Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit der Lehrstellensituation , dem Zwischenbericht des Arbeitsstabes Berlin/Bonn und dem Nachtragshaushalt 1991 befaßt hat.
Ich erinnere nochmals an unsere Regeln, nach denen im Anschluß an die Behandlung dieser Themen Fragen zu anderen Bereichen gestellt werden können.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb. Herr Bundesminister, bitte.
Meine Damen und Herren! Es ist eine erfreuliche Situation, daß ich Ihnen heute in diesem Hause als Berichterstatter für einen Tagesordnungspunkt der Kabinettssitzung sagen kann, daß es im Osten keine Lehrstellenkatastrophe gegeben hat.Wenn ich mit Zahlen aufwarten darf: Nach der Statistik der Bundesanstalt für Arbeit waren bis Ende September 1991 in den neuen Ländern 100 236 Ausbildungsplätze als verfügbar gemeldet, davon 62 859 betriebliche und 37 377 außerbetriebliche Berufsbildungsplätze. 6 659 Plätze sind noch nicht besetzt. Dem stehen nur 2 421 Bewerber gegenüber.In der Bundesrepublik , wenn ich das so ausdrücken darf, sind Sie gewohnt, daß es mehr freie Stellen als Lehrlinge gibt, die sich dafür bewerben. Ich darf damit sagen, daß auch die neuen Bundesländer in dieser Frage in bescheidenem, aber deutlichem Maße nachgeholt haben. Ich halte das für einen Erfolg.
Ich darf auch darauf hinweisen, daß neben den sozusagen über die Geschäftsbilanz der Arbeitsämter gelaufenen Vermittlungen bereits auch in den neuen Bundesländern Vermittlungen unabhängig davon, auf private Initiative bauend, gelaufen sind. Ich nehme dies zum Anlaß, zu sagen, daß Verhaltensweisen, die in der alten Bundesrepublik bei Lehrstellenbewerbern bekannt sind, auch in den neuen Teil derBundesrepublik Einzug gehalten haben. Das ist ein wichtiger mentaler Faktor, den ich herausstellen möchte.Ich kann daraus auch schließen, daß die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, gegriffen haben. Das ist u. a. das Sonderprogramm, wonach Kleinunternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten eine Prämie in Höhe von 5 000 DM in dem Fall erhalten, daß sie einen Lehrling zur Erstausbildung einstellen. Wir haben bisher für 12 000 Ausbildungsverhältnisse Anträge vorliegen. Damit ist das Fördervolumen von rund 60 Millionen DM, das wir in diesem Jahr zur Verfügung haben, nahezu ausgeschöpft. Man muß also auch bescheinigen, daß darin eine gewisse Planmäßigkeit in der Reaktion liegt, wie wir sie erwartet haben.Ich bitte vorwegnehmen zu dürfen: Es ist müßig, danach zu fragen, was passiert wäre, wenn dieses Programm nicht gekommen wäre. Das ist mit folgender Situation vergleichbar: Ihr Kind ist krank, und Sie fragen sich, ob Sie ihm ein Medikament geben sollen oder nicht. Ich glaube, daß man das Programm nicht danach beurteilen darf, daß die Sache funktioniert hat, sondern danach beurteilen muß, daß es mit zum notwendigen Ensemble gehört hat, um überhaupt die Funktionsfähigkeit zu erreichen.
Auch die Bundesverwaltung hat ihr Versprechen, 10 000 Plätze bereitzustellen, eingehalten.Der Treuhandanstalt möchte ich an dieser Stelle sehr dafür danken, daß sie mit aller Verantwortung und Selbstdisziplin auch dafür gesorgt hat, daß uns das Gespenst „Konkurslehrling" nicht von der anderen Seite überholt hat.Hinzu kommt noch, daß sofort nach dem Beschluß des Bundeskabinetts die Länder die Initiative aufgegriffen haben und durch ihre eigenen regional orientierten Programme das Konzept unterstützt haben. Ich darf beispielsweise das „Mädchenprogramm" von Thüringen nennen, das sehr gezielt mitgeholfen hat, daß Frauen und Mädchen bei diesem Programm nicht abseits standen, obwohl ich nicht verhehlen möchte, daß wir auch weiterhin immer wieder darauf hinzuweisen haben, daß auch weibliche Lehrlinge mit zu
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4034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Bundesminister Dr. Rainer Ortlebden zukünftigen Fach- und Führungskräften gehören können.Es gibt natürlich ein Problem, das ich nicht verschweigen will: Wir haben etwa 40 % dieser Ausbildungsmöglichkeiten dadurch geschaffen, daß wir außerbetriebliche Bildungsmöglichkeiten anbieten. Das ist, wenn Sie so wollen — ich strapaziere dieses Wort ungern — , ein ordnungspolitischer Verstoß. Ich bitte aber sehr herzlich darum, nicht diejenigen, die sich in diesen Ausbildungen befinden, dadurch zu verunsichern, daß man ihnen einredet, es wäre eine Ausbildung zweiter Klasse.
Das ist sie keineswegs. Sie wird von genauso qualifizierten Fachkräften durchgeführt, wie das in der gesunden dualen Ausbildung stattfindet.
— Kein Widerspruch, Frau Odendahl. Es gibt qualifizierte und weniger qualifizierte Lehrkräfte. Das ist überall so. Es gab immer schon in den Schulen Gute und Schlechte.
Einen Moment, meine Damen und Herren!
Nein, nein!
Herr Kollege Conradi, Sie können ja gleich Fragen stellen, denn der Herr Bundesminister ist mit der vereinbarten Redezeit am Ende. Er hat aber dann Gelegenheit, auf Ihre Fragen zu antworten.
Vielen Dank, Herr Bundesminister.
Als erstes hatte sich die Kollegin Doris Odendahl gemeldet. Sie haben das Wort, Frau Kollegin.
Ja, Herr Minister, wenn wir schon bei „gesund" und „krank" sind — Sie haben das Stichwort gegeben — , lassen Sie mich etwas fragen, denn diese Frage drängt sich geradezu auf: Stimmen Sie mir zu, daß es bei dem Problem der beruflichen Bildung nicht darum geht, sich darauf zu beschränken, sozusagen Köpfe zu zählen, seien sie denn kurzhaarig oder langhaarig? Ich frage Sie also, wie weit auch Mädchen und Frauen Berufsangebote gemacht wurden. Ich spreche jetzt ausdrücklich nicht von einem Ausbildungsplatz, sondern von Berufen, die ihnen dann eine Chance auf dem Arbeitsmarkt geben werden. Können Sie denn das heute schon beantworten?
Dann frage ich Sie des weiteren, weil Sie das Lehrstellenprogramm und auch die Ausnutzung mit angesprochen haben: Greift es denn in dem Ziel, das Sie sich gesetzt haben, daß das Programm von Handwerksbetrieben in Anspruch genommen wird — und in welcher Zahl?
Meine beiden Fragen laufen darauf hinaus, Sie daran zu erinnern, daß die Aufgabe des Bildungsministers nicht darin bestehen kann, nur das quantitative Problem darzustellen, sondern auch darin bestehen muß, uns inhaltlich etwas über die Ausfüllung zu sagen.
Herr Bundesminister.
Frau Odendahl, zur ersten Frage: Ich bin mir der Statistik bewußt. 57,2 To der Mädchen waren relativ benachteiligt. Nur, ich bin Mathematiker von Beruf und weiß: 7 % sind noch nicht statistisch signififkant. Das muß ich ausdrücklich sagen. Aber es ist ein Zeichen, das man nicht übersehen darf. Das will ich ausdrücklich hiermit gesagt haben.
