert werden. Jene, die nur Ausgleichsleistungen für sogenannte Bodenreformschäden erhalten sollen, müssen eine faire Chance haben, bei Interesse ihr früheres Eigentum zu einem vernünftigen Preis zurückerwerben zu können.
Nur so wird es uns gelingen, Objekte überhaupt kurzfristig zu privatisieren und die dringend notwendigen Investitionen zu bewirken.Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht waren die entscheidenden Triebkräfte für die Wende. Deshalb dürfen Hoffnung auf Recht und Vertrauen in diesen Rechtsstaat nicht enttäuscht werden.Wir, die Koalitionsfraktionen, stimmen dem Haushalt des Bundesministers der Justiz uneingeschränkt gerne zu.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der kurzen Redezeit von fünf Minuten kann ich nicht auf Einzelposten des Einzelplanes 07 eingehen. Ich werde im übrigen für ihn stimmen.
Ich will aber eine rechtspolitische Anmerkung zu einem Thema machen, das ich für ganz wichtig halte,
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5138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Wolfgang Ullmannund zwar zur Unrechtsaufklärung und zur Unrechtsbereinigung.
Ausstellungen, Herr Kollege von Schmude, mögen ganz schön sein, aber sie sind in meinen Augen nicht genug. Wir sind der Meinung, daß die Absage an Unrecht und Rechtszerstörung durch das, was wir an Unrechtsaufklärung und -bereinigung getan haben, noch nicht ausreicht, auch wenn wir so wichtige Gesetzesinitiativen wie das Stasi-Unterlagengesetz und den Entwurf eines ersten Unrechtsbereinigungsgesetzes vorliegen haben, wofür ich sehr dankbar bin.
Aber all das wird so lange den Bann einer lastenden Vergangenheit nicht brechen können, wie gerade diese beiden letztgenannten Gesetze nicht — nachträglich wenigstens — fundamentiert werden durch eine von den obersten Verfassungsorganen politisch zu vollziehende rechtswirksame Verurteilung der in deutschen Landen seit 1933 geschehenen flächendeckenden Rechtszerstörung. Das unaufgebbare Strafrechtsdogma „nulla poena sine lege" darf nicht in den perversen Grundsatz „nullum crimen sine lege" umgemünzt werden: Verbrechen, die das Recht als solches zerstören, statt einzelne Verbote zu übertreten, seien angeblich nicht verurteilbar.Wenn in unseren Tagen über Tribunale und Urteile debattiert wird, dann geschieht das nicht, weil ein paar sich selbst überschätzende Bürgerrechtler sich Gesetze ausdenken wollen, mit denen man, gegen den Art. 101 des Grundgesetzes verstoßend, die Urteile bekommt, die man gegen bestimmte Leute haben möchte. Nein, wir debattieren, weil die Szene der deutschen Geschichte nun endgültig zum Tribunal geworden ist. Abermals sind die Schleier von einer Vergangenheit gefallen, die mit allen Machtmitteln, auch den illegitimsten, festgehalten werden sollten.Das wird auch vor Herrn Honecker nicht haltmachen. Wenn wir fordern, daß der gegen ihn erlassene Haftbefehl vollstreckt und er dem Richter zugeführt wird, dann wahrlich nicht aus privaten Rachegelüsten. Bei mir persönlich überwiegt eher der Respekt vor dem antinationalsozialistischen Widerstandskämpfer. Aber es ist eben die furchtbare Wahrheit deutscher Geschichte, daß dieser Widerstandskämpfer schon heute wegen seiner Verantwortung für den Schießbefehl, für ein Grenzregime, das keine völkerrechtliche Normalität, sondern eine antihumane Enormität war,
und für einen Einsatzbefehl, der implizierte, daß in Leipziger Krankenhäusern Blutkonserven bereitzustellen waren, in den Berliner Mauerschützenprozeß verwickelt ist.Herr Honecker hat durch sein letztes Interview bewiesen, daß er nicht der alte, kranke Mann ist, demman eine Verhandlung aus Humanitätsgründen nicht mehr zumuten kann.
Er sollte sich endlich dazu entschließen, nicht mehr nur auf die Fragen von Reportern zu antworten, sondern auf die Fragen derer, die sein Grenzregime davon abhielt, die nächsten Angehörigen zu besuchen, wie er es jetzt für sich selbst beansprucht.
Aber wir alle gemeinsam sollten das Tribunal ernst nehmen, vor das uns die deutsche Geschichte, vor allem die deutsche Rechtsgeschichte des letzten Menschenalters, geführt hat.Ich danke Ihnen.
Es spricht jetzt Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kürze der Zeit erlaubt leider nur, auf einige wenige Fragen im Zusammenhang mit dem Haushalt des Justizministers einzugehen.
Ich möchte mit der Grundstücksproblematik in den neuen Bundesländern beginnen und sage Ihnen, daß die gesetzlichen Regelungen dazu eine Katastrophe in mehrfacher Hinsicht sind. Eine Frage wird immer betont, nämlich die der Investitionen, die sich äußerst kompliziert gestalten, wenn Sie an Unternehmerinnen und Unternehmer Betriebe immer mit dem Vorbehalt verkaufen: Es kann aber sein, daß ihr den Grund und Boden noch einmal verliert. — Dann ist natürlich deren Interesse an Investitionen sehr begrenzt, und zwar einfach deswegen, weil sie sagen: Die Maschinen allein sind es eigentlich nicht, was ich erwerben wollte, sondern in erster Linie kommt es auf den Grund und Boden an.Es ist aber noch schlimmer, daß es viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die heute nicht mehr wissen, ob ihr Eigenheim oder ihr Wochenendhaus ihnen bleibt oder nicht, obwohl sie jahrelang ihre Arbeitskraft und Freizeit auf den Aufbau verwandt haben. Da herrscht wirklich irrsinnige Rechtsunsicherheit. Nehmen Sie diese bitte nicht leicht. Es gibt Orte mit 80 % sogenannten ehemaligen Westgrundstücken, in denen schon fast eine feindliche Stimmung herrscht. Es ist ganz wichtig, daß im Interesse der Betroffenen, die dort seit Jahren leben, gebaut und gewirkt haben, hier schnellstens Rechtssicherheit geschaffen wird.Ich sage Ihnen auch: Man kann kaum ermessen, was es in der DDR z. B. bedeutete, ein Eigenheim oder ein Wochenendhaus zu bauen. Das war nicht mit einem Auftrag und dem entsprechenden Geld erledigt, sondern erforderte wirklich umfassende — auch
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5139
Dr. Gregor Gysieigene — Arbeit, um dies überhaupt errichten zu können. Helfen Sie den Menschen. Beenden Sie endlich die Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet.Eine zweite Bemerkung. Die Richterwahlausschüsse sollen dafür sorgen, daß Richterinnen und Richter in den neuen Bundesländern tätig werden, die politisch-moralisch vertretbar sind und dafür in Frage kommen. Dagegen wäre an sich nichts zu sagen, wenn nicht die Praxis und auch die Vergangenheit das Ganze unglaubwürdig machten. Es fängt schon einmal damit an, daß es hier kein Stück Selbstkritik etwa im Hinblick auf die Tatsache gibt, daß nach 1945 fast alle braunen Juristen in die Justiz übernommen worden sind. Es geht damit weiter, daß letztlich offensichtlich nur Praktikabilität vorherrscht. Sie müssen doch einmal die Frage beantworten, wie es kommt, daß in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern bis zur Hälfte der Richter, in Brandenburg wahrscheinlich sogar zwei Drittel, aber in Berlin nur drei oder vier übernommen werden können.
— Das will ich Ihnen auch begründen; es ist ganz einfach. Die Richter in Berlin waren nicht anders.
Es liegt daran, daß es dort West-Berlin gibt, daß dort genügend Richterinnen und Richter zur Verfügung stehen und daß Ihnen die Richter in den anderen Bundesländern fehlen. Das schränkt die Glaubwürdigkeit ein, weil es gar nicht darum geht, sondern um Kriterien der Praktikabilität und der Durchsetzbarkeit.Ich will einen dritten Punkt ansprechen. Es ist genauso unglaubwürdig, wenn Sie z. B. bei einer Richterin, der Sie nichts vorwerfen können, den Senat, nur weil man eine PDS-Mitgliedschaft vermutet, über Wochen und Monate beschäftigen, obwohl der Richter-wahlausschuß ja gesagt hat.Ein großes Problem stellt mit Sicherheit die Vereinfachung der Rechtswege dar. Ein Recht ist kaum noch etwas wert, wenn man es erst nach sieben Jahren bestätigt bekommt.
Daran muß etwas geändert werden. Da habe ich auch meine Erfahrungen. Sie legen jetzt ein solches Vereinfachungsgesetz vor. Schauen Sie sich einmal an, worauf das hinausläuft. Ich will mich jetzt gar nicht zum Zivilrecht äußern, bei dem Sie das Rechtsmittel fast abschaffen.
— Doch. Im Strafrecht gibt es enorme Einschränkungen beim Beweisantragsrecht der Verteidiger. Das halte ich für ein irrsinniges Problem.Sie haben Strafurteile eingeführt, die nicht mehr rechtsmittelfähig sind, bei denen es um die Frage geht, ob eine Berufung überhaupt zulässig ist oder nicht. Ich sage Ihnen: Das verstößt gegen geltendes Völkerrecht. Nach der auch durch die Bundesrepublikunterzeichneten internationalen Konvention über bürgerliche und politische Rechte muß gegen jedes Strafurteil ein Rechtsmittel zulässig sein.
— Nein. Sie können noch Beschwerde einlegen und behaupten, ein Rechtsmittel wäre zulässig gewesen.
— Wissen Sie, mit solchen Tricks habe ich 20 Jahre lang zu tun gehabt.
Belassen Sie es bei einem ordnungsgemäßen Rechtsmittel und nicht bei der Frage, ob ein Rechtsmittel zulässig ist oder nicht. Alles andere wäre eine vehemente Einschränkung des Rechtsmittelrechts.Besonders mies finde ich, daß Sie das mit der Begründung tun: Wir brauchen das, um die Justiz in den neuen Bundesländern aufzubauen. Dagegen liegen die Pläne seit Jahren in den Schubfächern. Sie mißbrauchen hier die neuen Bundesländer, um alte Pläne zur Rechtsmitteleinschränkung durchzusetzen.
Ich komme zu meinem letzten Hinweis. Was das Unrecht betrifft, so ließe sich eine Menge wiedergutmachen. Es gibt den Fall, daß ein Mann beschreibt, daß er in Bautzen gefoltert worden ist. Er sagt, wann das war, und er sagt, von wem er gefoltert wurde, d. h. er nennt Namen. Aber es passiert nichts. Statt dessen führen Sie in Berlin einen Schauprozeß nach dem anderen, der zu gar nichts führt, sondern rechtsstaatliche Bedenken auslöst.
— Was anderes war es denn bei Harry Tisch? Letztlich müssen die Leute es als Veralberung empfinden, aber nicht als eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Daß der Mauerschützenprozeß schwerste rechtsstaatliche Bedenken auslöst, müßten auch Sie wissen.Danke schön.
Als nächster spricht der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter de With, Sie haben mich kritisiert. Das ist Ihr gutes Recht. Sie haben eine Fülle von Punkten angesprochen. Ich würde gern zu jedem einzelnen Punkt etwas ausführen und könnte dies auch. Aber ich muß Ihnen sagen: Ich habe andere Sorgen.
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5140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Bundesminister Dr. Klaus KinkelIch sage Ihnen in aller Offenheit und in aller Klarheit: Ich habe verdammt andere Sorgen. Wenn es möglich wäre, würde ich mich wahrhaftig gern um alle von Ihnen aufgeführten Punkte kümmern; aber ich kann es einfach deshalb nicht, weil ich nicht genügend Leute habe, weil nach wie vor die Problematik der Wiedervereinigung und im Augenblick auch die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa Dinge erforderlich machen, die es nicht zulassen, sich mit der notwendigen Intensität mit jenen Fragen zu beschäftigen, die Sie zum großen Teil angeschnitten haben. Sie wissen ganz genau: Ich habe im Bundesjustizministerium einen ganz erheblichen „Blutverlust" beim Personal zu verzeichnen. Ich kann die Stellen im Augenblick nicht qualifiziert nachbesetzen. Ich muß das bei einer solchen Gelegenheit auch einmal deutlich sagen. Durch die Wiedervereinigung und die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und alle anderen Dinge ist das Bundesjustizministerium in den letzten Monaten so überlastet gewesen, daß wir nicht mehr leisten konnten.Ich würde mich wahnsinnig gern — wie Sie es angemahnt haben — vor allem um langfristige Reformvorhaben kümmern, aber ich kann es nicht. Soweit es irgendwie geht und die Kraft ausreicht, wird es geschehen. Wenn Sie sagen, Sie hätten manchmal den Eindruck, ich sei ein Troubleshooter, dann sage ich Ihnen: Ich muß Troubleshooter sein, und zwar in allen möglichen Richtungen. Die Glorifizierung zurückliegender Zeit, da Rechtspolitik in etwas ruhigeren Bahnen ablaufen konnte, geht in Ordnung — auch ich habe ja Teile dieser Zeit mitgemacht — , aber die Zeiten haben sich verändert; sie haben sich ungeheuer verändert. Ich bitte, das einfach zu berücksichtigen.
Ich werde Ihnen im Rechtsausschuß und auch sonst zu jedem einzelnen Punkt, den Sie genannt haben, Rede und Antwort stehen, wenn ich die Zeit habe. Aber ich sage Ihnen nochmals: Es bedrückt mich etwas anderes; dazu will ich Stellung nehmen. Ich habe es mir vorgenommen, weil ich glaube, daß es wichtig ist.Nach wie vor stehen sich aus der Wiedervereinigung ergebende Probleme im Mittelpunkt der Rechtspolitik. Ich will in diesem Zusammenhang kurz auf einen Fragenkreis eingehen, der mich wahnsinnig bedrückt, der mich weit mehr bedrückt als das meiste von dem, was Sie gesagt haben. Wir haben jetzt zwar gleiches Recht in Deutschland, leider aber noch nicht gleiche Rechtsverhältnisse und vor allem keine gleiche Rechtsgewährung.
Nach 40 Jahren gelebtem Rechtsstaat — wir hatten die Chance, hier den Rechtsstaat einschließlich unseres Wohlstands aufzubauen — waren wir stolz darauf, den Menschen in der ehemaligen DDR sagen zu können: Der Rechtsstaat kommt jetzt auch zu euch. — Ich als Bundesjustizminister habe das auch gesagt, und zwar massiv und deutlich. Leider aber hat die Erfahrung gezeigt — das will ich in aller Offenheit ansprechen, weil alles andere keinen Sinn hat — , daß es mit dem Rechtsstaat so einfach nicht ist, ja, daß die Menschen an und mit ihm unsicher werden. Endlich sollten die Täter nach ihrer Meinung bestraft, die Opfer rehabilitiert und die Eigentumsverhältnisse geklärt werden, besser: Es sollte eine gerechte und vor allem schnelle Lösung gefunden werden.Wir in der alten Bundesrepublik waren und sind an den Rechtsstaat gewöhnt, sind durch ihn verwöhnt. Die rechtsstaatliche Betreuung praktisch von der Wiege bis zur Bahre ist bei uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Aber versetzen wir uns doch einmal in die Lage der SED-Opfer: Wie stellt sich ihnen dieser Rechtsstaat bisher dar? Kühl schaut er aus, emotional wenig engagiert, mechanistisch, in komplizierten Verfahren bei Gericht und im Parlament spezialisiert, von seinen Juristen professionell betrieben, vor allem aber viel zu langsam. Auch konkret überzeugt er noch nicht. Er ist noch nicht die bergende Hütte, wie Herr Heitmann es gesagt hat, wie auch ich es hier im Hause schon wiederholt gesagt habe.Die Eigentumsverhältnisse sind nicht geklärt. Alles, was Sie sagen und ansprechen, ist richtig. Die Rehabilitierung hat leider erst begonnen. Wir haben das erste Unrechtsbereinigungsgesetz verabschiedet. Für das Berufs- und Verwaltungsunrecht suchen wir noch nach einem richtigen Weg. Das Bedrückenste von allem ist: Die Täter sind nicht einmal andeutungsweise bestraft worden. Sie sitzen in Moskau — wie Honekker — , wandern durch die Talk-Shows, machen sich in Verwaltungen und Unternehmen breit, und in Berlin stehen vier junge Leute vor Gericht, die fast noch Kinder waren, als sie die Taten im Auftrag von Herrn Honecker ausgeführt haben, die ausgeführt worden sind.
So hatten sich die Menschen den gerechten Rechtsstaat nicht vorgestellt. Nicht wenige beginnen deshalb, an ihm zu verzweifeln, ich manchmal auch ein wenig; ich will das deutlich sagen. Gerade deshalb gilt: Dieser Enttäuschung müssen wir mit aller Kraft und vor allem mit aller Überzeugungskraft entgegentreten. Das ist übrigens alternativlos. Wir müssen die Idee des Rechtsstaats vermitteln, müssen weiterhin für seine Akzeptanz werben. Wir müssen deutlich machen, wie und wann der Rechtsstaat überhaupt Gerechtigkeit herstellen kann.Er ist kompliziert, manchmal zu kompliziert. Er enthält viele Sicherungen. Niemand hat absolute Gewalt über Menschen. Die Gesetze werden langsam, sorgfältig beraten. Das ist kein Vorwurf. Die Verfahren sind öffentlich, sie kennen viele Beteiligte. Die Durchsetzung liegt bei den Gerichten. Diese sind Gott sei Dank unparteiisch und dürfen den Angeklagten nur zur Last legen, was in einem sorgfältig durchgeführten Verfahren auch wirklich bewiesen wurde.Dies alles dauert lange, es dauert seine Zeit. Das ist in normalen Zeiten verkraftbar. In außergewöhnlichen Zeiten — in einer solch außergewöhnlichen Zeit leben wir nun einmal — ist es nur schwer verstehbar und verdaulich. Dann dauert es, bis alle Täter angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt sind, und da kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß manche
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Bundesminister Dr. Klaus KinkelTäter durch die Maschen schlüpfen. Aber — das ist im Rechtsstaat nun einmal so — : Lieber einen Schuldigen entkommen lassen, als unschuldige Bürger mit Schnüffelei und Ausspähung zu überziehen, ihnen die verfahrensmäßigen Rechte zu beschränken und sie zum Objekt statt zum Subjekt des Rechts zu machen.
Die Mühlen des Rechtsstaats mahlen vielen zu langsam; ich weiß das. Als Bundesjustizminister bedrückt es mich in ganz besonderer Weise, daß ich das feststellen muß. Ich weiß, daß es nicht anders geht. Natürlich sehe, höre und spüre ich die Ungeduld und Unzufriedenheit der betroffenen Menschen. In diesen Zeiten des Umbruchs muß ich leider nur zu oft um Geduld und Vertrauen in das Recht bitten, was ich im übrigen aus tiefer Überzeugung tue.Wir dürfen uns deshalb im Wissen um die Qualität unseres Rechtsstaates nicht zurücklehnen, vielmehr müssen wir eine gewaltige Kraftanstrengung vollbringen. Auch folgendes bedrückt mich sehr: Wir sollten nicht vergessen, daß wir das Dritte Reich noch aufarbeiten; noch läuft in Stuttgart der Schwammberger Prozeß. Wir sind nun verpflichtet, ein zweites Unrechtsregime in Deutschland aufzuarbeiten; das ist eine verheerende Hinterlassenschaft.Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die symbolischen Fälle. Die Menschen haben ein sehr feines Gefühl für diese Symbolik. Zu diesen symbolischen Fällen gehört — wie hier schon angesprochen — der Fall Honecker, ob wir es wollen oder nicht. Meines Erachtens hören wir zu häufig: Laßt doch den alten Mann, der Antifaschist war, im Zuchthaus saß, in Ruhe. Nein! Ich stimme Herrn Ullmann zu: Wir können ihn nicht lassen.Ich muß Ihnen persönlich deutlich sagen, daß ich am Rechtsstaat verzweifeln würde, wenn wir so verführen.
Ich werde nicht müde werden, das zu sagen, und auch versuchen, es zu erklären. Der Anspruch des Rechtsstaats, alle Bürger dem gleichen Recht zu unterwerfen, ist unbedingt; wer hier nachgibt, gibt den Rechtsstaat auf. Herr Honecker unterliegt nun einmal dem deutschen Recht, und wir müssen dafür sorgen — ich werde jedenfalls alles dafür tun — , daß er hier vor Gericht gestellt wird, mag dieses Verfahren ausgehen, wie es will.Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß ich andere Sorgen habe. Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz etwas sagen, was mich mindestens genauso bedrückt. Am letzten Montag und Dienstag fand hier in Bonn die Konferenz der Justizminister aus mittel- und osteuropäischen Ländern statt. Ich kann Ihnen nur sagen, daß das eine bewegende Sache war. Bewegend deshalb, weil 16 Justizminister aus osteuropäischen Ländern anwesend waren, die sichauf eine unwahrscheinliche Art und Weise hilfesuchend an uns wenden und sagen: Ihr habt den Großen Bruder. Wir haben niemanden.Wenn Sie den albanischen Justizminister, den Justizminister aus Weißrußland, den aus der Ukraine, den aus Slowenien, den aus Mazedonien usw. erlebt hätten, ihre Not auf dem Weg zur Demokratie und zum Rechtsstaat gespürt hätten, würden Sie es nicht verstehen, wenn ich hier auf die Feinziselierung der Zwangsvollstreckung einginge und nicht auf die Probleme, die sie haben.
Das ist gerade auch für uns in der Bundesrepublik eine ungeheure Herausforderung, auf der anderen Seite aber auch eine gewaltige Chance. Ich kann Ihnen nur sagen: Uns bietet sich hier in der Bundesrepublik, weil kontinentales, europäisches Recht erwartet wird, eine gewaltige Chance, von der Sprache bis hin zur Wirtschaft: Die Wirtschaft folgt dem Recht, Verfassungsrecht, Wirtschaftsrecht auf dem Weg von der sozialistischen Kommandowirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft. Wir haben eine sehr große Verpflichtung und eine sehr große Chance.Es hat keinen Sinn, daß wir hier versuchen, uns allein auf die Wiedervereinigung zu fokussieren und zu konzentrieren. Wir müssen diese Umbrüche in Mittel- und Osteuropa beachten; in der Retrospektive werden sie später einmal geschichtlich betrachtet. Seien Sie nicht böse, wenn ich deutlich sage: Dies wird sehr viel wichtiger sein als unsere Wiedervereinigung, die uns wahrhaftig viel bedeutet und auch viel bedeuten muß.
Sie verlangt auch viel von uns, gerade in bezug auf den Aufbau des Rechtsstaats.Hier liegt die einmalige Chance — ich sage es noch einmal — , und ich bin überzeugt davon, daß wir sie nutzen müssen. Ich möchte den Deutschen Bundestag auffordern, mir dabei zu helfen, die Verpflichtung zu spüren und die Chance wahrzunehmen.
Ich danke dem Parlament mit Nachdruck für die bisherige Unterstützung. Ich danke aber insbesondere dem Haushaltsausschuß, der den Bundesjustizminister — der im Grunde einen winzigen Haushalt hat — außerordentlich fair und gut behandelt hat. Ich fordere Sie natürlich auf, mich bei den Anliegen zu unterstützen, die auf uns zukommen und die lange nicht so kosten- und personalintensiv sind, wie sie wirken. Hier kann mit allen möglichen Mitteln, die wir zum Teil bereits einsetzen, viel mehr geleistet werden.Herr Abgeordneter von Schmude, ich möchte Ihnen zum Schluß sagen, daß ich mich über Ihre Anregung im Hinblick auf eine Ausstellung „SED-Unrechtsstaat" sehr freue. Ich werde diese Anregung gerne aufnehmen. Wir werden alles versuchen, eine solche Ausstellung zu machen. Hoffentlich wird sie ein gleicher Erfolg wie die Ausstellung „NS-Justiz" , die dem Bundesjustizminister im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand gerissen wird. Wir haben bisher 20 bis
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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel25 Veranstaltungsorte gehabt. Wir haben einen ungeheuren Zulauf vor allem von jungen Menschen. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen.Vielen Dank.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Michael Luther.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Demokratie ist ein kompliziertes Ding. Es erfordert ein tägliches Ringen. Man muß sich bemühen. Es ist anstrengend. Die Demokratie zu erhalten ist eine tägliche Gratwanderung. Ein wichtiger Baustein, ein Stück des Fundaments der Demokratie ist das Rechtssystem, ist das Grundgesetz und ist das Bürgerliche Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland.
Dieses Rechtssystem ist mir unendlich wertvoll. Aber von vielen Bürgern in Westdeutschland wird es nicht mehr bewußt wahrgenommen, und von vielen Bürgern in Ostdeutschland wird es noch nicht bewußt wahrgenommen. Rechtsstaat muß gelernt werden.
Das ist besonders schwer für die, die so einfach verurteilt, gedrückt und in die Ecke gestellt wurden und sich nicht entfalten durften und heute mit zu verstehender Entrüstung sagen: Was nützt uns das Recht, wenn es die Falschen schützt?
An dieser Stelle werde ich sehr hellhörig. Denn von dieser Stimmung ist es nicht mehr weit bis zu dem Ruf nach dem starken Mann. Deshalb muß die Justiz ihre Aufgaben erfüllen können. Sie muß Recht und Gerechtigkeit schaffen. Die Wege der Rechtsprechung und der Gerechtigkeitfindung müssen aber auch nachvollziehbar und durchschaubar sein. Nicht nur der in der Wüste steht in der Gefahr, im Kreis zu laufen. Auch derjenige, der sich im Urwald eines in vierzig Jahren entwickelten Gesetzeswerkes zurechtfinden muß, steht in der Gefahr, sich zu verirren oder die Lust an dem ganzen zu verlieren. Das ist ein Problem aller sechzehn Teile Deutschlands.
Deshalb muß das Rechtssystem vereinfacht werden, durchschaubar gestaltet werden. Die Leistungsfähigkeit der Justiz muß gefördert werden, die insbesondere für die Aufbauarbeit in den neuen Bundesländern notwendig ist. In der näheren Zukunft werden wir hier und im Rechtsausschuß eine ganze Reihe von Vorhaben zu beraten haben, die die Rechtseinheit in ganz Deutschland herstellen und den Aufbau der Justiz weiter erleichtern werden.
So ist z. B. der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Justiz, den wir vor kurzem in erster Lesung hier beraten haben, auf viel Kritik gestoßen. Das war teilweise zu erwarten. Teilweise ist diese Kritik jedoch unverständlich. Zu erwarten war die Kritik
von den Berufsverbänden. Die Richterschaft sieht trotz der ausdrücklichen Befristung der meisten Maßnahmen althergebrachte Strukturen und Prinzipien der Zerstörung ausgesetzt. Die Anwaltschaft wiederum sieht ihre und die Rechte ihrer Mandanten über Gebühr eingeschränkt. Wir werden jedoch nicht nur im Interesse der alten, sondern besonders der neuen Länder einige befristete Änderungen einführen müssen, die es gerade den neuen Ländern erlauben, mit den nun langsam herandringenden Verfahren in vernünftiger Weise fertigzuwerden. Es stünde allen Initiatoren jenes Entwurfes und den entsprechenden Kräften im Bundestag gut an, sich der Aufgabe Justizaufbau mit mehr Rationalität zu stellen.
Meine Damen und Herren, jetzt komme ich auf ein sehr heikles Thema; ich muß es dennoch ansprechen: Es gibt ausreichend viele Bundesgerichte in Deutschland. Aber die Historie stellte bestimmte Prämissen an deren geographische Verteilung.
Die neue deutsche Situation ermöglicht und erfordert, an Traditionen anknüpfend, bestimmte Verlagerungen vorzunehmen. Der Nachfolger des Reichsgerichtshofes in Leipzig ist der Bundesgerichtshof, der heute in Karlsruhe neben dem Bundesverfassungsgericht sein Domizil hat.
Der Bundesgerichtshof gehört nach Leipzig.
Der Bundesgerichtshof gehört nach Leipzig — genauso wie das deutsche Parlament im Reichstag seine Traditionen fortsetzen will.
Karlsruhe wird dabei nicht verarmen und auch nicht an Bedeutung verlieren. Aber im Sinne der von mir eingangs beschriebenen Situation der Akzeptanz des Rechtsstaates ist eine solche Verlagerung ein Zeichen par excellence für die Menschen in den neuen Bundesländern.
Herr Abgeordneter Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hämmerle?
Sehr gerne.
Lieber Herr Kollege Luther, ich möchte hier jetzt mit Ihnen nicht streiten. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß dieses Parlament eine Kommission eingesetzt hat mit dem Namen Föderalismuskommission. Ich habe die Ehre, eine Vorsitzende zu sein, und der Herr Ministerpräsident von Thüringen ist der andere Vorsitzende. Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es der Auftrag dieser Kommission ist, die obersten Bundesbehörden gerecht auf
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Gerlinde Hämmerledie neuen und die alten Länder zu verteilen? Und sind Sie dann nicht mit mir der Ansicht, daß das Rednerpult des Deutschen Bundestages heute vielleicht der falsche Platz ist, um die Verlegung einer einzigen Behörde zu behandeln?
Frau Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar für die Frage und für den Hinweis auf diese Föderalismuskommission. Ich denke, daß es wichtig ist, gerade auch von dieser Stelle solche Dinge zu benennen, die historisch zu benennen sind. Ich denke, daß Sie diese Anregung von dieser Stelle auch aufnehmen werden. Danke.
Herr Dr. Luther, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng? —
Herr Kollege Luther, ist Ihnen bewußt, daß einer der Gründe dafür, daß dieses Gericht seinerzeit in Karlsruhe angesiedelt worden ist, die Tatsache war, daß Karlsruhe darauf verzichtet hat, im Zuge der ersten und bisher leider einzigen Länderneugliederung in der Bundesrepublik Landeshauptstadt zu werden, wodurch — trotz des bestehenden Verfassungsgebotes; ich sage das auch mit Blick auf die Situation der neuen Bundesländer — eine Verbesserung der Struktur der Länder nur im Südwesten erreicht worden ist?
Mir ist das bekannt. ich muß allerdings auch sagen, daß wir in den neuen Bundesländern auf Grund dessen, daß wir infolge des Krieges von Leuten besetzt worden sind, die nicht wollten, daß wir ein Deutschland sein würden, auf vieles verzichten mußten. Ich denke, daß wir jetzt eine neue Situation haben.
Herr Abgeordneter Luther, es gibt eine weitere Anfrage der Abgeordneten Hämmerle.
Ja, bitte.
Sie haben Pech gehabt, Herr Kollege Luther. Ich wollte gerade hinausgehen, als ich hörte, daß Sie mit meiner Heimatstadt zu Gange waren.
— Ich möchte das jetzt wirklich nicht ins Lächerliche ziehen. Ich möchte hier jetzt auch keine Debatte über Karlsruhe und die hohen Gerichte. Ich möchte Sie nur fragen, weil Sie die historischen Gründe aufgezeigt haben und sich der Herr Kollege Dr. Weng dankenswerterweise daran beteiligt hat: Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Land Baden-Württemberg außer dem Bundesgerichtshof, wenn man einmal davon ausgeht, daß das Bundesverfassungsgericht ein Verfassungsorgan ist, das hier nicht unbedingt zur Debatte stehen darf, keine einzige weitere obere Bundesbehörde hat?
Es wäre wiederum eine Aufgabe der Föderalismuskommission, eine gerechte Verteilung vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, ich war kurz vor dem Ende.
Lassen Sie mich zum Schluß für die großartigen Leistungen der Bundesregierung in diesem Jahr beim materiellen und personellen Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern danken. Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen wissen das zu schätzen.
Danke schön.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Detlef Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Bundesjustizminister Kinkel, wir möchten uns dem schon mehrfach ausgesprochenen Dank für die Leistungen Ihres Hauses und Ihre persönliche Leistung anschließen und Ihnen ganz besonders dafür danken, daß Sie durch Ihren großen persönlichen Einsatz ein Beispiel für das gegeben haben, was Sie hier zu Recht von uns allen eingefordert haben, nämlich mit Überzeugungskraft darauf hinzuwirken, daß die Bürger in den neuen Ländern das Recht und den Rechtsstaat so annehmen und sich mit ihm — trotz aller Mängel — so anfreunden können, wie wir das im Interesse dieses Rechtsstaates brauchen. Für diese allgemein anerkannte Leistung, die schon in dem einen Jahr nach der ersten gemeinsamen Bundestagswahl zu so deutlich sichtbaren Erfolgen geführt hat, unseren herzlichen Dank.
Tatsächlich relativiert sich dann ja einiges andere, was heute morgen vorgetragen worden ist, ganz deutlich. Süß-saure Cocktails sind nicht jedermanns Geschmack.
Wenn man Lob und Tadel so durcheinanderrührt, wie Herr de With das getan hat, dann entsteht ein doch verhältnismäßig wenig überzeugendes Gebräu, dessen Verzehr wir gerne anderen überlassen.
Es ist in der Tat so, daß neben den Leistungen, die im Vordergrund stehen müssen, die laufenden Dinge sehr ordentlich weiterbehandelt worden sind und weiterbehandelt werden und daß man fast zu jedem der hier angesprochenen Einzelthemen die Kritik natürlich auch zurückgeben kann.
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Detlef Kleinert
Woher rühren denn die Probleme bei § 218 StGB? Sie rühren u. a. doch daher, daß sich diejenigen in der SPD nicht durchsetzen können, die auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verweisen und davon abraten, einen politisch vielleicht durchaus einleuchtenden und vertretbaren Vorschlag zu machen, der aber verfassungsrechtlich nicht standhalten dürfte. Es liegt also immer an mehreren Beteiligten, aufeinander zuzugehen, wenn man sich in wichtigen Dingen bewegen und auch in diesem Punkt zu einem Stück deutscher Einheit kommen will.Das gleiche kann man bei dem angemahnten Insolvenzrecht anführen. Solange man glaubt, es könnten hier nur von einer Seite Opfer zur Revitalisierung der Unternehmen — die wir genauso wollen wie Sie — verlangt werden, die andere Seite aber könne auf angeblich wohlerworbenen Rechten, z. B. beim Sozialplan und dem Kündigungsschutz, beharren, kommt man eben nicht zu einem überzeugenden Ergebnis.Wenn man glaubt, es läge nur daran, den Rechtsweg bei den Finanzgerichten einzufordern und den Zugang zum Bundesfinanzhof möglichst dauerhaft zu verkürzen — und das dann für bürgerfreundlich hält — , dann ist das entschieden zu kurz gesprungen. Man muß nach der Ursache fragen. Wir sind bemüht, zu vorgerichtlichen Einigungsmechanismen zu kommen. Wir möchten, daß die Finanzämter auch das Einsehbare als ein Ziel ihres Handelns vor Augen haben, daß sie Entscheidungen so treffen, daß der Bürger sie noch nachvollziehen kann. Wenn sich aber die Finanzbehörden und auch der Bundesfinanzhof — das ist bei anderen Gerichten nicht viel anders, fällt aber beim Bundesfinanzhof besonders deutlich auf — die Arbeit durch viel zu detaillierte, viel zu künstliche Kasuistik selbst beschaffen, dann ist es verkehrt, bei uns anzumahnen, diese Tätigkeit etwa noch dadurch beschleunigen zu helfen, daß man keine normale Revision und ein für allemal keine Streitwertrevision mehr zuläßt, damit noch mehr zusätzliche Komplikationen ersonnen werden. Zur Vereinfachung müssen wir als Anfang kommen.
Dann werden sich einige Probleme in der Ausstattung der oberen Bundesgerichte nicht mehr in der Schärfe stellen, in der sie sich leider noch stellen.
Bei all dem, was der Bundesjustizminister hier hinsichtlich seiner Sorgen in den neuen Bundesländern und in Osteuropa so eindrucksvoll dargestellt hat, möchte ich noch eines sagen:Wir haben in wenigen Wochen eine sehr wichtige Konferenz in Maastricht. Wir wünschen unserer Regierung eine glückliche Hand bei den schweren Verhandlungen, die da auf sie zukommen; denn unser Rechtsstaat kann auch durch ungeeignete europäische Regelungen ausgehöhlt werden. Wir können auch erheblichen Schaden in unserem Rechtsverständnis und seinen Regeln nehmen, wenn über den Grundsatz der Subsidiarität in Europa zwar ständig gesprochen wird, wir aber hinter diesem verbalen Vorhang mit einer völlig unerwünschten und völligunnötigen Regelungsdichte von dort aus überzogen werden. Weil wir engagierte und überzeugte Föderalisten sind, möchten wir auch ein föderales Europa haben,
weil nämlich in seiner Vielfalt und in der Bewahrung der in den einzelnen Ländern gewachsenen Traditionen, zu denen insbesondere auch die Rechtstradition gehört ganz wesentlich die Kraft dieses Europas liegen wird. Deshalb wiederhole ich meine Wünsche an die Bundesregierung, diese Dinge mit möglichst starker Hand bei den vor uns liegenden Verhandlungen zu bedenken und durchsetzen zu helfen.Herzlichen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung des Einzelhaushalts, und zwar zunächst über den Einzelplan 07 — Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz —. Ich frage: Wer stimmt für den Einzelplan 07 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 07 ist mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE bei Gegenstimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 19 — Bundesverfassungsgericht — ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 19 ist bei einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen angenommen.Ich rufe jetzt auf: Einzelplan 06Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern— Drucksachen 12/1406, 12/1600 —Berichterstattung:Abgeordnete Karl DeresIna AlbowitzRudolf PurpsEinzelplan 36Zivile Verteidigung— Drucksachen 12/1429, 12/1600 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter UelhoffRudolf PurpsIna AlbowitzEinzelplan 33Versorgung— Drucksache 12/1427 —Berichterstattung:Abgeordnete Adolf Roth Rudolf Purps
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5145
Präsidentin Dr. Rita SüssmuthZum Einzelplan 06 liegen ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste und zwei Änderungsanträge der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Abgeordnete Rudolf Purps.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Einzelplan 06 wurde in Aufstellung und Beratung im Haushaltsausschuß von Herrn Dr. Schäuble verantwortet. Nach dem Wechsel im Amt hat jetzt Kollege Seiters das Erbe angetreten, ein Erbe, das gekennzeichnet ist von Unterlassungen, Fehlentscheidungen, von Ungereimtheiten und in einigen Bereichen von mangelnder Klarheit in Zielsetzung und Durchführung.
— Liebe Kollegen, was regt ihr euch denn jetzt schon auf? Man beurteilt ein Menü doch nicht nach dem ersten Löffel Suppe. Wartet doch mal ein bißchen ab!
Gemeinsamkeiten — ich bitte zuzuhören — und Zustimmung werde ich nicht verschweigen; denn nur dann kann man um so deutlicher und glaubwürdiger auf die unterschiedlichen Positionen und Beurteilungen hinweisen, die sich in der Innenpolitik zwischen Regierung und Opposition ergeben.Ich komme zur Sache. Seit mehr als einem Jahr fordert die SPD-Bundestagsfraktion, übrigens in völliger Übereinstimmung mit dem Deutschen Sportbund, daß über den Rahmen von Zuständigkeit und Einigungsvertrag hinaus der Aufbau des Breitensports und die Substanzerhaltung der Sportstätten in den neuen Bundesländern mit Bundesleistungen gefördert werden. Mit ebenso unschöner Regelmäßigkeit verweist der BMI auf seine Unzuständigkeit, obwohl er ganz genau weiß, daß Länder und Kommunen in ihrer gegenwärtigen Einnahmesituation gegenwärtig nicht in der Lage sind, die finanziellen Mittel aufzubringen, um Sporthallen, Schwimmbäder und vieles andere vor dem sprichwörtlichen Verfall zu bewahren.
Im übrigen, was wäre denn, wenn in den Westländern bei der Sportförderung Landesregierungen und Kreise keine freiwilligen Leistungen mehr erbrächten? Was wäre denn dann? Also meine ich: Was den Ländern und Kreisen und Kommunen in der Sportförderung recht ist, sollte dem Bund ein Vorbild sein. Er sollte hier nicht mauern; er sollte fördern.
Wir fordern einen neuen Goldenen Plan und eine Anschubfinanzierung für den Aufbau der Sportvereine in den neuen Ländern und für den Zweck, den Breitensport auf eine gesicherte Grundlage zu stellen.Zum Doping und zur ersten Gemeinsamkeit: Wir imHaushaltsausschuß haben eine 5-Millionen-Sperre ausgebracht, damit die Fachverbände in der unseligen Dopingfrage endlich ihre Hausaufgaben machen. Denen, die ihre Arbeit getan haben, sage ich: Sie werden nicht darunter leiden. Den Säumigen aber muß man deutlich zu erkennen geben: Wer fördert, der fordert auch. Diese Sperre wird erst dann aufgehoben, wenn der Haushaltsausschuß Vollzugsmeldung erhält.
Nun zu einem leidigen Kapitel: Dem geplanten Regenerationszentrum Königsbrunn. Ich habe beantragt, das umstrittene Projekt zu streichen und zu überlegen, ob es nicht im Osten Deutschlands errichtet werden könnte. Königsbrunn hineinschieben, Kreischa zumachen — all das macht irgendwie keinen Sinn.
Wir haben gemeinsam die 6 Millionen gesperrt. Ihnen, Herr Dr. Schäuble, möchte ich sagen: Es ist in der Sprache Ihrer Landsleute schon etwas mehr als ein Geschmäckle, wenn man Kuratoriumsmitglied der Trägergesellschaft Regenerationsstiftung ist und ihr dann als Innenminister in Personalunion insgesamt 26 Millionen für ein nicht etatreifes Projekt im Schnellverfahren zuwenden will.
Im übrigen hat die Presse diesen Vorgang entsprechend kommentiert.Die Neugliederung des Deutschlandfunks, der Deutschen Welle und des Rias kommt zum Teil voran. Ich begrüße die vorgesehene Regelung, die Deutsche Welle um das deutsche Auslandsfernsehen zu erweitern. Denn gerade der Umbruch in Ost- und Südosteuropa stellt die Deutsche Welle vor sehr große Aufgaben, insbesondere wenn man weiß, daß Millionen Menschen dort Deutsch lernen und sich dementsprechend orientieren. Dieses vernünftige und tragbare Konzept bei der Deutschen Welle wird in dieser Hinsicht die Zustimmung der SPD finden.
Um so unbefriedigender, Herr Gerster, ist es, daß es beim Deutschlandfunk nicht vorangeht. Es ist meines Erachtens dem Bürger nicht zuzumutzen, daß er zweimal zur Kasse gebeten wird: zum einem über die beschlossene Gebührenerhöhung und zum zweiten über seine Steuergroschen. Die Rundfunkanstalten legen nämlich das für die Neuordnung des Deutschlandfunks vorgesehene Geld zinsgünstig an und reiben sich die Hände, weil Bund und Länder sich nicht einigen; und so lange muß der Deutschlandfunk aus dem Bundeshaushalt, also mit Steuergeldern, finanziert werden.Dies ist ein unmöglicher Zustand. Ich fordere alle Verantwortlichen, insbesondere Sie, Herr Kollege Seiters, auf, umgehend eine einvernehmliche Lösung in Angriff zu nehmen.
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5146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Rudolf Purps— Das haben Ihnen meine Kollegen im Innenausschuß schon oft genug gesagt; das brauche ich hier nicht zu wiederholen, Herr Gerster.
Es gibt in der Bundesrepublik zwei äußerst sensible Themen, die beide beim Innenminister angesiedelt sind und in der öffentlichen Diskussion große Emotionen freisetzen, was bei der Behandlung im Bundestag mitbeachtet werden muß. Es handelt sich um die Aufarbeitung der Stasi-Akten und um die Asylproblematik.Zum Stasi-Unterlagen-Gesetz: Schon bei der Beratung des 91er Haushalts im Juli dieses Jahres habe ich Sie darauf aufmerksam gemacht, daß nach Meinung der SPD der damals bewilligte Stellenplan von knapp 1 000 Stellen zur Durchführung des zu verabschiedenden Gesetzes nicht ausreichen werde. Ich habe Ihnen erklärt, daß die SPD in dieser Situation weiteren Stellenmehrungen zustimmen wird. Dies tun wir auch heute. Im demokratischen Rechtsstaat muß die ungeheuerliche Vergangenheit von Bespitzelung, Terrorisierung und Unterdrückung, von Verfolgung und Inhaftierung von Millionen Menschen in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern restlos und zügig aufgeklärt werden, wenn nicht Zweifel an diesem demokratischen System entstehen oder wachsen sollen.Folgerichtig hat der Deutsche Bundestag mit den Stimmen aller Parteien das Stasi-Unterlagen-Gesetz beschlossen. Aber am gleichen Tag, als im Plenum die Reden gehalten wurden, hat die Koalition im Haushaltsausschuß die Durchführung dieses Gesetzes durch administrative Maßnahmen stranguliert.
Und sie hat dies gegen den ausdrücklichen Rat des Kollegen Schäuble getan. — Herr Kollege Schäuble, dies ist für Sie eine Niederlage, es sei denn, Sie haben an dieser Stelle nur just for show gekämpft, um nicht selber in die Schußlinie zu geraten.
Dies möchte ich eigentlich nicht glauben, aber Ihr nur hinhaltender Widerstand läßt diese Vermutung zu.Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben die Hälfte der für Herrn Gauck vorgesehenen Stellen — 1 215 Stellen — gesperrt und darüber hinaus verfügt, daß diese Stellen soweit wie möglich mit Soldaten und Verwaltungsangestellten besetzt werden sollen. Dies haben Sie beschlossen,
obwohl Ihnen ein Gutachten des Innenministers vorlag, aus dem hervorgeht, daß die Besetzung so schnell gar nicht vorgenommen werden kann.Damit hier keine Unsicherheit entsteht: Ich bin sehr dafür, Soldaten vorrangig im öffentlichen Dienst weiterzuverwenden und auch die Beamten der Wehrverwaltung; denn dies ist allemal besser als eine frühzeitige Pensionierung. Aber in diesem Falle, in dem esdarauf ankommt, die Funktionsfähigkeit der Behörde Gauck zum 1. Januar herzustellen, ist der Einsatz dieses von Ihnen bevorzugten Personenkreises der falsche Weg; denn wenn ab Januar nicht nur 70 000 — wie heute schon — , sondern noch mehr Anträge eingehen, Anfragen auf Akteneinsicht, Auskunftsersuchen, dann wird es einen nicht zu verantwortenden Bearbeitungsstau geben. Und wie wollen Sie vermeiden, daß die Bürger nicht vermuten, daß dieser Stau politisch gewollt sei,
daß man da nicht mit Nachdruck an der Aufklärung der Stasi-Verbrechen interessiert ist? Mit dieser Sperre haben Sie sich einen Bärendienst erwiesen, und ich kann Sie nur auffordern, die Sperre so schnell wie möglich aufzuheben. Es liegt ein Antrag vom Bündnis 90/GRÜNE vor, der dies beinhaltet. Wir werden dem Antrag zustimmen. Ich möchte dazu aber sagen: Wenn man dabei im Ausschuß nicht mitgekämpft hat und dann hier den Antrag vorlegt, dann ist das kein politischer Stil.
Meine Damen und Herren, trotz der beim Bundeskanzler getroffenen Allparteienvereinbarung zu Fragen der Neuordnung des Asylrechts geschieht von der Regierungsseite her so gut wie nichts. Ein Gesetzentwurf liegt bis heute nicht vor, und der ehemalige Innenminister Schäuble, der dieser Vereinbarung ja innerlich ablehnend gegenübersteht, hat es seinem Nachfolger, Herrn Seiters, überlassen, diesen Gesetzentwurf nun vorzulegen, und er hat es auch angekündigt.Im Gegenzug wird behauptet, diese Verzögerung läge an den Ländern, weil sie ihren übernommenen Aufgaben nicht nachkämen.
Es könne also frühestens im Frühjahr mit Maßnahmen gerechnet werden. Wissen Sie, ich werde den Verdacht nicht los, daß hierbei der Terminkalender von Landtagswahlen die Regie führt und nichts anderes.
Ich sage Ihnen — bitte nehmen Sie das ernst — : Dieses Thema eignet sich nicht im geringsten für die Auseinandersetzung. Die meines Erachtens unverantwortliche Kampagne, die im Sommer vom KonradAdenauer-Haus losgetreten wurde, hat bereits zu erschreckenden Ergebnissen geführt. Wer dieses Thema nicht mit der nötigen Sensibilität und Sachlichkeit behandelt, der risikert, daß aus dem Jauchebeet des Nationalismus die braunen Triebe hervorbrechen,
daß Fremdenhaß und Rassismus grassieren und Hünxe und Hoyerswerda keine Einzelfälle bleiben. Wer in dieser Frage mit dem Feuer spielt, der wird sich an Wahltagen die Augen reiben, wenn nämlich andere die erhoffte Ernte einfahren.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5147
Rudolf Purps— Da haben wir kein Problem!
Herr Kollege Schäuble, Herr Kollege Seiters, warum denn diese Kampagne im Jahre 1991? Im Jahre 1990 kamen 193 000 Asylsuchende in die Bundesrepublik Deutschland. Rechnet man für 1990 die Bereiche Asyl, Aussiedlung und auch noch Übersiedler zusammen,
dann waren das mehr, als wir hier 1991 auch zusammen erwarten. Warum dann 1991 diese Kampagne? Hätten Sie denn Ihre Aufgaben, wenn Sie sie denn so gesehen hätten, nicht schon eher machen können? — Für mich gibt es darauf nur eine Antwort: Sie wollten aus dem politischen Tief nach den Landtagswahlen und der Steuerlüge heraus. Um die eigenen Fehler und Schwächen zu überdecken, hat das AdenauerHaus das Asylthema aufgelegt, um die Themenwende zu erzwingen.
Sie haben dies geschafft. Aber ich frage Sie: Zu welchem Preis haben Sie das geschafft?
Wir stellen für den Haushalt 1992 dem Bundesamt gemeinsam 2 374 neue Stellen zur Verfügung, die so schnell wie möglich besetzt werden müssen, weil sonst die Übereinkunft beim Kanzlergespräch nicht eingehalten werden kann. Aber sollte für das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die gleiche Strategie gelten wie bei der Gauck-Behörde, dann, meine Damen und Herren, setzen Sie von der Koalition die Glaubwürdigkeit der Politik wegen vermeintlicher parteitaktischer Vorteile aufs Spiel. Wenn Sie schon nicht auf die SPD hören wollen oder nicht hören können, dann hören Sie doch auf den Bundespräsidenten, hören Sie auf die Kirchen, hören Sie eventuell auch einmal auf die FDP.
— Vielleicht halten Sie in dieser Frage einmal innere Einkehr. Ich glaube, diese Jahreszeit eignet sich besonders dafür.
Schon bei der Beratung des Bundeshaushalts für dieses Jahr haben wir den starken Aufwuchs der Zuwendungen an zentrale Organisationen, Verbände, insbesondere des Bundes der Vertriebenen, kritisiert. Diese Kritik gilt auch für die Steigerung bei der Förderung zur Erhaltung der deutschen Kultur, wie es jetzt heißt: in den historischen Reichs- und Siedlungsgebieten. Mir ist völlig unverständlich, daß in 1992 dieser Titel noch einmal aufwächst. Ich bleibe bei meiner Meinung: Die Mittel würden besser verwendet für eine aktive Begegnungspolitik zwischen Deutschen und Polen, Deutschen und Tschechen, besonders für die Begegnung junger Menschen, die unsere gemeinsame Zukunft in einem gemeinsamen Haus aktiv gestalten wollen und, wie ich weiß, dies auch schon tun.Die von der Koalition im Haushaltsausschuß hier ausgebrachten Kürzungen und Sperren haben nur die Funktion von weißer Salbe, weil man selbst von der Richtigkeit und der Höhe der Ansätze nicht überzeugt ist.
Es ist dringend erforderlich, diesen ganzen Komplex einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen.Was die Rettung des deutschen Kulturgutes in ehemaligen Reichs- und Siedlungsgebieten betrifft, so muß auch einmal deutlich gesagt werden: Das Wort „Rettung" hat einen komischen Beigeschmack. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß ohne die hervorragende Arbeit polnischer Restaurateure, die zu Recht mit als die besten der Welt gelten, viele dieser historischen Baudenkmäler im heutigen Polen überhaupt nicht mehr existierten, weil sie im Hitler-Wahnsinnskrieg zerstört oder so schwer beschädigt wurden, daß sie kaum noch zu retten gewesen wären, wenn nicht Polen dafür gesorgt hätte. Auch dies muß einmal anerkannt werden.
Zu den Fragen der Ost- und Westwanderung, der Armutswanderung, hat meine Kollegin Hämmerle gestern ausführlich Stellung genommen.
— Sehr gut, jawohl, das war sehr gut. Ich beschränke mich darauf, festzustellen, daß es eben wirklich allemal besser ist, die Ursachen von Flucht- und Wanderbewegung an den Wurzeln zu bekämpfen und vor Ort die Probleme zu lösen. Deshalb unterstützen wir Sozialdemokraten sowohl die Reintegrationsprogramme als auch die Hilfen für die Wolgarepublik. Der Ansatz in Höhe von 100 Millionen DM für 1992 ist zur Hälfte qualifiziert gesperrt.
Eine Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen haben und die in Anbetracht der vielen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten, mit denen dieser strenggenommen eigentlich nicht etat- und haushaltsreife Titel ausgestattet ist, unumgänglich notwendig war. Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie auch für die nicht gesperrten 50 Millionen DM strengste Kontrolle bei der Projektplanung anordnet und dem Haushaltsausschuß, insbesondere den Berichterstattern, darüber berichtet.Denjenigen, die dieses Projekt annehmen und in die neue Wolgarepublik ziehen, wird Hilfe gewährt. Diese Hilfe muß sich auch auf die russische Bevölkerung beziehen. Es wäre nämlich fatal, wenn neue Neidkomplexe entstünden, etwa nach dem Motto: Die Deutschen helfen den Deutschstämmigen, für die Russen bleibt leider nicht viel übrig.Ebenso darf nicht vergessen werden, daß es neben der Wolgarepublik auch andere Neusiedlungsziele gibt, die ebenfalls der Förderung bedürfen. Es ist ja bekannt, daß viele Deutschstämmige auch nach Ost-
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Rudolf Purpspreußen ziehen möchten. Sofern dies geschieht, ist auch hier Hilfe zu leisten. Dies alles verbinden wir mit der Hoffnung, daß sich durch diese Hilfen der Zustrom der Aussiedler verringern könnte, weil sich für sie eine Perspektive im eigenen Land eröffnet, eine realistische Chance, um in der Heimat den Traum von einem besseren, freieren und gerechteren Leben zu verwirklichen. Dabei sind die Zusagen des russischen Präsidenten Jelzin bei seinem Besuch in der Bundesrepublik der Grundstein. Jetzt kommt es darauf an, das Haus zu bauen und wohnlich einzurichten. Ein Haus für Deutsche und Russen und keine nationale Enklave.Die Koalition im Haushaltsausschuß hat allerdings entgegen den Ankündigungen des damaligen Innenministers, Herrn Dr. Schäuble, beschlossen, die Bundesmittel für die Substanzerhaltung und Förderung der kulturellen Infrastruktur in den neuen Ländern nicht zu erhöhen. Das ist eine weitere Ohrfeige für den neuen Fraktionsvorsitzenden, den ich nun leider hier nicht mehr sehe
— entschuldigen Sie mal, seien Sie doch nicht so aufgeregt! — und der noch im September selber gesagt hat, er setze sich dafür ein, daß diese Mittel von 600 Millionen DM auf 900 Millionen DM erhöht werden. Im Haushalt 1992 ist es nicht zu dieser Erhöhung gekommen.
Die Opposition hat einen solchen Antrag gestellt, die Koalition hat ihn abgelehnt. Statt dessen wollen Sie 180 Millionen DM im Nachtrag etatisieren,
um sozusagen eine Schlußabrechnung vorzunehmen, und haben diese zur Eigenbewirtschaftung der Stiftung Kulturfonds, der Nachfolgeorganisation des ehemaligen DDR-Kulturfonds, zugewiesen.
Herr Abgeordneter Purps, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng?
Aber gern, Herr Kollege!
Herr Kollege Purps, ich muß die Zwischenfrage etwas relativieren. Ich frage Sie, ob Sie diese 180 Millionen DM aus dem Nachtrag hier unterschlagen wollen. Das haben Sie dankenswerterweise aber nicht getan. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß wir von seiten der Koalition im laufenden Jahr, noch mit Blick auf das kommende Jahr, in erheblichem Umfang, nämlich mit 180 Millionen DM zusätzlich, für diese Kulturgüter ein wichtiges Signal gesetzt haben.
Vielen Dank, Herr Kollege Weng. — Nein, Herr Kollege Gerster, ich übersehe nichts. Ich habe das — das hat der Kollege Weng ja zugegeben — erwähnt.Ich will ganz deutlich machen, daß diese 180 Millionen DM das Problem nicht lösen. Mit diesen 180 Millionen DM ziehen Sie einen Schlußstrich unter die Förderung der Kultur.
Wir wissen doch alle, daß das, wenn Sie, Herr Kollege Weng, ab 1993 keine müde Mark mehr zur Verfügung stellen, für viele Kulturinstitutionen in den neuen Ländern das Todesurteil bedeutet.
Sie können doch nicht ernsthaft glauben, daß 1993 keine Zuwendungen mehr gegeben zu werden brauchten, daß die Länder und Kommunen dies komplett übernehmen könnten, weil sie dann finanziell schon so gut ausgestattet sein werden. Was Sie sich da vorstellen, ist doch alles irreal!
Ich prophezeie Ihnen: Dieser Titel wird wieder aufgemacht werden. Ich fordere Sie, Herr Bundesminister Seiters, auf, für den Haushalt 1993 diesen Titel wieder zu öffnen und mit den nötigen Mitteln auszustatten;
denn erst 1995, wenn die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu geordnet sind, nicht eher, werden die neuen Länder in der Lage sein, diesen ihnen nach der Verfassung zustehenden Pflichten nachzukommen.
Meine Damen und Herren, zum Einzelplan 36 — Zivile Verteidigung — wird mein Kollege Graf gleich etwas sagen, so daß ich mich auf einige Bemerkungen beschränke.Ich denke, daß es in einer Zeit der allgemeinen Entspannung und des völligen Umbruchs in Osteuropa nicht vertretbar ist, für diesen Haushalt noch eine Steigerung zu beschließen. Ich habe versucht, dem Rechnung zu tragen und mit Kürzungsanträgen eine Nulldiät herbeizuführen. Die Koalition ist meinen Anträgen in den meisten Fällen nicht gefolgt,
in einigen wohl. Das ist bedauerlich; denn die hier vorhandenen Einsparpotentiale hätten Sie nutzen können, um andere, wichtigere Dinge zu machen.Ich frage mich manchmal: Was macht es in dieser Situation eigentlich noch für einen Sinn — Herr Kollege Uelhoff, wir haben ja darüber diskutiert — , für 10 Millionen DM Nahrungsmittel für Krisenzeiten einzulagern, so als ob die Entwicklung der letzten
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Rudolf Purpszwei Jahre in Europa überhaupt nicht stattgefunden hätte? Wenn man dann weiß, daß dies heißt „ 1 kg Trockenerbsen pro Haushalt" , dann muß ich Ihnen sagen: Die hat meine Frau im Schrank; dafür brauchen wir keinen Krisenvorrat.
Hier wird — damit will ich zum Schluß kommen — wie in vielen Bereichen an alten Zöpfen festgehalten. Alte Vorstellungen werden weiter gepflegt, und nur da, wo man überhaupt nicht mehr begründen kann, daß es so weitergehen soll, kommt es zu Aufgabenabbau. Zugleich wird aber überall krampfhaft nach neuen Möglichkeiten gesucht, Aufgaben umzuwidmen, um den Personalbestand, die Behörde oder das Amt zu erhalten. Ich verstehe das, aber hier muß die Politik einmal konsequent sein. Ihnen fehlt der Mut, endlich entscheidende Schritte auf diesem Gebiet zu tun. Sie trippeln auf der Stelle
und versuchen, das als Fortschritt auszugeben.Meine Damen und Herren, der kalte Krieg ist vorbei. Dies muß Konsequenzen haben, auch im Bereich der zivilen Verteidigung.Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bundesministers des Innern wie auch der Einzelplan 36 — Zivile Verteidigung — können in der vorliegenden Form nicht die Zustimmung der Sozialdemokraten erhalten. Wir lehnen beide Haushalte ab, aber stimmen dem Einzelplan 33 zu.Wir erwarten vom neuen Innenminister, daß er im nächsten Jahr Haushaltspläne vorlegt, die den Erfordernissen der Innenpolitik und der zivilen Verteidigung in einer geänderten Welt im vereinten Deutschland Rechnung tragen.
Es spricht jetzt der Abgeordnete Karl Deres.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Rudolf Purps gerade gesagt: Er hat es einfach verdient, daß er an ein paar Stellen etwas zurückbekommt. Das muß auch sein. Das werde ich im Laufe meiner Rede durch Betonung entsprechend darstellen.Die zweite und dritte Lesung des Innenhaushalts trifft mit dem Wechsel im Amt des Bundesinnenministers zusammen. Das ist ein guter Zeitpunkt, an dem wir dem scheidenden die Bilanz und den Ausblick dem neuen Minister widmen können. Im Gegensatz zu der Aufforderung der SPD, sich im kommenden Haushalt in der neuen Aufstellung für 1993 nun wirklich den Problemen der Innenpolitik zuzuwenden, möchte ich sagen, daß ich aus der Erfahrung der letzten Jahre nicht nur bei Wolfgang Schäuble, sondern auch schon beim Vorgänger Zimmermann immer feststellen konnte, daß CDU und CSU mit den Kollegenim Innenausschuß ein sehr genaues Auge auf die Innenpolitik werfen. Die Ergebnisse der letzten Jahre sprechen ja auch für unsere Arbeit.
Wolfgang Schäuble hat in gut zwei Jahren seiner Amtszeit dem Innenressort politisch und damit auch haushaltspolitisch seinen Stempel aufgedrückt. Das Volumen des BMI-Haushalts hat sich in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt. Für Haushälter ist das immer ein Warnsignal. Aber an dieser Stelle ist die intensive und kritische Prüfung ja auf eine gute Fundierung getroffen. Hier sind nämlich nicht Inflation und Obermaß die Gründe. Die erfreuliche Ursache des Wachstums des Innenhaushalts ist vielmehr die deutsche Einheit, die untrennbar auch mit dem Namen von Wolfgang Schäuble verbunden ist.
Unter seiner Leitung wurden nicht nur die Ostberliner Ministerien, die es gab, aufgelöst, sondern es wurde auch das innerdeutsche Ministerium in das BMI eingegliedert. Es wurden drei neue Bundesoberbehörden eingerichtet. Zur Bewältigung der Einreisen von Übersiedlern, Aussiedlern und Asylbewerbern hat sich ein weiterer rasanter Aufgabenzuwachs beim BMI vollzogen.In der Zusammenarbeit mit Herrn Schäuble haben wir Berichterstatter eine gute Grundlage gehabt. Wir konnten nicht immer einer Meinung sein. Das wäre auch nicht richtig. Welches Selbstverständnis haben wir eigentlich, wenn wir zur eigenen Regierung hingehen und sagen: Guten Morgen, hier ist alles, was du willst. — Wir müssen zunächst einmal sehr genau schauen, was da los ist, und kontrollieren, auf die Qualität achten.
Denn erst dann darf man Schulden machen. Man darf nicht einfach sagen, wir geben alles aus, um letzten Endes dem Schuldenmacher in der Öffentlichkeit, vor den Bürgern, Vorwürfe zu machen.
Ihnen, Herr Minister Seiters, möchte ich eine ebenso gute und konstruktive Zusammenarbeit anbieten. Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Segen für Ihr neues und schweres Amt.
Sie übernehmen die Verantwortung für ein Haushaltsvolumen von rund 8,5 Milliarden DM, 54 000 Planstellen und Stellen, davon knapp 30 000 Polizeivollzugsbeamte im Bundesgrenzschutz, die dazugehören.Rund 5 000 dieser Planstellen sind — ich komme im einzelnen darauf noch zurück — für 1992 neu bewilligt und müssen in den nächsten Wochen und Monaten möglichst besetzt werden, aber auch unter Beachtung des Faktors Qualität. Man kann da nicht einfach ein Gebilde in die Gegend setzen, bei dem am Schluß die Arbeit gegen die Täter und für die Opfer nicht
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Karl Deresvollzogen werden kann. Das Gegenteil muß in den nächsten Wochen garantiert werden.
Ich darf aber auch sehr herzlich meinen Mitberichterstattern, Frau Kollegin Ina Albowitz und dem Herrn Kollegen Purps, danken. Bei allen Differenzen, die wir haben und die ausgetragen werden müssen, war es eine gute Zusammenarbeit. Herzlichen Dank dafür, meine liebe Kollegin und mein lieber Kollege.Wir Berichterstatter haben den Innenhaushalt in den letzten Wochen in einem bislang nicht erlebten Ausmaß umgestaltet. Auf der einen Seite haben wir mehr als 150 Millionen DM einvernehmlich gestrichen; auf der anderen Seite haben wir infolge der politischen Entwicklungen mehr als 110 Millionen DM umgeschichtet. Die Wiedererrichtung einer deutschen Wolgarepublik, aber auch Förderungsmaßnahmen für die Rückkehr und Reintegration von ausländischen Flüchtlingen waren Gründe dafür. Gleichzeitig haben wir — das ist für Haushälter immer etwas ärgerlich — Mehrausgaben von rund 475 Millionen DM für den Ausbau des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie der Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes bewilligt.Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine allgemeine haushaltspolitische Bemerkung machen. Am Beispiel des Innenhaushalts 1992 wird besonders deutlich, daß die parlamentarischen Mitbestimmungs- und Kontrollbefugnisse bei Aufstellung und Durchführung der Einzelpläne kaum noch vollständig wahrzunehmen sind. Zahl, Umfang und Komplexität der BMI-Haushaltsansätze erfordern für die Berichterstattergespräche inzwischen einen kaum mehr zumutbaren Zeitaufwand. Das gilt auch für die Beratungen im Haushaltsausschuß. Alles stöhnt schon, wenn der Einzelplan 06 aufgerufen wird.Wenn dann noch dreistellige Millionenbeträge unter einer einzigen Zweckbestimmung veranschlagt werden, dann wird eine wirksame parlamentarische Kontrolle nahezu unmöglich. Als Beispiel hierfür möchte ich die 600 Millionen DM für die Erhaltung der kulturellen Substanz und Infrastruktur in den neuen Ländern nennen. Das ist ein Grund dafür, das in Zukunft nicht mehr auf der Bundesebene zu tun, sondern die Verantwortung wirklich in die Länder und vor Ort zu legen.
Die Exekutive erzielt hier einen Informations- und Handlungsvorsprung, der das Budgetrecht des Parlaments schmälert. Das ist auch durch den Bundesrechnungshof und durch die spätere Rechnungsprüfung — in Klammern: Vergangenheitsbewältigung — nicht wieder aufzuholen. Das sage ich Ihnen als Vorsitzender des Rechnungsprüfungsausschusses.Die uns zur Verfügung stehenden Mittel, etwa die qualifizierte Sperre von Teilbeträgen oder die Anforderung periodischer Berichte zum Haushaltsvollzug, können diesen Mangel nicht heilen. Sie sind der Versuch, in etwa bei der Entwicklung zu bleiben. Ich halte es daher für dringend notwendig, daß auch dieser Problematik im Rahmen einer Parlaments- und Verfassungsreform nachgegangen wird.Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme jetzt noch auf einige wichtige Punkte des Innenhaushalts zu sprechen.Erstens. Es ist sichergestellt worden, daß die Zielvorstellungen zur Beschleunigung des Asylverfahrens aus dem Parteiengespräch beim Bundeskanzler vom 10. Oktober dieses Jahres haushaltsmäßig umgesetzt werden. Das Planstellen- und Stellen-Soll des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge steigt von 1 176 in diesem Jahr — hören Sie bitte genau zu! — auf 3 599 im Jahre 1992. Es wird also mehr als verdreifacht, bleibt aber auch einfach gesperrt, und zwar einvernehmlich. Warum sind wir uns denn da einig, aber bei der Stasi-UnterlagenBehörde nicht? Ich frage das an dieser Stelle nur. — Das Bundesamt soll auf jeden Fall in die Lage versetzt werden, ca. 80 Außenstellen bei den von den Ländern geplanten Gemeinschaftsunterkünften einzurichten und die bislang von den Ländern durchgeführte ausländerrechtliche Erfassung der Asylbewerber zu übernehmen.Ich habe allerdings Zweifel daran, daß damit das Problem des zehntausendfachen Mißbrauchs unseres Asylrechts gelöst werden kann.
Ich denke, ich teile diese Zweifel nicht nur mit dem früheren, sondern auch mit dem jetzigen Innenminister.Selbst wenn künftig innerhalb von sechs Wochen 30 % oder mehr der Asylanträge abschließend und mit gerichtlicher Billigung als offensichtlich unbegründet abgewiesen werden, bleiben ganz erhebliche praktische Probleme. Qualifiziertes Personal ist kaum ausreichend zu gewinnen, jedenfalls nicht kurzfristig; denn die Beurteiler dieser Situation, die Einzelentscheider, sind aus dieser Behörde in den letzten Monaten zum Teil schon verschwunden. Allein die Zahl dieser unabhängigen Einzelentscheider müßte fast verdreifacht werden. Ich sehe auch noch nicht die von den Ländern zugesagten 500 Entscheider beim Bundesamt. Ich bin einmal gespannt, wie die Länder dieser Verpflichtung nachkommen werden.Im übrigen kann Personal erst dann gewonnen werden, wenn die Länder die rund 80 Gemeinschaftsunterkünfte für neu eingereiste Asylbewerber festgelegt haben.Also bitte auch an dieser Stelle keine Illusionen, keine allzu hohen Erwartungen! Die Praxis wird zeigen, wie sich die Dinge in diesem Rahmen entwickeln und was sie uns dann am Schluß wirklich kosten werden.Vor allem wird der außerordentliche personelle und materielle Aufwand dann keine Verbesserung bringen, wenn abgelehnte Asylbewerber von den dafür zuständigen Bundesländern nicht unverzüglich abgeschoben werden. Fälle von Abschiebungshinderungen bleiben natürlich ausgenommen. Dennoch führt kein Weg daran vorbei: Der Zustrom der Armutsflüchtlinge aus Osteuropa und der Dritten Welt kann
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5151
Karl Deresnicht hier, sondern muß bereits am Entstehungsort bekämpft werden.Wir sollten durch eine Grundgesetzänderung verhindern, daß unser Asylrecht zur Umgehung der Einreisebeschränkungen benutzt wird.
Dann könnten wir nämlich die rund 323 Millionen DM, die wir jetzt für den Ausbau des BAFl bereitstellen —
— Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Entschuldigen Sie, Herr Kollege Penner, Sie wissen das zwar schon; aber man muß ja irgendwann die Gelegenheit zu einer Zwischenbemerkung haben.
Übrigens: Diese 323 Millionen DM sind auf der Basis elf Dreizehntel der zukünftigen Personalkosten berechnet. Das heißt, es wird sicher noch eine ganze Ecke teurer.Vorerst bleibt es aber bei dem deprimierenden Ergebnis, daß Länder und Kommunen jährlich über 4,5 Milliarden DM für die Unterbringung von sowie für Verwaltungs- und Gerichtsverfahren für Menschen aufwenden, die im Sinne unseres Grundgesetzes zu über 90 % nicht politisch verfolgt sind. Um die Dimension deutlich zu machen: Diese Summe ist mehr als halb so groß wie der gesamte 92er Entwicklungshilfehaushalt mit seinen 8,2 Milliarden DM.
Erinnern Sie sich bitte an die Diskussion gestern abend über den Einzelplan 23.Zweiter Punkt. Jetzt wird es interessant. Die vor einem Jahr geschaffene Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR erhält insgesamt 3 406 Planstellen und Stellen, damit sie in Berlin und ihren 14 Außenstellen die ihr vom neuen Stasi-Unterlagen-Gesetz künftig gestellten Aufgaben erfüllen kann. Die Hälfte der über 2 400 Planstellen und Stellen haben wir qualifiziert gesperrt. Das heißt, in erster Linie stehen alle diese Stellen ab 1. Januar bereit. Jetzt ist es einfach einmal notwendig, über die Historie der Diskussion etwas zu sagen.
Es fällt mir kein Zacken aus der Berichterstatterkrone, wenn ich Ihnen sage, daß ich — —
— Ich ziehe sie selten an, höchstens auf Karneval.
Diese Situation ist derart, daß ich von Anfang an gesagt habe: Es ist dringend notwendig, dieses Personalpaket in einem Stufenplan überzubringen.
Alle übrigen waren anderer Meinung. Deswegen bricht mir auch kein Zacken aus der Krone.Jetzt will ich Ihnen einmal eines sagen: Ich bekomme aus dem Hause zuerst die Meldung, es wäre gut, wenn mein Stufenplan durchgeführt würde; denn es könnte mit all diesen Leuten auf einen Schlag schlimm werden. Dann kommt der Rechnungshof und sagt uns: nicht administrabel. Das war der Kernsatz seines Zwischenberichtes. Anschließend kommen aus der Opposition Stimmen, die besagen: Du hast ja in etwa recht, aber wir stehen unter dem Druck der Erwartungen.
Meine Damen und Herren, wenn wir dann noch all die golden Shakehands sehen, die noch hinzukommen, dann müssen wir uns, die für das Geld zuständig sind, doch einmal fragen, ob es nicht richtig ist, das Ganze zumindest in einem abgebremsten Verfahren unter Überprüfung der Entwicklung — mit der Frage verbunden, ob wir auch die aus Bundeswehr, Zoll usw. übernommen haben, die dabei sein könnten — in die Überlegungen einbeziehen.
Wo sind wir denn, wenn wir jeden Wunsch, auch wenn er aus dem Fachausschuß begründet vorgetragen wäre, nachlaufen würden, ohne zu prüfen, was das Ganze kostet und was es im Ablauf der Dinge im Grunde genommen für eine Wirkung haben wird?
— Hören Sie einmal: Ich komme aus der Schule. Ich weiß, was effektive Arbeit in der Verwaltung ist.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die Behörde des Sonderbeauftragten eine besondere Verantwortung hat und eine riesige Arbeitslast zu bewältigen hat. Ich will Ihnen auch sagen: Ehe man durch die Lande fährt und unter Tränen in der Medienlandschaft über die Frage, wieviel Leute man hat oder nicht hat, klagt, sollte man zuerst einmal die Stellen besetzen, die man schon hat, nämlich die 981, die in diesem Jahre noch nicht besetzt worden sind.
Angesichts dieser hohen Erwartungen wollten wir nicht vergessen, daß wir nur einen Auskunftsapparat einrichten, der keineswegs unfehlbar ist. Den Menschen, die unter dem Staatssicherheitsdienst vielfältig gelitten haben, wird er weder Gerechtigkeit noch Wiedergutmachung verschaffen können. Der innere Friede, den jener unmenschliche Überwachungsapparat über Jahrzehnte hinweg zerstört hat, läßt sich
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5152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Karl Deresnicht allein mit den Mitteln der Bürokratie wiederherstellen.So richtig die Aussage des Liedermachers Wolf Biermann ist, daß man den explodierten Stasi-Aktenberg nicht wie den Tschernobyl-Reaktor einbetonieren könne, so richtig ist es andererseits — das möchte ich in allem Ernst sagen — , daß von den Stasi-Tätern Schuldbekenntnisse nicht erzwungen und von ihren Opfern Vergebung nicht eingeklagt werden kann. Wir sollten uns daher davor hüten, aus der Behörde des Beauftragten eine moralische Instanz zu machen und deren Auskünfte als sittliche Werturteile zu verstehen.Wir sind uns in der Frage der Einrichtung der Wolgarepublik einig. Wir haben zugestimmt, daß in diesem Jahr noch geholfen wird. Lieber Rudolf Purps, wir erwarten nicht einen Neideffekt aus unserer Hilfe, sondern eher die Erkenntnis der russischen Bevölkerung, daß unsere Hilfe für die Menschen in der Wolgarepublik und die Deutschen, die sich dort ansiedeln werden, ein Signal der Hoffnung ist, auch für eine bessere Zukunft der gesamten russischen Bevölkerung.
Herr Abgeordneter Deres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rudi Walther?
Eine Zwischenfrage des großen Vorsitzenden wird immer gestattet.
Herr Kollege Deres, könnten Sie sich vorstellen, daß angesichts der großen Verdienste des Staatssekretärs Waffenschmidt um die Wolgarepublik selbiger zum ersten Präsidenten dieser Republik gewählt werden könnte?
Herr Kollege Walther, ich möchte, daß der Herr Waffenschmidt in unserer Region bleibt.
Was die kulturelle Substanzerhaltung und Infrastruktur in den neuen Ländern angeht, werden nach den 900 Millionen DM aus diesem Jahr 1992 weitere 600 Millionen DM — das sind noch 100 Millionen DM mehr, als in der Finanzplanung stand — vorgesehen. Dazu kommen 50 Millionen DM aus dem Innenhaushalt für den Denkmalschutz. Damit werden die Wünsche aus den neuen Ländern, die auf eine Fortschreibung der 900 Millionen DM aus diesem Jahr erzielten, nicht voll erfüllt; das geben wir ohne weiteres zu.
Wir haben aber auch eine Begründung dafür: Ich halte die Reduzierung für 1992 und den gänzlichen Fortfall in 1993 für sachgerecht; denn diese Bundeshilfe muß im Zusammenhang mit der vom Grundgesetz gewollten grundsätzlich ausschließlichen Zuständigkeit der Länder und Kommunen für kulturelle Angelegenheiten gesehen werden. Die Bundeshilfe hat
1991 in den fünf neuen Ländern zwischen 40 und 70 % der Länderausgaben auf kulturellem Gebiet betragen. Ein solcher Zustand würde bei längerer Dauer ein wesentliches Element unserer föderalen Ordnung aushöhlen.
Die 900 Millionen DM in 1991 haben den neuen Ländern und Kommunen die notwendige Bedenkzeit verschafft, um sich darüber klarzuwerden, welche Theater, Museen, Orchester usf. an welchen Orten und in welchem Umfang fortgeführt werden sollen.
Es war jetzt Zeit, Schwerpunkte zu setzen und die Strukturen zu bereinigen. Ich sage mit besonderer Betonung: Die Rückführung der Bundeshilfe in 1992 für Länder und Kommunen — ihre Eigenverantwortung vor Augen — fördert Prioritäten und verhindert, daß diejenigen prämiert werden, die aus dem alten Trott staatlich gelenkter Kultur nicht herausfinden wollen.
Im übrigen haben wir — wie eben schon erwähnt und diskutiert — im Nachtragshaushalt noch einmal 180 Millionen DM über die Stiftung der Länder nachgeschoben. Sie werden zur Selbstbewirtschaftung zugeführt, und es kann aus Erträgnissen dieser Mittel entsprechend geholfen werden.
Auch bei der Förderung der Schlösser und Gärten haben wir 50 % gesperrt. — Es ist ja nicht so, als wenn wir so etwas nur an einer Stelle tun. — Wir haben das gemacht, um den Ländern Berlin und Brandenburg vor Augen zu führen, daß sie in einer gemeinsamen Stiftung — vielleicht ähnlich der Stiftung Preußischer Kulturbesitz — die Dinge entwickeln können. Dann könnte man sich auch auf Bundesebene in angemessenem Rahmen beteiligen.
Ich gehe auf die Rundfunkanstalten nicht mehr ein.
Meine Damen und Herren, bei der ersten Lesung dieses Haushalts habe ich gesagt: Geld und Stellen allein lösen noch keine Probleme. Wir müssen mit Bedauern feststellen, daß wir trotzdem mehr Geld und mehr Stellen brauchten. Aber wir hoffen, daß diese Stellen im Laufe der kommenden Jahre infolge von Normalisierungen auf ein Normalmaß zurückgeführt werden können. Denn sonst können wir unsere Vorgaben, den Bundeshaushalt nur in einem bescheidenen Umfang auszudehnen, die Steigerungsrate bei 2,9 %, wie jetzt erreicht, zu belassen und seine Steigerungen in den nächsten Jahren sogar vielleicht noch etwas zu reduzieren, nicht verwirklichen.
Ich bitte Sie alle, beim Sparen mitzuhelfen. Sparen ist nicht nur ein Verzicht auf Konsum, sondern bedeutet auch, darauf zu achten, daß mit den gegebenen Mitteln effektiv und produktiv gearbeitet wird.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Abgeordneten Ina Albowitz das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5153
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für mich persönlich ist der Einzelplan 06 der wichtigste des Haushaltes. Ich will auch gern begründen, warum. Denn diese Wertung bedeutet keineswegs eine Zweitrangigkeit der anderen Einzelpläne. Aber in keinem anderen Haushalt und in keinem anderen Zuständigkeitsbereich des Bundes spiegelt sich das seit dem 3. Oktober 1990 geeinte Deutschland in seiner Vielfalt und in seiner Problematik so deutlich wider wie in diesem Etat.
Manchmal habe ich mir in den letzten Tagen vorzustellen versucht, wie sich die jetzt so jung geeinte Bundesrepublik in 10 oder 20 Jahren innerlich gestaltet haben wird. Diskutieren wir dann immer noch über die Probleme der Kultur, des Sports und des BGS, über die Neuordnung der Rundfunkanstalten und über die Bewältigung der unsäglichen Stasi-Vergangenheit in den neuen Bundesländern, um nur einige Bereiche zu nennen? Ich hoffe nein. Sicher werden dann andere Probleme im Mittelpunkt einer Haushaltsdebatte stehen. Heute müssen wir uns aber um die jetzt aktuellen kümmern.Ein Problem ist die Situation asylsuchender Menschen und der Ausländer in unserem Land. Ich will an dieser Stelle keinen Debattenbeitrag in der Sache leisten, weil dies in den letzten Tagen schon mehrfach geschehen ist. Doch fühle ich mich veranlaßt — ich bedauere jetzt ausdrücklich, daß Dr. Schäuble nicht anwesend ist; ich kritisiere das nicht — , nachdem gestern der neugewählte Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Dr. Wolfgang Schäuble im Zusammenhang mit der Frage der Ausländerfreundlichkeit der Bundesrepublik von Verantwortungsethik gesprochen hat, einmal nachzufragen, wie es denn mit der Verantwortungsethik der Sprache bei Politikern aussieht.