Das soll keine Ausrede sein, sondern soll die Aufmerksamkeit der Bundesregierung für solche Probleme darlegen.Das zweite spielt auf das an, was ich sagen wollte, als ich meine Redezeit erschöpft hatte. Wie ist das qualitative Niveau? Ich bitte sehr herzlich darum, daß Sie dieser aufbrechenden Region der neuen Bundesländer nicht dadurch Klötze in den Weg stellen, daß Sie von vornherein apostrophieren, es möge die Qualität wohl nicht eingehalten worden sein. Ich spiele darauf an, daß am Ende meiner Redezeit gesagt wurde, ich hätte ja selbst differenziert. Ich habe nicht innerhalb der beiden Klassen — normale duale Ausbildung und außerbetriebliche Ausbildung — differenziert, sondern habe auf Grund Ihres Zwischenrufes innerhalb dieser Klassen differenziert. Sie werden mir nicht abstreiten können, daß es auch in einem Gymnasium gute und schlechte Lehrer geben kann. Das ist unbestreitbar. Aber die beiden Wege sind gleichwertig.
— Sie sind gleichwertig. Sie können machen, was Sie wollen. Es ist ja sehr schwer, die Wirtschaftsstruktur dieser aufbrechenden neuen Bundesländer von diesem Augenblick an a priori zu beschreiben. Es gilt der Grundsatz: Besser eine Ausbildung, die wohlfundiert ist, als keine. Jeder weiß, daß die Innovation der Technik jeden Menschen zwingt, im Leben umzulernen. Das heißt mit anderen Worten: Wenn ich eine fundierte Grundausbildung liefere, habe ich etwas für die Jugendlichen getan. Nichts anderes, als etwas für die Jugendlichen zu tun, war Aufgabe der Bundesregierung.
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Herr Conradi, Sie sind der Dritte. Es sind zwei Kollegen aus Ihrer Fraktion vor Ihnen.
Jetzt muß ich noch einmal das Regelwerk erläutern: Wenn wir viel Zeit haben, lassen wir in der Regierungsbefragung Zusatzfragen zu. Ich habe den Eindruck, daß wir heute sehr wenig Zeit haben. Es haben sich allein zu diesem Thema schon vier weitere Kollegen gemeldet, und wir haben noch zwei weitere Themen. Wir wollen so verfahren, daß auch noch ein bißchen Zeit bleibt für Themen, die zwar im Bereich der Aktualität liegen, aber außerhalb der heutigen Kabinettsberatung.
Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Peter Eckardt zu einer Frage gebe. Damit verknüpfe ich die Bitte sowohl an die Fragesteller als auch, Herr Bundesminister, an die Regierungsseite, die Beiträge knapp zu halten, damit wir das Pensum bewältigen können.
Herr Minister, zur Aufteilung in außerbetriebliche Ausbildung und, wie Sie es genannt haben, gesunde betriebliche Ausbildung, die Sie vorgenommen haben: Könnten Sie sagen, wie sich das geschlechtermäßig verteilt? Und könnten Sie skizzenhaft sagen, in welchen Berufen es sich überwiegend um eine außerbetriebliche Berufsausbildung und in welchem um eine betriebliche Berufsausbildung handelt?
Die Verteilung nach Geschlechtern ist nach dem, was wir derzeit wissen, gleich. Es gibt also keine Besonderheiten, die hervorgehoben werden müssen.
Was die Richtung von Berufen angeht, können Sie sich diese Frage fast selbst beantworten. Abgeleitet aus den zerfallenden Wirtschaftsstrukturen der DDR ist natürlich all das, was in Großbetrieben üblich ist, derzeit in der Hand von außerbetrieblichen Ausbildungsstätten. Das heißt aber nicht, daß damit handwerkliche Qualifikationen, die anders angesetzt werden können, vernachlässigt werden. Es ist gerade Ziel dieser außerbetrieblichen Einrichtungen, zukünftige Wirtschaftsstrukturen mit zu bedenken. Insbesondere ist in vielen Regionen die außerbetriebliche Einrichtung eine sozusagen präventive überbetriebliche Einrichtung; die Terminologie ist ja bekannt, und ich brauche das nicht zu erläutern.
Herr Kollege Günter Rixe.
Herr Minister, in der Anhörung des Ausschusses in Weimar ist gesagt worden, daß es ungefähr 170 000 bis 174 000 Bewerber um Ausbildungsstellen in den fünf neuen Ländern gibt. Sie haben eben die Zahlen aus der Statistik der Arbeitsämter genannt. Jetzt frage ich Sie: Wo sind denn die anderen 25 000 bis 30 000 Jugendlichen? Die müssen ja irgendwo auftauchen. Wo sind die Konkurslehrlinge aus der Zeit von 1990 bis zum Frühjahr 1991? Wo sind die Abbrecher? Wo finden wir diese Jugendlichen wieder?
Ich darf eine Vorbemerkung machen: Ich möchte einen Erfolg nicht per Diskussion zum Mißerfolg werden lassen.
Ich muß also ausdrücklich sagen, daß ich nicht anders handeln kann, als die Angebots- und Nachfragesituation zu betrachten. Irgendwo verschwundene Lehrlinge kann es auch für die Bundesregierung nicht geben. Wenn die Tatsachen die sind, daß 6 000 und mehr Plätze frei sind und es noch ca. 2 000 unvermittelte Bewerber gibt, dann kann ich nicht die Frage stellen: Wo sind die anderen? Ich habe nämlich genaue Informationen darüber, daß nicht etwa wenige, sondern alle Konkurslehrlinge mit in dieser Bilanz enthalten sind. Ich kann aber niemanden zwingen, zum Arbeitsamt zu gehen.
Herr Abgeordneter Peter Conradi.
Herr Minister, sind Sie sich darüber im klaren, daß Sie mit Ihrer unbewußten Außerung vom „gesunden" dualen System selber zumindest Anlaß zu der Vermutung gegeben haben, daß Sie selbst eine solche Differenzierung vornehmen? Ich bin ja froh, daß Sie versucht haben, dies zu korrigieren; wenn es aber der Genosse Freud war, der aus Ihnen gesprochen hat, hat er deutlich gemacht, was Sie als gesund und was Sie als weniger gesund ansehen.
Ich bin lange nicht mehr als Genosse angeredet worden.
Trotzdem möchte ich ausdrücklich sagen: Mit „gesund" habe ich nicht auf die Beurteilung hinsichtlich der Ausbildungsqualität reagiert, sondern auf das Problem, daß eine Soziale Marktwirtschaft sowohl gesunde als auch gestützte Strukturen hat. Die duale Ausbildung als Selbstregulierungssystem ist eine gesunde Struktur, während das, was der Staat stützt, immer ein bißchen Planwirtschaft ist. Was ich von Planwirtschaft halte, können Sie sich denken.
Bitte, Frau Kollegin Stachowa.
Herr Minister, mit welchen langfristigen Maßnahmen will die Bundesregierung die dringend erforderliche Umstrukturierung der Berufsausbildung in den fünf neuen Bundesländern in Richtung eines wesentlich höheren Anteils an nichtgewerblichen bzw. Dienstleistungsberufen fördern? Die Bundesregierung ging im Frühjahr von einer geschätzten Zahl von 10 000 ostdeutschen Lehrstellenbewerbern aus, die in den alten Ländern
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Angela Stachowaeine Lehrstelle suchen und finden wollten. Wie hoch schätzt die Bundesregierung zur Zeit die tatsächliche Zahl?
Die Zahl ist wahrscheinlich gleich geblieben; ich lasse mich dabei nicht wegen tausend plus oder minus lumpen. Ich muß eindeutig sagen: Ich halte das für eine Naturkonstante. Jeder junge Mensch geht auf die Walz; das war früher, im Mittelalter, außerordentlich üblich und sollte auch in der Neuzeit nicht verleugnet werden. Ich glaube, daß das auch immer so bleiben wird.