Wenn Sie, Herr Dr. Schäuble, darlegen, daß wir unsere Anstrengungen verstärken müssen, um die Wanderungsbewegungen in Osteuropa und in der Dritten Welt zu bekämpfen und das mit dem Satz verbinden — ich zitiere aus dem Protokoll der gestrigen Debatte —Das werden wir besser schaffen, wenn wir uns nicht mehr sosehr mit 200 000 Asylbewerbern in zehn Monaten in unserem Land politisch und finanziell herumschlagen müssen,ist dies für mich ein böser Satz.
Denn mit diesem Satz werden Sie selber dem hohen Anspruch, den Sie an Verantwortungsethik stellen, nicht gerecht.
Mit diesem Satz, Herr Dr. Schäuble, können Sie leicht von denjenigen zum Kronzeugen gemacht werden, die einfachen Lösungen das Wort reden.
— Nein, Herr Gerster. Herr Dr. Schäuble hat gestern von Verantwortungsethik gesprochen. Bitte lesen Sie das im Protokoll nach.
— Nein, ich verwechsle das nicht. Ich will Ihnen das gerne nachher noch einmal alleine erläutern.Im Allparteiengespräch beim Bundeskanzler am 10. Oktober und auf der nachfolgenden Konferenz der Innen- und Justizminister von Bund und Ländern sind in der Frage, wie Asylverfahren in der Bundesrepublik beschleunigt werden können, gravierende personelle und finanzielle Veränderungen zu Lasten des Bundes vereinbart worden. Durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sollen 80 Außenstellen, verteilt auf alle Bundesländer, eingerichtet werden. Die Länder haben sich verpflichtet, 500 Entscheider abzuordnen. Das Bundesamt selbst muß damit korrespondierend um 2 423 Mitarbeiter und rund 600 Zeitkräfte aufgestockt werden.Daß diese Stellen und damit auch die Sachtitel zur Zeit noch gesperrt sind, ergibt sich aus der Logik der Vereinbarung zwischen Bund und Ländern. Die Länder müssen jetzt nämlich die Liegenschaften und die Entscheider zur Verfügung stellen. Wenn von dort die Vollzugssignale kommen, wird es bestimmt nicht an uns liegen, umgehend die Sperre aufzuheben.
Ich appelliere von dieser Stelle aus nachdrücklich an alle Verantwortlichen in Bund und Ländern, keine populistische Politik zu Lasten der betroffenen Menschen zu betreiben.
Wir sind alle miteinander stark in unserer Glaubwürdigkeit gefordert, auch gegenüber der deutschen Bevölkerung.Mit einer weiteren drastischen Personalaufstokkung mußten wir uns während der Berichterstattergespräche befassen. Auf Grund des vom Deutschen Bundestag in diesem Monat beschlossenen Stasi-Unterlagen-Gesetzes beantragte der Sonderbeauftragte für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit eine Personalaufstockung um 2 651 Stellen. Hinzu kommen noch 221 Mitarbeiter mit Zeitarbeitsverträgen.Der Bundesrechnungshof hat dagegen erhebliche Bedenken geltend gemacht. Ich weiß, daß der Beschluß der Koalition, die Hälfte dieser Stellen zu sperren, einige Irritationen hervorgerufen hat. Deshalb will ich noch einmal unsere Gründe darlegen.
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Ilona AlbowitzErstens. Wenn der Bundesrechnungshof dem Parlament seine erheblichen Bedenken mitteilt, haben wir sie ernst zu nehmen, und zwar nicht nur dann, wenn es uns jeweils ins Geschäft paßt, sondern unabhängig von der politischen Stimmungslage an der Sache orientiert.Zweitens. Mit der namentlichen Abstimmung zum Haushaltsgesetz morgen mittag werden wir gleichzeitig unsere Zustimmung zu einer Aufstockung des Personalhaushaltes um 14 114 Stellen geben. 4 425 Stellen entfallen auf 1992, so daß tatsächlich 9 689 Stellen neu in den Bundeshaushalt eingestellt werden. Daß angesichts dieser Zahl jede einzelne Neuanmeldung zum Personalhaushalt kritisch hinterfragt wird, versteht sich doch wohl von selbst.Drittens. Bei der Behörde des Sonderbeauftragten kommt noch eine Besonderheit hinzu. Dieses Amt ist erst in diesem Jahr neu eingerichtet worden und daher noch im Aufbau begriffen. Von den für 1991 genehmigten 978 Stellen waren bis in die jüngsten Tage hinein erst 600 besetzt. Innerhalb weniger Monate eine Bundesbehörde von 0 auf 3 600 Stellen in ihrer inneren Struktur effizient aufzubauen ist eine nicht zu lösende adminstrative Aufgabe.
Deshalb haben wir den Rechnungshof sehr ernst genommen, gleichzeitig aber auch die Anforderungen von Herrn Gauck gewürdigt, um damit auch den Ansprüchen, die sich aus dem Gesetz ergeben, schnell nachzukommen. Die Sperre läßt genug Raum für den sorgfältigen Aufbau der Behörde. Wir haben dem Sonderbeauftragten ebenfalls signalisiert, daß er jederzeit kurzfristig mit weiteren Freigaben rechnen kann, wenn die Besetzungssituation es erforderlich macht. Die Sachtitel können in vollem Umfang in Anspruch genommen werden.Die Koalitionsfraktionen erwarten von der Bundesregierung, daß der Entschließungsantrag zur Versetzung von freiwerdendem Personal, z. B. bei Bundeswehr und Zoll, den dieses Haus vor wenigen Tagen beschlossen hat, zum Aufbau der Behörde Gauck und beim Bundesamt in Zirndorf genutzt wird.
Eventuell bestehende rechtliche Hindernisse müssen geprüft und gegebenenfalls kurzfristig beseitigt werden. Darauf will ich noch einmal deutlich hinweisen.Meine Damen und Herren, noch einen Satz zu der im Augenblick offensichtlich schwierigen Gewinnung von Angestellten und Beamten für den öffentlichen Dienst und der auch diskutierten Ballungsraumzulage. Der Bundesinnenminister ist bei den Tarifverhandlungen für Bund und Länder Verhandlungsführer. Deshalb erlaube ich mir, Herr Seiters, an dieser Stelle auch einige persönliche Bemerkungen.Über 12 000 qualifizierte Beamtinnen und Beamte sind inzwischen in den neuen Bundesländern tätig. Sie werden dort gebraucht.
— Vielen Dank, Herr Gerster. — Sie fehlen uns aberauch hier; daran besteht gar kein Zweifel. Gleichzeitig wird im Bund-Länder-Arbeitskreis — und nicht nur dort — über eine Finanzzulage in Ballungsräumen laut nachgedacht. In den neuen Bundesländern aber suchen Tausende hochmotivierter Frauen und Männer einen vernünftigen Arbeitsplatz.
Sollten wir nicht einmal unsere Strategie zur Qualifizierung und Gewinnung von Personal in Bund und Ländern überdenken? Auch hier hat sich durch die Einheit Deutschlands einiges verändert. Neue Wege müssen gegangen werden.
Verändert hat sich auch die Situation im Leistungssport in Deutschland. Wir haben in diesem Haus in den letzten Monaten bereits öfter darüber diskutiert. Die von uns schon mehrfach angeforderte Sportkonzeption fehlt immer noch. Offensichtlich geht der Deutsche Sportbund davon aus, daß wir das alles nicht so ernst meinen. Wir meinen es ernst, meine Damen und Herren. Das wird sich spätestens am Haushalt 1993 zeigen.
Ein besonders übles Kapitel ist die Doping-Affäre. Der Kollege Purps ist auch schon darauf eingegangen. Ich bin dem Sportausschuß außerordentlich dankbar für sein Engagement in dieser Sache. Wir erwarten, daß der deutsche Sport ein sauberer Sport ist. Ich persönlich möchte lieber auf Medaillen verzichten, als die Gesundheit von Menschen ruiniert zu sehen.
Deshalb hat der Haushaltsausschuß nicht alle Mittel zur Sportförderung der Fachverbände freigegeben. Wir erwarten von allen Verbänden umgehend eindeutige Erklärungen und keine Lippenbekenntnisse.Bei der Neuordnung der Rundfunkanstalten haben wir die Konzeption eines der Deutschen Welle zugeordneten Auslandssatellitenfernsehens gebilligt. RIAS-TV wird komplett von der Deutschen Welle übernommen. Mit dem Auslandsprogramm, das im nächsten Jahr auf Sendung geht, können zwei Drittel der Weltbevölkerung erreicht werden. In Zukunft ist allerdings bei der Ausweitung des Sendebereichs ein strenger Maßstab anzulegen, nämlich dahin gehend, ob sich die hohen Satellitenkosten auch wirklich bezahlt machen.
Dies ist 1993 — ich habe das bei den Beratungen angekündigt — noch einmal zu überprüfen. Wir müssen nicht den Ehrgeiz haben, in jedem kleinsten Winkel der Erde präsent zu sein. Das Verhältnis von Kosten und Nutzen muß auch hier stimmen.
Bei den noch ausstehenden Entscheidungen zur Rundfunkneuordnung sollten sich auch die Ministerpräsidenten, die jetzt über die Zukunft von Deutsch-
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Ina AlbowitzLandfunk, RIAS-Hörfunk und des Deutschlandsenders Kultur entscheiden, welche alle in die Zuständigkeit der Länder übergehen, von der Maxime der Sparsamkeit leiten lassen. Die Zuordnung des dann neugebildeten Deutschlandsenders zu ARD und ZDF, die derzeit von den Bundesländern favorisiert wird, muß nach meiner Ansicht noch einmal überdacht werden.Nach Ansicht meiner Fraktion wäre es sinnvoller, eine neue unabhängige Rundfunkanstalt zu bilden. Diese ist eher in der Lage, eigenes Profil und Selbständigkeit zu gewinnen und somit flexibler zu arbeiten als unter der Kontrolle der Mediengiganten.
Diese Lösung dürfte auch kostengünstiger sein.Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch eine Bemerkung zum Finanzgebaren der Bundesländer machen. Obwohl Länder und Kommunen der alten Bundesrepublik in diesem Jahr nur 3 % der finanziellen Gesamtlasten für die Einheit und im nächsten Jahr nur 2 % tragen, steigen die Etats in diesen Bundesländern mehr als doppelt so stark wie im Bund, nämlich genau um 6,7 %. Diese mangelnde finanzielle Solidarität kritisiert der Bund der Steuerzahler mit der drastischen Bemerkung, daß sich die Altländer aus ihrer Mitverantwortung gestohlen haben.
Daß sich die Länder mit SPD-Alleinregierungen in dieser Beziehung besonders negativ hervortun, ist keine Überraschung.
Das beweist uns nur wieder einmal, was wir derzeit von der finanziellen Solidarität der SPD zu erwarten haben.
— Ganz ruhig.Daß die neuen Länder mit der Übernahme der gesetzlich verankerten Kulturhoheit und der damit verbundenen Finanzierung derzeit noch große Probleme haben, verwundert bei der Vielschichtigkeit nicht. 1991 stellt der Bund 900 Millionen DM für das Programm „Substanzerhaltung Kultur" zur Verfügung. Im Jahre 1992 sind im Etat dafür 600 Millionen DM veranschlagt.Auf dringende Bitte der Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer, die uns überzeugend dargelegt haben, daß sie mit diesen 600 Millionen DM nicht auskommen, haben wir im Nachtragshaushalt 1991, den wir ja morgen verabschieden, weitere 180 Millionen DM für die Stiftung Kulturfonds bereitgestellt. Diese Mittel können dann von der Stiftung im Jahre 1992 bewirtschaftet werden.Der Titel insgesamt — das ist richtig — ist von uns für den Haushalt 1993 „kw" gestellt worden. Das Verfassungsgericht gibt uns mit Blick auf die Länderhoheit ja auch keine andere Möglichkeit. Wenn die Bun-desregierung die Situation im Herbst kommenden Jahres anders beurteilt, bleibt es ihr unbenommen, uns einen neuen Vorschlag zu unterbreiten.
Vor wenigen Tagen besuchte der Präsident der Russischen Republik, Boris Jelzin, die Bundesrepublik. Ein wichtiges Thema des Besuchs war die Zukunft der RußlandDeutschen und die Gründung einer autonomen Republik an der Wolga. Wir haben dafür bereits haushaltsmäßige Vorkehrungen getroffen, um im Jahr 1992 die wichtigsten Investitionen in diesem Gebiet mit 100 Millionen DM finanziell zu unterstützen. Daß von diesem Betrag die Hälfte gesperrt ist, weil die weitere Entwicklung aufmerksam begleitet werden muß, haben die Kollegen übereinstimmend vorgetragen. Wir hoffen, daß wir den Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, mit unserem Engagement eine Perspektive bieten können.Ich will auch deutlich festhalten, daß wir mit dieser Politik gleichzeitig die Situation der dort lebenden russischen Bevölkerung verbessern möchten.Bereits seit Beginn der Öffnung in den osteuropäischen Staaten werden in den Gebieten, in denen Deutschstämmige leben, Hilfsprojekte durchgeführt, die die Menschen zum Verbleiben bewegen sollen. Ich danke an dieser Stelle nicht nur allen Organisationen, sondern ich möchte ausdrücklich auch dem Staatssekretär Horst Waffenschmidt und seinen Mitarbeitern Dank aussprechen, die in der Sache außerordentlich engagiert sind.
Engagiert hat sich hier u. a. auch der Bund der Vertriebenen, der manchmal auch durch unüberlegte Äußerungen seiner Mitglieder auffällt,
bis hin zu öffentlich geäußerten Morddrohungen gegenüber dem Bundesaußenminister. Ich erwarte, daß sich die Führungsspitze des Bundes der Vertriebenen in Zukunft schneller und eindeutiger von solchen Äußerungen distanziert und nicht erst nach Aufforderung.
— Das ist nicht wahr; das sollten Sie nachlesen. — Ansonsten wird die Arbeit vieler Verbandsmitglieder, die sich ernsthaft für die Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn einsetzen, schwer belastet.Meine Damen und Herren, die Veränderungen in Europa haben auch eine Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes notwendig gemacht. Auf Grund des Wegfalls der Aufgaben an der innerdeutschen Grenze werden erhebliche Umstrukturierungen notwendig. Recht sonderbar erscheint es mir jedoch, wenn der BGS-Standort Hünfeld in Hessen, der nach den beiden von einer Arbeitsgruppe des BMI erstellten Modellen nicht nur erhalten bleiben, sondern sogar aufgestockt werden sollte, jetzt nun doch geschlossen werden soll. Statt dessen bleibt der Standort im be-
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Ina Albowitznachharten Fulda, der nach beiden Konzepten aufgelöst werden sollte, offensichtlich erhalten.Ich fordere den Innenminister auf, die Gründe darzulegen, warum er sich in so auffälliger Weise über die Empfehlung der Expertenkommission hinwegsetzt. Es wird hoffentlich, Herr Bundesinnenminister, dafür triftigere Gründe geben, als den, daß der Ehrenvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Dregger, dessen Wahlkreis rein zufällig Fulda ist, ein Abschiedsgeschenk erhält.
— Meine Damen und Herren, das Problem ist wirklich zu ernst. — Wenn Herr Dr. Dregger hier seinen politischen Einfluß nutzt, um eine sachgerechte Entscheidung zu kippen, darf man sich über die zunehmende Politikverdrossenheit der Bürger nicht wundern.
Wundern muß ich mich nur, daß der für seinen Pragmatismus bekannte ehemalige Innenminister in dieser Angelegenheit so nachgiebig war.
Herr Bundesinnenminister Seiters, ich erwarte von Ihnen als Chef des Hauses eine umgehende Klarstellung in der Sache; denn die uns vorliegenden Konzepte sehen anders aus. Ich glaube nicht, daß wir es zulassen sollten, die Kleinstadt Hünfeld wegen eines politischen Versprechens in eine schwere Strukturkrise zu stürzen.
Im Bereich der zivilen Verteidigung ist die Ausweitung der Organisation des Technischen Hilfswerks auf die neuen Bundesländer in vollem Gange. Dabei wird der veränderten Sicherheitslage in Europa Rechnung getragen.Das Konzept der Bundesregierung zur Neustrukturierung der Zivilen Verteidigung bzw. des Bundesverbandes für den Selbstschutz wird im kommenden Jahr verabschiedet. Die von der Rückführung des Bundesverbandes für den Selbstschutz betroffenen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter müssen bald wissen, ob sie von anderen Zivilschutzorganisationen übernommen werden können. Wir sollten das in diesem Hause nachdrücklich unterstützen.Meine Damen und Herren, danken möchte ich an dieser Stelle allen Mitarbeitern des BMI in Bonn, den Außenstellen und den nachgeordneten Behörden. Sie haben ein schwieriges Jahr bewältigen müssen. Auch das kommende Jahr wird nicht leicht. Das Parlament weiß Ihre Arbeit zu würdigen und baut auch in Zukunft auf Sie.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident.
Die FDP-Fraktion erteilt den Einzelplänen des Innenministeriums, der Zivilen Verteidigung und der Versorgung die Zustimmung.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 06 ist ein herausragendes Beispiel dafür, daß sich die Bundesrepublik daranmacht, Europa und speziell Osteuropa nach ihren Vorstellungen umzugestalten.
Ende Oktober zitierte der damalige Innenminister Schäuble die zuständigen Minister aus 28 europäischen Ländern in das Reichstagsgebäude nach Berlin. Offiziell sollten gemeinsame Vorstellungen entwikkelt werden, wie die Ost-West-Migration in den Griff zu bekommen sei. Praktisch ging es darum, den anderen deutsche Ansprüche zu verklickern. Bisherige nationale Gesetze sollten den deutschen Ansprüchen angepaßt werden.Nach dem Berliner Treffen fragte sich der sowjetische Innenminister, ob er auf einer Veranstaltung von Politikern oder von Polizisten gewesen sei. Herr Schäuble unterstrich nicht ohne Stolz, mit den Rumänen habe die Anpassung ihrer Gesetze intensiv besprochen werden müssen.Es ist also keineswegs so, daß die Bundesregierung gezwungen ist, Maßnahmen im Bereich des Asylrechts oder der inneren Sicherheit auf Grund europäischen Drucks auszuführen. Genau andersherum wird ein Schuh daraus. Diese deutschen Vorgaben für Europa schlagen sich in diesem Haushalt deutlich nieder.Der Bundesgrenzschutz beispielsweise wird mit fast 2 Milliarden DM bedacht. Der Löwenanteil des Haushaltstitels „Innere Sicherheit" geht damit an eine Organisation, die ursprünglich ihre Legitimation ausschließlich aus der Existenz der DDR und des Ostblocks gezogen hat.
Vor wenigen Tagen verabschiedete dieser Bundestag gegen alle verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundesrates und Teilen der SPD ohne Debatte ein Bundesgrenzschutzgesetz, mit dem die Umwandlung der Grenzschutztruppe in eine paramilitärische Bundespolizei abgeschlossen wird. Diese Truppe wird umorganisiert und erhält neue Aufgaben bei Schutz und Kontrolle von Flughäfen und Bahnhöfen. Eine Hauptaufgabe des neuen BGS neben dem Schutz der Ostgrenzen vor angeblichen Flüchtlingsströmen besteht dann darin, die in Europa hin und her geschobenen Flüchtlinge datenmäßig zu erfassen, sie zu kontrollieren, abzuschieben und möglichst auch die letzten Schlupflöcher dichtzumachen.
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Ulla JelpkeIch wiederhole es: 2 Milliarden DM für eine Truppe, die die europäische Asylpolitik im Inneren absichern soll. Zu dieser Umsetzung angeblich europäischer Verpflichtungen müssen noch die Finanzierung der Europäischen Rauschgiftzentrale und die Zuarbeit zu dem sogenannten Schengener Informationssystem hinzugerechnet werden. Auch dieses Datennetz dient ausschließlich der europäischen Erfassung und Kontrolle von Flüchtlingen und Asylbewerberinnen. „Datennetz" hört sich ganz billig an, ist es aber nicht.Das Bundeskriminalamt — Steigerung im Haushaltsansatz fast 36 Millionen DM — richtet ein neues automatisches Fingerabdrucksystem ein. Alleine für dieses System müssen über 13 Millionen DM in diesem Haushalt lockergemacht werden. Insgesamt betragen die Beschaffungskosten des Systems 78 Millionen DM. Das erste Teilsystem zur Bearbeitung der Fingerabdruckblätter soll für Asylantragstellerinnen installiert werden.Fast 48 Millionen DM sind für die Datenverarbeitung beim Bundeskriminalamt insgesamt angesetzt, ein Großteil für sogenannte präventive Aufgaben. Mit diesen präventiven Aufgaben wurden in den letzten Jahren gebetsmühlenartig die Befugniserweiterungen und Haushaltserhöhungen für die Polizei begründet. Wenn es heute allerdings etwas gibt, was die Sicherheit eines großen Teils von Bürgerinnen bedroht, dann sind es neofaschistische und rassistische Angriffe auf ausländische Mitbürgerinnen. Exakt in dieser Frage erklärt sich das Bundeskriminalamt selbst für hilf- und ratlos. Es hat sich als völlig unbrauchbares Werkzeug in der Situation erwiesen, in der Leib und Leben von ausländischen Mitbürger Innen tatsächlich massenhaft bedroht waren.Ausbau des Verfassungsschutzes, Ausbau des Bundeskriminalamtes, Um- und Ausbau des Bundesgrenzschutzes und Erweiterungen der Bereitschaftspolizeien, kurz: Vorrang der polizeilichen inneren Sicherheit vor Sicherung der sozialen und ökonomischen Stabilität und Sicherheit für die Menschen hier. So lassen sich die Eckpfeiler dieses Einzelplans beschreiben. Aussonderung und Ausgrenzung der Ausländerinnen werden hier festgeschrieben. Die Möglichkeiten ihrer Sonderbehandlung werden in diesem Haushalt finanziell abgesichert.Abgesichert und auf ein völlig neues Niveau gehoben werden aber auch die Interessen der Deutschen— wie schon von meinen Vorrednern angekündigt — im Ausland, vor allem natürlich in den ehemaligen Ostblockländern. Ganz aktuell ließ der Innenausschuß in den Haushaltsentwurf einen Titel einfügen— ich zitiere — „Leistungen im Zusammenhang mit dem Aufbau der Republik der Deutschen an der Wolga". Und dafür gibt es 100 Millionen DM. Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Weder die dort lebenden Menschen noch die in der Sowjetunion lebenden Bürger deutscher Abstammung wissen, ob und wie diese Wolga-Republik konstruiert werden kann oder soll.Über 90 Millionen DM gibt es darüber hinaus zur Unterstützung von Deutschen in Aussiedlungsgebieten. Hinzu kommen noch die im Sommer letzten Jahres beschlossenen Sonderausgaben von 200 Millionen DM zur Unterstützung aller — ich zitiere — „Initiativen in den Aussiedlungsgebieten, die die Autonomie-und Selbstverwaltungsmöglichkeiten der deutschen Minderheiten stärken".Meine Damen und Herren, angenommen, die hier lebenden Immigranten würden auch nur annähernd so weitgehende Forderungen 'tack Selbstbestimmung und Minderheitenrechten stellen, wie dies die Deutschen in aller Welt mit Unterstützung der Bundesregierung tun: Wie müßte dieser Haushalt dann aussehen? Wo sind die Haushaltstitel für türkisch-, kurdischsprachige Radio- und Fernsehstationen, über die die Betreffenden selbst verfügen können? Wo sind die Gelder für Einrichtungen, in denen die Immigranten und Flüchtlinge ihre Traditionen bewahren, leben und entwickeln können?Nur zur Erinnerung: Ihnen werden in der Bundesrepublik immer noch nicht elementarste Bürgerrechte zugestanden. Vergebens sucht mensch in diesem Haushalt deutliche Signale dafür, daß innenpolitisch abgerüstet wird zugunsten der Konzentration auf soziale Probleme, beispielsweise für die menschenwürdige Unterbringung der Asylbewerberinnen und Flüchtlinge. Im Freistaat Bayern z. B. wird vom Sozialministerium von einer Familie mit zwei Kindern eine Gebühr von 702 DM für ein 15 m2-Zimmer verlangt — dazu noch in einer ehemaligen Kaserne, in der weitere 500 Asylbewerberinnen untergebracht sind.Ein deutliches Signal setzt der Haushalt dagegen beim Problem der Reintegration noch hier lebender AusländerInnen. Vom Haushaltsausschuß wurde der ursprüngliche Ansatz von 5 Millionen DM auf 14 Millionen DM erhöht. Diese Reintegrationsprogramme sind Bestandteil der Umsetzung der Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung vom September 1990. Dabei handelt es sich im wesentlichen um eine vornehmere Variante der Ausländer-raus-Politik.Das nordrhein-westfälische Roma-Reintegrationsprogramm wird von den Betroffenen als erpreßte Wahl zwischen der Pest der notdürftig finanzierten Rückkehr und der Cholera der Ausweisung bezeichnet.Meine Damen und Herren, die besonderen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern in sozialer und ökonomischer Hinsicht werden zum Vorwand genommen, um soziale, politische und kulturelle Rechte in der ganzen Bundesrepublik abzubauen und einzuschränken.Auch die kleinliche Abrechnung mit der ehemaligen DDR ist noch lange nicht vorbei. Sie wird als Druckmittel auch weiterhin eine Rolle spielen: durch politische Überprüfungen in Ost und West, durch Kürzungen und Aberkennungen von Renten- und Eigentumsansprüchen, durch Verweigerung der sozialen und politischen Gleichberechtigung einzelner sowie der Parteien in Ost und West.
Das kleinliche Hin- und Hergeschiebe eines Antrages der PDS auf Förderung einer parteieigenen Stiftung zwischen Haushaltsausschuß und Innenministerium ist ein winziges, aber bezeichnendes Beispiel für die Politik der Aberkennung.
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5158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Ulla JelpkeStatt auf die Situation in Europa mit radikaler Abrüstung der Instrumente der inneren Sicherheit zu reagieren, wird die Situation in den neuen Bundesländern zum Anlaß genommen, neue Feindbilder, neue Bedrohungsanalysen aus dem Ärmel zu zaubern. Der Entwurf liefert die innenpolitische Basis für die Großmachtansprüche der Bundesrepublik in Richtung West- und Osteuropa. Deswegen geben wir diesem Haushalt nicht unsere Zustimmung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zu zwei Anträgen der Gruppe Bündnis 90 Stellung zu nehmen und Ihnen noch eine zusätzliche Bemerkung, die hierhergehört, vorzutragen.Ich beginne mit dem Antrag auf Drucksache 12/1668 und bitte Sie dringend um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag.Meine Damen und Herren, im deutschen Vereinigungsprozeß sind wir in große Schwierigkeiten geraten, weil wir uns gegen Rechtszerstörung in der Demokratie nicht energisch genug abgegrenzt haben. Hätten wir hier eine klarere Richtung eingeschlagen, hätte nicht das eintreten können, was jetzt eingetreten ist: daß die Frage der Verfassung im Einigungsprozeß als letzte behandelt wird; wir werden ja heute nachmittag darüber zu reden haben. Das darf uns in Europa nicht noch einmal passieren.Darum bitte ich Sie, es sehr ernst zu nehmen, wenn wir vorschlagen, im Einzelplan 06 die Titelgruppe 03 zu streichen, weil hier unserer Meinung nach eine gefährliche Präjudizierung auf die sich erst in ganz unklaren Umrissen abzeichnende europäische Verfassung vorgenommen würde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es politisch positiv ist, daß ausgerechnet eine deutsche Zentralstelle, die sich mit Kriminalität zu befassen hat, hier eine Vorreiterrolle spielen soll. Das hielte ich nun für ein ganz falsches politisches Signal.Jetzt komme ich zu meiner zweiten Bemerkung, die sich auf einen anderen Fall mangelnder Entschiedenheit bei der Abwehr von Rechtsbruch und Rechtszerstörung bezieht. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die — vom Bundesminister der Justiz auch angesprochene — Nichtregelung der Eigentumsfragen in der alten DDR mittlerweile ein Thema von innenpolitischer Brisanz geworden ist. Es ist jetzt nicht der Ort, hier die rechtlichen Voraussetzungen und Einzelheiten vorzutragen. Aber ich denke, es bedarf keiner weiteren Erklärungen, daß die gesetzlichen Regelungen der Anlage IX zum Staatsvertrag, die Gemeinsame Erklärung der Regierungen, Anlage III zum Einigungsvertrag, und die Folgegesetze nicht das gebracht haben, was sie leisten sollten.Der erste Schritt auf sichereren Boden ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr dieses Jahres. Warum, meine Damen und Herren? Weil dieses Urteil zum erstenmal etwas vorgegeben hat, was es für die alte DDR bis jetzt noch nicht gibt, nämlich eine Kriegsfolgelastenregelung. Ohne eine solche werden wir keine Klarheit in die Eigentumsfragen bekommen, sondern werden weiter mit so unsinnigen Stichtagen wie dem 18. Oktober 1989 — Ablösung Honeckers, die mit Eigentumsrecht überhaupt nichts zu tun hat — leben müssen, statt mit echten Stichtagen, nämlich dem Kriegsende und dem Ende der DDR, beginnend mit dem 9. November 1989 und endend mit dem 3. Oktober 1990, zu operieren.Meine dritte Bemerkung gilt der Drucksache 12/1669. Es handelt sich um einen Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90 zum Einzelplan 06 betreffend den Sonderbeauftragten für Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes.Wir ziehen diesen Antrag zurück.
Das hat mit den Argumenten zu tun, die Frau Kollegin Albowitz hier vorgetragen hat
und die in meinen Augen wirklich plausibel sind.Aber noch viel wichtiger ist für mich, was der Sonderbeauftragte Gauck selbst im Unterausschuß gestern vorgetragen hat. Er hat nämlich seine Lage so geschildert, daß er im Augenblick nicht einmal die vorhandenen Stellen besetzen kann. Ich kann es mir politisch schlecht vorstellen, im Bundestag einen Antrag einzubringen, der in Widerspruch zu den klaren Aussagen des Sonderbeauftragten selbst steht. Darum ziehen wir diesen Antrag zurück. Er basierte einfach auf einem ungenügenden Informationsstand, freilich auch auf einer Berichterstattung — das muß man nun in der Öffentlichkeit einmal sagen — , die darauf hinauslief, daß die vom Sonderbeauftragten beantragten 2 651 Stellen gestrichen seien. Es muß ganz klar festgestellt werden: Der Sonderbeauftragte braucht diese Stellen.
In dem Moment, wo der Fall eintreten sollte, daß er diese Stellen nicht bekommt, werden wir als Opposition selbstverständlich auf dem Plan sein; aber bei dem augenblicklichen Stand der Angelegenheit muß ich sagen, ich hätte als Haushälter auch Hemmungen, auf einen Ritt 2 650 Stellen zu genehmigen; das ist haushaltstechnisch wirklich sehr schwierig.Ich sage aber noch einmal ausdrücklich: Der Sonderbeauftragte braucht diese Stellen, und es wird von unserer Seite keine Zustimmung geben, wenn etwa der Versuch gemacht werden sollte, von einer qualifizierten zu einer restriktiven Sperrung überzugehen. Das ist nicht mit unserer Zustimmung zu haben; denn, meine Damen und Herren, noch immer geht es darum, daß wir meiner Meinung nach noch nicht entschieden genug mit der Nichtaufklärung des Unrechts gebrochen haben. Das Unrecht ist noch nicht bereinigt; aber es wäre eine ganz schlechte Politik in unserem Lande, hier Anträge zu stellen, die in Widerspruch zu den
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Dr. Wolfgang UllmannAussagen des Sonderbeauftragten selbst stehen. — Danke.
Zu einer Kurzintervention Frau Abgeordnete Albowitz.
Herr Kollege Ullmann, ich erlebe jetzt etwas, was ich in diesem einen Jahr, seit ich im Deutschen Bundestag bin, noch nicht erlebt habe: daß man Abgeordnete wirklich durch Argumente, die hier im Parlament vorgetragen worden sind, so überzeugen kann, daß sie einen Antrag zurückziehen.
Ich finde, das ist ein erfreulicher Vorgang. Ich möchte mich bei Ihnen und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE ausdrücklich herzlich bedanken. — Vielen Dank.
Theoretisch, Herr Ullmann, können sie noch erwidern.
Ich glaube, Herr Vorsitzender, was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Uelhoff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich wollte dem Kollegen Ullmann für seine Redlichkeit danken. Aber damit er nicht übermütig wird, möchte ich es bei dieser Bemerkung belassen.
Herzlichen Dank dafür, daß Sie aus einer Diskussion ganz konkrete Konsequenzen ziehen.Kollegin Albowitz, Sie wissen, ich schätze Sie sehr als Kollegin und Mitstreiterin für den Einzelplan 06 und 36. In einem Punkt allerdings möchte ich Ihnen doch widersprechen. Ich halte es nicht für legitim, einem Kollegen — in diesem Falle dem früheren Bundesinnenminister — aus dem in freier Rede gesprochenen Wort „herumschlagen" hier in der Weise einen Vorwurf zu machen, wie Sie es getan haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die geringe Zeit, die mir zur Verfügung steht, möchte ich benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, das aber doch zu dem großen Geschäftsbereich des Bundesinnenministers gehört. Esgeht um einen Teil, der in der Öffentlichkeit nicht mit dem notwendigen Bewußtsein wahrgenommen wird: um den zivilen Bevölkerungsschutz, um den Schutz vor Katastrophen in Friedenszeiten, im Grunde um Situationen, die wir uns gar nicht vorstellen können, weil wir glauben, nur hinten in der Türkei, aber nicht bei uns könnten ein industrieller Unfall oder eine Naturkatastrophe noch auftreten.Ich möchte in drei Punkten ein wenig zu diesem Einzelplan 36 sagen, der sicher zu den kleineren gehört und dem Steuerzahler nur fast 1 Milliarde DM — aber immerhin 1 Milliarde DM — wert ist.Herr Bundesminister Seiters, Sie haben von Ihrem Vorgänger ein Konzept für den Zivilschutz übernommen, über das zu diskutieren sein wird. Meine Bitte ist, daß wir über dieses Konzept sehr bald in eine Diskussion insbesondere im zuständigen Fachausschuß, im Innenausschuß, kommen, damit wir bei der nächsten Haushaltsberatung die konkreten haushälterischen Konsequenzen ziehen können.Das bedeutet ganz konkret, daß wir etwa beim Bundesverband für Selbstschutz wissen müssen und wissen wollen, wie es dort weitergeht. Der Bundesverband für Selbstschutz hat nicht die Akzeptanz, die er nach seiner eigentlichen Aufgabenstellung haben müßte. Er hat die Öffentlichkeit über die Notwendigkeit zu informieren, sich bewußt zu sein, daß es auch im Haushalt, im Beruf, im Zivilleben Katastrophen geben kann. Ein Erfolg des BVS in dieser Hinsicht ist nicht erkennbar.Deshalb müßte die Konsequenz gezogen werden, daß die notwendige Aufgabe beibehalten, aber dafür vielleicht eine andere Organisationsform gewählt wird. Jedenfalls sollten wir darüber in den nächsten Monaten im Gespräch bleiben.Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen, den ich auch vor dem Hintergrund für ganz wichtig halte, daß die beiden Teile unseres Landes zusammenwachsen und vergleichbare Situationen auch in den fünf neuen Bundesländern eintreten. Dabei geht es um den Aufbau eines funktionsfähigen erweiterten Katastrophenschutzes in den neuen Bundesländern. Für den erweiterten Katastrophenschutz sollen 1991 bis zu 80 Einheiten eingerichtet werden. Für 1992 sind im Etat 85 Millionen DM für die Aufstellung von weiteren Brandschutzzügen mit 240 Fahrzeugen und von 80 Betreuungszügen bereitgestellt. Den Ländern und den Kommunen steht die vom Bund im Rahmen des Zivilschutzes beschaffte Ausrüstung für den friedensmäßigen Katastrophenschutz und die Gefahrenabwehr bei Naturkatastrophen und industriellen Großunfällen unentgeltlich zur Verfügung. Etwa ein Drittel der so beschafften Bundesausstattung entfällt auf den Brandschutz und damit im wesentlichen auf die Freiwillige Feuerwehr, der Rest auf die Sanitätsorganisationen, wie etwa das Deutsche Rote Kreuz und auf das Technische Hilfswerk. Dies gilt auch für sechs von der Bundeswehr im Zuge der Abrüstung nicht mehr benötigte Hubschrauber, die nach ihrem Umbau in fünf Luftrettungsstationen eingesetzt werden sollen.Ein ganz erfreuliches Zeichen in den neuen Bundesländern ist, daß sich die freiwilligen Helfer in großer
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5160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Klaus-Dieter UelhoffZahl für den Aufbau des erweiterten Katastrophenschutzes zur Verfügung stellen.Beim Technischen Hilfswerk sind die Mittel für Inlandseinsätze verstärkt und ist ein Ansatz für Auslandseinsätze geschaffen worden. Die vorbildlichen Leistungen der Helfer des Technischen Hilfswerks und der anderen Katastrophenschutzorganisationen, insbesondere des Deutschen Roten Kreuzes, im Inland und Ausland sind bekannt. Ein Großteil der Hilfen für Osteuropa, Armenien oder die kurdischen Flüchtlinge im Irak wäre ohne die Unterstützung der anderen Hilfsorganisationen durch das Technische Hilfswerk kaum in dieser Form möglich gewesen.
Wir wollen deshalb die Planungen und Erkundungsmissionen des THW im Einzelplan 36 absichern, die eigentlichen humanitären Hilfsaktionen aber nach wie vor aus dem Etat des Auswärtigen Amtes finanzieren.Ich möchte an dieser Stelle allen Hilfsorganisationen, ihren höchst sachkundigen hauptamtlichen und den vielen, vielen tausend ehrenamtlichen Mitarbeitern für ihre erfolgreiche Arbeit für den Zivilschutz in unserem Land und im Ausland ein herzliches Dankeschön sagen.
Der BVS soll sich — ich habe dazu bereits einiges gesagt — künftig im wesentlichen auf planerische Maßnahmen beschränken. Seine ehrenamtlichen Helfer, immerhin fast 2 000 an der Zahl, sollten für andere Aufgaben des Selbst- und des Zivilschutzes gewonnen werden. Das hauptamtliche Personal, immerhin fast 800 Personen, sollte unter Berücksichtigung der sozialen Belange drastisch reduziert werden. Ich unterstelle, daß im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums sehr großer Personalbedarf besteht. Bei gutem Willen auf beiden Seiten muß niemand den Verlust seines Arbeitsplatzes befürchten.Meine sehr verehrten Damen und Herren, zivile Verteidigung und Zivilschutz haben keine Konjunktur, gerade weil wir alle viel zu schnell geneigt sind, die beklemmenden Bilder aus den israelischen Schutzräumen während des Golfkrieges oder jetzt etwa aus Kroation zu verdrängen. Gerade weil dies so ist, möchte ich für meine Fraktion ein uneingeschränktes Bekenntnis zu dieser Staatsaufgabe ablegen.
Auch wenn wir gegenwärtig z. B. beim Schutzraumbau im wesentlichen nur noch die aus den Vorjahren eingegangenen Verpflichtungen erfüllen, bleibe ich davon überzeugt: Eine glaubwürdige Zivilverteidigung kommt auch ohne einen baulichen Mindestschutz in der Zukunft nicht aus. Die Beispiele der Schweiz und Schwedens, die seit Jahrzehnten von Kriegen verschont blieben, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.Wir sollten uns über die Bedeutung des Zivilschutzes in Friedenszeiten ein stärkeres Bewußtsein bilden und hierzu auch in unserer Öffentlichkeit ein stärkeres Bewußtsein herausfordern; denn es geht um Vorsorge und Schutz vor Katastrophen eben nicht nur in dem unwahrscheinlich gewordenen Verteidigungsfall, sondern im täglichen Leben — zu Hause und im Beruf, bei Naturkatastrophen und bei großen Unfällen.Das vom Bundesinnenminister vorgelegte Konzept sollte unverzüglich diskutiert werden und Grundlage des nächsten Haushaltsplanes sein.Ich möchte ausdrücklich dem bisherigen Bundesinnenminister Schäuble für sein Engagement im zivilen Bevölkerungsschutz danken und Ihnen, Herr Bundesminister Seiters, unsere Kooperation anbieten, wenn es darum geht, das Konzept des Zivilschutzes, das Ihr Haus vorgelegt hat, auf den Weg zu bringen. Ein herzliches Glückauf für Ihre Arbeit!
Herr Abgeordneter Günter Graf, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sicherlich ist der Haushaltsplan des Bundesministers des Innern nicht das Herzstück des Haushaltsgesetzes 1992. Aber ich denke, bei genauer Betrachtung wird auch hier sehr deutlich, daß die Bundesregierung den tatsächlichen Ansprüchen und Herausforderungen der Gegenwart insbesondere vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Einigung nicht gerecht wird.Lassen Sie mich in meinem kurzen Beitrag nur auf zwei Aspekte der Innenpolitik eingehen: zum einen auf den Aspekt der inneren Sicherheit und zum zweiten auf den hier schon mehrfach angesprochenen Aspekt des Zivil- und Katastrophenschutzes.Ich denke, wir stimmen überein, wenn ich feststelle, daß es nicht allein Aufgabe der Polizeien und Sicherheitsorgane von Bund und Ländern sein kann, die innere Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes — ich betone: für alle Bürgerinnen und Bürger — jederzeit zu gewährleisten. Erst wenn die sozialen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen in diesem Land geschaffen worden sind, wenn die Bürgerinnen und Bürger — insbesondere in den neuen Bundesländern — erleben, daß sie im Arbeits- und im Privatleben eine positive Perspektive haben, können Polizei- und Sicherheitsorgane ihren Beitrag wirkungsvoller als bisher leisten.Die Kriminalität — nicht nur in den neuen Ländern — steigt in dramatischer Weise an. Parallel dazu nimmt die Zahl der aufgeklärten Fälle in beängstigender Weise ab. Bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes stellt sich ein Gefühl von der Ohnmacht der Sicherheitsorgane ein.Auch die zunehmende Gewaltbereitschaft, insbesondere vor dem Hintergrund einer erschreckend zunehmenden Ausländerfeindlichkeit, kennzeichnet das Bild der inneren Sicherheit in diesem Lande. Ich bitte hier mit allem Nachdruck noch einmal darum und fordere dazu auf: Lassen wir die unsägliche Diskussion um die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes! Das, was wir damit erreichen, ist nichts anderes,
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Günter Grafals daß wir Ausländerfeindlichkeit schüren und den Rechtsextremisten den Nährboden schaffen.
Die Tatsache, daß sich in vielen Städten und Gemeinden so etwas wie Bürgerwehren gebildet haben, muß jeder verantwortliche Politiker und jede verantwortliche Politikerin mit gemischten Gefühlen aufnehmen.
Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht sein, daß man Laien zumutet, Aufgaben zu übernehmen, die der Polizei zukommen.
Es stellt sich für mich die Frage, warum sich der bis vor wenigen Tagen amtierende Bundesinnenminister Dr. Schäuble geweigert hat, den fast 30 000 Mann starken Bundesgrenzschutz in Absprache mit den Ländern — ich betone ganz deutlich: in Absprache mit den Ländern — für derartige Aufgaben mitzuverwenden. Wenn die Aussage von Herrn Dr. Schäuble, die er in der 42. Ausgabe des „Spiegel" gemacht hat, zutrifft, wonach der unmittelbare Schutz von Asylbewerbern als einzeldienstliche Tagesaufgabe von Ortskräften der Landespolizei effektiver und wirtschaftlicher wahrgenommen werden kann, dann hat er damit deutlich bewiesen, daß er die Situation völlig falsch einschätzt.
Durch diese Haltung leistet er möglicherweise einer ganz gefährlichen Tendenz in diesem Lande Vorschub, nämlich der, daß unter Deutschen sowie unter Ausländern ein wachsender Trend zur Selbstjustiz und zur Selbstbewaffnung festzustellen ist. Dies hat nun fürwahr mit der Gewährung innerer Sicherheit, wie ich meine, nichts zu tun.Diese Tatsache wird nach meinem Dafürhalten aber auch dadurch unterstrichen, daß seit Jahren ein wahrer Boom bei der Zunahme privater Sicherheitsdienste festzustellen ist. Knapp 200 000 Beschäftigten in den Sicherheitsunternehmen steht in diesem Lande ein Personalbestand von Polizeibeamten von 250 000 gegenüber. Ich denke, daß diese Zahlen sehr deutlich zeigen, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist.Hier sei nur am Rande angemerkt — und das hat etwas mit dem Haushalt zu tun — , daß sich der Umsatz der Wach- und Sicherheitsdienste in diesem Lande von 1986 bis heute fast verdoppelt hat. In diesem Jahr rechnen die Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von 3 Milliarden DM. Dem steht ein Etat des Bundesministeriums des Innern für die Sicherheitsorgane von 2,7 Milliarden DM gegenüber.
Diese Zahlen sprechen, wie ich meine, eine sehr deutliche Sprache.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt kurz eingehen. Wiederholt wurde die Bundesregierung, und nicht nur seitens der SPD-Bundestagsfraktion, darauf hingewiesen, daß die Berliner Polizei weder personell noch organisatorisch in der Lage ist, sämtliche Verfahren der sogenannten Regierungs- und Vereinigungskriminalität zu bearbeiten.
Die Überlastung der Berliner Polizei hat inzwischen zur Stillegung von etwa 25 Großverfahren mit einem Schadensumfang von ungefähr 460 Millionen DM geführt. 46 weitere Verfahren mit einem Schadensumfang von etwa 283 Millionen DM wurden ohne Anklage ganz und gar eingestellt. Wegen der fehlenden Ermittlungskapazität drohen ein nicht zu vertretender Beweismittelverlust, die Verjährung vieler Straftaten sowie schwere Vermögensausfälle zum Nachteil des Bundes und einzelner Geschädigter.Sicherlich wäre der Bundesfinanzminister dankbar dafür, wenn er einige 100 Millionen DM mehr in die Kasse bekommen würde, die durch kriminelle Machenschaften dem Bund entzogen werden. Jedoch weigert sich der Bundesinnenminister bisher beharrlich — vielleicht ändert sich das jetzt bei Ihnen, Herr Kollege Seiters —, bei der Verfolgung der Regierungs- und Vereinigungskriminalität das Bundeskriminalamt einzuschalten und dafür die notwendigen Mittel bereitzustellen.
Sofern die Berliner Polizei nicht schnellstens durch Fachleute des Bundeskriminalamtes oder z. B. durch Beamte der Zollsteuerfahndung entlastet wird, droht der Bundesrepublik Deutschland die Gefahr des Verlustes von Milliarden von D-Mark. Welch schlimme Auswirkungen die Untätigkeit des Bundesinnenministeriums auf das Rechtsempfinden der Menschen insbesondere in den neuen Bundesländern hat, kann überhaupt nicht abgesehen werden.
— Kolleginnen und Kollegen, regen Sie sich doch bitte nicht auf. Hören Sie einmal bis zum Ende zu! Dann können wir darüber diskutieren.Sicher lohnt es sich auch, einmal darüber nachzudenken, ob nicht die freigewordenen Kräfte der verkleinerten Dienste in diesem Lande geeignet wären, diese Aufgabe zu unterstützen, denn ihre Kenntnisse über die alten Seilschaften könnten hier vielleicht sehr hilfreich sein.Vor diesem Hintergrund mahnen wir Sozialdemokraten an, daß die Fortschreibung des „Programms für innere Sicherheit" aus dem Jahre 1974 dringender denn je geworden ist. Die Fortschreibung dieses Programms und seiner Ergänzung um ein Sofortprogramm „Innere Sicherheit für die neuen Bundesländer" ist angesichts der Lage der inneren Sicherheit in den neuen Ländern dringender denn je geboten.Insoweit wäre die Bundesregierung bestens beraten, die neuen Bundesländer personell wie auch mate-
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Günter Grafriell beim Ausbau ihrer Sicherheitsbehörden nach Absprache mit den Ländern zu unterstützen.
Die in den Jäger 90 fehlinvestierten Milliarden wären hier sicherlich zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sinnvoller und besser angelegt.
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch auf einen weiteren Komplex der Innenpolitik eingehen, der den Bundesgrenzschutz betrifft. Der Wegfall der EG-Binnengrenzen und der deutsch-deutschen Grenze macht sicherlich eine Novellierung des Bundesgrenzschutzgesetzes notwendig. Mit der Übertragung der Aufgaben der Luftverkehrssicherheit und der Bahnpolizei ist ein von uns Sozialdemokraten seit Jahren verfolgtes Anliegen in einem ersten Schritt erfüllt.Wenn man sich mit der Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes befaßt, können Standortfragen zwangsläufig nicht ausgeklammert werden. Hierbei ist kritisch zu bemerken — ich schließe an das an, was die Frau Kollegin Albowitz hier gesagt hat —, daß die vom ehemaligen Innenminister Dr. Schäuble getroffene Standortentscheidung am Parlament vorbei gefällt worden ist.
Wir hatten keine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen.
Die Beratung im Innenausschuß in der letzten Sitzungswoche war nach meinem Dafürhalten eine reine Schauveranstaltung. Alles war festgeklopft.
— Herr Gerster, Sie waren vorher informiert und haben sich an dieser Schauveranstaltung auch noch beteiligt. Das ist verwerflich.
Noch eines, Herr Gerster — die Kollegin Albowitz hat dies ja sehr deutlich gesagt — : Man muß sich natürlich fragen: Warum wurde, obwohl die Expertengruppen eindeutig in beiden Konzepten für den Standort Hünfeld und nicht für Fulda gestimmt haben, ganz kurzfristig eine anderweitige Entscheidung getroffen, nämlich Hünfeld zu streichen und Fulda zu lassen?
Da gilt, denke ich, was hier heute morgen bereits gesagt wurde: Dies war nichts weiter als ein Geschenk an den jetzigen Ehrenfraktionsvorsitzenden Dr. Dregger, der ja aus Fulda kommt.
Nicht weniger kritisch, Kolleginnen und Kollegen, ist auch die Auflösung des Grenzschutzkommandos Nord in Hannover zu beurteilen, zumal diese Entscheidung im klaren Widerspruch zu der Polizeidienstvorschrift 100 steht. Die acht niedersächsischen Grenzschutzabteilungen werden den vier Regionalbehörden — Ost in Berlin, Nord in Bad Bramstedt, West in Bonn und Mitte in Kassel — zugeordnet. Wie dies aus polizeitaktischer Sicht und unter dem Gesichtspunkt polizeilicher Führungsgrundsätze zu begründen ist, ist mir unbegreiflich.
Durch derartige Fehlentscheidungen werden Sicherheitsdefizite nicht abgebaut, sondern noch verstärkt.
— Ich würde ja gern noch mehr dazu sagen, aber hier blinkt es schon,
und deswegen muß ich jetzt zum Ende kommen.Auch aus haushaltsrechtlicher Sicht — wir sprechen ja über den Bundeshaushalt — ist die Auflösung eines mit hervorragender Infrastruktur versehenen Standorts Hannover nicht zu begreifen, zumal die neu zu errichtende Regionalbehörde Mitte in Kassel möglicherweise mit Millionenaufwand ausgebaut werden muß.
Herr Kollege Graf, Sie sind schon ein gutes Stück über die Zeit!
Jawohl, schönen Dank, ich komme zum Ende. — Kolleginnen und Kollegen, ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß der Bundesinnenminister über diese Entscheidung noch einmal sehr ernsthaft nachdenkt und sie revidiert.
Es ist lohnend, dies noch einmal sehr genau zu überprüfen. Wir sollten auch im Innenausschuß — dann aber ohne eine vorabgestimmte Meinung — darüber erneut nachdenken.
Herr Kollege Graf, bitte!
Ich kann leider nichts mehr zum Komplex Katastrophen- und Zivilschutz sagen.
Unsere Meinung dazu ist schon angeklungen. — Ich bedanke mich.
— Herr Gerster, ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir imInnenausschuß wirklich einmal intensiver und nicht
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Günter Grafimmer nur so oberflächlich reden würden. — Vielen Dank.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Geschäftsführer legen ziemlich exakt fest, wie sie ihre Redezeit verteilen wollen. Es ist das Amt des Präsidenten, zu sagen: Jetzt ist Schluß! Wenn ich sage „Sie sind schon ein Stück über Ihre Redezeit." , dann sollte nicht noch eine Minute drangehängt werden. — Ich versuche, das bei allen unparteiisch zu tun. Helfen Sie bitte dem Präsidenten dabei ein bißchen!
Das Wort hat der Kollege Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Ich habe mich nach den dankenswerten Ausführungen der Kollegin Albowitz nur noch zu Wort gemeldet, um für die Innenpolitiker einige Bemerkungen zum Wechsel in der Führung des Hauses zu machen.
Wir Innenpolitiker der FDP sind dem bisherigen Bundesinnenminister Schäuble zu Dank verpflichtet. Er hat bei ganz unterschiedlichen politischen Ausgangspositionen die Zusammenarbeit mit uns gesucht. Wir haben eine vernünftige und menschlich erfreuliche Zusammenarbeit gefunden und in vielen Problemen gemeinsame Lösungen erzielt:
im Ausländerrecht, in der Novellierung des Datenschutzes, beim Recht der Nachrichtendienste, zuletzt beim Stasi-Unterlagen-Gesetz.
Wir möchten dem bisherigen Innenminister für seine Arbeit insbesondere in diesen Bereichen danken,
und wir sind sicher, daß wir diese gute Zusammenarbeit auch mit dem neuen Innenminister Seiters fortsetzen werden, der uns seit vielen Jahren als Kollege bekannt ist und dem wir für seine schwierige Aufgabe Erfolg und eine glückliche Hand wünschen.
Es würde mich reizen, noch zu einigen Sachfragen, insbesondere zu asyl- und einwanderungsrechtlichen Regelungen, die miteinander zusammenhängen, Stellung zu nehmen. Eine rationale Beurteilung der Einwanderung in die Bundesrepublik, die ja tatsächlich erfolgt, ist kaum möglich, ohne daß wir uns Klarheit über die Bedeutung dieser Einwanderung für unsere wirtschaftliche Lage, für unsere Sozialsysteme und für das Verhältnis zu unseren Nachbarn verschaffen. Es ist nicht korrekt, wenn wir diese Überlegungen auf Asylbewerber begrenzen und wenn wir Zuwanderungen in die Bundesrepublik zwar tatsächlich wollen müssen, sie aber aus politischen Gründen nur über das Asylrecht verwirklichen.
Das andere große Thema ist Europa und die innere Sicherheit. Wir beklagen schon für den nationalen Bereich, daß das gemeinsame Sicherheitsprogramm
— das hat der Kollege Graf gesagt — des Bundes und der Länder aus den 70er Jahren stammt und bis heute zwar partiell, aber niemals umfassend fortgeschrieben worden ist, bezogen auf Polizeistärken, Aufgabenteilung, Polizeirecht, die Organisation, die Laufbahnregelungen, die Datenverarbeitungsprogramme usw.
Dieses Defizit wird größer. Die Zusammenarbeit der Polizeien der europäischen Länder wird nicht dadurch erleichtert, daß keine gemeinsame europäische parlamentarische Kontrolle dafür in Sicht ist. Das sage ich, obwohl das Schreckensgemälde, das Frau Jelpke hier gemalt hat, mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Man muß ja einmal darauf hinweisen, daß das Schengener Abkommen Datenschutzregelungen, gerade im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit, enthält, die weit über das europäische Datenstatut hinausgehen — weit darüber hinausgehen! —, und daß wir dort eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen haben, daß dieser Datenaustausch nur dann stattfindet, wenn die Länder die europäischen Staaten, ihre Datenschutzvorkehrungen dem Standard des Schengener Abkommens anpassen.
Aber trotzdem: Beim europäischen Polizeirecht brauchen wir in einer Demokratie eine parlamentarische Kontrolle, die nicht in Sicht ist. Es fehlt heute die Gelegenheit, das im einzelnen auszuführen. Wir werden das nachholen müssen.
Herr Minister Seiters, Sie haben ein schweres Amt übernommen. Wir werden Sie unterstützen und wünschen Ihnen eine glückliche Hand und eine Zusammenarbeit über die Grenzen der Koalition hinaus.
Ich erteile das Wort dem neuen Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir im Rahmen dieser Debatte einige kurze Bemerkungen, nachdem ich vor zwei Tagen das Amt des Bundesinnenministers in einer Zeit des Aufbaus, der Umorientierung und des Neuanfangs für viele in diesem Lande übernommen habe.Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs, der mit dem Fall der Grenze durch Deutschland auch die Spaltung unseres Kontinents überwinden konnte. Die Bundesrepublik Deutschland liegt nicht mehr am Rande des freien Westens, sondern im Herzen eines in Freiheit zusammenwachsenden Europas.Diese Wende zu Freiheit und Freizügigkeit stellt auch die Innenpolitik in eine neue Verantwortung und uns alle miteinander, ob wir im Westen oder im Osten des größer gewordenen Deutschlands leben, vor neue Herausforderungen.Es ist das politische Verdienst Wolfgang Schäubles, dem politischen Umbruch in Deutschland mit dem Einigungsvertrag das rechtliche Fundament verschafft zu haben, das die wiedergewonnene staatliche Einheit in der Werteordnung unserer freiheitlichen Gesellschaft verankerte. Diese Ordnung beruht auf unserem Grundgesetz, das sich im Rahmen des Eini-
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Bundesminister Rudolf Seitersgungsprozesses wie auch seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland insgesamt voll bewährt hat.
Sicher gibt es heute einen, wie ich meine, begrenzten Bedarf zur Überprüfung, Änderung und Ergänzung unserer Verfassungsnormen angesichts der Herstellung der deutschen Einheit, tiefgreifender Veränderungen der weltpolitischen Lage und der jetzigen Stellung Deutschlands in der Welt. Darüber werden wir im Verfassungsausschuß zügig, gründlich und auch konstruktiv miteinander beraten.Aber ich füge — aus meiner Sicht — hinzu: Angesichts der Tatsache, daß es sich bei unserem Grundgesetz ja wohl unstreitig um die beste und freiheitlichste Verfassung handelt, die es jemals in Deutschland gab,
kann eine Totalrevision, ein Umbau oder eine Verschiebung der wesentlichen Strukturelemente dieser Verfassung nicht in Frage kommen.
Ich möchte, daß sich die Politik des wiedervereinigten Deutschland auch künftig an dem Menschenbild unseres Grundgesetzes und an den Grundwerten und ethischen Normen dieser bewährten Verfassung ausrichtet.Meine Damen und Herren, die staatliche Einheit Deutschlands haben wir erreicht, die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands wird uns noch über einen längeren Zeitraum beschäftigen. Ich sage dies auch als bisheriger Chef des Kanzleramtes, der jetzt seine 16. Arbeitsbesprechung mit den Chefs der Staatskanzleien der neuen Länder durchgeführt hat, der praktisch jede Woche im Kabinettsausschuß oder in der dafür zuständigen Staatssekretärsrunde mit dem Prozeß des Zusammenwachsens befaßt war. Ich kenne sehr wohl die noch vorhandenen ökonomischen Probleme. Aber ich weiß, daß 40 Jahre schmerzlicher Teilung auch in den Köpfen der Menschen tiefe Spuren hinterlassen haben. Deswegen müssen wir ankämpfen gegen Ungeduld auf der einen Seite und mangelndes Verständnis oder gar Überheblichkeit auf der anderen Seite.Ich plädiere jedenfalls für ein ganz hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Die Einheit muß nach meiner festen Überzeugung als gemeinsamer Lern- und Erneuerungsprozeß von beiden Seiten akzeptiert werden, wenn sie erfolgreich vollendet werden soll. Dazu bedarf es insbesondere der Solidarität derer, die das Glück hatten, die langen Jahre der Teilung nicht auf der Seite der Unterdrückung, der Bevormundung und der wirtschaftlichen Not erdulden zu müssen. Ich kann nicht erkennen, daß wir in Sachen Solidarität unsere Mitbürger in den alten Bundesländern bisher überfordert hätten.
Wir werden unsere Anstrengungen für den Aufbau der neuen Bundesländer konsequent fortsetzen. Das gilt auch für die gemeinsamen Bemühungen von Bund, Ländern und Kommunen zur raschen Schaffung einer leistungsfähigen rechtstaatlichen öffentlichen Verwaltung im Rahmen einer Verwaltungshilfe durch Bedienstete — bei mir steht die Zahl von 15 000; vielleicht können wir uns darauf verständigen — des öffentlichen Dienstes aus Bund, Ländern und Gemeinden, die Dienst in den neuen Ländern tun. Ich denke, ich sollte hinzufügen, daß diese Bediensteten mit ihrem Engagement die immer wieder auflebenden Pauschalangriffe gegen unseren öffentlichen Dienst ebenso nachhaltig widerlegen wie diejenigen Mitarbeiter in den abordnenden Dienststellen, die wegen der Tätigkeit ihrer Kollegen im Osten jedenfalls hier und da Mehrleistungen erbringen müssen.Gerade die jetzige Phase zeigt die besondere Verantwortung des öffentlichen Dienstes für die Verwirklichung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats im vereinten Deutschland. Ich sage jedenfalls allen, die an dieser Aufbauleistung mitwirken, meinen besonderen Dank.
Ich füge in einem Satz hinzu — vielleicht können wir uns auch darauf verständigen — : Angesichts von Diskussionen über die Frage, wie weit staatliche Tätigkeit reicht oder reichen soll — durchaus berechtigten Diskussionen — , darf es jedenfalls an dem Grundsatz keinen Zweifel geben, daß der öffentliche Dienst, den wir natürlich zeit- und anforderungsgemäß fortentwickeln müssen, für den Bestand und die Zukunft von Staat und Gesellschaft unentbehrlich ist und daß das Berufsbeamtentum mit seinen verfassungsmäßigen Aufgaben auch künftig für uns unverzichtbar bleibt.
Noch ein Wort zur inneren Einheit. — Ich unterstreiche die Bedeutung des Themas Kultur, das von verschiedenen Seiten hier angesprochen wurde. Ich denke, daß in den 40 Jahren der Teilung Deutschlands die Kultur eine verbindende Klammer der fortbestehenden Einheit der Nation geblieben ist. Daraus resultiert eine gemeinsame besondere Verantwortung. Mit dem bereits wenige Wochen nach der Vereinigung beschlossenen umfangreichen Programm zur Erhaltung der kulturellen Substanz und zur Sicherung der kulturellen Infrastruktur, das wir auch 1992 fortsetzen, hat sich die Bundesregierung zu dieser Verpflichtung bekannt. Ich weiß, es ist im parteipolitischen Streit, ob die Mittel, die wir hier zur Verfügung stellen, ausreichen.Ich glaube aber, Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß auch in den neuen Ländern durchaus anerkannt wird — ich selbst habe viele Gespräche darüber geführt — : Das Ziel ist 1991 erreicht worden. Die kulturelle Substanz hat in dieser Übergangsphase keine wesentlichen Einbußen hinnehmen müssen, und das sollten wir würdigen. Dies ist ein gemeinsamer Erfolg des Bundes und der neuen Länder einschließlich ihrer Kommunen, die trotz der bekannten Finanzprobleme rund 2,5 Milliarden DM für die Kultur bereitgestellt haben.
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Bundesminister Rudolf SeitersDer Einigungsvertrag verpflichtet uns auch für 1992. Über die Zahlen ist hier bereits gesprochen worden. Ich unterstreiche die Notwendigkeit — ich habe mich auch dafür eingesetzt — , daß wir die Mittel jedenfalls in dieser Größenordnung noch einmal in den Haushalt hineinbekommen.Ich möchte besonders die Leistungen für die Denkmalpflege hervorheben, die nahezu verdoppelt werden. Unsere besondere Sorge gilt der Erhaltung der historischen Bausubstanz im Beitrittsgebiet. Der Bund ist zur Mithilfe bereit. Aber, meine Damen und Herren — auch das muß ich jetzt korrekterweise hinzufügen —, der Bund geht dabei an die Grenze des verfassungsmäßig Möglichen. Das muß hier gesagt werden, damit keine falschen Vorstellungen für die Zukunft entwickelt werden.Kultur ist auch ein wichtiges Thema für deutsche Minderheiten in Osteuropa, nicht nur zur Bewahrung ihrer Identität, sondern auch zur Verständigung mit unseren Nachbarvölkern. Den deutschen Minderheiten in ihrer angestammten Heimat gesicherte Zukunftsperspektiven zu eröffnen zählt zu den vorrangigen Zielen der Aussiedlerpolitik der Bundesregierung. Von besonderer Bedeutung ist dabei die vertraglich vereinbarte und rechtlich gesicherte Möglichkeit zur unbehelligten Pflege von Sprache, Kultur und Tradition. Die Bundesregierung wird ihre Maßnahmen und Hilfen hierzu weiterhin verstärken.Es ist bereits die ermutigende Entwicklung für die deutsche Minderheit in der UdSSR gewürdigt worden. Wir freuen uns über diese Entwicklung. Sie betrifft besonders die Wiederherstellung einer autonomen staatlichen Ordnung für die Deutschen an der Wolga, die die 2 Millionen als Identifikationsschwerpunkt für ihre kulturelle und wirtschaftliche Zukunft in der UdSSR sehen.Meine Damen und Herren, wenn sich die vorgesehenen Hilfen voll auswirken und sich die politische Entwicklung in den Aussiedlungsgebieten stabilisiert, dann kann man hoffen, daß die Frage des Aussiedlerzustroms für die Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren vielleicht doch an Bedeutung verliert. Ich will nur sagen: Die Beruhigung ist 1991 eingetreten. Nur rund 50 % im Vergleich zu 1990 sind zu uns gekommen. Wenn aber gesagt wird, das hänge aber an den andauernden Verfahren, so will ich doch einmal eine zusätzliche Zahl nennen. 230 000 Deutsche in der UdSSR haben Aufnahmebescheide und warten gleichwohl erst einmal die Entwicklung ab. Deswegen sage ich: Die Tendenzen zum Dortbleiben würden wir durch eine Diskussion über eine Änderung des Art. 116 des Grundgesetzes gefährden. Für uns kommt eine Änderung dieses Artikels nicht in Betracht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Ja.
Herr Kollege Seiters, ist Ihnen bekannt, daß es — insoweit jedenfalls — gar nicht um eine Änderung des Art. 116 geht, sondern
daß es ein Problem beim Folgerecht, beim Staatsangehörigkeitsrecht wie beim Bundesvertriebenenrecht wie auch bei den Verwaltungsanordnungen, die sich darauf gründen, gibt?
Meine politische Botschaft, die ich in Kontinuität zu meinem Vorgänger überbringen möchte, ist die, daß wir das Tor nicht zumachen, weil sonst die Aussiedler zu uns kommen.
Wir sollten zu einer Beruhigung der Diskussion beitragen. Dann werden wir den Prozeß des letzten Jahres fortsetzen.
Meine Damen und Herren, aus unserer eigenen Geschichte wissen wir um die entscheidende Bedeutung von Recht, Freiheit und Toleranz für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Eben diese Geschichte hat uns auch gelehrt, wie entschlossen wir allen Anfängen von brutaler Gewalt und Radikalismus zu wehren haben. Wie wir alle in diesem Hause verurteile ich jede Form von Haß, Gewalt und Ausschreitungen gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern. Wir werden gegen solche Ausschreitungen von rechtsextremistischen Schlägertrupps mit allen Mitteln vorgehen. In einem weltoffenen Deutschland dürfen ausländerfeindliche Ausschreitungen keinen Platz haben.
Die Innen- und die Justizminister haben sich am 17. Oktober in Bonn darauf verständigt, durch eine bundesweite Aufklärungskampagne dem Extremismus entgegenzusteuern. Ich sage für mich: Extremismus und Radikalismus führen zu Haß und Gewalt. Deshalb sollten und müßten sie gesellschaftlich geächtet werden.Auch vor diesem Hintergrund begrüße ich aber, daß die in der Vergangenheit bisweilen zu hörenden Forderungen nach Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz zwischenzeitlich verstummt sind.
Zum umfassenden Aufgabenkreis des Verfassungsschutzes gehören neben der Beobachtung von Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staatswesens und der gegen unser Land gerichteten Spionagetätigkeit die Sammlung von Informationen zur Bekämpfung des einheimischen und des internationalen Terrorismus sowie eben auch das Ziel, die Umtriebe gewalttätiger und extremistischer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland unter Kontrolle zu halten.Natürlich muß sich der Verfassungsschutz auf aktuelle politische Entwicklungen einstellen, organisatorisch wie personell. Für die innere Sicherheit ist jedoch auch im vereinten Deutschland der Erhalt des
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Bundesminister Rudolf SeitersBundesamtes für Verfassungsschutz zusammen mit dem Aufbau leistungsfähiger rechtsstaatlicher Polizeibehörden in den neuen Ländern und der dortigen Einrichtung funktionsfähiger Verfassungsschutzbehörden eine unverzichtbare Voraussetzung.Ich füge ganz generell hinzu: Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist die unabdingbare Voraussetzung für die im Grundgesetz verankerte freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen und für das solidarische Zusammenleben aller in der staatlichen Gemeinschaft. Dieser Anspruch auf Gewährleistung innerer Sicherheit ist unteilbar und besteht unabhängig von der Nationalität der zu schützenden Personen.Hier ist nicht nur, aber in besonderer Weise unsere Polizei gefordert, der ich in diesem Zusammenhang für ihre gerade heute nicht einfache Arbeit Dank sagen möchte.
Ich sehe es als Teil unserer politischen Verantwortung an, den Sicherheitsbehörden bei dieser Arbeit Rückhalt und notwendige Unterstützung zu geben.Wir haben es mit gravierenden Formen der Kriminalität, der Bedrohung durch Terrorismus, Extremismus und durch das organisierte Verbrechen zu tun, in dessen Mittelpunkt der illegale Drogenhandel steht. Der Zunahme der organisierten Rauschgiftkriminalität gilt unsere besondere Sorge. Inzwischen ist es gelungen, tieferen Einblick in die Strukturen des illegalen Rauschgifthandels zu erhalten.Nationalstaatliches Denken und Handeln werden der neuen Situation, die durch den Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Staaten der europäischen Gemeinschaft, durch die Öffnung der Grenzen auch im Osten Europas sowie mit der Änderung der Erscheinungsformen des internationalen Verbrechens entstanden ist, nicht mehr gerecht.Wir müssen daher mit Nachdruck die internationalen und die nationalen Bekämpfungskonzepte vorantreiben. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit in Europa, in die wir dank der europäischen Entwicklung auch unsere östlichen Nachbarn einbeziehen können. Vordringlich ist vor allem eine europäische Zentrale zum Kampf gegen die Drogenmafia und gegen das organisierte internationale Verbrechen.Im Inneren unseres Landes fordert die besondere Komplexität der polizeilichen Aufgaben ein gemeinsames, koordiniertes Handeln der Polizeien der Länder und des Bundes einschließlich Bundesgrenzschutz, der die mit Erlangung der staatlichen Einheit verbundene Erweiterung seiner Aufgaben mit Erfolg angepackt hat.Neue qualitative Anforderungen ergeben sich für ihn zum einen aus dem Aufgabenübertragungsgesetz, zum anderen aus der Vollendung des europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993. Der damit verbundene Abbau der Binnengrenzkontrollen wird zu einer Konzentration grenzpolizeilicher Kontrollaufgaben an den EG-Außengrenzen einschließlich derFlug- und Seehäfen führen, in deren Rahmen auch Sicherheitsbelange der Partnerstaaten mit wahrzunehmen sein werden.Wir haben in der gestrigen Debatte über den Etat des Bundeskanzlers bereits über das drängende und wichtige innenpolitische Thema der Lösung der Asylproblematik gesprochen. Ich möchte, was meine persönliche Position anbetrift, dazu folgende Bemerkungen machen:Erstens. Natürlich müssen politisch, rassisch und religiös Verfolgte auch in Zukunft bei uns Zuflucht finden. Aber gerade weil wir ein asylfähiges und ausländerfreundliches Land bleiben wollen, muß der fortschreitende Asylrechtsmißbrauch auf nationaler wie internationaler Ebene effektiver begrenzt werden.
Damit ich nicht mißverstanden werde: Ich habe durchaus Verständnis für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen in unser Land kommen wollen.
Ich wehre mich dagegen, die Motive zu diffamieren; denn was wäre verständlicher, als daß ein Familienvater auch an seine Familie und an die Besserung seiner Lebenssituation denkt? Das ist völlig klar.
Daß wir das so aussprechen, ist auch wichtig für das Klima in unserem Lande
und für die Argumentation bei dieser wichtigen Frage.Aber, meine Damen und Herren, wir können eben nicht alle Probleme auf dem deutschen Boden lösen, sondern wir müssen bei den Quellen ansetzen und die Fluchtursachen — ich füge hinzu: stärker als bisher — bekämpfen.
Zweitens. Zunächst wird es darum gehen, die Zielvorstellungen zur Verfahrensbeschleunigung, auf die sich die Spitzen von CDU/CSU, FDP und SPD in einem Gespräch beim Bundeskanzler verständigt haben, möglichst rasch umzusetzen. Ich sage für mich und uns und auch für meinen Vorgänger: Hier wird nichts verzögert. Ich mache keine Schuldzuweisungen; ich sage nur: Es hat die Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern gegeben. Hier wird nichts verzögert. Ich habe bereits in den ersten Stunden nach meiner Amtsübernahme gesagt: Ich will, daß den Fraktionen des Deutschen Bundestages in den nächsten Tagen ein im Bundesministerium des Innern gemeinsam mit dem Bundesministerium der Justiz erarbeiteter Entwurf einer Novelle zum Asylverfahrensgesetz zugeleitet wird, der den Zielvorstellungen des Gesprächs beim Bundeskanzler entspricht.
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Bundesminister Rudolf SeitersDrittens. — Ich spreche über meine persönliche Position. —
Die europäische Dimension des Wanderungsdrucks — darin sind wir wahrscheinlich ebenfalls einig — verlangt über das hinaus, was wir vereinbart haben, weitere beharrliche Bemühungen um eine europäische Lösung. Unser Ziel ist ein in seinen Grundzügen harmonisiertes europäisches Einwanderungs- und Asylrecht in formeller und materieller Hinsicht. Ein Europa der offenen Grenzen braucht die Harmonisierung des Asylrechts, der Asylpraxis und der Asylpolitik auf europäischer Ebene. Wir müssen die Überlegung weiterverfolgen, wie in verfassungsrechtlich einwandfreier Weise erreicht werden kann, daß Personen nicht in ein aufwendiges Asylverfahren einbezogen werden müssen, die unseres Schutzes nicht bedürfen, etwa weil sie aus nach allgemeiner Überzeugung verfolgungsfreien Herkunftsländern stammen oder über sichere Drittstaaten kommen.Der scheidende Bundesinnenminister hat hierzu einen konkreten Formulierungsvorschlag für eine Ergänzung des Grundgesetzes vorgelegt, über den wir derzeit, wie jedermann weiß, in der Koalition keine Verständigung haben, der aber nach meiner Auffassung den Weg für eine maßgebliche Entlastung der Asylverfahren freimachen und Deutschland außerdem die volle, gleichberechtigte Teilnahme an einer europäischen Lösung der Asyl- und Flüchtlingsproblematik ermöglichen würde.
Jedenfalls ist es nach meiner Meinung notwendig, unsere volle Teilhabe am Schengener und Dubliner Abkommen, die einen international einheitlichen Umgang mit Asylbewerbern vorsehen, rechtlich einwandfrei abzusichern. Meine Meinung hierzu — ich sage das auch mit Blick auf die aktuelle Diskussion, die wir in diesen Tagen haben — ist bekannt. Ich habe sie unmittelbar vor und nach meiner Amtsübernahme öffentlich geäußert. Für eine volle und gleichberechtigte Teilhabe an den Verträgen brauchen wir die Ergänzung des Grundgesetzes. Das ist mit einer einfach-gesetzlichen Regelung nicht zu machen.
Meine Damen und Herren, mit Blick auf die außerordentliche Dimension des Problems hoffe ich, daß wir im Dezember beim Europäischen Rat in Maastricht in dieser Frage vorankommen und daß sich in Deutschland die an der Gesetzgebung Beteiligten einer sachlich-konstruktiven Diskussion und Lösung auf europäischer Basis nicht verschließen.Ich weiß, daß wir das Problem auch uns erreichender weltweiter Wanderungsströme aus wirtschaftlichen Gründen mit rechtlichen Maßnahmen allein nicht aus der Welt schaffen können. Aber, meine Damen und Herren, der Gesetzgeber muß den aus meiner Sicht dringend erforderlichen Handlungsspielraum schaffen, ohne daß der Kerngehalt des Asylrechts in Frage gestellt wird.Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich begrüßen, daß sich bei der internationalen Konferenzüber Fragen der Eindämmung illegaler Einreisen Ende Oktober in Berlin 27 Staaten darauf verständigt haben, die zur Bewältigung illegaler Wanderungsbewegungen bestehenden ausländerrechtlichen und polizeilichen Möglichkeiten gezielt einzusetzen. Von der Migration sind viele Staaten berührt, wenn auch unterschiedlich betroffen, Ziel-, Transit- und Herkunftsstaaten. Es ist gelungen, sie alle im Geiste vernünftiger Partnerschaft von der Notwendigkeit eines konzertierten Vorgehens zu überzeugen, ein Erfolg, der auch im Hinblick auf andere Vorhaben vielleicht Zuversicht geben sollte.Im übrigen unterstreiche ich nachdrücklich — ich habe es schon angedeutet — ungeachtet der rechtlichen Ansätze die Notwendigkeit, die Ursachen der Wanderungsbewegungen zu beseitigen, unsere Mittel konzentriert zur Bekämpfung der Auswanderungsursachen an der Quelle einzusetzen und in diesem Zusammenhang die von der Bundesregierung am 25. September 1990 beschlossene Flüchtlingskonzeption konsequent weiterzuentwickeln, weil dieser Weg, den Flüchtlingen eine neue Lebensperspektive im eigenen Heimatland zu eröffnen, auf Dauer der einzig erfolgversprechende zur Lösung dieser schwerwiegenden Problematik ist.Meine Damen und Herren, der Haushalt 1992 des Bundesinnenministers einschließlich des wichtigen Teilbereichs Sport, für den sich der Bund auch 1992 in besonderer Weise engagiert, und einschließlich der meinen Geschäftsbereich betreffenden Mittel des Einzelplans 36 — ich unterstreiche die Bedeutung der zivilen Verteidigung und des Zivilschutzes auch im wiedervereinigten Deutschland — ist, so denke ich, eine sachgerechte Antwort auf die innenpolitischen Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig stehen.Allen Beteiligten, dem Haushaltsausschuß, insbesondere den Berichterstattern, und dem Innenausschuß sowie den Vorsitzenden danke ich für ihre tatkräftige Unterstützung. Sie haben — ich habe mir das angeschaut — mit großer Sachkunde und Umsicht dafür gesorgt, daß die für die Verwirklichung wichtiger staatlicher Aufgaben notwendigen Haushaltsmittel zur Verfügung stehen und daß wir, so denke ich, auch in Zukunft die innenpolitischen Herausforderungen erfolgreich bestehen können.Ich biete allen Fraktionen des Deutschen Bundestags eine gute Zusammenarbeit an.
Das Wort hat der Abgeordnete Hans Gottfried Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich möchte zunächst im Namen meiner Fraktion, vor allen Dingen der Innenpolitiker meiner Fraktion, Herrn Minister Schäuble für die gute Zusammenarbeit, die wir in den hinter uns liegenden Jahren hatten, danken. Sie war gekennzeichnet von einem freimütigen Austausch der Argumente und Klarheit der Standpunkte, vor allen Dingen aber auch von dem persönlich sehr angenehmen Zusammenarbeiten, wie wir es von Herrn Schäuble ja auch aus anderen Ämtern gewohnt waren. Wir wün-
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5168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Hans Gottfried Bernrathschen ihm für die neue Aufgabe viel Glück. Sie wird um einiges schwieriger sein, wie wir heute morgen auch in dieser Debatte erfahren konnten.Wir möchten Ihnen, Herr Minister Seiters, alles Gute für Ihr Amt als Innenminister wünschen. Es ist eine, wie Sie eben angedeutet haben, schwierige Aufgabe, gerade in dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, des Aufbaus in Deutschland und auch der Herausforderungen, die damit gerade auf den Innenminister zukommen.In der Politik ist es wie in der Kunst: Der Künstler — in der Politik der Politiker — bezieht die stärksten Antriebe und Energien aus dem Widerspruch. Wir versprechen Ihnen, daß wir den Widerspruch offen formulieren werden, daß wir Ihnen widersprechen werden, wo dies notwendig ist, daß wir Sie unterstützen werden, wo es unumgänglich ist und wo es uns richtig erscheint, um gemeinsam diejenigen Ziele zu erreichen, auf die wir als politische Parteien in unserem Staat verpflichtet sind.Widerspruch wird notwendig sein, wenn wir daran denken, daß Sie eine Reihe von Defiziten aufzuarbeiten haben. Sie sind nur in Stichworten darauf eingegangen: beispielsweise organisierte Kriminalität, Drogenkriminalität; Sie haben darüber hinaus Einwanderungsprobleme angedeutet. Wir können diese Probleme nicht lösen, wenn wir uns nur gegenseitig guten Willen bestätigen, sondern nur dann, wenn wir von der Einzelerfahrung ausgehend dazu beitragen, daß wir dem Verfassungsgebot, das uns dabei immer als Maßstab dient, gerecht werden. Wir können uns in der Zusammenarbeit dahin gehend bewähren, daß die Spannung, die unsere Arbeit hier im Parlament kennzeichnet, zu einer guten Lösung beiträgt.Ich bin überzeugt, daß Sie mit uns zusammen auf dieses Ziel hinarbeiten werden. An unserer Unterstützung wird es jedenfalls nicht mangeln.
Lassen Sie mich mit ein paar Stichworten noch etwas zum öffentlichen Dienst sagen, der heute etwas am Rande gestanden hat, obwohl für die Durchsetzung innenpolitischer Ziele die Exekutive, also die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, von ganz besonderer Bedeutung ist. Die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes haben in der Vergangenheit Leistungsbereitschaft, Anpassungsfähigkeit bewiesen. Das Klima in den Ämtern hat sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren wesentlich gewandelt. Heute wird bedient, nicht mehr abgefertigt. Die Mitarbeiter sind hilfsbereit. Sie beraten gleichzeitig, vor allen Dingen in den Publikumsdiensten. Das gilt, um bei einem aktuellen Thema zu bleiben, etwa für die Ausländerämter, wo wir einen Großteil der Schwierigkeiten, die wir in den Kommunen haben, gerade deshalb überwinden und ausgleichen können, weil wir dort Mitarbeiter haben, die Recht und Gesetz nicht nur kennen, sondern die es auch anwenden können, so daß der Ausländer, der in ein solches Amt kommt, Rat findet und sich auch gut beraten fühlt. Das gilt insbesondere für den nicht immer leichten Umgang mit Asylbewerbern.Dem steht aber leider eine grobe Vernachlässigung des Personals im öffentlichen Dienst durch den Dienstherrn oder den öffentlichen Arbeitgeber gegenüber. Hier und da wird geflickschustert; wir haben es gerade in bezug auf das Strukturgesetz erlebt. Dahinter steht eben keine Konzeption, beispielsweise auch keine Konzeption für eine zeitgerechte Struktur des öffentlichen Dienstes. Wir können ihn daher auch nicht fortentwickeln und ihn nicht an die heutigen Aufgaben anpassen. Es wird notwendig sein, Herr Minister, daß gerade in dieser Hinsicht klare Zielsetzungen für die nächsten Jahre formuliert werden, damit wir einen stabilen, dezentralen, der Demokratie verpflichteten öffentlichen Dienst bekommen, der nicht nur Ordnungsverwaltung garantiert, sondern der Leistungsangebote auch modern gestaltet und der damit auch zur Festigung der inneren Ordnung beiträgt.Bei der Ordnungsverwaltung denke ich insbesondere daran, daß der öffentliche Dienst im Bereich des Umweltrechts neue Funktionen übernimmt, wogegen Funktionen im klassischen Ordnungsrecht anteilig schrumpfen sollten. Er sollte auf der Grundlage bewährten ordnungsrechtlichen Handelns helfen, Umweltrecht durchzusetzen, wodurch ein wesentlicher Teil politischer Zielsetzungen erreicht würde.Die zeitgerechte Gestaltung des Leistungsangebots auch im Wettbewerb muß durch ein entsprechendes Dienstrecht garantiert werden.
In der Zielsetzung muß eine möglichst weitgehende Selbstverwaltung nachgeordneter Verwaltungen, Behörden und Ämter und vor allen Dingen die uneingeschränkte Garantie der Selbstverwaltung für unsere Kommunen enthalten sein.Nie waren die politischen und administrativen Bedingungen dafür günstiger als im Augenblick, denn der öffentliche Dienst hat in der Öffentlichkeit eine große Akzeptanz gefunden. Das hat sich ja auch beim Aufbau der Verwaltungen in den neuen Ländern gezeigt. Wir müssen durch eine andere Gestaltung des Dienstrechts, über mehr Freiheiten hinsichtlich der Verhandlungsrechte des Personals, seiner Gewerkschaften und Vertretungen dazu beitragen, daß wir den hohen Leistungsstandard des öffentlichen Dienstes auch in Zukunft erhalten und den jeweiligen zeitlich bedingten Bedürfnissen anpassen können.Ich habe gesagt, daß die Bedingungen dafür günstig sind. Sie zeigen sich ja in einer Spanne zwischen den Aufgaben, die wir in den neuen Ländern haben. Sie haben in diesen Tagen erklärt, daß der Aufbau nur zögerlich vor sich gehe. Das liegt nicht am Personal, sondern es liegt vor allen Dingen an den rechtlichen Voraussetzungen, die das Personal braucht, um den Aufbau unter dem Gesichtspunkt der erwarteten zeitlichen Beschleunigung bewältigen zu können.Es liegt aber auch daran, daß wir nicht genügend geeignetes Personal aus den westlichen Ländern in die neuen Länder bringen können, um auf diese Weise auch unter Nutzung der Erfahrungen des Personals zu einem schnellen Aufbau beitragen zu können. Ich meine, daß die Chance, die wir in den neuen Ländern haben, nicht dazu dienen soll, dort nun ein
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Hans Gottfried Bernrathhemmungsloses Verbeamten durchzusetzen. Wir sollten uns bemühen, unter Nutzung der breiten Spanne dienstrechtlicher Möglichkeiten und arbeitsrechtlicher Möglichkeiten für diese Aufgabe geeignetes Personal — und zwar langfristig geeignetes Personal — zu bekommen und damit helfen, die Anpassung an die Lebensbedingungen in den westlichen Ländern und auch den Übergang eines Teils der zentralen Verwaltung nach Berlin zu erleichtern.Die andere Chance liegt in der europäischen Regelung. Die größere Durchlässigkeit sollten wir nutzen. Ich will das nicht weiter ausführen. Zur Zeit blockieren wir in erster Linie über den Art. 48 und die daran gebundene Rechtsprechung. Wir müssen die Chance, die darin liegt, andere Erfahrungen für uns wirksam zu machen, auch im Sinne der europäischen Einigung und der Durchsetzung der gemeinsamen Ziele, nämlich eine Wirtschafts-, eine Rechts- und eine Sozialeinheit in Europa auch mit dem Personal des öffentlichen Dienstes zu erreichen, nutzen, statt „dynamisch zu erstarren", also immer darüber zu reden, aber nicht einen Schritt in diese Richtung zu tun und dazu beizutragen, daß dieser Artikel eher leerläuft, als er für unsere Zielsetzungen nutzbar gemacht werden kann.Eine weitere Chance liegt in der Diskussion um die öffentlichen Unternehmen in der Bundesrepublik. Hier ist das Stichwort des Art. 87 zu nennen. Wieder wird eine Verfassungsänderung gefordert, ohne daß vorher genutzt wird, was in den jetzigen Möglichkeiten, auch in den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, steckt — nicht nur technisch, sondern auch personalpolitisch. Ich glaube mit allen anderen, daß wir eine bessere Führungs- und Wettbewerbsstruktur brauchen. Aber ich glaube auch, daß wir alle anderen Chancen nutzen müssen, bevor wir eine Verfassungsänderung und damit eine Abkehr von den infrastrukturellen Verpflichtungen dieser Unternehmen wagen. Die Chancen liegen in erster Linie in personalpolitischer Hinsicht, nämlich in einem einheitlichen, modernen Dienstrecht mit ausgedehnten Verhandlungsmöglichkeiten und daran geknüpften Bezahlungen sowie Voraussetzungen für mehr Flexibilität, die diese Unternehmen im Wettbewerb brauchen.
Herr Kollege Bernrath, Sie sind schon ein gutes Stück über die Zeit.
Die Zeit ist abgelaufen. Ich wollte mit diesen wenigen Stichworten darauf hinweisen, daß wir mit dem öffentlichen Dienst eine starke Stütze für die Durchsetzung innenpolitischer Ziele haben, wir diesen öffentlichen Dienst aber nur behalten werden, wenn wir auch seine Bedingungen, die Bedingungen seines Personals, erfüllen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/1639 zum Einzelplan 06, dem
Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1668 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Der Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1669 wurde zurückgezogen.
Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den Einzelplan 06 in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Einzelplan 06 in der Ausschußfassung ist angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 36, Zivile Verteidigung, in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 36 ist angenommen.
Wer stimmt für den Einzelplan 33, Versorgung? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Einzelplan 33 ist angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 09
Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft
— Drucksachen 12/1409, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr hat der Bundesminister für Wirtschaft Jürgen Möllemann sein Amt angetreten. Ich sage offen: Ich hatte gewisse Hoffnungen auf einen Neuanfang, insbesondere was den Fehlstart der Integration der Wirtschaft der früheren DDR in die Wirtschaft der Bundesrepublik anbetrifft.Es ist unstreitig so: Es begann mit Paukenschlägen. Neuminister Möllemann forderte einen gewaltigen Subventionsabbau in Höhe von 10 Milliarden DM. Es ging weiter: Minister Möllemann forderte die Zuständigkeit des Wirtschaftsministers für die Treuhandanstalt in Berlin. Er erklärte, der Treuhandauftrag müsse um die Sanierung erweitert werden. Es gehe jetzt nicht mehr nur um Privatisierung oder sofortige Schließung. Er forderte eine Korrektur der vermögensrechtlichen Regelungen des Einigungs- bzw. Staatsvertrages. Er wollte mehr zukunftsorientierte Investitionen statt Rückgabe an Altbesitzer, die bei Investitionsmaßnahmen zögern würden. Schließlich erweckte er den Anschein, als würde er den Glauben
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5170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Wolfgang Rothan das automatische Wirtschaftswunder Ost aufgeben und nun konkret zu Handlungen kommen.Alles das waren Ansatzpunkte in der Wirtschaftspolitik, die wir damals mehr oder weniger begrüßt haben. Wir haben auch darüber verhandelt. Aber was geschah dann? Alles, was Sie angepackt haben, geriet Ihnen unter der Hand zu einer PR-Aktion ohne wirkliche Substanz, zum Showgeschäft ohne wirkliche Veränderung der Politik. Das ist die Wahrheit nach einem Jahr.Fangen wir beim Subventionsabbau an. 10 Milliarden DM sollten es weniger sein. Was ist daraus geworden? Wir haben im nächsten Jahr in der Bundesrepublik Deutschland mehr Subventionen. Ihr Kollege Weng hat Ihnen das vor einigen Tagen öffentlich vorgehalten. Im Haushaltsjahr 1992 werden Finanzhilfen und Steuervergünstigungen aufgestockt. Wo bleibt nun eigentlich der Rücktritt, Herr Minister Möllemann?Sie haben zu Recht vor einem Jahr gesagt, im Grunde sollte der Wirtschaftsminister für die Treuhand zuständig werden. Sie argumentierten, hier gehe es um Struktur- und Wirtschaftspolitik, um Arbeitsplätze und nicht um eine Entscheidung des Finanzministeriums. Wir hören inzwischen nichts mehr von diesem Anspruch. Sie haben in der Frage der Zuständigkeit der Treuhand gekniffen. Sie sind damit mitverantwortlich für viele Fehlentwicklungen im Bereich der Treuhandanstalt, was Arbeitsplätze anbetrifft. Dasselbe gilt übrigens, was die gesetzliche Erweiterung des Auftrags angeht. Bisher gibt es keinerlei Vorschlag der Bundesregierung, was die Regelbindung der Aktivitäten der Treuhand angeht.In der Frage der Eigentumsverhältnisse im Osten wird inzwischen völlig klar — übrigens teilen diese Meinung die CDU- und FDP-Kommunalpolitiker im Osten genauso wie die Sozialdemokraten — : Das Chaos ist nicht besser geworden, sondern die Lage wird immer schwieriger. Zusätzlich zu all den Schwierigkeiten, die wir ohnehin vom alten SED-Regime geerbt hatten, hat also die Bundesregierung neue Störfaktoren geschaffen. Es gab keinen wirklichen Neuanfang der Politik vor einem Jahr. Es gab keine Durchsetzungskraft in den praktischen Fragen zur Erhaltung und Verbesserung der Industrie im Osten.Wir hatten gedacht, Sie würden reale Einschätzungen bringen, Abschied vom Glauben an ein automatisches Wirtschaftswunder nehmen. Seit Wochen erleben wir nun das Gegenteil. Es wird ständig schöngefärbt, statt realistisch die Probleme zu beschreiben und sie anzupacken.
Herr Kollege Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Gleich.
Meine Damen und Herren, in der Elektroindustrie in Ostdeutschland ist der Zusammenbruch praktisch da. Die Textilindustrie in Ostdeutschland ist am Verschwinden. Die chemische Industrie ist bis auf einen kleinen Kern reduziert.
Die Maschinenbauindustrie, die teilweise sehr moderne Produkte hatte, ist nicht überlebensfähig, jedenfalls nicht mit der derzeitigen Politik.
Wenn Sie nach Ostdeutschland kommen, egal ob nach Dessau, Chemnitz, Zittau oder Schwerin, klagen Ihnen Kommunalpolitiker und Betroffene, Gewerkschafter genauso wie Unternehmensleiter, daß die Hilfen für die Industrie in Ostdeutschland praktisch ausgeblieben sind. Wir haben eine Deindustrialisierung in Ostdeutschland nach einem weiteren Jahr. Das ist die Realität. Und das ist das ungelöste Problem.
Bitte.
Herr Kollege Gerster, bitte.
Herr Kollege Roth, Sie beklagen nicht nur die Arbeit der Treuhand und die Arbeit des Wirtschaftsministers, sondern mit ebenso harschen Worten auch die Kontrolle der Treuhand durch den Unterausschuß des Haushaltsausschusses. Darf ich fragen, ob Sie die wiederholt ausgesprochene Einladung Ihres Fraktionskollegen Rudi Walther, Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, in diesen Unterausschuß zu kommen und sich von der Qualität der Arbeit dieses Ausschusses zu überzeugen, jetzt annehmen oder ob Sie diese Einladung nicht annehmen?
Die hat mich noch nicht erreicht. Aber wenn sie mich erreicht, werde ich sie annehmen.Ich sage Ihnen nur folgendes: Jeder von uns weiß doch, in welchem Umfang die Kolleginnen und Kollegen des Haushaltsausschusses im zweiten Halbjahr in Hunderten von Sitzungen gefordert sind. Meine Meinung zu dem Thema bleibt bestehen: Wir brauchen im Bundestag einen gesonderten Treuhandausschuß für einige Jahre, der sich die großen Projekte genau anschaut. Das kann man nicht nebenbei erledigen.Kollege Walther hat noch heute in einem Interview gesagt — und da teile ich seine Meinung — , es wäre im Grunde noch besser, man würde in der Bundesrepublik für einige Jahre das Schatzministerium neu aufleben lassen, das dann die volle Zuständigkeit für die Treuhand bekäme.
Es ist doch nicht erträglich, daß wir noch Tausende von Betrieben im Bundesbesitz haben — und das ist ja die Treuhand — und gleichzeitig der Finanzminister das nebenbei erledigen soll. Es ist auch eine Zumutung für die Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß, das neben ihrer schweren Pflicht, diesen
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Wolfgang RothHaushalt jedes Jahr zu betreuen, erledigen zu müssen.
Das ist meine Position, und bei dieser Position werde ich bleiben.
Herr Kollege Roth, hier sind zwei Kollegen, die Ihre Redezeit weiter verlängern möchten.
Aber Sie sind so lieb, mir das nicht auf meine Zeit anzurechnen.
Der Kollege Gerster möchte seine zweite Frage stellen, und auch der Kollege Hinsken möchte eine Frage an Sie richten. Sind Sie einverstanden, daß beide Fragen nacheinander gestellt werden, oder wollen Sie sie einzeln beantworten?
Wenn Sie einverstanden sind, nacheinander.
Herr Kollege Roth, was halten Sie denn von der Äußerung Ihrer beiden Fraktionskollegen Walther und Wieczorek, die erklärt haben, Ihre Feststellung, der Unterausschuß des Haushaltsausschusses sei mit den Kontrollaufgaben völlig überfordert — Sie haben das hier heute noch einmal wiederholt — , sei eine bodenlose Frechheit? Was halten Sie denn von dieser Charakterisierung?
Jedenfalls war das keine Liebenswürdigkeit.
Aber ich bleibe bei meiner Meinung, daß der Haushaltsausschuß — und ich bin nun seit 16 Jahren im Parlament und kann das verfolgen — der am meisten belastete Ausschuß im Deutschen Bundestag ist. Das sage ich als Mitglied des Wirtschaftsausschusses und vor dem Hintergrund der in mehreren anderen Ausschüssen gemachten Erfahrungen. Ich bin der Meinung, das Parlament sollte hier eine vernünftige Regelung finden. Ich bin da in Übereinstimmung — auch in Ihrer Fraktion wird zustimmend genickt — mit vielen Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses. Eitelkeiten haben da gar keine Rolle zu spielen,
sondern es geht um die konkrete Kontrolle von Milliardenbeträgen. Vielleicht weiß das nicht jeder, der hier oder draußen zuhört. Wir haben im nächsten Jahr allein für die Treuhand eine Nettokreditaufnahme von 35 Milliarden DM, haben aber nicht einmal ein Gremium, das permanent die Zeit hat, diese Ausgabenkontrolle wahrzunehmen, sondern nur einen Unterausschuß.
Und noch ein anderes Wort zu dem Thema: Wir haben im Deutschen Bundestag einen Fremdenverkehrsausschuß, einen Ausschuß für Tourismus. Da
mußte ein FDP-Kollege mit einem Vorsitz bedient werden,
also ist der Ausschuß eingerichtet worden. Aber für die Treuhand ist kein Ausschuß eingesetzt worden. Das ist skandalös.
Da kritisiere ich mich als Parlamentarier selbst. — Bitte schön.
Herr Kollege Hinsken.
Herr Kollege Roth, nachdem wir soeben haben zur Kenntnis nehmen müssen, daß Sie den Sitzungen des Unterausschusses Treuhand auf Grund fehlender Einladung nicht beiwohnen konnten, aber in Zukunft beiwohnen wollen, meine Frage an Sie: Warum haben Sie bisher nicht an Sitzungen des Wirtschaftsausschusses teilgenommen, bei denen führende Leute der Treuhand zugegen waren, um nachzufragen, um in Zukunft ein besseres Verständnis für deren Argumentation zu gewinnen, als das in der Vergangenheit der Fall war?
Also, verehrter Kollege, jetzt erzähle ich Ihnen zum fünfzigstenmal, daß ich gar nicht ordentliches Mitglied des Wirtschaftsausschusses bin
und daß ich in meinem Arbeitskreis sechs Vollausschüsse des Parlaments zu koordinieren habe. Das ist schlicht die Antwort. Sie werden verstehen, daß das bei anderen Kolleginnen und Kollegen, die in großen Fraktionen Vergleichbares zu tun haben, auch so ist.
Meine Damen, Herren, ich will fortfahren.
— Ja, wenn die Uhr angehalten wird.
Herr Kollege Roth, da Sie ja wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion sind: Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß der Wirtschaftsausschuß vor nicht allzu langer Zeit, vor drei Wochen, die Vorsitzenden der einzelnen Wirtschaftsausschüsse der Landesparlamente in den neuen Bundesländern und zusätzlich einige führende Leute der Treuhand nach Potsdam geladen hat, und haben Sie als stellvertretendes Mitglied des Wirtschaftsausschusses damals wirklich keine Zeit gefunden, um Ihren großen Sachverstand hier einzubringen?
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5172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Verehrter Kollege, ich habe mir in den letzten Wochen die Mühe gemacht, mich in der Treuhand mehrfach direkt detailliert zu informieren, jenseits einer einzelnen Ausschußsitzung. Ich finde, daß diese direkte Information unersetzlich ist. Im übrigen würde ich Ihnen empfehlen, vor allem in die Industriebetriebe in Ostdeutschland zu gehen und dort mit dem Management und mit den Betriebsräten über meine These zu reden, die ich gerade vertreten habe.
Ich wiederhole diese These, die da lautet, daß wir in der Gefahr sind, daß Ostdeutschland eine Region wird, die keinerlei industrielle Basis mehr hat.
Die Beschreibung des Vorgangs ist doch ganz einfach, meine Damen und Herren: Wir haben — bedingt durch die Transfers an Finanzen — im Handel, in den Dienstleistungen, im Bankensektor, bei den Gastwirtschaften, den Hotels und den Imbißstuben eine wirkliche Neugründungstätigkeit mit viel Aufschwung; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Die Ursache ist auch völlig klar. Wir haben im letzten Jahr und in diesem Jahr — im nächsten Jahr werden wir es wieder tun — etwa 120 Milliarden DM vom Westen an den Osten überwiesen, eine Maßnahme, die ich nicht kritisiere, sondern die richtig war. Aber dieses Geld ist primär in regionalen Konsum gegangen und hat die Industrie in Ostdeutschland überhaupt nicht stabilisiert. Die Industrie ist weiterhin im Niedergang, und genau an diesem Punkt wird die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung gefordert. Wo gibt es eine Industriepolitik für die ostdeutschen Bundesländer, die eine industrielle Basis schafft, so daß von innen her der Konsum der Bevölkerung, der Arbeitnehmer finanziert wird? Das ist die Schlüsselfrage. Um diese Schlüsselfrage hat sich die Bundesregierung herumgedrückt. Einkaufszentren, Reparaturwerkstätten, Hotels, Imbißstuben — das reicht eben nicht aus für eine tragfähige Basis.Ich nenne jetzt eine Zahl, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der FDP, weil Sie dauernd von Aufholjagd reden. Ich habe ausgerechnet, was die Investitionstätigkeit in diesem Jahr ausmacht und was der Sachverständigenrat an Industrieinvestitionen in Ostdeutschland für das nächste Jahr prophezeit; das ist genau die Hälfte der Summe, die in Westdeutschland an Investitionen für das nächste Jahr geplant ist. Das heißt, die Kluft in der Industrie zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland tut sich weiter auf.
Das heißt, der industrielle Prozeß ist in Wahrheit nochnicht in Gang gekommen, und das ist, meine Damenund Herren, keine Milchmädchenrechnung, sonderngenau der strategische Punkt. Wenn in Ostdeutschland die Industrie nicht wirklich in die Aufholjagdkommt, dann müssen wir auf Dauer, auf Jahrzehntehinaus, einen Finanztransfer aus dem Westen tragen.Das ist für die Menschen im Osten inakzeptabel, weilsie sich ausgehalten vorkommen, und es ist auf Dauerim Westen nicht finanzierbar. Das ist die Schlüsselproblematik, um die sich Herr Möllemann herumgedrückt hat. Da hilft kein Herumreisen in der ganzen Welt, sondern da hilft nur eine Konzentration auf diese Aufgabe.In diesem Zusammenhang habe ich dann, was die Arbeit der Treuhand betrifft, konkrete Fragen. Wie wollen Sie eigentlich rechtfertigen, daß im Falle von Zeiss/Jena pro erhaltenen Arbeitsplatz 400 000 DM ausgegeben werden, während kleine und mittlere, inzwischen aufgespaltene Maschinenbaubetriebe bei der Treuhand vergeblich um 20 000, 25 000 DM pro Arbeitsplatz betteln gehen müssen? Das ist die Realität. Warum wird im Raum Halle plötzlich viel Geld bereitgestellt, in anderen Regionen dagegen nicht? Hat das damit zu tun, daß Halle der Geburtsort des Außenministers ist? Oder ist das strategische Wirtschaftspolitik, die irgendwelche Grundlagen hat?
Wir, meine Damen und Herren, sind der Auffassung, daß jetzt klare Regelungen dafür gefunden werden müssen, wie den Betrieben im Osten geholfen wird. Meine Meinung ist, wir müßten Klarheit darüber finden, welche Eigenkapitalausstattung für die jeweiligen Industriebetriebe im Westen typisch ist, und dann Regelungen schaffen, mit denen wir eine vergleichbare Eigenkapitalausstattung für die Betriebe im Osten herstellen können, so daß gleiche Startchancen bestehen. Ich bin auch der Meinung, daß wir für eine Übergangsphase Modernisierungshilfen brauchen, die sich dann schrittweise abbauen, damit die Betriebe im Osten überhaupt eine Chance bekommen, weltmarktfähig zu werden, in den Konkurrenzkampf des Weltmarktes mit Chancen zum Erfolg einzutreten. Ich bin erfreut darüber, daß vom DIW über das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv bis hin zu dem bekannten Wirtschaftsprofessor und Publizisten Wolfram Engels der Bundesregierung ähnliche Gedanken vorgeschlagen werden. Meine konkrete Frage an die Bundesregierung lautet: Soll es so weitergehen, daß das Geld entsprechend der aktiven Lobby des jeweiligen Unternehmenschefs verteilt wird, oder sollen nicht endlich klare Kriterien zur Erneuerung der Industrie in Ostdeutschland gefunden werden? Wollen Sie einen Einzelinterventionismus der Marke Späth — der Vetterle kriegt 400 000 DM und die anderen gehen leer aus —?Das ist die konkrete Situation in der Industriepolitik dieser Bundesregierung. Ich habe noch nie eine marktwirtschaftsfeindlichere, interventionistischere und dirigistischere Industriepolitik als das beobachtet, was derzeit zwischen Finanzministerium und Treuhand vereinbart wird.Wenn wir über Ostdeutschland reden, müssen wir natürlich auch über Westdeutschland sprechen. Es ist völlig klar, daß uns die Chancen zur Stabilisierung der Wirtschaft in Ostdeutschland nur dann gegeben sind, wenn wir in der Lage sind, die westdeutsche Wirtschaft in Schwung zu halten und vor einer Rezession zu bewahren. Wer das Gutachten des Sachverständigenrats studiert hat, merkt ganz genau, daß wir an der Schwelle zu einer Rezession stehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5173
Wolfgang RothDer Herr Staatssekretär Eekhoff vom Bundeswirtschaftsministerium hat vor einigen Tagen in aller Öffentlichkeit dieselbe Befürchtung geäußert. Ich füge hinzu: Ich sehe auch noch andere Gefahren. Die bundesdeutsche Wirtschaft war bisher in der Auseinandersetzung mit anderen großen Industrieländern wie Japan und USA stets in der Lage, Konkurrenzgefechten standzuhalten. Automobilindustrie, Elektroindustrie und vieles andere waren weltmarktfähig und wettbewerbsfähig.Ist es Zufall, daß der BDI vor einiger Zeit einen „Industriepolitischen Dialog" einberufen hat, weil er wichtige internationale Märkte und auch den deutschen Markt für die Industrie bedroht sieht? Ich glaube, das ist kein Zufall. In vielen Sektoren der Wirtschaft — ich rede jetzt nicht nur über Elektronik und die Tatsache, daß wir praktisch keinen Chip-Produzenten mehr haben, der Weltmarktbedeutung hat —sehe ich Bedrohungen und Gefahren. Meine Meinung ist: Der Bundeswirtschaftsminister darf es jetzt nicht dabei bewenden lassen, daß er einen industriepolitischen Dialog als marktwirtschaftsfeindlich negiert und ablehnt, sondern er muß die Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland an einen Tisch bringen.In Japan gibt es eine Konsensstrategie zwischen allen sozialen Kräften und zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und auch dem Staat unter Einschluß aller seiner Teile, nicht nur des MITI, die Weltmarktkonkurrenz als wichtigste Herausforderung der Wirtschaft zu akzeptieren. Ich sehe in der Bundesrepublik Deutschland diesen Konsens nicht erreicht. Ich sehe Gefährdungen. Natürlich wäre es noch eine Gefährdung, wenn wir in den nächsten Wochen und Monaten einen Tarifkonflikt mit mehreren Wochen Streik bekämen. Es deutet sich in der Verfestigung der Fronten in diesem Zusammenhang etwas an.Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß der soziale Konsens der Vergangenheit bewahrt werden muß, und zwar gerade wegen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Da das so ist, kann ich von dieser Stelle aus den Herrn Bundeswirtschaftsminister nur davor warnen, daß er jeden Tag mit Prozentempfehlungen in Richtung auf die Gewerkschaften und die Arbeitgeber in der Öffentlichkeit auftritt.
Es ist in der Bundesrepublik noch niemals etwas Gutes herausgekommen, wenn der Bundeswirtschaftsminister sich in die Tarifpolitik der Gewerkschaften und der Arbeitgeber eingemischt hat. Herausgekommen sind dann stets bittere Arbeitskämpfe. Ich weiß als Sozialdemokrat im übrigen, worüber ich auch rede, nämlich über das Jahr 1974. Auch damals hat die Politik gemeint, sie müsse sich mit Tarifempfehlungen einmischen. Herausgekommen ist ein schwerer Konflikt zwischen einer großen Gewerkschaft und der Bundesregierung. Wir appellieren an alle Beteiligten,
sich in der nächsten Phase zusammenzusetzen und in Einklang mit der konjunkturellen Lage, die nicht mehr so gut ist wie vor einem Jahr, nun einen Kompromiß zustande zu bringen. Aber das ist die Aufgabe der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Der Staatist in unserer Wirtschaftsordnung an der Stelle nicht gefordert — schon gar nicht mit Prozentratschlägen.Sie verstoßen hier gegen 40 Jahre konkrete und gute Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland. Herr Wirtschaftsminister Möllemann, wenn es in den nächsten Monaten Streiks und Aussperrungen gibt, dann sind Sie letztlich der Brandstifter mit gewesen.
Hören Sie mit dieser Aktion auf im Sinne des sozialen Friedens in der Bundesrepublik Deutschland!
Als nächster hat der Herr Abgeordnete Kurt Rossmanith das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über den ersten Teil Ihrer Ausführungen, Herr Kollege Roth, hätten wir noch diskutieren können. Der letzte Teil war — so muß ich leider sagen — weit unter dem Niveau, mit dem wir hier in diesem Hohen Hause diskutieren sollten, und auch weit unter dem Niveau, das wir in der Regel im Haushaltsausschuß an den Tag legen.Ich darf Ihnen sagen: Ich bedanke mich dafür, daß Sie einmal anerkannt haben, welch schweres Los die Haushälter haben und welche Leistung sie erbringen. Es ist unsere Aufgabe, jährlich über Hunderte von Milliarden D-Mark Kontrolle auszuüben; in diesem Jahr sind es 422 Milliarden DM, die den Gesamthaushalt ausmachen. Auch im Unterausschuß für die Treuhand, dem ich mit angehöre — deshalb tue ich mich vielleicht ein bißchen schwer, dazu etwas zu sagen —, sind wir uns schon darüber im klaren, welche Arbeit hier geleistet werden muß. Wir leisten sie mit der gleichen Akribie und mit dem gleichen Verantwortungsbewußtsein. Es ist schlicht und einfach nicht möglich — das wissen Sie mit Ihrem Wirtschaftssachverstand doch auch — , in Prozesse einzugreifen. Sie würden ja gerade zum Wirtschafts- und zum Investitionsverhinderer, wenn Sie in laufende Prozesse der Treuhand eingreifen und sagen würden, Moment, hierzu muß ich erst einmal eine Entscheidung des Unterausschusses oder auch eines Ausschusses Treuhand herbeiführen. Bis diese Entscheidung vorläge, wäre das Geschäft doch schon längst erledigt. Insofern würden wir bei einem solchen Vorgehen nur behindernd eingreifen.Wir müssen kontrollieren, und diese Arbeit, diese Aufgabe nehmen wir wahr, auch wenn sie sehr zeitintensiv ist und das, was in diesen Stunden im Unterausschuß Treuhand geleistet wird, weit über das übliche Maß hinausgeht, weil wir uns natürlich — hier nehme ich alle Kollegen von der SPD, von der FDP und von der CDU/CSU mit in ein Boot — auch vor Ort informieren. Wir fahren nach Bitterfeld, wir fahren nach Halle, wir fahren nach Usedom, wir fahren ins Erzgebirge, wir fahren nach Dresden, um uns dort
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5174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Kurt J. Rossmanithüber die Arbeit, die geleistet werden muß, und über die Probleme, die dort anstehen, zu informieren.
Wenn man die Debatte in dieser Woche verfolgt hat, dann fällt folgendes schon schwer — ich sage das, wenn Sie es jetzt auch nicht expressis verbis zum Ausdruck gebracht haben — : Wie wurden wir beschimpft! Der Haushalt wurde von Ihrer Seite als unseriös, als unsolide bezeichnet. Sie selbst haben das wieder zum Ausdruck gebracht, indem Sie dargestellt haben, daß es uns nicht gelungen sei, weitere Ausgabenkürzungen vorzunehmen.Hier wird von der SPD einfach mit gespaltener Zunge gesprochen.
Es ist richtig, daß das Ergebnis der Beratungen im Haushaltsausschuß über den Einzelplan für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, über den wir jetzt beraten, nicht ein Minus gegenüber dem Entwurf, sondern ein Plus in Höhe von 780 Millionen DM aufweist.Ich möchte Ihnen jetzt aufzeigen, wo hier die Schwerpunkte liegen. 400 Millionen DM mehr für die Investitionsförderung in den neuen Ländern — mit Zustimmung der SPD. 200 Millionen DM für die Kokskohlebeihilfe entsprechend den in der Kohlerunde getroffenen Vereinbarungen — mit Zustimmung der sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß. 70 Millionen DM für die Wettbewerbshilfe an die Werften, um das Förderprogramm im ursprünglich vorgesehen Umfang durchführen zu können. Auch dies einig im Haushaltsausschuß, mit den Stimmen der SPD.
Ja, da frage ich mich natürlich schon: Sie werfen uns Unsolidität, Unaufrichtigkeit vor. Aber die Forderungen kommen von Ihnen, und wenn wir nach hartem Ringen nicht alle Ihre Forderungen erfüllen, aber doch sagen, aus gutem Grunde werden wir zumindest in Teilen — und ich habe es jetzt namentlich genannt — mitstimmen, dann werden wir von Ihrer Seite hier noch entsprechend beschimpft.
So ein Verhalten, meine sehr verehrten Damen und Herren, finde ich unseriös und unsolide
und entspricht nicht der Art und Weise, wie wir den Haushalt gestaltet haben.Gerade wenn wir jetzt sagen, wir Politiker müssen der Öffentlichkeit mehr Glaubwürdigkeit vermitteln, dann darf ich an Sie appellieren und Sie daran erinnern: Bitte gehen Sie auch hier mit entsprechendem Beispiel voran und halten Sie sich daran, daß wir auch nach außen hin als Politiker glaubwürdig bleiben können.Ich verhehle ja nicht, daß wir gerade im Zusammenhang mit der deutschen Einheit noch gewichtigeHaushaltsrisiken für die künftigen Jahre vor uns haben werden. Es läßt sich noch nicht alles abschätzen. Keiner ist bisher aufgetreten und hat gesagt, diese und jene Haushaltsrisiken werden noch auf uns zukommen. Ich wäre dankbar gewesen, wenn Sie uns einige aufgezeigt hätten. Nur, keiner kann das, weil wir nicht wissen, was alles auf uns zukommt.Gerade deshalb ist es erforderlich, daß wir miteinander in einer vernünftigen und ehrlichen Art und Weise umgehen. Wer kann denn heute schon etwas sagen über die voraussichtlichen Defizite in der Treuhandanstalt, die Altschuldenproblematik der Betriebe in der ehemaligen DDR, über die Altlasten im Umweltbereich? Sie haben das Beispiel des Chemiedreiecks gebracht. Dafür bin ich dankbar. Herr Roth, Sie werden doch ehrlich nicht daran glauben, daß wir weiterhin in dieser Ecke eine Chemieindustrie mit 75 000 bis 90 000 Beschäftigten haben können oder haben sollten? Das können Sie doch nicht gemeint haben? Weshalb werfen Sie uns dann vor, daß wir versuchen, die Chemieindustrie auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen, das einmal den Menschen, aber auch den Betroffenen in dieser Region eine Zukunft bietet? Das sind doch die Themen. Darum geht es doch. Darum wird auch versucht, im Haushalt die entsprechenden Weichen zu stellen und die Rahmenbedingungen zu schaffen.
Gerade deshalb ist Ausgabendisziplin gefragt und erforderlich. Ich darf den Sachverständigenrat zitieren, der uns mit seinem jüngsten Gutachten einige deutliche Worte ins Stammbuch geschrieben hat. Ich teile natürlich die Auffassung des Sachverständigenrates, daß es nicht darum gehen kann, durch globale Minderausgaben oder prozentuale Kürzungen aller Budgetposten das notwendige Einsparvolumen zu erbringen. Gerade aus wirtschaftspolitischer Sicht wäre ein derartiges Verfahren äußerst unbefriedigend, vor allem, wenn man bedenkt, daß bestimmte Ausgaben zum Wiederaufbau in den neuen Bundesländern — ich denke hier gerade auch an die Investitionsförderung und an Infrastrukturmaßnahmen — wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch kräftig erhöht werden müssen. Vielmehr müßte der Haushalt gezielt auf solche Posten überprüft werden, die wegen veränderter politischer Bedingungen reduziert werden können oder die schlicht und einfach ökonomisch nicht mehr vertretbar sind. Dies ist der Weg, den die Bundesregierung eingeschlagen hat, als sie im Entwurf des Haushalts 1992 und der mittelfristigen Finanzplanung einen Abbau von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen von durchschnittlich 10 Milliarden DM im Jahre beschlossen hat.Ich glaube schon, daß es die Wahrheit gebietet, wenn wir hier feststellen, daß der Subventionsabbau, wenn auch mit kleineren Korrekturen, in dieser Größenordnung erreicht worden ist, trotz mancher anderslautender Presseberichte der letzten Tage. Ich glaube, daß hier auch ganz bewußt manche Fehlinterpretation von der Opposition mit eingeflossen ist.Leider ist es uns nicht gelungen — auch das sage ich ganz freimütig —, unser Anliegen, das wir als Haushalter hatten, nämlich weitere 4 Milliarden DM im
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Kurt J. RossmanithHaushalt einzusparen, umzusetzen. Die Bundesregierung hat uns gegen Ende der Beratungen im Haushaltsausschuß noch eine Reihe von unabweisbaren Nachforderungen auf den Tisch gelegt, die in der Höhe insgesamt etwa diesen vorgesehenen Kürzungen entsprochen haben. Natürlich mag hier mancher an das Sprichwort denken „Wie gewonnen, so zerronnen" ; das ist richtig. Ich bezweifle auch nicht die Berechtigung der Nachforderungen, nur, Herr Bundesminister: Das Verfahren, wie es sich abgespielt hat, darf sich in Zukunft so nicht wiederholen.
Wir sehen uns nicht — ich sage auch in diesem Hohen Hause, was ich schon im Ausschuß gesagt habe —, Herr Bundesminister Möllemann, als Erfüllungsgehilfen der Bundesregierung; wir sind Kontrolleure. Wir wollen Sie dabei unterstützen — wir tun das mit allem Nachdruck — , wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich das wirtschaftliche Wachstum, das wir in den alten Bundesländern noch haben und das sich jetzt auch in den neuen Bundesländern abzeichnet, verfestigt und noch verstärkt, aber wir wollen nicht im letzten Moment Papiere auf den Tisch erhalten, zu denen wir mehr oder weniger nur noch ja oder nein sagen können und bei denen sich aus der Verantwortung heraus letztlich natürlich das Ja einfinden muß.
Zu den Punkten, die noch am Schluß der Beratungen im Haushalt umgesetzt werden mußten, gehörten die Ergebnisse der Kohlerunde. Hierbei konnte — das ist zu begrüßen — nach langen und zähen Verhandlungen ein Kompromiß erzielt werden, der die öffentlichen Haushalte allerdings weit stärker belastet, als ursprünglich geplant.Die „Frankfurter Allgemeine " hat dem Bergbau in der vergangenen Woche einen Leitartikel gewidmet
mit der Überschrift: „Kostgänger der Nation".
Lieber Kollege Weng, dieser Ausdruck ist sicherlich leicht polemisch, aber wenn — das muß man sich vor Augen halten; hierin stimme ich mit Ihnen überein, wie wir ja in fast allen Punkten übereinstimmen — jede Tonne Steinkohle, die in einer deutschen Zeche gefördert wird, mit knapp 160 DM bezuschußt werden muß, damit sie abgesetzt werden kann, dann sollte, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Saar und vom Ruhrgebiet, zumindest die Frage erlaubt sein, wann die Grenze des Vertretbaren denn nun erreicht ist.
Allein für die Kokskohlebeihilfe werden trotz Reduzierung der Förderkapazitäten in den nächsten drei Jahren rund 6,4 Milliarden DM an Bundesmitteln benötigt, um die Differenz zum Weltmarktpreis ausgleichen zu können. Hinzu kommt noch der Landesanteil.Der Gesamtplafond wird mithin etwa 9 Milliarden DM betragen.
— Sehr richtig, Herr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Glos, und ich bezweifle natürlich, daß sie das je in ihrem arbeitsreichen Leben erreichen wird.
Deshalb — das wollte ich schon noch mit anfügen — ist noch die Frage der Finanzierung der Verstromungsregelung für die Zeit nach 1995 offen,
wenn der sogenannte Kohlepfenning ausläuft.
Der Kollege Wieczorek hat im Ausschuß die Frage aufgeworfen: Wer hat denn je danach gefragt? — Ich will ihm natürlich die Antwort geben: Wenn besagte Witwe wegen dieses sogenannten — so muß ich ja sagen — Kohlepfennigs, der ja nicht nur einen Pfennig, sondern schon einige Mark ausmacht, mit monatlich 20 DM bis 30 DM zusätzlich belastet wird, dann ist das mit Sicherheit eine Belastung. Daß Sie deshalb keine Fragen stellt oder nicht — wie manch andere das tun — spektakulär ihre Stimme erhebt, liegt vielleicht daran, daß sie heutzutage einfach nicht mehr in der Lage ist — es soll ja auch schon einen Bundeskanzler gegeben haben, der dazu nicht in der Lage war — , die Stromrechnung zu lesen.
— Gut, dann war es die Wasserrechnung. Ich dachte, es sei die Stromrechnung gewesen. Aber das ist ja ähnlich gelagert.
Ich will nicht ausschließen, daß wir nach 1995, wenn, wie gesagt, dieser Kohlepfennig ausläuft, weitere Belastungen im Bundeshaushalt werden verkraften müssen. Ich hätte es deshalb wirklich begrüßt, wenn ein stärkerer Abbau der Förderkapazitäten hätte durchgesetzt werden können.Angesichts der Tatsache, daß in den neuen Bundesländern wohl noch mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gerechnet werden muß, insbesondere dann, wenn die Lohn- und Gehaltsforderungen, wie sie derzeit wieder auf dem Tisch liegen, in den neuen Bundesländern weiterhin in dieser Größenordnung vertreten werden und wenn versucht wird, diese Forderungen durchzusetzen, werden wir eine steigende Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern haben. Gerade angesichts dieser Tatsache muß ich zumindest den jüngeren Mitarbeitern im Bergbau schon die Frage stellen, ob sie sich tatsächlich beruflichen Umoder Neuorientierungen gänzlich verschließen wollen.Auch der Sachverständigenrat ist der Auffassung, daß die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern noch steigen wird und daß deshalb eine schnelle Lösung dieses Problems noch nicht zu erwarten ist. Die Voraussetzungen sind aber dank unserer
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5176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Kurt J. Rossmanithkonsequenten, wachstumsorientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik günstiger geworden.
Es ist Ziel dieser Politik, alles zu tun, damit sich die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den neuen Bundesländern rasch verbessert. Denn der Versuch, an alten und unrentablen Arbeitsplätzen festzuhalten, mag zwar den Menschen im Moment weniger Härten zumuten, er verbaut aber mit Sicherheit den Weg in eine dauerhafte, bessere und sicherere Zukunft.Unsere Politik, die vor allem auf die Förderung von Investitionen zur Schaffung neuer wettbewerbsfähiger und zukunftsträchtiger Arbeitsplätze abzielt, wird deshalb vom Sachverständigenrat, den Sie, Herr Kollege Roth zitiert haben, nachdrücklich unterstützt.
Ich brauche nur auf die Erhöhung der Mittel für die Regionalförderung in den neuen Ländern hinzuweisen, die von uns im Haushaltsausschuß beschlossen worden ist; ein sicherlich richtiger und notwendiger Schritt. Aber auch hier gilt das, Herr Bundeswirtschaftsminister, was ich eingangs, an anderer Stelle, gesagt habe: Auch hier bitte in Zukunft ein anderes Verfahren, ein rechtzeitiges Verfahren und nicht ein Nachschieben von Forderungen im allerletzten Moment, damit es nicht einfach heißt: Wenn ihr jetzt nicht schlichtweg ja sagt, seit ihr diejenigen im Haushaltsausschuß, die die Zukunft, auch die wirtschaftliche, in den neuen Bundesländern verhindern.
— Ich bedanke mich, Herr Kollege Hinsken, ganz ausdrücklich dafür. Wir müssen von diesen AB-Maßnahmen wegkommen; denn die frühere DDR war eine einzige Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme. Wir müssen dem entgegensetzen eine freie — —
— Der Herr Blüm weiß es ja auch. Die Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen laufen aus, lieber Herr Kollege Grünbeck; das wissen wir. Wir sind uns einig, daß das nur eine Übergangslösung sein kann, die auslaufen muß, weil wir eine freie und Soziale Marktwirtschaft haben und im Osten sehr rasch den Weg dorthin gehen wollen. Diese AB-Maßnahmen können im Moment nur eine Abfederung sein.
Das Eigenkapitalhilfeprogramm — 678 Millionen DM nur für die neuen Bundesländer — dient ja auch dazu, diesen Wachstumsprozeß zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Lassen Sie mich das bitte sagen: Es ist uns schwergefallen, dieses Eigenkapitalhilfeprogramm für die alten Bundesländer im Moment nicht mehr fortführen zu können, weil wir sämtliche uns verfügbaren Mittel gerade unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern zur Verfügung stellen müssen.Ich möchte aber noch eins in aller Deutlichkeit sagen: Dieser Verzicht der alten Bundesländer — ich betone ausdrücklich: Verzicht — darf nicht heißen,daß dieses Programm für die alten Bundesländer auf Dauer gestorben ist. Es darf nur ein Ruhen sein. Wenn erforderlich, muß auch hier das Eigenkapitalhilfeprogramm wieder Platz greifen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zur vorgesehenen Errichtung eines neuen Bundesausfuhramtes sagen, für das wir jetzt — natürlich unter dem Vorbehalt der Verabschiedung eines entsprechenden Errichtungsgesetzes — die haushaltsmäßigen Voraussetzungen geschaffen haben. Ich bestreite nicht die Notwendigkeit einer effizienten Exportkontrolle, insbesondere damit gefährliche Technologien nicht in Länder der Dritten Welt exportiert werden. Dieses berechtigte Anliegen darf aber nicht dazu führen, daß wir uns in der Bundesrepublik Deutschland von einem Exportweltmeister hinorientieren zu einem Exportverhinderungsweltmeister.Ich möchte wirklich die Problematik der sogenannten — es wird ja alles in diesem schönen neudeutsch ausgedrückt — Dual-use-Produkte ansprechen. Deren Ausfuhr wird in anderen westlichen Industrienationen wesentlich geringer kontrolliert. Das führt zu Wettbewerbsnachteilen in der deutschen Wirtschaft. Ich darf Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, deshalb auffordern, alles zu tun, damit auch hier unter den Industrienationen und den Exportnationen eine Gleichheit der Exportbedingungen geschaffen wird.
Aber jetzt bitte zum Schluß, den letzten Satz!
Selbstverständlich, Frau Präsidentin. Ich bin bereits bei meinem vorletzten Satz.
Nein, Sie sind bei Ihrem letzten Satz, weil Sie schon eine Minute überzogen haben.
Ja. Wir haben aber innerhalb der CDU/CSU-Fraktion einige Zeit übrig.
Das muß Ihr Geschäftsführer klären!
Mit dem habe ich das abgesprochen. Deshalb darf ich zwei Minuten überziehen.Ich möchte hier die H-Liste mit ansprechen. Herr Bundesminister, diese Liste darf wirklich nur auf den Kern der sensiblen Länder begrenzt werden, in die wir dann nicht exportieren bzw. diese Produkte nicht exportieren dürfen. In diesem Sinne werden wir das Bundesausfuhramt und die Stellenbesetzung dort auch noch einmal sorgfältig prüfen.Zum Schluß möchte ich allen Berichterstatterkollegen und den Mitarbeitern im Wirtschaftsministerium, im Finanzministerium und im Bundesrechnungshof herzlich danken, ich darf Ihnen, Herr Bundesminister Möllemann danken, und ich möchte Ihrem Haushaltsstaatssekretär Erich Riedl danken.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5177
Kurt J. RossmanithIch bitte das Hohe Haus, diese seriösen und sehr soliden Einzelplan des Bundesministeriums für Wirtschaft zuzustimmen.
Nun hat der Kollege Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanzler hat gestern hier bei der Behandlung des Themas Maastricht auch angekündigt, daß in Maastricht auch die dritte Stufe der Währungsunion schon endgültig festgelegt werden müsse. Auf meinen Zuruf hin hat er hinzugefügt, daß in Maastricht auch das Wie für den Übergang zur europäischen Währung festgeschrieben werden müsse. Das ist völlig richtig.Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen allerdings erklären lassen, es seien in diesem Zusammenhang nur noch ein paar Fragen offen. Ich sage Ihnen, es sind essentielle Fragen offen. Ich hoffe, die Bundesregierung spielt das nicht herunter, sondern sie nimmt das ernst; denn die Koalitionsfraktionen haben ausdrücklich gesagt: Die Bedingungen müssen erfüllt sein, wenn wir ratifizieren sollen.Die wichtigste Aufgaben der Wirtschaftspolitik ist es, dafür Sorge zu tragen, daß die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bewahrt, ja gesteigert wird. Herr Rossmanith hat das beliebte Wort vom Exportweltmeister gebraucht. Sind wir das noch, meine sehr verehrten Damen und Herren? — Wir schauen uns die Zahlen an: 35 % unseres Bruttosozialprodukts exportieren wir, aber 77 % davon gehen in die Länder der Europäischen Gemeinschaft. Bei Einführung einer europäischen Währung ist das Binnenhandel. Auf den Weltmärkten draußen sind wir keineswegs mehr so vertreten, wie wir es nach meiner Meinung eigentlich sein sollten.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft im Westen sieht auf eine neunjährige Aufschwungphase zurück, deren Kennzeichen nicht nur monetäre Stabilität und finanzpolitische Solidität waren, sondern auch eine große wirtschaftliche Dynamik, die immer neue Beschäftigungsrekorde gebracht hat.
Diese Zeit hat unter Beweis gestellt, daß sich eine Politik der wirtschaftlichen Neuorientierung in hohem Maße auszahlt. Wir haben diesen Pfad verlassen.In der Finanzpolitik hat die Einigung Deutschlands enorme finanzielle Anstrengungen erforderlich gemacht, an denen es nichts zu kritisieren gibt. Ich unterstreiche das dreimal. Aber auf Dauer entfalten die finanzpolitischen Entwicklungen ihre ökonomische Wirkung unabhängig von den Ereignissen, die sie bewirkt haben. Wechselkurse und Zinsen reagieren empfindlich, wenn der Eindruck entsteht, daß die Finanzpolitik die Dinge nicht im Griff haben könnte. Ich spreche ausdrücklich im Konjunktiv. Von da gehennegative Rückwirkungen auf Konjunktur, Preise und Beschäftigung aus. Das ist der Grund, warum die FDP im Sommer dieses Jahres einen Kurs der finanzpolitischen Vertrauensbildung angemahnt hat.Zur Zeit sitzen der Bundeskanzler und der italienische Ministerpräsident im Bundeskanzleramt zusammen. Das sind die Vertreter zweier Regierungen, die die Konvergenzanforderungen für die dritte Stufe der europäischen Währungsunion zur Zeit beide nicht erfüllen. Das werden wir wieder schaffen; aber so sieht es heute aus.Die Lohnpolitik hat schon im vergangenen Jahr den Pfad der Stabilität verlassen. Die Folge war, daß sich die Lohnstückkosten beschleunigt erhöhten, in diesem Jahr um 5 % nach nur 1 % im Jahre 1989 und 2,5 % schon 1990. Ergebnis dieser Entwicklung: Die Inflation hat wieder ihr Haupt erhoben. In diesem Sommer stiegen die Preise mit 4,5 % im Vorjahresvergleich so stark wie zuletzt vor neun Jahren. Ich muß erklären, warum ich 4,5 % sage und der Finanzminister 3,5 % sagt. Das ist der Basiseffekt gegenüber dem vorigen Jahr. Es ist eine reine statistische Verzerrung. In Wahrheit liegt der Wert zwischen 4,5 und 5 %.Wenn sich Kosten und Preisauftrieb in dieser Weise fortsetzen, dann ist der Konflikt mit der Geldpolitik unausweichlich. Da wir die Alternative Inflation alle miteinander nicht wollen, bedeutet das dann Stabilisierungskrise. Andere Länder haben diese Erfahrungen gemacht. Wir brauchen sie nicht auch noch zu machen.Die künftige Gestaltung der Finanzpolitik und der Lohnpolitik wird maßgeblich darüber entscheiden, wie es bei uns weitergeht. Werden die Finanzen nicht konsolidiert, weiten wir weiter den Staatssektor aus und finden die Tarifpartner nicht wieder zu maßvollen Abschlüssen, wird die Belastbarkeit der Wirtschaft getestet, dann sind Stagnation und Rezession vorgezeichnet.
Der andere Weg, der Weg der Stabilität, der finanzpolitischen Solidität, der lohnpolitischen Verantwortung und der Stärkung der marktwirtschaftlichen Ordnung, besitzt dagegen eine ausgesprochen günstige Perspektive für Wachstum, Beschäftigung und besseren Umweltschutz.
Der Bund hat mit seinem Haushalt 1992, den wir hier heute beraten, und mit der mittelfristigen Finanzplanung ein positives Signal gesetzt. Aber das reicht nicht. Da sind die zahlreichen Nebenhaushalte vom Fonds Deutsche Einheit bis zur Bundesbahn. Da sind ferner die Länder und Gemeinden, die noch nicht den Weg zur notwendigen Haushaltsdisziplin gefunden haben. Wenn selbst der Bund der Steuerzahler sagt, daß sich die alten Bundesländer ihrer Verantwortung entzogen haben, müßten wirklich die Glocken klingen.
Von entscheidender Bedeutung, meine Damen und Herren, bleibt der weitere Subventionsabbau. Subventionen sind wie Unkraut im Garten: Sie wachsen
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5178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Otto Graf Lambsdorffimmer wieder von neuem, und es muß permanent gejätet werden.
Ich will Bundesminister Möllemann ausdrücklich für seinen Einsatz beim Abbau der Subventionen danken.
— Nein!Ich weiß, daß es da viel Kritik gegeben hat; es wird auch immer wieder neue geben. Wenn die alten Subventionen nicht wenigstens zum Teil beseitigt wären, wären auch diese noch vorhanden.
So sieht die Wirklichkeit doch aus. Es ist gut, daß einer an diese Aufgabe herangeht. Daß man sich dabei niemals eine Goldmedaille verdienen kann, das weiß ich aus sieben Jahren Erfahrung als Bundeswirtschaftsminister selber.Mit dem Kohlekompromiß hat er einen notwendigen und — wie wir alle wissen — politisch schwierigen Durchbruch erzielt.So wichtig wie der Abbau der Subventionen ist die Vermeidung immer höherer Steuern und Abgaben, seien es nun Sozialabgaben, Umweltabgaben oder Abgaben für Süßigkeiten.Die Mahnungen, die die Bundesbank in diesen Tagen vor immer weiter steigenden Lohnzusatzkosten ausgesprochen hat, müssen ernst genommen werden. Wir steuern bei den Lohnzusatzkosten jetzt auf eine Größenordnung von über 35 % vom Bruttoeinkommen eines Arbeitnehmers zu. Dazu kommen dann noch die Steuern. Irgendwann werden uns die Leute sagen: Die Belastungsgrenze ist erreicht; wir mögen das nicht mehr. — Ohne Schaden für Wettbewerbsfähigkeit und für Wachstum sowie Beschäftigung kann man diesen Weg nicht weitergehen.
Das Wirtschaftssystem einerseits und das Abgabe- und Sozialsystem andererseits müssen im Gleichgewicht bleiben. Sind wir dabei, das Gleichgewicht zu verlieren? Zu welchen Konsequenzen so etwas führt, haben wir Ende der 70er Jahre — viele von uns waren damals in diesem Hause schon dabei — gesehen. Nicht mehr Steuern und Abgaben, sondern weniger Steuern, insbesondere für die produzierende Wirtschaft, sind gefordert.
Wir müssen im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt alles dafür tun, die Attraktivität des Standortes Bundesrepublik zu verbessern. In fast allen unseren westlichen Partnerstaaten hat man sich auf den Binnenmarkt eingestellt und die Steuern für Unternehmen gesenkt. In Finnland haben Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam die Nominaleinkommen um 7 % gesenkt. Glücklicherweise brauchen wir das nicht; aber auch so etwas gibt es.Wir können bei uns nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Wir sehen schon heute, daß viele Direktinvestitionen an unserem Lande vorbeigehen. Esist deshalb von entscheidender Bedeutung, daß die Unternehmensteuerreform nicht aus dem Blick gerät.
Die FDP hält es für verfehlt, wenn die erste Stufe, die mit dem Steueränderungsgesetz 1992 ansteht, aus diesem Gesetz herausgebrochen wird.
Das ist kein Umverteilungsprogramm, sondern das ist ein Beschäftigungsprogramm. Es wird nicht durch die Mehrwertsteuererhöhung finanziert — es ist blanke Demagogie, das zu behaupten — , sondern dadurch, daß steuerliche Vergünstigungen im Unternehmensbereich gestrichen werden. Die Unternehmensteuerreform ist in sich aufkommensneutral; das war von Anfang an so geplant.In der Lohnpolitik ist Umkehr gefordert. Die zentrale Leitlinie für Lohnabschlüsse im Westen der Bundesrepublik muß wieder die Produktivitätsentwicklung werden. Deshalb unterstützt die FDP den Appell des Bundeskanzlers und des Bundeswirtschaftsministers zu maßvollen Lohnabschlüssen.
Lohnpolitische Vernunft — meine Damen und Herren, das haben wir doch nun erlebt — ist ja nicht zum Schaden der Arbeitnehmer, sondern im Gegenteil zu deren Nutzen. In den 80er Jahren haben wir gesehen, daß Zurückhaltung auf diesem Gebiet die Beschäftigung und die Realeinkommen in einem Maße gesteigert hat, wie wir es seit den 50er Jahren nicht mehr hatten.In den neuen Bundesländern — das füge ich hinzu — paßt das alleinige Maß der Produktivität allerdings nicht. In der Umbruchphase ist Differenzierung angesagt. Betriebe, die in der Anpassung besser vorangekommen sind, können auch besser zahlen. Anderen ermöglicht die Zurückhaltung das Überleben. Deshalb ist es in den neuen Bundesländern geboten, Öffnungsklauseln vorzusehen, Betriebsvereinbarungen zu ermöglichen oder ertragsabhängige Lohnkomponenten zu vereinbaren.Der Wechsel von der staatlich gelenkten Planwirtschaft zur wettbewerblich organisierten Marktwirtschaft beansprucht mehr Zeit, als wir es uns vorgestellt hatten. In dieser Situation besteht die Gefahr, daß vom Staat mehr erwartet wird, als er leisten kann. Diese Zeit läßt sich nicht dadurch verkürzen, daß der Staat lenkend und gestaltend und einzelfallbezogen in den Wirtschaftsablauf eingreift. Vielmehr ist zu befürchten, daß auf diese Weise falsche Strukturen geschaffen oder alte, auf Dauer nicht wettbewerbsfähige Strukturen erhalten werden.
Deshalb macht es keinen Sinn, Herr Roth, der Treuhandanstalt immer neue und engere Vorgaben auf erlegen zu wollen.
Ich bin gerne bereit, mit Ihnen eine industriepolitischeDiskussion zu führen. Aber Industriepolitik durch die
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Dr. Otto Graf LambsdorffHintertür wird es mit den Freien Demokraten nicht geben.
Was Ihre Forderung nach dem Treuhandausschuß anlangt, möchte ich sagen: Ich habe bisher nicht gehört, daß die Kollegen des Haushaltsausschusses gesagt hätten, sie würden mit ihrer Arbeit nicht fertig. Wenn sie das tun, dann können wir darüber reden.
Im Augenblick scheint mir das ein deutliches Mißtrauensvotum gegen die Kollegen des Haushaltsausschusses zu sein, dem ich mich jedenfalls nicht anschließen kann.
Meine Damen und Herren, die positive Perspektive in den fünf neuen Bundesländern — sie ist ja vorhanden — wird nur dann Wirklichkeit, wenn ein klarer wachstumsorientierter marktwirtschaftlicher Kurs verfolgt wird. Dazu gehören die Investitionsbedingungen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost, die Hilfe beim Ausbau der Verwaltungen, der Wiederaufbau der Infrastruktur. Dazu gehört auch die schwierige Klärung der Eigentumsfragen. 40 Jahre real existent gewesener Sozialismus und die nationalsozialistischen Enteignungen jüdischer Mitbürger haben die Eigentumsordnung schwer beschädigt. Sie haben, wie der polnische Botschafter in Frankreich das kürzlich formulierte, die römische Zivilisation in diesen Länder zerstört. In der Tat ist ja der Rechtsbegriff Eigentum 2 000 Jahre alt.Ob nun Entschädigung vor Rückgabe oder Rückgabe vor Entschädigung, der Formelstreit hilft überhaupt nicht weiter.
Er hilft besonders dann nicht weiter, wenn es sich um Vermögen jüdischer Mitbürger handelt.Ich kann die Aufregung, die gestern bei meiner Zwischenfrage an Herrn Thierse in Ihrer Fraktion entstand, überhaupt nicht verstehen. Das ist ein Thema. Ich bin in der nächsten Woche mit den Vorsitzenden von vier großen jüdischen Organisationen in New York zu einer Diskussion über dieses Thema verabredet. Herr Waltemathe, der hier vorgetragen hat, nach 1945 hätte für die Restitution gegolten: „Entschädigung vor Rückgabe", hat uns damit eine falsche Information gegeben. Ich nehme an, er hat sich geirrt. Ich habe mir die Restitutionsgesetze angesehen: Vorrangig war die Rückgabe, sogar bei gutgläubigem Erwerb.
— Ich sage ja nur, daß er eine falsche Angabe gemacht hat. Ich sage aber auch: Das ist in den internationalen Organisationen ein Thema von hoher politischer Relevanz für die Bundesrepublik Deutschland. Es täusche sich keiner darüber hinweg, daß das Problem einfach auf diese Art und Weise zu lösen ist: „Wir nehmen diretwas endgültig weg und schicken dir dafür 3 000 Mark."Wir können wirtschaftspolitisch nicht darauf verzichten, den Investitionen Vorfahrt vor der Wiederherstellung der alten Eigentumsverhältnisse zu verschaffen. Wir können gesellschaftspolitisch die in der alten DDR gewährten Nutzungsrechte nicht einfach beiseite wischen. Wir können ordnungspolitisch auf den Schutz des Privateigentums in der Sozialen Marktwirtschaft ebensowenig verzichten.Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber wird dieses Problemknäuel niemals so lösen können, daß es jedem Einzelfall gerecht werden könnte. Das haben Kommunisten in 40 Jahren angerichtet. Ich habe hier früher schon einmal gesagt: Wenn Deutsche 40 Jahre lang Kommunismus machen, machen sie ihn verdammt gründlich.Zur Lösung dieses Problems ist eine in Deutschland nicht gerade weitverbreitete Tugend, nämlich Vergleichsbereitschaft, gefragt. Wir sollten vielleicht darüber nachdenken, wie wir die Rahmenbedingungen für eine Erhöhung der Vergleichsbereitschaft verbessern könnten, wie wir diese fördern könnten, damit die unbestreitbaren Eigentumshindernisse in der früheren DDR schneller überwunden werden können.Von Ihrem neuen Fraktionsvorsitzenden, meine Damen und Herren von der SPD, von Herrn Klose, stammt der Ausspruch, der Staat sei der Reparaturbetrieb des Kapitalismus. Es ist zwar ein paar Jahre her, aber so war es ja wohl. Das war schon damals falsch. Heute wissen wir alle: Die Soziale Marktwirtschaft ist der Reparaturbetrieb des real existent gewesenen Sozialismus.
Wir haben gerade jetzt allen Anlaß, unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung offensiv zu vertreten. Will die CDU-Grundwertekommission wirklich den Begriff „Soziale Marktwirtschaft" aufgeben? Ich kann das kaum glauben. Aber wenn, dann überlassen Sie das nur den Liberalen; wir haben da keine Probleme, Herr Wissmann.
— Sie nehmen ihn auf. Na ja, aber bei Ihnen weiß ich nicht genau, was hinterher dabei herauskommt.
— Herr Roth, Sie übernehmen immer nur das Etikett und tun irgend etwas anderes in die Packung.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Präsidentin, gerne.
Herr Kollege Graf Lambsdorff, da ich Mitglied der Grundwertekommission der CDU bin, wäre ich dankbar, wenn Sie zur Kenntnis nähmen, daß zu keinem Zeitpunkt je die Überlegung bestanden hat, das Gütesiegel christlich
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5180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Matthias Wissmanndemokratischer Wirtschaftspolitik, die Soziale Marktwirtschaft, in Frage zu stellen.
Das Schmalz stört mich nicht; ich höre das gerne. Ich bin ja zufrieden, wenn es so bleibt. Wenn diese Erklärung durch meine Bemerkung provoziert worden ist, hat sie ihren Zweck erfüllt. Ich danke Ihnen, Herr Wissmann.
Wir werden das gemeinsam tun; wir haben da miteinander keine Probleme.
Ich sage ausdrücklich: Die Freie Demokratische Partei und unsere Bundestagsfraktion haben Vertrauen zur Politik des Bundeswirtschaftsministers und zum Bundeswirtschaftsminister selber. Gucken Sie mich nicht so fragend an, Herr Jens.
— Ja, ich weiß schon. Manchmal — das will ich ja ganz offen sagen — gucken wir uns auch so an, sehen etwas ängstlich zu und fragen uns, ob er nun auf das allerdünnste Eis geht.
Aber es ist uns lieber, wir haben einen Wirtschaftsminister, der aufs Eis geht, als einen, der sich am Uferrand gemächlich auf seinem Hosenboden niederläßt.
Wir stimmen dem Haushalt des Bundeswirtschaftsministers zu.
Nun hat der Kollege Uwe Jens das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war eben die Rede des Oberwirtschaftsministers; die Rede des Wirtschaftsministers kommt am Ende. Er wollte nämlich gerne, daß keiner mehr nach ihm sprechen kann.
Aber ich werde es nicht zulassen, daß wir uns mit der Politik des Wirtschaftsministers nicht auseinandersetzen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir das tun; denn das ist die Aufgabe der Opposition. Wir müssen schon ein paar kritische Anmerkungen machen.
Herr Wirtschaftsminister Möllemann ist ja wirklich sehr eifrig bemüht, seinen Bekanntheitsgrad zu steigern. Aber ich habe das Gefühl, zwischen Bekanntheitsgrad und öffentlichem Ansehen gibt es eine erhebliche, negative Korrelation.
Wir machen ja als Opposition gar nicht so furchtbar viel; wir strengen uns gar nicht so gewaltig an.
Aber trotzdem ist das Ansehen des Wirtschaftsministers so miserabel. Woran liegt es wohl?
Zu den Subventionen will ich wenigstens folgendes sagen: Graf Lambsdorff, in der „Wirtschaftswoche" wurde von der Lachnummer gesprochen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat Ihr Kollege Weng selbst gesagt, daß das Ziel, das sich der Herr Wirtschaftsminister gesetzt hat, nicht erreicht worden ist. Wir warten eigentlich immer noch darauf, daß er seinen Hut nimmt; das hat er ja versprochen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn er ihn nähme.
Wir haben im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages den Haushalt des Wirtschaftsministeriums sehr sorgfältig beraten. Ich muß aus meiner Sicht drei scharfe Kritikpunkte dazu vortragen. Es gibt falsche Weichenstellungen, die wir korrigieren müssen. Sobald wir Sozialdemokraten an die Regierung kommen, werden wir sie korrigieren.
Zunächst einmal hat er die Hilfen für die Verbraucherberatungsstellen gestrichen. Darüber kann man streiten. Tatsache ist aber ganz zweifellos, daß die schwächste Stelle der Wirtschaft der Verbraucher ist und daß es zur marktwirtschaftlichen Ordnung gehört, daß wir die Position des Verbrauchers verbessern. Deshalb ist es einfach falsch, die Hilfen für die Verbraucherinformation, für die Verbraucherbildung und die Verbraucheraufklärung zu streichen. Im Gegenteil: Wir müßten auf diesem Felde eigentlich mehr tun.
Das, was im Bereich der Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen geschehen ist — Herr Rossmanith hat es auch angesprochen — , ist unerträglich. Da wird in den alten Bundesländern die Ansparförderung, die wir gerade eingeführt haben, wieder gestrichen. Lohnkostenzuschüsse für Arbeiten auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung werden gestrichen. Es gibt in Zukunft nicht mehr das Eigenkapitalhilfeprogramm. Machen Sie sich doch bitte nichts vor: Wenn es erst einmal beseitigt ist, ist es furchtbar schwer, es für die alten Bundesländer wieder einzuführen.
Alles dies halten wir für falsch, weil wir die kleinen und mittleren Unternehmen brauchen, weil wir sie fördern wollen, weil sie das belebende Element einer marktwirtschaftlichen Ordnung sind. Deshalb sollten Sie diese Entscheidungen korrigieren, sobald das möglich ist.
Kollege Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Wenn es nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5181
Herr Kollege Jens, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir, was die Verbraucherberatung anlangt, bereits im vergangenen Jahr den Beschluß gefaßt haben, die Mittel in diesem Jahr auf 80 % und im nächsten Jahr auf 60 % zu kürzen und dieses Programm später auslaufen zu lassen, es aber in die Verantwortung der Länder zu übertragen, wohin es verfassungsrechtlich gehört?
Sind Sie des weiteren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm in den alten Bundesländern zunächst einmal nicht mehr fortgeführt werden muß, weil es insofern erfolgreich war, als im vergangenen Jahr im Gegensatz zu 1980, als nur etwa 170 000 Betriebe dieses Programm in Anspruch genommen haben, 390 000 Betriebe dieses Programm in Anspruch genommen haben?
Ich nehme natürlich gern alles zur Kenntnis. Ob es richtig ist, was Sie da sagen, ist eine zweite Frage. Zu den Verbraucherberatungsstellen gibt es zwar eine Aussage des Bundesrechnungshofs, aber diese ist mehr oder weniger bestellt. Es gibt von seriösen Verfassungsrechtlern die Aussage: Dieses ist eine Aufgabe des Bundes, und sie soll weiter erfüllt werden. Deshalb kritisieren wir hier, daß das gestrichen worden ist.
Es wäre schön, wenn wir im Rahmen der nächstjährigen Beratungen das Eigenkapitalhilfeprogramm wieder einführen könnten. Sie votieren ja auch dafür. Die Summe aus SPD- und CDU-Stimmen würde ausreichen, das zu realisieren.
Der dritte Punkt, bei dem ich Kritik üben muß, betrifft den Streit um die Kohle. Monatelang hat der Bundeswirtschaftsminister dafür gesorgt, daß in den Kohlerevieren Unruhe herrscht. Das, was eben von Ihnen gesagt wurde, grenzt, wie ich glaube, schon an eine Beleidigung der Bergleute, die — wie Sie und wie jeder andere — das Recht haben, für ihren Arbeitsplatz zu streiten. So furchtbar schön ist die Tätigkeit der Bergleute wirklich nicht. Ich halte es nach wie vor volkswirtschaftlich für sinnvoll, daß wir auf einen Sockel an heimischen Kohiereserven auch in Zukunft zurückgreifen können. Das ist doch das Ziel der Kohlepolitik.
Der Wirtschaftsminister hat sich da wieder einmal lautstark nach vorn gemogelt.
Jetzt redet er über ein energiepolitisches Gesamtkonzept. Was ist das für eine Politik? Ich finde, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Zunächst muß man ein Konzept erstellen. Man muß festlegen, welche Energieträger in welcher Höhe zum Zuge kommen sollen. Das Ergebnis besagt, wieviel Kohle wir in Zukunft noch brauchen. Das, was diesbezüglich vom Wirtschaftsminister praktiziert worden ist, ist völlig falsch, meine Damen und Herren.
Ich glaube, es gibt auch Mängel im Hinblick auf die langfristige Perspektive. Früher war das Wirtschaftsministerium einmal ein Grundsatzministerium. Jetzt ist das Wirtschaftsministerium zwar häufiger in den Schlagzeilen — das gebe ich gerne zu — , aber über Grundsatzprobleme, über langfristige Probleme wird leider überhaupt nicht mehr nachgedacht. Es geht kurzfristig nur um Gschaftlhuberei.
Was wollen Sie eigentlich machen, Herr Wirtschaftsminister, wenn das eintritt, was wir befürchten, daß die Konjunktur weltweit absinkt, angesichts der gewaltigen Verschuldung und angesichts der Tatsache, daß die Zinsen steigen, und zwar von 42 Milliarden DM, die wir jährlich ausgeben, auf 58 Milliarden DM im Jahre 1995, wodurch wir jeden Handlungsspielraum für konjunkturelle Eingriffe mittlerweile verspielt haben?
Auf diesem Felde liegt vieles im argen. Es geht darum, diese Situation zu verändern. Wir sind mittlerweile Spitzenreiter bei der Preissteigerung. Die Arbeitslosenquote ist enorm hoch. Die Position, die wir früher einmal eingenommen haben — wir waren früher in bezug auf diese beiden wirtschftlichen Kennziffern führend — , haben wir leider verloren.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Arbeitslosigkeit auch in den neuen Bundesländern in Zukunft sprunghaft ansteigen wird. Ich finde, die Regierung sollte sich etwas sorgfältiger ausdrücken. Ich gebe zu, daß in bestimmten Wirtschaftszweigen ein Anstieg zu verzeichnen ist, was Investitionen angeht — in einigen Bereichen mehr, in anderen weniger —, aber ich glaube, daß es noch eine lange Zeit dauern wird, bis wir die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern herabgedrückt haben. Ich weiß, daß die Menschen drüben es überhaupt nicht mehr verstehen können, wenn ihnen die Bundesregierung, wenn ihnen überhaupt eine Regierung etwas einreden will, was einfach nicht wahr ist. Sie sind jahrelang, jahrzehntelang von der Regierung belogen worden. Dies muß ein Ende haben. Dies darf diese Bundesregierung auch nicht praktizieren.
Die ständigen Eingriffe in die Tarifautonomie sind von meinem Kollegen Wolfgang Roth kritisiert worden. Ich meine, es ist auf lange Sicht wichtig, daß wir dafür sorgen, daß das Sparen wieder eine Tugend wird.
Es wäre sinnvoll, wenn vor allem die FDP darüber nachdenken würde, ob wir nicht gerade jetzt eine Initiative zur Förderung des Produktivvermögens in Arbeitnehmerhand ergreifen müssen.
Kollege Jens, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Grünbeck?
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5182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Ich möchte diesen Gedanken erst noch zu Ende führen. — Dabei müssen wir selbstverständlich etwas tun, um das Risiko der Arbeitnehmer abzusichern. Wir bräuchten auch einen staatlichen Rahmen für eine Beteiligungsgesellschaft. Auf diesem Felde blockt allerdings die FDP ab, und das finde ich nicht schön.
Jetzt haben Sie das Wort, Kollege Grünbeck.
Lieber Herr Kollege Jens, da Sie zum Sparen aufgefordert haben, frage ich Sie, wie Sie die Politik der SPD-Fraktion im Wirtschaftsausschuß damit vereinbaren, daß sie in nahezu jeder Sitzung ausgabenwirksame Anträge einbringt, ohne die Summe der Ausgaben überhaupt zu errechnen, schon gar nicht davon zu reden, daß überhaupt keine Dekkungsvorschläge gemacht werden.
Wir haben in unserem Antrag, der noch zur Abstimmung gestellt wird, eine Fülle von Kürzungsvorschlägen gemacht. Wir schlagen nicht nur Kürzungen im Bereich des Einzelplans 09, sondern darüber hinaus auch in anderen Haushalten vor. Dort sollen erhebliche Summen gestrichen werden. Machen Sie doch bitte endlich mit, und reden Sie nicht immer davon, daß die Ausgaben für den Jäger 90 aus dem Haushalt verschwinden. Dann hätten wir doch schon einen Ansatz.
Der Herr Wirtschaftsminister will Ökonomie und Ökologie ja gerne miteinander versöhnen, wie er so schön sagt. Ich finde das auch richtig. Wir Sozialdemokraten haben Anträge eingebracht — ich gebe zu, das wird auch wieder ein bißchen Geld kosten — , die darauf abzielen, das Energiesparen zu fördern. Unser Ziel ist die bessere Nutzung der Primärenergie. Hätten wir das doch schon vor einigen Jahren — zu dieser Zeit war Herr Möllemann noch nicht im Amt; das gebe ich gerne zu — getan! Dann wären wir im Hinblick auf die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie und insbesondere in bezug auf die Vermeidung von CO2 schon einen großen Schritt weiter.
Ihre Meinung, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß globale Probleme globale Lösungen erfordern, können wir nicht teilen. Wer so argumentiert, verschiebt die Lösung der ökologischen Probleme, wie ich meine, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei besonders wichtigen Problemen in ökologischer Hinsicht können wir nicht auf andere warten. Hier müssen wir sofort handeln, und zwar in der Erwartung, daß andere nachziehen.
Wir sind im übrigen davon überzeugt: Die Volkswirtschaft, die als erste die ökologischen Herausforderungen erkennt und sie aufgreift und sie einer Lösung näherbringt, hat gewaltige ökonomische Vorteile für die Zukunft.
Das Denken und Handeln unseres amtierenden Bundesministers für Wirtschaft reicht leider häufig nur bis zum nächsten Wahltermin. Das Wirtschaftsministerium ist kein Grundsatzministerium mehr, wie das in der Vergangenheit der Fall war.
Ich meine jedoch: Nur wenn wir vorausschauend die wirklichen Probleme der Zukunft erkennen und sie einer Lösung näherbringen, hat unsere Wirtschaft eine Chance. Die unverrückbaren Eckpfeiler dieser Wirtschaft sind für Sozialdemokraten klar. Die Wirtschaft der Zukunft muß freiheitlich, sozial und ökologisch sein.
Schönen Dank.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wenn ihr wüßtet, mit wie wenig Aufwand von Verstand die Welt regiert wird, so würdet ihr euch wundern" , so weit Papst Julius III.Nach dem bisherigen Verlauf der Haushaltsdebatte wundert auch mich nun nichts mehr. In den letzten Tagen ist zwar viel und ausdauernd über die Notwendigkeit und Gefahr der Verschuldung und der Subventionspolitik gestritten worden, den wesentlichen Punkt der verdeckten Subventionen hat aber niemand angesprochen. Hätte man nämlich der Wirtschaft der Bundesrepublik die bislang weitgehend unentgeltliche Beschädigung und Zerstörung unserer Biosphäre schon früher in Rechnung gestellt, wäre der Umweltminister nicht zu folgendem Ergebnis gekommen — ich zitiere — : „Der Wohlstand der westlichen Industrieländer entspricht damit einem Wohlstandsbetrug und einer Wohlstandslüge. " Natürlich sind mir gestern in der Debatte die Worte von Herrn Solms, daß wir uns ein bißchen zusammenreißen sollen, nicht entgangen; dies betrifft insbesondere die soeben erwähnten Worte. Aber ich muß den Umweltminister so zitieren, wie er das gesagt hat. Ich glaube, eine Sauerei sollte auch als solche benannt werden.Ich denke, es wird schnell klar, um welche Dimension es sich bei diesem Betrug handelt. Will man also die Subventionierung durch ökologischen Raubbau marktwirtschaftskonform aufheben, so müssen in den nächsten Jahren die Kosten der Umweltschäden beschleunigt in die Preise integriert werden. Das allein wird aber nicht ausreichen, wenn nicht gleichzeitig verkrustete Wirtschaftsstrukturen für einen drastischen Wandel zur ökologischen Marktwirtschaft geöffnet werden. Erst dann, glaube ich, darf sich eine Marktwirtschaft als sozial bezeichnen.Beim Abbau der ökologischen Subventionierung, bei der Internalisierung der ökologischen Kosten unserer Wirtschaftsweise, letztlich bei einem ökologischen Strukturwandel geht es um eine überlebenswichtige Weichenstellung für das nächste Jahrtausend. Manchmal könnte man den Eindruck haben, es geht
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Dr. Klaus-Dieter Feigenicht nur um Weichenstellung, sondern einfach bloß um die Richtungsänderung.
— Um die Züge geht es auch und um das, womit sie gefüllt sind.Dabei handelt es sich um eine so grundsätzliche Umorientierung, daß der Umwelt- und der Wirtschaftsminister diese entscheidende Aufgabe nur noch mit Unterstützung aller anderen Kollegen im Kabinett angehen können, wenn deren Lösung Erfolg zeigen soll. Aber von einer solchen Vernunftposition, glaube ich, sind der Umweltminister und auch der Wirtschaftsminister gegenwärtig noch sehr weit weg. Es sieht eher so aus, als ob die Bundesregierung und allen voran der Bundeswirtschaftsminister mutlos vor ihrer Verantwortung für die Zukunft zurückweichen.
— Das kenne ich schon. Das ist nicht neu, Herr Möllemann. Dummerstorf hat die klügsten Leute hervorgebracht. Sie sehen es ja.