Interessant wäre für mich natürlich, wenn es eines Tages die Umkehr gibt, daß auch welche aus dem Westen nach dem Osten gehen, um bestimmte Berufe, die dort — und damit auch im Westen — selten sind, zu ergreifen.
Bei dem, was Sie von den qualitativen Dingen des Umbruchs sagen, bin ich sehr bemüht, daß in dem mir für die nächste Vermittlungsperiode jetzt noch zur Verfügung stehenden Jahr im Osten vieles getan werden kann. Das ist ein Ensemble von Maßnahmen: Einerseits gibt es Geld durch das Programm Aufschwung Ost, andererseits gibt es die Möglichkeit, daß Länder und Kommunen entscheiden, so daß dort Substanzen für eine vernünftige Berufsausbildung geschaffen werden.
Bitte glauben Sie mir aber auch — ich bin mir sicher, daß Sie das auch wissen — : Man hat im Osten nicht bei Null angefangen. Wer das zu propagieren versucht, ist ohnehin im Irrtum begriffen, so daß ich völlig sicher bin, daß wir mit den Potenzen, die die Bundesregierung hier anwenden wird, das erreichen, was wir wollen.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. Damit will ich dieses Thema jetzt gerne abschließen, damit wir noch Gelegenheit haben, zu den beiden anderen und zu möglichen weiteren zu kommen.
Ich rufe jetzt den Themenbereich „Zwischenbericht Arbeitsstab Berlin/Bonn" auf. Als erstes hat sich die Kollegin Frau Editha Limbach gemeldet.
— Entschuldigung, damit keine Verwirrung auftritt: Einen Bericht gibt die Bundesregierung zu Beginn dieser Befragung nur zu einem Thema. Zu den anderen angesprochenen Themen werden Fragen gestellt und Antworten erteilt.
— Herr Conradi, Sie sind bereits wieder der fünfte auf der Liste.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Vielen Dank.
Ich möchte gerne wissen, wie die Bundesregierung sicherstellt, daß mit der vorgesehenen Verlagerung von Regierungsfunktionen nach Berlin der Teil des Beschlusses des Deutschen Bundestages verwirklicht wird, der ausdrücklich bestimmt, daß — ich zitiere —„der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten" bleibt, was nach unserer Auffassung nicht die mathematische Mehrheit bedeutet, sondern nach allgemeinem Sprachgebrauch — dem ich hier folge — 80 To sind?
Frau Kollegin Limbach, die Bundesregierung nimmt den Beschluß in allen Teilen sehr ernst, insbesondere natürlich auch die Festlegung, daß der größte Teil der Arbeitsplätze hier verbleiben solle. Ich bin aber nicht in der Lage, irgendwelche Prozentzahlen zu nennen. Sicher ist, daß es mehr als
50 % sein werden.
Frau Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Ich fühle mich etwas gehandicapt, denn ich hatte gehofft, daß uns die Bundesregierung nun sagt, was sie in bezug auf den Zwischenbericht heute morgen besprochen und was sie gegebenenfalls beschlossen hat. Jetzt muß ich es erfragen: Will sie die vertikale Lösung — einige Ministerien bleiben ganz hier — oder die horizontale Lösung oder ein Mischmodell? Und wie viele Arbeitsplätze würden dadurch hierbleiben und wie viele nach Berlin gehen?
Nächste Frage: Mir liegt das Protokoll aus der Staatssekretärsrunde vor. Mir scheint, daß sich dieses Protokoll von dem Zwischenbericht der KroppenstedtKommission unterscheidet. In dem Protokoll steht nämlich auf Seite 5:
Das Kopfstellenmodell wird als problematisch angesehen. Das gleiche gilt für das Modell, wonach einige Ressorts ganz nach Berlin gehen, andere ganz in Bonn bleiben. Kein Ressort möchte in Bonn allein zurückbleiben.
Ich habe das erhebliche Bedenken, daß die Staatssekretäre, auch wenn sich der Kroppenstedt-Bericht für das Mischmodell ausspricht, das in der Praxis ablehnen.
Meine Frage ist also: Was haben Sie heute beschlossen, und was bedeutet das für die Hälfte der Arbeitsplätze?
Denn Frau Limbach hat recht: „Größter Teil" ist nicht
51 %, sondern deutlich mehr. Aber mindestens 51 müßten Sie uns hier doch nachweisen.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, das Bundeskabinett hat heute einen Zwischenbericht dieser Kommission zustimmend zur Kenntnis genommen.
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Parl. Staatssekretär Eduard LintnerSie beziehen sich jetzt im Grunde auf einzelne Diskussionsbeiträge bei der Erarbeitung des Berichts, die aber für den Bericht insgesamt nicht maßgebend sind.Ich kann Ihnen sagen, daß ein Kombinationsmodell bevorzugt wird, weil wir glauben, daß nur mit Hilfe dieses Modells alle Elemente des Bundestagsbeschlusses, so wie sie gemeint waren, tatsächlich berücksichtigt werden können, insbesondere der von Ihnen jetzt herangezogene Aspekt des größten Teils der Arbeitsplätze.Kombinationsmodell heißt, daß überlegt werden muß, ob nicht einzelne Ressorts hierbleiben können und was von einzelnen Ressorts abgeschichtet werden und hierbleiben kann. Aber genaue Zahlen können erst genannt werden, wenn im weiteren Verlauf der Beratungen, auch im Einzelgespräch mit den jeweils betroffenen Ressorts, konkrete Zahlen erarbeitet worden sind. Diese konkreten Zahlen stehen im Moment noch nicht zur Verfügung.
Herr Abgeordneter Dr. Franz Möller.
Herr Staatssekretär, ich nehme Ihre Antwort auf die erste Frage auf, daß die Bundesregierung den Beschluß vom 20. Juni ernst nimmt. Das ist gut so.
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Beschluß vom 20. Juni eine Einheit bildet und daß derjenige, der diese Einheit in Zweifel zieht, den ganzen Beschluß in Zweifel zieht, und zwar politisch und rechtlich? — Das ist die erste Frage.
Zweitens. Wann wird die Bundesregierung zur Ausfüllung des Beschlusses vom 20. Juni einen Gesetzentwurf vorlegen?
Herr Kollege Möller, erstens: Die Bundesregierung teilt die Meinung, daß es sich um eine Einheit handelt. Sie wird nicht zulassen, daß diese Einheit aufgespalten wird. Insofern müssen wir alles, was zu diesem Thema gesagt wird, als Meinungsäußerung natürlich sehen; aber es stimmt nicht unbedingt mit dem überein, was die Bundesregierung dazu meint.
Zweitens. Ob zur Ausfüllung des Beschlusses ein Gesetz erforderlich ist oder ob das auf anderem Wege geschehen kann, kann ich im Moment noch nicht beantworten. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen. Auf jeden Fall bleibt es bei der Organisationsgewalt der Bundesregierung. Die Bundesregierung muß für sich entscheiden, wie die Ressorts im einzelnen verteilt werden.
Frau Kollegin Dr. Liesel Hartenstein.
Herr Staatssekretär, meine erste Frage bezieht sich auf das Selbstverständnis des Arbeitsstabes. Woher nimmt der Arbeitsstab die Berechtigung, sich so zu definieren, daß seine Aufgabe nur die interne Meinungsbildung des Bundes
sei, und daraus die Konsequenz zu ziehen, daß der Senat von Berlin, wie uns der Senator für Bundes- und Europaangelegenheiten aus Berlin mitteilt, offensichtlich weder an den Besprechungen des Arbeitsstabes ingesamt noch an denen der Arbeitsgruppen teilnehmen kann? Ich halte das nicht nur für bedenklich, sondern eigentlich für fahrlässig, insbesondere was die Arbeitsgruppe 1, Baumaßnahmen, und vor allen Dingen was die Arbeitsgruppe 5, Verkehrsinfrastruktur, betrifft. Ich bin der Meinung, daß hier neben Berlin von Anfang an auch das Land Brandenburg beteiligt werden müßte; denn die anstehenden Aufgaben sind innerhalb des Stadtgebiets von Berlin gar nicht zu lösen.
Zweite Frage: Hat sich der Arbeitsstab in irgendeiner Weise einen Zeithorizont gesetzt, bis wann beispielsweise über die Kernfrage, nämlich was die Kernbereiche der Regierungsfunktionen sein sollen, also was in Bonn bleiben und was nach Berlin kommen soll, entschieden werden soll?
Ich frage dies deswegen, weil das natürlich Rückwirkungen nicht nur für Berlin, sondern auch für die Planungen der Region Bonn hat.
Frau Kollegin, zunächst einmal zur Frage der Aufteilung in Kernbereich und übrigen Bereich: Darüber wird zügig weiterberaten. Die Kommission hat nur einen Zwischenbericht gegeben. Dies wird einer der nächsten Schritte sein.Im Zusammenhang mit dem Zeithorizont muß ich darauf hinweisen, daß er natürlich insbesondere vom Deutschen Bundestag bestimmt wird; denn dieser gibt im Grunde genommen vor, wann die Regierung reagieren muß.
Solange der Bundestag von sich aus keinen Zeitplan aufgestellt hat, kann sich die Bundesregierung zu Zeitplänen natürlich auch nicht verbindlich äußern.Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben, muß ich sagen: Der Senat von Berlin wird umfassend beteiligt. Es liegt, glaube ich, in der Natur der Sache, daß man angesichts der Baulichkeiten, die ich brauche, angesichts der Infrastruktur und angesichts der Verkehrsprobleme das Verfahren nicht so wählen kann, daß man sich hinterher noch einmal zusammensetzen und beraten muß. Vielmehr ist es sinnvollerweise auch im Interesse der Arbeitsökonomie erforderlich, das immer gleichzeitig zu tun.Gleiches wird sicher auch für das Land Brandenburg gelten, soweit seine Belange berührt sind. Ich bin mit Ihnen einer Meinung, daß es dort wesentliche Ansatz- und Berührungspunkte gibt.Was Sie in Sachen Verkehr gesagt haben, liegt auf der Hand. Für die Regierungsfunktion Berlins wird von entscheidender Bedeutung sein: Wie ist z. B. der Luftverkehr geregelt? Wie sind die Fernanbindungen bei der Eisenbahn konzipiert? All diese Dinge kann
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Parl. Staatssekretär Eduard Lintnernicht die Bundesregierung allein besprechen, beraten und entscheiden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich muß wirklich eine geschäftsleitende Bemerkung machen: Wenn Sie diese Regierungsbefragung als Debatte betrachten und mit großen Beiträgen und dreigliedrigen Fragen kommen, dann löst das natürlich weitere Fragen aus. Wir haben das Thema Bonn/Berlin hier schon einmal ein bißchen reichlicher besprochen, und es wird noch weitere Gelegenheiten geben.
Die Kollegin Hartenstein hat eine zweiteilige Frage gestellt.
— Sie hatten eine zweiteilige Frage gestellt
— jetzt Bemerkungen zu machen geht überhaupt nicht —, und Frau Matthäus-Maier hat ebenfalls einen sehr umfassenden Debattenbeitrag geliefert. Daraufhin meldet sich Frau Limbach zum zweitenmal, Frau Matthäus-Maier ebenfalls.
— Wir kommen so nicht weiter. Das geht auf Kosten der anderen Kollegen und der anderen Themenbereiche. Wir wollen uns an das halten, was wir uns vorgenommen haben.
Der Kollege Conradi hat auf seine Frage verzichtet. Jetzt wird Herr Bauer die Frage von Frau Limbach stellen, bitte sehr.
Das ist durchaus eine faire Vorgehensweise. — Ich möchte die Frage stellen, ob die Bundesregierung die Auffassung teilt, daß der Beschluß des Bundestages, der von einer fairen Aufgabenteilung zwischen Berlin und Bonn ausgeht und Bonn als Verwaltungszentrum der Bundesrepublik vorgibt, bedeutet, daß Bonn auch in Zukunft eine politische Rolle spielen wird.
Besser könnte ich es nicht sagen. Ich sage uneingeschränkt: Ja.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich hoffe, wir haben damit das Thema erschöpfend abgehandelt. Ich bitte herzlich um Verständnis; es macht mir auch keinen Spaß, die Fragemöglichkeiten zu beschränken, aber es geht nicht anders.
Ich rufe jetzt den Themenbereich Nachtragshaushalt 1991 auf. Gibt es dazu Fragen? — Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir sozusagen zum freien Teil der aktuell interessierenden Fragen. Als erstes hat sich dazu der Kollege de With gemeldet. Bitte sehr.
Hat sich das Bundeskabinett mit Pressemeldungen vom Sonntag und Montag dieser Woche befaßt, nach denen der Bundesnachrichtendienst das Bundeskanzleramt schon am 28. Februar mit sicheren Erkenntnissen über die Stasi-Mitarbeit von Lothar de Maizière versorgt haben soll, worauf der Koordinator der Dienste, Herr Staatsminister Stavenhagen — er ist gerade eingetroffen — , gesagt haben soll, der Bundesnachrichtendienst möge sich nicht nur um Herrn de Maizière, sondern auch um Herrn Stolpe kümmern?
Herr Kollege, das Bundeskabinett hat sich mit dieser Frage nicht befaßt. Ich gebe Ihnen dennoch gerne eine Antwort:
Es gab im Frühjahr 1990 und auch am 28. Februar, dem Termin, den Sie genannt haben, unbestätigte und nicht verifizierbare Hinweise auf Stasi-Verbindungen von Herrn de Maizière und anderen.
Es ist unzutreffend, daß in dem Gespräch vom 28. Februar der Name von Herrn Stolpe überhaupt erwähnt wurde.
Genauso ist es unzutreffend, daß ich dem Bundesnachrichtendienst einen Auftrag gegeben hätte, Herrn Stolpe auszuforschen.
Ich muß klar sagen: Es ist nicht die Aufgabe der geheimen Nachrichtendienste, Personen daraufhin auszuforschen, ob sie in der Vergangenheit Verbindungen zur Stasi hatten oder nicht.
Die nächste Frage, Herr Kollege Achim Großmann.
Ich habe eine Frage zum Thema Wohnungsbauprogramm. Trifft es zu, daß das Kabinett heute das Wohnungsbauprogramm der Bauministerin mit der Begründung abgelehnt hat, es komme nur ein Wohnungsbauprogramm in Frage, das nichts zusätzlich kosten werde? Erwägt die Ministerin auf Grund des Scheiterns ihres Programms ihren Rücktritt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, bitte sehr.
Herr Kollege Großmann, das, was Sie gefragt haben, trifft nicht zu. Es trifft zu, daß sich das Bundeskabinett heute mit dem wohnungspolitischen Programm der Bauministerin befaßt hat. Das Kabinett hat seine Entscheidung zurückgestellt und hat seine endgültige Zustimmung von der Klärung anderer Fragen abhängig gemacht, die nicht den Bundesbauminister betreffen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4039
Herr Abgeordneter Norbert Gansel, Sie haben die nächste Frage.