— Ich habe natürlich nicht mich gemeint. Ich bin in Parchim geboren worden. Parchim — das ist eine wunderschöne Stadt.Es sieht eher so aus: Ihre bisherigen Maßnahmen zugunsten unserer natürlichen Lebensgrundlagen erschöpfen sich in einer Flut technokratischer Verordnungen, Gebote und Grenzwerte. Eine wirkliche Neuausrichtung hin zu einer ökologischen Wirtschaftsweise hat sie nicht bewirken können; vielleicht sollte sie das auch gar nicht.Meine Damen und Herren, noch während der 90er Jahre müssen einschneidende Veränderungen eingeleitet werden, wenn überhaupt noch zu rettende Umwelt übrig sein soll. Ohne eine wirkliche Effizienzrevolution unserer Wirtschaft wird das nicht gehen. Nur ökologisch intelligente Lösungen in Politik und Wirtschaft bieten eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft.Für einen solchen ökologischen Strukturwandel muß endlich eine innovative Politik den richtigen Rahmen setzen und ein glaubwürdiges ökologisches Leitbild entwerfen, damit sich die Menschen in der Wirtschaft, Produzenten wie Konsumenten, zunehmend umweltorientiert verhalten.Zu diesem Rahmen gehört neben einem neuen ökologischen Verkehrskonzept vor allem eine Neuorientierung der Energiepolitik des Bundes, die eine effiziente Bereitstellung und Verwendung von Energie wie auch die Nutzung regenerativer Energien vorantreibt. Wir brauchen endlich den Umbau der angebotsorientierten Energiewirtschaft zur nutzungsorientierten Sonnenenergiewirtschaft. Dafür muß endlich ein Konsens hergestellt werden.Um diese Neuorientierung zu leisten, ist heute ein umfassender Maßnahmenkatalog und ein konkreterAktionsplan zur Umsetzung Ihres eigenen Klimaschutzzieles notwendig, der zumindest folgende Elemente enthält: eine schrittweise Erhöhung der Mineralölsteuer und die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe, die Förderung der rationellen Energienutzung für Raumwärme im Neubau, eine wirksame Unterstützung der rationellen und wirtschaftlichen Nutzung von Elektrizität in Industrie und Haushalt, das überfällige Marktdurchdringungsprogramm für Kraft-Wärme-Kopplung, ein Markteinführungsprogramm für regenerative Energien. Der Stand der Forschung läßt es längst zu.Wir halten die Einführung einer Primärenergieabgabe einschließlich deren schrittweiser Erhöhung in den nächsten Jahren für unumgänglich. Das Abgabenaufkommen muß dann zweckgebunden in ein finanzielles Förderprogramm für den Klimaschutz einfließen.Es ist höchste Zeit, das Energiewirtschaftsgesetz zu novellieren, und zwar so, daß der Least-cost-planning-Ansatz Grundprinzip der Energiewirtschaft wird und sich die Ziele der EVUs in Richtung Energiedienstleistungsunternehmen wandeln.Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren, was findet man von diesen Elementarmaßnahmen im Spiegel des Haushalts wirklich? Rein gar nichts. Dabei würde gerade die Aufdeckung der Subventionierung des Umweltraubbaus dem Wirtschaftsminister die Chance geben, seine Rücktrittsankündigungen mit Kürzungen um 100 Milliarden DM zu verbinden.Gegenüber dem notwendigen Richtungswechsel in der Energiepolitik bleibt der Entwurf eines neuen energiepolitischen Konzepts des Wirtschaftsministers hinter der Realität weit zurück. Trotz des ehrenwerten selbstgesteckten Ziels der Bundesregierung, die CO2-Emissionen bis zum Jahre 2005 um 25 % bis 30 % zu reduzieren, ist bereits ein Jahr tatenlos verstrichen. Der zugehörige Kabinettsbeschluß stammt immerhin vom '7. November vergangenen Jahres. Das Bundeswirtschaftsministerium war bisher nicht in der Lage, ein diesen Anforderungen entsprechendes Energiekonzept zu erarbeiten. Offenbar ist sich die Bundesregierung aber nicht der ganzen Tragweite ihrer eigenen Zielsetzung bewußt. Oder soll vielleicht eine einzige von Herrn Möllemann in Auftrag gegebene Studie, die bei steigenden Energiepreisen und spürbaren Einsparungsmaßnahmen dennoch nur eine Verminderung der CO2-Emissionen um 11 % gegenüber dem Stichjahr 1987 prognostiziert, den Ausstieg aus dem Kabinettsbeschluß vorbereiten? Völlig im Gegensatz dazu stehen die Studien, die die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" in Auftrag gegeben hat. Diese waren Voraussetzung, um zu dem Kabinettsbeschluß zu kommen.Wer jedoch meint, durch Aus- und Neubau von Atomkraftwerken die Klimakatastrophe abwenden zu können, wird garantiert das Gegenteil erreichen. Wenn der Wirtschaftsminister weiterhin der Option Kernenergie und damit der Strategie Energiemix das Wort redet, zeigt er allzu deutlich, daß ihm die notwendige Einsicht in die internen direkten und indirekten Wirkzusammenhänge der Energieerzeugungs- und -verbrauchsstrukturen bis heute fremd geblieben sind. Bundesminister Möllemann hält of-
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5184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Klaus-Dieter Feigefenbar an einer sehr simplen Betrachtungsweise fest, die in unserer komplexen bewegten Welt längst fehl am Platz ist. Oberflächlich betrachtet scheinen Kernkraftwerke wirklich keine Treibhausgase zu emittieren. Aber — ich glaube, Herr Möllemann, hier haben Sie Ihre Berater im Stich gelassen — allein die Betrachtung des gesamten Brennstoffkreislaufs vom Uranbergbau über die Anreicherung und den Kraftwerksbau bis hin zur Entsorgung würden Ihren Blick auf die Tatsache lenken: Pro Kilowatt erzeugten Atomstroms wird ein Vielfaches an CO2 im Vergleich zu mit Erdgas befeuerten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen freigesetzt.
— Ja, genau, das können Sie nachrechnen.
Noch gravierender dürften die indirekten Auswirkungen von Kern- und anderen Großkraftwerken einschließlich der dazu passenden zentralistischen Organisationsstrukturen unserer großen Energieversorgungsmonopole auf das Klimaschutzziel sein. Der inhärente betriebswirtschaftliche Zwang zum exzessiven Stromabsatz auch infolge der hohen Investitionskosten bei gleichzeitig fixkostenintensiver Finanzstruktur fördert den Energieverbrauch. Er fördert ihn. Betreiber von Großkraftwerken torpedieren so den Ausbau der effizienteren dezentralen Kraft-WärmeKopplung, von den Risiken der Atomenergienutzung einmal ganz abgesehen.Meine Damen und Herren, angesichts dieser Tatsachen und der dringlichen Notwendigkeit für eine Effizienzrevolution unseres Energiesystems frage ich also den Bundeswirtschaftsminister:Warum, Herr Möllemann, wurde die Kraft-WärmeKopplung als einzige effiziente Verwertungsform fossiler Brennstoffe bis heute nicht in das Stromeinspeisungsgesetz einbezogen? Liegt es etwa am Widerstand der EVU-Lobby, die das große Anwendungspotential in Industrie, Gewerbe, Gemeinden oder gar Haushalten fürchtet?
Wie, Herr Möllemann, sollten die zentralisiert organisierten Elektrizitätsversorgungsunternehmen die dezentral vor Ort vorhandenen Potentiale zur rationellen Energienutzung und Energieeinsparung mobilisieren? Sind dazu nicht gänzlich neue Strukturen, vorzugsweise gar auf kommunaler Ebene notwendig?Warum, Herr Bundeswirtschaftsminister, halten Sie am Stromvertrag für die neuen Länder fest? Ist es nicht offenkundig, daß mit regionalen Energiemonopolisten weder eine entwicklungsfähige Energiestruktur aufgebaut werden kann noch mögliche Emissionsminderungspotentiale genutzt werden können?Wie, Herr Möllemann, gedenken Sie den aufgezeigten Gegensatz zwischen Energieeinsparung, rationeller Energienutzung und beschleunigter Anwendung erneuerbarer Energieträger einerseits und dem kontraproduktiven Weiterbetrieb von Atomkraftwerken zu überwinden?Denken Sie daran, daß Sie heute in der Verantwortung stehen, die unabdingbaren Weichenstellungen vorzunehmen, damit auch den zukünftigen Generationen, unseren Kindern und vielleicht unseren Kindeskindern eine Chance auf eine lebenswerte Zukunft erhalten bleibt!Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, leider ist von einem zukunftsorientierten, ins nächste Jahrtausend weisenden Energiekonzept bei der Bundesregierung nichts zu sehen. Und das ist wohl auch nicht zu erwarten. Der neue und wohl doch sehr altmodische Entwurf des Wirtschaftsministers beharrt weiterhin blind auf energiepolitischen Ansätzen der 70er Jahre und zementiert damit bestehende ineffiziente Strukturen.
Auch die Orientierung der Energieforschung weist nach wie vor in die Vergangenheit. Während für sämtliche erneuerbaren Energieträger und die rationelle Energienutzung 1992 gut 350 Millionen DM ausgegeben werden sollen — das akzeptiere ich als eine gute Zahl — , wird für die Erforschung nuklearer Energien fast das Vierfache bereitgestellt. Das ist noch ohne die zukünftigen Milliardenbeträge für die Kernfusionsforschung gerechnet.Globale Probleme wie der bereits reale Sprung in die Klimakatastrophe, Herr Möllemann, erfordern sicherlich auch globale Lösungsansätze. Mit Blick auf die UNCED-Konferenz 1992 in Rio in Brasilien können die Entwicklungsländer als Hauptbetroffene des von den Industrieländern verursachten Klimaschocks erwarten, daß auch durch die Bundesrepublik Deutschland drastische Energiesparmaßnahmen fixiert werden. Auch einzelne Nationen können durch die von ihnen ausgehende Signalwirkung einer entsprechenden Klimakonvention mit internationaler Bindungskraft Vorschub leisten. Das hat auch etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun.So habe ich auch die Ergebnisse der Reise von Herrn Töpfer — er ist wieder zurück —, die ich heute einer „dpa"-Meldung entnahm, verstanden.Meine Damen und Herren, frühzeitige Innovationen, umweltverträgliche Energietechnologien und deren heutige Marktanwendung bauen Wettbewerbsvorteile auf und sichern zukunftsträchtige Märkte. Dies ist für die Bundesrepublik, aber auch für Europa um so wichtiger, da auf anderen Zukunftsmärkten, wie z. B. Telekommunikation und Computer die Konkurrenz in Fernost einfach davonläuft. Schließlich hat die bundesdeutsche Wirtschaft nicht zuletzt dank der nachsorgenden Umweltpolitik der 80er Jahre die Marktführerschaft bei der End-of-PipeTechnologie erworben. Deshalb ist es angebracht, auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mit einer zügigen Einbindung der Umweltschäden in die Energiepreise vorzupreschen.Ich gebe zu, daß sich manche Entscheidung des Wirtschaftsministers optisch nicht schlecht macht. Aber optisch nicht schlecht — und vielleicht auch ästhetisch — ist auch der freie Fall eines vergeßlichen Fallschirmspringers, bis zum Aufschlag.Schönen Dank.
Als nächster hat der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, ich habe Ihre Ausführungen mit großem Interesse verfolgt.
Ich möchte Ihnen auch bestätigen, daß das, was Sie hier vorgetragen haben, einer inneren Logik nicht entbehrt.
Nur, die Frage ist: Was nützt diese innere Logik angesichts der Tatsache, daß wir es mit einer Übergangsperiode zu tun haben, die wir vielleicht nicht allein mit den Lehren der freien Marktwirtschaft bestehen können, die sicher auch nur eine begrenzte Zeit wirksam ist? Was nützt diese innere Logik angesichts der Tatsache, daß in den neuen Ländern 4,9 Millionen Arbeitsplätze weggefallen sind und daß — nach übereinstimmender Einschätzung verschiedener Wirtschaftsinstitute — in den nächsten Monaten noch mehr Arbeitsplätze wegfallen, als neue entstehen?
Darunter sind sicher auch Arbeitsplätze gewesen, die nicht notwendig waren.
Der Aufschwung leidet an vielem, am meisten daran, daß er noch nicht so richtig eingesetzt hat. Er leidet sicher auch daran, daß — im Unterschied zum Wirtschaftswunder von 1948 bis in die 50er Jahre hinein — die vielen kleinen Investitionen für die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze fehlen. Sie fehlen vor allem auch deshalb, weil es mit der Großindustrie eher rückwärts als vorwärts geht. Ohne Flaggschiff keine Begleitschiffe; das wissen auch Sie.
In den alten Bundesländern hat es eine Degression in der Großindustrie zu keiner Zeit gegeben.
Die Bundesregierung setzt bei der Ankurbelung der Wirtschaft — nach unserer Auffassung einseitig — weiter auf die Kräfte des Marktes, die es ohne Zweifel gibt. Warum aber sollen diese Kräfte freiwillig für einen Aufschwung in den neuen Bundesländern sorgen?
Infolge der Kapazitätsreserven in den alten Bundesländern einerseits und der fehlenden Infrastruktur in den neuen Bundesländern andererseits und auch mit Blick auf Europa haben die Marktkräfte für einen weiteren Konjunkturaufschwung im Westen gewirkt. Während die Lieferungen im innerdeutschen Warenverkehr von Ost nach West — solche Zahlen lassen sich ja verfolgen — im Verlaufe des Jahres 1991 zurückgegangen sind und noch etwa 700 Millionen DM betragen, haben sich die Lieferungen von West nach Ost von Januar 1991 bis August 1991 von 2,6 Milliarden DM auf 4,3 Milliarden DM erhöht.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten die gegenwärtige Situation nicht als unveränderlich
hinnehmen. Wir sollten die Bundesregierung gemeinsam auffordern, für die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze noch mehr als bisher zu tun. Auch wenn es zur notwendigen Wirtschaftspolitik unterschiedliche Auffassungen gibt, ob die Schaffung neuer Arbeitsplätze oder die Umgestaltung der vorhandenen
— hören Sie doch bitte zu! — der Ausgangspunkt ist, halten wir für das Entscheidende, daß alles getan wird, um in den neuen Bundesländern wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen.
Wo sehen wir in erster Linie Ansatzpunkte für die Schaffung von Arbeitsplätzen? Unter den gegenwärtigen Bedingungen nimmt die Treuhandanstalt eine Schlüsselstellung für die Veränderung der Lage ein, auch wenn es nur eine vorübergehende Aufgabe ist. Nach unserer Auffassung kommt es darauf an, das wirtschaftliche Potential in Industrie, Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor aus der Konkursmasse zentralistisch mißleiteter Wirtschaft in den neuen Bundesländern mit gesamtstaatlicher Unterstützung zu beleben, um den Bürgern Arbeit und den neuen Bundesländern wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu schaffen;
denn auch die leiden darunter ganz erheblich.
Trotz vieler Erklärungen seitens der Bundesregierung zur Veränderung der Aufgabenstellung der Treuhand mit dem Ziel, für funktionierende Arbeitsplätze zu sorgen, hat sich die Lage nicht verändert. Ich freue mich sehr, daß zu dieser Erkenntnis auch Dr. Paul Krüger von der CDU-Fraktion gekommen ist. Er hat einen Artikel mit der Überschrift „Strukturpolitik statt reiner Lehre" veröffentlicht. Ich konnte ihn nicht fragen, aber ich darf ihn hier sicher einmal zitieren: Strukturpolitik statt sanieren und verscherbeln — so das Ziel einer Gesetzesinitiative. Weiter heißt es wörtlich:
Für uns ist es nicht einsehbar, daß im Westen Unternehmen wie die Bundesbahn und Kohlezechen am Tropf des Staates hängen und in Ostdeutschland die reine Lehre praktiziert wird. Nach langen, vergeblichen Bemühungen sind wir deshalb dabei, unseren Standpunkt intensiver durchzusetzen.
Herr Kollege, würden Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Weng gestatten?
Gern, ich wollte nur das Zitat zu Ende bringen.
Und wenn Sie zwischendurch einmal Luft holen, besteht auch die Möglichkeit zu Zwischenfragen.
Es ist jetzt ein bißchen lange her, Frau Präsidentin. —
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Dr. Wolfgang Weng
Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt: „Hören Sie doch bitte zu." Meine Frage an Sie: Haben Sie dabei insbesondere an Kolleginnen und Kollegen Ihrer Gruppe gedacht, von denen kein einziger da ist?
Ich gehe davon aus, daß sie am Bildschirm sitzen und das verfolgen, was ich hier sage.
Das passiert in Ihren Fraktionen auch.
Die Treuhand weist vieles zurück, was über den Verkauf der Unternehmen hinausgeht. So kommt es in den Fällen, wo sich kein Käufer findet oder entscheidet, zu wirtschaftlichem Stillstand.
Im Gegensatz zu den Ankündigungen der Bundesregierung widersetzt sich die Treuhandanstalt weiter Konzepten zur Sicherung von Arbeitsplätzen, die ihr von Unternehmen vorgelegt werden. Ohne Entscheidung zu solchen Konzepten, die auf die wirtschaftliche Tätigkeit gerichtet sind, ist aber wirtschaftliches Leben undenkbar. Das ergibt sich allein schon aus den Realisierungszeiten für Investitionen, um Produktionen umzugestalten und zu modernisieren.
Wir verstehen Sanierung unter den gegenwärtigen Bedingungen in den neuen Bundesländern nicht, wie Gegner jeglicher Sanierung in den Treuhandunternehmen behaupten, als komplette Strukturpolitik. Die Begründung, daß nicht saniert werden könne, weil die Bundesregierung nicht wisse, welche Entwicklungsrichtungen perspektivisch seien, ignoriert die tatsächlichen Notwendigkeiten für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Beschäftigten in den Betrieben der Treuhandanstalt fordern doch nicht, daß über Nacht komplett neue, modernste Ausrüstungen hingestellt werden. Es geht darum, Stillstand und Entscheidungslosigkeit mit Investitionen zu beenden, allen eine Chance zu geben, sich unter den neuen Bedingungen zu erproben. Dann erst kann der Markt entscheiden. Arbeitsplätze sind dann ineffizient, wenn der Markt effizientere anbietet.
Auch wenn wir zur Privatisierung angesichts der Herausforderungen an die entwickelte Wirtschaft in den alten Bundesländern — ich nenne hier nur Umweltskandale, Verkehrschaos und Waffenexporte — eine andere Auffassung haben, sehen wir keinen Gegensatz zwischen Sanierung und Privatisierung. Wir halten es für erforderlich, den Umfang der Mittel, die die Treuhandanstalt für ein Funktionieren der Arbeitsplätze einsetzt, zu erhöhen. Das schließt auch ein, daß die Treuhandanstalt und die Bundesregierung sich auf eine Eigentümerrolle für die Unternehmen einstellen, die sich jetzt bei der Treuhand befinden und mittelfristig wirtschaftlich sein können. Wir fordern ein ähnliches Herangehen an die Stahlindustrie in Brandenburg wie früher in Salzgitter, ein gleichartiges Herangehen an die Werften in Ost wie in West und an die Chemieindustrie im Raum Halle wie bei der Privatisierung großer Unternehmen in den alten Bundesländern wie z. B. des Volkswagenwerks. An diesen Standorten hängen massenhaft Arbeitsplätze.
Eine Zwischenfrage, Graf Lambsdorff.
Herr Kollege, könnten Sie mir bitte mal erklären oder mich vielleicht über den Zeitpunkt unterrichten, wann Sie Ihre Abneigung gegen Waffenexporte entdeckt haben und wie es zu dieser wundersamen Wandlung gekommen ist?
Wenn Sie mich persönlich fragen: Ich habe diese Abneigung natürlich schon immer gehabt. Es wird Ihnen sicherlich auch schwerfallen, das hier zu bestreiten.
Sie spielen sicher auf Herrn Schalck-Golodkowski und auf das an, was in dieser Beziehung gemacht worden ist, oder auf andere an, die in dieser Richtung gewirkt haben. Ich hatte darauf weder Einfluß noch daran Anteil. Viele von uns DDR-Bürgern haben so etwas nicht gewußt — leider, muß ich sagen. Insofern bin ich sehr glücklich darüber, daß heute so etwas transparenter ist und herauskommt und daß darüber geredet werden kann. Ich sehe das auch als einen echten Fortschritt an.
Nach wie vor wird infolge der Regelungen der Währungsunion durch die Treuhandanstalt genausoviel für Zinszahlungen wie für Sanierungen ausgegeben. Die deutschen Banken verdienen jährlich rund 10 Milliarden DM an der künstlichen Verschuldung ehemaliger DDR-Staatsunternehmen, denen sie niemals einen Kredit gewährt haben.
— Die deutschen Banken haben diesen Kredit an die Industrie nicht gewährt, und alles das geht von den Mitteln ab, mit denen andernfalls Arbeitsplätze gesichert werden könnten.
Wir bekräftigen an dieser Stelle unseren Vorschlag, die Banken durch die Zeichnung einer Anleihe an den Kosten der Einheit zu beteiligen. Wir meinen, daß das angesichts der zusätzlichen Gewinne gerechtfertigt ist. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die von der Bundesbank festgestellten überdurchschnittlichen Gewinne der Unternehmen im vergangenen Jahr. Wir unterstützen den Vorschlag der IG Metall zu einer Investitionsabgabe nach dem Beispiel des Investitionshilfegesetzes von 1952; denn es ist nicht so, daß die Unternehmen der alten Bundesländer nicht investieren; sie tun es; sie tun es im Ausland. Mit 36 Milliarden DM wurden dort im vergangenen Jahr weit mehr Arbeitsplätze geschaffen als in den neuen Bundesländern. Wir sind nicht gegen Investitionen im Ausland, nur darf dann die Bundesbank nicht behaupten, daß es — —
— Ich bin doch sehr dafür. Ich habe diese Auslandsinvestitionen in keiner Weise in Frage gestellt, nur
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5187
Dr. Fritz Schumann
bitte ich darum, daß wir auch etwas für die neuen Bundesländer tun. Angesichts der 10 Milliarden DM, die für Investitionen in den neuen Bundesländern geleistet wurden, halte ich die Relation einfach nicht für gegeben.
Damit muß ich leider schließen. Die rote Lampe blinkt. Ich hätte gern noch etwas gesagt.
Nun hat der Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Jahr 1991 ist wirtschaftspolitisch ein gutes Jahr. In den Ländern des alten Bundesgebiets erreichen wir ein Wachstum von gut 3,5 % im Jahresdurchschnitt.Diese Zahl markiert zugleich das neunte Jahr eines ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch diese Koalition. Das ist gewiß nicht allein auf das Handeln dieser Koalition zurückzuführen. Aber Kritik an der Wirtschaftspolitik dieser Koalition drückt sich üblicherweise anders aus. So schlecht kann sie nicht gewesen sein und ist sie nicht, wenn man solche Zahlen zustande bringt.
Wir haben in Ostdeutschland die Strategie „Aufschwung Ost" auf den Weg gebracht. Mit dieser Strategie haben wir in bemerkenswert kurzer Zeit die Trendwende geschafft. Die Wirtschaftsaktivitäten in den neuen Bundesländern zeigen deutliche Anzeichen einer Stabilisierung. Dies wird uns auch vom Sachverständigenrat aktuell bestätigt.1992 wird das Jahr der großen Herausforderungen. Wir haben ehrgeizige Ziele: 2,5 % Wachstum in Gesamtdeutschland, 10 % Wachstum in den neuen Bundesländern. Diese Entwicklung wird sich vor dem Hintergrund eines dramatischen Wandels und eines hohen Tempos bei der Anpassung der wirtschaftlichen Strukturen in Ostdeutschland vollziehen.Dieses Ziel ist um so ehrgeiziger, als wir uns die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor Augen halten müssen. Die Ausfuhren der deutschen Wirtschaft fielen zwar zuletzt noch geringfügig höher aus als vor Jahresfrist, der Export wird aber im nächsten Jahr auf Grund der verhaltenen Wirtschaftsentwicklung in den meisten westlichen Industrieländern nicht im gewohnten Maß der Motor der Konjunktur sein.Was ist nun nötig, um die Herausforderungen des nächsten Jahres zu bewältigen?Wir brauchen erstens einen Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß. Der Gipfel von Maastricht am 10. und 11. Dezember muß ein Erfolg werden, und zwar ein Erfolg in der Sache. Das bedeutet, wir müssen in der Frage der Wirtschafts- und Währungsunion weiterkommen. Sie ist die logische Weiterentwicklung der Idee des europäischen Binnenmarkts. Es kommt vor allem darauf an, im europäischen Rahmendas erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft zu verankern. Das bedeutet auch eine Absage an alle Versuche, dem Staat eine Rolle als strukturpolitischer Lenker zuzuweisen.
Und das bedeutet eine Finanzpolitik der Stabilität. Ohne diese Eckwerte ist eine Einigung in Maastricht kaum vorstellbar.Wir brauchen zweitens als exportorientierte Nation die Sicherheit, daß das Prinzip des Freihandels auch künftig in der Weltwirtschaft gilt.Das heißt gleichzeitig: Die laufenden GATT-Verhandlungen müssen möglichst bald, möglichst in diesem Jahr, erfolgreich abgeschlossen werden. Wir wären als Exportnation aufs schwerste betroffen, käme es zu weltweitem Protektionismus. Und der droht im Fall des Scheiterns dieser Verhandlungen. Deshalb müssen wir, auch wenn uns die Rolle als Exportweltmeister in der Tat nachhaltig streitig gemacht wird, jetzt mit gutem Beispiel vorangehen, denn wir sind die Hauptnutznießer des Freihandels.
Das müssen wir, indem wir ein Signal für eine Reform der EG-Agrarpolitik geben, die auch durch Protektionismus gekennzeichnet ist.Wir müssen drittens weiter Disziplin bei den staatlichen Ausgaben wahren. Der Kollege Dr. Waigel hat bereits am Dienstag darauf hingewiesen, daß die allgemeine Kürzung von Ausgabenansätzen gleichgewichtig mit dem Einschnitt bei einzelnen Subventionsbereichen zu den Geboten staatlichen Handelns gehört. Ich unterstreiche das.Dies gilt nicht nur wegen des äußerst angespannten Bundeshaushalts und der äußerst angespannten Haushalte der Länder. Das gilt zusätzlich deshalb, weil wir für die Treuhand, für den Fonds Deutsche Einheit und für die Bundesanstalt für Arbeit weiterhin dreistellige Milliardenbeträge aufbringen müssen, um so die soziale und wirtschaftliche Einheit mit herbeizuführen und sie abzusichern. Die Risiken können wir mit letzter Sicherheit nicht abschätzen; sie sind aber beachtlich.Auch deshalb muß der ersten Runde zum Subventionsabbau noch in dieser Legislaturperiode eine zweite folgen.
Darauf müssen sich die Mitglieder dieses Hauses einstellen und vor allem diejenigen, die lautstark mehr als das jetzt Erreichte eingefordert haben. Aber, meine Damen und Herren, ich will hier doch deutlich sagen, nachdem kritisiert wurde, daß wir nicht — wie ursprünglich vereinbart — etwas mehr als 33 Milliarden DM mit Wirkung für die Jahre 1992 bis 1994 gestrichen haben, sondern „nur" den Betrag von 32,177 Milliarden DM: Mich ödet nach den Debatten und Erfahrungen der vergangenen Monate die Haltung derer an — Herr Jens war dafür ein Musterbeispiel mit seinem ansonsten doch etwas enttäuschenden Beitrag — , die für Subventionsabbau im allgemeinen plädieren, aber überall dort, wo er konkret
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannstattfinden soll, aus Angst vor der Lobby kneifen oder gar Hand in Hand mit der Lobby für den Bestand der Subventionen demonstrieren.
Mit der fortdauernden Subventionierung nicht wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweige verspielen wir nicht nur unser internationales Ansehen als Freihändler, die andere auffordern, Subventionen abzubauen, die es aber selbst nicht in hinreichender Weise tun, wir vergeuden auch die knappen Mittel, die wir für zukunftsfähige Strukturen dringend brauchen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Roth?
Ja, natürlich! Vielleicht ist die besser als die Rede.
Wie erklären Sie mir folgendes Verhalten: Als der irische Kommissar die Reformvorschläge zur EG-Agrarordnung unterbreitet hat, haben Sie dem am Anfang zugestimmt — ich habe das auch gemacht —; jetzt kommt heraus, daß die Bundesregierung — Sie sind ja Kabinettsmitglied — zusammen mit der französischen Republik bei der Verwässerung dieser guten Vorschläge des irischen Kommissars am meisten tätig war?
Diese in Ihrer Frage ausgedrückte Behauptung ist unzutreffend. Wir haben — —
— Ich würde ganz gern auf Ihre Frage antworten.
Wir haben im Bundeskabinett, und zwar auf mein Drängen hin, einen Beschluß gefaßt, der die EG-Kommission ermutigt und ermuntert, bei den GATT-Verhandlungen eine Position einzunehmen, die von der Position des letzten Herbstes abweicht und die — wie es wörtlich heißt — signifikante Zurückführung bei den Exportsubventionen, beim Außenschutz und bei der internen Stützung einschließt. Die Größenordnung, die in den Kabinettsberatungen im Gespräch war, war die vom seinerzeitigen schwedischen Minister Hellström vorgeschlagene von etwa 30 %.
Es ist auch geläufig, daß bei dem Gespräch zwischen Präsident Bush, dem niederländischen Premierminister Lubbers und Kommissionspräsident Delors die Zielgröße, die ich hier eben nannte, in etwa auch angestrebt worden ist. Es kann keine Rede davon sein, daß die Bundesregierung durch ein Blockieren dieser Position die GATT-Verhandlungen in der Agrarpolitik erschwere. Der Bundeskanzler hat hier gestern in aller Deutlichkeit das gesagt, was er im übrigen auch mehrfach öffentlich bekundet hat: Ein Scheitern der GATT-Verhandlungen wäre für die Bundesrepublik eine Katastrophe. Wir sind nicht bereit, wie im letzten Herbst — da waren wir an dem Punkt — dazu beizutragen. Und dafür stehe ich hier auch.
Herr Minister Möllemann, gestatten Sie zunächst eine weitere Zwischenfrage — wenn ich das richtig verstanden habe — des Herrn Abgeordneten Roth? — Ich weise auch auf die Möglichkeit der Kurzintervention hin.
Ja, bitte.
Ich freue mich, daß wir in der Grundfrage gleicher Meinung sind und auch die Position des Bundeskanzlers von gestern so unterstützen.
Wie ist eigentlich der Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden, der offenbar falsch ist, als ob sich Minister Kiechle gegen Sie im Kabinett durchgesetzt hätte?
Ich habe diesen Eindruck nicht gewonnen, und zwar weder in der Kabinettsitzung noch in der Öffentlichkeit.
Vizepräsidentin. Renate Schmidt: Nun noch eine Zwischenfrage des Kollegen Jens.
Herr Minister, Sie hatten eben davon gesprochen, daß es Wirtschaftszweige mit Dauersubventionen gebe. Können Sie mir vielleicht im sekundären oder tertiären Sektor einige solcher Wirtschaftszweige nennen, und glauben Sie wirklich ernsthaft, daß wir im Bereich der Kohle und Agrarwirtschaft jemals auf Subventionen verzichten können?
Ich muß offen gestehen, daß ich keinen anderen Bereich so enervierend uninteressant erlebt habe, wie es zum Teil die Argumente in der Debatte über die Kohlesubvention gewesen sind. Ich bin in der Tat der Meinung gewesen und bin unverändert der Meinung, wir würden energiepolitisch und wirtschaftspolitisch auch mit einem geringeren Anteil sehr gut hinkommen. Mir kann keiner klarmachen, daß man bei einem riesigen Angebot jederzeit für jeden verfügbarer preiswerter Steinkohle auf dem Weltmarkt Steinkohle in der jetzigen Menge bei uns mit einem Aufwand von 190 DM pro Tonne und einem Aufwand pro Bergmann von 76 000 DM pro Jahr bei uns aus dem Boden holen muß. Da wäre ein Kompromiß auf niedrigem Niveau natürlich erreichbar gewesen. Sie wissen ganz genau, warum wir den Kompromiß, den wir jetzt gefunden haben, haben machen müssen.
Da ist die Allianz derer, die hier sitzen, doch in Teilen gegen das gewesen, was wir als Ziel proklamiert haben.Nein, Herr Jens, ich halte meine Position in dieser Frage unverändert für richtig. Aber man muß im politischen Leben — das müssen auch Sie in Ihrer Partei — im Bundestag Kompromisse machen, und das
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannwar jetzt einer, den ich ohne jede Begeisterung mitgemacht habe. Ich trage ihn jetzt mit.Es kommt, meine Damen und Herren, viertens und schließlich darauf an, Wachstumsimpulse für die Zukunft zu geben. Der Standort Bundesrepublik wird sich im großen europäischen Binnenmarkt mehr denn je dem direkten Vergleich mit seinen unmittelbaren Nachbarn stellen müssen. Deshalb brauchen wir zusätzlich zu den Beschlüssen, die der Bundestag vor nicht allzu langer Zeit zur Steuerpolitik getroffen hat, eine weitere Stufe der Steuerreform, die den Entlastungen bei den ertragsunabhängigen Steuern folgen muß, so wie sie der Deutsche Bundestag, wie ich sagte, im Steueränderungsgesetz 1992 beschlossen hat.Angesichts beachtlicher Senkungen bei den Ertragsteuersätzen in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Japan, den Vereinigten Staaten, ja, selbst in Schweden und Österreich müssen wir darauf achten, daß die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland international erhalten bleibt. Auch deswegen müssen wir die Steuersätze der Einkommen- und Körperschaftsteuer weiter senken.
Nun haben wir strukturelle Nachteile nicht nur bei den Abgaben, sondern auch bei den Lohnnebenkosten, die weltweit zu den höchsten zählen. Es kann auf Dauer nicht ohne Folgen für die Bundesrepublik bleiben, wenn ein deutsches Unternehmen mit 30 bis 40 % höheren Kosten kalkulieren muß als der schweizerische oder amerikanische Wettbewerber. Gerade deshalb müssen wir uns hüten, mit immer neuen Abgaben die Beschäftigung in Deutschland weiter zu verteuern. Die Folgen wären die Zunahme der Schwarzarbeit und die Abwanderung von Unternehmen. Standorte mit ungünstiger Kostensituation stehen schneller zur Disposition, als dies noch vor Jahren der Fall war. Deshalb dürfen wir die Lohnnebenkosten nicht weiter nach oben treiben. Deshalb kann es aus meiner Sicht keine Pflegeversicherung unter dem Dach der Sozialversicherung geben.
Das wäre gleichbedeutend mit eingebauter Ausgabendynamik, mangelndem Kostenbewußtsein und neuen Verschiebebahnhöfen für öffentliche Kassen, und es wäre der Bruch einer Zusage. Diese Koalition hat den Unternehmen, vor allem den kleinen und mittleren Betrieben, versprochen, die Lohnnebenkosten nicht weiter zu steigern. Wir sind schon haarscharf an der Grenze.
Diese weitere Maßnahme brächte das Faß zum Überlaufen. Sie kann deswegen so nicht beschlossen werden.
Meine Damen, meine Herren, wer Investoren für Deutschland, vor allem für den Aufbau in Ostdeutschland, gewinnen will, muß darauf achten, daß die Standortfaktoren stimmen. Das bedeutet eben auch,Herr Kollege Roth, Herr Kollege Jens, daß die Rahmenbedingungen in der Tarifpolitik mit Vernunft gestaltet werden müssen.
Die Tarifpartner tragen in hohem Maße Verantwortung für die Beschäftigung im vereinten Deutschland
und damit für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den neuen Bundesländern.
In diesem Jahr haben beide Tarifpartner das notwendige Gespür vermissen lassen.
Mit Lohnsteigerungen, die erheblich über der Produktivitätsentwicklung lagen,
haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Das gilt auch für die öffentliche Hand,
die selbst als Arbeitgeber mit am Verhandlungstisch sitzt.
Die Tarifpartner im Westen müssen mit ihren Lohnabschlüssen auch dazu beitragen, daß sich die wirtschaftspolitische Kluft, die Kluft zwischen der Realität der wirtschaftlichen Lage in Ost und der in West, nicht weiter vergrößert.Ich wiederhole — ich bleibe dabei und halte es für mein Recht und meine Pflicht als Wirtschaftsminister, das so zu sagen — : Abschlüsse, die mehr als eine Vier vor dem Komma haben, gehen über das hinaus, was gesamtwirtschaftlich vertretbar ist.
Herr Minister Möllemann, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Jens?
Bitte!
Herr Minister, kennen Sie die vom Sachverständigenrat 1968 vorgetragene Formel einer verteilungsneutralen Lohnpolitik genau, und können Sie sie wiederholen?
Und geben Sie mir recht darin, daß sich die Verteilung auf Grund der Lohnentwicklung in den letzten Jahren nicht etwa zugunsten der Arbeitnehmer, sondern zugunsten der Unternehmer verändert hat?
Herr Kollege Jens, wir hatten in den Jahren
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Bundesminister Jürgen W. Möllemannvon 1983 bis 1988 ein bemerkenswert vernünftiges Verhalten aller Beteiligten bei den Tarifabschlüssen. Dadurch wurde eine Investitionsquote möglich, die dazu geführt hat, daß wir mittlerweile mit den modernsten Produktionsapparat haben. Gott sei Dank; denn die Produktivität und die Modernität dieses Apparates sind die einzige Chance. Sie sind die wesentliche Voraussetzung dafür, daß wir angesichts der Tatsache, daß wir in allen anderen Bereichen Schwierigkeiten im Wettbewerb haben — keine Rohstoffe, hohe Löhne, hohe Lohnnebenkosten, ein gutes, aber teures Sozialsystem, viel Freizeit, die längsten Urlaubszeiten — , im Wettbewerb bestehen können. In allen diesen Punkten sind wir erst durch hohe Modernität und Produktivität wettbewerbsfähig.Just hier liegt das Problem. Wenn jetzt mehr verteilt wird, als sich an Produktivitätszuwachs ergibt, kann in die weitere Modernität, in die weitere Wettbewerbsfähigkeit nicht investiert werden.
Dann werden Arbeitsplätze geschaffen, aber nicht in Deutschland, sondern anderswo.Das alles haben wir am Ende der 70er Jahre in einer Koalition miteinander erlebt. Deswegen haben wir dann gesagt: „Schluß jetzt!",
weil wir es eben nicht mehr verantworten konnten, daß unsere Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit verspielt wurden. Diesen Fehler werden wir nicht noch einmal machen.
Meine Damen, meine Herren, nun zu den Tariflohnsteigerungen in den neuen Bundesländern. Ich weiß, daß das ein sehr heikles Thema ist. Auf der einen Seite gibt es natürlich den Wunsch derjenigen, die dort tätig sind, möglichst schnell an das Einkommensniveau in Westdeutschland heranzukommen. Wer wollte diesen Wunsch an sich kritisieren?Auf der anderen Seite haben wir eine sehr geringe Quote von Unternehmen, die in der Hand der Treuhand sind, die derzeit schwarze Zahlen schreiben. Die Quote ist sehr niedrig. Das bedeutet, daß jede weitere deutliche Lohnsteigerung notwendigerweise zu zwei möglichen Reaktionen führt: Entweder kommen die Unternehmen zur Treuhand, um Liquiditätshilfe zu fordern. Das bedeutet: Der Anspruch an den Staat wird höher. Wir werden Transfer betreiben müssen. Wir werden die Verschuldung oder die Steuern erhöhen müssen.
Die andere Alternative ist, daß die Unternehmen, wenn sie keine Liquiditätshilfe bekommen, die Arbeitskräfte entlassen müssen, weil sie ihnen die gestiegenen Löhne ja nicht zahlen können. Ist das unser Ziel? Oder müssen wir nicht den Versuch unternehmen, durch eine Politik des Augenmaßes, die denBetroffenen sagt, daß das der Gestaltungsraum ist,wirklich ein bißchen Bescheidenheit zu praktizieren,
auch wenn das in einer solchen Phase bitter ist? Aber bitterer ist gewiß die Alternative: der wirtschaftliche Schwächekurs, den es jetzt gibt, oder die Arbeitslosigkeit.Wir müssen darauf hinweisen: Es gibt viel zu viele, die jetzt populistisch durch die Lande ziehen und versuchen, über diesen Sachverhalt hinwegzureden.Wir brauchen eine stärkere Differenzierung der Löhne — auch in den neuen Bundesländern — , die der tatsächlichen Ertragskraft und Ertragslage der Unternehmungen und Branchen gerecht wird. Das können wir sehr wohl. Ich höre dazu ja auch durchaus akzeptable Bemerkungen aus den verschiedenen politischen Lagern. Wir sollten darauf hinwirken, daß die Tarifvertragsparteien zu einer solchen Flexibilität kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben insgesamt gute Chancen, die Volkswirtschaft unseres Landes auch im kommenden Jahr weiterzuentwickeln und im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die Verantwortung liegt aber bei uns selbst. Wir haben es in der Hand, ob wir weiterhin wirtschaftlich in der ersten Liga spielen und Wachstum mit Stabilität verbinden wollen. Siegt die Unvernunft in den Punkten, die ich nannte, droht die Gefahr des Abschwungs und des Abstiegs. Siegt die Vernunft, können wir es schaffen, den Aufschwung Ost und die wirtschaftliche Basis in den alten Bundesländern zu stärken. Dann wird der Aufschwung für die alten Bundesländer — und damit dann für ganz Deutschland — auch im zehnten Jahr Bestand haben, allerdings auch nur dann. Ich rufe Sie alle auf, daran mitzuwirken.
Mir liegen jetzt noch Meldungen für zwei Kurzinterventionen vor. Als erstes redet der Kollege Helmut Wieczorek.
— Herr Kollege Wieczorek, die Kurzinterventionen finden vom Saalmikrofon aus statt.
— Dann machen Sie jetzt zum erstenmal von dem Instrumentarium des Saalmikrofons Gebrauch.
Das ist mir sehr angenehm, weil ich von diesem Platz aus den Minister besser sehen kann.Herr Minister, wir haben Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Es gibt sicherlich Teile Ihrer Ausführungen, mit denen wir uns identifizieren können. Es gibt große Teile, derentwegen wir gerne weiter in Dialog mit Ihnen treten wollen.Meine Bitte an Sie ist: Seien Sie intellektuell redlich. Ich vermisse die Redlichkeit bei Ihnen. Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen. Sie reden von
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Helmut Wieczorek
70 000 DM, die jeder Bergmann kostet. Wenn Sie Ihre Rechnung weiterführen, kosten die letzten drei Bergleute jeweils 3 Milliarden DM. Daran sehen Sie schon, daß das nicht geht.
— Ich will Ihnen den Nachhilfeunterricht gerne erteilen, Herr Kollege. Der Minister teilt die Gesamtaufwendungen für die Altlasten des Bergbaus durch die Anzahl der jetzt beschäftigten Bergleute. Das geht nicht. Wenn wir dann weiter herunterfahren, kommen wir dahin, daß wir alle Aufwendungen auf einen Bergmann beziehen müßten.
Alle Altlasten, die zum Aufbau dieses Landes notwendig waren, werden jetzt mitgerechnet. Das kann nicht sein. Das wollte ich Ihnen sagen.
Eine weitere Kurzintervention des Kollegen Wolfgang Roth.
Herr Bundesminister, ich habe in meinen Ausführungen auch das Thema Lohnpolitik angesprochen, und zwar in dem Moment nur für den Westen. Ich möchte jetzt aber auch noch einen Satz in Richtung auf den Osten sagen.
Zunächst zum Westen noch ein Wort. Wir sind uns völlig einig, daß wir in einer ganz kritischen Phase der Tarifpolitik sind, und zwar insbesondere auch deshalb, weil die Bundesregierung die wahre wirtschaftliche Lage im Westen, die dadurch gekennzeichnet ist, daß eine Rezession droht, wenn nicht schon begonnen hat, nicht richtig darstellt. Deshalb gehen Tarifpartner vielleicht noch von einer falschen Situation aus. Insofern glaube ich, daß Behutsamkeit angebracht ist.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister in derselben Woche durch sein Haus verkünden läßt, er akzeptiere die Prognose 4 % Preissteigerung im nächsten Jahr, die der Sachverständigenrat gebracht hat, aber er fordere, daß die IG Metall — die ist ja wohl gemeint — mit 4 % abschließe, dann sagt er gleichzeitig, daß der gesamte Produktivitätsfortschritt des nächsten Jahres zugunsten der Arbeitgeber gehen soll. Das ist die logische Folgerung der Angelegenheit. Insofern mischen Sie sich in einer Weise in die Tarifpolitik ein, die nur weitere Konflikte zur Folge haben wird.
Ich möchte aus meiner Sicht sagen: Wir müssen beruhigend wirken, wir müssen kooperativ wirken, wir müssen zu einem schnellen Konsens ohne tiefe Konflikte beitragen.
Zu der Situation im Osten nur eine Bemerkung. Wir stehen hier in einem Dilemma: Schnelle Lohnanpassung im Osten bedeutet Nachteile für Arbeitsplätze; keine Lohnanpassung bedeutet Wanderung in den Westen. Das ist der Konflikt, vor dem wir stehen. Wir sollten diesen Konflikt offen ansprechen und nicht kaschieren.
Jetzt eine weitere Kurzintervention des Kollegen Otto Graf Lambsdorff.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Zur Tarifpolitik möchte ich nur eine ergänzende Anmerkung machen. Wenn wir uns den Forderungen oder den Gedanken der IG Metall gegenübersehen, bis zum Jahre 2000 etwa zu erreichen, daß in Deutschland nicht mehr nach Leistung, sondern nach Qualifizierung bezahlt wird, dann werden wir völlig neue Arbeitsentgeltverhältnisse und -umstände erleben, wobei ich der festen Überzeugung bin, daß wir uns das im weltwirtschaftlichen Umfeld überhaupt nicht werden leisten können. Man muß sich das einmal vorstellen — etwas übertrieben ausgedrückt — : Dann beschäftigen wir nur noch Professoren und bezahlen die nach Qualifizierung, aber nicht nach Leistung.
— Das wird eine sehr interessante Diskussion, die wir nicht übersehen sollten. Wir können hier nicht nur die aktuellen Tarifverträge diskutieren, sondern wir müssen auch die tarifpolitische Landschaft diskutieren, die sich da abzeichnet.
Meine zweite Bemerkung. Herr Wieczorek, ob Sie das nun auf den einzelnen Bergmann umlegen oder nicht, daß wir pro Tonne Steinkohle, die in Deutschland verwendet wird, mindestens den dreifachen Preis dessen zahlen, was wir auf den Weltmärkten dafür zu entrichten hätten, das muß die deutsche Volkswirtschaft als Last und Belastung tragen,
und es muß irgendwo anders verdient werden.
Eine weitere Bemerkung dazu. Ich habe den Stromvertrag und das ganze Gerüst damals in der alten Koalition mit zustande gebracht. Inzwischen ist die Steinkohle aber nicht mehr die wichtigste heimische Energiereserve, sondern dies ist die Braunkohle in der Lausitz und in Brandenburg.
Da haben sich die Dinge verschoben.
Ich möchte auch einmal wissen, Herr Wieczorek, wie lange denn die Position aufrecht erhalten werden soll, daß wir jeden notwendigen Abgang aus dem Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet, an der Saar und in Aachen nun wirklich versüßen und vergolden, wie wir es nur irgend können, und daß wir auf der anderen Seite Zigtausende in der Mark Brandenburg und in der Lausitz zum Arbeitsamt schicken. Wie lange soll diese unterschiedliche Behandlung eigentlich vertreten werden?
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache, und wir kommen zur Abstimmung.Wer stimmt für den Einzelplan 09 in der Ausschußfassung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 09 so angenommen.
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5192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Einzelplan 13
Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation
— Drucksachen 12/1413, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe Werner Zywietz
Rudi Walther
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache zu diesem Einzelplan eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe als erster der Kollegin Iris Gleicke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor gut zwei Jahren das Poststrukturgesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, sprachen Sie, Herr Bundespostminister, von einem denkwürdigen Tag. Mit der Reform sollte die Wettbewerbsstellung der Postunternehmen verbessert, ihre Finanzkraft gestärkt, die Dienstleistungsqualität erhöht und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Deutschen Bundespost gesteigert werden. Mit seinen damaligen Zielsetzungen ist der Minister auf der ganzen Linie gescheitert.
Die Schwachstellen im Paketdienst waren seit Jahren bekannt. Von einer verbesserten Dienstleistungsqualität kann angesichts der bekannten Laufzeiten von Briefen und Paketen, insbesondere in den neuen Bundesländern, wohl kaum die Rede sein. Nebenbei : Ich habe Ihnen ein paar schöne Beispiele für die Qualität dieser Zustellung mitgebracht. Transparenz und Öffentlichkeit auch bei vertraulicher Abgeordnetenpost ist hier voll gewährleistet.
Zurück zu den Versprechungen des Postministers. Aus den von ihm alle Jahre wieder angekündigten Besserungen ist nichts geworden. Statt dessen ist der Minister seit seinem Amtsantritt untätig geblieben und hat den Unternehmensvorständen die Milliardendefizite im gelben Postbereich gewissermaßen als Marschgepäck auf den Weg in eine neue Postzukunft mitgegeben. Die Motivation der Beschäftigten ist nicht besser, sondern schlechter geworden. Wen wundert's, wenn man weiß, daß die Beförderungsmengen sprunghaft gestiegen und der Abbau von Zehntausenden von Arbeitsplätzen geplant ist.Die finanzielle Lage des in der Vergangenheit kerngesunden Fernmeldebereichs ist ausgesprochen kritisch und wird immer desolater. Die Milliardengewinne vergangener Jahre reduzierten sich 1990 auf nur noch knapp 1,2 Milliarden DM und werden bereits 1991 gegen null tendieren.Die Eigenkapitalquote des Unternehmens Telekom sinkt kontinuierlich und dramatisch. Der Postminister erweckte noch vor wenigen Monaten den Eindruck, erhabe ein solides, mit Eigenkapital ausgestattetes Unternehmen in den Wettbewerb entlassen. Nach seiner Darstellung sollte die Eigenkapitalquote noch vor Beginn des Vereinigungsprozesses über 40 % liegen. Tatsache ist — das haben die Eröffnungsbilanzen gezeigt — , daß die Eigenkapitalquote 1990 nur knapp 30 % betrug und Ende 1991 sogar auf 26 % absinken wird.Angesichts der enormen betriebswirtschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Aufbau der Telekommunikationsinfrastruktur in den neuen Ländern und der nach wie vor ergebnisunabhängigen Ablieferung an den Bund wird man in den Folgejahren sogar mit einer Eigenkapitalquote rechnen müssen, die deutlich unter 20 % absinken wird.Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das größte Loch bei der Eigenkapitaldecke ergibt sich aus der Tatsache, daß Minister Schwarz-Schilling die Bilanz der Telekom zum Zeitpunkt der Übergabe an die Vorstände um 8 Milliarden DM schöngerechnet hat.Statt in seiner Funktion als Eigentümer des Sondervermögens Deutsche Bundespost alles zu tun, um die Finanzschwierigkeiten zu beheben und für eine Aufstockung des Eigenkapitals zu sorgen, macht der Minister das Gegenteil. Ich erinnere nur an die Sonderablieferung in Höhe von 4 Milliarden DM, die den Unternehmen der Deutschen Bundespost ohne jede postpolitische Begründung aufgebrummt wurden, nur damit der Bundesfinanzminister seine Haushaltslöcher schließen kann.
Meine Fraktion hat zu den Haushaltsberatungen im Postausschuß zum Einzelplan 13 u. a. den Antrag gestellt, das Eigenkapital bei der Deutschen Bundespost Telekom auf die gesetzlich orientierte Höhe von mindestens einem Drittel des Gesamtkapitals aufzustokken. Zu diesem Zweck soll die Bundesregierung auf die Sonderablieferung verzichten und die Ablieferung bei Telekom in dem Umfang vermindern, der zur Kapitalerhöhung notwendig ist. Leider haben die Koalitionsfraktionen diesem Antrag nicht zugestimmt, offenbar mit schlechtem Gewissen.Immerhin scheint der Postminister erkannt zu haben, daß unsere Forderungen sehr wohl begründet waren; denn zumindest im Verkehrsgebiet Ost will der Finanzminister künftig auf die umsatzbezogene Ablieferung für alle drei Postunternehmen verzichten. Wir begrüßen das ausdrücklich, halten diese Maßnahme jedoch immer noch nicht für ausreichend.Es ist doch völlig absurd, daß die gelbe Post eine Ablieferung in Höhe von rund 1,7 Milliarden DM an den Bund leisten muß, obwohl sie Verluste in nahezu gleicher Höhe einfährt. Durch den Verzicht auf die Ablieferung würde das Unternehmen Bundespost schwarze Zahlen schreiben. Das hätte auch für die Telekom eine erheblich entlastende Wirkung, da damit die Finanzausgleichszahlung, die die Telekom bisher leisten mußte, entfallen würde.Auch die Postbank wird durch die Ablieferung überproportional belastet. Würde die Postbank wie ein normales Unternehmen Steuern zahlen, müßte sie
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5193
Iris Gleickestatt derzeit etwa 250 Millionen DM im Jahr Ablieferung an den Bund lediglich 50 Millionen DM Steuern zahlen.
Der Bundespostminister tut nichts gegen das finanzielle Ausbluten seiner Unternehmen. Im Gegenteil: Wie am Beispiel der Sonderablieferungen deutlich geworden ist, mutet er ihnen noch zusätzliche finanzielle Belastungen zu.Die Sicherung der Eigenwirtschaftlichkeit der Unternehmen der Deutschen Bundespost und die Erhaltung und Stärkung ihrer Finanzkraft sind kein Selbstzweck. Sie sind notwendig und unverzichtbar, weil die Postunternehmen im Unterschied zu x-beliebigen Betrieben einen klaren öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben.
Sie müssen — so will es die Verfassung, und so sieht es zumindest dem Wortlaut nach das Strukturgesetz vor — moderne, erschwingliche Dienstleistungen zu gleichen Tarifen flächendeckend zur Verfügung stellen. Damit diese Aufgabe erfüllt werden kann, haben die Unternehmen besondere Rechte. Ich spreche hier von den Monopolbereichen. Das Netzmonopol, das Telefondienstmonopol und auch das Briefmonopol müssen erhalten und die Einnahmen daraus gesichert werden, damit die Unternehmen auch dort den Infrastrukturauftrag erfüllen können, wo dies gewinnbringend nicht möglich ist.Wir haben große Sorgen, daß auch in diesem Bereich der Minister anders handelt, als er spricht. Tatsächlich erleben wir jedoch, daß er diesen Anforderungen nicht gerecht wird und im Zweifelsfalle die ihm anvertrauten Unternehmen gegenüber privaten Unternehmen eher benachteiligt. Die jüngsten Auseinandersetzungen über die Mietleistungsgebühren für den D-2-Mobilfunkbetreiber beweisen das. Gegen die Beschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat der Telekom und gegen den massiven Widerstand der SPD-Vertreter im Infrastrukturrat
hat der Minister zugunsten des privaten Mobilfunkbetreibers und zu Lasten der Telekom die von ihr für notwendig gehaltenen Gebühren für die Überlassung von Mietleistungen drastisch reduziert. Das ist nur ein Beispiel für die Benachteiligung der ihm anvertrauten Unternehmen gegenüber der privaten Konkurrenz.
Ein letztes Wort zur Situation der Postbediensteten im Osten. Man ärgert sich über Briefe und Pakete, die zerfetzt ankommen. Man ärgert sich, wenn man nach Thüringen telefonieren will und einen verblüfften Sachsen am Telefon hat.
Man ärgert sich über ewige Wartezeiten auf Telefonanschlüsse. — Es kann jeder gern einmal versuchen, mit einem Wahlkreisbüro zu telefonieren.Am meisten ärgere ich mich jedoch über einen Postminister, der die Bediensteten der Post in den neuen Ländern systematisch im Stich läßt. Da wird ein riesiger Stellenabbau angekündigt, ohne die technischen Voraussetzungen zu schaffen, und gleichzeitig werden die Tarifverhandlungen von den Vorständen so verschleppt, daß die verständlichen Streiks der Betroffenen ganz zufällig und unbeabsichtigt in die Vorweihnachtszeit fallen. Dann wird in der Öffentlichkeit ganz klar, wer den Schwarzen Peter hier in der Hand hält. Ich empfinde das als eine Unmöglichkeit.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als nächster hat der Kollege Manfred Kolbe das Wort.
Herr Vizepräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich, ehe ich zum Einzelplan 13 komme, kurz auf den Kollegen Wieczorek eingehen, der mich vorgestern im Zusammenhang mit den Kosten der deutschen Einheit genannt hat. Herr Wieczorek, was die angeblichen 109 Milliarden DM Transferleistungen im Bundeshaushalt 1992 betrifft, haben Sie recht. Sie werden in der Debatte aber auch festgestellt haben, daß sie mittlerweile aus der haushaltspolitischen Diskussion verschwunden sind. Wir haben beide in den letzten zwei Tagen aufgepaßt; sie kamen nicht mehr vor. Das ist gut so.Ein anderes finanzpolitisches Ärgernis ist aber leider noch nicht vom Tisch, nämlich die Tatsache, daß sich die westdeutschen Länder nicht an den Kosten der Einheit beteiligen, ja sogar an dieser Einheit verdienen. Ich bitte Sie, darüber ebenfalls zu sprechen. Ich darf das kurz ausführen.Die Nachfrage aus den östlichen Ländern seit Ende 1989 war ein gigantisches Konjunkturprogramm West, das 1990 zu einem realen Wachstum von 4,5 % und 1991 von 3 % im alten Bundesgebiet geführt hat. Hierdurch stiegen natürlich auch die Steuereinnahmen entsprechend.Nimmt man nur ein Drittel dieser Steuermehreinnahmen als einigungsbedingt an — das ist die untere Grenze — , dann hat das zu einigungsbedingten Steuermehreinnahmen im Bundesgebiet alt von 7 Milliarden DM im Jahre 1991 und 8 Milliarden DM im Jahre 1992 geführt. Die einigungsbedingten Ausgaben der alten Länder belaufen sich dagegen lediglich auf 3 Milliarden DM im Jahre 1991 und 5 Milliarden DM im Jahre 1992. Die Altländer, meine Herren auf der Bundesratsbank, erzielen also 1991 und 1992 einen einigungsbedingten Überschuß von 4 bzw. 3 Milliarden DM. Ich halte dies für den eigentlichen finanzpolitischen Skandal der deutschen Einheit!
Dieser einigungsbedingte Nettoüberschuß erklärt auch die rasanten Steigerungsraten der Länderhaushalte, die ja ebenfalls schon Gegenstand der hiesigen
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5194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Manfred KolbeDiskussionen waren. So stieg der Haushalt des Landes Niedersachsen um sage und schreibe 8,5 %, der von Baden-Württemberg um 8,4 % und der von Hamburg um 7,5 %. Diese Steigerungsraten widersprechen allen Festlegungen im Finanzplanungsrat. Herr Wieczorek, der Bund verhält sich da mit einer Steigerungsrate von 2,9 % geradezu mustergültig.
Also, Herr Wieczorek, lassen Sie uns doch gemeinsam auch dieses zweite finanzpolitische Ärgernis einmal angehen; dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Nun zum Einzelplan 13: Post- und Telekommunikation. Der Einzelplan 13 ist nach Ausgliederung der drei Postunternehmen durch die Postreform von 1989 ein reiner Verwaltungshaushalt, allerdings mit der für den Finanzminister — für den Postminister weniger — erfreulichen Besonderheit, daß wegen der Ablieferungspflicht der Deutschen Bundespost die Einnahmen 9,34 Milliarden DM, die Ausgaben dagegen lediglich 540 Millionen DM betragen. Durch die auf Grund von Verkehrssteigerungen gestiegenen Einnahmen erhöhte sich die Ablieferung der drei Unternehmen Telekom, Postdienst und Postbank um 10,5 % auf 9,7 Milliarden DM.Im Laufe des Haushaltsaufstellungsverfahrens, Frau Gleicke, haben wir dann auf den drohenden Eigenkapitalmangel der drei Postunternehmen reagiert und haben in das Haushaltsgesetz § 27 Abs. 4 eingefügt, der die Betriebseinnahmen der Postunternehmen aus den östlichen Ländern bei der Abführung nicht berücksichtigt, um eben die Eigenkapitalausstattung zu verbessern. Der Wegfall der Ablieferung in den östlichen Ländern macht für die Telekom 400 Millionen DM aus, für den Postdienst 200 Millionen DM und für die Postbank 15 Millionen DM. Bis heute beläuft sich also die Ablieferung im Jahre 1992 auf 615 Millionen DM weniger. Das setzt sich dann in den Jahren 1993 und 1994 fort.Nun zu den Ausgaben im Einzelplan 13. Die Ausgaben steigen um 3,7 % auf 541 Millionen DM. Im Berichterstatterverfahren konnten Einsparungen in Höhe von 15 Millionen DM erzielt werden. Insbesondere bei den Personalausgaben konnten der Mitberichterstatter Walther und ich Einsparungen erzielen. Wir haben so im Stellenbereich des Ministeriums 13 kw-Vermerke kegelgerecht ausgebracht. Außerdem hat der Haushaltsausschuß auf Grund eines Berichts des Rechnungshofes fünf weitere Stellen des höheren Dienstes gesperrt, und im Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen in Saarbrücken wurden 20 Planstellen gestrichen.Da wir beim Personal sind und da das heute schon vielfach angesprochen wurde, gestatten Sie mir auch ein Wort zu den kommenden Tarifrunden. In dieser Debatte heute ist von vielen Rednern darauf hingewiesen worden, daß sich Lohnsteigerungen am Produktivitätszuwachs orientieren müssen. Das ist natürlich grundsätzlich richtig.
Richtig ist aber auch, Herr Minister, daß Sie einem Briefträger in Potsdam nur noch für einen sehr begrenzten Zeitraum klarmachen können, daß er nur gut die Hälfte dessen verdient, was sein wenige Kilometer weiter arbeitender Kollege in Berlin verdient. Das werden wir nicht über das Jahr 1994 hinaus durchhalten.Allgemein gilt: Wir haben in Deutschland jetzt einen einheitlichen Arbeitsmarkt und können deshalb die Angleichung der Löhne und Gehälter nicht über einen bestimmten Zeitraum hinausschieben; sonst wandern die Facharbeiter weiter ab, wie das heute noch tagtäglich in Sachsen und den anderen östlichen Ländern passiert. Die Schätzungen gehen dahin, daß monatlich noch 5 000 bis 10 000 Menschen abwandern. Das sind qualifizierte Facharbeiter. So können wir den Aufschwung nicht bewältigen. Ich bitte, auch dies zu berücksichtigen.
Relativ breiten Raum nahm im Haushaltsausschuß die Frage des Standorts des 1989 gegründeten und jetzt im Aufbau befindlichen Bundesamtes für Post und Telekommunikation ein. Ursprünglich war Mainz als Standort vorgesehen. Da Herr Gerster nicht mehr anwesend ist, kann ich dazu ein paar Worte verlieren.
Der Haushaltsausschuß hatte im Mai das Bundesministerium nahezu einstimmig — das ehrt ihn — gebeten, diese Standortentscheidung zu überprüfen und insbesondere einen Standort in den östlichen Ländern in die Überlegungen einzubeziehen. Diesen Prüfungsauftrag hat das Ministerium bis heute nicht erfüllt.Der Haushaltsausschuß hat daher erneut nahezu einstimmig — das ehrt ihn wieder — durch einen entsprechenden Vermerk im Haushaltsplan klargestellt, daß die Standortentscheidung offen ist. Das betone ich. Dies begrüße ich auch außerordentlich. Denn von 176 Bundesoberbehörden und Bundesgerichten befindet sich derzeit keine einzige Institution in den östlichen Ländern außerhalb von Berlin. Wir sind uns wohl alle einig: Das kann nicht so bleiben, wenn die östlichen Länder gleichberechtigt am staatlichen Leben in Deutschland teilhaben sollen.Was also liegt näher, als umgehend eine noch aufzubauende Behörde, bei der wir nicht die ganzen sozialen Probleme der Verlagerung haben, in einem der östlichen Länder anzusiedeln? Die Föderalismuskommission wird sich damit beschäftigen und ich setze großes Vertrauen in diese Kommission.Zum Abschluß, meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Worte zum aktuellen Stand der Telekommunikation in den östlichen Ländern machen. Herr Bundespostminister, um dieses Thema ist es relativ ruhiger geworden. Das spricht für Sie. Offenbar ist die frühere Telefonmisere beendet; wir sind deutlich auf dem Weg der Besserung. Ich darf dazu ein paar Zahlen nennen. Ende 1989 gab es in der ehemaligen DDR ganze 1,8 Millionen Telefonanschlüsse. Während 92 % aller Haushalte in Westdeutschland ein Telefon besaßen, waren es in der DDR nur 17 %
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5195
Manfred KolbeÜber 2 000 Orte hatten überhaupt keinen Telefonanschluß. DDR-Bürger warteten auf ein Telefon länger als auf ein Auto, und darauf wartete man schon sehr lange. Von Ost- nach Westdeutschland gab es ganze 111 Telefonleitungen; von West nach Ost gab es ca. 800 Telefonleitungen.1990 wurde von der Telekom ein Sofortprogramm eingeleitet. Es wurden 160 000 Anschlüsse neu geschaltet. Die Zahl der Leitungen von Ost nach West wurde von 111 auf 2 054 verzwanzigfacht.Bis zum Ende des Jahres 1991 wird die Telekom rund eine halbe Million neuer Hauptanschlüsse einrichten. Das ist eine Steigerung um 30 % in einem Jahr gegenüber dem Altbestand. In der Zahl von einer halben Million sind in etwa 90 000 Neuvergaben enthalten, so daß wir immerhin auf einen Nettozuwachs von 410 000 Telefonen kommen.Den Durchbruch in der Ost-West-Verbindung brachte vor allen Dingen im Sommer dieses Jahres die Einschaltung des digitalen Overlay-Netzes. Seitdem kann man halbwegs normal telefonieren. Man hat zwar immer noch einmal den einen oder anderen in der Leitung, wie es mir gestern abend wieder passiert ist, aber es geht deutlich besser. Das muß man auch einmal sagen.
Die Anzahl der Ost-West-Verbindungen erhöhte sich dadurch schlagartig auf 34 000. Spätestens zum Jahresende soll sich die Ost-West-Telekommunikation auf bundesdeutschem Standard befinden.Auch bei den Telefonzellen tat sich manches. 10 000 neue Telefonzellen wurden eingerichtet. Es stellt allerdings ein Ärgernis dar, daß davon allein 3 000 ausgewechselt werden mußten, weil Beschädigungen durch Vandalismus oder Beraubung eintraten. Dies ist unnötig.Beeindruckend sind auch die Ausbauziele für 1992. Geplant sind 600 000 neue Hauptanschlüsse, wodurch der Bedarf der Geschäftskunden endlich befriedigt sein dürfte. Dies ist immer noch ein großes Problem. Ich erlebe es in den Wochen, in denen ich im Wahlkreis bin. Gründen Sie einmal eine Existenz ohne eigenes Telefon. Das ist eine verdammt schwierige Sache. Wir sind deshalb sehr dankbar, daß das nächstes Jahr endgültig der Vergangenheit angehört. Vielen Dank für diesen Ausbau, Herr Minister.
— Ich danke dem Minister stellvertretend für die Kollegen der Telekom vor Ort, die das tatsächlich durchführen.
— Man lobt sich ungern selbst.Zurück zum Haushalt: Ich bitte Sie, dem Entwurf des Einzelplans 13 in der Ausschußfassung zuzustimmen.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Wieland Sorge.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter, der— genau wie meine Vorrednerin von der SPD, Iris Gleicke — aus einem Wahlkreis in Thüringen kommt, kann ich täglich vor Ort ganz konkret feststellen und erleben, wie wichtig eine funktionierende moderne Post- und Telekommunikationsinfrastruktur für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern, für die Ansiedlung neuer Unternehmen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist. Mein Vorredner hat das soeben auch schon dargestellt. Ich kann dem voll beipflichten.In diesem Zusammenhang möchte ich den Beschäftigten in den Postunternehmen — trotz mancher Pannen, die nicht ausbleiben können — für die bisher geleistete Arbeit ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen.
Die gewaltigen Herausforderungen können die Postunternehmen jetzt und in den kommenden Jahren nur dann bestehen, wenn sie ihre Aufgaben nicht nach streng betriebswirtschaftlichen Kriterien in Angriff nehmen, sondern wenn sie einen politisch gewollten übergeordneten Infrastrukturauftrag erfüllen. Die Sicherung dieses Infrastrukturauftrags in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern hat für uns höchste Priorität. Da die Postunternehmen ihre Ausgaben durch eigene Einnahmen finanzieren müssen und keine Subventionen oder Zuschüsse erhalten— im Gegenteil: sie liefern Milliarden an den Bund ab — , können sie diese wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe nur erfüllen, wenn sie über die entsprechende Finanzkraft verfügen.Meine Kollegin Iris Gleicke hat auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die aus der völlig unzureichenden Eigenkapitalausstattung der Deutschen Bundespost Telekom resultieren, und zu Recht das Verhalten des Bundespostministers kritisiert, der seiner Verantwortung in dieser Hinsicht nicht nachgekommen ist.
Wie leichtfertig der Postminister die wirtschaftlichen Grundlagen der Post Telekom aufs Spiel setzt, zeigt sich auch an den sogenannten Eckpunktepapieren, mit denen der Postminister aus eigener Machtvollkommenheit und ohne demokratisch legitimierte Kontrolle durch Verwaltungsanweisungen definiert, was genau unter dem Netz- und Telefondienstmonopol zu verstehen sein soll. Hinter den technisch schwer verständlichen Beschreibungen verbirgt sich eine gefährliche Aushöhlung der für die Eigenwirt-5196 Deutscher Bundestag — 1.2. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991Wieland Sorgeschaftlichkeit der Telekom unverzichtbaren Monopole für den Netz- und den Telefondienst.So sollen — um nur wenige Beispiele zu nennen — die Errichtung privater Netze für unternehmensinterne Übertragungen von Telefongesprächen ermöglicht und das Betreiben öffentlicher Telefonzellen durch Private ebenso wie die Zusatzdienstleistungen von Telefonkonferenzen oder Ansage- und Auskunftsdiensten erlaubt werden. Wenn man weiß, daß über 90 % der Einnahmen der Telekom aus dem Telefondienst stammen, kann man sich unschwer ausmalen, welche finanziellen Auswirkungen ein Aushöhlen dieses Monopols für das Unternehmen bedeutet.Meine Fraktion ist deshalb gemeinsam mit dem Arbeitskreis der Bundesländer für Post und Telekommunikation der Auffassung, daß die im Poststrukturgesetz festgeschriebenen Monopole durch das Eckpunktepapier keinerlei Einschränkung erfahren dürfen.
Eine auch nur teilweise Öffnung des Telefondienstes für den Wettbewerb könnten das finanzielle Gleichgewicht der Post Telekom und damit auch die Erfüllung des Infrastrukturauftrages gefährden.
In den neuen Bundesländern muß nicht nur eine völlig neue Telekommunikationsinfrastruktur aufgebaut werden; auch im Postwesen sind einschneidende Umstellungen erforderlich. Die Post in der ehemaligen DDR hatte andere Aufgabenschwerpunkte gesetzt -- ich nenne z. B. den Postzeitungsdienst —, kannte zum größten Teil keine Hauszustellung von Briefen und Paketen wie in der alten Bundesrepublik und ist technisch und in den baulichen Anlagen völlig überaltert.Wir sind uns darüber im klaren, daß die objektiv schwierigen Anpassungen der Dienstleistungsqualität im Brief- und Paketdienst nicht von heute auf morgen durchgeführt werden können. Sie dürfen jedoch nicht allein und zuallererst auf dem Rücken der Beschäftigten der Deutschen Bundespost und ihren Kunden in den neuen Ländern durchgeführt werden.
Der dort bei der gelben Post geplante Beschäftigungsabbau von mehr als 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bis zum Jahre 1992 ist angesichts der hohen und weiter ansteigenden Arbeitslosigkeit nicht vertretbar. Er ist auch betrieblich mehr als fraglich, wenn man berücksichtigt, daß die Arbeitsmengen allein im ersten Halbjahr 1991 bei den Briefsendungen von West nach Ost um mehr als 440 % und bei den Paketsendungen um mehr als 200 % gestiegen sind.Wer erlebt, daß man heute in den neuen Bundesländern wochenlang nach der Absendung darauf warten muß, bis man einen Brief oder ein Paket erhält, kann nur schwer nachvollziehen, daß die Post Mitarbeiterentläßt, statt alle verfügbaren Kräfte zur Verbesserung der Dienstleistungsqualität einzusetzen.
Es ist kein seltener Fall, daß ein Brief von Bonn nach Berlin vier Wochen braucht. Das kann ich an einigen Beispielen belegen.Die Verbesserung der Dienstleistungsqualität betrifft nicht nur die unvertretbar langen Laufzeiten, sondern auch die Tatsache, daß beispielsweise in den neuen Bundesländern bis heute noch ein Großteil der Briefe und Pakete nicht ins Haus zugestellt werden. Erst wenn diese Mißstände behoben sind, wenn die Dienstleistungsqualität stimmt, kann der notwendige Personalbestand bei der gelben Post ermittelt werden. Dazu gehört auch, daß das Unternehmen Postdienst Klarheit darüber schaffen muß, wie beispielsweise der Brief- und Schalterdienst künftig organisiert und wie und in welcher Form gemeinsame Dienstleistungen mit der Postbank angeboten werden sollen.
Wir plädieren hier nachdrücklich dafür, die Verbundvorteile, die eine gemeinsame Nutzung vorhandener Einrichtungen ermöglichen, zu nutzen.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung zu den ausgesetzten Tarifverhandlungen der Post in den neuen Bundesländern. Ich finde es ausgesprochen unfair, daß der Postgewerkschaft zum Teil unterstellt wird, ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit Kampfmaßnahmen zu planen, um ihre Forderungen durchzusetzen.
Tatsache ist, daß der Vorstand Postdienst die Verhandlungen monatelang verschleppt hat, so daß sich der Verdacht geradezu aufdrängt, daß die Gewerkschaft mit unpolulären Streiks in dieser Zeit in Mißkredit gebracht werden soll.
Daß die Defizite im Osten sehr viel größer als im Westen sind, mag stimmen. Die Diskussion darüber ist aber der politischen Entwicklung hin zur Einheit nicht dienlich. Wir müssen noch einmal darüber beraten, wie es sich wirklich verhält.Meine Damen und Herren, daß sich die Unternehmen der Deutschen Bundespost wirtschaftlich verhalten müssen, daß sie nicht auf Dauer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen können, denen keine sinnvolle Arbeit für die Kunden und das Unternehmen angeboten werden kann, versteht sich von selbst. Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen dürfen sich allerdings nicht auf Personalfragen verengen. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmensvorstände vor allem deshalb an der Personalschraube drehen, um zumindest Scheinerfolge bei ihren Bemühungen um eine Ergebnisverbesserung vorzeigen zu können.Ich hätte mir gewünscht, die Deutsche Bundespost -- jetzt spreche ich in die Vergangenheit gerichtet — hätte sich von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen leiten lassen, als es um die Einrichtung von Breitbandver-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5197
Wieland Sorgeteilnetzen für den Empfang von Hörfunk- und Fernsehprogrammen ging.
— Gleich, Herr Pfeffermann. — Die dabei aufgelaufenen Defizite von 1983 bis heute dürften inzwischen knapp die 10-Milliarden-DM-Grenze erreicht haben. Jährlich kommt mindestens eine weitere Milliarde hinzu.Die Bemühungen des Postministers, mit Hilfe privater Betreiber und Vermarkter von Breitbandkabelanlagen eine schnellere und wirtschaftlich tragfähigere Versorgung mit Breitbandanschlüssen zu erreichen, sind ebenfalls total gescheitert. Der Bundesrechnungshof hat vor wenigen Wochen ein Gutachten vorgelegt, das für den Bundespostminister in dieser Hinsicht vernichtend ausgefallen ist.Die politischen Altlasten in Milliardenhöhe, die der Bundespostminister seinem Unternehmen Telekom als Danaergeschenk hinterlassen hat, dürfen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Gesamtsituation der Telekom nicht übersehen werden. Angesichts der riesigen Verluste will der Vorstand der Post Telekom die monatlichen Gebühren für den Kabelanschluß um bis zu 24 % anheben. Die Dummen sind also letztlich die Kabelkunden, die der Postminister mit Versprechungen und günstigen Gebühren in sein Netz lockte und die nun die drastischen Gebührenerhöhungen hinnehmen müssen.
— Ja.Es geht uns nicht darum, die Post Telekom in ein schlechtes Licht zu rücken. Wir wollten nur die Mängel aufzeigen. Es ist nicht unsere Aufgabe, das Ministerium besonders zu loben.
Wir haben vielmehr deutlich machen wollen, daß eine Reihe von Veränderungen notwendig sind. Wir sind bereit, mit allen zuständigen Stellen zu verhandeln und mit ihnen gemeinsam neue Lösungen zu suchen und konstruktive Vorschläge zu machen.
Das Wort hat nun der Abgeordnete Jürgen Timm.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorgelegte Haushaltsplan ist eigentlich sehr mager. Das liegt ganz einfach daran, daß die wichtigen Wirtschaftspläne 1992 der drei neuen Postunternehmen noch nicht vorliegen, weil sie entweder nicht verabschiedet oder nicht genehmigt sind.
Deswegen weist auch nur eine einzige Zahl in demHaushaltsplan auf seinen Staatshaushaltscharakterhin. Das sind die 9,7 Milliarden DM Postablieferung.
Aber von den drei Unternehmen liegen zu den Jahresabschlüssen 1990, also für das erste Jahr, die entsprechenden Berichte vor. Daraus lassen sich doch schon einige Entwicklungen für die Zukunft ablesen.Zum Beispiel hat das Unternehmen Postbank 1990 immerhin ein positives Betriebsergebnis erwirtschaftet. Nur dadurch, daß Postablieferung und Wertpapierabschreibungen stattfinden mußten, muß die Postbank einen Verlust von rund 400 Millionen DM ausweisen, der durch den Finanzausgleich gedeckt wird. Das Betriebsergebnis für 1991 und die Postablieferung werden sicherlich höher ausfallen.Es gibt aber ein Problem für 1992, auf das ich kurz eingehen möchte, nämlich daß sich Postbank und Postdienst noch nicht darüber geeignet haben, wie denn die Nutzung der Poststellen in der Zukunft geschehen soll. Der Differenzbetrag beider Vorstellungen liegt derzeit noch bei 1 Milliarde DM. Es ist zwar richtig, daß sich Politik nicht in die Geschäfte der Unternehmen einmischen sollte, aber ich glaube, eine Forderung muß erlaubt sein: daß hier schnellstmöglich eine Einigung dahin gehend erzielt wird, daß auch die Postbank reell an den Kosten der Postdienststellen beteiligt wird, ohne daß sie im Wettbewerb mit den anderen Banken einen Nachteil erleidet.
Das wäre eine Grundvoraussetzung dafür, daß die Postbank auch in der Fläche, möglichst in allen Poststellen, erhalten bleiben kann. Ich denke, daß der Begriff Post als Markenzeichen so weiterhin erhalten bleiben kann.Das Unternehmen Postdienst schließt 1990 erwartungsgemäß mit einem hohen Verlust ab und muß aus dem Finanzausgleich unterstützt werden. Auch wenn 1991 ein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, kann man daraus noch keine abschließenden Prognosen für das Wirtschaftsjahr 1992 ableiten.Die Situation ist schwierig, insbesondere beim Aufbau in den neuen Bundesländern. Wenn 1991 500 Millionen DM und in den nächsten Jahren weitere Mittel zur Verfügung gestellt werden, rechnet der Postdienst immerhin für 1995 mit schwarzen Zahlen. Das wäre doch ein positiver Vorgang.Daß nun der gesamte Standard Westdeutschlands nicht auf Anhieb auf die neuen Bundesländer zu übertragen ist, dürfte auf Grund der Situation eigentlich klar sein.Das Unternehmen Telekom hat ein gutes Wirtschaftsergebnis 1990 erzielt, aber durch die Postablieferung ist der Gewinn auf Null zurückgeschrieben worden.
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5198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Jürgen Timm— Darüber werden wir gleich noch zu sprechen haben.Das Geschäftsjahr 1991 wird ähnlich sein und das Ergebnis 1992 wahrscheinlich wieder so eintreten. Auch wenn für die neuen Bundesländer die Postablieferung ausgesetzt ist, kann man beim besten Willen nicht erwarten, daß bessere Ergebnisse zu erzielen sind.Für 1992 wird von einer freien Finanzspitze von 400 Millionen DM ausgegangen, die zur Kapitalaufstockung verwendet werden soll. Jetzt sind wir schon in dem Problembereich, den Sie eben angesprochen haben: daß die Kapitalaufstockung bei dem zu erwartenden Betriebsergebnis 10 Milliarden DM betragen müßte.
Das können wir aber weder aus dem Staatshaushalt noch aus dem Gewinn ohne weiteres bereitstellen. Sonst müßten wir an anderer Stelle Kredite aufnehmen; jetzt werden sie an dieser Stelle aufgenommen, etwa 17 Milliarden DM abzüglich der 400 Millionen DM. Darüber müssen wir sprechen. Hier kann nur helfen, privates Kapital einzubringen. Deswegen meine ich, daß wir richtig beraten sind, auf eine Änderung des Art. 87 des Grundgesetzes hinzuarbeiten, damit das möglich wird.
Das gleiche gilt für die Postbank; denn sie ist das Unternehmen, das für eine Privatisierung prädestiniert wäre, wenn die Voraussetzungen, wie ich sie eben geschildert habe, einträten.Beim Postdienst kann es 1995 besser werden. Aber ohne Rationalisierung und ohne Einschnitte in die Personalstruktur geht es einfach nicht. Das muß man, wenn man sich damit vor Ort beschäftigt, sehen. Wenn wir erreichen wollen, daß die gelbe Post wie bisher überall in der Fläche erhalten bleibt, dann müssen wir auch ungewöhnliche Vorschläge und Schritte akzeptieren. Also: Warum können wir im Hinblick auf die Flächenpräsenz der Post nicht über ein meines Erachtens notwendiges und durchaus realisierbares Verfahren der Teilprivatisierung nachdenken? Warum soll das tabu sein?
— Das wäre immerhin ein Weg. Warum sollten wir über diesen Weg nicht diskutieren und ernsthaft nachdenken und ihn dann auch beschreiten?Die Telekom wird zwar immer kritisiert, daß alles nicht so läuft, wie man sich das gerne wünscht. Aber wenn man einmal etwas hinter die Kulissen schaut und sieht, wie die Verhältnisse beim Wiederaufbau in den neuen Bundesländern tatsächlich sind, dann muß man auch der Telekom durchaus ein Lob dafür aussprechen, daß hier Gewaltiges geleistet worden ist.
Wir haben ja in einigen Bereichen vier Generationenvon technischen Einrichtungen, die sich über denZeitraum von 1924 bis 1991 erstrecken, zu verkraften. Daß das nicht nahtlos und ohne Probleme geht, kann sich, glaube ich, jeder vorstellen.Die Poststrukturreform hat den richtigen Weg gezeigt; sie muß fortgesetzt werden.
Die FDP-Fraktion unterstützt den Minister in diesem Vorhaben.
Das ist schon allein mit Blick auf den gemeinsamen europäischen Markt 1993 wichtig, wichtig auch mit Blick auf die Abhängigkeit deutscher Zulieferer von Monopolbeschränkungen für den Fall, daß sie im Ausland Geschäfte tätigen wollen. Ich meine, die Fortführung der Poststrukturreform ist hier das einzig geeignete Mittel.Es soll nichts übers Knie gebrochen werden, Herr Börnsen. Aber wir sollten ernsthaft in ein Gespräch darüber eintreten,
was wir hier richtigerweise machen können. Wir sitzen alle in einem Boot.
Wenn einer streikt, geht das zu Lasten der anderen. Das Boot kommt dann nicht da an, wo es eigentlich ankommen soll. Das sage ich vor dem Hintergrund der derzeit stattfindenden Tarifverhandlungen, die offensichtlich scheitern werden, wie man heute gelesen hat, die einen ganz entscheidenden Punkt zum Gegenstand haben, nämlich die Frage, ob ein globaler Rationalisierungsschutz eingeführt werden kann. Aber wie soll das funktionieren? Die gleichen Leute fordern auf der einen Seite, moderne Technik schnell und ohne große Probleme einzuführen, und auf der anderen Seite sagen sie: Aber Rationalisierungen dürfen nicht stattfinden.