Hat das Kabinett heute eine Entscheidung über die Einrichtung einer Stiftung zugunsten polnischer Zwangsarbeiter getroffen? Wenn ja, warum werden die Mittel für diese Stiftung, die wir seit langem gefordert haben, nur von den deutschen Steuerzahlern aufgebraucht, und warum werden zur Finanzierung nicht die Firmen und Unternehmen herangezogen, die seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich existieren und aus der Ausbeutung der polnischen Zwangsarbeiter Gewinn und wirtschaftliche Stärke gezogen haben?
Herr Kollege Gansel, darüber ist heute im Kabinett nicht gesprochen worden. Deshalb ist auch keine Entscheidung gefallen.
Die nächste Frage, Herr Kollege Stephan Hilsberg.
Ich habe eine Frage an Herrn Staatsminister Stavenhagen im Anschluß an die Frage von Herrn de With. Kann das Kanzleramt hundertprozentig ausschließen, daß der Tatbestand einer Verstrickung des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière in das MfS in den häufigen Gesprächen zwischen Kanzleramt und Ministerpräsidentenkanzlei der DDR eine Rolle gespielt hat?
Nein, Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, daß es im Frühjahr unbestätigte Hinweise über Herrn de Maizière und andere gab, daß aber der Wahrheitsgehalt solcher Hinweise nicht zu bestätigen war. Solche Hinweise sind an das Kanzleramt gegeben worden, aber mit dem deutlichen Hinweis, daß sie nicht zu verifizieren sind.
Herr Kollege Conradi.
Herr Staatsminister, sind Sie sich über die Brisanz des Vorgangs im klaren? Wenn es so gewesen wäre, daß das Bundeskanzleramt im Frühjahr 1990 über mögliche Stasi-Verbindungen von Herrn de Maizière unterrichtet war, hätten Sie im Frühjahr, im Frühsommer und im Sommer ständig mit einem Vertragspartner über die Einheitsverträge verhandelt, über den Sie belastendes Material hatten und der insofern in seinen Vertragsverhandlungen nicht uneingeschränkt frei war.
Herr Kollege, 'es gab kein belastendes Material; ich habe bereits darauf hingewiesen. Es gab im Frühjahr über Herrn de Maizière und über eine Reihe von anderen Persönlichkeiten der damaligen DDR immer wieder solche Hinweise. Es ist nicht die Aufgabe der geheimen Nachrichtendienste, ihren Wahrheitsgehalt zu verifizieren. Deswegen haben die geheimen Nachrichtendienste solche Weisungen von uns auch nicht bekommen.
Herr Kollege Gansel.
Ich dachte, daß Geheimdienste dazu da wären, Hinweise
zu verifizieren. Oder weisen sie nur auf Wahrheiten hin?
Herr Kollege, es ist nicht Aufgabe der geheimen Nachrichtendienste — —
— Aber ich möchte es gerne beantworten.
Es ist nicht Aufgabe der geheimen Nachrichtendienste, Personen daraufhin auszuforschen, ob sie eine Stasi-Verbindung hatten oder nicht.
Das ist richtig. Es kann ja auch mal passieren, daß etwas Richtiges gesagt wird.
Jetzt kommt meine Frage. Sie haben in Ihrer ersten Antwort von nicht verifizierbaren Quellen gesprochen.
Aber wenn der „Informationsgehalt" nicht verifizierbar war — diese Verifizierung ist nach meiner Auffassung im allgemeinen schon die Aufgabe von Geheimdiensten — , dann müßten Sie uns doch sagen können, was für Quellen das waren. Auf welche Quellen stützten sich diese Hinweise?
Herr Kollege, das kann ich Ihnen in allgemeiner Form sagen. Im Frühjahr 1990 gab es eine nicht geringe Zahl von Überläufern, Informanten, die bei den Diensten Kenntnisse vorgetragen haben, zum Teil auch gleichzeitig, zum Teil sogar schon vorher Kenntnisse oder vermeintliche Kenntnisse bei der Presse vorgetragen haben. Über die Motive habe ich nicht zu spekulieren. Ich kann nur wiederholen, daß Belege und Nachweise nicht aufgelaufen und nicht angekommen sind.
Herr Kollege Hilsberg, Norbert Gansel hat jetzt auch zwei Fragen gestellt, aber zu verschiedenen Themen. Im übrigen haben wir es jetzt während der ganzen Regierungsbefragung so gehalten, daß jeder nur eine Frage stellt, und wir sind jetzt schon eine Minute über die Zeit hinaus. Ich möchte das Thema aber nicht abwürgen. Wenn Sie noch eine Frage haben — bitte. — Herr Staatsminister, Sie sind sicher zur Beantwortung bereit?
Herr Stavenhagen, noch eine Nachfrage, weil Sie auf meine Frage nicht genau geantwortet haben: Können Sie ausschließen, daß aus Ihrer Kenntnis der Tatbestand bzw. der Verdacht, daß de Maizière in das MfS verwickelt gewesen sein kann, in den Gesprächen zwischen Kohl und de Maizière eine Rolle gespielt haben?
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4040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Zwischen dem Bundeskanzler und Herrn de Maizière? — Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich kann nur sagen, daß solche Hinweise über Herrn de Maizière und andere an das Kanzleramt gegangen sind.
Wir sind zwar schon über die Zeit hinaus, aber bitte, Frau Kolbe.
Ich habe auch diese Frage: Bei der Brisanz dieses Themas würde es mich interessieren, welche Möglichkeiten die Bundesregierung, um verantwortungsbewußt zu handeln, genutzt hat, um dieses so wichtige Problem gerade für uns Ostdeutsche zu klären.
Frau Kollegin, ich kann auf die laufende Gesetzgebung im Zusammenhang mit den Stasi-Akten und der Gauck-Behörde verweisen. Ich muß aber nochmal darauf hinweisen, daß die geheimen Nachrichtendienste für so etwas nicht instrumentalisiert werden dürfen. Ich werde das für mich auch stets ablehnen.
Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Lintner hat mich eben gebeten, schnell eine Antwort ergänzen zu dürfen. — Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Präsident, ich muß die vorhergehende Antwort korrigieren. Das liegt daran, daß im Verzeichnis derjenigen Tagesordnungspunkte, die ohne Aussprache heute vom Kabinett beschlossen worden sind, der Punkt 6 nicht aufgeführt war. Ich kann jetzt also bestätigen, daß eine Vorlage zur Vereinbarung über einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland für die Stiftung betreffend deutsch-polnischer Aussöhnung vorgelegen hat. Das Kabinett hat dem zugestimmt.
Ich wollte meine Frage beantwortet haben: Warum muß allein der deutsche Steuerzahler für diese dringend notwendige Stiftung aufkommen, und warum werden nicht die Firmen beteiligt, die heute kontinuierlich seit den Zeiten der Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg existieren und die dabei große Gewinne gemacht haben?
Herr Kollege Gansel, ich glaube, Sie werden mir zustimmen, wenn ich darauf hinweise, daß das ein rechtliches Haftungsproblem ist. Die Bundesregierung kann keine private Firma dazu zwingen, so etwas zu tun, sondern sie muß sich nach der Rechtslage richten, und diese schließt einen solchen Zwang einfach aus.
Herr Kollege, wir können das Spiel jetzt von vorn anfangen. Ich habe jedem nur
eine Frage gestattet. Die Kollegen waren so fair, sich bei dem Thema Bonn — Berlin zu beschränken.
— Ja, aber wir sind längst über die Zeit, Herr Conradi.
Ich habe das Thema wirklich nicht beschränkt, und ich habe auch dafür gesorgt, daß es noch behandelt werden kann. Aber jetzt wollen wir die Regierungsbefragung beenden.
Wir kommen jetzt zur Fragestunde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
— Drucksachen 12/1301, 12/1313 —
Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, Dr. Ottfried Hennig, die Einstellung der türkischen Militärhilfe der Bundesrepublik Deutschland für die Türkei zu überprüfen, und welche Initiativen wird sie sofort ergreifen, um die Türkei zur Beendigung ihrer Angriffe auf kurdisches Gebiet im Irak zu bewegen?
Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Schäfer zur Verfügung.
Herr Kollege, die Bundesregierung nutzt alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, die Türkei nachdrücklich zur Einhaltung des Völkerrechts und der Verpflichtungen der Schlußakte von Helsinki zu veranlassen. Dies hat Botschafter Eickhoff am 11. Oktober 1991 in Ankara gegenüber der türkischen Regierung deutlich gemacht. Unabhängig von den aktuellen Ereignissen hat der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages am 9. Oktober auf Grund der veränderten Bedrohungssituation in Europa die NATO-Verteidigungshilfe für alle drei Empfängerländer ab 1992 um insgesamt 30 Millionen DM gekürzt. Die Türkei, die bisher den größten Anteil an Verteidigungshilfe erhielt, wird von den Kürzungen am stärksten betroffen. Ein Beschluß der Bundesregierung über weitere Maßnahmen liegt noch nicht vor.
Zusatzfrage, bitte schön.
Nein, Herr Präsident, das ist keine Zusatzfrage, sondern ich habe eine Doppelfrage gestellt. Dies ist nach der Geschäftsordnung zulässig. Nur die zweite Hälfte der Doppelfrage ist beantwortet worden. Die Regierung ist verpflichtet, meine Fragen zu beantworten. Ich stelle keine Zusatzfrage. Ich möchte die erste Hälfte meiner Doppelfrage beantwortet haben.
Das ist jener Teil, der sich auf Herrn Staatssekretär Hennig und die Einstellung der Militärhilfe an die Türkei bezieht. Herr Staatsminister, bitte schön.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4041
Helmut Schäfer, Staatsminister: Sie hatten in Ihrer Frage, wenn ich es recht sehe, auf Herrn Dr. Hennig Bezug genommen. Ich muß Ihnen gestehen: Ich habe hier nur eine Frage vorliegen.
Das ist Sache der Bundesregierung. Dann bitte ich, einen Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums zu holen, damit die erste Hälfte meiner Frage beantwortet werden kann. — Da sitzt ja ein Staatssekretär; er wird dazu in der Lage sein.
Es handelt sich um die Frage des Abgeordneten Gansel, ob die Bundesregierung die Auffassung des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Verteidigung, Dr. Hennig, teilt, die Einstellung der Militärhilfe der Bundesrepublik Deutschland an die Türkei zu überprüfen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich habe diese Frage beantwortet, indem ich gesagt habe: Ein Beschluß der Bundesregierung über weitere Maßnahmen liegt nicht vor.
Herr Abgeordneter, Sie können sich damit möglicherweise nicht zufriedengeben. Aber wenn die Bundesregierung dies als Antwort betrachtet, muß ich das akzeptieren.
Nun können Sie zwei Zusatzfragen stellen.
Meine erste Zusatzfrage lautet: Teilt die Bundesregierung die Proteste von Staatssekretär Hennig gegen die türkischen Aktionen gegen kurdische Stützpunkte im Irak? Wenn sie diese Proteste teilt: Warum hat der deutsche Botschafter in Ankara am 11. Oktober die Vorabinformation der türkischen Regierung, daß solche Angriffe beabsichtigt seien, widerspruchslos hingenommen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zunächst kann ich nur sagen: Es ist nicht Sache des Auswärtigen Amts, Äußerungen eines Kollegen aus dem Verteidigungsministerium hier zu kommentieren, zu beurteilen.
Es ist aber mein Recht zu fragen.
Nun wollen wir den Staatsminister in Ruhe antworten lassen.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das ist der erste Teil Ihrer zweiteiligen Frage. Ich kann dazu sagen: So nicht.
Was den Botschafter in Ankara betrifft, so hat er am 11. Oktober im türkischen Außenministerium ausdrücklich auf die Erklärung von Bundesaußenminister Genscher vom 9. August verwiesen, in der dieser die türkischen Militäraktionen gegen die zivile Bevölkerung in Kurdengebieten nachdrücklich verurteilt hat, und seiner Erwartung Ausdruck gegeben, daß diesmal keine zivilen Ziele betroffen seien.
Ich kann Ihre Frage nach der Kenntnis des Botschafters über bevorstehende Angriffe hier nicht beurteilen und deshalb auch nicht beantworten. Der Vorgang ist mir nicht bekannt.
Trifft es zu, wie das türkische Außenministerium mitgeteilt hat, daß die NATO-Botschafter und auch der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland vorab über die bevorstehenden militärischen Aktionen gegen Stützpunkte im Irak informiert worden sind? Was hat die Bundesregierung getan, um vor oder unmittelbar bei Aufnahme dieser militärischen Aktion zu intervenieren? Ich will nicht wissen, was Sie gemacht haben, nachdem am Dienstag und am Mittwoch die Proteste in der Presse standen, sondern was Sie nach der Vorabinformation durch die türkische Regierung gemacht haben.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es hat im Zusammenhang mit den kritischen Äußerungen, die Bundesaußenminister Genscher bereits im August gemacht hat, und anderen kritischen Äußerungen aus Kreisen der NATO-Staaten den Versuch der Türkei gegeben, den EG-Botschaftern deutlich zu machen, daß sie keine zivilen Ziele angreife, sondern daß sie ihre Aktionen ausschließlich gegen die Terrororganisation PKK richte. Es ist sehr schwierig, das nachzuprüfen. Aber das sind die Informationen, die uns gegeben wurden.
Ich kann Ihre Frage nur als eine Quasi-Bitte auslegen, das zu unterstützen. Das heißt: Der Information der Türken, daß die Vorwürfe, die hier erhoben werden, so nicht berechtigt sind, müssen wir nachgehen. Es ist ja auch in der heutigen Presse nachzulesen, daß man uns vorwirft, wir griffen ständig die Türkei an und hätten nicht zur Kenntnis genommen, daß sich die Aktionen ausschließlich gegen nichtzivile Ziele richteten. Ähnliche Argumentationen kennen wir aus Israel — das darf ich hier in dem Zusammenhang auch einmal erwähnen - bei Angriffen auf den Libanon. Da wird auch gesagt, daß zivile Ziele natürlich nicht getroffen würden. Es ist sehr schwer, das nachzuprüfen.
Wir haben an unserer klaren und deutlichen Einstellung, daß sich ein NATO-Staat an bestimmte gemeinsame Werte zu halten und dabei zu beachten hat, daß Luftangriffe auf Ziele außerhalb seines staatlichen Territoriums nicht stattfinden, festgehalten und der Türkei das immer wieder deutlich gemacht.
Das haben wir auch erklärt. Nur, Sie haben erst Vorabinformationen gekriegt und dann drei Tage später scheinheilig protestiert.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich muß nochmals sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, daß die türkische Regierung uns die Vorabinformationen gibt, sie beabsichtige Ziele anzugreifen, ohne daß wir darauf reagieren. Das halte ich für völlig ausgeschlossen.
Herr Abgeordneter Gansel, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es zwar erlaubt ist, eine Doppelfrage zu stellen. Aber das beinhaltet nicht, daß Sie damit die
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4042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergMöglichkeit zu vier Zusatzfragen haben. Ihr Fragekontingent ist also erschöpft.