Das kann nicht funktionieren!
Wir haben die Pflicht, hier voranzugehen und die Entscheidungen dafür zu treffen, daß die Post für die zukünftige Entwicklung einen Gestaltungsraum hat. Die Sache duldet keinen Aufschub mehr. Ich bitte Sie deshalb ganz ernsthaft, die in Zukunft notwendigen Schritte in einem gemeinsamen Gespräch zu klären.
— Ich will das gern sagen: Wir sind ja ständig im Gespräch, und es gibt unterschiedliche Runden, die darüber diskutieren.Wir stimmen dem Posthaushalt 1992 zu.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5199
Jürgen TimmVielen Dank.
Meine Damen und Herren, bevor ich dem Minister für Post und Telekommunikation das Wort erteile, möchte ich fragen, ob das Haus damit einverstanden ist, daß der Abgeordnete Dr. Schumann seine Rede zu Protokoll gibt.* )
— Das Haus ist damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich vermerke das um so dankbarer, als ich das Haus darauf aufmerksam machen möchte, daß die Sitzung nach der jetzigen Debattenplanung heute abend über 24 Uhr hinausgeht. Wir sind also schon sehr erfreut, wenn solche hilfreichen Angebote beim Präsidium eingehen. Das darf durchaus als Aufforderung verstanden werden.
Nunmehr haben Sie, Herr Minister Dr. SchwarzSchilling, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir alle haben in den letzten Monaten empfunden, wie wichtig Kommunikation ist: zwischen Menschen, zwischen Unternehmen. Das fällt besonders dann auf, wenn sie irgendwo einmal nicht funktioniert.
Gerade die neuen Bundesländer machen uns bewußt, welch riesige Rolle Kommunikation spielt und wie wichtig sie als Voraussetzung für das Wachstum unserer ganzen Volkswirtschaft ist.
Ich darf mich hier an Stelle der Unternehmen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Unternehmen bedanken, die wirklich Ungeheures geleistet haben, und zwar im ersten Halbjahr unter der Dauerbeschimpfung der Öffentlichkeit, sie täten nichts, weil natürlich die wenigsten gemerkt haben, daß unten in den Schächten und daß in den Digitalstellen im Dreischichtenbetrieb an sechs Tagen in der Woche gearbeitet wird. Wenn sich da scheinbar nichts tat, meinten die Leute, daß alles schläft. Erst als man die sieben Overlay-Netzvermittlungsknoten eingeschaltet hat, war plötzlich das Erstaunen groß. Die Deutsche Bundespost erfreut sich jetzt wirklich einer großen Zustimmung. Viele, viele Bürgerinnen und Bürger aus den fünf neuen Bundesländern schreiben heute begeisterte Briefe, daß sie nicht geglaubt haben, daß es so schnell funktioniert.
— Die gehen auch an den Minister; denn warum sollen die Leute dort besser orientiert sein als im Westender Bundesrepublik, wo ich ja auch für jeden Postka-*) Anlage 2sten, der irgendwo nicht richtig hängt, verantwortlich gemacht werde?Im übrigen wäre dies natürlich nicht möglich gewesen, wenn ich nicht schon zu Zeiten der DDR — also vor der Wiedervereinigung — in den Jahren 1989/90 mit meinen damaligen Kollegen entsprechende Planungen abgestimmt hätte. Da gab es natürlich Vereinbarungen zwischen den beiden Regierungen. Wir haben uns schon zu diesem Zeitpunkt zusammengesetzt, und ich bin stolz darauf, daß wir im Unterschied zur Bundesbahn die Integration der Unternehmen mit einem Schlage vollzogen haben. Wir wollen mal sehen, wie schwierig das jetzt für Reichsbahn und Bundesbahn in der nächsten Zeit werden kann. Ich glaube, daß wir hier die richtigen Entscheidungen getroffen haben.
Frau Kollegin Gleicke, Sie haben einiges über die Bewertung der Postreform gesagt. Nun, daß es Pannen gab, auch Fehler gab, das ist vollkommen unbestritten. Es ist eine so riesige Umorganisation, die in diesen Unternehmen durchzuführen ist, daß Sie selbst unter normalen Bedingungen eigentlich mit zwei bis vier Jahren rechnen müssen, bis ein eingeschwungener Zustand von Führungsstruktur, Organisationsstruktur und Aufgabenerfüllung gegeben ist.Auf der anderen Seite, so muß ich sagen, ist die Aufgabenstellung für das neue Management, genau zu dem Zeitpunkt, als es an Bord genommen wurde, die Wiedervereinigung zu meistern, natürlich eine außergewöhnliche Herausforderung. Es ist jetzt eigentlich etwas billig, manche Pannen, die nun auf Grund dieser Priorität entstehen mußten, der Poststrukturreform anzulasten. Ich würde umgekehrt sagen: wenn wir die nicht vorher abgeschlossen hätten, wären wir niemals in der Lage gewesen, den Aufbau der Infrastruktur im Osten mit dieser Schnelligkeit zu leisten. Das ist meine ganz klare Auffassung!
Nun, Sie haben zu Recht die Frage der Eigenkapitaldecke angesprochen. Ich muß hier wirklich das Wort zurückweisen, wir hätten die Bilanzen um 8 Mil-harden DM schöngerechnet. Es geht hier um den nackten Unterschied zwischen kameralistischer und betriebswirtschaftlich-handelsrechtlicher Bilanzierung.
Wenn Sie nach dem Handelsrecht zu bilanzieren haben, dann müssen Sie Ihr Anlagevermögen nach dem Niederstwertprinzip ansetzen.
— Nein, wir wußten nicht, in welcher Größenordnung. Das hätten 3 Milliarden, das hätten 6 Milliarden sein können. Es waren ursprünglich 12 Milliarden vorgesehen. Dann ist man auf 7 bis 8 Milliarden heruntergegangen, nachdem man noch einmal ganz genau geprüft hat, was handelsrechtlich noch vertretbar
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5200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schillingist und ob man die Abschreibungen auf mehrere Jahre verteilen kann. Das sind alles Fragen, die man mit den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zu besprechen hatte, die erst nach der Strukturreform hinzugezogen werden.Von daher gesehen, möchte ich auch hier sagen: Gehen Sie mal nach England, nach Japan oder nach Amerika. Sie werden dann sehen: Dort sind meistens größere Veränderungen im Anlagevermögen vorgenommen worden als bei den Unternehmen der Deutschen Bundespost.
— Nein! Sie waren nach der Kameralistik richtig. Aber das Handelsrecht hat Risikovorschriften, und die müssen beachtet werden.Noch eine Bemerkung zur Frage des Eigenkapitals: Als die Bundespost in den 60er Jahren die Infrastruktur der Bundesrepublik aufbaute — das war die Zeit, in der hier etwa die Ortsnetze ausgebaut wurden —, hatte sie ein Eigenkapital von unter 10 %. Dann wurde durch die sehr vernünftige Aussetzung der Ablieferung in 15 Jahren das Eigenkapital auf die jetzige Größenordnung aufgebaut.Auch ich hätte das Problem lieber so gelöst, daß wir jetzt weiteres Eigenkapital aufbauen könnten. Ich habe zwar zur Kenntnis genommen, daß es unglaublich sei, was der Postminister hier gemacht habe. Aber man muß die entsprechenden Entscheidungen in der Solidarität einer Regierung treffen. Daß ich mich im Interesse der Unternehmen bemüht habe, die Abgaben nicht zu erhöhen, sondern zu verringern, weiß jeder, der guten Willens selber in die Zeitungen geschaut hat. Das brauche ich hier doch wohl nicht weiter hervorzuheben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Einen kleinen Moment, bitte. — Daß der Finanzminister jetzt zugestanden hat, die Abgabe für das Ost-Gebiet nicht mehr zu erheben — und zwar nicht vorübergehend, sondern bis zur Überführung der Unternehmen in die normale Besteuerung, die ab 1995/1996 auch nach dem Gesetz vorgesehen ist — , zeigt, daß die Bundesregierung die Einschätzung, die ich bereits Anfang des Jahres hatte, nämlich daß wir hier die große Frage des Eigenkapitals nicht richtig beachtet haben, heute mit mir teilt und die richtigen Signale gesetzt hat. Dafür bin ich dem Finanzminister außerordentlich dankbar. Ich glaube, wir haben hier in langer, wirklich harter Zusammenarbeit das Machbare und Mögliche im Gesamtrahmen des Bundeshaushalts doch noch erreicht. Dafür meinen ausdrücklichen Dank an den Finanzminister!
Und nun sind Sie bereit, die Zwischenfrage zu beantworten?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber sehr gern, Herr Börnsen!
Bitte schön.
Herr Minister, als wir während der Beratung des Poststrukturgesetzes im Ausschuß und auch hier im Plenum von Ihnen die Zahlen über den Eigenkapitalanteil der Telekom erfuhren, war ihnen doch bekannt, daß die notwendigen Korrekturen auf Grund der Bilanztechnik erforderlich sein würden und daß diese in vergleichbaren Fällen im Ausland zu einer erheblichen Minderung des Eigenkapitals geführt haben. Darauf haben Sie aber während der Beratung des Poststrukturgesetzes nicht hingewiesen. Also haben Sie damals die Zahlen geschönt.Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister fürPost und Telekommunikation: Nein. Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, daß wir bei einem Eigenkapitalanteil von über 43 % gelegen haben, nach der Aufteilung ungefähr bei 38 % für die Telekom, und daß ich in etwa absehen konnte, daß dies dann auf 33 % bei der neuen Bilanzierung zurückgehen wird. So war es damals in den Beratungen. Deswegen wurden für die Unternehmen ja auch nicht 38 %, sondern 33 % Eigenkapital im Gesetz festgelegt.
Lieber Herr Kolbe, ich darf hier doch eines richtigstellen: Mein Kollege Rawe hat im Haushaltsausschuß sehr wohl das Ergebnis der Untersuchung für den Standort des BAPT in Mainz kundgetan.
Es ist dort entsprechend erörtert worden. Da kann der Haushaltsausschuß eine andere Meinung haben. Aber ich möchte doch diesen Vorwurf gegenüber dem Kollegen Rawe hier zurückweisen.
Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie sich über Einzelheiten orientieren wollen, stehen wir Ihnen ja jederzeit zur Verfügung, um die entsprechenden Kriterien offenzulegen, Ich möchte Sie also bitten, davon Gebrauch zu machen, aber hier nicht in dieser Weise eine falsche Äußerung vorzunehmen.
Herr Kolbe, auch bezüglich der Frage des Briefzustellers in Potsdam muß ich einen Punkt ansprechen. Glauben Sie doch nicht, daß ich nicht furchtbar gern diesem Briefzusteller die Anpassung geben würde.
-- Herr Sorge? Nein, das war von Herrn Kolbe vorgetragen worden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5201
Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling— Ja, er hatte die Sorge, aber Herr Kolbe hat es vorgetragen.
Glauben Sie doch bitte nicht, daß wir das nicht furchtbar ernst nehmen. Aber haben Sie sich einmal ausgerechnet, was das bedeutet? Ich will Ihnen einmal eine Zahl nennen: Wenn Sie bei den Postunternehmen eine Angleichung des Einkommensniveaus von Ost an West um 1 % vornehmen wollen, dann kostet dieses Prozent ca. 47 Millionen DM. Es gibt Leute, die reden von einer Anpassung von 60 auf 80 %. Wissen Sie, daß das eine Erhöhung um ungefähr 33 % ist? Und jetzt rechnen Sie bitte 33 mal 47 Millionen DM!Meine Damen und Herren, zu dem, was dann auf den Haushaltsausschuß zukommt — bei uns müssen das ja die Unternehmen bezahlen, und dann sagt man den Unternehmen, nun seht mal zu, wie ihr das bezahlt; aber Tarife dürft ihr nicht erhöhen; es wird alles eingeschränkt, aber zahlen sollen sie es Zu dem, was das dann bezüglich des übrigen öffentlichen Dienstes für den Haushaltsausschuß bedeuten würde, möchte ich schon sagen, daß sich ein Mitglied des Haushaltsausschusses diese Frage, die hier zu beantworten ist, einmal stellen sollte und das vielleicht einmal berechnen sollte.
Ich kann dazu nur sagen: Wir können uns auf diesem Sektor populistische Forderungen nicht erlauben, weil hinterher die dicke Suppe kommen wird. Wir werden Arbeitslosigkeit über Arbeitslosigkeit bekommen, weil kein Unternehmen und auch nicht der öffentliche Dienst solche Größenordnungen in den nächsten drei Jahren verkraften könnte. Sie müßten ja, wenn Sie von 1994 sprechen, praktisch in drei Sprüngen vorgehen: 80 % , 100 %, 120 %; denn in drei Jahren werden Sie das Westniveau von heute mindestens auf 120 % haben, wenn Sie es auf das Niveau von 1991 beziehen.Von daher gesehen kann ich Ihnen also nur sagen: Das wären Lohnerhöhungen pro Jahr in der Größenordnung von über 30 %. Welche Volkswirtschaft hätte bei stabilem Geld jemals eine solche Erhöhung verkraften können! — Das geht nicht.
Nächster Punkt: Kabelgebühr. Meine Damen und Herren, hierzu muß ich noch einmal folgendes sagen — Herr Sorge, Herr Pfeffermann hatte hierzu den richtigen Zwischenruf gemacht — : 3 DM Erhöhung, und dann sehen Sie sich doch einmal das an, was die öffentlich-rechtlichen Anstalten an Rundfunkgebührenerhöhungen fordern, ohne daß es eine Vermehrung an Programmen gibt. Und schauen Sie sich einmal an, wie hoch die Gebühren für Kabelfernsehen in Amerika, in England, in Frankreich sind; die liegen im Vergleich zu dem, was heute die Bundespost einnimmt, zwischen dem Doppelten und dem Dreifachen höher.Wenn der Rechnungshof seine Besorgnis ausdrückt, dann ja gerade in dem Sinne, daß rechtzeitig Gebührenanpassungen vorgenommen werden müssen, um die entsprechende Rendite noch im Laufe der Lebensdauer eines Netzes zu erreichen. Ich habe den Bericht sehr gut gelesen. Ich bin schon anderes gewohnt gewesen. In dem Bericht sind sehr gute Dinge enthalten, und die muß die Telekom sehr genau beachten. Der Bericht ist ja auch an die Telekom gerichtet.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun ein abschließendes Wort sagen: In den fünf neuen Bundesländern haben wir eine gewaltige Anstrengung mit Investitionen in Höhe von 60 Milliarden DM in den nächsten fünf Jahren vor uns. In diesem Jahr sind es — wie Sie wissen — rund 6,8 Milliarden DM von der Post und dann noch 1,6 Milliarden DM durch ein Zusatzprogramm für die Turnkey-Projekte. Insgesamt ist dies das größte Investitionsprogramm, das von irgendeiner Seite in den fünf neuen Bundesländern durchgeführt wird. Das leistet dieses Unternehmen, ohne vom Steuerzahler auch nur irgend etwas zu bekommen. Im Gegenteil, es muß sogar eine entsprechend hohe Quote abführen.In einem Punkt gebe ich Ihnen natürlich recht: Es wird die Frage gestellt, ob man das denn nicht etwas ferner von der Politik machen soll. Dazu sage ich Ihnen, obwohl ich der politisch Verantwortliche bin: Ich bin der Auffassung, daß die Politik von der Deutschen Bundespost mehr ferngehalten werden muß und in die langfristigen Planungen dieser Unternehmen nicht so stark und so willkürlich eingreifen darf.
Aber da sind alle Koalitionen gleich: Herr Matthöfer hat die Ablieferung von 6,75 % auf 10 % erhöht, als — ohne Wiedervereinigung — die Kassen leer waren. Der Finanzminister heute ist ebenfalls nicht bereit, weniger als vorher einzunehmen. Er kommt jetzt etwa auf das gleiche.Ich kann Ihnen nur sagen: Das kann man nur durch gesetzliche Maßnahmen verändern. Insofern bin ich aus vielerlei Gründen auf eine neue Postreform aus, auf eine Postreform 2. Ich bin sehr froh darüber, daß auch in der sozialdemokratischen Fraktion darüber ernsthaft nachgedacht wird, denn es steht zuviel auf dem Spiel. Man muß die internationale Situation sehen. Mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen werden die Weltmärkte von den internationalen Telefongesellschaften praktisch aufgeteilt in Osteuropa und auch in Südamerika; aber unser Flaggschiff, die Telekom, darf sich nicht beteiligen, darf deshalb nicht, weil sie nach Art. 87 des Grundgesetzes daran gehindert ist.
Herr Minister, ich bin weit davon entfernt, Ihr verfassungsmäßiges Recht, hier so lange zu reden, einschränken zu wollen. Aber mit Rücksicht auf die Gesamtsituation darf ich Sie bitten, doch — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich.Ich wollte also das, was Kollege Timm hier gesagt hat, nur noch einmal stärker betonen. Ich lade Sie alle ein, in den nächsten Wochen und Monaten Gespräche darüber zu führen, ob wir in der Verantwortung für die drei Postunternehmen nicht gemeinsam eine entspre-
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5202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schillingchende Regelung finden können, die unser Flaggschiff wieder flottmacht und die notwendige Kapitalbeschaffung ermöglicht.Ich danke Ihnen.
Herr Minister, dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses können wir eine Zwischenfrage, glaube ich, nicht verweigern.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbstverständlich!
Ich wollte den Minister nur folgendes fragen, weil er bei seiner Postreform 2 auf Art. 87 des Grundgesetzes abhebt. Herr Minister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es auch darum ginge, Art. 33 Abs. 3 und 5 des Grundgesetzes entsprechend zu ändern, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß die jeweiligen Innenminister an dieser Stelle bisher versagt haben?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege, ich bin Realist. Ich weiß, daß innerhalb von zwei, drei Jahren einer Legislaturperiode ein solches Werk nicht auf den Weg zu bringen ist. Bisher ist jede Koalition daran gescheitert. Auf Grund dieser Erkenntnis glaube ich, daß wir nur spezifische Lösungen erreichen können.
Allerdings könnte eine so spezifische Lösung sicherlich auch ein Signal setzen, daß man etwas tun muß, um den gesamten öffentlichen Dienst in adäquater Form modern weiterzuentwickeln. Dabei bin ich nicht der Meinung, daß die Substanz verändert werden muß; es müssen aber Regelungen modernisiert werden. Das ist aber nicht Aufgabe des Postministers, sondern eine Aufgabe, die von allen gemeinsam angegangen werden muß. Dies kann sicherlich nicht innerhalb eines Zeitraums von einigen Jahren geschehen. Diese Aufgabe muß — wie die Postreform 1 — innerhalb von zwei Legislaturperioden von allen angedacht werden, und dann muß darüber diskutiert werden. Aber für uns ist dieser Zeitraum zu lang, denn für den Bereich der Post-Unternehmen muß jetzt gehandelt werden.
Meine Damen und Herren, ich erkläre die Aussprache für beendet und komme zur Abstimmung.
Wer dem Einzelplan 13 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Der Einzelplan 13 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die der Opposition angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 10
Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
— Drucksachen 12/1410, 12/1600 — Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Ernst Kastning
Dr. Sigrid Hoth
Ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste liegt dazu vor. Ich frage das Haus, ob es mit einer Debattenzeit von einer Stunde einverstanden ist? — Das ist offensichtlich der Fall.
Dann können wir mit der Aussprache beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Kastning.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutschen Landwirte blicken in diesen Wochen und den nächsten Monaten mit berechtiger Sorge auf die bevorstehende Agrarreform aus Brüssel und befürchten zugleich weitere Einkommenseinbußen aus der noch nicht abgeschlossenen Uruguay-Runde des GATT.Ich teile diese Sorgen. Ich meine auch, daß — um nur ein paar Punkte zu nennen — weitere Einkommenseinbußen nicht hingenommen werden können, daß Stützpreissenkungen nur gegen Einkommensausgleich erfolgen dürfen und daß dieser Einkommensausgleich, insbesondere dann, wenn er an sozialen und an ökologischen Kriterien ausgerichtet ist, auf jeden Fall GATT-konform ist.Mir ist allerdings noch nicht klar, ob dann, wenn diese Reform kommt, von den inzwischen 63 Milliarden DM Agrarförderung der EG wirklich mehr direkt bei den Bauern ankommen wird. Das ist ja wohl, wie ich annehme, ein großes Problem.
Meine Damen und Herren, als Haushälter will ich heute aber vor allem auf das eingehen, was die deutsche Landwirtschaft jetzt und unmittelbar als Folge der Bundeshaushaltspolitik betrifft. Die Haushaltspolitik sollte, so denke ich, auf eine durchschaubare Finanzierung der Agrarpolitik allergrößten Wert legen, dies auch deshalb, um die kostenträchtige Agrarpolitik endlich aus der öffentlichen Kritik herauszubringen.
Wir sind uns doch wohl darin einig, daß Agrarpolitik, wenn sie vernünftig fortgesetzt werden soll, eine breite Zustimmung in der Bevölkerung haben muß.
— Wie die Kohle; dazu könnten sie eine Menge tun.
Ich glaube, daß Sie, Herr Minister Kiechle, bei Nichtbeachtung dieses Grundsatzes Ihrem Kabinettskollegen Möllemann das Geschäft erleichtern, die Agrarfinanzen erneut ins Visier zu nehmen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5203
Ernst KastningAuch das Kanzlerwort von gestern vormittag kann nicht darüber hinweghelfen,
daß wir ein sorgfältiges Vorgehen brauchen.
— Wir sind hier nicht in der Versammlung Ihres Betriebes für nachwachsende Rohstoffe, Herr Kollege von Hammerstein; deswegen wäre ich dankbar, wenn ich bei etwas mehr Ruhe vortragen könnte.Die Koalition schiebt schon mal haushaltsrechtliche Grundsätze beiseite, wenn es um politische Versprechungen geht, so jedenfalls geschehen, als man sich im Haushaltsausschuß weigerte, insgesamt 1,4 Milliarden DM für die Anschlußregelung zur auslaufenden Mehrwertsteuervergünstigung zunächst qualifiziert zu sperren, zu sperren deshalb, weil Sie, Herr Minister, bis zum Abschluß der Beratungen im Ausschuß nicht verbindlich erklären konnten, wie diese Anschlußregelung im einzelnen aussehen wird.
— Warten Sie mal ab! — Viel zu lange hat der Minister schlicht auf die Fortsetzung der Mehrwertsteuerregelung gesetzt, und die EG hat erwartungsgemäß — das war für jeden erkennbar — abgelehnt.Für die Anschlußregelung über den soziostrukturellen Einkommensausgleich liegen nun weder die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen vor, noch sind die Vorstellungen des Ministers hierzu, wie er selbst festgestellt hat, innerhalb der Bundesregierung abgestimmt. Die Frage ist für mich außerdem — das können Sie ja auch bei Ihren Verbänden nachprüfen —, ob sie genügend differenziert sind, um beispielsweise die flächenarmen Veredelungsbetriebe wirksam zu erreichen. Zudem muß die Zustimmung der EG und der Mitgliedstaaten noch in harten Verhandlungen erreicht werden, und sie ist wohl auch noch fraglich.Inzwischen, meine Damen und Herren, versuchen Unionspolitiker draußen im Lande — das finde ich sehr pikant — , die zögernde Finanzierungshaltung einiger Länder als Ursache für Unklarheiten festzumachen, obwohl der Bundesminister selbst seine Schularbeiten nicht gemacht hat.
Ich verstehe das Begehren der Länder, nicht immer nur auf Grund von Beschlüssen in Bonn zahlen zu müssen, sondern gerade mit Blick auf künftige Entscheidungen in Brüssel die Finanzierungsfragen zwischen Bund und Ländern auch einmal erörtert und perspektivisch geklärt zu sehen.
Nicht ohne Grund wird befürchtet, daß die Mehrwertsteuer-Anschlußregelung kein Einjahresakt bleiben wird. Jetzt hören Sie gut zu. Wohlgemerkt — Herr Kollege, ich kenne Sie persönlich leider nicht, sonst würde ich Sie mit Namen anreden — : Ich bin für den direkten Einkommensausgleich. Ich möchte als Haushälter vor Freigabe der Mittel aber wissen, wie und für wen konkret sie der Minister ausgeben will.
Von ebensowenig finanzpolitischer Klarheit zeugt das Verfahren beim Herauskauf einer Milchquote von 675 000 Tonnen auf Grundlage der EG-Beschlüsse vom Frühjahr dieses Jahres. Gemäß Sparvorgabe des Finanzministers darf das sogenannte nationale Hütchen, wie das vom Hause bezeichnet wird, über 217 Millionen DM nicht als direkte Bundesausgabe erscheinen. Die BALM muß zahlen. Ich denke, auch das ist eine Variante von Schattenhaushaltspolitik des Bundes.
Aber das ist noch nicht alles in diesem Zusammenhang. Obwohl der Finanzierungsanteil der EG in fünf Jahresraten abgewickelt wird, finanziert der Bund vor und zahlt alles in einem Betrag aus. Das mag agrarpolitisch einen Sinn machen; das will ich nicht bestreiten. Aber dafür muß wiederum die BALM mit Kreditaufnahme einspringen, für die über die Jahre der Vorfinanzierung Zinskosten von über 200 Millionen DM entstehen, die der Bund zu tragen hat.Ich frage hierzu nicht den Agrarminister — ausdrücklich nicht — , sondern den Finanzminister,
ob das im Sinne von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit ist und ob das ein vernünftiger Umgang mit öffentlichen Geldern ist.
Die Aufwendungen von darüber hinaus jährlich 114 Millionen DM Zinskosten für die BALM, um EG-Leistungen an die Bauern einigermaßen zügig und vorfinanziert auszahlen zu können, sind ein grundsätzliches kostenträchtiges Übel, das man den Bürgern wohl kaum verständlich machen kann.
Ich sehe Ihr Schmunzeln. Aber die FDP hat, Frau Kollegin Hoth, zu meiner großen Freude durch ihren Obmann ebenfalls daran Anstoß genommen und im Ausschuß erklärt, sie werde in den Folgejahren die Zinskosten für die Zwischenfinanzierung nicht mehr hinnehmen. Ein wahrhaft starkes Wort. Ich werde mir erlauben, bei den folgenden Haushaltsberatungen darauf zurückzukommen.Im übrigen hat die Bundesregierung vom Haushaltsausschuß den Auftrag bekommen, in die Richtung zu arbeiten, daß diese Kosten nicht mehr auftreten. Ich greife etwas Ihres Koalitionspartners auf. Viel-
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5204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Ernst Kastningleicht diskutieren Sie einmal mit ihm darüber. Es war immerhin Herr Weng,
der das gefordert hat und der wohl weiß, was im Finanzbereich los ist.Ich habe in den vergangenen Wochen aufmerksam die Zeitungen gelesen, die sich mit der Agrarfinanzierung beschäftigten. Ich bin darauf gestoßen, daß die „Süddeutsche Zeitung" am 18. Oktober die Agrarpolitik dergestalt kommentiert hat, daß sie sagte, sie werde nach Teppichhändlerart gemacht.
Es gibt in der Tat ein paar Anzeichen, die diese Kommentierung rechtfertigen.Erstens. Da wird der CDU-Landesregierung von Baden-Württemberg für 1993 ein 70-Millionen-DM-Zuschuß für den wissenschaftlich nicht hinreichend begründeten Großversuch MEKA offeriert.
— Herr Kollege, Sie können mir doch nicht weismachen, daß Sie keine Ahnung haben. Deshalb sollten Sie solche Zwischenrufe nicht machen.Auch ein Versuch muß wissenschaftlich hinreichend begründet sein. Bei näherer Betrachtung— auch das wieder aus dem Mund eines FDP-Kollegen — kann durchaus der Verdacht auftauchen, es könne sich um Wahlhilfe handeln.
Daß dem kleineren Koalitionspartner nicht ganz wohl dabei ist, haben wir in den Haushaltsausschußberatungen vermerkt. Das drückt sich auch in. einer Frage des Kollegen Paintner an die Bundesregierung aus, die er vor ein oder zwei Wochen an diese gerichtet hat. Die Kraft zur Verhinderung dieses Vorhabens war allerdings leider nicht gegeben.Zweitens. Da werden im Zusammenhang mit dem Koalitionsstreit um das Wohnungsbauprogramm von Frau Schwaetzer von einer kleinen Gruppe der Union— der Wortführer ist im Moment nicht hier; schade —— plötzlich neue Forderungen zur Agrarfinanzierung gestellt und dann in letzter Minute 125 Millionen DM zur Senkung der Unfallversicherungsbeiträge beschlossen, woran die neuen Länder im übrigen nur partiell partizipieren.
— Herr Kollege Borchert, wenn Sie aufmerksam zuhören, dann werden Sie merken, daß ich über den Stil dieser Agrarpolitik rede, der nach meiner Meinung unbedingt vernünftig sein muß.Auf der anderen Seite wird im gleichen Moment der Regierungsansatz zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" für die neuen Bundesländer um 100 Millionen DM heruntergesetzt, und zugleich fährt die Koalition die Anpassungshilfen für die ostdeutsche Landwirtschaft praktisch auf Null herunter, obwohl die Situation dort nach wie vor dramatisch ist.
— Der im Haushalt verbleibende Anteil, Frau Kollegin Hoth, von 300 Millionen DM entspricht noch nicht einmal dem, was bei einer einheitlichen Rechtslage, die wir noch nicht haben, als soziostruktureller Einkommensausgleich zu leisten wäre. Ich finde, die betroffenen Bauern müssen das schon als Etikettenschwindel empfinden.
Sie waren leider noch nicht einmal bereit, die von uns beantragten 100 Millionen DM wieder draufzusetzen, um wenigstens in besonders schwierigen Fällen Hilfe leisten zu können.Es gibt durchaus Aussagen aus dem Bereich der ostdeutschen Landwirtschaft, die die Verbitterung deutlich machen. So heißt es z. B. : Wenn man für 1992 keine Mittel mehr gibt, dann hätte man sich auch die finanziellen Aufwendungen in den vergangenen zwei Jahren ersparen können.
Ich wollte Ihnen eigentlich noch etwas Drastischeres sagen, aber ich lasse das einmal. Ich habe jedenfalls den Eindruck: Von Gleichbehandlung der Landwirtschaft in Ost und West kann keine Rede sein.
— Die Stimme von Herrn Gallus ist nicht zu überhören. Deswegen gehe ich auch noch darauf ein, auch wenn die Redezeit wegläuft.
— Mir klingt es immer besonders in den Ohren, wenn sie rufen, Herr Gallus.Lassen Sie mich noch sagen: Das, was unter „Anpassungshilfen" neu ausgewiesen worden ist, 390 Millionen DM, ist ja wohl nichts anderes als der Teil, der als Anschlußregelung für die auslaufende Mehrwertsteuer-Regelung vorgesehen ist. Das aber hat nichts mit Anpassungshilfe zu tun; steht zwar unter dem Titel, hat aber damit nichts zu tun.Meine Damen und Herren, wenn ich noch einige Worte auf die Lage der ostdeutschen Landwirtschaft verwende, dann nicht deshalb, weil ich die Sorgen der westdeutschen Landwirte übersähe, sondern deshalb, weil hier die Zuständigkeit der Bundesregierung unmittelbar wirkt und auch nötig ist.Ich glaube, wenn man die Dinge aufmerksam beobachtet, muß die Frage aufkommen, ob die schwerwiegenden Probleme beim Zusammenwachsen der unterschiedlichen Landwirtschaften in beiden Teilen Deutschlands durch die Bundesregierung ausreichend berücksichtigt werden. Hier sind gewisse Zweifel angebracht.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5205
Ernst KastningDas Grundproblem — darüber brauchen wir nicht zu streiten — liegt mit Sicherheit im Erbe der ehemaligen DDR begründet.
— Gewöhnen Sie sich doch einmal die Fähigkeit zum Zuhören an, Herr Kollege! Das wäre für uns alle gut.— Aber es wachsen gerade bei den Betroffenen die Zweifel, ob ein großer Teil der aktuellen Schwierigkeiten nicht auch ein Ergebnis einer falschen Lageeinschätzung durch die Bundesregierung ist.
Hier frage ich ganz exakt: Herr Minister Kiechle, werden Sie von Ihrer Außenstelle des Ministeriums Berlin eigentlich offen über die tatsächliche Situation informiert, oder gelangt das, was dort beobachtet wird, als verkürzter Extrakt auf Ihren Schreibtisch?Die größten Schwierigkeiten bringt gegenwärtig die Vermögensauseinandersetzung nach § 44 des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes mit si ch. Um die Höhe des tatsächlichen Vermögens — ich meine nicht den Artikel, an den Sie jetzt denken; das ist geklärt — der LPG, um die Höhe von Rückstellungen für sogenannte Altlasten und um den Auszahlungsanspruch kommt es in den Dörfern zum offenen Streit, einem Streit, der Initiativen lähmt oder gar verhindert, daß wettbewerbsfähige Betriebe aufgebaut werden können.Bereits bei den Beratungen zu diesem Gesetz haben die Agrarpolitiker meiner Fraktion auf die Gefahr des erheblichen Kapitalabflusses in den außerlandwirtschaftlichen Bereich hingewiesen.
— Aber nicht entsprechend gehandelt.
Bei Anerkennung der berechtigten Ansprüche der ausscheidenden LPG-Mitglieder sahen unsere damaligen Änderungsanträge ein weitergehendes Vertretungs- und Mitspracherecht der Boden- und Inventareinbringer vor. Konsequenterweise sollten diese allerdings dann auch für die Folgen der Vermögensauseinandersetzungen mit in die Pflicht genommen werden.
In vielen unistrukturierten Betrieben besteht, meine Damen und Herren, ganz aktuell die Gefahr, daß Auszahlungsanprüche nicht geleistet werden können und daß diese Betriebe dadurch in ihrer Existenz auf Dauer gefährdet sind.
Erschwerend kommt hinzu, daß die tatsächlich geleistete Entschuldung in ihrer Höhe bei weitem hinterdem. notwendigen Maß zurückbleibt und zu spät erfolgt.
Die umstrukturierten Betriebe müssen Zins und Tilgung für Altanlagen leisten, die den heutigen Anforderungen in keiner Weise gerecht werden und deshalb gezwungenermaßen mit erheblichem Finanzaufwand modernisiert oder umgebaut werden müssen. Hier wird vielfach Unmögliches verlangt. Das müßte doch auch die Bundesregierung erkennen.
Herr Abgeordneter Kastning, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Gallus zu beantworten?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Kollege, haben Sie sich die Mühe gemacht, einmal festzustellen, welches Verhältnis zwischen den neuen und den alten Bundesländern in bezug auf die Verschuldung besteht und daß, wenn die Entschuldung vollzogen ist, eine wesentlich günstigere Situation für die Betriebe aller Schattierungen in den neuen Bundesländern entsteht, zumal wir jetzt die Talsohle bei den Preisen durchschritten haben? Wir haben heute drüben bei Schweinefleisch — —
Ich habe gefragt, ob er sich die Mühe gemacht hat, die Zahlen einmal zu vergleichen. Ich füge hinzu: nachdem die Preise beinahe angeglichen sind.
Herr Abgeordneter Gallus, wir betrachten das weniger als Frage, sondern eher als eine Intervention.
Ich habe das schon als Frage verstanden. Ich bin freudig bereit, darauf zu antworten.Herr Kollege Gallus, erstens habe ich mir die Mühe gemacht, festzustellen, daß Sie in den letzten Monaten mehr über die westdeutsche Landwirtschaft als über die ostdeutsche geredet haben. Das ist klar; Sie können das selber in den Stenographischen Berichten der Fragestunden des Bundestages nachlesen.
Zweitens habe ich mir die Mühe gemacht, die Zahlen zu vergleichen, und bin zu dem Ergebnis gekommen — da ich auch nach dem Hintergrund gefragt habe —, daß Verschuldung in West und Ost, zumindest zum großen Teil, unterschiedlich zu bewerten ist, weil ich auch fragen muß: Für was ist die Entschuldung entstanden?
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5206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Ernst KastningIch wollte Ihnen jetzt noch ein Beispiel nennen.
— Sie können sich wieder setzen; das war an alle gerichtet. Das ist freundschaftlich gemeint.
Sie wehren sich doch nicht gegen meine Freundschaft! Um Gottes willen, das wollte ich nicht!Wenn ein Betrieb 6 Millionen DM Altschulden hat, inklusive Altschulden für Wohnungsbau, Kindergarten und Wegebau, was nichts mit dem eigentlichen Betriebszweck zu tun hat — das werden Sie mir zugeben —, und dann mit 40 000 oder 100 000 DM entlastet wird, dann ist das doch wohl nicht vertretbar.
Meine Damen und Herren, ich frage: Sollte am Ende stimmen, was kürzlich „Die Zeit" schrieb, nämlich, daß unter dieser Regierung die Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft genutzt werde, um den Agrarmarkt zum Nachteil der Ostdeutschen zu bereinigen? Ich vermag das im Moment nicht zu glauben. Interessant ist aber, daß so etwas heute schon geschrieben wird.Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß die hier von mir vorgetragene Bewertung der tatsächlichen Situation auch im Herbstgutachten der Fünf Weisen zum Ausdruck kommt. Dort ist das Ergebnis, der Übergang aus der Planwirtschaft heraus bedeute für die ostdeutsche Landwirtschaft keineswegs, daß sie nun ihre Wettbewerbsvorteile suchen könne. Sie werde daran durch Altlasten und politische Vorgaben gehindert.
— Ihre sind auch nicht immer neu, Herr Kollege.Ich will nicht verhehlen, daß es gestern — das hat mich beruhigt — im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erfreulicherweise zu einem Fortschritt in einem Punkte gekommen ist: Durch eine sofortige interfraktionelle Gesetzesinitiative sollen die Schwierigkeiten bei der Anmeldung von LPG-Umwandlungen beseitig werden.
Ich denke, das ist eine Hilfe für diejenigen, die ernsthaft entschlossen sind, Veränderungen im guten Sinne herbeizuführen, aber aus objektiven Gründen bislang nicht alle erforderlichen Unterlagen beibrigen konnten.
Ich hoffe, daß das Haus diese Sache in den nächsten zwei Wochen einmütig zum Abschluß bringt.Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage: Dem Einzelplan 10 können wir für 1992 leider nicht zustimmen.
Ich appelliere abschließend noch einmal an die Bundesregierung und an die Koalition — Herr Borchert, ich meine das wirklich ehrlich —
— bei Appellen hören Sie nicht zu? —
— Sehr schön — , die Finanzierung der Agrarpolitik auf eine solide und durchschaubare Grundlage zu stellen und von Ad-hoc- und Gefälligkeitsmaßnahmen abzusehen, um nicht unnötig öffentlich Porzellan zu zerschlagen und — vielleicht darf ich das noch hinzufügen — auch nicht unnötig die Agrarberichterstatter Ihrer Fraktionen zu verärgern.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thalheim jetzt das Wort.
Herr Staatssekretär Gallus, ich möchte Ihnen auf Ihre Frage antworten, daß es mir unverständlich ist, daß sie zu der Entschuldungsfrage hier eine Meinung dahin gehend äußern, daß die Entschuldung viel zu hoch ausfällt. Ich kann mich gut erinnern, daß gerade Sie bei der Ausschußberatung festgestellt haben, daß der Verschuldung der Landwirtschaft in den meisten Fällen in Ostdeutschland kein Gegenwert gegenübersteht. Ich kann mich daran erinnern, daß ich Ihrer Meinung in der Ausschußberatung ausdrücklich zugestimmt habe. Bei der Entschuldung für die Betriebe besteht die große Schwierigkeit darin, daß sie für Anlagen Zins und gung leisten müssen, die in den meisten Betrieben überhaupt keinen Nutzen mehr bringen.
Stellen wir uns erst die Besserungsscheinregelung vor: Wenn in drei Jahren die Betriebe anfangen müssen, aus dem Gewinn Zins und Tilgung zu leisten, dann wird die alte DDR — ich übertreibe — Lichtjahre zurückliegen. Dann sollen diejenigen, die in der Wirtschaft tätig sind, für Sachen Zins und Tilgung leisten, die ihnen, wie gesagt, überhaupt nichts mehr nützen.
Die Tatsache, daß der Abgeordnete Gallus jetzt nicht antwortet, ist darauf zurückzuführen
— nein, er hat sich gemeldet —, daß auf eine Kurzintervention geschäftsordnungsmäßig nicht mit einer Kurzintervention geantwortet werden kann. Deswegen erteile ich dem Abgeordneten Kalb das Wort.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5207
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Dinge sind es, die der Landwirtschaft derzeit große Sorgen bereiten: Es ist die derzeitige Lage der Landwirtschaft, es ist die anstehende EG-Agrarreform, und es sind die laufenden GATT-Verhandlungen und deren befürchteten Folgen.
Landauf, landab erreichen uns die besorgten Fragen und Proteste. Ich habe großes Verständnis dafür, daß die Bauern ihre Sorgen, wenn es sein muß, auch lautstark zum Ausdruck bringen und ihren Forderungen mit Demonstrationen — die im übrigen sehr diszipliniert verlaufen — Nachdruck verleihen.
Es ist auch das gute Recht der Bauern, sich aus ihrer Sicht gegen die Vorschläge von EG-Agrarkommissar MacSharry auszusprechen. Es kann aber nicht hingenommen werden, wenn — wie ausweislich eines Fotos in der Wochenzeitung „Die Zeit" — Transparente mitgeführt werden: „Tötet MacSharry, bevor er uns tötet!" Ich will das auch hier deutlich sagen, weil ich weiß, daß die meisten Bauern in unserem Lande nur aus Sorge heraus auf die Straße gehen und ehrliche Absichten verfolgen.
Auch polemische Äußerungen wie etwa — ich zitiere — „idiotische Vorschläge einer korrupten Kommission ohne Sachkenntnis" dienen der Sache nicht, sondern schaden mehr, wie das Beispiel Frankreich zeigt.
Es geht auch anders. Der bayerische Bauernverband beweist, daß die Auseinandersetzung mit MacSharry hart in der Sache, aber fair und sauber geführt werden kann.
Herr Abgeordneter Kalb, sind Sie bereit, eine Antwort auf eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jungmann zu geben?
Herr Kollege Kalb, Sie haben gerade ein Foto aus der „Zeit" beschrieben und die Forderungen einiger radikaler Landwirte dargestellt. Ist Ihnen bekannt, daß sich der Präsident des schleswig-holsteinischen Bauernverbandes, der ehemalige Kollege Karl Eigen, für die Entgleistung bei der Demonstration in Lübeck entschuldigt hat und daß die geschilderten Forderungen nicht die Auffassung der Bauern in Schleswig-Holstein, sondern nur einer kleinen radikalen Minderheit darstellen?
Ich schätze den ehemaligen Kollegen Eigen sehr und bin dankbar dafür, Herr Kollege Jungmann, daß Sie ausdrücklich darauf hinweisen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist verständlich, daß die Reformvorschläge der Kommission unterschiedlich bewertet werden. Ich kann aber nicht erkennen, daß MacSharry seine Vorschläge in böswilliger Absicht gemacht hätte. Vielmehr gibt es von seiten des Berufsstandes wie auch von seiten der Politik
seit geraumer Zeit die Forderung nach einer durchgreifenden Änderung der EG-Agrarpolitik. Ich gestehe freimütig, daß ich eine Reform der EG-Agrarpolitik, insbesondere der Agrarmarktordnungen, seit langem für dringend erforderlich halte und daß ich diese Forderung oft mit großer Zustimmung bäuerlicher Zuhörer erhoben habe. Entscheidend wird sein, was am Ende dabei herauskommt.
— So ist es, lieber Herr Kollege Walther. Es wird nicht alles nur nach unseren Wünschen und Vorstellungen laufen. Ich bin aber sicher, daß Bundesminister Ignaz Kiechle, unterstützt durch seinen Staatssekretär Kittel,
mit allem Nachdruck für Lösungen kämpfen wird, die den Belangen der deutschen Landwirtschaft weitestgehend Rechnung tragen.
Er hat hier die volle Unterstützung von seiten der CDU/CSU.
Wenn man sich im übrigen in der Praxis umhört, dann stellt man fest, daß einige Vorschläge auch innerhalb des Berufsstandes durchaus unterschiedlich bewertet werden. Über die vorgezogene Regelung bei Ölsaaten sind ja manche nicht so unglücklich, Herr Minister.
Die Wirkung der EG-Agrarreform wird unweigerlich vom Ergebnis der GATT-Verhaltungen abhängen. Die sehr umstrittenen Exportsubventionen der Europäischen Gemeinschaft liegen meines Erachtens keineswegs primär im deutschen Interesse. Wir werden uns in erster Linie auf den Markt der 340 Millionen Verbraucher in der Europäischen Gemeinschaft beschränken müssen. Alles andere macht auf Dauer keinen Sinn. Daran ändert auch der vorübergehende Bedarf für Nahrungsmittelhilfe grundsätzlich nichts. Ob angesichts der rasch zunehmenden Weltbevölkerung diese Frage in einigen Jahrzehnten anders entschieden wird, kann heute wohl niemand vorhersagen.
Herr Abgeordneter Kalb, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Oostergetelo zu beantworten?
Ich schaue zwar auf die Uhr; aber ich kann dem agrarpolitischen Sprecher der SPD eine Zwischenfrage nicht verweigern.
Ich werde Ihnen die Zeit nicht anrechnen. Aber ich mache das Haus darauf aufmerksam, daß ich mich verpflichtet fühle, anschließend das Zulassen von Zwischenfragen sehr restriktiv zu behandeln. Wir nähern uns mit dem Sitzungsende jetzt 0.30 Uhr. Es gibt Mitarbeiter im Hause, die heute nacht nach 3 Uhr ins Bett gekommen sind und sich jetzt wieder im Dienst befinden. Ich meine, daß man, ohne die Debatte unzulässig einschränken zu wollen, auch eine gewisse soziale Ver-
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5208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergantwortung gegenüber diesen Mitarbeitern hat, und bitte wirklich, sich ein bißchen restriktiv zu verhalten.
— Diese meine Bemühungen sind sicher nicht vergeblich.Herr Oostergetelo hat das Wort.
Lieber Herr Kollege Kalb, Sie haben gesagt, daß der Bundesminister davon ausgehen kann, daß er in der Frage der Agrarpolitik
— Sie reden von MacSharrys Vorstellungen — mit der Unterstützung der Koalitionsfraktionen rechnen kann.
Meinen Sie jetzt die Leitlinien der Bundesregierung und die Unterstützung der 15prozentigen Preiskürzung, oder meinen Sie die Aussage, die es noch bis vor einem halben Jahr gab, daß direkte Einkommensübertragungen eigentlich böses sozialistisches Machwerk seien? Was meinen Sie jetzt?
Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses sagt, es sind beide Dinge damit gemeint. Ich habe Ihre Frage in diesem Zusammenhang nicht genau verstanden. Sie wissen, daß in der Agrarpolitik sehr viel Bewegung ist, lieber Kollege Jan Oostergetelo.Ich denke, Ignaz Kiechle hat mit seinen Vorschlägen, die er bisher auf den Tisch gelegt hat, im Interesse der deutschen Bauern gehandelt. Er soll für seine Verhandlungen in Brüssel wissen, daß wir geschlossen hinter ihm stehen und daß dieser Bundestag seine Initiativen unterstützt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe vorhin davon gesprochen, daß wir uns im wesentlichen auf den Verbrauchermarkt der Europäischen Gemeinschaft beschränken müssen. Es macht aus meiner Sicht auf Dauer keinen Sinn, immer mehr Güter zu produzieren und sie dann mit immer höheren Kosten und zu immer schlechteren Preisen am Weltmarkt abzusetzen zu versuchen.
Davon haben unsere Bauern am allerwenigsten. Es istauch nicht logisch, einerseits die niedrigen Weltmarktpreise zu beklagen und sie gleichzeitig durch Preisdumping noch weiter in die Tiefe zu drücken.
Der entscheidende und für uns Deutsche wichtigste Punkt in der GAP-Reform wie in den GATT-Verhandlungen wird sein: Gelingt es, einen ausreichenden und wirksamen Außenschutz zu gewährleisten?
Hier müssen wir uns mit aller Entschiedenheit gegen die Reformvorschläge der Kommission und gegen die Forderungen im GATT wenden.
Wir fordern die Bundesregierung und alle ihre Mitglieder auf
— die Betonung liegt auf „alle" —, bei den Verhandlungen auf allen Ebenen für die Beibehaltung eines ausreichenden, wirksamen und funktionierenden Außenschutzes an den Grenzen der Europäischen Gemeinschaft einzutreten.
Der Weltmarkt für Agrargüter — auch das muß einmal verdeutlicht werden — ist nicht zu vergleichen mit dem Weltmarkt etwa für Industriegüter. Dort kann die Angebotsmenge im Zweifel exakt nachgesteuert werden. Der Weltmarkt für Agrargüter verdient meines Erachtens nicht einmal die Bezeichnung „Markt", er ist bestenfalls die Schutthalde der Überschußproduzenten.
Man kann aber weder die Versorgungslage unserer Bevölkerung noch die Landeskultur und schon gar nicht die bäuerlichen Existenzen den Wirrnissen des Weltmarkts ausliefern.Wir haben versucht, bei den Beratungen des Bundeshaushalts den drängenden Problemen der Landwirtschaft Rechnung zu tragen, soweit dies mit finanziellen Mitteln im nationalen Bereich möglich ist. So war es für uns selbstverständlich, als uns während der Einzelberatung die endgültige Entscheidung der Kommission bekannt wurde, die Verlängerung der 3 %-Vorsteuer-Regelung über den 31. Dezember 1991 hinaus nicht zu genehmigen, die anteiligen Bundesmittel für den sogenannten soziostrukturellen Einkommensausgleich zu erhöhen. Das bedeutet für die alten Bundesländer 1,04 Milliarden DM und für die neuen Bundesländer 390 Millionen DM.Wir haben das getan, so wie es bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode in der Koalitionsvereinbarung zugesagt worden ist. Ich appelliere an die Bundesländer, ihrerseits den Länderanteil bereitzustellen, der dem bisherigen Schlüssel der Umsatzsteuerverteilung auf der Seite der Mindereinnahmen entspricht. Ich bin den Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg sehr dankbar dafür, daß sie dieses
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Bartholomäus Kalbvon vornherein ohne jede Einschränkung zugesagt haben.
Auch wenn es für uns auf Grund unserer eigenen Festlegungen und Zusagen selbstverständlich war, die Mittel bereitzustellen, ist es keine Selbstverständlichkeit, daß bei der Schwierigkeit der Haushaltsgestaltung und den großen finanziellen Herausforderungen eine von vornherein befristete Maßnahme in Form einer Mindereinnahme nun in eine Ausgabe umgewandelt wird. Dadurch wird einmal mehr unter Beweis gestellt, daß diese Regierung und diese Koalition um die Sorgen unserer Landwirte wissen, daß sie wissen, wo und wie sehr die Bauern der Schuh drückt.Lassen Sie mich auch hinzufügen: Wir haben Wort gehalten.
Mit der Regelung zur Rückführung der Milchquote auf Kosten und zu Lasten des Bundes, soweit nicht von der EG erstattet, haben wir in einem weiteren Bereich unter Beweis gestellt, daß wir helfen, wo wir helfen können.Nicht unerwähnt lassen möchte ich — Kollege Kastning hat es vorhin schon angesprochen — eine Maßnahme, zu der wir uns erst in den letzten Tagen der Ausschußberatungen entschließen konnten,
nämlich die Aufstockung der Mittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherung um 125 Millionen DM. Damit sollen die landwirtschaftlichen Betriebe kostenseitig noch stärker als bisher entlastet werden.Die Agrarsozialpolitik, für die wir nach den Ergebnissen der Ausschußberatung über 6 Milliarden DM ausgeben, ist ein hervorragendes Instrument, uni die landwirtschaftlichen Betriebe und die bäuerlichen Familien zu entlasten und ihnen so zu einem höheren frei verfügbaren Einkommen zu verhelfen.
— Sie, Herr Kollege Oostergetelo, wissen, daß die Arbeitsgruppe eingesetzt worden ist, die die Reform vorbereitet. — Zudem erfüllen die eingesetzten Gelder mit einem äußerst hohen Wirkungsgrad ihren Zweck und kommen bei den Bauern auch tatsächlich. an,
wie es — das sage ich auch sehr kritisch — bei manchen Marktordnungsausgaben bei weitem nicht in diesem Maße der Fall ist.
Die Leistungen auf dem agrarsozialen Sektor sind also eine wirksame Hilfe.Andererseits sind die vergleichsweise hohen Aufwendungen auch gerechtfertigt; denn auf Grund des Strukturwandels funktioniert der sogenannte Gene-rationenvertrag hier nicht mehr. Den Leistungsbeziehern steht ein kleiner werdender Kreis von Beitragszahlern gegenüber. Ein immer höherer Teil der Nachkommen bäuerlicher Familien zahlt nicht mehr in die Kassen der Eltern, sondern in die Solidarkassen anderer Berufsgruppen ein. Auch das sollte hier in der Debatte deutlich gemacht werden.Die Landwirtschaft in den neuen Ländern — neuerdings sagen manche auch: in den jungen Ländern — befindet sich in einer außerordentlich schwierigen Umstellungs-, Umstrukturierungs- und Anpassungsphase. Mit den in diesem Einzelplan ausgewiesenen Mitteln soll dieser schwierige Prozeß unterstützt und — wo notwendig — abgefedert werden. Gleichwohl sind uns, Kollege Kastning, weitergehende Wünsche bekannt. Wir müssen und wir mußten uns aber auch hier im Rahmen des Möglichen, Notwendigen und gegenüber allen Vertretbaren bewegen. Darüber hinaus müssen auch Leistungen für die Landwirtschaft aus anderen Bereichen und Einzelplänen — Sie haben vorhin die Entschuldung angesprochen — gesehen werden. Im übrigen können nicht alle Probleme nur mit Geld nach dem Motto: „Viel hilft viel" gelöst werden.
Es war sicher richtig, im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung auch das Risiko einzugehen, daß nicht jede Mark zielgenau ihren Zweck erfüllt. Wir waren uns aber im Haushaltsausschuß einig — ich denke, das gilt auch für alle anderen Haushaltsbereiche —, daß wir auch in den neuen Ländern möglichst schnell zu geordneten Verfahren und zu einer regulären und bedarfsgerechten Mittelbewirtschaftung nach allgemein geltenden Grundsätzen und Maßstäben kommen müssen.Kollege Helmut Wieczorek hat am Dienstag in dieser Debatte ausgeführt: „Noch nie ist in der Bundesrepublik soviel Geld für die Landwirtschaft ausgegeben worden" wie jetzt. — Kollege Wieczorek, ich bin Ihnen für diese Aussage außerordentlich dankbar, auch wenn Sie sie eher als Kritik denn als Anerkennung verstanden wissen wollten.
— Ich komme schon noch darauf zu sprechen! — Damit wird von einem unverdächtigen Zeugen aus den Reihen der Opposition bestätigt,
daß die Bundesregierung und diese Koalition finanziell das Menschenmögliche für die Landwirtschaft tun, auch wenn es ein Mitglied der Bundesregierung laut dpa-Meldung von heute doch gerne etwas anders hätte.
Ich bin deshalb dem Bundeskanzler außerordentlichdankbar, daß er in der gestrigen Debatte für die Bundesregierung eindeutig zugunsten der Landwirtschaft
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Bartholomäus KalbStellung bezogen hat. Ich denke, daß das Wort des Bundeskanzlers an dieser Stelle mehr zählt als die Ausführungen eines Wirtschaftsministers in Köln.
Lieber Kollege Oostergetelo, ich unterschlage nicht den zweiten Teil des Zitats des Kollegen Wieczorek, der sagte: Und noch nie ging es unseren Bauern so schlecht. Ich füge sogar hinzu: Nie zuvor wurden in den Haushalten — auch der Länder und insbesondere der Europäischen Gemeinschaft — so viele Mittel aufgewendet. Wie Sie wissen, betragen die EG-Agrarmarktordnungsausgaben für den gesamteuropäischen Bereich etwa 60 Milliarden DM.Damit wird deutlich, daß viele Probleme allein durch die Hingabe von Geld nicht gelöst werden können. Auch mit sehr viel Geld können wir die Gesetzmäßigkeiten des Marktes nicht außer Kraft setzen. Deshalb kommt der Mengenbegrenzung und -reduzierung sowie einer marktgerechten und marktorientierten Produktion größere Bedeutung zu. Um dies zu erreichen, ist die Reform der Agrarpolitik unumgänglich.Dem Agrarminister, der Bundesregierung und uns allen stehen noch schwere Aufgaben bevor. Ich wünsche bei deren Bewältigung viel Erfolg. Zum Schluß bedanke ich mich bei allen Kollegen im Haushaltsausschuß, insbesondere bei der Frau Kollegin Dr. Hoth, beim Kollegen Kastning als Mitberichterstatter und natürlich beim Agrarminister und seinen Mitarbeitern für die konstruktive Mit- und Zusammenarbeit. Ich bedanke mich auch bei allen Freunden, die uns unterstützt haben, Herr Kollege Oostergetelo
— er hat uns natürlich auch bekämpft, aber gelegentlich unterstützt er uns auch — , und wünsche bei der Umsetzung dieses Haushalts, daß diese Zahlen für die Menschen Nutzen bringen. Ich bin sicher, daß sich alle Mitarbeiter des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten nach Kräften bemühen werden.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Kastning, ich hatte bereits angekündigt, daß ich mit den Zwischenfragen außerordentlich restriktiv verfahren muß. Ich bitte um Nachsicht und Verständnis.
Herr Dr. Schumann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussprache zum Entwurf des Agrarhaushalts 1992 findet vor dem Hintergrund einer schwierigen Situation der Landwirtschaft in Ost und West statt sowie vor dem Hintergrund der immer mehr um sich greifenden Verunsicherung der Bäuerinnen und Bauern angesichts der zum Teil unakzeptablen Reformvorschläge der EG-Kommission. Auch die Bundesregierung gibt in diesem Zusammenhang zur Zeit kaum Anlaß zu Optimismus.Besonders bedrückend ist, daß sich die wirtschaftliche und soziale Situation der ostdeutschen Landwirtschaft, die bekanntlich bereits dramatische Formen angenommen hat, weiter zuspitzt. Auch wenn die tieferen Ursachen dieser Krise im realen Sozialismus zu suchen sind, dem ich vor allem die Entfremdung der Eigentümer von der Produktion und die irrsinnige Spezialisierung und Konzentration vorwerfe, steht gleichermaßen fest, daß eine Politik der angemessenen Berücksichtigung der Ausgangslage der ostdeutschen Landwirtschaft — also eine vernünftige Politik — die Krise zwar nicht vermieden hätte, in ihren wirtschaftlichen und sozialen Ausmaßen und Auswirkungen aber erheblich begrenzt hätte. Das ist meine feste Überzeugung und zugleich meine Kritik.Dabei geht es mir nicht um eine unproduktive Schuldzuweisung, sondern ich bitte darum, die Lage in der ostdeutschen Landwirtschaft wirklich nüchtern und frei von ideologischen Vorbehalten zu analysieren, was zweifellos eine Korrektur der offiziellen Ostagrarpolitik bewirken würde.Im Landwirtschaftsausschuß gibt es dazu gute Ansätze, wie ich sehe. Sie haben sich leider noch nicht auf das zuständige Bundesministerium übertragen.Der Prozeß der Umstrukturierung wird besonders durch folgende Erscheinungen behindert. Es gibt große Liquiditätsprobleme, die sowohl durch die Absatzkrise im vergangenen Jahr — in diesem Jahr ist die Krise weniger schwer — als auch durch zu niedrige Preise und durch nach wie vor zu hohe Kosten verursacht werden. Es gibt einen erheblichen Mangel an Eigenkapital, das wir nicht bilden konnten; das war nicht möglich.Man hat den Eindruck, daß es seitens der Banken eine Kreditsperre gibt. Die zögerliche und unzureichende Entschuldung von Altlasten, dubiose Praktiken der Treuhand sind zu nennen. Selbst bei gleichwertigen Kauf- und Pachtangeboten sowie Bewirtschaftungskonzepten erhalten Alteigentümer und Neueinrichter aus den alten Bundesländern und dem Ausland den Zuschlag vor einheimischen Wiedereinrichtern und erst recht vor Nachfolgeunternehmen der LPG. Der Abschluß von nur einjährigen Pachtverträgen über Treuhandflächen erschwert die betriebliche Entwicklungsplanung, das Ausschöpfen der Förderungsmöglichkeiten und die Erlangung von Investitionskrediten.
Ich möchte die Liste derartiger Erscheinungen nicht fortsetzen, aber unbedingt noch darauf verweisen, daß die Förderung der Verarbeitung, der ostdeutschen Ernährungsindustrie, auch in diesem Haushalt völlig ungenügend ist. Das Nichtbeachten des inneren Zusammenhangs zwischen landwirtschaftlicher Urproduktion und Verarbeitung behindert die Umstrukturierung ganz massiv.Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die gravierenden sozialen Probleme in den Dörfern, in denen es oft genug neben der Landwirtschaft — das waren nun einmal die LPGen — keine andere Arbeit gibt. Vielleicht haben sich auch deshalb in der letzten Mei-
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Dr. Fritz Schumann
nungsumfrage des „Spiegel" 52 % der Befragten dafür entschieden, daß LPGen bleiben sollen. Nur 23 % waren dagegen. Ich halte das für gefährlich. Ich bin der Meinung, es kann nicht Sinn unserer Politik sein, daß solche Ergebnisse entstehen.
— Danke, Herr Hornung.Angesichts der geschilderten Situation in der ostdeutschen Landwirtschaft liegt das Hauptproblem des vorliegenden Einzelplanentwurfs für die Gruppe PDS/Linke Liste im Haushaltstitel „Anpassungs- und Überbrückungshilfen". Obwohl dort entsprechend dem Vorschlag des Haushaltsausschusses inzwischen 690 Millionen DM gegenüber 300 Millionen DM des Regierungsentwurfs enthalten sind, ist festzustellen, daß tatsächlich nicht eine einzige Mark für die vorgesehene Zweckbestimmung ausgewiesen ist. Die Zweckbestimmung der Anpassungshilfe gemäß Fördergesetz der DDR — das laut Einigungsvertrag Rechtsgrundlage dieser Haushaltsposition ist — ist der teilweise Ausgleich des Preisbruchs. Die im Regierungsentwurf enthaltenen 300 Millionen DM entsprechen nicht einmal anteilig dem soziostrukturellen Einkommensausgleich, der den Bauern der alten Bundesländer gewährt wird. Die Erhöhung auf 690 Millionen DM dient als Ausgleich der am 31. Dezember 1991 entfallenden 3 %-Umsatzsteuer-Regelung in den neuen Bundesländern. Beide Zweckbestimmungen stellen keine Bevorteilung der ostdeutschen Landwirte dar.Ich habe im Namen der Gruppe PDS/Linke Liste am 1. Oktober einen Antrag auf Erhöhung der Anpassungshilfen von damals 300 Millionen DM auf 1,5 Milliarden DM gestellt. Dieser Antrag wurde im Ausschuß mit allen Stimmen abgelehnt.
Im übrigen sind die Anpassungshilfen seit nunmehr eineinhalb Jahren ein politischer Dauerbrenner. Bereits in der Volkskammer wurde von unserer damaligen Fraktion im Vorfeld des Agrarhaushalts für das zweite Halbjahr 1990 und für das Jahr 1991 die Frage aufgeworfen, ob es sich wirklich um einen angespannten Finanzrahmen handelt oder ob „die Schwelle zwischen hohem Anpassungsdruck und ökonomischem Ruinierungskonzept der DDR-Landwirtschaft bereits überschritten" ist. Das fand regierungsseitig wenig Beifall. Die Anpassungshilfen wurden prompt zu niedrig festgelegt und mußten, wie bekannt, durch Nachtragshaushalt erheblich erhöht werden.Kollege Susset von der Fraktion der CDU/CSU argumentierte in seiner Pressemitteilung vom 8. November damit, daß die Anpassungshilfe entsprechend der Vorgabe der EG-Kommission degressiv gestaltet werden müsse. Diese Feststellung ist zweifelsohne völlig richtig. Allerdings hat die EG-Kommission nicht festgelegt, wie die Degression konkret zu erfolgen hat. Vor allem hat sie nicht festgelegt, daß bereits 1992 jegliche Anpassungshilfe einzustellen sei. Tatsache ist, daß im zweiten Halbjahr 1990 2,75 Milliarden DM,in diesem Jahr 813 Millionen DM Anpassungshilfe geflossen sind und 1992, wie bereits festgestellt, der eingestellte Betrag den Titel Anpassungshilfe nicht mehr verdient.Mit Entschiedenheit möchte ich den Vorwurf an die Opposition zurückweisen, sie fordere nur viel und sehe nicht das ökonomische Erfordernis eines gewissen Anpassungsdrucks. Für meine Person und Gruppe möchte ich hier eindeutig erklären, daß wir von Anbeginn der Debatten um dieses leidige Thema vom dem Grundsatz einer gesunden Kombination von degressiven Anpassungshilfen und Anpassungsdruck ausgegangen sind. Heute ist fast nur noch Druck übriggeblieben.
— Ich bin nicht nur gemeinsm mit Ihnen drüben gewesen, sondern ich lebe und arbeite dort und erlebe das jeden Tag, Herr von Hammerstein.
— Ich stimme Ihnen zu, daß auch Sie eine höhere Forderung gestellt haben und daß Herr Dr. Thalheim davon gesprochen hat, daß diese Anpassungshilfe ein Etikettenschwindel ist. Das möchte ich hier doch sehr deutlich sagen. Ich will mich nicht unbedingt in Ihre sonstigen Angelegenheiten einmischen. Aber ich glaube, in diesem Punkt stimmen wir überein.Auch Freiherr von Heereman hat inzwischen öffentlich gesagt, daß eine Anpassungshilfe von 1,2 Milliarden DM erforderlich wäre, um die Anpassung tatsächlich zu begleiten. Ich glaube, man kann Freiherr von Heereman davon freisprechen, daß er damit alte Strukturen der LPG erhalten wollte. Das wollen auch wir nicht.Danke.
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Sigrid Hoth.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
— Ja, na sicher.Der Einzelplan 10 sieht ein Volumen von etwa 13,9 Milliarden DM vor, knapp 100 Millionen DM mehr als 1991.Über 40 % der vorgesehenen Mittel — das sind über 6 Milliarden DM — fließen in den Bereich der landwirtschaftlichen Sozialpolitik. Dieser Betrag setzt sich im wesentlichen aus Zuschüssen zur landwirtschaftlichen Altershilfe sowie zur Kranken- und landwirtschaftlichen Unfallversicherung zusammen. Im Laufe der Haushaltsberatungen wurde entschieden, den staatlichen Zuschuß zur landwirtschaflichen Un-
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Dr. Sigrid Hothfallversicherung um 125 Millionen DM auf 615 Millionen DM zu erhöhen.
— Richtig.Mit der Gasölbetriebsbeihilfe in Höhe von 960 Millionen DM und dem soziostrukturellen Einkommensausgleich im Umfang von 1,7 Milliarden DM unterstützt die Bundesregierung die heimische Landwirtschaft mit weiteren 2,6 Milliarden DM. Dabei wurde der ursprüngliche Ansatz des soziostrukturellen Einkommensausgleichs um 1,04 Milliarden DM auf 1,7 Milliarden DM erhöht, um so den Wegfall
— das hier ist eine Haushaltsberatung und keine Witzstunde — der 3%igen Umsatzsteueregelung ausgleichen zu können.Die Aufstockung der Anpassungs- und Überbrükkungshilfen für die neuen Bundesländer um 390 auf insgesamt 690 Millionen DM geschah mit der gleichen Absicht. Noch fehlt allerdings die gesetzliche Regelung, um die Kompensation in dieser Form vornehmen zu können. Eine eventuelle Nachfolgeregelung des Ende 1992 auslaufenden soziostrukturellen Einkommensausgleichs muß außerdem EG- und GATT-konform gestaltet werden.Die Summe der bisher genannten Maßnahmen beläuft sich auf 9,4 Milliarden DM und macht deutlich: Die Bundesregierung läßt die Landwirte nicht im Stich.
Infolge von Anlauf- und Umstrukturierungsschwierigkeiten stehen wir in den neuen Bundesländern sogar vor dem Problem, daß die vom Bund bereitgestellten Mittel bedauerlicherweise nicht in vollständigem Umfang abgerufen werden. Als Beispiel seien hier die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes bereitgestellten Mittel genannt. Es zeichnet sich derzeit ab, daß im laufenden Haushaltsjahr voraussichtlich 150 Millionen DM nicht genutzt werden können.
In der Hoffnung, daß dieses Problem im nächsten Jahr weitgehend überwunden sein wird, sieht der Haushaltsentwurf für 1992 hier allein für die neuen Bundesländer 1,1 Milliarden DM vor.Da ich gerade über die speziellen Probleme der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern spreche, möchte ich auf zwei Regelungen eingehen, die in der vorliegenden Form meine Zustimmung nicht so ganz finden können:Im Rahmen der jüngsten Herauskaufaktion für Milch erhalten die Landwirte aus den alten Bundesländern die sogenannte „Milchrente 6" in Höhe von 1,50 DM je Kilogramm. Dieser Betrag wird den Landwirten in vollem Umfang bereits im 1. Quartal 1992 gezahlt. Allein durch die Vorfinanzierung des EG-Anteils entstehen der Bundesrepublik Zinskosten in Höhe von 200 Millionen DM. Weitere 217 MillionenDM werden für die Erhöhung des EG-Herauskaufpreises um 33 Pfennig je Kilogramm gezahlt. Im Gegensatz dazu wird in den neuen Bundesländern lediglich der von der EG bereitgestellte Betrag von 23,5 Pfennig je Kilogramm und Jahr erstattet — insgesamt also nur 1,17 DM und zudem auf fünf Jahre verteilt.
— Darüber können wir uns gerne hinterher im Detail unterhalten.
Ich habe die Zeit hier jetzt nicht. Ich bitte um Verständnis.Auch die Ausgestaltung der einjährigen Flächenstillegung hätte ich mir etwas anders gewünscht. Durch die degressive Staffelung der Zuwendungen erhält ein Betrieb, der mehr als 100 ha stillegt, nur noch 50 % der Beihilfe je Hektar. Zudem kann nur stillegen, wer seine Flächen im Wirtschaftsjahr 1990/91 bereits stillgelegt hatte.Mir scheint, die Besonderheiten der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern, nämlich große Betriebseinheiten, die sich gerade in der Umstrukturierung befinden, wurden nicht ausreichend berücksichtigt.Meine Damen und Herren, die Ausführungen zum Agrarhaushalt haben dennoch deutlich gemacht, daß die Hilfen, die die Bundesregierung insgesamt der Landwirtschaft zur Verfügung stellt, umfangreich sind. Die Frage, die gerade wir Haushälter uns doch immer stellen müssen, lautet aber: Wie effizient werden die aufgewendeten Mittel eingesetzt?
Da das Einkommen der Landwirtschaft in diesem Jahr stark zurückgegangen ist, hingegen die Ausgaben für die Landwirtschaft insgesamt, also unter Berücksichtigung der Aufwendungen der EG
— also, auch auf dieser Seite sind schöne Herren —,
stark gestiegen sind, hat die EG-Kommission zur Lösung dieses Widerspruchs einen stark umstrittenen Vorschlag unterbreitet.Im Mittelpunkt der geplanten Reform steht die Senkung der Marktordnungspreise, die durch direkte Einkommenstransfers ausgeglichen werden soll. Um die Beihilfen beanspruchen zu können, muß ein Teil der Ackerflächen stillgelegt werden. Flankierende Maßnahmen in Form von Beihilfen zur Realisierung von Produktionsverfahren mit geringerer Umweltbelastung sowie eine attraktivere Ausgestaltung der Vorruhestandsregelung sind vorgesehen.Zunächst möchte ich den Mut und die Entschlossenheit der Kommission hervorheben, neue Wege in der Agrarpolitik zu gehen. Dies ist notwendig.Eine teilweise Senkung der Marktordnungspreise scheint nicht nur für einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen unausweichlich. Vielmehr
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Dr. Sigrid Hothhängen durch die Marktordnung der EG die Kosten für die Exporterstattungen nicht nur von der abzusetzenden Menge, sondern auch von der Differenz zwischen Weltmarkt- und Interventionspreis der EG ab. Durch ihre anhaltende Überproduktion tragen die Hauptexporteure somit zu weiter sinkenden Weltmarktpreisen bei und erhöhen damit automatisch die Kosten ihrer Exporte.Die vorgesehene Flächenstillegung, meine Damen und Herren, unterstütze ich im Grundsatz. Mit der von der Kommission vorgeschlagenen Ausgestaltung bin ich jedoch so nicht einverstanden.
Die sogenannten Großerzeuger sollen zu einer Stillegungsquote von 15 % gezwungen werden, um Ausgleichszahlungen für die geplante Senkung des Preisniveaus innerhalb der EG beanspruchen zu können.Problematisch hierbei ist jedoch, daß ein Großbetrieb nach Ansicht der EG-Kommission bereits ein Betrieb mit etwa 50 ha ist. Einem solchen Betrieb soll dann für maximal siebeneinhalb Hektar Stillegungsfläche eine Entschädigung gezahlt werden. Für darüber hinausgehende Flächen soll keine Prämie gewährt werden.Liebe Kollegen und Kolleginnen, es wäre doch fatal, wenn gerade die Betriebsgrößen in ihrer Entwicklung gehemmt würden, die die Strukturen aufbauen können oder bereits aufweisen, die zukünftig notwendig sein werden, um im stärker werdenden Wettbewerb bestehen zu können. Ein wesentliches Element dieser Reform muß doch gerade die Schaffung konkurrenzfähiger und damit langfristig weniger subventionsabhängiger Strukturen sein.
Begleitend zu diesen Maßnahmen sieht der Reformvorschlag u. a. auch die finanzielle Unterstützung für eine Umstellung auf umweltschonendere Produktionsweisen vor. Die Entlohnung von — im weitesten Sinne — Umweltleistungen wird immer häufiger vorgeschlagen.Das Hauptproblem stellt dabei die genaue Definition dessen dar, was denn eigentlich entlohnt werden soll. Wer eine ordnungsgemäße Landwirtschaft betreibt und somit dazu beiträgt, daß die von ihm bewirtschafteten Flächen auch in Zukunft noch für eine landwirtschaftliche Nutzung geeignet sind, handelt aus betriebswirtschaftlicher Verantwortung heraus und im ureigensten Interesse.Im Zusammenhang mit der Entlohnung landschaftspflegerischer Dienste wird häufig das Stichwort „Erhaltung der Kulturlandschaft" genannt. Ich wäre denen, die diesen Begriff verwenden, für eine exakte Definition dankbar.
Wer darunter aber landschaftliche Vielfalt versteht,wird bei ehrlicher Betrachtung feststellen, daß auchunsere — als bäuerlich bezeichnete — Landwirtschaftfür den zunehmenden Artenrückgang in Pflanzen- und Tierwelt mitverantwortlich ist.
Grundsätzlich muß festgehalten werden: Die Entlohnung von Umweltleistungen ist meiner Ansicht nach durchaus vorstellbar.
Sie kann aber nur eine „Zusatzeinnahme" darstellen und kann nur für wirklich zusätzliche Leistungen erfolgen.Um nicht — bewußt oder unbewußt — mißverstanden zu werden — dies richte ich insbesondere an die Kollegen auf dieser Seite —, möchte ich zum Schluß noch einmal ganz deutlich sagen: Die Bundesregierung muß auch in Zukunft ihren Verpflichtungen im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft nachkommen. Dies darf jedoch nicht eine Behinderung des Strukturwandels darstellen, sondern muß seine soziale Absicherung bedeuten.
Dazu ist es notwendig, die Effizienz der national und EG-weit aufgewendeten Mittel zu steigern. Den Bauern muß geholfen werden, wirklich wettbewerbsfähige Strukturen aufzubauen, ohne den Bundeshaushalt und damit den Steuerzahler langfristig zu überfordern.Auch ist es unsere Pflicht, die Betroffenen mit den zu erwartenden Änderungen nicht allein zu lassen. Gerade deshalb müssen wir heute nach langfristig gültigen Lösungen suchen, auch auf die Gefahr hin, daß diese nicht immer populär sind.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bevor ich dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Wort erteile, gebe ich dem Abgeordneten Georg Gallus das Wort zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung.
— Ich bedanke mich dafür im Namen des Hauses. Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit ihrem Amtsantritt hat diese Regierung ihre Solidarität mit der Landwirtschaft immer wieder unter Beweis gestellt.
Das wird vor allem auch durch die Entwicklung des Agraretats deutlich. Hier kann man sagen „Taten statt Worte". Zwischen 1983 und 1990, also bis zur Verwirklichung der deutschen Einheit, erhöhte die Bundesregierung den Etat für die deutsche Landwirt-
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Bundesminister Ignaz KiechleSchaft von 5,9 Milliarden DM auf rund 10 Milliarden DM. Das ist eine Steigerung um 68 %.
Der Bundeshaushalt wuchs im gleichen Zeitraum nur um 24 %.Der Agraretat 1992 beträgt einschließlich unserer neuen Bundesländer jetzt rund 14 Milliarden DM.
— Nein, es ist der Beweis für Hilfswilligkeit, Herr Kollege.Mit rund 2,6 Milliarden DM stellt die Bundesregierung auch 1992 einen großzügigen Finanzrahmen zum Neuanfang in der Landwirtschaft der neuen Bundesländer zur Verfügung, und zwar insbesondere für Anpassungs- und Überbrückungshilfen sowie für agrarstrukturelle Förderungsmaßnahmen.Die Kritik, die hier angeklungen ist, muß ja dann, wenn sie seriös wirken soll, in Verbindung mit den neuen Maßnahmen gebracht werden, die es im letzten und vorletzten Jahr sowieso nicht gegeben hat und die jetzt sowohl aus der Gemeinschaftsaufgabe als auch aus den Mitteln von Brüssel hinzukommen. Wenn wir diese zusammenzählen, standen nämlich in diesem Jahr 1,2 Milliarden DM für reine Liquiditätshilfen zur Verfügung und stehen diesmal auch wieder 1,2 Milliarden DM zur Verfügung, aber nicht mehr für reine Liquiditätshilfen, sondern im Zusammenhang mit den zusätzlichen Mitteln; es ist also derselbe Betrag. Im übrigen möchte ich denen, die uns jetzt auf die Anklagebank setzen, doch zu bedenken geben, daß sie dann eine Antwort auf folgende Zahl finden müssen. Es gab rund 4 500 LPGen, und am 1. Juli dieses Jahres gab es noch 1 640. Es haben also sehr viel mehr, als noch im Juli bestanden, bereits den Weg in eine Neuordnung gefunden. Dann muß man uns auch erläutern, warum die anderen heute teilweise noch nicht einmal bis zur Anmeldung gekommen sind. Diejenigen, die halt nicht hören wollen und glauben, man könne alte, verkommene, ideologisch bedingte Betriebe einfach weiterführen, die Regierung werde es dann schon tolerieren, täuschen sich.
Meine Damen und Herren, Schwerpunkte des Haushalts 1992 sind neben der Gemeinschaftsaufgabe die landwirtschaftliche Sozialpolitik, der soziostrukturelle Einkommensausgleich und die Nachfolgeregelung für den dreiprozentigen Mehrwertsteuerausgleich für die alten Bundesländer sowie die Anpassungshilfe in den neuen Bundesländern. Die Bundesmittel für die Agrarsozialpolitik überschreiten erstmals die Grenze von 6 Milliarden DM. Im Jahre 1982 waren es 3,7 Milliarden DM. Diese 6 Milliarden DM sind heute die Größenordnung, die 1982 der gesamte Einzelplan 10 hatte. Durch den Bundeszuschuß ergibt sich eine rein rechnerische Entlastung bei den Beiträgen zur Sozialversicherung von durchschnittlich rund 12 000 DM je Betrieb und Jahr. Wir werden, wie esübrigens der Deutsche Bundestag beschlossen hat, das agrarsoziale Sicherungsysstem einer grundlegenden Reform unterziehen, um eine bessere Beitragsausgestaltung zu erreichen, die finanzielle Stabilität des Systems zu gewährleisten und die soziale Absicherung der Landfrauen zu verbessern.Die volumenmäßige Fortsetzung, meine Damen und Herren, des dreiprozentigen Mehrwertsteuerausgleichs ist ein außerordentlich bedeutsamer Beitrag, um unserer Landwirtschaft in ihrer schwierigen Situation zur Seite zu stehen. Ich weiß, die hierfür vorgesehene Aufstockung der Bundesmittel für den soziostrukturellen Einkommenausgleich in den alten Bundesländern um rund 1 Milliarde DM und die Anpassungshilfe in den neuen Bundesländern um rund 390 Millionen DM bedeutet einen enormen finanziellen Kraftakt. Er steht auch unter der Überschrift „Wir halten Wort". Nun sind die Länder am Zuge. Damit die Landwirtschaft einen vollen Ausgleich erhält, müssen sich die Länder wie beim soziostrukturellen Einkommensausgleich mit zusätzlichen Mitteln beteiligen. Eine entsprechende Zusage der Länder würde übrigens auch die Durchsetzung dieser Förderschiene bei der EG-Kommission erleichtern. Ein ersatzloser Wegfall des dreiprozentigen Mehrwertsteuerausgleichs würde allerdings im Durchschnitt der Betriebe einen Einkommensrückgang um 15 % bedeuten. Das kann wohl niemand wollen. Ich hoffe, daß es niemand will. Es wäre für die Landwirtschaft nicht vertretbar.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat ein Interesse daran, daß die Verhandlungen zur Reform der EG-Agrarpolitik und zu GATT zügig fortgeführt — ich betone das — und auch abgeschlossen werden. Unsere Bauern haben ein Recht darauf zu wissen, wohin die Reise geht oder gehen soll. Sie brauchen eine klare Antwort, um betriebliche Entscheidungen treffen zu können. Was man heute modernerweise wohl so nennt: Sie brauchen eine Perspektive.
Das Konzept der Bundesregierung bietet eine Perspektive. Wir wollen, daß die Produktion innerhalb der EG im wesentlichen wieder auf die Nachfrage zurückgeführt wird.
Wir unterstützen die von der Kommission vorgesehene Verknüpfung von Mengenbegrenzung und Einkommensbeihilfen. Wir fordern, daß Betriebe, die sich marktgerecht verhalten, einen vollen Einkommensausgleich erhalten, und zwar für den Einkommensentgang sowohl auf Grund von Mengenrückführung als auch auf Grund möglicher Preissenkungen. Wir wollen also keine Diskriminierung für größere Betriebe. Wir setzen uns dafür ein, daß dieser Einkommensausgleich dauerhaft ist. Er muß auch verläßlich sein. Bestimmte Betriebsformen und -größen dürfen nicht benachteiligt werden. Im GATT dürfen diese Maßnahmen nicht unter die abbaupflichtigen Beihilfen fallen. Wir lehnen aber einen überzogenen Abbau des Außenschutzes — dies ist ein absolut wichtiger
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Bundesminister Ignaz KiechlePunkt — sowie eine unangemessene Verminderung der Erzeugerschutz- oder Stützungspreise entschieden ab.Zum vollen Ausgleich der Einkommenseinbußen auf Grund der von der Kommission vorgeschlagenen Preissenkungen — nicht etwa unsere Meinung — wären übrigens erhebliche zusätzliche Haushaltsmittel erforderlich. Das, was man bei den Preisen wegnimmt, also bei den Stützpreisen, müßte aus Haushaltsmitteln wieder zurückgegeben werden. Daneben bestünde übrigens die Gefahr, daß die Zahlung von Einkommensbeihilfen in dieser Größenordnung, wie die Kommission sie vorschlägt, zu einer völligen Abhängigkeit der Bauern vom Zustand der Staatsfinanzen führen würde. Das kann man aus Prinzip nicht wollen.Auch in Zukunft sollten die Betriebe ihr Einkommen vorrangig über den Markt erzielen können. Aber eben deswegen, meine Damen und Herren, ist ein ausreichender Außenschutz unter Einbeziehung der Substitute unverzichtbar.
Es würden sonst die Preise dauerhaft auf unbefriedigendem oder sogar unter Kosten liegendem Niveau festgeschrieben, und alle Anstrengungen zur Mengenrückführung wären vergebens.Wir brauchen auch in Zukunft — und obwohl schon oft gesagt, wiederhole ich es — eine leistungsfähige Landwirtschaft. Dabei gehen die Leistungen mittlerweile weit über die Erzeugung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen hinaus. Die Landwirtschaft pflegt unsere Kulturlandschaft. Wer darüber witzelt oder es gar leugnet, hat keine Ahnung davon, wie ein Land aussieht, das nicht mehr bebaut wird und vom Bauern gepflegt wird.
Die Landwirtschaft leistet einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des ländlichen Raums. Auch das muß man wissen: Ohne Bauern ist der ländliche Raum nicht mehr haltbar in seiner heutigen Form. Sie erzeugt — und das ist schon ihre Hauptaufgabe — hochwertige Nahrungsmittel — und das ausschließlich umwelt-, natur- und artgerecht. Bitte, Nebenerscheinungen bekommen wir mit der Zeit schon in den Griff. Sie ist ein nicht wegzudenkender Teil unserer deutschen Kultur, nicht nur der Kulturlandschaft.
Diese Leistungen müssen eben auch honoriert werden, wenn man sie im Zeitalter einer sehr modernen Entwicklung und im Rahmen eines der höchst entwikkelten Industriestaaten in der Welt auch in der Zukunft haben will. Darüber sollte es eigentlich auch keinen Streit geben.
Aber daß das Ganze für uns keine leeren Worte sind, das beweist dieser Haushalt 1992.Ich möchte schließen mit einem Wort des ehrlichen Dankes an die Berichterstatter und auch an die Mitglieder des Haushaltsausschusses, die bei all diesen schwierigen Dingen und auch oft schwer erklärbaren Dingen viel Verständnis für die Landwirtschaft und damit auch den Landwirtschaftsminister aufgebracht haben.
Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf der Drucksache 12/1640. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag?
Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei einer Stimmenthaltung ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wer stimmt für den Einzelplan 10 in der Ausschußfassung? — Die Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 10 angenommen.
Ich rufe jetzt auf: Einzelplan 11
Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksachen 12/1411, 12/1600 — Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Diller Hans-Gerd Strube
Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorgesehen worden. Gibt es dazu gegenteilige Meinungen? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Als erstem erteile ich dem Herrn Abgeordneten Karl Diller das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Blüm, selten eigentlich hatte ein Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung eine so herausfordernde wie auch so reizvolle Aufgabe wie sie. Doch statt eine Fülle von Ideen zu produzieren, wie man zur sozialen Einheit kommt, um dann die besten davon umzusetzen, sind Sie Opfer der ideologischen Scheuklappen Ihres Kanzlers und des Wirtschaftsministers geworden
und haben ihnen viel zu lange das Märchen vom Markt, der es schon richten werde, geglaubt oder dem zumindest nicht widersprochen.Statt aktiv den Arbeitsmarkt im Osten zu gestalten, haben Sie und Ihre Koalitionsfraktionen unsere entsprechenden Vorschläge und unsere Äntrage zur
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5216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Karl DillerSchaffung von Beschäftigungsgesellschaften niedergestimmt,
unsere Mahnungen und Bitten in den Wind geschlagen. Der Bundesanstalt für Arbeit wurde es sogar untersagt, im Herbst 1990 ein fix und fertig konzipiertes Qualifizierungsprogramm zu starten. Unglaublich! Das Angebot der Arbeitgeber, zur verstärkten Hilfe bei Ausbildung und Umschulung beizutragen, wurde lange Zeit nicht beachtet. Die Treuhand wurde nicht angewiesen, der Sanierung der Betriebe Vorrang zu geben.So richtete es denn der Markt mit der ihm eigenen Brutalität. Von den ehemals über 9 Millionen Erwerbstätigen in der DDR sind jetzt nur noch 6,7 Millionen in Arbeit und Brot. Die Zahl der Erwerbstätigen wäre noch viel niedriger und erschreckender, hätten nicht eine halbe Million Ostdeutsche als Pendler im Westen Beschäftigung gefunden und hätte es nicht — viel zu spät, aber immerhin — Ihrerseits eine teilweise Umkehr und ein Aufgreifen sozialdemokratischer Vorschläge durch die Koalition gegeben.
Zwar hat die Bundesregierung ihrer Treuhandanstalt immer noch nicht die nötige Kurskorrektur verordnet, doch sind durch das Altersübergangsgeld 281 000 Menschen sozial verträglich aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, sind durch ABM und Beschäftigungsgesellschaften noch viele hunderttausend Menschen erwerbstätig. Gäbe es den Einsatz dieser von uns immer wieder mit Nachdruck geforderten Instrumente jetzt nicht, wären nach dem Eingeständnis von Ihnen, Herr Minister Blüm, im Haushaltsausschuß knapp zwei Millionen Menschen im Osten zusätzlich arbeitslos.Eigentlich müßten Sie, Herr Minister Blüm, die Eckdaten der Bundesregierung für 1992 anspornen, noch größere Anstrengungen zur Bewältigung der Situation im nächsten Jahr zu unternehmen; denn die Bundesregierung geht für das nächste Jahr nur noch von 5,8 Millionen Erwerbstätigen — mithin 900 000 weniger — in den neuen Ländern aus.Unseren Antrag, deshalb die besondere Kurzarbeitergeld-Regelung nicht bereits im nächsten Monat auslaufen zu lassen, sondern bis Ende 1993 fortzuführen und mit einem starken finanziellen Anreiz zu beruflicher Fortbildung oder Umschulung zu verknüpfen, haben Sie niedergestimmt. Die Koalition verantwortet dadurch, daß 1992 im Osten mindestens 170 000 Kurzarbeiter zusätzlich arbeitslos werden. So produziert Minister Blüm Arbeitslose und entlarvt die Pressemitteilung seiner eigenen Regierung vom 6. November:Der Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit ist noch nicht erreicht. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.als leeres Geschwätz, Herr Minister Blüm.
Die gleiche Bewertung gilt auch für Ihren Ausspruch vor einem halben Jahr bei der Beratung des 91er Haushalts. Damals sagten Sie:Ich halte es für besser, wir geben das Geld für ABM aus, als daß wir Arbeitslosigkeit passiv verwalten.Diese Aussage von Ihnen verträgt sich nicht mit den von Ihnen gebilligten Verschärfungen und Erschwernissen für den Einsatz von ABM. Sie verträgt sich nicht mit dem von Ihnen verordneten Zurückfahren der erlaubten Neuzugänge in ABM im Osten von 30 000 pro Monat in diesem Halbjahr auf weniger als die Hälfte im Durchschnitt des nächsten Halbjahres.
Wo ist, Herr Minister Blüm, Ihre Zurechtweisung des Wirtschaftsstaatssekretärs und Raumfahrtlobbyisten Riedl, als dieser vor wenigen Tagen unglaublicherweise vorschlug, die Mittel für ABM Ost den dortigen Arbeitslosen wegzunehmen, damit die finanziellen Löcher für seine Weltraumabenteuer namens Hermes und Columbus gestopft werden können?
Des Ministers Aussage verträgt sich auch nicht mit der von Ihnen verhängten Streichung von 560 Millionen DM für ABM West. Das bedeutet nämlich den Wegfall von 18 000 neu zu bewilligenden Vollzeit-ABM-Plätzen im alten Bundesgebiet.Doch das ist noch nicht alles. Hinzu kommt, daß Minister Blüm eine weitere globale Minderausgabe von über 600 Millionen DM der Bundesanstalt zumutet, die, weil es sonst nicht geht, zumindest zur Hälfte, wahrscheinlich zu mehr als der Hälfte erneut über zusätzliche Kürzungen bei ABM erwirtschaftet werden muß und damit mithin weit über 10 000 weitere ABM-Plätze im Westen wegfallen. Damit wird jede dritte ABM-Neubewilligung im Westen im nächsten Jahr durch Ihre Politik unmöglich gemacht. Das ist falsch, Herr Minister,
denn das Jahr 1992 wird im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ein schwieriges Jahr. Die Sachverständigen und Sie selbst räumen ein, daß es im Jahresdurchschnitt im Westen 200 000 Arbeitslose im nächsten Jahr mehr geben wird als in diesem Jahr und im Osten sogar 400 000 zusätzliche Arbeitslose prophezeit werden.
Ein Jahr — verehrter Herr Kollege — in dem erstmals mehr als 4 Millionen Arbeitslose und Kurzarbeiter in Deutschland zu verzeichnen sind, hat eine andere, eine bessere, eine energische Arbeitsmarktpolitik verdient.
Schauen Sie sich unseren Antrag an. Wir haben im Haushaltsausschuß gezeigt, wie eine verantwortungs-
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Karl Dillerbewußte Arbeitsmarktpolitik in dieser Zeit aussehen müßte.
Wir wollten der Bundesanstalt die ihr 1992 fehlenden Mittel von rund 1,7 Milliarden DM durch eine Zuführung über den Nachtragshaushalt für dieses Jahr, den wir jetzt mit beraten, bewilligen.
Dann wäre es nicht zu den von Ihnen verhängten Kürzungen bei ABM um 560 Millionen DM, zu den von Ihnen verhängten Kürzungen bei Rehabilitationsmaßnahmen um 330 Millionen DM gekommen, und es würde nicht dazu kommen, daß Personal-, Sach- und Investitionskosten um 250 Millionen DM gestrichen werden müßten und weitere globale Minderausgaben von 600 Millionen DM zu erwirtschaften wären.
Meine Damen und Herren, wenn Sie fragen: „Wie wäre das zu finanzieren gewesen?":
Das wäre genauso zu finanzieren gewesen, wie Sie das für einen Teil in diesem Nachtragshaushalt auch machen. In diesem Haushaltsjahr ist eindeutig erkennbar, daß wir ein Vielfaches dieses Betrags nicht werden ausgeben können. Deswegen wären diese Mittel vorhanden gewesen, ohne daß die vereinbarte Kreditlinie für 1991 auch nur im Entferntesten berührt oder gar überschritten worden wäre.
Unser Antrag wurde im Haushaltsausschuß ebenso abgelehnt wie unsere Aufforderung an die Regierung, dafür Sorge zu tragen, daß die Bundesanstalt für Arbeit ihre Stellen so besetzen kann, daß die Arbeitsverwaltung in Ost und West ihrer Arbeit voll nachkommen kann. So war der Wortlaut unseres Antrags, und das haben Sie abgelehnt. Ein wirklich absurdes Abstimmungsverhalten, meine Damen und Herren von der Koalition!
Eine herausfordernde Aufgabe für Sie, Herr Blüm, müßte eigentlich auch die Bekämpfung der Armut in unserem Lande sein. Es dürfte einen Sozialminister nicht ruhig schlafen lassen,
wenn allein in den ersten sieben Jahren seiner Amtsführung die Zahl der Sozialhilfeempfänger
im alten Bundesgebiet um 1,3 Millionen Menschen, also um 60 %, zugenommen hat.
Verehrter Minister, schauen Sie sich diese Graphik an! Ich habe sie aus dem jüngsten Jahresbericht des Statistischen Bundesamtes herauskopiert. Das hier zeigt, daß es uns, als wir in den 70er Jahren regierten, trotz weltwirtschaftlicher Krisensituationen gelungen ist
— bitte sehr, Herr Staatssekretär! — , die Zahl der Sozialhilfeempfänger konstant zu halten — trotz weltweiter Wirtschaftskrise!
Diese Stelle hier markiert den Zeitpunkt Ihrer Amtsübernahme,
Herr Minister Blüm, und seit dieser Zeit geht diese Kurve unaufhörlich nach oben, trotz weltweit günstiger Konjunkturdaten seit sieben Jahren.
Das ist kein Zeichen guter Sozialpolitik, lieber Kollege Wieczorek, sondern das ist das Ergebnis einer gnadenlosen Umverteilungspolitik durch diese Koalition zugunsten der Besserverdienenden.
Nur wer die Ursachen der Armut kennt, kann sie beseitigen. Zu den Hauptursachen gehören unzureichende Renten, eben mit der Folge der Altersarmut,
wobei noch zu sagen ist, daß viele verschämt ihren Sozialhilfeanspruch gar nicht wahrnehmen. Wir schlagen zur Behebung der Altersarmut die Schaffung einer Grundsicherung vor.
In diesem Zusammenhang appellieren wir an die Bundesregierung und an die Verantwortlichen in den neuen Ländern, dem Skandal ein Ende zu bereiten, daß von 280 000 im Osten eingereichten Anträgen auf Kriegsopferversorgung erst 51 000 bewilligt worden sind.
Zu den Hauptursachen der Armut zählt mittlerweile auch die Langzeitarbeitslosigkeit. Sie wirft Menschen aus ihrer gewohnten und geordneten Bahn, zer-
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Karl Dillerstört Ehen und Familien, führt in die Sackgasse der Überschuldung — höchste Zeit, daß wir den Privatkonkurs mit der Möglichkeit einer Restschuldbefreiung vorsehen — unsere Vorstellungen dazu liegen seit einem Jahr vor — und den Kampf gegen die Spirale nach unten aufnehmen!Die bisherigen Versuche der Regierung verfehlten ihr Ziel. Geld wurde zwar bereitgestellt, Herr Minister Blüm, aber es kam mangels tragfähiger Konzepte der Regierung nur unzureichend zum Einsatz dieses Geldes. Haushaltsreste in Höhe von 255 Millionen DM bei den Lohnkostenzuschüssen an Arbeitgeber für die Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser und von weiteren 51 Millionen DM, die für Zuschüsse für die Beschäftigung besonders schwer vermittelbarer Arbeitsloser nicht zum Einsatz kamen, sind kein Grund, Herr Kollege Strube, die Mittel zu kürzen, wie Sie es taten, sondern Anlaß, endlich für eine neue Programmkonzeption zu sorgen.
Wir begrüßen deshalb, daß wir uns im Ausschuß darauf verständigen konnten, in 18 Arbeitsamtsbezirken im Westen und in 5 Arbeitsamtsbezirken in den neuen Ländern modellhaft neue Wege zu erproben, mußten aber enttäuscht feststellen, daß die Koalition nicht bereit war, unserem Antrag zu folgen und von einer Kürzung der Mittel für die Schwerstvermittelbaren abzusehen. Angesichts der Tatsache, daß in den neuen Ländern bereits 30 % der Arbeitslosen seit acht und mehr Monaten ohne reguläre Beschäftigung sind, wären die Mittel dringendst erforderlich.Zu der wachsenden Armut trägt auch die Unfähigkeit der Regierung bei, in der wichtigen Frage der finanziellen Absicherung des Pflegerisikos zu einer ebenso sozialen wie sachgerechten Lösung zu kommen.
Die einzige Fraktion, die einen beratungsfähigen Gesetzentwurf vorgelegt hat, ist die SPD-Fraktion.
Wir schlagen darin — übrigens zusammen mit den von uns regierten Bundesländern — ein schlüssiges und sozial gerechtes Konzept vor, auf dessen Umsetzung tagtäglich Millionen Bürger immer ungeduldiger hoffen und warten.
Das einzig Positive, was zu diesem Thema in den Haushalt hineingekommen ist, stammt übrigens nicht von Minister Blüm. Er war nur daran interessiert, zusätzlich noch 5 Millionen DM für Propaganda zu bekommen.
Der Vorschlag, 40 Millionen DM im Haushalt bereitzustellen, mit denen in etlichen Regionen, vor allem auch in den neuen Ländern, die ambulante Betreuung Pflegebedürftiger und die stationäre Unterbringungmodellhaft optimiert und neue, konstengünstigere Formen der Versorgung erprobt werden können, stammt von meinem Kollegen Hans-Gerd Strube und von meiner Kollegin Ina Albowitz und ist von mir unterstützt worden.Eine herausfordernde Aufgabe auch und gerade für den Arbeitsminister ist in den letzten Monaten der Schutz unserer ausländischen Arbeitnehmer vor Übergriffen geworden. Wir wissen, aus welchen Gründen die bei ihm ressortierende bisherige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung ihr Amt zur Verfügung gestellt hat. Sie wollte nicht länger mitansehen, wie sehr die Bundesregierung ihre Warnungen und Bitten in den Wind schlug. Unser Antrag zur Aufwertung und Neugestaltung des Amtes liegt auf Drucksache 12/1357 vor und müßte eigentlich Ihren Beifall finden.Doch sei der neuen Ausländerbeauftragten gesagt, daß es mit den jetzt veranschlagten neuen Stellen und ein paar Mark mehr für Öffentlichkeitsarbeit und Repräsentation nicht getan ist,
schon gar nicht, wenn ihre Parteifreunde von der FDP und ihr Koalitionspartner von der CDU/CSU wild entschlossen dabei sind, das von den karitativen Organisationen bundesweit aufgebaute Betreuungsnetz zu zerstören. Nichts anderes bedeutet nämlich Ihr unseliges Festhalten an dem Beschluß, Herr Kollege Strube, die Mittel jedes Jahr um weitere 2 Millionen DM zusammenzustreichen.
Nicht die Zahl der Redenschreiber und Briefbeantworter für die Ausländerbeauftragte darf der Gradmesser für eine Ausländerpolitik sein. Die konkrete Hilfestellung vor Ort für den ratsuchenden Arbeitnehmer ist doch das Entscheidende. Deshalb beklagen wir mit Caritas, Diakonie und Arbeiterwohlfahrt mit großer Bitterkeit, daß Sie unserem Antrag nicht gefolgt sind, dafür 41 Millionen DM vorzusehen.Das ist schade, wäre doch hier ein Konsens möglich gewesen, so wie wir einen Konsens finden konnten, indem Sie unserem Antrag folgten, 1,5 Millionen DM mehr zur Beratung osteuropäischer Staaten bei der Neugestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme und der Arbeitsförderung bereitzustellen, so wie wir auch in Konsens beschlossen haben, daß eine Bundesanstalt für Arbeitsmedizin gegründet wird — meine Mahnung, die wissenschaftlichen Mitarbeiter auch auf angemessene Stellen zu führen, möchte ich an dieser Stelle wiederholen, Herr Minister — , so wie wir schließlich auch im Konsens die Rentenreform 1992 beraten und samt Überleitungsgesetzen beschlossen haben. Ich zitiere:Die Rentenreform 1992 wurde am 9. November 1989 von den großen politischen Kräften im Deutschen Bundestag gemeinsam beschlossen.So schreibt der Minister im Vorwort einer jetzt an alle Haushalte in den neuen Ländern verteilten Broschüre „Die neue Rente".Ganz recht. Da war die SPD maßgeblich mitbeteiligt. Da hat die SPD dafür gesorgt, daß die ursprüng-
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Karl Dillerlichen Konzeptionen von CDU/CSU und FDP geändert wurden, wodurch z. B. der Bundeszuschuß wesentlich erhöht wurde, was die Beitragszahler entlastet. Jetzt wird von der Bundesanstalt ein höherer Beitrag für Arbeitslose gezahlt, was deren spätere Rentenhöhe positiv beeinflußt. Es wurde die Rente nach Mindesteinkommen ausgebaut, was für mehr als eine Million Rentnerinnen mehr Geld bedeutet.Ähnliche Verbesserungen erreichten wir für die Rentner in den neuen Ländern bei den neuen Rentenüberleitungsgesetzen, wodurch z. B. der Sozialzuschlag für einen weiteren Neu-Rentnerjahrgang, nämlich den 93er, gewährt und allen Empfängern zwei Jahre länger ausgezahlt wird, nämlich bis Ende 1996.Damit ist die Zeit gewonnen, eine nach unserer Auffassung dringend notwendige soziale Grundsicherung zu schaffen. Wir erreichten auch, daß z. B. alle Rentenzugänge bis 1996 einen Vertrauensschutz bezüglich ihrer erworbenen Ansprüche und Anwartschaften genießen,
mithin keine Verschlechterung durch das neue Recht eintreten kann.Man sieht daran, wenn die Bundesregierung zu Kompromissen mit der SPD gezwungen wird oder dazu bereit ist, dann kommt Vernünftiges dabei heraus,
zumindest Vernünftigeres, als wenn sie gegen unsere warnenden Stimmen Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen durchsetzt, Änderungsanträge ablehnt.Bekanntestes Beispiel für ein solches Verhalten, für die Folgen des sturen Regierungshandelns, ist der absolute Tiefpunkt in Minister Blüms Karriere, Ihre Super-Pleite mit Ihrer sogenannten Gesundheitsreform, Herr Minister.Dieser Haushalt wird, wie dargelegt, in wesentlichen Punkten den Herausforderungen des Jahres 1992 nicht gerecht. Der Einzelplan ist im übrigen auch ein Beispiel für das Verlagern von Kosten des Bundes zu Lasten Dritter. So läßt die Bundesregierung seit 1988 wichtige Aufgaben der Integration von Aussiedlern aus Mitteln der Beitragszahler für Nürnberg bezahlen. Der Bund spart auf diese Weise zu Lasten der Beitragszahler allein im nächsten Jahr 3,3 Milliarden DM.Der Haushalt ist auch ein Beleg für von Ihnen, Herr Blüm, nicht eingehaltene Versprechen. Wie die Presse zur Zeit berichtet, zeichnen sich für das nächste Jahr Defizite bei den Rentenversicherungsträgern ab; die Schätzungen gehen bis 12 Milliarden DM. Dieses Loch in den Rentenkassen ist einigungsbedingt. Sie selber haben am 17. Mai versprochen, daß die einigungsbedingten Kosten nicht zu Lasten der Beitragszahler, sondern zu Lasten der Steuerzahler gehen müssen.
Wir finden davon nichts in diesem Haushalt.
— Nun beruhigen Sie sich! — Der Minister hat damals gesagt: Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln.
In diesem Haushalt ist davon nichts zu finden. Deswegen lehnen wir ihn ebenfalls ab.
Das Wort hat der Kollege Hans-Gerd Strube.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Diller, Sie haben Glück. Ich habe nämlich gerade gestern beschlossen, mir einen neuen Redestil zuzulegen und Polemik nicht mit Polemik, sondern mit großer Sachlichkeit zu beantworten.
Meine Damen und Herren, wenn es um den Haushalt des Bundesarbeitsministers geht, wird mit vielen Milliarden jongliert. In diesem Jahr sind es 91 Milliarden DM.Der finanzierte Sozialstaat soll den Schutz des sozial und wirtschaftlich Schwächeren garantieren. Er soll soziale Ungerechtigkeiten abbauen. Aber mit dem stetigen Wandel in der Gesellschaft ändern sich zwangsläufig auch Handlungsnotwendigkeiten. Was in der Vergangenheit zur Behebung von verbreitetem Elend erforderlich war, muß in einer Zeit des Massenwohlstands nicht notwendig sinnvoll bleiben.
Die Sozialpolitik muß Antworten auf die veränderten Herausforderungen unserer Gesellschaft finden.
Es kann und darf nicht sein, daß ungefragt alle Strukturen konserviert werden. Traditionelle Leistungen können sich nicht aus sich selbst heraus legitimieren, sondern müssen ihre Berechtigung in der jeweils konkreten Lage nachweisen.
Der Sozialstaatsgedanke wird heute vielfach zur Begründung neuer Forderungen in Anspruch genommen, während auf Grund gewandelter Sachverhalte
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Hans-Gerd Strubegleichzeitig notwendige Änderungen im sozialen System als Anschlag auf den Sozialstaat diffamiert werden.Um das erreichte Niveau unseres sozialen Sicherungssystems in Deutschland halten zu können, ist mehr Eigenverantwortung notwendig, muß Eigeninitiative weiter gesteigert werden.
Der Staat ist hier nicht allein gefordert. Die Mitarbeit des einzelnen ist wichtiger denn je.Wenn wir uns umschauen, finden wir jedoch oft das Gegenteil: Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach Orientierung. Man sehnt sich nach perfekten Lösungen, nach todsicheren Rezepten.
Lassen Sie mich einige Haushaltsansätze herausgreifen, die von der Summe her nicht zu den größten zählen und dennoch interessant sind. — Meine Damen und Herren, in diesen Wochen wird ja viel von Ausländerfeindlichkeit geredet. Dabei wissen wir alle: Ohne Ausländer wäre der Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland massiv gefährdet.
Wir Christdemokraten betonen daher immer wieder, daß wir uns stark gegen die Ausländerfeindlichkeit wenden,
daß wir Lösungen vom Stammtisch ablehnen;
denn Vorurteile werden durch Zahlen widerlegt.Zwei Drittel der hier lebenden Ausländer wohnen schon über zehn Jahre bei uns. Zwei Drittel der Ausländerkinder sind in der Bundesrepublik geboren. Neun von zehn Ausländern sprechen oder verstehen Deutsch. Vier von fünf Ausländern zwischen 15 und 24 Jahren haben eine deutsche Schule besucht oder besuchen sie noch.Die Bundesregierung will die Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer weiterführen. Wir wollen nämlich niemanden ins Ghetto drängen, weder in das kulturelle noch in das sprachliche Ghetto. Wir Christdemokraten setzen uns dafür ein, daß den Türken, Griechen, Spaniern und Menschen anderer Nationalitäten, die bei uns eine zweite Heimat gefunden haben, das Leben leichter gemacht wird. Zu einhundertzehnprozentigen Deutschen wollen wir damit niemanden machen.
Vielmehr wollen wir helfen, daß ihnen der Einstieg in den Beruf und das Kennenlernen der ihnen fremden, schweren deutschen Sprache leichter fällt.Diese Hilfe ist in der Öffentlichkeit leider kaum bekannt. Doch stellt das Arbeitsministerium hierfür insgesamt 110 Millionen DM zur Verfügung, u. a. Mittel für die berufliche und sprachliche Bildung, für Zuschüsse an freie Wohlfahrtsverbände und für die Betreuung ausländischer Arbeitnehmer. Bei der sprachlichen und beruflichen Bildung geht es vor allem um Kurse für junge Ausländer und für ausländische Frauen. Inzwischen erreichen fast drei von vier Ausländerkindern einen allgemeinbildenden Schulabschluß.Entscheidende Weichen für die Zukunft werden beim Übergang von der Schule in den Beruf gestellt. Hier setzen wir an; denn möglichst viele ausländische Jugendliche sollen für das Berufsleben qualifziert werden.Daher haben die Bundesregierung und die Bundesanstalt für Arbeit ihre Maßnahmen in den letzten Jahren erheblich verstärkt. Wir bieten ein geschlossenes Förderpaket. Dazu gehören deutsche Sprachkurse, spezielle Angebote zur Berufsvorbereitung von Ausländern und das Programm zur Förderung der Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher.Die Angebote der Bundesanstalt für Arbeit sind überaus erfolgreich. An Berufsvorbereitungs- und Bildungskursen beteiligen sich pro Jahr 12 000 junge Ausländer. Außerdem hat die Bundesanstalt für Arbeit spezielle Initiativen entwickelt, um die jungen Ausländer und ihre Eltern an die Berufsberatung heranzuführen. Im letzten Jahr haben 150 000 ausländische Jugendliche die Beratungsdienste der Bundesanstalt für Arbeit in Anspruch genommen.Im Sozialetat stehen für Koordinierungs- und Sondermaßnahmen 1992 insgesamt 52,5 Millionen DM bereit. Das sind 2 Millionen DM mehr als im letzten Jahr. Der Ansatz für die Betreuungsmaßnahmen wird gegenüber dem Vorjahr um 2 Millionen DM auf 36 Millionen DM zurückgeführt.Das ist vor allem aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen wird der Anteil der ersten Ausländergeneration, die ganz besonders stark die Sozialberatung benötigte, immer geringer. Zum anderen steigt der Anteil der jungen Ausländer und der zweiten und dritten Generation. Deren Integration wird immer notwendiger.Besonders im sprachlichen und beruflichen Bereich nimmt der Bedarf zu, auch bedingt durch den Familiennachzug. Während 75 % der deutschen Jugendlichen eine Berufsausbildung absolvieren, sind es unter den ausländischen Jugendlichen nur 35 %. Durch projektbezogene Maßnahmen wollen wir die Integration verstärken.Wir verfolgen dabei ein weiteres Ziel. Durch die Betreuungsmaßnahmen sind Frauen bisher kaum erreicht worden. Frauen sind aber in der Regel der Bezugspunkt der Familie. Durch Projekte wollen wir die Integration von ausländischen Frauen erleichtern. Das kommt dann der ganzen Familie zugute.
Ziel der Frauenkurse ist es auch, Frauen verstärkt für eine Berufsausbildung zu interessieren. Die Umschichtung der Mittel bietet dem Arbeitsministerium einen größeren Spielraum. Die Haushaltsmittel werden nicht mehr einfach nach dem Gießkannenprinzip breit gestreut; vielmehr fördert man gezielt Projekte mit sehr unterschiedlichen Trägern. Dadurch lassen sich neue Wege bei der beruflichen und sozialen Inte-
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Hans-Gerd StrubeBration erproben. Diese zahlreichen Projekte zeigen: Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land, und die Bundesregierung ist ebenso ausländerfreundlich.
Meine Damen und Herren, wir Christdemokraten haben es in der Vergangenheit ständig geschafft, mit unserer Sozialpolitik die soziale Sicherung zu verfeinern.
Sozialpolitik duldet keinen Stillstand; immer wird es Defizite geben, die beseitigt werden müssen.In diesem Zusammenhang rückt ein Thema immer mehr in den Blickpunkt: der Arbeitsschutz. Sie alle wissen: Arbeit kann dem Leben einen Sinn geben, Arbeit kann aber auch krank machen. Damit der Arbeitsplatz menschenwürdig eingerichtet ist, muß die Arbeit so gestaltet werden, daß sie möglichst wenig Gesundheitsbelastungen für die Arbeitnehmer mit sich bringt. Das ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Dazu gehört auch die Vorbeugung gegen Krankheiten, die durch den Arbeitsplatz entstehen können.Wirksamer Arbeitsschutz bedeutet, daß man weiß, welche Faktoren auf den Menschen durch Arbeit einwirken — wie Gefahrstoffe, Lärm, Hitze oder psychische Anforderungen. Hierfür leistet die Bundesanstalt für Arbeitsschutz einen wichtigen Beitrag. Arbeitsschutz bedeutet ebenso, daß man weiß, wie sich diese Belastungen auswirken, z. B. als Gesundheitsstörungen — wie Vergiftungen, Allergien, Schwerhörigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische und physische Funktionsstörungen.Dieser Bereich lag jahrelang fast brach. Der Bund besaß bisher keine eigene arbeitsmedizinische Einrichtung. Die deutsche Einheit hat uns hier eine große Chance geboten: Das weltweit anerkannte ehemalige Zentralinstitut für Arbeitsmedizin in Ost-Berlin hat uns die Möglichkeit gegeben, das Defizit zu beseitigen. Die Übernahme als Bundesanstalt für Arbeitsmedizin zeigt nicht nur die hohe Bedeutung, die wir der Arbeitsmedizin beimessen. Sie zeigt gleichzeitig, daß anerkannte Einrichtungen der ehemaligen DDR nicht einfach in westlichen Strukturen untergehen.Seit Übernahme der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin steht dem Bund nun erstmals eine leistungsfähige eigene Fachkompetenz in diesem Bereich zur Verfügung. Damit werden wir künftig in der Lage sein, die Verbesserungen in der arbeitsmedizinischen Versorgung umzusetzen. Dies ist dringend erforderlich.Ich möchte hier nur auf eine Studie von 1989 verweisen. Diese Studie des großen werksärztlichen Dienstes beim Volkswagenwerk kommt zu dem Ergebnis, daß die Ausstattung der betriebsärztlichen Versorgung völlig unzureichend ist, daß es große Lükken bei der Ursachenbestimmung von Erkrankungen gibt, die mit Arbeitsbedingungen im Zusammenhang stehen können, und daß das Datenmaterial insgesamt lückenhaft ist.
Defizite bestehen besonders bei den Themen Mehrfachbelastungen, psychomentale Belastungen sowie Erkrankungen, die nicht monokausal erklärt werden können. Diese Situation ist unhaltbar. Wir können sie nicht nur aus sozialpolitischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht länger hinnehmen.Die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin wird diese Defizite beseitigen. Darüber hinaus wird sie eine weitere wichtige Aufgabe lösen können: Die Europäische Gemeinschaft hat sich zum Motor der Entwicklung zu mehr Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz entwickelt.
Zahlreiche Richtlinien müssen umgesetzt werden oder sind derzeit in Vorbereitung, z. B. die Maschinenrichtlinie und die Bildschirmrichtlinie. Wenn wir bei der Gestaltung des Sozialraums Europa mitreden wollen, dann brauchen wir mehr arbeits- und betriebsmedizinischen Sachverstand. Dieser Sachverstand ist bei der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin vorhanden.Meine Damen und Herren, ich habe meine Redezeit bewußt genutzt, um zwei Themen aus dem Aufgabenkatalog des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung etwas vertieft darzustellen.
Schlagzeilen werden diese Ausführungen nicht bringen.
Aber, meine Damen und Herren, verantwortlich gestaltete Sozialpolitik schielt auch nicht nach Schlagzeilen, sondern ist an der Sache orientiert.
Ich bedanke mich beim Bundesarbeitsminister,
bei den Mitarbeitern des Ministeriums und ebenfalls bei den Mitberichterstattern und möchte Sie bitten, dem Einzelplan 11 Ihre Zustimmung zu erteilen.Herzlichen Dank.
Nun hat die Kollegin Ina Albowitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu unser aller Entsetzen müssen wir feststellen, daß Deutschland von einer Welle der Gewalt überrollt wird, verursacht durch den Haß gegenüber Ausländern und asylsuchenden Menschen.Manchmal frage ich mich, wann und wo wir versagt haben bzw. wo wir gemeinsam deutlicher Zeichen hätten setzen sollen. Die Bundesregierung und der Haushaltsausschuß haben hierzu in der letzten Woche ein Zeichen gesetzt, in manchen Augen vielleicht nur ein kleines, in meinen Augen aber doch ein sehr bedeutsames. Ich spreche vom Amt der Ausländerbeauftragten, das Cornelia Schmalz-Jacobsen in der
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Ina Albowitzletzten Woche übernommen hat. Mit ihrem Amtseintritt verbinden sich nicht nur gute Wünsche für eine erfolgreiche Arbeit aus diesem Hause, sondern auch eine Reihe von Verbesserungen.
Die Zuständigkeiten der Ausländerbeauftragten sind erweitert worden. In Zukunft ist sie an allen ausländerrelevanten Vorhaben der Bundesregierung zu beteiligen, so daß ihr Einfluß deutlich wächst. Die erweiterte Zuständigkeit drückt sich auch in der neuen Amtsbezeichnung aus. Hieß sie bisher „Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" so lautet die Bezeichnung jetzt „Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer".Die zweite Verbesserung für das Amt der Ausländerbeauftragten ist, daß der Etat aufgestockt wurde und mehr Personal zur Verfügung steht. Es werden neue Planstellen eingerichtet und zusätzlich 300 000 DM für die Weiterbeschäftigung von Aushilfskräften in Bonn und der Außenstelle in Berlin zur Verfügung gestellt. Damit wird die Ausländerbeauftragte in Zukunft über 16 Mitarbeiter verfügen.Ein wichtiges Instrument, damit die Ausländerbeauftragte ihre Aufgabe, das Verständnis der Deutschen und der Ausländer füreinander zu fördern, erfüllen kann, ist die Informationsarbeit. Mit der Vermittlung von Fach- und Sachinformationen kann sie zur Versachlichung der Diskussionen beitragen, Vorurteile überwinden und zwischenmenschliche Beziehungen fördern helfen. Dies ist ein wichtiges politisches Anliegen. Deshalb haben wir den Ansatz hierfür vervierfacht.
— Wir gemeinsam. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diesen Hinweis. Die Kollegen im Haushaltsausschuß wissen das auch.
— Das denke auch ich; aber das ist ein besonderer Punkt. Ich habe ihn auch schon besser erlebt; das muß ich hier ebenfalls sagen.
Nach diesen notwendigen Ausführungen zu dem Amt der Ausländerbeauftragten möchte ich jetzt einige Punkte aus dem Bereich des Sozialhaushalts ansprechen. Immerhin umfaßt der Etat des Bundesarbeitsministers mit einem Volumen von über 91 Milliarden DM mehr als ein Fünftel des Gesamthaushalts des Bundes; er ist damit mit deutlichem Abstand der größte Einzelplan.Damit hier kein Irrtum aufkommt, meine Damen und Herren, sage ich deutlich: Geld allein entscheidet nicht über die Qualität des Sozialstaates. Doch daß der Sozialetat ein so großes Volumen erreicht hat, unterstreicht, daß wir unserer sozialen Verantwortung gerecht werden, Herr Kollege.
Dies will ich an zwei Punkten dokumentieren. Der größte Brocken des Sozialhaushalts sind die Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung mit fast 60 Milliarden DM. Das ist mehr als das Gesamtvolumen des BMA-Haushalts im Jahre 1982, Herr Kollege.Für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik werden durch den Bundeshaushalt und den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr mehr als 48 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Dies bedeutet gegenüber dem laufenden Jahr einen Anstieg um 10 Milliarden DM.
Unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik sieht sich nach wie vor der wohl größten Herausforderung gegenüber: der Umwandlung einer maroden sozialistischen Planwirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ordnung — und das in kürzester Zeit. Eine solche Aufgabe, meine Damen und Herren, die vollständige Erneuerung der gesamten Volkswirtschaft eines Landes mit 17 Millionen Einwohnern, hat sich in der Geschichte so noch nie dargestellt.
Viele haben sich gefragt, ob wir diese Herausforderung im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft und mit ihren Mitteln überhaupt bewältigen können; denn klar war: Es ist nicht damit getan, hier und da ein paar Verbesserungen einzuführen, einige Betriebe zu modernisieren und darauf zu hoffen, daß damit schon alles besser wird. Zu gewaltig — und bis zur Wende in dieser Dimension auch unvorstellbar — sind die Defizite im Osten, um mit ein paar Handgriffen alles ins Lot zu bringen. Es war sofort eindeutig: Wir brauchen nicht nur eine massive Wirtschaftsförderung, sondern für eine begrenzte Zeit auch eine notwendige soziale Flankierung des Umwandlungsprozesses.Zum einen sind vor allem private, aber auch öffentliche Investitionen notwendig, denn auf Dauer können nur die Marktkräfte den Aufschwung im Osten schaffen.
Nur Investitionen in moderne Fertigungsstätten und in Infrastruktur schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze.Auf der anderen Seite können Investitionen angesichts der Größe dieser Probleme aber nur langsam greifen. Solange Marktkräfte in der Umbruchphase allein nicht in der Lage sind, genügend zukunftssichere Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, brauchen wir eine soziale Flankierung des Umwandlungsprozesses.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben sich dieser großen Aufgabe sofort gestellt. Sie haben alles, was möglich ist, auf den Weg gebracht. Ich erinnere nur an den Fonds Deutsche Einheit und das Gemeinschaftswerk Auf-
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Ina Albowitzschwung Ost. 1991 fließen netto rund 140 Milliarden DM in die neuen Bundesländer, davon rund 50 Milliarden DM direkt für Investitionen. Wir haben das mit Abstand größte Konjunktur- und Strukturprogramm, das jemals auf die Beine gestellt worden ist, zum Laufen gebracht.
Noch, meine Kolleginnen und Kollegen, befinden sich die neuen Bundesländer — das wissen wir ja alle — in der schwierigen Umbruchphase, die für viele Menschen mit dem Verlust auch des Arbeitsplatzes verbunden ist. Die früher verdeckte Arbeitslosigkeit ist offen zutage getreten.
Deshalb ist jetzt die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Flankierung nötig, denn sie macht die rasche Umstrukturierung der Wirtschaft für die Menschen erst akzeptabel und damit auch politisch möglich.Knapp 20 Milliarden DM stehen in diesem Jahr für die aktive Arbeitsmarktpolitik und weitere 7 Milliarden DM für Kurzarbeitergeld in den neuen Bundesländern zur Verfügung.Ich stelle fest: Im Osten unseres Landes ist es nicht zu dem befürchteten Dammbruch gekommen. Mehr als 1,9 Millionen Menschen konnten bisher vor der Arbeitslosigkeit bewahrt werden.
— Hören Sie doch zu. Ich rechne Ihnen das gern vor, wenn Sie sich gedulden.
— Der ist Lehrer, der müßte es eigentlich viel besser können als ich.
In Maßnahmen beruflicher Fortbildung und Umschulung befanden sich im Oktober rund 300 000 Personen. Die Zahl der Beschäftigten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen lag Ende Oktober bei 348 000. Das waren rund 35 000 mehr als Ende September. Im Oktober bezogen rund 624 000 Personen Vorruhestands- und Altersübergangsgeld.Der Entlastungseffekt der Kurzarbeit ist im Oktober auf rund 670 000 zu beziffern.Dies sind Zahlen, die ich aus verläßlichen Daten zusammengetragen habe. Die können Sie nicht negieren wollen.
— Mein lieber Herr Kollege, für die Situation, die im Osten herrscht, können Sie diesen Bundestag und diese Bundesregierung nicht verantwortlich machen. Das wissen Sie genausogut wie ich.
Diesen Wechsel sollten wir hier nicht durchgehen lassen.
— Wir bemühen uns mächtig darum.Besonders wichtig ist: In solchen Extremsituationen, meine Damen und Herren, schützt aktive Arbeitsmarktpolitik nicht nur vor Arbeitslosigkeit; sie bewahrt vor allem vor Entqualifizierung, verhilft zu neuen Befähigungen und bereitet damit die Menschen auf neue Aufgaben vor. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Weiterbildungsangebote haben sich als sinnvolle Brücken zu neuer Beschäftigung erwiesen. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich das Wort „Brücke", denn wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, daß der Umstrukturierungsprozeß letztendlich von der Wirtschaft getragen werden muß.Die positiven Anzeichen aus den neuen Bundesländern lassen erwarten, daß die Talsohle in den neuen Ländern stetig durchschritten wird und ein Aufschwung in Gang kommt, der schließlich in einen starken Beschäftigungsaufbau im privaten Sektor mündet.
Das bedeutet, daß jetzt, da Anzeichen eines Aufschwungs sichtbar werden, mit den beschäftigungspolitischen Maßnahmen des Staates noch sorgsamer umgegangen wird. Das Entstehen einer gesunden mittelständischen Wirtschaftsstruktur darf nicht erschwert werden,
weil durch ABM hoch subventionierte öffentliche Anbieter in einigen Bereichen konkurrenzlos sind. Deshalb muß das Engagement des Staates schrittweise zurückgehen.Meine Damen und Herren, in dem einen Jahr, das seit der Wiedervereinigung verstrichen ist, hat sich für die Bürger in den neuen Bundesländern viel verbessert.
Zwei Untersuchungen renommierter Wirtschaftsforschungsinstitute zeigen, daß die Realeinkommen in den neuen Ländern inzwischen bereits deutlich gestiegen sind. Die Ergebnisse dieser quantitativen Analysen berücksichtigen im übrigen noch nicht, wie sehr sich der Lebensstandard in den neuen Ländern auch dadurch verbessert hat, daß es nunmehr keine Versorgungsmängel mehr gibt.Insbesondere für die Rentner in den neuen Bundesländern ist vieles bereits besser geworden. Die Regelungen im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, im Einigungsvertrag und im RentenÜberleitungsgesetz geben den Rentnern soziale Sicherheit. Die lohnbezogene dynamische Rente gewährleistet größtmögliche soziale Sicherheit im Alter.
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5224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Ina AlbowitzZum 1. Januar 1992 werden die Alters- und Kriegsopferrenten in den neuen Bundesländern um weitere 11,65 % angehoben.
Sie sind damit seit dem 30. Juni 1990 um insgesamt 90 % gestiegen.
Öfter „bravo" sagen, kann ich da nur sagen. Anders ausgedrückt: Die Altersrente eines Durchschnittsverdieners nimmt in diesem Zeitraum um 473 DM auf 993 DM zu. Damit erreicht das ostdeutsche Rentenniveau etwa 57 % des westdeutschen Niveaus. Im Juni 1990 lag der Betrag bei nur 30 %.Vom 1. Januar 1992 an wird es in ganz Deutschland eine unterschiedslose Rentenversicherung und eine gemeinsame Rentenkasse geben. Der Finanzverbund ist sichtbarer Ausdruck gesamtdeutscher Solidarität. Die Entwicklung des Bundeszuschusses an die Rentenversicherung unterstreicht: Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber der älteren Generation in ganz Deutschland.
1992 werden sich die Bundeszuschüsse auf knapp 60 Milliarden DM belaufen. Das sind fast 9 Milliarden DM mehr als 1991. Darin sind auch die ab 1992 auf den Bundeszuschuß umgeschichteten Mittel für die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung enthalten, nämlich insgesamt 4,9 Milliarden DM.Meine Damen und Herren, in der Diskussion um die Pflegeversicherung plädieren immer mehr Sachverständige für eine private Pflegeversicherung nach dem Kapitaldeckungsverfahren,
denn — dies wissen alle, die rechnen können — ein Umlagesystem in der Pflegeversicherung als sogenannte fünfte Säule unter dem Dach der Sozialversicherungssysteme wird den Generationenvertrag überlasten. Ich denke, wir sollten sämtliche Warnungen, die in den letzten Monaten vom Sachverständigenrat, von der Bundesbank und von vielen anderen in dieser Republik deutlich ausgesprochen worden sind, ernst nehmen.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion stimmt dem Einzelplan 11 zu.Ich danke Ihnen.
Nun hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der Sozialstaat gewinnt an Kontur." — Mit dieser Feststellung präsentierte Bundesarbeitsminister Blüm bereits in der ersten Lesung den Einzelplan 11. Er fügte nicht gerade bescheiden hinzu, daß man dem einigen Sozialstaat Deutschland bereits ein großes Stück nähergekommen sei und alle Anstrengungen unternehme, um diesen so schnell wie möglich zu vollenden.
Was immer sich hinter diesen Ankündigungen verborgen hat, der heute vorliegende Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung macht es mir schwer zu erkennen, worin die Anstrengungen zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zur Überwindung der Ausgrenzung und Marginalisierung einer wachsenden Minderheit im Westen und einer Mehrheit im Osten oder zum Abbau von Altersarmut bestehen. Auch die für mich wahrnehmbare Realität der Armut, vor allem in den neuen Bundesländern — Armut ist aber auch im Westen eine längst zum Alltag gehörende Erscheinung —, bestärkt mich in meiner Skepsis gegenüber den ministeriellen Versprechungen.Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in völlig ungesicherten Einkommensverhältnissen. Wo es heute gerade noch reicht, kann bereits morgen durch Arbeitslosigkeit, durch das Auslaufen der Regelung für Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter und durch die Beendigung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld die blanke Not entstehen.
Nach Erhebungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lebten Anfang dieses Jahres schon 3 % aller Haushalte in den neuen Bundesländern unter dem Sozialhilfesatz. 15,7 % aller Haushalte mußten mit weniger als 1 000 DM im Monat auskommen.Arbeitslosigkeit ist in den östlichen Landesteilen in weit stärkerem Maße als in den westlichen Bundesländern Ursache für Sozialhilfebedürftigkeit. Zum Beispiel sind in Sachsen zwei Drittel der Arbeitslosen zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen, weil die Arbeitslosenunterstützung das gesellschaftlich definierte Existenzminimum nicht abdeckt.
Diese Situation wird sich noch dramatisch verschärfen, wenn zum Jahresende weitere Hunderttausende Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter endgültig in die Arbeitslosigkeit entlassen werden bzw. für einen Großteil der schon arbeitslosen Frauen dank der unwürdigen Bedürftigkeitsprüfung der Anspruch auf Leistungen der Arbeitsverwaltung entfällt.Meine Damen und Herren, mit diesem Haushalt wird weder den bisherigen sozialpolitischen Standardanforderungen Rechnung getragen noch werden Wege beschritten, die den neuen Herausforderungen in der Sozialpolitik entsprechen. Das vielgepriesene System der sozialen Sicherung verliert zunehmend seine Wirkungskraft angesichts einer Situation, bei der immer mehr erwerbsfähigen Menschen die Möglichkeit vorenthalten wird, die materiellen Grundlagen ihres Lebens durch eigene Erwerbsarbeit zu sichern.Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung reichen zur Absicherung individueller Lebensrisiken
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Petra Blässoder auch sozialer Notlagen nicht aus. Sozialhilfe — als Ausnahme konzipiert — wird für immer mehr Menschen zum Regeleinkommen. Ich erinnere nur an all diejenigen, die auf Pflege angewiesen sind und auch schon in der alten Bundesrepublik durch die Maschen des sozialen Netzes fielen.
In diesem Zusammenhang denke ich an die alleinerziehenden Frauen und die vielen Rentnerinnen, die im sozialen Sicherungssystem nur völlig unzureichend berücksichtigt werden.In der DDR hatten wir z. B. eine Mindestrente.
Die Gefahr einer millionenfachen Altersarmut ist längst nicht mehr von der Hand zu weisen. Durch die zweifelhaften Segnungen des Renten-Überleitungsgesetzes kommen die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern einer notwendigen Mindestsicherung keinen Schritt näher.
— Vielleicht könnten Sie wenigstens weiter zuhören.Wir, die PDS/Linke Liste, setzen uns darüber hinaus allerdings generell für eine soziale Grundsicherung ein. Mit der Forderung nach sozialer Grundsicherung, die neben dem System der sozialen Sicherung neue Wege zur Gestaltung individueller Lebensperspektiven eröffnet, wollen wir erreichen, daß die Sozialpolitik ihrer Schutz- und Gestaltungsfunktion gerecht wird.
Eine solche Grundsicherung, die zumindest zeitweise eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit ermöglicht, ließe sich unseres Erachtens durchaus finanzieren, wenn man zu den Milliardenaufwendungen für Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe die enormen Kosten einer aufgeblähten Bürokratie, die über Höhe und Zuteilung der Bezüge entscheidet und nicht zuletzt auch noch die Bedürftigkeit der Bezieherinnen und Bezieher erschnüffeln muß, hinzurechnet.
Die erste Voraussetzung zur Realisierung eines solchen Grundsicherungskonzepts wäre allerdings die Streichung der diskriminierenden Bedürftigkeitsprülung und der Zumutbarkeitsklausel aus dem Arbeitsförderungsgesetz.Ich denke, zur Überwindung der Zweidrittelgesellschaft und einer sich anbahnenden Eindrittelgesellschaft in den neuen Bundesländern sind solche Schritte unabdingbar notwendig.Meine Damen und Herren, Mittel mit eher gestalterischem Charakter der Sozialpolitik sind im Einzelplan 11 rar. Es sind ganze 3,5 Millionen DM für die Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktspolitik vorgesehen, also etwa 1 % dessen, was als Entwicklungskosten für den ganz und gar überflüssigen Jäger 90 aufgewandt werden soll. Das ist ein schreckliches Mißverhältnis, vor allem wenn man bedenkt, daß es einerseits um die Planung von Existenzsicherung von Menschen und andererseits um Existenzvernichtung geht. Bei den Zuschüssen zur Förderung von Langzeitarbeitslosen werden sogar 50 Millionen DM gekürzt.Die PDS/Linke Liste fordert, daß zumindest der Ansatz von 1991 erhalten bleibt und schwerpunktmäßig Mittel für die neuen Bundesländer bereitgestellt werden, wo sich das Problem der Schwervermittelbarkeit aktuell und verschärft stellt,
und das trotz Ihrer Ankündigung, daß der Erfolg der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Erwartungen der kühnsten Optimisten übertreffen werde.Leider müssen auch in diesem Jahr wieder Milliardenbeträge zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit bereitgestellt werden. Daran wird sich auch nichts ändern, solange nicht in regional zugeschnittene struktur- und beschäftigungspolitische Konzepte mit Zukunftsperspektive investiert wird. Natürlich ist es besser, hunderttausende Männer, Frauen und Jugendliche in AB-, Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen oder andere Parkeinrichtungen zu stekken, als sie gleich in die Arbeitslosigkeit zu entlassen.Aber welche Zukunftschancen werden ihnen eröffnet? Wo werden sie Dauerarbeitsplätze bekommen, wenn z. B. in einer Stadt wie Cottbus mit 130 000 Einwohnern in sage und schreibe 700 Maßnahmen Frauen und Männer, teilweise mit mehreren qualifizierten Berufsabschlüssen, völlig unkoordiniert in Massen zu Fachverkäuferinnen oder Gebäudereinigerinnen und -reinigern umgeschult werden oder in ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts hunderte für die Landwirtschaft qualifizierte Frauen nun zu Blumenbinderinnen ausgebildet werden?
Es läßt sich absehen, daß hier nur aufgeschoben, was auf diese Weise nicht aufgehoben werden kann.Trotz dieser Kritik und den aufgezeigten Unzulänglichkeiten sind wir selbstverständlich ganz und gar dagegen, daß, kaum begonnen, hier schon wieder gestrichen werden soll. Wir unterstützen daher die Forderung der SPD nach Rücknahme der Kürzungen von ABM-Mitteln. Viele begonnene Projekte, u. a. auch im Wissenschaftsbereich, haben bei Kürzung der Förderdauer und der Lohn- und Sachkostenzuschüsse keine Überlebenschance.So schlecht vielerorts die Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen sind: Die Bedingungen der Arbeitsämter in den neuen Bundesländern, ihre räumli-
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Petra Blässche und personelle Ausstattung sind häufig noch unzulänglicher.
Ich erinnere hier an den offenen Brief zur Situation des Berliner Arbeitsamtes 8, zuständig für die Stadtbezirke Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen.
Wir schließen uns deshalb der Forderung auf Erhöhung der Planstellen in den dortigen Arbeitsämtern an.Angesichts der wachsenden Ausländerfeindlichkeit in unserem Land und den sich verstärkenden rassistischen Übergriffen auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger halten wir es für politisch instinktlos und sozial verhängnisvoll, daß ausgerechnet die Zuschüsse für die Betreuung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Familien um 2 Millionen DM gekürzt werden. Wir fordern die Rücknahme dieser Kürzung.Die PDS/Linke Liste lehnt die vorgelegten Beschlußempfehlungen des Einzelplans 11 ab. Wir sehen darin keinen Beitrag zu einer sozial gerechteren Verteilungs- und Umverteilungspolitik.
— Vielleicht überlegen Sie sich neue Sprüche, wenn Sie Zurufe machen. Ich halte es nicht unbedingt der Qualität des Bundestages angemessen, was hier immer zu hören ist.
Nun hat der Kollege Hans Büttner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Albowitz hat vorhin den Satz von Minister Blüm aus seiner ersten Haushaltsrede in diesem Jahr wiederholt: Geld entscheidet noch nicht über die Qualität des Sozialstaats. Ich muß Ihnen sagen, Herr Minister: Damit haben Sie in der Tat den Nagel auf den Kopf getroffen.Ihr Etat ist der höchste seit Kriegsende. Aber er ist gleichzeitig der arbeitsmarktpolitische Offenbarungseid dieser Regierung.
1983 hat Herr Blüm an dieser Stelle gesagt, er werde innerhalb von wenigen Monaten die damalige Zahl der Arbeitslosen, 1,8 Millionen, auf unter 1 Million drücken. 1990, acht Jahre danach, haben wir in Westdeutschland immer noch im Durchschnitt 1,6 Millionen Arbeitslose.
Und das, meine Damen und Herren — ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören —,
weil wir in dieser Zeit weltweit Hochkonjunktur hatten und Sie mit der Politik der deutschen Einigung ein gigantisches nachfrageorientes Wirtschaftsprogramm durchgeführt haben.
Meine Damen und Herren, Anspruch und Ergebnis Ihrer Arbeitsmarktpolitik ebenso wie der von Ihnen zu verantwortenden Gesundheitspolitik lassen bei leistungsorientierter Beurteilung nur eine Zensur zu: Note sechs, setzen! Am besten aussetzen auf den Bänken der Opposition.Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland sind seit der deutschen Einigung fast 4 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen. Fast 3 Millionen Menschen sind de facto arbeitslos; denn reguläre Arbeitslose, Leute mit Kurzarbeit null, aber auch solche in Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen haben keine Arbeitsplätze. Für diese Zahlen, Herr Minister, tragen Sie sicherlich nicht alleine die Verantwortung. Schuld daran, ich sage das — Herr Fuchtel, fuchteln Sie nicht so herum — , war der Zusammenbruch des Blockregimes und der Wirtschaft der DDR. Schuld daran war aber auch
die wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellung im Rahmen des Einigungsprozesses. Auch das ist ein Faktum. Man hat ja die Arbeitslosigkeit in Kauf genommen. Ich sage das, denn es ist eine Tatsache.Daß in diesem Jahr die schlimmen Auswirkungen dieser Maßnahmen durch das volle Ausschöpfen des administrativen arbeitspolitischen Instrumentariums ausgeglichen werden konnten durch Kurzarbeitergeldregelung, Beschäftigungsgesellschaften, Umschulungsmaßnahmen, haben wir alle gemeinsam — und da schließe ich auch Sie, Herr Minister, mit ein — getragen.Daß Sie sich jedoch, Herr Minister, angesichts der sich abzeichnenden Arbeitsmarktentwicklung in 1992 in Koalition und Kabinett nicht haben durchsetzen können, dieses Instrumentarium wenigstens im Bereich der Kurzarbeit und des Vorruhestands weiterzuführen, zeigt, wie wenig dieser Regierung an einer wirklich sozialen Einigung, die von den Menschen getragen wird und von ihnen auch verstanden wird, gelegen ist.
Ich hätte mir gewünscht, Herr Minister, Sie wären in dieser Frage ebenso standhaft geblieben wie bei Menschenrechtsfragen in Chile und Südafrika — dafür zolle ich Ihnen ausdrücklich Respekt —; denn Millionen Menschen von der Arbeit fernzuhalten
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5227
Hans Büttner
und sie damit von der wirtschaftlichen Entwicklung fernzuhalten, ist auch eine Frage der Menschenrechte.
Vorruhestand und Kurzarbeitergeld schaffen sicher noch keine neue Arbeit. Sie sind aber nicht teurer als Arbeitslosigkeit pur. Dafür wäre in diesem Haushalt auch noch Geld vorhanden gewesen, wenn Sie es nur gewollt hätten.
Aber Sie, Herr Minister, haben nicht länger den sozialpolitischen Rückhalt in dieser Koalition, der notwendig wäre, um solche Programme durchzusetzen.
Sie sollten auch endlich den Mut haben, dies an dieser Stelle einmal zuzugeben.
Meine Damen und Herren, Geld entscheidet nicht über die Qualität der Sozialpolitik. 46 Milliarden DM sollen allein im nächsten Jahr für den Arbeitsmarkt Ost aufgebracht werden.
Aber auch diese Zahlen offenbaren bei genauem Hinsehen die ganze Phantasielosigkeit der Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung,
die sich zum Ziel gesetzt hat, Arbeitslosigkeit zu verwalten statt, wie im AFG vorgeschrieben, Arbeitsförderung zu betreiben.
Diese verfehlte Zielsetzung hindert Sie nämlich auch daran, neue Wege zu beschreiten. Ich erinnere nur daran: Die Errichtung der Beschäftigungsgesellschaften mußte erst gegen Ihren Widerstand und den der Treuhand durchgesetzt werden. Das sind die Tatsachen.
Diese Zielsetzung hindert Sie auch daran, das vorhandene Instrumentarium der Umschulung und Weiterbildung sinnvoll, qualitativ gut einzusetzen. Wer solche Millionenprogramme nur fährt, um eine schönere Statistik vorweisen zu können, aber gleichzeitig der Arbeitsvermittlung das Personal vorenthält, diese Programme auch auf Qualität und Nützlichkeit zu prüfen, trägt dazu bei, daß viele Millionen DM in diesem Bereich von Absahnern mißbraucht werden, anstatt daßsie bedarfsgerecht für die Arbeitsuchenden und die Wirtschaft eingesetzt werden.
Ich will Ihnen nur einiges aus Ihren eigenen Statistiken vortragen: 1974 hatte ein Vermittler in einem Arbeitsamt ca. 30 Arbeitsuchende zu betreuen. Wissen Sie, meine Damen und Herren, wie viele Arbeitsuchende der gleiche Mitarbeiter 1988 zu betreuen hatte und wie viele er heute zu betreuen hat?
— 1982, das sage ich Ihnen auch, waren es 170. 1988 waren es bereits 400, und jetzt sind es über 600 Arbeitsuchende pro Vermittler.
— Das steht in Ihren eigenen Statistiken. — Und im gesamten Bundesgebiet ist die Zahl der Arbeitslosen heute dreimal so hoch,
pro Arbeitsuchenden über 400. Lesen Sie das nur nach, dann werden Sie sich beruhigen.Wissen Sie, was das bedeutet, wie viele Minuten ein Arbeitsvermittler für einen Arbeitsuchenden noch Zeit hat?
— Das wollen Sie — ich weiß es — nicht gern hören, weil nämlich die Menschen und Schicksale, die hinter diesen Personen stehen, Sie nicht mehr interessieren, sondern Sie nur nach den Statistiken heischen.
— Herr Louven, Sie sollten sich besser zurückhalten,
weil eines deutlich wird: Sie lassen es zu, daß Menschen gesundheitlich Schaden erleiden, weil Sie in unseren Arbeitsämtern nicht genügend Personal für Vermittlung und Betreuung von Arbeitslosen zur Verfügung stellen.
Ich sage Ihnen auch, warum Sie das tun: weil Sie nicht bereit sind, die Menschen zu sehen, die hinter Arbeitslosigkeit stehen. Denn Familien kommen für Sie nur in Sonntagsreden vor, nicht aber in der konkreten Politik für die Betroffenen.
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5228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Hans Büttner
— Moment, ich gehe einen Schritt weiter. Sie reden nur davon, wie Sie Arbeitslosigkeit über bürokratische Maßnahmen verwalten. Wir aber tun etwas dagegen und haben deshalb im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung 3 500 Stellen mehr für die Bundesanstalt für Arbeit gefordert.
Die Koalition — wie vorher schon die Regierung im Vorstand der Bundesanstalt — hat dies abgelehnt, weil sie nicht bereit ist, zu erkennen, daß eine qualitativ gute Arbeitsvermittlung — das sagt selbst der Ihnen, der FDP, nahestehende Bundesverband der Deutschen Unternehmensberater — für einen Arbeitslosen viel mehr Zeit braucht als nur wenige Minuten, etwa fünf, pro Tag, die jetzt zur Verfügung stehen.Deswegen sage ich Ihnen: Für Sie ist Arbeitslosigkeit nur ein Zahlenspiel, bei dem Sie die Schicksale der Menschen vergessen.
Das dokumentiert auch dieser Haushalt. Diese Regierung hat längst aufgegeben, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder zu überwinden.
Sie beschränken sich auf die Verwaltung der Arbeitslosigkeit.
Diese Regierung ist gefangen in ihrer Ideologie der Privatisierung der Arbeitslosigkeit und der Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Das ist der Hintergrund Ihrer Politik.Und was Sie Sozialpolitiker angeht, so bedauere ich, daß Sie nicht bereit sind, sich da endlich durchzusetzen.
Sie betreiben das gleiche Konzept wie bei der Privatisierung des Gesundheitsbereichs und auch des Pflegebereichs.
Dieser Haushalt ist in quantitativer Hinsicht das Dokument einer Sozialpolitik, die die Menschen längst vergessen hat, für die sie gemacht werden soll;
einer Sozialpolitik, die vor allem in Statistiken stattfindet, aber die Schicksale der einzelnen ignoriert; einer Sozialpolitik,
die jegliche Qualität vermissen läßt.Wir lehnen diesen Haushalt ab, weil das gemeinsame Deutschland Besseres verdient hat.
Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Heinz-Jürgen Kronberg das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was auf dem Gebiet der neuen Bundesländer im Bereich der Sozialpolitik seit zwei Jahren getan wird, trägt diesen Namen zu Recht.
Staatliche Sozialpolitik in der DDR war im wesentlichen Mittel zum Zweck: der maximalen Ausbeutung der Arbeitskraft der Bevölkerung.
Viele, die sich dem Staat verweigerten oder sich als sozialistische Persönlichkeiten nicht ausreichend darstellten, wurden brutal sozial ausgegrenzt
und fielen durchs Netz des sich selbst so hoch lobenden Sozialstaates.Ich kann dies aus meiner eigenen unmittelbaren Erfahrung sagen. Meine Schwester, deren Mann von 1975 bis 1978 in politischer Haft saß, war in dieser Weise betroffen. Sie bekam weder Arbeit noch die magere Sozialfürsorge von damals 175 Mark
zuzüglich 120 Mark für ihre beiden Kinder.
So, Frau Bläss, genau so sah die Realität der angeblich „humanen" und „fortschrittlichen" Sozialpolitik des real existierenden Sozialismus aus. Ich könnte uns allen eine große Reihe weiterer Beispiele für die ungerechte Politik der DDR im sozialen Bereich ins Gedächtnis rufen, bis hin zu den überhöhten Ehrenpensionen von Staats-, Partei- oder gar auch Stasi-Funktionären, die ein Schlag ins Gesicht der Bevölkerung waren.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5229
Heinz-Jürgen KronbergAber ich wollte mit dieser Einleitung nur zeigen,
was für einen Umbruch für die Menschen in den neuen Bundesländern die Erfahrungen eines rechtsstaatlichen Sozialsystems bedeuten, bei dem der einzelne seinen Rechtsanspruch geltend machen kann und dabei nicht vom Wohlwollen des Staates und seiner Funktionäre abhängig ist. In Diskussionen über die Auswirkungen der Sozialpolitik und über die Planung für die nächsten Jahre sollte dies stets in Erinnerung bleiben — auch und gerade in den alten Bundesländern.
Der neue Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern sinngemäß davon gesprochen, daß die Bundesregierung bei der Gestaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse und der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern die Menschen und das von ihm so genannte „Humankapital" vernachlässigt habe,
wobei der Begriff „Humankapital", lieber Kollege, übrigens so entmenschlichend ist, daß ich ihn gerade in diesem Zusammenhang lieber nicht benutzt hätte.
Wie auch immer, der Vorwurf ist — ich sage das ganz schlicht — so falsch, wie es falscher nicht geht.Ich werde es aber mir und Ihnen ersparen, jetzt jeden einzelnen Haushaltsposten im Bereich des BMA, der Leistungen für den sozialen Bereich in den neuen Bundesländern zum Thema hat, vorzutragen. Damit würde ich, auch wenn ich das tun dürfte, heute nicht fertig werden. Einige Blicke möchte ich aber doch in den Haushalt werfen. Dabei zeigt sich schnell: Die Hilfen sind richtig strukturiert und auch richtig dimensioniert.
Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung für die neuen Länder nach.
Herr Kollege Kronberg, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner gestatten?
Nein, es tut mir leid; das Konzept ist so eng gefaßt, ich schaffe es eh nicht mit meiner Zeit.
Diese Zeit wird Ihnen nicht angerechnet.
Dann bitte.
Herr Kollege, sind Sie, nachdem Sie soeben das Wort „Humankapital" von
Ihrem Empfinden her als etwas ganz Entsetzliches bezeichnet haben, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß dieses Wort in der letzten Sozialenzyklika des Papstes vorkommt?
Ich nehme es zur Kenntnis, Herr Kollege; aber es tut trotzdem der Wertung keinen Abbruch. „Humankapital" ist in meinen Augen keine Bezeichnung für Menschen. „Humankapital" ist in meinen Augen eine Abwertung für Menschen, egal, wer das ausspricht.
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft in den neuen Bundesländern befindet sich — und dies wird noch einige Zeit so bleiben — im Vergleich zum Westen in einer Umstellungskrise. Aber — und wir sollten dies so lange betonen, bis es auch dem letzten Unverbesserlichen klar geworden ist — anzulasten ist diese Wirtschaftssituation nicht der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, sondern den Fehlern von vierzig Jahren sozialistischer Wirtschaft. Es dauert natürlich seine Zeit von der Investitionsplanung bis zur Produktionsaufnahme, bis neue Arbeitsplätze die im jetzigen Stadium meist notwendigen Entlassungen in vollem Umfange auffangen, wobei übrigens die Treuhand bei sensiblerem Umgang mit Investitionswilligen deutlich mehr helfen könnte, als dies jetzt der Fall ist.Im nächsten Jahr werden in den neuen Bundesländern Wachstumsraten von 5 bis 10 To zu verzeichnen sein. Schon heute kann ich in meinem Wahlkreis Weimar sehen, daß es wirtschaftlich aufwärts geht. In einem Jahr werden alle gemeinsam hier im Deutschen Bundestag dies bekunden können, sofern sie ehrlich sind.Ich möchte einen weiteren Punkt zur Verdeutlichung des Bundesengagements aufzeigen. Knapp die Hälfte des bisherigen Beschäftigungsabbaus in den neuen Ländern konnte durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen aufgefangen werden. Der Strukturwandel in den neuen Ländern wird sozialverträglich gestaltet. Massive finanzielle Hilfe des Bundes für Umschulung und Fortbildung, die Gewährung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitslosengeld und Kurzarbeitergeld tragen dazu bei. 1991 gab es fast 20 Milliarden DM Mehrausgaben bei der Bundesanstalt für Arbeit bei einem Haushalt von insgesamt 71 Milliarden DM. Dies ist eine Solidaritätsleistung aller deutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber,
an die ich hier noch einmal erinnern möchte, weil die Finanzierung dieser Ausgaben durch Erhöhung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um 2,5 gesichert worden ist.Das sind natürlich alles Ausgaben, die die Finanzlage des Bundes erst einmal belasten. Aber es sind
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5230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Heinz-Jürgen Kronbergauch Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft. Ich denke, es ist sinnvoll ausgegebenes Geld.
Ähnliche Leistungen wie im Bereich des Arbeitsmarktes kann die Bundesregierung auch im Bereich der Renten vorweisen. Seit der deutschen Einigung am 3. Oktober vorletzten Jahres sind die Ostrenten bereits zweimal kräftig angehoben worden. Zum 1. Januar nächsten Jahres wird es eine weitere Erhöhung um 11,65 % geben.
Mit dieser Erhöhung ergibt sich ein Plus von insgesamt 48 % bei der sogenannten Eckrente. Für den statistischen Durchschnittsrentner bedeutet dies, daß er damit Anfang nächsten Jahres 321 DM monatlich mehr im Portemonnaie hat als im letzten Jahr. Vor der Vereinigung betrug die gesamte staatliche Mindestrente 320 Ostmark.
Zum 1. Januar 1992 wird es in Deutschland ein einheitliches Rentenrecht geben. Es stellt für alle Rentner den Anspruch auf eine lohn- und beitragsbezogene, lebensstandardsichernde und dynamische Rente her. Für die älteren Menschen in den neuen Bundesländern bedeutet dieses einheitliche Rentenrecht starke positive Veränderungen.
Die Altersgrenzen des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch finden auch für sie Anwendung.Angeglichen werden durch das Rentenüberleitungsgsetz ebenso Unfallrenten und Pflegegelder. Alle Renten werden unter Berücksichtigung der tatsächlichen individuellen Entgelte berechnet und entsprechend der Nettolöhne und -gehälter angepaßt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vorgetragenen Beispiele sind nur einige von vielen. Aber sie zeigen, daß für den Bereich der Rentenversicherung der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse umgesetzt wurde — auch ein Erfolg der Bemühungen aller.Wir haben diese Regelungen im Ausschuß mit großer Gemeinsamkeit verabschiedet. Ich darf mich an dieser Stelle bei allen Ausschußmitgliedern und den Mitarbeitern ganz persönlich für die Zusammenarbeit bedanken.
Noch einiges getan werden muß im nächsten Jahr auf dem Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit. Der Haushalt 1992 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung weist für nächstes Jahr für die personelle Unterstützung der Kammern und Senate beim Kreis- und Bezirksgericht einen Betrag von über 11 Millionen DM aus. Das BMA schätzt, daß die Geschäftsbelastung durch die verfügbaren Richter bewältigt werden kann. Aber es fehlt noch an Arbeitskräften in der Verwaltung. Es fehlt auch an längerfristig bleibendenJuristen. Die Situation mag sich verbessern, wenn die neuen Länder ihre eigene Sozialgerichtsbarkeit aufbauen. Aber auch sie müssen mit den vorhandenen oder nicht vorhandenen Kräften arbeiten.Rund 310 000 Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern gehören zum Kreise der Anspruchsberechtigten der Kriegsopferversorgung. Gerade für ältere Menschen in der ehemaligen DDR ist diese neue Anspruchsmöglichkeit, die ihnen vorher ungerechterweise verwehrt wurde, finanziell notwendig.In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf die Leistung der freien Träger eingehen. Der Aufbau 1991 von weit über 700 Sozialstationen der freien Wohlfahrtspflege zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung ist eine große Leistung. Sie wurde finanziell wesentlich durch die Programme der Bundesregierung unterstützt, in den letzten beiden Jahren durch 200 Millionen DM. Auch der Aufbau von über 120 Beratungsstellen für schwangere Frauen im Bereich der neuen Länder wurde vom Bund unterstützt. Er trägt 1992 — wie bereits im Vorjahr — über 90 der Kosten.Meine Damen und Herren, diese kleine Bilanz, die ich Ihnen hier vorlegen durfte, und der Blick auf die Planungen des Haushalts 1992 beweisen: Sozialpolitik ist für diese Bundesregierung nicht nur wichtigste Staatsaufgabe. Das ist selbstverständlich. Insbesondere die massiven finanziellen Mittel und die Programme für die neuen Bundesländer zeigen auch den Willen und die Kompetenz der Bundesregierung zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. 1992 sollte mit diesen Voraussetzungen unter der Devise stehen: Gemeinsam zuversichtlich handeln!Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Nun hat die Frau Abgeordnete Christina Schenk das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seitdem ich hier in der BRD lebe, muß ich mir ständig die Klage über die steigenden Sozialausgaben anhören, und immer sind die Ossis schuld oder die deutsche Einheit.Ich denke, es muß einmal von dieser Stelle aus klar gesagt werden: Die Sozialausgaben steigen nicht von sich aus; praktisch automatisch aus irgendwelchen geheimnisvollen Mechanismen heraus. Sie steigen im Westen unter anderem deshalb, weil die Industrie eine Wirtschaftsweise betreibt, die immer mehr Menschen — und vor allem Frauen — aus dem Erwerbsarbeitsprozeß erbarmungslos ausgrenzt.
Sie steigen im Osten, weil der Anschluß der DDR dieVernichtung Hunderttausender von Arbeitsplätzen,
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Christina Schenkvon Millionen von Arbeitsplätzen bewußt vorprogrammiert und billigend in Kauf genommen hat.
Es ist schon bezeichnend, daß die strukturelle Erwerbslosigkeit im Westen trotz des einigungsbedingten enormen Wirtschaftsbooms nicht beseitigt wurde. Es sind die Ausgrenzungsmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise, die diese hohen Sozialausgaben verursachen. Von den sonstigen sozialen, psychischen und ökologischen Schäden, die diese Produktionsweise verursacht, möchte ich an dieser Stelle nicht sprechen.
Mit sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sind diese Probleme nicht in den Griff zu bekommen, sondern nur mit drastischer Arbeitszeitverkürzung, mit Überstundenabbau, mit einer grundlegenden Veränderung in der Verteilung der vorhandenen und der notwendigen Arbeit.Die herrschenden Politiker versuchen, den erwerbslosen Menschen im Westen einzureden, sie seien selber schuld an ihrer Misere. Gleichzeitig behaupten sie, die Massenarbeitslosigkeit im Osten und die daraus resultierende Armut seien ein vorübergehendes Problem.Ein einziger Blick nach Westen, z. B. in die Hochglanzmetropole München, ist sehr dazu geeignet, die Ossis vor diesem Irrglauben zu bewahren. Es genügt auch schon ein Blick in die „taz" von heute, in der es schwarz auf weiß steht: Schon 1989 lebte jede zehnte Einwohnerin oder jeder zehnte Einwohner Münchens in Armut. 122 000 Menschen müssen in dieser Stadt mit einem Einkommen von weniger als 530 DM im Monat auskommen. Wohlgemerkt: bei Münchener Preisen und nicht bei den Preisen Ostdeutschlands.Nach wie vor — und der Haushaltsplan für das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung läßt nichts anderes vermuten — sind AB-Maßnahmen das einzige beschäftigungspolitische Instrument, mit dem die Bundesregierung auf die katastrophale Arbeitsmarktsituation in den ostdeutschen Bundesländern reagiert.Ein zukunftsweisendes und tragfähiges Programm einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ist aus der Haushaltsplanung nicht ersichtlich. Wir sind ein weiteres Mal in der Situation, die Kritik an der Arbeit der Bundesregierung in dieser Frage wiederholen zu müssen.Eine dieser grundlegenden Kritiken richtet sich gegen die gegenwärtige ABM-Praxis. So wie AB-Maßnahmen bisher durchgeführt werden, bieten sie zwar der oder dem einzelnen die Möglichkeit, eine akute Situation der Erwerbslosigkeit zu vermeiden, aber eben vielfach um den Preis des Einkommensverlustes oder der Dequalifizierung.Die isolierte Handhabung von ABM, die fehlende Koppelung der ABM an Strukturentwicklungsprogramme birgt die Gefahr, daß mit ABM nicht — wie es im sogenannten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost formuliert ist — „Brücken in dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse" gebaut werden, sondern im Gegenteil Normalarbeitsverhältnisse abgebaut werden.Wie real diese Gefahr ist, zeigt sich heute bereits angesichts der Forderung der Bundesregierung, ABM auf die Bereiche mit besonders hohem Anteil von Frauen an den Beschäftigten zu konzentrieren. Die Länder und die Kommunen in Ostdeutschland griffen diese Möglichkeit als Mittel der Geldeinsparung dankbar auf.In Pflegeheimen, auf Sozialstationen, aber vor allem auch in Kinderbetreuungseinrichtungen wurden Dauerarbeitsplätze in zeitlich befristete Arbeitsplätze umgewandelt. Fehlende Übernahmegarantien nach Ab - lauf der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kündigen einen massenhaften Abbau von Frauenarbeitsplätzen in diesem Bereich an.Einem staatlichen Programm zur Umwandlung fester Arbeitsverhältnisse in AB-Maßnahmen hat ein staatliches Programm zu folgen, das die Finanzierung der Arbeitsplätze in diesem Bereich nach Ablauf der ABM sichert. Es steht nach wie vor die Forderung nach einer anteiligen Finanzierung der Kindereinrichtungen durch den Bund, aber hierzu fehlt es der gegenwärtigen Regierung ganz offensichtlich an politischem Willen oder vielleicht auch an Kreativität und Phantasie.Meine Damen und Herren, völlig unter den Tisch zu fallen scheint in der Öffentlichkeit das Auslaufen der Sozialzuschlagsregelung bei Arbeitslosigkeit im Osten. Diese Regelung sei immer nur als Übergangsregelung gedacht gewesen, bis die Sozialämter in den ostdeutschen Bundesländern funktionsfähig seien, erfährt man auf Nachfrage bei der Bundesanstalt für Arbeit. Auf die Frage, ob dies gewährleistet sei, verweist man auf die diesbezügliche Zuständigkeit des Bundesministeriums für Familie und Senioren. Einen offiziellen Bericht kann man dort auch nicht vorlegen, geht aber dennoch ganz unverblümt davon aus, daß die Sozialämter in der Lage seien, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
Es liegen keine Zahlen vor, wieviel Arbeitslose in den ostdeutschen Bundesländern bislang einen solchen Sozialzuschlag bezogen haben. Unbeantwortet bleibt daher auch die Frage, welche Relevanz dem bislang gewährten Sozialzuschlag bei Erwerbslosigkeit zukommt, welche Personengruppen in erster Linie darauf angewiesen waren und zukünftig davon profitieren würden. Die genauen und detaillierten Daten der Arbeitsmarktsituation liegen vollkommen im dunkeln.Verschleiert werden die zum Teil katastrophalen Folgen für die Lebenssituation von Frauen durch die unzureichend differenzierte statistische Erfassung der Arbeitsmarktsituation. Daß mittlerweile 61 % aller Erwerbslosen Frauen sind, wissen wir. Es fehlen aber jegliche Aussagen über den Anteil alleinerziehender Frauen an den Erwerbslosen sowie über die Dauer der Erwerbslosigkeit.