— Okay.Jetzt hat der Kollege Conradi das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, wann hat unser Botschafter in der Türkei und wann haben unsere Vertreter bei der NATO das Auswärtige Amt über die bevorstehenden militärischen Aktionen des NATO-Partners Türkei gegenüber den Kurden im Irak informiert?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zunächst einmal handelt es sich ja nicht um in der letzten Zeit oder vor wenigen Tagen vorgekommene Angriffe. Sie wissen, daß wir auf die uns bekanntgewordenen Angriffe der Türkei auf kurdische Positionen, so will ich jetzt hier einmal neutral sagen, im Nordirak scharf reagiert haben, bereits im August.
— Herr Kollege, Sie haben mir eine Frage gestellt; ich beantworte die zur Zeit.
Schon Ihre Behauptung, wir hätten Vorabinformationen bekommen dergestalt, daß diese Angriffe fortgesetzt werden, hätten dagegen aber nicht protestiert, kann ich so nicht akzeptieren. Sie kann nicht zutreffen.
Es ist das Recht der Bundesregierung zu sagen, daß die Unterstellung falsch ist. Damit ist die Sache erledigt.
Herr Abgeordneter Struck.
Herr Staatsminister, mir liegt ein Erklärung des türkischen Außenministeriums vom 15. Oktober vor. Unter der Überschrift „Die Aussagen des Sprechers des Auswärtigen Amtes entsprechen nicht der Wahrheit" wird dort folgender Satz — zu dem ich um Ihre Stellungnahme bitte — zitiert:
Ganz im Gegenteil wurde die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland wie auch unsere Alliierten letzten Freitag von den Operationen in Kenntnis gesetzt.
Ist diese Erklärung des türkischen Außenministeriums falsch oder richtig?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich habe Ihnen, Herr Kollege Struck, bereits mit den Antworten auf die Fragen von Herrn Gansel klar gesagt, daß der deutsche Botschafter in der vergangenen Woche, am 11. Oktober, nicht ins Außenministerium bestellt worden ist, um dort eine Vorabinformation zu bekommen, daß jetzt Angriffe bevorstünden, sondern um eine Rechtfertigung der Türkei zu erfahren, daß unsere Proteste gegen diese Angriffe so nicht berechtigt seien, weil sie sich nicht gegen zivile Ziele gerichtet
hätten. Das können Sie bitte nicht als eine Vorabinformation deklarieren, wie Sie das hier ständig tun.
Herr Eickhoff — ich wiederhole das — hat bei dieser Gelegenheit ausdrücklich auf die Erklärung des Bundesaußenministers verwiesen, in der dieser die Militäraktionen nachdrücklich verurteilt und seiner Erwartung Ausdruck gegeben hat, daß diesmal keine zivilen Ziele getroffen werden.
Herr Abgeordneter Lambinus.
Herr Staatsminister, ich komme noch einmal auf die Äußerung des Staatssekretärs Hennig zurück und frage Sie, ob es richtig ist, daß der deutsche Botschafter in Ankara ausgeführt hat, daß die Äußerungen von Staatssekretär Hennig dessen private Meinung und nicht durch einen Beschluß der Bundesregierung gedeckt seien.
Helmut Schäfer, Staatsminister: Das entspricht der Wahrheit.
Dann darf ich diesen Bereich abschließen. Der Abgeordnete Gansel hat zum Schluß ja auch noch eine Antwort auf einen bestimmten Sachverhalt bekommen. Wir bedanken uns beim Staatsminister dafür.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Göhner steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe zunächst einmal die dringliche Frage 2 des Abgeordneten Werner auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung in Gemeinsamkeit mit den betroffenen Bundesländern nach Bekanntwerden von Kinderhandel in Deutschland und in den EG-Staaten eingeleitet, um diesen verbrecherischen Handel sofort zu unterbinden, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und die betroffenen Kinder, falls möglich, wieder ihren Familien zuzuführen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Werner, nach den Informationen der für die Strafverfolgung zuständigen Organe des Bundeslandes Berlin über den Stand des von der Staatsanwaltschaft Berlin geführten Ermittlungsverfahrens ergibt sich folgender Sachstand: Im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens konnten zwei entführte Kinder ihren Eltern zurückgegeben werden. Gegen mehrere Verantwortliche sind Haftbefehle ergangen, u. a. wegen Menschenraubes gemäß § 234 StGB, Kindesentziehung gemäß § 235 StGB und Verabredung eines Verbrechens gemäß § 30 Abs. 2 StGB.Da die zuständigen Strafverfolgungsorgane der Bundesländer insoweit alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um den bekanntgewordenen Handel mit Kindern zu unterbinden, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und die Kinder möglichst in die Familien zurückzuführen, sieht die Bundesregierung
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4043
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhnerderzeit keine Veranlassung, ihrerseits weitergehende Maßnahmen einzuleiten. Natürlich werden wir die weitere Entwicklung aufmerksam beobachten.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter, bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie eine Auskunft darüber geben, wie hoch die Zahl der vermittelten entführten Kinder geschätzt wird, nachdem von der Staatsanwaltschaft in Berlin gegenüber der Öffentlichkeit offenbar der Terminus gebraucht worden ist, es handele sich um die „Spitze eines Eisberges"?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Werner, uns liegen keine Informationen vor, die es erlauben würden, hier eine Schätzung vorzunehmen. Wir müssen uns auf das beschränken, was Gegenstand der Ermittlungsverfahren ist. Ich bitte Sie um Verständnis, daß wir mit Rücksicht auf diese Verfahren keine Details mitteilen können.
Zweite Zusatzfrage.
Können Sie etwas darüber aussagen, welche Vorkehrungen die Polizeiorgane der Länder gemeinsam mit den polizeilichen Möglichkeiten des Bundes dafür treffen, daß gerade an unseren Grenzen in entsprechender Art und Weise überprüft wird, um zusätzlich jene Kinder herausfiltern zu können, die womöglich noch illegal ins Ausland geschafft werden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Werner, unter den Verdächtigen befinden sich drei Personen, die flüchtig sind, gegen die Haftbefehle erlassen worden sind und nach denen international gefahndet wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Eimer, bitte sehr.
Herr Staatssekretär, angesichts der Schwierigkeit, Babys, die entführt worden sind, den Eltern nach längerer Zeit wieder zuzuführen, da die Kinder ja noch keine unveränderlichen Merkmale aufweisen, frage ich Sie: Könnte man, um die Angst von Eltern zu vermindern, bei der Geburt eines Kindes nicht eine Identitätskarte erstellen, in der z. B. der Name der Eltern und die Fingerabdrücke des Babys und der Mutter enthalten sind, um eine Verwechslung des Kindes auszuschließen?
Ich denke dabei nicht daran, daß diese Identitätskarte dem Staat zugeführt werden sollte, sondern es sollte eine Karte sein, die allein im Besitz der Eltern bleibt.
— So unverschämt bin ich nicht.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eimer, mir scheint, daß dies für den Bereich des nationalen Adoptionsrechts nicht erforderlich ist, weil die Identität Voraussetzung bei der Adoptionsvermittlung ist.
Im Hinblick auf die internationale Rechtslage darf ich auf die Überlegungen der Haager Konferenz für internationales Privatrecht im Rahmen eines entsprechenden Abkommens verweisen, hier möglicherweise Voraussetzungen zu schaffen, die zur Vermeidung von Entführungen, dem Verkauf von Kindern und Kinderhandel beitragen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Würfel.
Herr Staatssekretär, es handelt sich hierbei nicht nur bei denjenigen um verbrecherisches Tun, die Kinder rauben und verkaufen, sondern auch bei denjenigen, die diese Kinder erwerben. Welches Strafmaß trifft diejenigen Eltern oder alleinerziehenden Mütter oder Väter, die ein derartiges Kind erwerben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Eine solche Frage läßt sich ausschließlich einzelfallbezogen beantworten. Es ist richtig, daß auch hier Strafbarkeiten möglich sind, sowohl im Hinblick auf die abgebenden Eltern als auch im Hinblick auf diejenigen, die ein solches Kind unrechtmäßig aufnehmen würden.