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5232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Christina SchenkErforderlich wäre der Ausweis, wieviel Frauen in welcher Höhe Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe bekommen. Dementsprechend sind im Haushaltsplan der Bundesanstalt für Arbeit Mittel bereitzustellen, die die umgehende Erfassung der Genannten und ähnlicher statistischer Angaben gewährleistet, die für die wissenschaftliche und vor allen Dingen für die politische Arbeit unerläßlich sind; aber offensichtlich bedarf man deren nicht.In Kenntnis der unzureichenden Datensituation ist es dann skandalös, wenn Institutionen, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die Sammlung und Auswertung statistischen Materials leisten könnten, gegenwärtig abgewickelt werden. Statt dessen ist es erforderlich, ausreichend Mittel zur Verfügung zu stellen, um in den ostdeutschen Bundesländern ein Netz sozialwissenschaftlicher Einrichtungen zu konzipieren und aufzubauen, das Vorhandenes integriert und Defizite durch Neugründung beseitigt.
Meine Damen und Herren, in bezug auf die Pflegeversicherung muß befürchtet werden, daß dieses Problem ein weiteres Mal verschleppt wird, d. h., daß es in dieser Legislaturperiode nicht zu einer Lösung kommt. Mit dem immer wiederkehrenden Argument einer nicht mehr tragfähigen Steigerung der sozialen Kosten wird auf Privatisierung des sozialen Risikos gesetzt.Heiner Geißler ist da schon wesentlich realistischer. In einer Presseerklärung, vor einer Woche erschienen, veröffentlichte er kürzlich Eckdaten, die deutlich erkennen lassen, daß von einer Überlastung der Unternehmen infolge der Sozialkosten nicht die Rede sein kann. Vielmehr erfreuen sich diese glänzender Bilanzen. Der Anteil der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit am Volkseinkommen und die Unternehmergewinne selbst sind seit 1982 kontinuierlich und kräftig gestiegen. Auch die Nettoquote der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hat einen historischen Höchststand erreicht. Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik bezüglich des Anteils der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit weit vorn. Die Lohnkostenbelastung ist in den 80er Jahren gesunken, dagegen ist die Sozialleistungsquote seit 1982 kontinuierlich abgesenkt worden. Wäre sie auf dem Niveau von 1982 geblieben, hätten 1990 volle 95 Milliarden DM mehr Sozialleistungen ausgegeben werden können. Damit hätten die Leistungen für die Pflege üppig finanziert werden können.
Die hartnäckige Weigerung der Arbeitgeber — auf politischer Ebene durch die FDP sekundiert — , eine Pflegeversicherung einzuführen, läßt sich also mit dem Argument nicht mehr tragbarer Steigerung der Lohnkosten nicht begründen. Aber natürlich ist es billiger, wenn alles so bleibt, wie es ist: wenn der größte Teil der Pflegearbeit weiterhin von Frauen unentgeltlich oder für ein Taschengeld erbracht wird. Es muß ja klar gesagt werden: Die Lösung des Problems konnte nur deswegen so lange hinausgezögert werden, weilsich Frauen dieser Verantwortung nach wie vor nicht entzogen haben.Meine Damen und Herren, christliche oder auch nichtchristliche Politiker sprechen insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gerne vom Teilen. Die Frage ist nur: Wer soll eigentlich teilen? Die Unternehmer, deren jährliche Nettoeinkommen 1990 im Vergleich zu 1982 um 32 Milliarden DM gestiegen sind, oder die, die bereits jetzt am Rande des Existenzminimums leben? Letztere Variante ist nun leider keine Erfindung von mir. In der Arbeits- und Sozialministerkonferenz wurden kürzlich Überlegungen angestellt, die Mehrbedarfszuschläge für bestimmte Sozialhilfegruppen zu kürzen. Begründung: die hohen Kosten der deutschen Einheit.Die Mehrheit der Abgeordneten dieses Bundestags hat im übrigen kürzlich demonstriert, was Sie unter Teilen verstehen: Sie haben sich eine Diätenerhöhung um 4,6 % genehmigt und sich dabei nicht geniert, dies mit der 5,8prozentigen Anhebung der Sozialhilferegelsätze von Juni dieses Jahres in Verbindung zu bringen. Der kleine Unterschied besteht bloß darin: Die Diäten wurden um 786 DM angehoben, während der Sozialhilferegelsatz nach der Anhebung von Juni um ganze 26 DM stieg. Tausende und aber Tausende von Rentnerinnen und Rentnern haben ein Einkommen, das niedriger ist als die Summe, um die die Diäten der MdBs erhöht wurde.In der DDR mußte das Volk ebenfalls mit knirschenden Zähnen zusehen, wie sich die Oberen bedienten. Dort nannte man das Sozialismus; hier wird das Demokratie genannt.
Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich sehe mich außerstande, diese Sache mit dem im Parlament üblichen Wortschatz zu beschreiben.Aus den genannten und auch aus vielen anderen Gründen werden wir den Einzelplan 11 ablehnen.
Als nächstes hat das Wort die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sozialpolitik im Rahmen der Haushaltsdebatte erörtern heißt nicht nur, über Verteilung von Geld zu reden; es muß auch über Grundsätze der Sozialpolitik, über die Wechselwirkung zwischen sozialen Maßnahmen und dem Wirtschaftsgeschehen gesprochen werden. Ein weiter Blickwinkel tut not.Beispiel: das sozialpolitisch außerordentlich wichtige Thema einer Pflegeversicherung. — Wir stehen hier vor einer Weichenstellung deutscher Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5233
Dr. Gisela BabelDer Weg, den der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm aufzeigt, nimmt seinen Ausgangspunkt in folgendem Satz: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, soll im Alter nicht durch Pflegebedürftigkeit zum Sozialhilfefall werden. — Da sind wir uns sicherlich einig.
— Beifall signalisiert Zustimmung.Jetzt wird gefolgert: Also Versicherungspflicht— da sind wir noch dabei — , gesetzliche Krankenversicherung — da sind wir schon dagegen —,
also Umlageverfahren, also Anhebung der Lohnnebenkosten, also neuer Generationenvertrag;
das Ganze gewickelt in das Seidenpapier der Solidarität. Die Union schreibt treuherzig dazu, das dürfe aber nicht zu weiterer Belastung der Wirtschaft oder zur Steigerung der Lohnnebenkosten führen.
Meine Damen und Herren, bis zur Stunde liegt nichts auf dem Tisch, was dieser Hoffnung Nahrung gibt.
Alle bisher diskutierten Kompensationen sind laut Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen unwirksam.Bei den Sozialversicherungen brauchen wir ja heute schon alle Kräfte, um den dramatischen Kostenanstieg zu bremsen. Von 20 Milliarden DM spricht die Deutsche Bundesbank,
die in den nächsten Jahren von der Sozialversicherung zusätzlich aufgebracht werden müssen. Folge: Entweder Einschnitte im Leistungsbereich oder handfeste Erhöhungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, meine Damen und Herren!
Wer kann dann noch ernsthaft davon sprechen, die als harmlos eingestuften weiteren Beitragspunkte seien auszugleichen?
— Das ist nicht ideologisch verknöchert. Das ist ohne realen Ansatz, den Sie allerdings schon längst aus dem Blick verloren haben, weil Sie sich nur auf den Menschen und auf sonst gar nichts konzentrieren.Kein Wunder, daß sich die Warnsignale aus der Wirtschaft mehren. Das verleitet ja manchen schondazu, die empfindliche Pflanze Pflegeversicherung bei diesem widrigen Klima lieber gar nicht erst einpflanzen zu wollen. — Meine Damen und Herren, das ist nicht Meinung der FDP. Die FDP will die Pflegeversicherung,
aber sie sieht nicht ein, daß wir alle mit geschlossenen Augen in die verkehrte Richtung laufen müssen.
Eine Sozialversicherungslösung ist nicht zwingend. Mit unserem Vorschlag eines Kapitaldeckungsverfahrens haben wir den Weg gezeigt, wie auch Erträge aus dem Kapital die späteren Lasten mittragen können. Langfristig wird sich unser Modell als das bessere erweisen.
Der Vorschlag der FDP zielt auf eigene Anstrengungen zur Vorsorge gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Wir wollen einen neuen Generationenvertrag vermeiden. Warum, wo er doch so vorteilhaft für uns ist, die heute Lebenden, eine vergleichsweise große Zahl von Erwerbstätigen — 29 Millionen dank unserer guten Wirtschaftspolitik — gegenüber einer vergleichsweise kleinen Zahl von Pflegebedürftigen? Dieses günstige Verhältnis wird ja erst später, wenn die heute im Bundestag entscheidenden Abgeordneten ein biblisches Alter erreicht haben, umkippen. Dann werden weniger Erwerbstätige für mehr Pflegefälle zu sorgen haben.Die FDP lehnt das ab. Wir wollen diesen Vertrag zu Lasten der nachkommenden Generation nicht. Wir hinterlassen schon genug Hypotheken im Umweltbereich und im sozialen Bereich. Wir können nicht ständig und immer mehr auf Kosten der Zukunft leben.
Deswegen kommt von uns der Satz: Jede Generation sorgt für sich selber in dem Sinne: Die Generation hat die Pflicht, Vorsorge zu treffen.
Wenn dies als Rückkehr zur sozialpolitischen Eiszeit stigmatisiert wird, ist das ebenso plakativ wie falsch. Im Gegenteil: Der Egoismus ist eher in einem Modell ausgeprägt, das die Lasten bewußt und eindeutig auf die nächsten 20, 30 Jahre verschiebt.
Vergessen wir doch eines nicht: Der Grund, warum das demographische Risiko so groß ist, liegt darin, daß heute zu wenig Kinder geboren und erzogen werden. Wer lebt denn auf Kosten anderer? — Derselbe Artikelschreiber, der Herr Bundesarbeitsminister, schreibt den bemerkenswerten Satz: Alterseinsamkeit ist die späte Bescherung für die junge Selbstverwirklichung ohne Solidarität.Der Vorwurf mangelnder Zukunftsorge trifft aber — das will ich hier eindringlich sagen — nicht die
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5234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Gisela Babelheute alte Generation. Auch hier wird polemisch verdreht. Für sie gilt der Satz: „Jeder sorgt für sich selbst" aus zwei Gründen nicht: Erstens können sie keine Vorsorge treiben, zweitens haben sie, auch was das Aufziehen von Kindern anlangt, große Lebensleistungen vollbracht.Die Solidarität — an dieser Stelle gebrauche ich den Begriff — verpflichtet uns, Lösungen zu finden, die das Schicksal ihrer Pflegebedürftigkeit für sie leichter ertragbar macht.Aber das für uns Liberale Entscheidende ist und bleibt: Die Generation, die heute noch hinlänglich Vorsorge treffen kann, soll dazu verpflichtet werden. Das ist der steinige Weg der FDP. Er vermeidet besser die Gefahren für die deutsche Wirtschaft heute, und er vermeidet die Gefahr für Bürger und Bürgerinnen morgen.
Er vermeidet vor allem — letzter Satz — die quälenden Diskussionen über die Kostenexplosion und ihre mögliche Eindämmung in dieser neuen Sozialversicherung.Vielen Dank.
Nun hat der Minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich nicht vor, über die Pflegeversicherung zu reden. Aber meine verehrte Kollegin Babel verdient, daß auf ihre Rede geantwortet wird.
Liebe Frau Kollegin Babel, ich kenne kein Privatversicherungsmodell, ob Pflicht oder freiwillig, das der älteren Generation zumutbare Beiträge abverlangt. Ich kenne keines. Ich kenne auch kein Privatversicherungsmodell, das den Altfällen
— ganz ruhig, keine Aufregung, ich komme noch dazu — ein befriedigendes Angebot an sozialer Absicherung gibt.
Sie antworten mit dem originellen Vorschlag, einen Einheitsbeitrag einzuführen. Das ist in der Geschichte unseres Sozialstaates eine Uraufführung. Ein einkommensunabhängiger Einheitsbeitrag kann ja nur bedeuten, daß die Niedrigverdienenden mehr Beitrag zahlen müssen, damit die Höherverdienenden entlastet werden. Sonst gibt es keinen Grund für einen Einheitsbeitrag.
Wie das mit sozialen Gesichtspunkten in Übereinstimmung zu bringen ist, müssen Sie der deutschen Öffentlichkeit erklären.
Ich will es ja nicht vorwegnehmen. Den Spaß wollen wir uns nicht nehmen lassen, daß uns die FDP vorrechnet, wie hoch der Subventionsbedarf bei ihrem Modell ist, wie hoch der Subventionsbedarf ist, wenn man auf den Einheitsbeitrag von 40 DM herunterkommen will. Rechnerisch müßte der Beitrag ja bei 104 DM liegen. Ich bin gespannt auf die Rechnung, bin gespannt darauf, wieviel Milliarden an Subventionen es kostet, um einen Einheitsbeitrag von 40 DM möglich zu machen. Im übrigen müssen Sie dann auch noch diejenigen subventionieren, die die 40 DM nicht zahlen können.
Da wir, unsere Koalition, den Subventionsabbau als ein wichtiges Ziel betrachten,
ist das ein Vorschlag auf der Gegenfahrbahn unserer Absichten. Das ist sozialpolitische Geisterfahrerei.
Ich hatte es nicht vor; aber wenn es so vorgetragen wird, dann verlangt es der Respekt, daß darauf geantwortet wird. — Bitte, Frau Babel.
Herr Bundesarbeitsminister, es ist sicherlich guter Brauch in einer Parlamentsdebatte, daß sich jeder das Passende und hübsch Schmückende aussucht. Wenn Sie jetzt schon die FDP angreifen, dann antworten Sie ihr bitte liebevoll doch darauf, wie Sie denn nun bei den jetzigen Daten ohne irgendeine Änderung der Lohnnebenkosten Ihr Modell durchsetzen wollen.
Erstens werden wir keinen Einheitsbeitrag machen, sondern wir schlagen einkommensabhängige Beiträge vor, wie es der Geschichte der Sozialpolitik entspricht. Sehr verehrte Frau Kollegin Babel, es gab keinen Sozialminister vor mir, der mehr zur Entlastung der Lohnnebenkosten beigetragen hat, und deshalb können Sie bei mir darauf vertrauen, daß wir durchaus in der Lage sind, auch dieses Problem zu lösen.
Ich möchte ein paar Beispiele nennen: Soziallastquote 1982 32 %, Soziallastquote 1991 rund 29 %. — Hätten wir noch die Soziallastquote des Jahres 1982, so müßten allein im Jahre 1990 95 Milliarden DM mehr gezahlt werden. Die Pflegeversicherung macht nur ein Viertel dessen aus, was wir durch Senkung der Soziallastquote in unserer Regierung erreicht haben. Dieses Verdienst „Entlastung der Versicherten" lasse ich mir von niemandem nehmen,
noch nicht einmal von der FDP.
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Bundesminister Dr. Norbert Blüm— Von niemand!Eine Senkung der Soziallastquote in dem Maße gab es vorher noch nicht, und wir haben damit die Beitragszahler entlastet.Da darf ich dann gleich die zweite Frage aufnehmen. Sie, Herr Diller, haben mich außerhalb meines Geländes angesprochen — hier sitzt ja schon meine verehrte Kollegin Hasselfeldt — und haben die Gesundheitsreform zur größten Superpleite erklärt. Darauf antworte ich Ihnen mit einer Preisfrage: Unter welchem Arbeitsminister ist die Krankenversicherung in drei Jahren um genau 53 Milliarden DM entlastet worden?
Erster Preis: Ein Tag im Arbeitsministerium.
Ich will auch noch eine Hilfe geben, weil ich befürchte, der Kollege Diller wird nicht auf den Namen kommen.
Es war in den Jahren 1989, 1990 und 1991. Vorher stiegen die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung Jahr für Jahr um 0,5 % bis 0,6 %.
1988 hatten wir einen Beitragssatz von 12,9 %. Hätten wir mit dem Gesundheits-Reformgesetz nicht gehandelt, wären wir 1991 bei 14,5 % angekommen. Inzwischen haben wir aber einen Satz von 12,2 %. Der Unterschied allein 1991 beträgt 2,3 %. Das wären 32 Milliarden DM, wenn nichts geschehen wäre. In den Jahren davor, 1989 und 1990, war der Entlastungseffekt mit 21 Milliarden DM kleiner. Das macht in drei Jahren insgesamt 53 Milliarden DM aus.Jetzt frage ich Sie noch einmal, Herr Diller — Sie können den Preis gewinnen — : Wer war es?
— Ich gebe zu, es ist ein Trostpreis.Die Kollegin Hasselfeldt verdient die Unterstützung aller;
denn der Teil, der durch die Gesundheitsreform gesetzlich beschlossen wurde, ist durchgeführt. Der Teil, den die Selbstverwaltung zu praktizieren hat, ist nicht durchgesetzt. Festbetrag, Richtgrößen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Transparenz
— auch Krankenhäuser — , neue Vorschläge des Sachverständigenrates, Bonus-Malus-Systeme, das kann man alles machen. Das steht im GesundheitsReformgesetz mit Experimentierklausel. Kein Arbeitgeber, der das gegenüber dem Gesetzgeber verlangt hat, hat das in der Selbstverwaltung bisher gemacht. Da hätte er es nämlich machen können.Ich bin es langsam leid,
daß Bonn die Klagemauer ist und man vor Ort nichts macht. Deshalb verdient die Kollegin Hasselfeldt Unterstützung auf dem weiteren Weg der Kostenentlastung.
Ich will ausdrücklich noch die Ausländerbeauftragte begrüßen.
Sie arbeitet unter dem Dach des Einzelplans 11 bzw. des Arbeitsministers. Ich bin ganz sicher, daß wir in guter Zusammenrbeit die wichtige Aufgabe, für unsere ausländischen Arbeitnehmer zu sorgen, gemeinsam bewältigen werden. Deshalb bitte ich das ganze Parlament um die Unterstützung für die Ausländerbeauftragte.
— Sie reizen mich. Ich komme gar nicht zu meiner Rede. Dann noch einmal zum Kollegen Diller. Das verlangt ja der Respekt vor dem Berichterstatter.Er kritisiert heute die Finanzierung des Rentenüberleitungsgesetzes. Nachdem er die Verbesserungen des Rentenüberleitungsgesetzes für die SPD monopolisiert hat, kritisiert er anschließend die Bezahlung. Sie haben aber beidem zugestimmt, Herr Diller. Sie haben nicht nur den Verbesserungen zugestimmt, sondern auch der Bezahlung. Wie nenne ich denn einen Mann, der das Bier austrinkt und dann über die Bezahlung schimpft? Sie müssen also zahlen.
— Einen Nassauer.Wenn wir schon beim Abräumen sind: Liebe Frau Kollegin Bläss, der liebe Gott und die Wähler mögen uns davor beschützen, daß die Mindestrente der DDR wieder eingeführt wird.
Sie betrug 330 Mark. Der liebe Gott soll uns davor bewahren! Das waren 1990 40 DM über dem Existenzminimum, über dem Fürsorgesatz.
Das preisen Sie hier als sozialen Fortschritt. Ich möchte nur hoffen, daß das, was Sie sagen, nie Wirklichkeit wird. Dafür werden wir sorgen!
Ich klage mit dem Kollegen Diller darüber, daß die Kriegsopferrenten — das Gesetz ist seit 1. Januar in Kraft — so zögerlich, so schleppend ausgezahlt werden. Das halte ich wie Sie für eine sozialpolitische Rücksichtslosigkeit; denn ein Gesetz ist nur etwas wert, wenn es bei den Menschen ankommt. Deshalb dränge ich mit Ihnen, daß die Versorgungsverwaltungen in den neuen Bundesländern schneller arbeiten,
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5236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Bundesminister Dr. Norbert Blümnur, denke ich, Kollege Diller, gemeinsam. Wir können uns die Arbeit ein bißchen teilen. Sie übernehmen Brandenburg, und ich übernehme die anderen Länder.
In Brandenburg sind von 45 881 Anträgen 16 053 bearbeitet. Also Arbeitsteilung: Sie wenden sich an Stolpe und meine Freundin Hildebrandt, und ich mache dann den Rest. Laßt uns das in der Tat gemeinsam machen; denn es ist unser gemeinsames Anliegen, daß die Kriegsopfer — das ist eine Generation, die über Jahrzehnte benachteiligt wurde — bald in den Genuß ihres Geldes kommen.
Zur Sache selber. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte heute hier im Bundestag eigentlich noch einmal darlegen, welche großen Anpassungsleistungen die Bürger in den neuen Bundesländern vollbringen. Ich glaube, daß viele Westdeutsche die Härte und die Tiefe des Strukturwandels nicht ermessen. Es ist ja auch eine Welturaufführung, aus einer sozialistischen Funktionärsgesellschaft eine Gesellschaft freier Bürger zu schaffen. Es ist eine unvergleichbare Leistung, aus einer staatlich verwalteten Wirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft umzusteigen. Das ist vergleichbar mit dem Versuch, zwei Güterzüge während der Fahrt aneinanderzukoppeln.Ich möchte auf eine weitere große Leistung aufmerksam machen. Was ist denn geschehen? Von 1990 bis 1992 — das ist hier schon gesagt worden —fallen in den neuen Bundesländern 3 Millionen Arbeitsplätze weg. Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist damit vergleichbar, als würden in Westdeutschland 10 Millionen Arbeitsplätze in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren wegfallen. Da muß ich meinen großen Respekt vor dem Selbstbehauptungswillen dieser Gesellschaft ausdrücken; denn in der Arbeitslosenstatistik erscheint dieser Strukturwandel, diese Belastung nur ungenügend. Ein Teil pendelt, ein Teil ist gewandert, und mit unserer Arbeitsmarktpolitik verhindern wir die Arbeitslosigkeit von 2 Millionen Menschen.Ich möchte meinen Respekt auch deshalb zum Ausdruck bringen, weil auch bei den Bürgern in den neuen Ländern Engagement festzustellen ist: 900 000 Bürger in den neuen Bundesländern haben seit Anfang dieses Jahres Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen in Anspruch genommen. Sie sind nicht auf ihrem Kanapee sitzen geblieben; sie haben die Initiative ergriffen. Auch hierzu wieder einen Vergleich: Das ist ungefähr so, als würden in Westdeutschland zehn Millionen Arbeitsplätze wegfallen und drei Millionen Arbeitnehmer würden innerhalb eines Jahres in Fortbildung und Umschulung eintreten. Das erfordert doch auch eine ungeheure Initiative.348 000 befinden sich in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; auch diese sind nicht sitzengeblieben, sondern aktiv geworden.
— Laßt uns doch unseren Respekt vor dem Selbstbehauptungswillen dieser Bürger und vor ihrer Initiative übereinstimmend bekunden.
Es wird jetzt gesagt, wir ließen unsere Landsleute dort im Stich. Auch der Kollege Diller hat hier gesagt, wir bauten die Arbeitsmarktpolitik ab. Ich kann ihm schon mit der Mathematik nicht folgen: 1991 waren es 25 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik Ost. Nachweislich des Haushalts, den wir heute verabschieden, werden es im nächsten Jahr 35 Milliarden DM sein. 35 Milliarden sind doch mehr als 25 Milliarden! Statt 7,7 Milliarden DM für Fortbildung und Umschulung im Jahr 1991 werden es 1992 11 Milliarden DM sein. Statt 5,2 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden es im nächsten Jahr 10 Milliarden DM sein. Wieso kann man dann mehr zu weniger erklären? Wir tanzen hier doch keinen Ball paradox! Es ist 1992 doch mehr! Sie können das kritisieren, aber Sie können nicht sagen, es sei weniger.Richtig ist auch — das gebe ich zu; das hat Frau Albowitz schon gesagt — , daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Brücke sind und daß wir nicht die ganzen neuen Bundesländer zu einer einzigen Brücke machen können. Deshalb glaube auch ich, daß wir mit der Zahl von 400 000 ABM-Plätzen Ende des Jahres eine Höhe erreicht haben, wo die Gefahr besteht, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den normalen Arbeitsmarkt verdrängen. Diese Gefahr muß gesehen werden. Wir wollen aus der alten sozialistischen Planwirtschaft doch nicht eine einzigartige ABM-Gesellschaft machen. Das kann doch nicht unser Ziel sein.
Zu Qualifizierung. Freilich muß darauf geachtet werden, daß Qualifizierung ihren Sinn erfüllt. Es handelt sich dabei nicht um eine Beschäftigungstherapie, sondern es handelt sich um eine sinnvolle Vorbereitung zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben.Kurzarbeit null. Die Kurzarbeit null haben wir als Notmaßnahme organisiert, um den Dammbruch zu verhindern. Aber Kurzarbeit null auf Dauer halte ich für einen Etikettenschwindel. Dann muß man das Kind beim Namen nennen: Das ist Arbeitslosigkeit. Deshalb kann die Sonderregelung nicht so wie bisher weiterlaufen.
Ich denke, man kann Probleme nur lösen, wenn man sie beim Namen nennt. Kurzarbeit null ist schon ein Gegensatz in sich: Das ist Arbeitslosigkeit. Dann muß man es auch so nennen.
Ich will noch ganz kurz zu den Renten kommen. Auch hier möchte ich betonen: Ich schließe mich dem an, was hier gesagt wurde. Am längsten haben die Rentner gelitten. Das ist die Generation, die zwei Weltkriege oder zumindest einen Weltkrieg, Hitler, die Nachkriegsjahre und die SED-Herrschaft miter-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5237
Bundesminister Dr. Norbert Blümlebt hat. Deshalb hat sie einen Anspruch darauf, als erste die Verbesserungen zu spüren. Die Rentenwerden zum 1. Januar 1992 seit der Sozialunion im Durchschnitt um 90 % gestiegen sein.
Infolge der Rentenüberleitung ist der Auszahlungsbetrag allerdings anders. Bei einigen wird die Rente um weniger als 11,65 % steigen, bei vielen aber um mehr. Die durchschnittliche Erhöhung beträgt bei den Männern 16 % und bei den Frauen 21 %. Das hängt damit zusammen, daß die Hinterbliebenenversorgung durch die Übernahme unseres Hinterbliebenenrechtes 900 000 Witwen in den neuen Bundesländern eine Erhöhung ihrer Rente um durchschnittlich 240 DM gewährt. 150 000 ältere Mitbürger werden zum erstenmal überhaupt in den Genuß einer Witwenrente kommen.Meine Damen und Herren, ich will, weil über die soziale Sicherheit und ihren Zustand geredet wurde, sagen: Wir haben die niedrigsten Rentenversicherungsbeiträge seit 1973 und die höchsten Rücklagen seit 1976. Es besteht überhaupt kein Grund zur Verunsicherung. Wir haben eine solide Politik gemacht, und von diesem soliden Fundament aus arbeiten wir weiter.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Beratungen des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 11 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 11 ist damit in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Gruppen Bündnis 90/ GRÜNE und PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe auf: Einzelplan 15
Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit
— Drucksachen 12/1415, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Arnulf Kriedner Uta Titze
Dr. Wolfgang Weng
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch.
Ich erteile unserer Kollegin Uta Titze das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Blüm — er ist schon wieder weg — hat mich wie beim letzten Mal nicht enttäuscht. Es ist ein Genuß, seiner Darstellung zu lauschen. Zum politischen Inhalt sage ich nichts.Heute abend ist es genauso wie bei der letzten Beratung des Einzelplans 15 schon dunkel. Das ist, meineich, symptomatisch für den Stellenwert, den diese Koalition der Gesundheitspolitik zumißt.Noch schlechter allerdings kommen die Frauen weg. Die Beratungen zum Geschäftsbereich für Frauen und Jugend finden noch später statt, d. h. zu einem Zeitpunkt, bei dem ich sicher bin, daß kein Mensch im Plenum mehr zuhören wird.
Noch etwas ist verräterisch. Wenn ich mir die nackten Zahlen des Einzelplans 15 ansehe, verstärkt sich meine Einschätzung
— das stört mich nicht; das bin ich vom letzten Mal gewöhnt; aber rechnen Sie nicht damit, daß ich auf jeden Zwischenruf eingehe —; denn das Finanzvolumen dieses Haushalts für 1992 ist im Vergleich zu den Ansätzen für 1991 um satte 10 % gesunken, aber nicht etwa, wie naive Gemüter denken könnten, weil wir alle gesünder geworden sind.Wenn mir jetzt einer mit der Bemerkung kommt „Das ist doch gut so, ihr von der SPD redet doch dauernd von Verschuldungsorgien, eure Finanzmatadore wollen doch strengste und sparsamste Haushaltsführung, Subventionsabbau usw. ", dann kann ich als typische Haushälterin nur sagen: Okay, das ist in Ordnung; ich bin ja als Mitglied im Haushaltsausschuß für eine solche Haltung bekannt. Aber dann müssen, bitte schön, in ausgewogener Weise Einsparungen in allen Einzelplänen erfolgen. Heute lese ich nämlich in der „Süddeutschen Zeitung", daß statt der geplanten 5 Milliarden DM Subventionsabbau nur ganze 67 Millionen zusammengekommen sind. Kläglich, kläglich, Herr Möllemann, kann ich da nur sagen.
Es gibt ganz andere Einzelpläne als ausgerechnet den Einzelplan 15, bei denen Einsparungen sinnvoller und wichtiger wären. Meine Damen und Herren von der Koalition, die SPD hat dazu im Rahmen der Haushaltsberatungen zur Genüge Vorschläge unterbreitet. Ich will nicht den Jäger 90 strapazieren. In Abweichung davon möchte ich im Einzelplan 14 — Bundesminister der Verteidigung — das Volumen für Beschaffungen und beim Einzelplan 30 — Bundesminister für Forschung und Technologie — die bemannte Raumfahrt nennen. Ich frage mich sowieso, wieso es nicht „befraute" Raumfahrt heißt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Schwerpunkte sowohl bei den Ausgaben als auch bei den Einsparungen machen den Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik aus; dieser Unterschied macht das Profil unserer Politik erst deutlich. Unter diesem Aspekt gibt es beim Einzelplan 15 eine ganze Menge zu sagen.Allerdings, die zuständige Ministerin äußert sich sehr sparsam. Entweder überlegt sie laut, um dann ganz schnell die eigenen Pläne zu dementieren, sobald die Reaktionen von Presse, Medien und Bevölkerung nicht so ausfallen wie erwartet, oder — noch schlauer — sie läßt andere laut denken, um anschlie-
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5238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Uta TitzeBend zu verbreiten: Das kommt nicht aus meinem Haus, das ist nicht abgesprochen.Was, bitte, sollen die von einigen Koalitionspolitikern geäußerten Pläne, denen zufolge eine sogenannte Gesundheitsabgabe in Höhe von 10 % des Verkaufspreises für Süßigkeiten, Alkohol und Zigaretten erhoben werden soll? Eine Schote aus den letzten Tagen. Bedeutet das etwa eine Steuer auf Gummibärchen — die haben sehr wenig Süße — oder, ganz aktuell, auf Dresdner Stollen oder auf Weihnachtsmänner aus Schokolade? Das scheint mir wieder einmal ein Versuchsballon zu sein, Frau Hasselfeldt, dem, kaum ist er in der Luft, wie üblich die Puste ausgeht.
— Mozartkugeln schmecken wenigstens noch.Was soll die geplante Abgabe auf Ausrüstungsgegenstände für besonders gefährliche Sportarten— genannt sind Skifahren oder Drachenfliegen — bedeuten?
Damit kommen wir in den Wald oder auf die Erde, wenn es schiefgeht. Wo wollen Sie bei der Definition von Gefährlichkeit denn anfangen, und wo wollen Sie aufhören? Etwa bei den Profi-Sportlern?Das ist alles schon angedacht und in der Presse verbreitet worden. Wir wissen ja alle, daß nicht das Sportgerät an sich das Gefährliche ist, sondern der Umgang damit. Am 27. November 1991, also gestern, wurden Sie, Frau Hasselfeldt, in der „Kölnischen Rundschau" wie folgt zitiert: Es sei — jetzt wörtlich — „einleuchtend, diejenigen, die ihre Gesundheit ganz bewußt"— das ist eine ungeheure Unterstellung — „zu Lasten aller Versicherten gefährden, mit einer besonderen Abgabe zu belasten".
Ich muß sagen, das ist für mich eine besonders erschreckende Äußerung, weil in ihr ein ganz bestimmtes Menschenbild deutlich wird, nämlich das des unmündigen Bürgers, der — in Form von Abgaben — wie ein Kind für unbotmäßiges Verhalten bestraft wird; zwar nicht durch den Klaps auf das Hinterteil, dafür aber mit dem Griff in den bereits arg strapazierten Geldbeutel.
— Sie Schreihals hier vorne, verteilen Sie die Rollen einmal anders; ich höre auch gern andere Stimmen.Glauben Sie nicht, Frau Minister, daß Aufklärung und Appelle an die Eigen- und Selbstverantwortlichkeit der Bürger eher erfolgversprechend sind, zumindest auf längere Zeit gesehen? Wie könnten Sie die 42 Millionen DM für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rechtfertigen, wenn Sie nicht an Vernunft und Aufklärung glaubten?
Noch eines: Wenn in allen Ressorts so streng, wie im Gesundheitsbereich verlangt wird, nach dem Verursacherprinzip vorgegangen würde, dann hätten wir bald paradiesische Verhältnisse. Wir hätten saubere Luft, sauberes Trinkwasser, sauberes Badewasser, altlastenfreie Böden, also Verhältnisse, die sich — jetzt hören Sie gut zu — garantiert unmittelbarer auf die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und damit— haushaltsrechtlich relevant — auf diesen Einzelplan auswirken würden, als es die Gesundheitsabgabe je könnte.
Im übrigen, wenn schon nach dem Motto verfahren wird „Wer krank ist, ist selber daran schuld, und der soll auch entsprechend bezahlen" , dann sollte das doch bitte schön für alle Bereiche gelten. Dann müßte konsequenterweise auch jeder Bordellbesucher mit einer Sexabgabe
— Sie hören richtig — oder, neutraler ausgedrückt, mit einer Lustabgabe belegt werden.
— Ich erkläre Ihnen das gleich. Ich komme sofort auf den Haushalt zu sprechen.Sofern sich ein Bordellbesucher nicht der Methoden des Safer Sex bedient, wird sein Verhalten haushaltsrechtlich Spätfolgen auf diesen Einzelplan haben, nämlich unter der Titelgruppe „Aids-Bekämpfung". Jetzt haben Sie es sicher kapiert.Wie gesagt, wir von der SPD sind gegen die Gesundheitsabgabe, weil wir meinen, das ist wieder einmal Trick 17, um den Bürgern noch mehr aus der Tasche zu ziehen, als sie sich in diesem Jahr bereits aus der Tasche haben ziehen lassen müssen.
Die Kernfrage ist und bleibt: Warum eigentlich soll immer nur der Arbeitnehmer Solidaropfer bringen? Was tun Sie beispielsweise, Frau Hasselfeldt, um die Forderung der Ärzte abzuwehren, das an die Grundlohnsumme gekoppelte Gesamthonorar durch Einzelleistungsvergütung zu ersetzen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5239
Uta Titze— Ob Sie es glauben oder nicht, aber genau diese Bemerkung habe ich an den Rand meines Manuskripts geschrieben: Wetten, daß der Sozialneid kommt? Es ist wirklich primitiv.Zur Erinnerung: Der Kollege Kirschner hat eine Anfrage an die Bundesregierung betreffend die ärztlichen und zahnärztlichen Einkommen gestellt. Jetzt lassen Sie sich die Daten auf der Zunge zergehen. Der durchschnittliche Reinertrag je Praxisinhaber beträgt 176 500 DM bei niedergelassenen Ärzten und 195 000 DM bei niedergelassenen Zahnärzten. Das sind Zahlen aus dem Jahre 1987.
Dreimal dürfen Sie raten, in welche Richtung sich diese Zahlen seither bewegt haben. Ich wette darauf, daß sie nicht nach unten gingen.Wenn ich dann noch realisiere, daß Ärzteeinkommen rund das Vierfache dessen betragen, was ein Arbeitnehmer durchschnittlich als verfügbares Einkommen nach Hause tragen darf, dann muß ich die Gesundheitsabgabe strikt ablehnen.
Aber damit nicht genug. Erst am 25. November 1991 beschloß die Koalitionsmehrheit im Vermittlungsausschuß, die Erhöhung der Arzneimittelkostenbeteiligung um 15 %, höchstens bis zu 10 DM je Arzneimittel, um neun Monate, also auf den 1. Juli 1993, zu verschieben.
— Nein, dafür sorge ich schon alleine, Horst. — Das ist verständlich; das kann ich als Politikerin ja verstehen. Es finden zwischenzeitlich zwei wichtige Wahlen statt.
Ich bin zusammen mit meiner Fraktion der Meinung, daß die Patienten durch dieses Gesetz doppelt zur Kasse gebeten werden: zum einen über die Beiträge zur Krankenversicherung und zum anderen über die Selbstbeteiligung an den Arzneimittelkosten.Die öffentliche Sachverständigenanhörung zu diesem Thema vor kurzer Zeit im Zusammenhang mit dem Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch hat unmißverständlich klargemacht — zumindest dem, der zwei Ohren zum Hören und einen Verstand zum Nachdenken hat — , daß das Konzept der Koalition respektive der Gesundheitsministerin komplett als untaugliche Maßnahme zur Begrenzung der Kostenlawine im Gesundheitswesen abgelehnt wurde, und zwar aus sehr gutem Grund.
Dabei gäbe es durchaus andere Lösungen. Ich will nur daran erinnern, daß in unserem Gesetzentwurf ein dreijähriges Moratorium vorgeschlagen wurde, damit man Zeit und Muße hat, den Arzneimittelmarkt neu zu ordnen. Auf diesem Gebiet bieten wir durchaus unsere Hilfe an.Aber es ist natürlich leichter, unbequeme Entscheidungen gar nicht zu treffen, z. B. die Entscheidung über den Abbau der Fehlbelegung in den Krankenhäusern, über die bessere Verzahnung der ambulanten mit der stationären Versorgung, über eine wirksame Wirtschaftlichkeitsprüfung bei den Ärzten— Herr Minister Blüm hat dieses Thema auch angesprochen — und den Krankenhäusern. Die Erfüllung dieser Forderungen aber würde das Verhältnis von Kosten und Leistungen zueinander deutlich machen. Das ist für mich eine Grundvoraussetzung, wenn man ernsthaft über eine Kostenreduzierung diskutieren will.
Von den Pharmakonzernen will ich gar nicht erst reden. Warum müssen denn bei uns in drei Teufels Namen Arzneimittelpackungen so groß dimensioniert sein, und warum müssen sie so teuer sein? Nirgendwo in Europa sind Arzneimittel so teuer wie hier; das ist doch kein Naturgesetz.
— Wenn Sie den Mund halten, dann sage ich Ihnen einen Fakt. Ich bin zwar für Zwischenrufe, wenn sie witzig und humorvoll sind, aber nicht, wenn sie permanent unsachlich sind.
— Der macht das immer so? Dann muß er noch viel lernen.Das erste Halbjahr 1991 zeigt endgültig, wo es langgeht: Die Apotheken — jetzt hören Sie zu — erhöhten ihren Umsatz um satte 11%, fast doppelt so stark wie im Schnitt der vergangenen Jahre. Da ist schon die bescheidene Frage nach dem Solidarbeitrag der Pharmaindustrie gerechtfertigt.
Frau Hasselfeldt, die Frage ist um so wichtiger, als dem Druck der Pharmakonzerne und deren Lobby nachzugeben automatisch bedeutet, sich der eigenen Handlungs- und Gestaltungsspielräume zu berauben; das hat natürlich fiskalische und haushaltsrechtliche Relevanz.
Besonders hart trifft die Reduzierungen — ich habe vorhin von satten 10 % Rückgang im Haushaltsvolu-
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5240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Uta Titzemen gesprochen — das Kapitel „Allgemeine Bewilligungen" , und da speziell die Ausgaben für die AIDS-Bekämpfung. Sie sanken von 90,8 Millionen DM auf 50 Millionen DM. Von den verbliebenen Restmillionen ist der Löwenanteil, nämlich 29 Millionen DM, für die Aufklärung vorgesehen.Prinzipiell ist nichts gegen Aufklärung einzuwenden, im Gegenteil. Schließlich haben wir gerade in diesem Bereich in Ostdeutschland ein weites Feld zu beackern. Mich stört aber — und das ist eben Ihre Politik im Gegensatz zu dem, was wir wollen — das Verhältnis, nämlich 20 Millionen DM für die Bekämpfung und 29 Millionen DM für die Aufklärung. Das kann doch nur bedeuten, daß Ihnen, Frau Hasselfeldt, die Aids-Kranken und HIV-Infizierten eine zu vernachlässigende Größe geworden sind.An dieser Stelle wäre schon zu fragen, warum z. B. statt der von der Deutschen Aids-Hilfe beantragten 7,5 Millionen DM für Aufklärungsmaßnahmen nur 6,9 Millionen DM bewilligt worden sind, obwohl die Aufgaben durch das Beitrittsgebiet deutlich gewachsen sind. Aber vielleicht paßt auch der Kreis, den diese Deutsche Aids-Hilfe anspricht, nicht so recht in die Vorstellung des Normalbürgers vom Erscheinungsbild „normaler Kranker". Das kann ja sein.In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Forderung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Arbeitsgruppe „Gesundheit", Paul Hoffacker, eine Mittelerhöhung für die Aids-Hilfe — Sie erinnern sich? — aus inhaltlichen Gründen — ich kenne nämlich Ihren Brief — abzulehnen.
— Das weiß ich. Aber Sie haben gesagt, Sie hätten sich an den Postern gestört. Wer hat Sie denn gebeten, Ihr Wohnzimmer oder Ihr Büro damit zu schmücken? Kein Mensch.
Die Poster sind sehr dezent und gut. Ich habe sie im Büro hängen, obwohl ich auch nichts mit Aids zu tun habe.Wenn Aids schon während der IWF-Tagung in Bangkok ein Thema war — dargestellt durch den Vortrag eines Regierungsmitglieds — , dann verwundert es schon, daß hierzulande die Bedeutung von Aids offenbar unterschätzt wird. Denn die öffentlichen Anhörungen in diesem Jahr haben klargemacht, daß es an der Aids-Front keine Entwarnung gibt. Im Gegenteil: Aids wird zunehmend eine Krankheit der Heterosexuellen, der Frauen und Kinder, nicht nur der Schwulen und Prostituierten. Deshalb ist die Mittelkürzung in unseren Augen kontraproduktiv.Wir empfinden es als erbärmlich, wie mit Aids-Kranken umgegangen wird: daß z. B. die Not der Aids-Stiftungen „Positiv leben" und der nationalen Aids-Stiftung, die um eine Zuwendung von je 5 Millionen DM gebeten haben, nicht gesehen wird. Diesem Antrag, den die SPD übernommen hat, wurde nicht entsprochen,
obwohl die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages bereits genau diese Zuwendung befürwortet hat, ja den Mehrbedarf an Mitteln sogar auf 60 beziffert hat.
Eine Schlußbemerkung zum Thema Aids. Ich erinnere mich noch, bei der letzten Haushaltsrede schrie einer dazwischen: Haben Sie nur Aids auf der Platte? Ich antwortete: Nein, auch noch andere Themen.Ab 1. Oktober gelten neue Richtlinien im Zusammenhang mit der Novellierung des BTM-Gesetzes. Sie gestatten unter bestimmten Auflagen die Abgabe von Methadon an Herionsüchtige. Das bedeutet in der Konsequenz für Aids-infizierte Drogensüchtige eine glatte Verschärfung, da das Methadon-Abkommen keine soziale Indikation mehr erlaubt. Dabei wäre es lebenswichtig und auch billiger, Drogensüchtigen vor Ausbruch einer akuten Krankheit wie Aids die Methadon-Substitution zu ermöglichen.
Die jüngsten Fehlleistungen des Ministeriums will ich nur in Stichworten nennen: HIV-Test für Ärzte — eine tolle Schote in diesem Sommer — , HIV-infiziertes Spenderblut für Bluter — ein Skandal, der seitens des Ministeriums und des Bundesgesundheitsamtes unter den Tisch gekehrt wird.
Das ist der größte Arzneimittelskandal in dieser Republik, dessen Aufklärung eine Koalition gemeinsam verhindert, nämlich Ärzte, Arzneimittelproduzenten, Versicherungsfirmen und Bluter-Funktionäre. Das muß einmal gesagt werden.
Die SPD hat hierzu eine Kleine Anfrage gestellt. Wirsind mordsmäßig gespannt auf deren Beantwortung.Wir sind darüber betrübt, daß die Vorstellungen zur Umstrukturierung von Polikliniken in Ostdeutschland in integrierte Gesundheitszentren, die wir in die Haushaltsberatungen eingebracht haben, abgelehnt wurden. Wir hatten die Etatmittel für 17 Modelleinrichtungen erhöhen wollen.
— Mit diesem Totschlagargument können Sie immer kommen. Die Länder haben auf Grund ständig gestiegener Aufgaben diese Finanzmittel nicht auch noch in der Schatulle.Auch in einem dritten Bereich haben wir uns nicht durchsetzen können, nämlich bei der Förderung von Modellen auf dem Gebiet der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung. Diesen Ansatz halten wir effektiv für zu gering.Einer dringenden Klärung bedarf die Etatisierung von Mitteln für ZEBET. Ich fasse mich kurz: Das ist die „Zentrale Koordinierungs- und Bewertungsstelle für Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen". In der „Süddeutschen Zeitung" stand neulich ein Be-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5241
Uta Titzericht über eine Tagung in Tutzing, wo selbst von Befürwortern von Tierversuchen eindeutig zugegeben wurde, daß die Kernfrage immer noch ungelöst sei, nämlich die der Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tierversuchen auf Menschen.
Na bitte, c' est ça. Wenn das so ist, dann können Sie doch die dritte Stufe von ZEBET etatisieren.Vorletzter Punkt: Notprogramm Trinkwasser. Auch hier ist es uns im Prinzip wurscht — auch mir als Haushälterin —, ob die verlangten 100 Millionen DM im Einzelplan 15 — Gesundheit — oder im Aufbauwerk Ost etatisiert werden. Aber sie müssen etatisiert werden. Denn Ende des Jahres, Frau Hasselfeldt, müssen Sie gegenüber der EG-Kommission einen Bericht über Grenzwertüberschreitungen und entsprechende Sanierungswerte vorlegen. Man braucht also kein Prophet zu sein, um zu wissen, was herausspringen wird.Letzter Punkt: Jahrelange Bemühungen des Deutschen Psoriasis-Bundes sind dahin. Jetzt würde ich gut zuhören; denn hier haben wir Haushälter vom Finanzminister eine dicke Ohrfeige kassiert. Wir haben im April einstimmig den Beschluß gefaßt, eine Clearing-Stelle, genannt INKRA, für einige chronische Krankheiten — Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Psoriasis, Diabetis, Osteoporose, Rheuma usw. — einzurichten. Das Konzept sollte vom DIMDI erarbeitet werden. Das haben die gemacht. Sie haben ein Konzept vorgelegt. Was war? Es wurde abgelehnt.Die Begründung im Berichterstattergespräch war: Das Konzept entspricht nicht unserer Vorstellung. Das war eine Ohrfeige für den gesamten Haushaltsausschuß. Meine Kritik wurde von meinen Kollegen, von Ihnen, mitgetragen. Ich erwarte, daß im Jahre 1993 dieses Problem so gelöst wird, wie wir das beschlossen haben.Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, das reicht,
um zu begründen, warum wir den Einzelplan 15 ablehnen. Die unerledigten Hausaufgaben, Frau Hasselfeldt, sind die Organisationsreform der Krankenversicherung, die modellhafte Erprobung von Personalbemessungskonzepten, Pflegerisiko, Sanierung der ostdeutschen Krankenhäuser usw. Hier gibt es eine ganze Menge zu tun.Das Fazit einer US-Studie aus Baltimore von diesem Jahr ist zu schön, als daß ich Ihnen das nicht gönne zu hören. Dort wurde das Gesundheitssystem von zehn Industrieländern verglichen. Raten Sie einmal, welche Note wir bekommen haben? Ich verrate es nicht. Es hieß nur: Deutschland, ein Pflegefall.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach diesem herzerfrischenden Beitrag hat nun unser Kollege Arnulf Kriedner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vortrag war sowohl erfrischend wie auch bemerkenswert unsachlich, was ich von der Kollegin sonst nicht gewohnt bin; denn sie hat sich im Haushaltsausschuß und auch bei den Berichterstattergesprächen einer erfreulichen Sachlichkeit bedient. Aber der Beitrag lag auf der Linie — das sage ich auch einmal — der gesamten Haushaltsdebatte bisher.
— Herr Jungmann, Ihr Beitrag war ja nicht anders als der von mir eben qualifizierte.
Frau Kollegin Titze, wenn Sie ausgerechnet amerikanische Stimmen zitieren, Stimmen aus einem Land, wo ein Gesundheitssystem herrscht, das wir wahrhaftig nicht haben wollen, dann ist das für den Schluß einer Rede ganz bestimmt nicht sonderlich gut.
Ich will — man soll ja lernfähig sein —, genau den Versuch machen, den gestern Größere in der Debatte gemacht haben, nämlich die Polemik in Grenzen zu halten.
— Noch Größere.
Frau Kollegin Titze, Sie haben beklagt, daß ausgerechnet dieser Etat abgesenkt worden ist. Bloß hätte die Wahrheit erzwungen, daß Sie gesagt hätten: Der Haushalt ist deshalb abgesenkt worden, weil Aufgaben weggefallen sind. Man kann doch nicht einfach nur sagen, ein Haushalt ist abgesenkt worden — weil Aufgaben weggefallen sind — , und dann so tun, als ob weniger Geld in der Kasse wäre. Das finde ich nicht ganz fair. Ich könnte Ihnen genau vorrechnen, will es aber aus Zeitgründen nicht tun, welche Aufgaben fortgefallen sind und weswegen der Haushalt abgesenkt worden ist.
— Das haben Sie heute schon den ganzen Tag getan.
Herr Kollege Kriedner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwanhold?
Natürlich. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte.
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5242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Herr Kollege, darf ich Ihrer Aussage entnehmen, daß Sie amerikanische Statistiken und bewertende, vergleichende Urteile amerikanischer Institute in Zukunft insgesamt für den Vergleich mit den Gegebenheiten bei uns ablehnen?
Um Gottes willen, Herr Kollege. Generell würde ich das nicht tun. Ich würde das nur bezogen auf das amerikanische Gesundheitssystem tun; denn das ist ein miserables System.
Der Haushalt des Gesundheitsministeriums gehört in der Tat nicht zu den umfangreichen Einzeletats. Aber diese Tatsache steht im Widerspruch zu der Bedeutung, die Fragen der Gesundheit für jeden einzelnen Menschen haben. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen — da bin ich mir wahrscheinlich auch mit der Kollegin Titze einig — , daß die Bedeutung der Gesundheitspolitik ein wichtiger Grund gewesen ist, hierfür ein entsprechendes Ressort einzurichten. Wir sind uns auch einig, daß das Ressort in seiner Bedeutung ausgebaut werden muß. Aber das nach einem Jahr als Endprodukt zu verlangen, halte ich schon für ein bißchen überbetont.In diesem Zusammenhang sei mir bereits eine im Haushaltsausschuß vorgetragene Bemerkung gestattet: Institute, die aus dem Einzelplan 15 Zuschüsse für ihre Arbeit erhalten, werden häufig auch aus anderen Einzeletats bezuschußt. Unter dem Gesichtspunkt der Haushaltsklarheit und -wahrheit ist ein solches Verfahren nicht einsichtig. Deshalb unterstreiche ich an dieser Stelle noch einmal den Auftrag des Haushaltsausschusses an die Bundesregierung, diese Fälle für die Erstellung des Haushaltsplanes 1993 darzustellen und Vorschläge für eine einheitliche Ausweisung der entsprechenden Mittel in einem Etat vorzulegen.Die Beratungen für den Haushaltsplan 1992 standen auch im Bereich des Gesundheitswesens unter dem Gesichtspunkt der Einbeziehung der neuen Bundesländer. Das, Frau Titze, haben Sie total ausgelassen. Dies ist mir als einem Abgeordneten, der von dort kommt, aber besonders wichtig. Da bisher ein Abschluß eines Jahresetats für das größere Deutschland noch nicht vorliegt, sind einzelne Ansätze nach wie vor schwer berechenbar. Das gilt insbesondere für solche Ansätze, die ausschließlich Vorhaben in den neuen Ländern betreffen.In diesem Zusammenhang möchte ich besonders auf das Notprogramm Trinkwasser und auf die Modellvorhaben und den Erfahrungsaustausch im Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern verweisen. Hier hatte die Haushaltsrechnung des Jahres 1991 zu Beginn der Haushaltsberatungen wenig Anhaltspunkte für eine Etatfestsetzung geboten. In der Bereinigungssitzung ergaben sich dann deutlichere Anhaltspunkte, so daß der Haushaltsausschuß beim Notprogramm Trinkwasser, einer sehr wichtigen Angelegenheit in den neuen Ländern, eine qualifizierte Sperre in Höhe von 2 Millionen DM aufgehoben undden Gesamtansatz für 1992 um 1 Million DM angehoben hat.
Der Bund will mit diesem Notprogramm Untersuchungen ermöglichen, wohl wissend, daß die Aufgabe eigentlich Angelegenheit der Länder ist. Auch hier wurde wieder etwas beim Bund angemahnt, was die Länder zu tun haben. Daß das die Länder im Osten nicht so können, ist uns klar. Von den alten Bundesländern aber erwarte ich, daß sie ihren Aufgaben gerecht werden, Frau Kollegin Titze.
Im Bereich der Modellmaßnahmen und des Erfahrungsaustausches im Beitrittsgebiet ist der geplante Ansatz um 1,5 Millionen DM auf 8,5 Millionen DM abgesenkt worden. Diese Absenkung hat ihren Grund darin, daß die Modellmaßnahmen erst anlaufen, der Haushaltsausschuß bei der nächsten Etatberatung erneut mit diesen Themen befassen und sich auch sehr genau ansehen wird, was da geschieht.Aus diesem Grund sind auch die Verpflichtungsermächtigungen für die Folgejahre zwar in der geplanten Höhe ausgewiesen; aber wir werden darauf achten, ob das Geld, das dort vorgesehen ist, vernünftig eingesetzt wird. Bisher scheint es so; denn aus diesem Ansatz werden insbesondere die Krankenhausgesell-schalten der jungen Bundesländer und das Kur- und Bäderwesen, das in diesen Ländern in einem beklagenswerten Zustand war, gefördert.Eine besondere Bedeutung bei den Beratungen hatte die Übernahme von zwei Instituten der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften der ehemaligen DDR; ich meine das Institut für bakterielle Tierseuchenforschung in Jena sowie das Institut für Veterinär- und Ökomikrobiologie und Immunologie in Dessau. Das hat Frau Kollegin Titze, wohl in der Eile, total ausgelassen.
Diesen beiden Einrichtungen aber kommt eine sehr hohe Qualität und ein besonderer Stellenwert auch in den beiden Städten zu. Ich möchte deshalb hier besonders erwähnen, daß diese Einrichtungen jetzt erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden sollen, meine Damen und Herren. Das ist ein wichtiger Ansatz.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein Thema eingehen, das mir außerordentlich wesentlich erscheint, weil es eine Bedeutung in den neuen Ländern hat. Ich denke noch an die Kassandra-Rufe, die hier bei der Erörterung der Gesundheitspolitik laut geworden sind, als es darum ging, die Polikliniken im Osten auf ein normales Gesundheitswesen umzustellen, das von niedergelassenen Ärzten und Zahnärzten getragen wird.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5243
Arnulf Kriedner— Frau Kollegin Fischer, Ihr Lachen zeigt wahrscheinlich ein besonders schlechtes Gewissen in diesem Zusammenhang.
Ich kann nur sagen, daß diese Umstellung im großen und ganzen gelungen ist und daß die Qualität des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern durch vernünftige Praxen ganz erheblich angestiegen ist. Wer das nicht glauben will, der sehe es sich vor Ort an. Ich habe Gott sei Dank die Erfahrung gemacht; das ist eine große und wegweisende Leistung.
Ich kann nur alle die bestärken, die Ärzte und Zahnärzte und die anderen im Gesundheitswesen Tätigen, die unter schwierigen Umständen diese Leistung in einer Rekordzeit vollbracht haben. Das ist eine Leistung, das ist auch ein hohes Risiko. Deshalb würde ich nur sehr schweren Herzens darangehen, Ärzte deswegen zu kritisieren, weil sie einen hohen Umsatz, der noch nicht mit einem hohen Einkommen gleichbedeutend ist, haben.
Ich will auf das Thema eingehen, das Frau Kollegin Titze im besonderen angesprochen hat, nämlich auf das Thema Aids. Frau Kollegin Titze, ich stimme mit Ihnen überein: Das Thema ist nicht vom Tisch. Im Gegenteil, es gibt ja die Meldung, daß die Zahl der Aids-Infektionen weiter ansteigt.
— Die weiß das sehr gut. Sie wird dazu auch ganz sicher etwas sagen.Ich sage an der Stelle nur eines: Es ist natürlich unfair, wenn Sie die Absenkung der Mittel, über die sowohl der Gesundheitsausschuß als auch der Haushaltsausschuß lange debattiert hat, einfach als eine Tatsache hinstellen, obwohl Sie genau wissen, daß die Aufgabe weitergeführt wird. Sie wird nur dort weitergeführt, wo sie hingehört, nämlich bei den Ländern.
Es ist deshalb gerechtfertigt, so zu verfahren, wie hier verfahren worden ist.
— Frau Kollegin Titze, ich gebe Ihnen in einem recht, und wenn die Zwischenfrage das betreffen sollte, können Sie sie sich ersparen: Ich halte die Deutsche AIDS-Hilfe in Berlin für eine ganz wichtige Angelegenheit.
Ich bin froh und stimme dem zu, daß sie mit Randgruppen arbeitet, bei denen der Staat ein schwieriges Arbeiten hat. Da stimmen wir voll überein. Dort wird eine hochqualifizierte Arbeit geleistet. Ich habe mir das vor Ort angesehen. Wissen Sie, ich bin da nicht so pingelig. Irgendein Plakat, das mich persönlich vielleicht stören mag, ist dort möglicherweise notwendig. Deshalb sage ich und rege an, daß wir überprüfen sollten, ob diese Einrichtung nicht aus der projektbezogenen Förderung in eine institutionelle Förderung überführt werden sollte. Ich würde mich dafür aussprechen und bitte ganz herzlich, Frau Ministerin Hasselfeldt, dies noch einmal zu prüfen. Wir haben das ja schon einmal in einem persönlichen Gespräch besprochen.
Kollege Kriedner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Titze?
Ja.
Bitte, Frau Kollegin.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Kriedner, sind Sie nicht der Meinung, daß es angesichts der Tatsache, daß die Anzahl der Aids-Infektionen weiter ansteigt, in höchstem Maße unverantwortlich ist, die Förderung durch Bundesmittel zurückzufahren mit dem Verweis, die Länder seien jetzt dran, bevor man durch Verhandlungen klar geregelt hat, daß die Länder willens und in der Lage sind, die Finanzierung zu übernehmen?
Frau Kollegin Titze, ich darf Sie nur daran erinnern, daß diese Frage in Gesprächen zwischen dem Bundesgesundheitsministerium und den alten Ländern geregelt ist und daß diese Sache weitergeführt wird.
— Ich weiß ja, daß es im Saarland und in Bremen entsprechende Schwierigkeiten gibt. Die gibt es dort ja auch an anderer Stelle.
Ich sage noch einmal: Mir kommt es darauf an, daß die 50 Millionen DM vorwiegend in den neuen Bundesländern eingesetzt werden, wo es im Bereich Aids überhaupt noch keine Einrichtungen gibt, die richtig tragen. Ich sage, dafür ist das Geld da.Ich weise in diesem Zusammenhang auf etwas anderes hin. Das war eine Anregung von mir im Haushaltsausschuß, der sie Gott sei Dank aufgegriffen hat. Wir haben aus den Beschäftigungspositionen beim Aidstelefon jetzt feste Stellen machen können. Damit haben wir diese für die Aidsinformation so wichtige Einrichtung als Dauereinrichtung ausweisen können. Das halte ich für einen ganz wichtigen Fortschritt, nachdem es so lange gedauert hat.
— Auch das wird vielleicht noch zu regeln sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen. Die Haushaltsberatungen
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5244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Arnulf Kriednerstanden auch im Bereich des Gesundheitswesens unter dem Erfordernis der strikten Beachtung der Sparsamkeit; das soll hier gar nicht verschwiegen werden. Dieses Erfordernis hat an einigen Stellen zweifelsfrei zu Einschränkungen geführt, die jedoch nach meiner Ansicht die Arbeit des Ministeriums insgesamt nicht beeinträchtigen können; vielmehr sind bei den Beratungen gesundheitspolitische Schwerpunkte gesetzt worden, die eine zielgerichtete Politik auch weiterhin gewährleisten. Dies betrifft besonders die Arbeit in den neuen Bundesländern und die Fortführung der wichtigen und notwendigen Maßnahmen bei der Aidsbekämpfung, im Bereich der Krebsbekämpfungsmaßnahmen, bei den chronisch Kranken und — Frau Kollegin Titze, im Widerspruch zu Ihnen — auch bei der psychiatrischen Versorgung. Der zu beschließende Haushalt eröffnet damit die Möglichkeit, eine moderne und auch zielgerichtete Gesundheitspolitik zu betreiben und gleichzeitig die notwendige Angleichung der Versorgung in den neuen Ländern zu gewährleisten. Deshalb bitte ich Sie, dem vorgelegten Entwurf zum Einzelplan 15 Ihre Zustimmung zu geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Ursula Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß die Opposition den Haushalt ablehnt, gehört zu den Spielregeln.
— Wenn Sie einen besseren Haushalt machen würden, würde ich ja sogar zustimmen. — Doch bleibt es ihr vorbehalten, bei dieser Gelegenheit Grundsätzliches zur Regierungspolitik anzumerken.Frau Hasselfeldt hat in ihrer letzten Rede zum Haushalt sehr richtig und aus unserer Sicht auch sehr schön klar und deutlich gesagt,
daß der Gesundheitsetat kein Subventionsetat ist und daß es unter dieser Regierung keinen Weg zu staatlichen Gesundheitsdiensten geben wird, was schlicht bedeutet, für die Gesundheit, die — übrigens auch für Frau Hasselfeldt — gesundes Leben, gesunde Ernährung, sogar gesunde Arbeit und gesunde Umwelt bedeutet, keine höheren Mittel durch den Bund zur Verfügung zu stellen. Und nicht nur das! Es geht um Einsparungen, Einsparungen, die durch das Gesundheits-Reformgesetz — ich betone, durch ein Gesetz — erzielt werden sollen. Da stellt sich doch wohl zu Recht die Frage: Wozu denn eine Kommission bilden, die prüfen soll, wo denn nun wirklich Einsparungen im Gesundheitswesen möglich wären? Die bisher erzielten Erfolge heißen ja schlicht Umverteilung der Kosten auf den privaten Geldbeutel von Patienten und allen Kassenbeitragszahlern. Dies ist wiederum Sozialabbau für Kranke und Versicherte, wobei die strukturellen Ursachen und Quellen für die ansteigenden Kosten nicht beachtet werden. Da liegen die eigentlichen Gründe für die Kostenexplosion.Die FDP ist in ihrer politischen Grundaussage noch klarer. Sie will eine erhöhte Selbstbeteiligung, z. B. 10 % Selbstbeteiligung für Kassenpatienten bei jedem Arztbesuch, was ja schon als Morbus Menzel durch die Presse geht und was für uns wahrlich keine Leistung der so oft beschworenen Solidargemeinschaft darstellt, da dies natürlich wieder einmal — ich betone es immer wieder — chronisch Kranke, Alte und auch Behinderte in starkem Maße betrifft. Sie will auch weitere Zuzahlungen sowie die private Risikoversicherung für den Pflegefall und geht mit Herrn Menzel sogar so weit, auch noch die Sondersteuer für Gesunde einführen zu wollen. Ich habe den Verdacht, daß dann wenigstens die Ärzte einen regen Zulauf haben. Bei Kürzungen im Gesundheitsetat um 10,6 % bei der Vor- und Fürsorgepflicht wollen wir den Staat nicht mehr in die Verantwortung nehmen, was bei ausgewählten Krankheiten manchmal auch klappt.Hier möchte ich auch — um es ein bißchen lustig zu machen -- auf einen anderen Aspekt in der Aids-Hilfe eingehen. Ich will auf unsere Kleine Anfrage eingehen, die Großzügigkeit der Bundesregierung darstellen und den Umgang mit Haushaltsmitteln im Bereich Gesundheit — oder besser: Krankheit — auch einmal besonders hervorheben: Nicht nur, daß die Mittel in bezug auf Aids derart darstisch gesenkt worden sind; es gibt auch noch ein anderes Bonbon. Der Bund stellt nämlich dem Bundesministerium der Verteidigung im Zusammenhang mit Aids 4,4 Millionen DM zur Verfügung. Im Vergleich dazu erhält die Deutsche Aids-Hilfe ganze 6,8 Millionen DM. Nun können ja die Institutionen wahrlich schlecht miteinander verglichen werden. Das sehe ich ein. Aber die Hardthöhe gibt — bis auf einen Betrag von ca. 50 000 DM — die 4,4 Millionen DM für ambulante und stationäre Behandlung sowie die Diagnostik HIV-positiver und Aids-erkrankter Soldaten aus. Die Anzahl der Patienten wird mit maximal 35 pro Jahr angegeben. Seit 1985 gab es in der Bundeswehr 168 Fälle. Das sind wahrlich nicht sehr viele.
Die Deutsche Aids-Hilfe betreut derzeit mehr als 7 000 HIV-Infizierte und Kranke. Die Behandlungskosten werden mit 80 000 bis 100 000 DM pro Patient bei der Bundeswehr veranschlagt. Die mitgeteilten Daten und Zahlen widersprechen leider nur der Information, daß die Bundeswehr gar nicht weiß, ob überhaupt die bisher seit 1985 diagnostizierten 168 Fälle noch beim Bund dienen. Ich möchte einmal aus der Antwort des BMVg zitieren:Seit Beginn der Aids-Diagnostik in der Bundeswehr im Jahre 1985 wurden bis zum Stichtag am 30. Juni 1991 insgesamt 168 HIV-infizierte und Aids-erkrankte Soldaten diagnostiziert. Wie viele dieser Infizierten und Erkrankten zur Zeit als Soldat Dienst tun, kann nicht gesagt werden, da dem Bundesministerium der Verteidigung wegen des anonymen Meldeverfahrens und der kumulativen Statistik nicht bekannt ist, welche Soldaten dieser Gruppe seit Diagnosestellung aus dem Dienstverhältnis ausgeschieden und welche noch im Dienstverhältnis stehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5245
Dr. Ursula FischerWer wird eigentlich hier von wem behandelt? Also noch einmal:
4,4 Millionen DM pro Jahr für die Diagnostik und Therapie von 35 Patienten pro Jahr beim Bund. Da kann man doch allen HIV-Positiven wirklich nur empfehlen, sich freiwillig beim Bund zu bewerben, da nur dort die bessere, auf alle Fälle aber teuerste medizinische Versorgung gewährleistet sein müßte.
— Ja, angesichts dessen kann man nur zynisch werden, Herr Kollege.Oder die bereitgestellten Mittel werden eben nicht für die 35 anonym getesteten HIV-positiv Diagnostizierten ausgegeben. Dann frage ich: Wozu aber dann? Welche Forschung wird eventuell unter diesem Posten betrieben? Wir werden wohl zum Wohle aller Patienten in dieser Bundesrepublik weiter nachfragen müssen, um allen gleichgute Behandlung zukommen zu lassen, nicht nur den eventuellen Patienten bei der Bundeswehr. Wir werden den Haushalt ablehnen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Dieter Thomae das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt 4 bis 5 Milliarden DM. Dies ist eine Alarmglocke. Wir sollten aber aufhören, die Situation lauthals zu beklagen. Wir sollten anpakken und versuchen, dies zu beseitigen.
Ohne die Gesundheitsreform — dies möchte ich feststellen, und das sollten sich auch hier und dort die erwachenden Kritiker dieser Reform in ihre Taschenrechner eingeben — wäre dieses Defizit erheblich höher.
Wir hätten dann die Krankenversicherungsbeiträge schon in diesem Jahr nennenswert erhöhen müssen. Nur Dank der Rücklagen aus der Gesundheitsstrukturreform blieben die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung stabil und werden es in diesem Jahr auch noch weitgehend bleiben.Es droht aber die Entwicklung, daß die Ausgaben schneller steigen als die Einnahmen. Wenn uns also nicht zügig eine wirksame Begrenzung des Kostenanstiegs gelingt, werden wir schon bald im Hinblick aufveränderte Altersstrukturen, im Hinblick auf die Medizintechnik und auf mehr Ärzte nennenswerte Belastungen im Gesundheitswesen erfahren.Meine Damen und Herren, wer in dieser Situation dafür plädiert, zumindest über einen begrenzten Zeitraum hinweg die Beitragssätze einzufrieren oder eine Obergrenze festzulegen, der muß in einem gesundheitspolitischen Irrweg enden.
Solange wir nicht gegen die Ursachen der ständigen Kostensteigerungen wirksam angehen, läßt sich der Anstieg nicht vermeiden. Oder soll etwa mit einem Einfrieren der Beiträge gar eine Rationierung der medizinischen Leistungen immer dann erfolgen, wenn die vorhandenen Gelder aufgebraucht sind? Das kann nicht sein! Dann würden Schlagworte erscheinen wie „Wartelisten" und „Zwei-Klassen-Medizin". Vor allen Dingen würden die sozial-schwachen Patienten davon besonders betroffen.Ich sage — und schließe mich daher den Äußerungen des Sachverständigenrates an — : Eine gesetzliche Festschreibung des Beitragssatzes, also im Grunde ein Lohn- oder Preisstopp, ist ungeeignet, die Mengen- und Preisentwicklung in den Griff zu bekommen.Meine Damen und Herren, wenn wir nicht endgültig Schiffbruch erleiden wollen, können wir also nicht umhin, mutige Schritte zu ergreifen und den Kurs zu ändern. Eine nachhaltige Verbesserung der Effizienz in unserem Gesundheitswesen ist möglich. Wir müssen sie nur in Angriff nehmen.
Wir müssen vor allen Dingen die Krankenhausreform anpacken.
Wir müssen fernerhin die Organisationsreform anpacken, und — meine Damen und Herren, das sage ich auch — wir wollen auch Anreize in dieses neue System einbauen.Leider ist meine Redezeit sehr kurz. Ich kann deshalb nur Stichworte nennen: Beim Krankenhaus müssen wir von dem pauschalen Pflegesatz weg. Wir müssen den pauschalen Pflegesatz in drei unterschiedliche Teile einteilen, und mit diesen drei unterschiedlichen Teilen können wir Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern ermöglichen und Möglichkeiten der Sonderentgelte und der Fallpauschale schaffen.Wir wollen mit aller Macht diesen Weg gehen. Wir wollen mehr wirtschaftliche Anreize ins Krankenhaus bringen. Wir wollen auch, daß unwirtschaftliche Krankenhäuser, die Verluste machen, eventuell aus dem Markt ausscheiden müssen. Wir wollen vor allen Dingen aber auch, daß Gewinne in den Krankenhäusern erwirtschaftet werden und daß diese Gewinne in den Krankenhäusern investiert werden.
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5246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Dieter ThomaeMeine Damen und Herren, Sonderentgelte schaffen auch die Möglichkeit, Vergleiche zwischen Krankenhaus und ambulanter Versorgung anzustellen. Auch hier haben wir eine Chance, nennenswert Gelder einzusparen.
Wir begrüßen natürlich — auch wenn es jetzt unter Handlungsdruck geschieht — , daß die Bereitschaft in unserem Lande wächst, verstärkt über Steuerungsinstrumente der Selbstbeteiligung nachzudenken. Ich begrüße die Stellungnahme des Gutachters, und ich würde mich freuen, wenn alle Skeptiker, aber auch Kritiker — auch auf der Regierungsbank — diese Argumente über die Selbstbeteiligung einmal genau nachlesen und darüber nachdenken würden, ob diese Steuerungsinstrumente nicht doch eingebaut werden können; denn, meine Damen und Herren, ich glaube, dann, wenn die Eigenverantwortung nicht gestärkt wird, werden wir das System nicht in Grenzen halten. Dazu gehören Bonussysteme, Instrumente der Beitragsrückgewährung, aber auch Instrumente der Kostenerstattung.
Meine Damen und Herren, leider läuft meine Redezeit ab. Meine Vorredner waren etwas großzügig, ich will fair bleiben. Ich bedanke mich, und ich bitte, diese Gedanken der FDP mit in die Gesundheitsreform einzubeziehen. Ich denke, es ist Zeit, es ist notwendig. Packen wir's an! — Vielen Dank.*)
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Bundesministerin für Gesundheit, Frau Gerda Hasselfeldt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesundheitsetat 1992 ist der praktische Beweis für ein seit Jahrzehnten erfolgreiches Gesundheitssystem.
Wir beraten eben nicht über einen staatlichen Subventionshaushalt, Frau Fischer!
Die Ausgaben konzentrieren sich im wesentlichen auf Aufklärungsmaßnahmen im Bereich der Gesundheitsvorsorge, auf Modellmaßnahmen für die Psychiatrie, in der Krebsbekämpfung und bei chronischen Erkrankungen, auf die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in den neuen Ländern und nicht zuletzt auf die Drogen- und Aidsbekämpfung, wobei ich mich — auch dies will ich deutlich machen — nachdrücklich dafür einsetze, daß wir unser finanzielles Engagement in diesen Bereichen auch über das Jahr 1994 hinaus fortsetzen werden.
Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß dies grundsätzlich eine Aufgabe der Länder ist und daß jedes Land in seinem Bereich diese Verantwortung auch wahrnehmen muß.
*) Siehe auch Anlage 3
Diese Ausgabenstruktur belegt, daß unser freiheitliches Gesundheitssystem wirksamer, humaner und erfolgreicher ist als alle anderen Systeme.
Ich will hier schon einmal deutlich machen: In keinem anderen Land ist die Vorsorge und ist die Versorgung der Kranken so gut und so umfangreich wie bei uns.
Wir haben ein Gesundheitssystem, auf dessen Vorteile die Bürger der neuen Bundesländer mehr als 40 Jahre verzichten mußten. Wir werden dafür sorgen, daß auch sie jetzt endlich die medizinischen Leistungen in der Qualität, auf dem Niveau, in dem Umfang erhalten, in dem die Menschen im Westen dies seit Jahr und Tag in Anspruch nehmen konnten.
Die Umstrukturierung und Qualitätsverbesserung in den neuen Ländern ist schneller vorangegangen, als dies alle erwartet haben. Ich möchte bei dieser Gelegenheit allen, die daran beteiligt waren, was nicht einfach war und was nicht nur Aufgabe der Politik war, allen, den Ärzten, den Apothekern, den Bürgern insgesamt ganz herzlich für den Mut und das Engagement bei dieser Umstrukturierung danken.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Fischer?
Bitte.
Bitte, Frau Dr. Fischer.
Frau Minister Hasselfeldt, wenn Sie die ganzen Vorteile für die neuen Bundesländer so betonen, frage ich Sie an dieser stelle — Sie haben sicher den „Spiegel" dieser Woche gelesen — : Warum wünschen sich 85 % der Menschen im Osten Polikliniken?
Wenn nach einer seriösen Umfrage mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in den neuen Ländern schon vor Monaten bereit waren, zu den niedergelassenen Ärzten zu gehen,
dann können Sie deutlich sagen, wo die Prioritäten der Menschen liegen, wie sich die Qualitätssituation verbessert hat.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5247
Bundesministerin Gerda HasselfeldtMeine Damen und Herren, die insgesamt positive Bilanz darf niemand leichtfertig in Frage stellen. Ich betone dies deshalb so nachdrücklich, weil die aktuelle gesundheitspolitische Debatte die wirkliche Lage nicht widerspiegelt und der wirklichen Lage auch nicht gerecht wird. Es ist Tatsache, daß wir ein flächendeckendes Netz medizinischer Versorgung von hoher Qualität haben und daß es niemanden gibt, der im Krankheitsfall darauf verzichten müßte, daß niemandem notwendige Medikamente vorenthalten werden, daß keiner von uns, wenn er krank wird, auf sein Gehalt verzichten muß und daß unsere Krankenhäuser und medizinischen Praxen in aller Regel technisch hervorragend ausgestattet sind. Tatsache ist schließlich auch, daß alle diese Leistungen schlicht und einfach über den Krankenschein und nur in wenigen Fällen mit direkter Selbstbeteiligung finanziert werden.
Jeder in unserem Land, egal, ob er jung oder alt ist, egal, ob er gut verdient oder wenig verdient, hat gleichen Anspruch auf das hohe Niveau dieses Systems der gesundheitlichen Versorgung.
Das alles charakterisiert ein Versorgungssystem, das ganz offensichtlich nur der Opposition nicht genügt, den Bürgern jedoch nichts vorenthält und deshalb von vielen ausländischen Experten immer wieder gelobt wird.
Darauf ist auch vorhin schon zu Recht hingewiesen worden.Nun will ich nicht verdecken, daß es auch Mängel und auch unerfüllte Wünsche gibt. Vor welchen Schwierigkeiten, vor welchen Problemen wir derzeit stehen, das hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem gestern vorgelegten Sondergutachten dargestellt. Völlig richtig ist zum Beispiel das Urteil der Experten, daß ein entscheidender Schlüssel zur Ausgabenstabilisierung in der Begrenzung medizinisch nicht begründeter Leistungen liegt. Das ist zugleich der Grund, warum die Instrumente der Gesundheitsreform zur Mengenbegrenzung konsequent umgesetzt werden müssen, insbesondere die Wirtschaftlichkeitsprüfung und die Richtgrößen für ärztlich verordnete Leistungen. Wir können auf diese Maßnahmen, die grundsätzlich mit dazu beitragen, die Beitragssätze — und zwar im Interesse der Versicherten und der Arbeitgeber — so lange wie möglich stabil zu halten, nicht verzichten.All diesen — gewiß nicht leichten — Herausforderungen stellen wir uns. Die gesundheitspolitische Arbeitsgruppe der Koalitionsparteien ist rechtzeitig ins Leben gerufen worden. Wir werden unseren Auftrag mit aller gebotenen Sorgfalt erfüllen. Daran werden uns auch die in den letzten Tagen und Wochen inszenierten Störmanöver nicht hindern. Wer glaubt, meine Damen und Herren, diese Arbeit durch Spekulation oder durch Indiskretion stören zu können, der wird ebenso scheitern wie diejenigen, die schon bei derbloßen Erwähnung des Wortes „Wirtschaftlichkeit" in rhetorische Gefechtspositionen einrücken.
Die Bürger können davon ausgehen, daß sie rechtzeitig und ausführlich über die notwendigen Maßnahmen unterrichtet werden. Aber ich mache auch deutlich: Verantwortungslose Falschmeldungen und damit Verunsicherung der Bevölkerung sind keine Mittel fairer politischer Entscheidungsfindung.
Dazu, liebe Frau Kollegin Titze, möchte ich schon auf das zurückkommen, was Sie vorhin gesagt haben;
denn Sie haben genau das gemacht, was wiederum mit zur Verunsicherung der Bevölkerung beiträgt. Sie haben nämlich nur halb zitiert und den Kernsatz meiner Ausführungen zur Gesundheitsabgabe nicht genannt.
Ich werde dies deshalb mit der gebotenen Kürze nachholen. Ich habe gesagt: Andererseits ist eine allgemeine Gesundheitsabgabe kaum praktikabel und gesundheitspolitisch nicht vernünftig; in keinem Fall erfüllt sie allein das Ziel, die steigenden Gesundheitsausgaben zu bremsen.
Wenn man aus diesen Worten nicht entnehmen kann, daß ich von diesem ganzen Zinnober nichts, aber auch gar nichts halte, dann, so muß ich sagen, muß man noch ein bißchen Nachhilfeunterricht nehmen.
Daß das Gebot redlicher Argumentation immer wieder ins Hintertreffen gerät, belegt nicht zuletzt die Opposition. Lassen Sie mich dazu einmal deutlich machen: Angesichts Ihrer Mißerfolge in den 70er Jahren in der Gesundheitspolitik müßten Sie heute auch und gerade in der Gesundheitspolitik schweigen. Haben Sie denn vergessen, daß sich unter Ihrer Verantwortung allein die Ausgaben für die Krankenhauspflege jährlich um bis zu 25 % erhöht haben?
Haben Sie denn vergessen, daß sich der Beitragssatz allein zwischen 1971 und 1976 von 8,1 auf 11,3 % erhöht hat?
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5248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Bundesministerin Gerda Hasselfeldt— Ich kann ja verstehen, meine Kolleginnen und Kollegen, daß dies zu Unruhe führt.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Ja, bitte sehr.
Frau Ministerin, da Sie nun die angeblichen Erfolge
der sogenannten Gesundheitsreform herausstellen
und von angeblichen Beitragssenkungen reden, möchte ich Sie doch einmal fragen: Wie weit gehen diese Beitragssenkungen auf Umschichtungen von der Solidargemeinschaft hin zum Geldbeutel des einzelnen durch Leistungskürzungen oder durch höhere Selbstbeteiligung bei den Versicherten zurück?
Und ist Ihnen entgangen, Frau Ministerin — das geht ja aus Ihren Pressemeldungen hervor —, daß der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Jahr ein Defizit von 7 Milliarden DM droht? Können Sie mir erklären, woher das kommt, wenn ihre Gesundheitsreform angeblich so ein Erfolg ist?
Erstens, Herr Kollege Kirschner, habe ich gerade nicht von den Erfolgen der Gesundheitsreform gesprochen, obwohl da vieles zu sagen wäre, und auch nicht von dem, was ich an Beitragssatzsenkungen noch vorhabe, sondern ich habe von den Mißerfolgen Ihrer Regierungszeit gesprochen. Das war Punkt 1.
Daß Sie davon gerne durch Ihre Frage ablenken wollten, kann ich ja verstehen. Aber trotzdem bleibt die Tatsache bestehen.
Zweitens haben Sie mit Ihrer Frage genau das gemacht, was ich vorhin der Opposition vorgeworfen habe, nämlich durch Fehlinterpretation, durch Halbinformation und durch Halbwahrheiten die Bevölkerung wieder verunsichert.
Ich will Ihre sogenannten gesundheitspolitischen Reformvorschläge, die da gelegentlich auftauchen, nicht ganz unter den Tisch kehren.
Allerdings dürfen Sie nicht enttäuscht sein, liebe Kollegin, wenn wir sie nicht in die Tat umsetzen. Das ist,
offen gesagt, wirklich sehr schwierig, wenn nicht so-
gar unmöglich. Warum? — Das hat Ihr sozialpolitischer Sprecher, der Kollege Dreßler, vor einigen Wochen im „Bericht aus Bonn" persönlich erklärt — ich zitiere — :
Wir müssen ein Strukturreformkonzept haben, d. h. Strukturen aufbrechen, und das bedeutet auch wettbewerbsähnliche Elemente, nicht den totalen Wettbewerb, aber wettbewerbsähnliche Elemente . . .
Ich denke, wir alle können zustimmen, daß selbst bei noch so gutem Willen und noch so genauem Hinhören hier alles andere als irgendeine gesundheitspolitische Grundlage zu erkennen ist. Wenn dies Ihr Konzept ist, muß ich sagen: Das sind nichts anderes als Sprechblasen, wie im übrigen auch das, was in diesen Papieren enthalten ist.
Auch die Kollegin Titze hat vorhin in ihrem Beitrag ein paar Anregungen gebracht, Anregungen, die ausschließlich, liebe Frau Kollegin, die eine Gruppe im Gesundheitswesen gegen die andere Gruppe ausspielen. Dazu gehört nicht nur nicht viel Phantasie, sondern dazu gehört auch ein Stück Glaube an etwas, was man nicht realisieren kann und was auch unvernünftig ist.
Glauben Sie denn im Ernst, daß Sie dadurch, daß Sie eine Gruppe gegen die andere ausspielen, daß Sie der einen Gruppe etwas vorwerfen, wenn Sie bei der anderen sind, damit die Situation verbessern können, die Probleme lösen können? — Ich sage Ihnen: Damit mit Sicherheit nicht.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Ja.
Bitte, Kollege Dreßler.
Frau Hasselfeldt, nachdem Sie mich völlig korrekt zitiert haben und der von Ihnen soeben bereits in die Debatte eingeführte Sachverständigenrat meine Position in dem Ihnen ja bekannten Gutachten ausdrücklich bestätigt hat, darf ich daraus entnehmen, daß Sie auch dem Sachverständigenrat Sprechblasen vorwerfen?
Lieber Herr Kollege Dreßler, das, was ich zitiert habe, mit den Aussagen des Sachverständigenrates zu vergleichen, das ist allerdings sehr, sehr weit hergeholt.
Ich kann es Ihnen noch einmal vorlesen, wenn Sie das noch einmal erleben wollen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5249
Ja.
Bitte, Kollege Dreßler.
Frau Hasselfeldt, darf ich jetzt aus Ihrer Antwort entnehmen, daß Sie bestreiten, daß der Sachverständigenrat die Elemente, von denen auch ich gesprochen habe, gefordert hat?
So wie Sie das gefordert haben „Strukturen aufbrechen, ... das bedeutet auch wettbewerbsähnliche Elemente, nicht den totalen Wettbewerb, aber wettbewerbsähnliche Elemente ... ", läßt mich das fragen:
Was wollen Sie denn? Wollen Sie Wettbewerb? Wollen Sie totalen Wettbewerb oder wettbewerbsähnliche Elemente? Sie eierten hier auf einer Ebene herum, auf der nichts Konkretes, aber auch gar nichts Konkretes gesagt wurde.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Titze? — Bitte sehr, Frau Kollegin Titze.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Danke.
Frau Hasselfeldt, Sie haben vorhin gesagt, Bernerkungen wie die in meiner Rede geäußerten
— das kommt noch; warten Sie es ab; Sie von der schwarzen Seite sind extrem ungeduldig — würden Unruhe schaffen. Letzte Woche war ich einen Tag lang beim Bundesgesundheitsamt, beim Deutschen Aids-Zentrum und beim RKI-Institut. Auf meine Frage, welche Rechtfertigung es für die Verabreichung des HIV-infizierten Blutes an die Bluter gegegen habe, wurde mir geantwortet: Na ja, wissen Sie, Frau Titze, sonst wären die eben eher gestorben. Hätte man die ohne Blut einfach sterben lassen können? Ich frage Sie: Halten Sie das für sinnvoller?
Liebe Frau Titze, wenn ich Ihnen vorhin gesagt habe, daß Sie mit Ihren Äußerungen und Interpretationen — beispielsweise auch diese Halbzitate aus der Gesundheitsabgabe — für Unsicherheit in der Bevölkerung sorgen, weil Sie nämlich Halbwahrheiten verbreiten, dann bitte ich Sie doch, dieses nicht mit der Aids-Problematik zu verbinden
und schon gar nicht mit Äußerungen von Mitarbeitern des Bundesgesundheitsamtes, die hier nicht anwesend sind und deshalb das, was Sie gesagt haben, Ihnen weder bestätigen noch dementieren können. So können wir miteinander nicht umgehen.
— Wir lernen das Zuhören auch noch, Frau Titze.
Keines der vorhandenen aktuellen Probleme darf uns daran hindern, unserem Gesundheitswesen mit Stolz zu begegnen. Wir stellen uns den neuen Entwicklungen, den daraus resultierenden Problemen und den notwendigen Veränderungen. Dabei gilt in jedem Fall eines: Alle Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausgabenflut im Gesundheitswesen beitragen werden, werden drei grundsätzliche Bedingungen erfüllen:
Erstens. Sie werden für alle Leistungserbringer wirtschaftlich angemessen sein.
Zweitens. Sie werden für die Arbeitgeber wirtschaftlich tragbar sein.
Drittens. Sie werden für alle Versicherten sozial verträglich sein.
— Und schon wieder dieser Einwurf, Herr Vogel. Daß bewertet wird, daß interpretiert wird, daß falsch zitiert wird,
trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung und zu einem schlimmen Klima in unserer politischen Landschaft bei.
Ich möchte den Mitgliedern des Haushaltsausschusses für die konstruktive Beratung ganz herzlich danken.
Ich darf Sie bitten, die Gesundheitspolitik der Bundesregierung auch weiterhin zu unterstützen und dem Einzelplan 15 zuzustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 15 in der Ausschußfassung? — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 15 ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der .Gruppe Bündnis 90/GRÜNE sowie der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.
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5250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Vizepräsident Helmuth BeckerMeine sehr verehrten Damen und Herren, interfraktionell ist besprochen worden, daß wir jetzt Tagesordnungspunkt VI behandeln.Ich rufe Tagesordnungspunkt VI auf:Beratung der Beschlußempfehlung des Ältestenratesa) zu dem Antrag der Fraktion der SPDWeiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland— Einsetzung eines Verfassungsrates —b) zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNENVom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung— Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates —c) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP— Einsetzung eines Gemeinsamen Verfassungsausschusses —— Drucksachen 12/415, 12/563, 12/567, 12/787, 12/1590 —Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 12/1670 vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich unserem Kollegen Dr. Paul Laufs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten zum zweiten Mal die Einsetzung eines gemeinsamen Ausschusses von Bundestag und Bundesrat zur Prüfung von Verfassungsänderungen. Wir sind in der Pflicht, den Auftrag des Einigungsvertrages zu erfüllen, der in seinem Art. 5 den gesetzgebenden Körperschaften des vereinigten Deutschland empfiehlt, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Mehr als ein Jahr ist inzwischen verstrichen, und es ist Zeit, diese Aufgabe endlich anzupacken.Deutschland hat seine volle Souveränität wiedergewonnen, und seine Einbindung in eine Europäische Politische Union und in eine neugestaltete Sicherheits- und Friedensordnung der Völker bedarf der verfassungsrechtlichen Anpassung unseres Grundgesetzes. Hier sehen wir einen Schwerpunkt unseres Auftrags.Die deutsche Wiedervereinigung hat die Verfassungsdiskussion in Gang gesetzt. Dabei war der Blick vor allem auf die innere Lage gerichtet. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftsordnung im Osten kam bei vielen Menschen der Gedanke auf, diesem Umbruch müsse ein Neuanfang folgen, für den eine neue deutsche Verfassung für die innere Friedensordnung im zusammenwachsenden Deutschland zu schaffen sei. Die auf die neue Lagezugeschnittene Verfassung könne auch als ein wichtiges Integrationsinstrument in dieser Übergangszeit dienen.Ich möchte dazu zwei Bemerkungen machen.Erstens. Der zeitliche Abstand zur Revolution in der DDR beträgt mehr als zwei Jahre, und der emotionale Zusammenhang der Verfassungsdiskussion mit diesem umwälzenden Ereignis verliert sich im Bewußtsein der Menschen. Die Probleme des Tages beherrschen das Denken. Die aktuellen Nöte des Alltags können wir mit einer Verfassungsänderung nicht lösen. Eine gute Verfassung bestimmt die Grundsätze der gesellschaftlichen Ordnung verbindlich und dauerhaft. Sie ist nicht der Ort, wo Antworten auf aktuelle Problemlagen detailliert gegeben werden. Dafür haben wir die einfache Gesetzgebung. Die Überwindung der 40jährigen Trennung, die mitten durch unser Volk und die Familien ging, ist eine gewaltige Aufgabe. Ich glaube aber nicht, daß wir die Verfassung zu einem vorübergehend gebrauchten Hilfsmittel für den Vollzug der inneren Einheit machen können und sollten.Zweitens. Man hat immer vom provisorischen Charakter des Grundgesetzes gesprochen und auf seine Präambel und Schlußbestimmung hingewiesen. Wir können heute feststellen: Für seinen Regelungsgehalt gilt dieser provisorische Charakter nicht. Auch nach dem säkularen Ereignis der deutschen Einheit unter dem Dach des Grundgesetzes ist keine Verfassungsnot entstanden. Es sind nach der Wiedervereinigung keine Regelungsdefizite sichtbar geworden, die zu einer grundlegenden Reform drängten.
Die Legitimität des Grundgesetzes als Verfassung für ganz Deutschland steht außer Zweifel. Dies ist wahrlich bemerkenswert. Die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes sind gerade durch den Umbruch im Osten hin zu Bürgerfreiheit, Bürgerrechten und parlamentarischer Demokratie auf eindrucksvolle Weise bestätigt worden. Der Ruf „Wir sind das Volk! " richtete sich gegen den Stasi-Terror und den Unterdrückungsstaat DDR. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes als Überlebende der NS-Schreckenszeit haben aus gleichartiger Erfahrung gerade die Rechte des einzelnen als einklagbare Freiheits- und Abwehrrechte gegen die Staatsmacht in aller Klarheit ausgestaltet. Nun, wo es um die wirkliche Einheit der unterschiedlich geprägten Teile geht: Auch die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ist bereits ein wichtiges Verfassungsgebot des Grundgesetzes.
Worin sollte denn die Notwendigkeit zur grundlegenden Änderung bestehen? Ich habe bis heute nicht gehört, daß unser Grundgesetz den Prozeß des Zusammenwachsens zur wirklichen Einheit behindern würde und daß Verfassungsprobleme notwendig beseitigt werden müßten. Gewiß gibt es gewichtige Änderungsvorschläge zur föderalen Struktur, zur Staatsorgansiation oder zur Einführung von Staatszielbestimmungen. Es gibt aber keine zwingenden Revisionsanlässe.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5251
Dr. Paul LaufsUnser Grundgesetz enthält einen ausgewogenen Ausgleich zwischen Freiheit und Pflichten, Eigentum und Sozialbindungen, Mitwirkungsmöglichkeiten und Repräsentation des Menschen. Es ist die Grundlage unseres Lebens in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, ist kurz und knapp, wie schon Bismarck es für eine gute Verfassung gefordert hat, und damit flexibel und offen für neue Entwicklungen. Es wird gelebt und hat sich bewährt. Es ist also Sorgfalt angesagt beim Umgang mit dieser Verfassung wie im Umgang miteinander in der gemeinsamen Kommission.Verfassungsrichter Dieter Grimm hat einmal gesagt: Angesichtes einer geglückten Verfassung ist eine Verfassungsdiskussion immer ein Verfassungsrisiko. Ich meine, wir müssen in der Tat vorsichtig sein, damit wir dem guten Ruf des Grundgesetzes nicht durch eine lange polemische und ergebnislos endende Diskussion im öffentlichen Parteienstreit Schaden zufügen.
Unsere Arbeit ist auf Konsens angelegt. Wer die andere Seite unter Druck setzt und öffentlich vorführt, muß wissen, daß er ihre Einwilligung nicht erzwingen kann. Ich sage das an alle Seiten des Hauses, auch an unsere Adresse.
Es ist inzwischen außerordentlich viel über die Verfassung des geeinten Deutschland geschrieben und gesagt worden; man hört nicht mehr viel Neues. Wir sind deshalb überzeugt: Es kann in angemessener Zeit politisch entschieden werden, was wir gemeinsam ändern wollen. Die Liste der Änderungswünsche, die wir prüfen wollen, ist gewiß umfangreich. Für eine derartige Prüfung bedarf es aber keines kolossalen Verfassungsrates.Mit der nun vereinbarten Größe der gemeinsamen Verfassungskommission von jeweils 32 Mitgliedern aus Bundestag und Bundesrat halte ich die Grenze der Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums bereits für erreicht. Für weitere, wenn auch nur beratende Mitglieder in diesem Gremium sehe ich keinen Platz und keine hilfreiche Funktion.
Berater und auch Mitglieder von Landesparlamenten können in den begleitenden Arbeitskreisen der Fraktionen und Gruppen mitwirken.Wichtig ist, daß die gemeinsame Verfassungskommission nunmehr ihre Arbeit aufnimmt und in angemessener Zeit zu einem Ergebnis kommt. Der Einigungsvertrag hat dem Verfassungsgesetzgeber neben dem Inhalt der Prüfung auch den zeitlichen Rahmen vorgegeben, der am 3. Oktober 1993 endet. Wir sollten diese Frist nicht wesentlich überschreiten. Das nun einvernehmlich festgelegte Datum, 31. März 1993, für den Abschlußbericht können wir gerade noch mit einigen Bedenken mittragen. Wir stimmen der so geänderten Beschlußempfehlung des Ältestenrates zu.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. HansJochen Vogel das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem, worüber wir heute entscheiden wollen, handelt es sich um einen wichtigen Schritt zur Vollendung der deutschen Einheit. Wir wissen inzwischen besser als noch vor einem Jahr, daß die staatliche Einigung nur der Anfang war, daß ihr die soziale und die wirtschaftliche Einigung und vor allem die Einigung im Bewußtsein, d. h. die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls und der Überzeugung gleichberechtigter Teilhabe an der Verantwortung für das Gemeinwesen, folgen muß und daß dieser Prozeß nach der jahrzehntelangen Trennung schwieriger ist, als wir uns das alle miteinander vorgestellt haben.Zugleich gilt es, Folgerungen daraus zu ziehen, daß die Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 die volle Souveränität erlangt hat und daß wir — so hoffen wir doch zuversichtlich, gerade nach der gestrigen Debatte — alle miteinander an der Schwelle des Übergangs von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union stehen.In der Beurteilung der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Verfassungsordnung unseres Gemeinwesens gibt es zwischen den Koalitionsfraktionen und uns Übereinstimmungen und Gegensätze.Übereinstimmung besteht offenbar darüber, daß die deutsche Einigung, die Erlangung der vollen Souveränität und der Übergang zur Europäischen Union Herausforderungen von hohem verfassungspolitischem Rang darstellen, für deren Bewältigung das routinemäßige Verfahren, mit dem das Grundgesetz vor dem Einigungsvertrag bisher 35mal geändert worden ist, nicht ausreicht. Nur so ist zu verstehen, daß der Einigungsvertrag — das möchte ich besonders unterstreichen — den Grundgedanken des Art. 146, demzufolge es Sache des gesamten deutschen Volkes ist, in freier Entscheidung eine Verfassung zu beschließen, die dann an die Stelle des Grundgesetzes tritt, nicht etwa gelöscht und getilgt, sondern bekräftigt und in seinem Art. 5 bereits einen Katalog der in diesem Zusammenhang zu behandelnden Fragen aufgestellt hat.
Für mich, Herr Kollege Laufs, ist das nicht Ausdruck von Verfassungsnot, sondern von Verfassungsbedürfnis, also von Gestaltungsbedarf.Übereinstimmung, so meine ich, besteht ebenso darüber, daß sich das Grundgesetz in der Vergangenheit bewährt hat
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5252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Hans-Jochen Vogelund daß seine wesentlichen Strukturen deshalb auch in Zukunft gelten sollen. Es geht nicht um eine Alternative zum Grundgesetz;
es geht um seine zeitgemäße Fortentwicklung.
Dabei — ich hoffe, dies könnte eventuell sogar den Beifall des ganzen Hauses finden — sind wir gut beraten, wenn wir bei der Arbeit, an die wir jetzt gehen, jeweils bedenken, wie wohl die Mütter und Väter des Grundgesetzes die jetzt zu entscheidenden Fragen in Kenntnis der heutigen Gegebenheiten beantwortet hätten.Wie sie in der Kernfrage dachten, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das haben sie durch den Art. 146, der nicht jetzt neu hineingeschrieben worden ist, sondern von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes stammt, jedenfalls deutlich gemacht.
Unterschiede und Gegensätze bestehen hinsichtlich der Folgerungen — zu den Unterschieden komme ich jetzt — , die aus den soeben getroffenen Feststellungen zu ziehen sind. Insgesamt — das hat gerade auch Ihr Beitrag, Herr Laufs deutlich gemacht — neigen Sie zu restriktiven, um nicht zu sagen: eher ängstlichen Positionen.
Den Satz, daß jede Verfassungsdiskussion auf Verfassungsnot hindeutet, halte ich für ein Signal dieser neuen Ängstlichkeit. Wir vertreten demgegenüber offenere Positionen und vertrauen offensichtlich stärker als Sie auf die Kraft und die Vernunft eines breiten demokratischen Diskussionsprozesses.
Sie behaupten gelegentlich — ich bin dankbar, daß Sie es heute nicht getan haben, obwohl ja noch weitere Redner folgen —,
wir wollten eine andere Republik, als sie dem Grundgesetz vor Augen steht. Das ist abwegig. Aber anders als Sie verschließen wir nicht die Augen davor, daß die Einigung nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Änderung der Wirklichkeit bedeutet.
Die fünf neuen Bundesländer, Kolleginnen und Kollegen, und die 16 Millionen, die in ihnen leben, sind doch nicht einfach im Wege der Addition, sondern nur im Wege der Integration endgültig mit denen zu vereinigen, die hier in den alten Bundesländern bisher gelebt haben.
Das heißt, Kolleginnen und Kollegen — vielleicht rührt daher auch die Ängstlichkeit, die wir ja noch aus einer anderen großen Diskussion kennen — , auch wir in den alten Bundesländern müssen uns ändern, und die Deutschen in den neuen Bundesländern müssen intensiv an der Gestaltung der endgültigen Verfassung mitwirken können,
unter ihnen vor allem die Kräfte, die die Wende herbeigeführt haben.Meine Damen und Herren, wissen wir eigentlich noch, daß in der Präambel des Einigungsvertrages vom „dankbaren Respekt vor denen" die Rede ist, „die auf friedliche Weise der Freiheit zum Durchbruch verholfen haben"? Ich habe manchmal den Eindruck, daß wir den Respekt vor den Gruppen, die den Widerstand zunächst verkörpert und die Wende in Gang gesetzt haben, in diesem Hause gelegentlich vermissen lassen.
Ich meine aber, gerade hier bei der Verfassungsfrage muß sich der Respekt erweisen.Deshalb wollten wir — Sie haben recht — einen Verfassungsrat mit 120 Mitgliedern, um gerade diesen Kräften, aber auch anderen Persönlichkeiten aus allen Bereichen des politischen, geistigen, kulturellen, kirchlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens die Mitarbeit zu ermöglichen. Wir hätten vor dieser Mitarbeit keine Sorge und keine Angst gehabt.Immerhin haben Sie schließlich einer Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat mit 64 Mitgliedern zugestimmt, einer Kommission, die erstmals in dieser Art eingerichtet wird und damit den Rang der Aufgabe unterstreicht.
Wir haben eine breite Zusammenstellung von Themen aufgelistet, die dort behandelt werden sollen, und auch öffentlich vorgetragen. Sie waren zunächst bestrebt, den Katalog möglichst eng zu halten. Aber inzwischen präsentieren Sie selber eigentlich von Woche zu Woche immer neue Forderungen nach Verfassungsänderungen. So wollen Sie beispielsweise — diese Aufzählung ist nicht vollständig — zumindest die Art. 16, 87, 87a und 87d ändern.
— Entschuldigung, auf den Herrn Bundespräsidenten, wenn ich es richtig sehe; ja; nein; auch? Aber den darf man nicht erwähnen; ich weiß, das hören Sie nicht gern.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5253
Dr. Hans-Jochen Vogel— Ich darf in Erinnerung rufen, Herr Kollege Laufs: Die Forderung zu Art. 87 hängt mit den Fluglotsen zusammen. Sie hängt mit den Vorstellungen zusammen, die Sie in bezug auf die Post und die Bundesbahn haben. Aber darüber können wir in der Kommission diskutieren.Sie wissen genau, daß wir einigen dieser Forderungen nicht zustimmen werden. Aber warum sträuben Sie sich dann, wenn wir verlangen, daß beispielsweise über die Festschreibung des Verzichts auf ABC-Waffen in der Verfassung, über konkrete Staatsziele, über einen Gleichstellungsauftrag, über das kommunale Ausländerwahlrecht, daß auch Sie inzwischen für die EG-Ausländer wollen — die EG erweitert sich in der Perspektive Gott sei Dank — , über eine unmittelbare Volksbeteiligung und darüber gesprochen wird, ob wirklich die Regierung und nicht das Parlament über den Bündnisfall und damit über Krieg und Frieden entscheidet? Ich halte das für eine zentrale Frage.
Es darf doch auf Dauer nicht sein, daß — während der Golfkrise haben wir das ja als offizielle Stellungnahme des Bundeskanzlers gehört — , wenn das Bundesgebiet angegriffen wird, der Bundestag über Krieg oder Frieden entscheidet, und dann, wenn es sich um den Bündnisfall und den Krieg in weiten Entfernungen handelt, die Regierung ohne jede Einschaltung des Parlaments soll entscheiden können. Das darf doch nicht wahr sein.In der Beschlußvorlage gibt es noch zwei problematische Fragen. Wir haben der ursprünglichen Absicht widersprochen, den Zeitraum für die Arbeit der Kommission auf ein Jahr, nämlich bis zum 31. Dezember 1992, zu begrenzen. Der Einigungsvertrag spricht in Art. 5 von einem Zeitraum von zwei Jahren. Meine Damen und Herren, dieser Zeitraum kann doch sinnvollerweise erst beginnen, wenn die Kommission ins Leben getreten ist. Sonst wären die zwei Jahre ja auch verstrichen, wenn gar nichts zustande gekommen wäre.Nach dem Änderungsantrag soll die Frist bis zum 31. März 1993 verlängert werden. Das ist ein kleiner Fortschritt. Dennoch sage ich: Die Regelung ist für uns nur deshalb hinnehmbar, weil es sich um eine SollBestimmung handelt und die Kommission daher letzten Endes selber in Verantwortung darüber entscheidet, wann sie glaubt, daß der Abschluß ihrer Arbeiten die Vorlage rechtfertigt, und zwar — wie Sie zu Recht verlangt haben — mit Zweidrittelmehrheit.Wir hätten es außerdem begrüßt, wenn einer begrenzten Zahl von Persönlichkeiten, die weder dem Bundestag noch dem Bundesrat angehören, die Mitarbeit ohne Stimmrecht ermöglicht worden wäre. Die Ziffer 9 engt den Spielraum dafür übermäßig ein. Ich erinnere noch einmal an das, was ich über die Kräfte gesagt habe, die die Wende vor allem herbeigeführt haben. Ohne das erzielte Ergebnis in Frage stellen zu wollen: Man wird genau sehen, wer eigentlich von diesen Kräften, denen Sie hier durch Beifall Respekt erwiesen haben, unter den 64 Mitgliedern sein wird. Soweit ich sehe, werden es höchstens einer oder zwei oder zweieinhalb oder drei von 64 sein. Ich bitte zusehen, daß dies mit der Formel von dem Respekt nur mäßig vereinbar ist.Ein drittes Problem berührt nicht den Bundestag, sondern den Bundesrat. Es handelt sich um die Frage, ob die Länder nur durch Mitglieder der Landesregierungen oder auch durch Repräsentanten der Landtage vertreten sein sollen. Für meine Person sage ich, daß ich mit der entsprechenden Forderung der Landesparlamente, der sich inzwischen auch das Land Nordrhein-Westfalen angeschlossen hat, durchaus sympathisiere.
Aber ich sage genauso deutlich: Die Lösung dieses Problems liegt beim Bundesrat als dem Organ der Länder.
Ich hätte überhaupt keinen Einwand dagegen, wenn die Länder die beiden Sitze, die ihnen jeweils zustehen, zwischen Landesregierung und Landtag nach ihrem eigenen Ermessen und nach Vorschlag besetzten. Aber das ist von ihnen zu entscheiden. Weil wir das jetzt nicht im einzelnen abstimmen konnten, spreche ich hier nur für meine Person.Abschließend gebe ich — ungeachtet aller fortbestehenden Bedenken — unserer Befriedigung darüber Ausdruck, daß die Arbeiten an der Erneuerung unserer Verfassungsordnung jetzt beginnen können. Meine Fraktion wird sich konstruktiv an diesen Arbeiten beteiligen und alles tun, damit diese Arbeit von einer breiten öffentlichen Diskussion begleitet wird, die am Ende den Entscheid des Volkes auch sinnvoll und legitim erscheinen läßt.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Rupert Scholz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, nachdem es ja einige Zeit gebraucht hat, bis wir zusammengekommen sind und einen gemeinsamen Weg für die Arbeiten gefunden haben, daß es mit Nachdruck zu begrüßen ist, daß wir Einvernehmen in bezug auf die Arbeit dieser gemeinsamen Verfassungskommission herstellen konnten, daß wir die nötigen Kompromisse geschlossen haben. Ich glaube, es ist für die bevorstehende, außerordentlich zentrale Aufgabe von großer Bedeutung, daß wir den prozeduralen Konsens gefunden haben; denn Verfassungspolitik fordert nicht nur ein Höchstmaß an inhaltlichem Konsens, sondern auch ein besonderes Maß an prozeduralem Konsens. Deshalb ist es zu begrüßen, daß wir heute so weit gekommen sind.Es gibt eine letzte offene Frage — Herr Kollege Vogel hat sie soeben angesprochen — , nämlich die Frage, wie es mit den Landtagen steht. Ich glaube, das ist in der Tat eine wichtige Frage. Ich will sie aus mei-
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Dr. Rupert Scholzner Sicht genauso beantworten, wie Sie es getan haben, Herr Vogel.
Es ist eine Frage der Länder selbst. Aus der Sicht des Bundestages geht es darum, daß die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat in ihrer entsprechenden gleichberechtigten Position Markierungen vornehmen. Wir werden sehen, wie der Bundesrat zu dieser Frage steht.Der Auftrag ist ebenfalls bestimmt. Ich erkenne nach wie vor, daß hier unterschiedliche Töne im Spiel sind. Bei Herrn Vogel war es soeben deutlich spürbar: Er sprach wiederum davon, daß es darum gehe, die endgültige Verfassung zu formulieren oder zu akzeptieren oder zu formieren, wie immer man will. Die endgültige Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, des wiedervereinigten Deutschlands ist das Grundgesetz.Ich widerspreche noch einmal sehr deutlich Ihrer Interpretation, Herr Vogel, zu Art. 146 des Grundgesetzes. Ich glaube nicht, daß wir die Debatte fortsetzen sollten, indem wir immer wieder versuchen — nachdem der Weg, wie Sie genau wissen, über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen ist —, Art. 146 des Grundgesetzes, das damit die gesamtdeutsche legitime Verfassung geworden ist, sozusagen „von hinten durch die Brust" zu zitieren.Wir werden uns über die Frage auseinanderzusetzen haben, was nach Abschluß unserer Arbeiten zu geschehen hat, nachdem sich Bundestag und Bundesrat mit den Ergebnissen der Kommission auseinandergesetzt haben, d. h., ob es dann noch eine Befragung des Volkes o. ä. geben soll. Aber mit Art. 146 hat das sicherlich nichts zu tun.Was wir wollen, ist folgendes — ich glaube, insofern sind wir uns einig — : Wir brauchen den offenen, den öffentlichen, den sicherlich auch streitigen Verfassungsdiskurs. Sie dürfen sicher sein: Wir werden ihn nicht mit Ängstlichkeit führen; denn wir werden dieses Grundgesetz auch dort verteidigen, wo manche es in Frage stellen wollen, wo wir aber der Meinung sind, daß sich das Grundgesetz auf Dauer bewährt hat.
Wir wollen keine Totalrevision des Grundgesetzes. Wir wollen auch keine Überforderung unserer Verfassung mit Utopismen, mit Verfassungskosmetik oder schlichter Verfassungslyrik.
Eine Verfassung muß ernst genommen werden. Eine Verfassung muß das Vertrauen des Bürgers haben. Das Vertrauen des Bürgers beginnt dort, wo eine Verfassung einlösbar ist, wo der Bürger begreifen kann, daß das, was in der Verfassung gewährleistet wird, auch wirklich eingelöst werden kann.So werden wir uns sicherlich darüber streiten, wie das mit jenen sozialen Staatszielbestimmungen aussehen soll. Wenn man sie ernst nimmt, sind sie Systembruch. Wenn man sie nicht ernst nimmt — ichdenke, letztlich nehmen auch Sie sie nicht ernst —, sind sie im Grunde Utopie oder Kosmetik.
Ich stimme voll mit dem, was Sie gesagt haben, Herr Vogel, überein: zeitgemäße Fortentwicklung, so haben Sie es formuliert. In der Tat geht es um Modernisierung, und zwar dort, wo es nötig ist. Dazu gibt es eine Fülle von Fragen.Sie haben aus dem Katalog Streitiges genannt, Sie haben Punkte angesprochen, in denen wir übereinstimmen. An dieser Stelle möchte ich vor allem den Föderalismus betonen. Unser Föderalismus muß gestärkt werden. Das werden wir nicht nur aus dem Kreis des Bundesrats, von den Ländervertretern, hören, sondern das müssen wir auch selbst begreifen.Wir müssen diesen Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland auch für Europa rüsten. Wir wollen das Europa der Regionen; wir wollen ein föderatives Europa. Das setzt aber voraus, daß wir unseren Föderalismus dafür zunächst wieder wirklich stabil und widerstandsfähig gestalten.
Wir stehen unmittelbar vor der Konferenz von Maastricht. Was soll denn die Politische Union für Europa bringen? Sie soll uns im Grunde den Verfassungsstaat „Union Europa" bringen. Auch dafür muß das Grundgesetz vorbereitet werden. Wir werden über Art. 24 GG, über singuläre Souveränitätsverzichte, über das Verfahren, das uns zur Wirtschaftsgemeinschaft geführt hat, nicht imstande sein, alles das verfassungsrechtlich zu legitimieren und vorzubereiten, was notwendig ist, wenn wir den Weg nach Europa hin zur Politischen Union wirklich wollen.Ich glaube, daß hier ganz entscheidende Dinge anstehen. Und es gibt darüber hinaus viele Detailfragen, wenn man sie so nennen will. Aber vielleicht werden sie auch erst im Licht einer solchen Kommission zu Detailfragen, weil wir über sehr viel Grundsätzliches reden werden. Eigentlich sind es ja sehr zentrale und sehr wesentliche Fragen, wie z. B. Privatisierung von Post und Bahn; alles das, was Sie angesprochen haben, Herr Vogel.Wir werden uns auf einen schwierigen, einen intensiven Arbeitsweg zu begeben haben. Ich glaube, daß es richtig ist, daß wir uns auch über eine Befristung verständigt haben. Sie zweifeln daran, ob wir die Frist nachher einhalten werden. Ich meine, wir sollten mit dem Vorsatz an die Arbeit gehen, die Frist einzuhalten. Denn eine permanente Verfassungsdiskussion führt zur verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verunsicherung. Verfassung braucht Verläßlichkeit, braucht Rechtssicherheit. Deshalb sollte jede Verfassungsdiskussion ehrlich, gründlich aber auch mit dem Mut zum zeitlichen Abschluß geführt werden.
Ich freue mich auf die Diskussion, ich freue mich auf unsere Arbeit. Ich denke, wir werden — wenn wir das Maß dessen, was wir gemeinsam wollen, gemeinsam
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Dr. Rupert Scholzverwirklichen können — für unser Land und für unsere Verfassung Gutes bewegen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute abend nur eines vor, nämlich zu begründen, warum die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE an ihrem Antrag festgehalten hat.
Ich denke, wir haben heute vormittag gezeigt, daß das nicht an mangelnder Konsensbereitschaft liegt; wir sind auch nicht unbelehrbar. Ich denke, das ist auch unter Beweis gestellt worden. Wir sind gewiß kooperationsbereit, auch wenn der neue Herr Bundesinnenminister seine Kooperation nur den Fraktionen dieses Hauses angeboten hat.
Warum halten wir also an unserem Antrag fest? Wir legen Wert darauf, daß in den Protokollen des Deutschen Bundestages dokumentiert ist, daß in diesem Hause nicht in Vergessenheit geraten ist — Herr Vogel hat das soeben in wünschenswerter Klarheit dokumentiert — , daß sich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf eine konkrete historische Epoche bezieht, in der Deutschland geteilt und ein Teil der deutschen Länder verhindert war, an der Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens teilzunehmen.
Das ist jene Übergangszeit, an deren Ende dieses Grundgesetz einen gemeinsamen verfassungsgebenden Akt aller Länder verlangt, der das Grundgesetz in eine deutsche Bundesverfassung transformiert. Das haben sich nicht einige Leute ausgedacht, Herr Laufs, das verlangt das Grundgesetz. Sowenig wie die Hauptstadtfrage kann eine vierzigjährige Selbstverständlichkeit aus aktuellem Situationsinteresse plötzlich für obsolet gehalten werden. Das Grundgesetz hindert uns nicht, es beauftragt uns. Wir wollen, daß das Ausmaß dieses Auftrags in den Protokollen des Deutschen Bundestages dokumentiert werde.
Wieso ist ein Verfassungsrat nicht mehr arbeitsfähig, wenn er 164 Mitglieder hat? Dann bewegt sich dieses Hohe Haus offenbar weit jenseits aller Grenzen der Arbeitsfähigkeit.
Ich denke, Bündnis 90/GRÜNE steht nicht allein mit dieser Auffassung. Der Antrag der SPD hat das ebenfalls gezeigt. Herr Vogel hat schon auf die Stellungnahme von Nordrhein-Westfalen hingewiesen. Ich bin mit Ihnen ganz einer Meinung, Herr Laufs: Eine Verfassung, vor allen Dingen die Verfassung der neuen Bundesrepublik, des Bundes aller deutschen
Länder, kann nur im Konsens entstehen. Wir sollten uns ständig daran erinnern.
Erlauben Sie mir zum Schluß noch, auf eine Schwierigkeit einzugehen, die ich persönlich bei der Abstimmung haben werde. Ich kann natürlich nicht dem Punkt III der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/1590 zustimmen, den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE abzulehnen. Im übrigen gehe ich mit der Beschlußempfehlung einig.
Ich bin ausgesprochen dankbar, daß die neue zeitliche Vorgabe der 31. März 1993 ist. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Damit wird die Zweijahresfrist eingehalten.
Danke.
Das Wort hat jetzt unser Kollege Detlef Kleinert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Es ist doch etwas eigentümlich, daß das Grundgesetz allseits und von jedermann, in den meisten Fällen geradezu mit Emphase als eine besonders gelungene Verfassung gelobt wird und anschließend die gerade deshalb etwas gequälte Diskussion beginnt, warum man es bei dieser Gelegenheit insgesamt ändern müßte. Das paßt erkennbar schwer zueinander. Daraus erschließt sich auch die Problematik des Art. 146 in diesem Zusammenhang. Es ist eben nicht die Lage, die sich die Verfassungsmütter und -väter seinerzeit vorgestelit haben, daß nämlich alles so ganz neu ist und daß man etwas ganz umfassend Neues gestalten müßte. Wir sollten uns sehr davor hüten. Es redet in Wirklichkeit auch niemand in diese Richtung. Ich habe das nicht mißverstanden. Aber deshalb ist die Anwendbarkeit dieses Artikels in diesem Zusammenhang zweifelhaft. — Das ist die Eingangssituation.Das, was Herr Vogel hier vorgetragen hat, betrifft zum erheblichen Teil Fragen, die mit den 35 Komplexen sehr vergleichbar erscheinen, die hier früher einzeln abgehandelt worden sind, weil die Zeit gerade reif dafür war. Wenn man bei dieser Gelegenheit einige der aufgelaufenen Probleme zusammenfassen kann, ist das gut. Aber wenn man die Gelegenheit gebraucht, um so zu tun, als ob jetzt der ganz große Tag gekommen sei, an dem wir alle noch einmal eine ähnliche Anstrengung vollbringen und ähnliches leisten müßten wie bei der Schaffung des Grundgesetzes — —
— Ich meine einige Vertreter der Sozialdemokratie. Ich kann Ihnen das gleich noch etwas genauer sagen. — Hier ist nur von Einzelfragen geredet worden, über die aus diesem Anlaß sehr wohl gesprochen werden kann und sehr wohl gesprochen werden sollte.
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Detlef Kleinert
— Es ist in Ordnung, sehr in Ordnung, aus dem Anlaß der deutschen Einigung diese Dinge zusammenfassend zu betrachten. Wenn aber der Versuch gemacht wird, hier mit der Einführung von Staatszielen, Recht auf Wohnung, Recht auf Arbeit
und dergleichen, verlorene Parlamentsschlachten zurückliegender Jahre hinterher zu gewinnen, dann ist das etwas, was unsere Verfassung und was dieser Anlaß nicht verdient haben.
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmude?
Die politischen Schlachten müssen hier nach den dafür vorgesehenen Wahlen und auf Grund der sich dadurch bildenden Mehrheiten, auch auf Grund von Mehrheiten, um die in der Zwischenzeit hier immer wieder gerungen werden muß, geschlagen werden. Wir können nicht auf dem Weg über Staatsziele, vielleicht auch Grundrechte, in den Bürgern die Idee hervorrufen, sie könnten jetzt besondere Vergünstigungen erwarten, aus denen dann nichts wird. Auf diese Weise geschähe etwas, was für die Verfassung dann sehr gefährlich wäre.
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmude?
Ich bitte darum, Herr Schmude.
Bitte sehr, Kollege Schmude.
Lieber Herr Kleinert, könnten Sie es noch klarer machen und uns sagen: Wer hier in diesem Hause will Rechte oder Grundrechte auf Arbeit oder Rechte oder Grundrechte auf Wohnung, wer will das?
Sie mit Sicherheit nicht. Wir haben uns darüber unterhalten. Da ich mich mit verschiedenen anderen noch nicht darüber unterhalten habe, möchte ich vorbeugen.
— Das mit dem Ballon habe ich hier schon einmal viel besser von Herrn Schiller gehört.
Aber es ist ein Schuft, der mehr verspricht, als er geben kann. Ich bleibe, sei es vorbeugend oder in Ansehung des einen oder anderen, der diesen Gedanken in sich trägt — —
— Es ist nicht in Ordnung, solche Vorstellungen zu erwecken und dann hinterher das nicht leisten zu können. Das schadet der Verfassung. Solche Gedanken sind in Ihren Kreisen des öfteren besprochen und auch öffentlich vorgetragen worden, allerdings nicht von denjenigen, die heute hier gesprochen haben. Das habe ich zu Beginn schon gesagt.
— Ich werde eine Dokumentation zusammenstellen, die dann hoffentlich einigermaßen den Ansprüchen gerecht wird, die man in führenden SPD-Kreisen an Schriftwerk zu stellen pflegt.
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ullmann?
Herr Ullmann, bitte.
Bitte sehr, Herr Dr. Ullmann.
Herr Kleinert, erlauben Sie mir, obwohl Sie nur die SPD angesprochen haben, daß ich öffentlich zugebe, daß ich darüber laut gesprochen habe und es jederzeit wieder tun werde?
Ich danke Ihnen. Und dennoch waren Sie nicht der einzige, Herr Ullmann.
Es wird also mit dem dazugehörigen Ernst und mit der nötigen Offenheit über alle vor uns liegenden Einzelfragen zu sprechen sein, auch über Fragen der Finanzverfassung — das ist hier noch nicht angesprochen worden. Ich sehe erhebliche Probleme darin, daß wir immer mit den Ländern verhandeln, die Kommunen aber im Geiste mitmarschieren und anschließend bei den meisten Folgewirkungen dessen, was aus dem Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat schließlich herauskommt, auf das Wohlwollen der Länder angewiesen sind. Wenn man da einen gescheiten Weg finden könnte, die Folgen in ihrer Auswirkung vorher zu definieren, dann würde das, glaube ich, manche Reformbestrebung in diesem Bereich verbessern können.
Das ist eine von mehreren Fragen, die hier sicherlich unsere Aufmerksamkeit verdienen.Weil ich gerade davon spreche, möchte ich auch sagen — wie der Zufall so spielt, habe ich das heute morgen in diesem Hause schon einmal sagen dürfen — , daß wir den Föderalismus für eine sehr wichtige Sache halten und daß wir deshalb, wenn es möglich ist, zu Klarstellungen beitragen wollen.Dann darf ich aber auch einmal etwas Praktisches fragen: Was nützen uns denn Klarstellungen in der
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Detlef Kleinert
Verfassung, wenn sich hinterher Menschen finden, die, weil das Bare lockt, sich in Unternehmen der Gemeinschaftsfinanzierung und der Gemeinschaftsaufgaben hineinlocken lassen und die Trennung und die Eigenart ihrer Aufgaben sofort vergessen, nur damit sie einen Kostenmitträger finden? Das ist ja wohl ein Stück Verfassungswirklichkeit, das sich inzwischen sehr weit ausgebreitet hat.
An dieser Stelle mehr Klarheit herbeizuführen wäre sicherlich recht verdienstvoll, zumal man als Parlamentarier bedenken sollte, daß alle diese Gemeinschaftsaufgaben und Gemeinschaftsfinanzierungen die interessante Folge haben, daß sich die Verwaltungsbeamten beider Seiten treffen, das alles ausmachen und dann einerseits im Deutschen Bundestag, andererseits in den jeweils zuständigen Landtagen erklären, das wäre schon alles so vereinbart, nun müßten die parlamentarischen Körperschaften zustimmen — eine Methode, die ursprünglich nicht unbedingt so vorgesehen war und die in vielen Fällen für die dabei Beteiligten und auch für die Bürger nicht erfreulich ist.Zur Verteidigung ist hier von den Vorrednern einiges gesagt worden. Ich halte auch das für sehr wichtig. Es ist einer dieser mehreren Punkte, von denen man sagen kann, daß sie gerade durch die deutsche Einigung eine zusätzliche Bedeutung erfahren haben, so daß sie in diesem Zusammenhang der zusätzlichen Verantwortung unseres Landes in außenpolitischer und damit in verteidigungspolitischer Hinsicht angesprochen und hoffentlich auch möglichst vernünftig behandelt werden sollten.Wieweit wir bei dem, was wir innerstaatlich über föderalen Aufbau diskutieren werden, auch nützliche Wege finden können, unsere Stellung in Europa auch unter diesem Gesichtspunkt zu festigen und möglichst selbständig zu erhalten, statt daß wir uns hier gegenüber den Bundesländern um eine Fülle von ausgefeilten Regeln besorgen, während wir in Europa in völlig anderen und nicht sehr geordneten Strukturen mit der Eigenart der zugehörigen Länder untergehen, wird die weitere Diskussion erweisen.Die Frage der Frist ist in Vorgesprächen wirklich ein hochinteressanter Punkt gewesen. Nun haben wir uns um drei Monate anders entschieden. Wir werden hinterher feststellen, was wir schon vorher wußten: daß es entweder gut läuft — dann werden wir gerne einige Monate zulegen — oder, was ich nicht hoffen will, schlecht — dann werden wir uns einige Monate früher als vorgesehen verbittert voneinander trennen.
Das sind zwei Möglichkeiten, die sich hier abzeichnen.Ob zum Schluß die Entscheidung des Volkes — bei den konkreten Punkten, die sich abzeichnen, und bei dem nun gewählten und anerkannten Verfahren der Zweidrittelmehrheit — die Krönung des ganzen Werkes sein soll, das ist eine Frage, die wir sicher noch inRuhe besprechen sollten. Ich möchte sie heute abend nicht abschließend beurteilen,
sondern zunächst einmal meine Zweifel anmelden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Gerhard Friedrich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir zu der Frage, wie weit die Revision unserer Verfassung gehen soll, einige Zitate herausgeschrieben und habe heute genau mit verfolgt, wie Herr Kollege Vogel formuliert hat. Ich stelle da ganz bemerkenswerte Unterschiede fest. Die Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat im Frühjahr 1991 im „Spiegel" mitgeteilt:Wir meinen, das vereinigte Deutschland ist keine Fortsetzung der alten Bundesrepublik, sondern ein neues Gebilde. Das Grundgesetz hat sich nur in der alten Bundesrepublik bewährt. Die Logik, an die wir uns gewöhnen sollten, lautet: Ein neues Gebilde braucht eine neue Verfassung.Der Kollege Vogel hat sehr viel vorsichtiger formuliert und gesagt, die wesentlichen Strukturen des Grundgesetzes müssen erhalten bleiben. — Wenn das so ist, dann haben wir natürlich keine neue Verfassung. Die Sätze kann man nicht miteinander verbinden. Die Sätze der Frau Kollegin Däubler-Gmelin kann man auch nicht mit dem verbinden, was der Kollege Penner einmal in einer Presseerklärung gesagt hat. Er hat formuliert:Nach meiner Einschätzung ist das Bonner Grundgesetz längst zum normativen Gütesiegel des politischen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland geworden.Niemand kann verstehen, weshalb wir dann eine neue Verfassung brauchen.
Was sich geändert hat, ist das Staatsgebiet und ist die Zahl der Staatsbürger. Das ist eine rein quantitative Veränderung.
— Ich sehe nicht ein, Herr Kollege, daß eine Verfassung, die sich im Fichtelgebirge bewährt hat, plötzlich, wenn sie im Erzgebirge gilt, völlig falsch sein soll.Meine Damen und Herren, der Kollege Vogel hat uns aufgefordert, mehr Respekt gegenüber den Kräften zu haben, die die friedliche Revolution in der damaligen DDR, muß man sagen, ausgelöst haben.
— Den Respekt habe ich. Hier geht es um so etwas wieDankbarkeit für die Vergangenheit. Ich glaube nicht,meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus der Op-
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Dr. Gerhard Friedrichposition, daß Sie aus Dankbarkeit gegenüber dem Bundeskanzler für seine Leistungen in den letzten zwei Jahren den Bürgern empfehlen werden, ihn wiederzuwählen. In Wahlen — das wissen wir doch —geht es nicht um Dank für die Vergangenheit, sondern um die Rezepte für die Zukunft. Ich könnte Ihnen hier vorlesen, welche Rezepte z. B. prominente Vertreter des Neuen Forums verkündet haben, und die Bürgerinnen und Bürger haben entschieden, daß diese Rezepte für die Zukunft falsch sind. Nicht wir Abgeordnete ernennen weitere Abgeordnete, sondern derjenige, der in diesen Bundestag oder in ein Gremium hineinwill, muß sich bei den Wählern um Stimmen bewerben.Meine Damen und Herren, wir haben gerade in der letzten Zeit eine Diskussion zu den Stichworten Asyl und Grundgesetz gehabt. Ich habe als ein CSU-Politiker das zweite Mal in den letzten Monaten festgestellt, daß Formulierungen entweder mißverständlich waren oder mißverstanden wurden.
Ich habe letzten Mittwoch in der „Welt" gelesen, daß hier möglicherweise ein Schwenk
— ein Schwenk — in der Union und in der Asylpolitik stattfindet.
— Regen Sie sich doch nicht so auf. — Deshalb möchte ich für die CSU-Politiker, nicht nur für die in Bonn, sondern auch für die in München, feststellen, daß wir in der Asylpolitik nicht umschwenken. Wir sind bisher der Meinung und werden es auch in Zukunft sein, daß die Probleme ohne eine Verfassungsänderung nicht lösbar sind.
Wir sind der Auffassung, daß derjenige, der den Zuzug wirksam begrenzen will, nicht umhin kommt, das Grundrecht auf Asyl durch eine institutionelle Garantie abzulösen.
— Doch, man muß Klartext reden, sonst verwirrt man die Bürger.Wir wissen allerdings auch, daß wir für diesen Vorschlag in absehbarer Zeit keine Zweidrittelmehrheit bekommen, weder im Bundestag noch im Bundesrat.
Herr Kollege Dr. Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hämmerle?
Bitte sehr.
Herr Dr. Friedrich, ich nehme die Gelegenheit wahr, Sie hier an dieser Stelle zu fragen, ob Sie auch die Genfer Flüchtlingskonvention ändern wollen, die zwar nichts mit unserer Verfassung zu tun hat, aber in diesen Kontext gehört.
Frau Kollegin, die Änderung
— Ich soll doch antworten, Frau Kollegin Schmidt, dann können Sie doch keine Zwischenrufe machen.
Ich kann doch nur Ihnen zuhören oder Ihrer Kollegin antworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Genfer Flüchtlingskonvention ist in sehr vielen Staaten gültig. In keinem anderen Staat gibt es aber ein Grundrecht auf Asyl. Daraus schließe ich, daß wir, wenn wir das Grundrecht auf Asyl streichen,
wenn wir es durch eine institutionelle Garantie ersetzen, überhaupt keine Notwendigkeit sehen, diese Flüchtlingskonvention in Frage zu stellen.
Herr Kollege Friedrich, eine Sekunde bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt natürlich eine Menge Zwischenrufe. Das darf man auch alles machen, aber überwiegend müssen wir den Redner noch verstehen können. Ich bitte also deswegen um etwas Ruhe. — Bitte!
Ich darf meinen letzten Satz, den ich von mir aus vorgetragen habe, noch einmal wiederholen.Wie wissen natürlich, daß es für unsere Vorstellungen keine verfassungsändernden Mehrheiten gibt. Deshalb erkläre ich auch, daß wir an weniger weitgehenden Korrekturen oder Ergänzungen unserer Verfassung in Sachsen Asyl mitwirken werden. Der Anlaß, bei dem dies geschieht, ist für uns absolut zweitrangig, ob wir uns in diesem Verfassungsausschuß auf eine vernünftige Regelung einigen oder ob das anläßlich der Ratifizierung irgendeines europäischen Vertrages geschieht, ist für uns absolut zweitrangig.
— Ich spreche hier für die CSU-Landesgruppe in diesem Punkt und für die CSU in München.
Meine Damen und Herren, für mich und meine Kollegen im Innenausschuß des Deutschen Bundestages ist es eine Selbstverständlichkeit, daß wir unsere In-
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Dr. Gerhard Friedrichnenpolitik z. B. mit unserem bayerischen Innenminister abstimmen. Wir stellen immer wieder erfreut fest, daß wir uns in kürzester Zeit völlig einig sind.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch zu zwei, drei Anmerkungen des Kollegen Vogel etwas sagen. Sie haben, Herr Kollege Vogel, gesagt
es sollte doch die Gelegenheit genutzt werden, z. B. das Ausländerwahlrecht in unserer Verfassung zu verankern.
— Das kommunale Ausländerwahlrecht.
— Herr Kollege Vogel, ich sage, was die CSU will. Das will ich lieber selber formulieren.Sie haben in diesem Zusammenhang auf europäische Entwicklungen hingewiesen. Diesen Aspekt unterstütze ich.
Aus einer europäischen Staatsbürgerschaft wird sich natürlich so etwas wie ein kommunales Wahlrecht der europäischen Staatsbürger entwickeln, egal wo sie sich aufhalten. Bloß, wenn ich die Forderungen Ihrer Partei nachlese, dann stelle ich fest, daß Sie das Ausländerwahlrecht in den Kommunen nicht — sozusagen — verankern wollen an dem Punkt EG-Staatsbürgerschaft oder EG-Mitgliedschaft, sondern Sie wollen das Ankoppeln an eine Mindestaufenthaltsdauer in einer Kommune, unabhängig von der Frage, ob es sich um einen — Mitbürger kann man nicht ganz sagen — Gast handelt, unabhängig von der Frage, ob derjenige aus der EG kommt oder aus anderen Ländern.
— Ich möchte meinen letzten Satz vielleicht doch noch in Ruhe sagen.
— Bitte.
Meine Damen und Herren Abgeordneten, wir haben die Zeit schon weit überschritten. Deswegen meine ich, Sie sollten jetzt bitte zum Schluß kommen, Herr Dr. Friedrich.
Herr Kollege, Sie haben eben für einige Millionen Steuerzahler bei uns das Wort Mitbürger abgelehnt. Ist es nicht richtig, daß Menschen, die hier bei uns über Jahrzehnte Steuern zahlen, also zum Gemeinwesen beitragen, auch eine
Chance haben müssen — daß das wichtig ist — , ihre Rechte wahrzunehmen, aber auch Pflichten auszuüben, um das Gemeinwesen mitzugestalten, damit wir in diesem Gebiet keine Entwicklungen bekommen, daß Menschen sagen, dann wollen wir uns auf eine andere Weise Gehör verschaffen?
Herr Kollege, ich gebe zu, daß es schwierig ist, hier einen richtigen Begriff zu finden. Gast wäre zu wenig, und bei dem Wort Mitbürger habe ich nur deshalb ein bißchen Vorbehalte, weil man das sozusagen als Mitstaatsbürger verstehen kann.
Aber darüber können wir uns sicherlich unterhalten.
Ich möchte abschließend nur noch sagen: Wenn sich diejenigen, die unsere Nachbarn sind, in ihren eigenen Ländern genauso für das Ausländerwahlrecht auf kommunaler Ebene wie bei uns einsetzen würden, dann wäre ich bereit, auch bei uns sehr viel offener über die Dinge zu diskutieren, weil dann die Gegenseitigkeit gewährleistet wäre.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten Dr. Gerhard Riege das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können nicht sagen, in der Bundesrepublik hat die Wiedervereinigung nichts bewirkt; wir machen so weiter, als wären nur ein paar Quadratkilometer Land und ein paar Millionen arme Verwandte dazugekommen, und sonst hat sich nichts verändert. Das ist nicht so.
— Ich habe Sie zitiert, Herr Kollege Hirsch. Sie haben das am 20. Juni gesagt, und ich glaube, Sie haben damals den Beifall im gesamten Haus für diese Aussage gefunden.Weil das so ist, möchte ich sagen, daß dieses Bild etwas variiert; denn daß das, was im Siebengebirge möglich war und als positiv anerkannt worden ist, für das Erzgebirge genauso gelten muß, trifft nicht zu, weil es nicht um die Gebirge geht. — Er geht um die Menschen mit ihrer Herkunft, mit ihrer Befindlichkeit, mit ihren Erfahrungen, die Unterschiedliches erlebt, gestaltet haben und auch Unterschiedliches einbringen können.
Wenn ich mir jedoch vor Augen führe, wie stark das Bemühen der Regierungsparteien ist, den Umstand
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5260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991
Dr. Gerhard Riegeder Veränderung in der realen Verfassung der Bundesrepublik, des vereinigten Deutschland, zu verdrängen, dann gewinne ich den Eindruck, daß das, was die Erfahrungen des Umgestaltungsprozesses auf dem Gebiet der DDR oder auch früher waren, doch sehr negiert wird. Wenn ich von der realen Verfassung spreche, dann meine ich sowohl die inneren Aspekte als auch die äußeren Existenzbedingungen des vereinigten Deutschland.Immerhin, wir haben uns vor 196 Tagen im Reichstag in erster Lesung mit diesem Thema beschäftigt. Soviel Zeit ist inzwischen verstrichen, und nach der deutschen Einheit ist ein Jahr ins Land gegangen, und wir diskutieren dieses Thema eigentlich am Rande einer Haushaltsdebatte, zu einem Zeitpunkt, zu dem es nicht selten ist, daß hier die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden. Das, glaube ich, ist dem Thema nicht adäquat. Die Interessenlagen, wie ich zu wissen glaube, vieler Bürger im Osten wie im Westen unseres Landes sind anders. Da Verfassungsfragen Lebensfragen und doch nicht enge juristische Probleme sind, gehört die Diskussion darüber nicht allein in kleine Expertenrunden. Vielmehr muß die Öffentlichkeit einbezogen sein, sie muß die Möglichkeit haben, sich zu artikulieren, den Prozeß anregend, kritisierend befördern. Dort wird sich dann auch beweisen, ob angesichts der sozialen Prozesse, der Arbeitslosigkeit, das Recht auf Arbeit eben nur Lyrik ist oder ob es nicht auch in einer Weise gefaßt werden kann, die dem Menschen behilflich ist, in seinem Leben zurechtzukommen.Die grundrechtliche Verankerung von sozialökonomischen Aspekten halte ich für ein ganz legitimes und notwendiges Problem. Das vielleicht mit einer These über ein Recht auf Sonnenschein zu vergleichen, würde ich nicht für adäquat halten. Ich glaube auch nicht, daß hinter Vorschlägen in dieser Richtung Motive stehen könnten, verlorene Parlamentsschlachten im nachhinein wieder zu gewinnen.Die Aufgaben, die von der Verfassungskommission zu lösen sein werden,
lassen sich keinesfalls auf die Punkte des Einigungsvertrags einschränken. Denn selbst wenn ich davon absehe, daß es sich ausdrücklich um eine exemplarische Aufzählung handelt, wird schon bei den Diskussionen im Bundesrat deutlich, daß aus der Sicht der Länder Fragen zu beraten sind, die weit über diese Liste hinausgehen. Immerhin wurde es in diesem Gremium des Bundesrates für wert erachtet, z. B. die sozialen Grundrechte und das kommunale Ausländerwahlrecht zu thematisieren. Die in Punkt 5 der jetzigen Vorlage benannten Aufgaben der gemeinsamen Verfassungskommission sind nicht abschließend formuliert, sie lassen insofern zwar ein breiteres Spektrum von erörterungswürdigen Themen zu, drücken nach meiner Überzeugung jedoch eine auf Grund der veränderten Situation des vereinigten Deutschlands und der Lage im Lande nicht zu rechtfertigende thematische Selbstbescheidung aus.Ich würde dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN meine Zustimmung geben.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der FDP auf der Drucksache 12/1670. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag mit einer übergroßen Mehrheit angenommen.
Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Ältestenrats auf Drucksache 12/1590 mit der soeben beschlossenen Änderung ab, und zwar zunächst nur über Nr. I, II und IV. Wer stimmt dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei wenigen Enthaltungen ist diese Beschlußempfehlung dann so angenommen.
Jetzt stimmen wir noch über Nr. III der Beschlußempfehlung ab. Dabei handelt es sich um den Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Wer stimmt für Nr. III der Beschlußempfehlung? — Wer stimmt dagegen? — Nr. III der Beschlußempfehlung ist damit angenommen, und damit ist der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN abgelehnt worden.
Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort. Ich rufe auf:
Einzelplan 17
Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend
— Drucksachen 12/1417, 12/1600 —
Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke Ina Albowitz
Dr. Konstanze Wegner
Hierzu ist gebeten worden, daß — abweichend von unserer Geschäftsordnung — einige Reden zu Protokoll gegeben werden sollen. Ich darf fragen, ob Einverständnis besteht, daß die Reden der Kollegin Jaffke und von Frau Bundesministerin Merkel zu Protokoll gegeben werden? — Es besteht Einverständnis.*)
Das Wort hat nun zu dem Einzelplan 17 die Kollegin Konstanze Wegner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Politikbereich, der sich mit Frauen, Jugend und Senioren befaßt — gemeinhin mit „Familienpolitik" bezeichnet — hat bei Politikern aller Parteien einen sehr hohen Stellenwert.
In Sonntagsreden, in Wahlkämpfen rangiert das immer an erster Stelle. Wenn es aber dann um die Bera-*) Anlage 4
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5261
Dr. Konstanze Wegnertung des Haushalts im Deutschen Bundestag geht, dann stehen diese Einzelpläne an letzter Stelle.Es passiert dann folgendes: Auch wenn alle Berichterstatterinnen geduldig gewartet haben, wird noch zu später Stunde eine — zugegebenermaßen wichtige — Verfassungsdebatte eingeschoben,
und dann ertönt der vielfache Wunsch, man möge seinen Text doch zu Protokoll geben.Die beiden Ministerinnen haben dies getan — ich vermute, ganz gerne, weil ihnen das auch erspart, unter Umständen etwas Unangenehmes zu hören. Die Kolleginnen Berichterstatterinnen von der Koalition sind gefolgt. Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ziehe meinen Beitrag nicht zurück,
und zwar tue ich das nicht etwa, —
Frau Kollegin Wegner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Roitzsch?
— weil ich mich für eine so begnadete Rednerin halte — ich will nur meinen Satz beenden —,
sondern weil es mir darum geht, deutlich zu machen, daß diese Politik für uns einen hohen Stellenwert hat und daß das auch im Parlament verbal zum Ausdruck kommen sollte.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Wegner, können Sie sich vorstellen, daß die Kolleginnen der CDU/CSU und der FDP ihre Reden unter anderem auch deshalb zu Protokoll gegeben haben, weil sie über 100 Mitarbeiter des Bundestages nicht weiter bis tief in die Nacht aufhalten wollen?
Frau Kollegin Roitzsch, einmal im Jahr wird von den Haushälterinnen und Haushältern zu diesem Punkt gesprochen. Ich finde, diese Gelegenheit sollte man wahrnehmen. Es hat schon spätere Debattenzeitpunkte gegeben und Themen mit weniger Stellenwert, über die hier diskutiert worden ist.
Frau Kollegin Wegner, es gibt eine zweite Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Wieczorek.
Bitte.
Frau Kollegin Wegner, würden Sie der Kollegin sagen, daß wir als Haushälter um diese Zeit regelmäßig erst zur zweiten Form auflaufen?
Lieber Kollege Wieczorek, das will ich ihr nicht sagen. Es ist Ihnen überlassen, ihr das selbst zu demonstrieren.
Frau Kollegin Wegner, würden Sie eine dritte Zwischenfrage des Kollegen Diller zulassen? Ich würde Ihnen empfehlen, dann keine mehr zuzulassen.
Lieber Karl, laß mich meine Rede halten!
Frau Kollegin, erachten Sie es mit mir nicht als einen Skandal, daß auf der Regierungsbank da drüben weder ein Staatssekretär noch ein Parlamentarischer Staatssekretär oder gar die Ministerin sitzt und daß wir sie eigentlich herbeirufen müßten?
Ich halte dies in der Tat für einen Skandal. Das habe ich schon zu Anfang zum Ausdruck gebracht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, anläßlich der ersten Lesung des Haushalts sind hier bereits die allgemeinen Standpunkte ausgetauscht worden. Das will ich nicht wiederholen; vielmehr will ich etwas zu den Streitpunkten der Diskussion im Haushaltsausschuß sagen.
Zunächst zum Thema Zivildienst. Laut mittelfristiger Finanzplanung will der Finanzminister die Zuschüsse im Bereich Schwerstbehindertenbetreuung und mobile soziale Hilfsdienste abschaffen. Die Zivis leisten dort, wie wir alle wissen, hervorragende Arbeit mit der Betreuung von Schwerstbehinderten. Sie tun dies auf eine unbürokratische, menschliche und auch kostengünstige Weise.
Ich habe in mehreren Presseerklärungen darauf hingewiesen, was uns hier ins Haus steht. Ich habe schon einen beträchtlichen Rücklauf an Briefen von Zivildienststellen bekommen. Allein bei 20 Zivildienststellen sind etwa 700 Zivis in den Bereichen „Mobile Soziale Hilfsdienste" und „Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung" tätig. Sie betreuen dort mehr als 2 300 Personen. Für diese Hilfe müssen nur 4 bis 15 DM pro Stunde bezahlt werden.Übereinstimmend haben die Verbände festgestellt: Wenn diese Zuschüsse abgeschafft werden, müssen
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Dr. Konstanze Wegnersie sich aus diesen Bereichen zurückziehen. Das würde bedeuten: Es wird zu zahlreichen Heimeinweisungen und letztlich zu beträchtlichen Kosten für die Kommunen kommen.Erfreulicherweise hat die Koalition im Haushaltsausschuß unseren Antrag angenommen, der sichert, daß diese Dienste zumindest bis 1993, 1994 fortgeführt werden können.
Ich muß meine Rede ein wenig kürzen, damit ich sie zu Ende bringen kann.Der eigentliche Konflikt steht uns im Haushalt 1993 bevor. Dann geht es darum, die 80 Millionen DM in den Haushalt bzw. in die mittelfristige Finanzplanung einzustellen, um die Fortführung dieser Dienste zu ermöglichen. Ich hoffe, daß Sie von der Koalition dann weiter mutig sind und uns unterstützen.
Denn bei allem Zwang zum Sparen, Herr Kollege Austermann, geht es nicht an, daß sich der Finanzminister auf Kosten der Schwächeren in unserer Gesellschaft entlastet
— doch, das tut er — und die Kosten schließlich den Kommunen zuschiebt, die dann weit größere Aufwendungen haben.
Für den Bereich der Zivis haben Sie Einsicht gezeigt.
— Respekt, Herr Finanzminister! Sie waren auch bei meiner vorigen Rede anwesend. Ich empfinde das als Zeichen persönlicher Zuneigung.
Ganz und gar uneinsichtig waren Sie, lieber Finanzminister, und Ihre Koalition aber leider, was die Anschubfinanzierung von Frauenhäusern in den neuen Ländern angeht.
— Dann kennen Sie Ihren eigenen Haushalt nicht.
90 Frauenhäuser gibt es dort bisher. Angesichts des steigenden Bedarfs bilden sich ständig neue Initiativen. Alle Frauenhäuser sind überfüllt. Die meisten leben mit finanziell ungesicherter Zukunft.Kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Föderalismus und der angeblichen Zuständigkeit von Ländern und Kommunen! Solange es keine bundesgesetzliche Finanzierung von Frauen- und Mädchenhäusern gibt, bleiben Bundesmittel nötig, um Frauenhausinitiativen zu unterstützen.
Es ist aber keine müde Mark in diesem Haushalt für Frauenhäuser vorgesehen. Unseren Antrag, den ohnehin mickrigen Frauentitel entsprechend aufzustocken, haben Sie abgelehnt.
Ein Frauenhausfinanzierungsgesetz ist überfällig. Wenn Sie hier Ihre Hausaufgaben machen, brauchen wir keine Bundesmittel mehr für eine Anschubfinanzierung.Der Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und Jugend insgesamt ist gegenüber 1991 um etwa ein Drittel geschrumpft, weil er keine Zuschüsse des Bundes zu den Kinderbetreuungseinrichtungen mehr enthält. Die Koalition wehrt sich gegen einen solchen Zuschuß mit Hinweis auf die Länderkompetenz. Dabei vergißt sie, daß wir derzeit Anschubfinanzierungen in vielen Bereichen leisten, wo der Bund eigentlich nicht zuständig ist.Der Zusammenbruch der Kinderbetreuungseinrichtungen ist bisher nicht eingetreten; nicht zuletzt dank des Bundeszuschusses. Aber die Furcht vor Schließungen besteht in der Bevölkerung weiterhin; zumal ein Kindergartenplatz heute vier- bis fünfmal so teuer ist wie vor der Wende. Es besteht durchaus die Gefahr, daß arbeitslos gewordene Mütter ihre Kinder zu Hause behalten und damit zum weiteren Abbau der Einrichtungen beitragen.Wir bedauern es außerordentlich, daß Sie unseren Antrag, die Kindergärten in Ostdeutschland — ich sage das als Haushälterin — für eine bestimmte Zeit und degressiv zu unterstützen, bis Länder und Kommunen in der Lage sind, diese Einrichtungen voll selbst zu finanzieren, abgelehnt haben.
— Ich freue mich herzlich, hier auch die Koalitionskollegen aus dem Haushaltsausschuß zu sehen.
Die Kollegin Männle hatte ich sogar mit einem Zitat bedenken wollen, aber das habe ich jetzt gekürzt, weil sie nicht da war.
Auf Ihre Jugendpolitik sind Sie sehr stolz, aber leider ist hier keine klare Konzeption erkennbar, sondern nur eine hektische Folge von Sonderprogrammen. 1991 gab es das Programm „Sommer der Begegnung" ; jetzt kommt das mit 20 Millionen DM ausgestattete Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte
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Dr. Konstanze WegnerPrävention". Das ist so ein richtig schöner gesamtdeutscher Ohrwurm.
Und nun kommt plötzlich mit 50 Millionen DM noch ein „Aufbauprogramm" für die neuen Länder hinzu. Dieses Programm kam in der Bereinigungssitzung auf den Tisch, aber nur die nackten Zahlen, ohne jeden Hinweis, ob dieses Programm dezentral oder allein vom Ministerium her gefahren werden sollte.
Wir werfen Ihnen nun nicht vor, daß Sie Geld für die Jugendarbeit in den neuen Ländern zur Verfügung stellen; im Gegenteil: Alle Kenner der Materie stimmen überein, daß weit höhere Mittel nötig wären, sowohl in den alten wie in den neuen Ländern im investiven Bereich und für die Verbandsarbeit.
Wir kritisieren aber — und da sollten Sie gut zuhören — Ihre hektischen Einmal-Programme — sie weisen keine ausreichende Vorbereitung und Verzahnung auf — und dienen vor allem dem einen Zweck, das Ministerium in den Blickpunkt zu rücken.Ich hatte noch einige Bemerkungen zur Otto-Benecke-Stiftung vorbereitet. Ich kürze diesen Teil jetzt
und will mich auf nur zwei Bemerkungen beschränken. Ich hoffe sehr, daß es die Koalition nicht bereut, daß sie unseren Antrag abgelehnt hat, zwei Drittel der Mittel in den Titeln qualifiziert zu sperren, aus denen die Otto-Benecke-Stiftung Zuschüsse erhält. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe auf eine generelle Betrachtung der Frauenpolitik verzichtet.
Aber Sie werden mir zum Schluß eine Bemerkung allgemeiner Art gestatten. Ein Frauentitel von 20 Millionen DM ist angesichts eines Gesamtvolumens unseres Haushalts von 422 Milliarden DM absolut kümmerlich.
Außerdem hat das Ministerium immer noch Probleme, diesen Titel überhaupt richtig auszugeben.
Wenn dieser Titel auf Dauer so jämmerlich ausgestattet bleibt, so ist letztlich nicht Geldmangel die Ursa-che, sondern Halbherzigkeit und Ideenarmut im Ministerium.
Zum Schluß ein Zitat. Ich zitiere den Informationsdienst der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands; sicher kein sozialistisches Kampfblatt.
Er schreibt in seiner Septemberausgabe:Trotzdem muten 20 Millionen angesichts sonstiger Haushaltskosten und der oft miserablen Situation der Frauen — nicht nur in den neuen Bundesländern — wie ein Taschengeld an. ... die Frauen müssen wieder einmal erkennen, was sie — neben schönen Worten — der Bundesregierung wirklich wert sind.Ich habe dem nichts hinzuzufügen und danke für Ihre Geduld.
Ich darf mich der Kollegin Konstanze Wegner anschließen und meiner Zufriedenheit darüber Ausdruck verleihen, daß den Beratungen über den Einzelplan 15, den Haushalt für Frauen und Jugend, der Bundesfinanzminister und der Staatssekretär für Wirtschaft beiwohnen.
— Herr Kollege Austermann, wenn Sie hier irgendwie alltäglichen Sexismus im Parlament praktizieren wollen, würde ich Ihnen raten, das nicht zu tun.
Nun möchte ich das Parlament um seine Zustimmung bitten, daß die Kollegin Uta Würfel ebenfalls ihre Rede, abweichend von unserer Geschäftsordnung, zu Protokoll geben darf. Darf ich Ihr Einverständnis dazu erbitten? — Nachdem keine gegenteiligen Wortmeldungen da sind, ist das so beschlossen.
Als nächste hat die Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf der Jahrestagung des Deutschen Frauenrates vergangenes Wochenende in Berlin verkündete Bundesfrauenministerin Merkel, die heute unsere Debatte leider nicht verfolgt,
Frauenpolitik und insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf würden zum Prüfstein bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Fürwahr deutliche Worte, die sich frau hinter den Spiegel stecken sollte.Meine Damen und Herren, gegen eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West haben
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Petra Blässwir durchaus nichts einzuwenden. Aber schon ein Blick in die Arbeitsmarktstatistiken der neuen Bundesländer legt den Verdacht nahe, daß darunter beispielsweise verstanden wird, fortan bei der Frauenerwerbstätigkeitsrate und dem damit verbundenen Grad an ökonomischer Eigenständigkeit der Frau altbundesrepublikanische Maßstäbe anzulegen. Im Klartext heißt das: schrittweise Angleichung der Frauenerwerbstätigkeitsquote Ost von ehemals 91 % an die Quote West von 54%.
— Darf ich vielleicht einmal anmerken: Die Lautstärke zeigt mir, welche Bedeutung Sie der Frauenpolitik in diesem Lande hier überhaupt beimessen.
Zweifellos sind es Frauen, die zuerst das zweifelhafte Privileg haben, die angestrebte Angleichung der Lebensbedingungen am eigenen Leibe erfahren zu dürfen. Sie sind die ersten, die aus Betrieben und abzuwickelnden Institutionen entlassen werden, und die letzten, die eine neue Stelle bekommen. Die 60-%-Marke beim Arbeitslosenanteil ist längst überschritten, und die Wiedervermittlungsrate bleibt konstant niedrig.An diesen Fakten ändern auch die mittlerweile für jede Sonntagsrede obligatorisch gewordenen Bekenntnisse zum Gleichheitsgrundsatz nichts.
Der Frauenerwerbslosigkeit und der damit drohenden Frauenarmut kann nur begegnet werden, wenn sie als erstrangiges Problem behandelt und eine dementsprechende Struktur- und Beschäftigungspolitik betrieben wird.Bisher sind dafür höchstens in Brandenburg — erinnert sei hier an die besondere finanzielle Förderung von Ausbildungsplätzen für Mädchen und an die Förderung modellhafter Projekte gegen Frauenarbeitslosigkeit — oder in Berlin mit dem Programm der Senatorin Bergmann „Arbeitsplätze für Berlin" Ansätze erkennbar.Gerade auf dem Arbeitsmarkt erweist sich eine verbindliche Quotenregelung als unabdingbar; denn nur mit ihrer Hilfe können Frauen bei Platzvergaben entsprechend ihrem Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung tatsächlich berücksichtigt werden — dank nach wie vor perfekt funktionierender patriarchalischer Strukturen.
Aber einem solchen Mittel zum Zweck haben die Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank bereits mehrfach eine klare Abfuhr erteilt.Angleichung an westliche Standards für Frauen aus den östlichen Bundesländern, heißt das fortan, gleich ihren Schwestern jenseits der Elbe die Früchte der Bonner Frauen- oder besser: Familienpolitik ernten zu dürfen? Daß diese entgegen allen Bekundungen eine Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Eltern-schaft eher erschwert denn fördert, diese schmerzhafte Erfahrung müssen Frauen, für die in der DDR weitaus bessere Konditionen selbstverständlich waren, jetzt machen. So deutet sich schon jetzt an, daß die vielgepriesene Verlängerung des Erziehungsurlaubs nach der Geburt eines Kindes ab Januar 1992 als Freibrief für die Reduzierung von Kinderkrippenplätzen mißbraucht wird. Auf welcher Grundlage, wenn nicht auf dieser, ist beispielsweise der Beschluß der Stadtverordnetenversammlung Nordhausen in Thüringen zustande gekommen, ab Januar 1992 Kinder unter zwei Jahren nur noch in Ausnahmefällen in Krippen aufzunehmen? Zweifellos kommt man auf diese Art und Weise sehr schnell zu der erwünschten Bedarfssenkung.Das Hauptmittel aber, Frauen aus dem Erwerbsleben herauszudrängen, ist ihre einseitige Festlegung auf die traditionelle Mutter- und Hausfrauenrolle. Der berühmt-berüchtigte Schandparagraph 218, der nach dem Willen der CDU/CSU jetzt auch den Frauen in den neuen Bundesländern übergestülpt werden soll,
tut dies mittels strafrechtlicher Sanktionierung des Schwangerschaftsabbruchs.Angleichung der Lebensverhältnisse um den Preis der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper? Das, denke ich, haben Frauen in den neuen Bundesländern wohl als allerletztes erwartet, als sie auf eine Veränderung ihrer bisherigen Lage hofften.Welchen tatsächlichen Stellenwert die Bundesregierung der Politik für Frauen und Jugend einräumt, das macht sich letztlich an den Finanzen fest. Da spricht die rasante Kürzung um ein Drittel einschließlich der Begründung, daß die Ursache für diesen Einschnitt nur die jetzt wegfallenden Bundeszuschüsse für den Erhalt der Kindereinrichtungen in den neuen Bundesländern sind, schon Bände. Wohlgemerkt, dies alles ist der Hintergrund für die Debatte über den sogenannten Schutz des ungeborenen Lebens.
Da der Schrumpfhaushalt des Einzelplans 17 unseres Erachtens in keiner Weise den Ansprüchen an eine wahrhaft frauen- und jugendfreundliche Gesellschaft gerecht wird, wird die PDS/Linke Liste ihm die Zustimmung verweigern.Danke.
Nun hat sich der Kollege Duve zu einer Kurzintervention gemeldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich an uns, an Sie wenden. Frau Roitzsch, Sie hatten eben in durchaus verständlicher Weise in einer Frage an die Kollegin
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Freimut DuveWegner gemeint, auch sie solle ihre Rede zu Protokoll geben
— oder sie möge es tun — und beachten, daß die Mitarbeiter jetzt noch sehr lange zu tun hätten.Ich denke, wir sollten in dieser Frage sehr behutsam miteinander umgehen. Es geschieht nicht oft, daß wir wichtige Debatten führen. Wir sind ein Parlament, und das Zuprotokollgeben liegt ausschließlich in der Entscheidung eines jeden einzelnen. Wir sollten es wirklich würdigen, wenn wir hier gemeinsam arbeiten, und wir sollten unsere gemeinsame Arbeit im Parlament und die Redeform nicht noch mehr durch solche Zwischenbemerkungen und solche Hinweise selber beschneiden. Ich bitte sehr darum, daß wir wirklich Beratungen haben und die Beratungen auch ernst nehmen.
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der Frau Kollegin Roitzsch das Wort.
Herr Kollege Duve, wenn Sie mir richtig zugehört hätten, dann hätten Sie bemerkt — Sie können es hinterher im Protokoll auch nachlesen —, daß ich die Kollegin Wegner gefragt habe, ob sie sich vorstellen könnte, daß die Kolleginnen der CDU/CSU und der FDP ihre Reden aus den und den Gründen zu Protokoll gegeben haben. Das habe ich gesagt; ich habe die Kollegin Wegner nicht aufgefordert, Ihre Rede zu Protokoll zu geben.
Nun muß ich in diesem Zusammenhang sagen — ich habe das gegenüber der Frau Präsidentin erklärt; Sie hat das leider nicht weitergegeben — , daß es eine Vereinbarung mit Haushälterkollegen der SPD gegeben hat, die gesagt haben: Wir geben die Reden ebenfalls zu Protokoll.
— Das können Sie unter sich ausmachen.
— Ich habe doch nicht von Geschäftsführern gesprochen. Hier wurde moniert, daß die Minsterinnen nicht anwesend sind. Sie haben sich auf die Absprache verlassen, und wir haben ihnen gesagt, daß sie nicht anwesend sein müßten. Ich meine, Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Wir sollten hier mit diesen Schuldzuweisungen aufhören.
Dies zeigt uns, daß das Parlament in seinen Entscheidungen frei ist, und dies war einmal mehr zu beweisen.Wir sind damit, da mir keine weiteren Wortmeldungen zur Beratung zum Einzelplan 17 vorliegen, amEnde der Rednerliste zu diesem Einzelplan angekommen.Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 17 in der Ausschußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 17 angenommen.Ich rufe nun den Einzelplan 18 und den heute morgen aufgesetzten Zusatzpunkt auf:Einzelplan 18Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren— Drucksachen 12/1418, 12/1600 —Berichterstattung:Abgeordnete Irmgard Karwatzki Dr. Sigrid HothDr. Konstanze WegnerBeratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Iwersen, Dieter Maaß , Siegfried Scheffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDWohnen im Alter— Drucksache 12/1571 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Familie und SeniorenEs wurde der Wunsch geäußert, die Reden zum Einzelplan 18 zu Protokoll zu geben, und zwar von den Kolleginnen Frau Dr. Wegner, Frau Dr. Hoth, Frau Ministerin Rönsch, Frau Karwatzki und Frau Höll. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dieser Abweichung von unserer Geschäftsordnung. Wird die Zustimmung erteilt? — Das ist der Fall.*)Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen mir nicht vor. Deshalb kommen wir sofort zur Abstimmung.Wer stimmt für den Einzelplan 18 in der Ausschußfassung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 18 so angenommen.Der Antrag der Fraktion der SPD zum Wohnen im Alter auf Drucksache 12/1571 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und zur Mitberatung an den Ausschuß für Familie und Senioren überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.Nun rufe ich auf:Haushaltsgesetz 1992— Drucksachen 12/1601, 12/1602 —Berichterstattung:Abgeordnete Jochen Borchert Adolf Roth
Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg) Helmut EstersEine Aussprache ist dafür nicht vorgesehen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Wer stimmt*) Anlage 5
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Vizepräsidentin Renate Schmidtfür das Haushaltsgesetz 1992 einschließlich des Gesamtplans in der Ausschußfassung? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Haushaltsgesetz 1992 ist damit in zweiter Beratung angenommen.Ich rufe nun Tagesordnungspunkt V aus:Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungDer Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995— Drucksachen 12/1001, 12/1329, 12/1629 —Berichterstattung:Abgeordnete Jochen Borchert Adolf Roth
Dr. Wolfgang Weng Helmut Wieczorek (Duisburg) Helmut EstersBerichtigung60. Sitzung, Seite 5120 C, zweiter Absatz: In der 4. Zeile muß es statt „Eurokomputer" „Neurokomputer" heißen.In der 5. Zeile ist statt „neu" „verstärkt" zu lesen.Eine Aussprache ist auch dafür nicht vorgesehen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1629. Der Ausschuß empfiehlt, von der Unterrichtung durch die Bundesregierung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußempfehlung so angenommen.Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. November 1991, 9 Uhr ein. Ich wünsche einen schönen Abend und eine gute Nacht.Die Sitzung ist geschlossen.