Dann rufe ich die dringliche Frage 3 des Abgeordneten Werner auf:
Hat die Bundesregierung bereits geprüft, ob über EG-einheitliche Regelungen, über Absprachen zwischen EG-Mitgliedstaaten und/oder über die nationale Gesetzgebung zusätzlich Maßnahmen zur Unterbindung dieser Form von Menschenhandel notwendig sind?
Herr Staatssekretär, Sie haben die Gelegenheit zur Beantwortung.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Werner, eine Prüfung etwaiger EG-einheitlicher Regelungen und Absprachen zwischen den EG-Mitgliedstaaten über zusätzliche Maßnahmen zur Unterbindung dieser Form von Menschenhandel hat noch nicht stattgefunden. Wir müssen auch darauf hinweisen, daß mangels entsprechender EG-Kompetenz für das Strafrecht gemeinschaftsrechtliche Regelungen ohnehin nicht in Betracht kämen. Das laufende staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren hat bisher auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sind. Aber auch insoweit wird die Bundesregierung die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten und gegebenenfalls zusätzliche gesetzgeberische Maßnahmen prüfen. Es ist durchaus möglich, daß es in der Tat weitere Sachverhalte gibt, die wir noch nicht kennen. Dann kann sich eine solche Frage stellen.
Zusatzfrage, bitte.
Könnten Sie mir zustimmen, daß es mehr als nur eines Im-Auge-Behaltens bedarf, wenn in Anbetracht der offenen Grenzen nach 1992 die Kontrollierbarkeit des Grenzübertritts
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4044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Herbert Werner
praktisch nicht mehr gegeben ist und gleichwohl völlig unterschiedliche Rechtssituationen im Bereich etwa der entgeltlichen Adoptionsvermittlung, der Organanbietung, des Organhandels und dergleichen innerhalb der EG-Staaten vorhanden sind?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Werner, im Hinblick auf den Organhandel darf ich auf die Gesetzgebungsinitiative der Bundesregierung verweisen. Im übrigen haben Sie sicher recht, daß die Gesamtproblematik mehr als nur im Auge behalten werden muß. Ich darf ausdrücklich auf die Haager Konferenz für internationales Privatrecht verweisen, die unter deutscher Beteiligung für ihre nächste Tagung 1993 ein Übereinkommen über die internationale Adoptionsvermittlung vorsieht. Eine Spezialkommission dieser Konferenz, an der über 50 Staaten teilgenommen haben, hat 1991 einen Vorentwurf dieses Übereinkommens vorgelegt. Die Vertragsstaaten sind nach der dort vorgesehenen Präambel „überzeugt von der Notwendigkeit, daß Maßnahmen ergriffen werden müssen, um sicherzustellen, daß grenzüberschreitende Adoptionen nur zum Wohl des Kindes und unter der Wahrung seiner Grundrechte sowie zur Vermeidung von Entführung und Verkauf von Kindern und Kinderhandel durchgeführt werden" . Das ist, glaube ich, der Punkt, auf den Sie abgehoben haben.
Eine zweite Zusatzfrage? — Das ist nicht der Fall.
Herr Abgeordneter Eimer.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht auch, daß es in diesem ganzen Zusammenhang notwendig ist, zu versuchen, innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht nur Regelungen über den Organhandel oder die Adoptionsvermittlung zu vereinheitlichen, sondern auch solche über das Meldewesen, damit nicht Lücken entstehen, in denen derartige kriminelle Handlungen vorgenommen werden können?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Eimer, diese Frage, die in die Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern fällt, spielt in der Tat innerhalb der EG eine wichtige Rolle. Wir werden zu überprüfen haben, inwieweit die melderechtlichen Bedingungen heute ausreichen, um diesen schlimmen Entwicklungen entgegenwirken zu können.
Damit sind die Dringlichkeitsfragen erledigt. Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär. Sie werden gleich noch weitere Fragen an Ihr Haus zu beantworten haben.
Was den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten anbelangt, so teile ich dem Hause mit, daß der Abgeordnete Simon Wittmann aus Tännesberg um schriftliche Beantwortung gebeten hat. Den gleichen Wunsch hat er bezüglich seiner Frage 2 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit geäußert. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Hier steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Lintner zur Verfügung.
Ich teile dem Haus zunächst mit, daß die Fragen 3 und 4 des Abgeordneten Wiefelspütz wie auch die Frage 5 des Abgeordneten Peter , die Fragen 6 und 7 des Abgeordneten Tappe und die Frage 8 des Abgeordneten Wallow auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Somit kommen wir direkt zur Frage 9 des Abgeordneten Lowack:
Inwieweit ist die Bundesregierung darüber informiert, daß die Gehälter der kommunalen Mitarbeiter in den neuen Bundesländern dramatisch, letztmals im Juni 1991, auf ein Niveau angehoben wurden, das in den meisten Fällen die bestehende Qualifikation bei weitem übersteigt, und ist die Bundesregierung angesichts der überaus angespannten Haushaltslage bereit, Konsequenzen zu ziehen, zumal diese Art „Selbstbedienung" zu großer Verärgerung und Verbitterung in der Bevölkerung geführt hat?
Herr Staatssekretär, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Herr Kollege Lowack, durch einen Tarifabschluß für den gesamten öffentlichen Dienst in den neuen Ländern ist grundsätzlich das Eingruppierungssystem des bisherigen Bundesgebietes übernommen und ein Vergütungsniveau von 60 % der West-Vergütung vereinbart worden. Dies ist das Ergebnis von Tarifverhandlungen zwischen den öffentlichen Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Insoweit kann nicht von einer Selbstbedienung der kommunalen Mitarbeiter gesprochen werden.
Für die im Beitrittsgebiet beschäftigten kommunalen Mitarbeiter im Beamtenverhältnis einschließlich der kommunalen Wahlbeamten auf Zeit ist durch die Zweite Verordnung über besoldungsrechtliche Übergangsregelungen nach Herstellung der Einheit Deutschlands die Besoldung ebenfalls auf 60 % der West-Bezüge festgesetzt worden. Diese 60 %-Regelung ist ebenso wie im Tarifbereich am 1. Juli 1991 in Kraft getreten. Im übrigen enthält die Zweite Besoldungsübergangsverordnung höchstzulässige Einstufungen für die kommunalen Wahlbeamten auf Zeit im Beitrittsgebiet. Diese Regelung muß durch Landesrecht erst noch ausgefüllt werden.
Die tariflichen Eingruppierungsanforderungen sind nicht geringer als in den alten Bundesländern. Die Anwendung des Tarifrechts liegt in der eigenen Verantwortung der kommunalen Arbeitgeber; sie kann von der Bundesregierung nicht kontrolliert werden. Es ist jedoch durch eine besondere tarifliche Übergangsvorschrift sichergestellt, daß fehlerhafte Eingruppierungen bis zum 31. Dezember 1992 unter erleichterten Voraussetzungen korrigiert werden können.
Zusatzfrage. Herr Abgeordneter Lowack, bitte schön.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wenn so ein Tarifabschluß geschlossen wird oder wenn man etwas regelt, muß doch von vornherein auch geklärt werden, daß nicht trotz
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4045
Ortwin Lowackeiner viel niedrigeren oder nicht vorhandenen Qualifikation heute Leute in Positionen mit nach dem Gefühl der betroffenen Bevölkerung weit überhöhten Gehältern sitzen.Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, das ist ein Entscheidungsbereich, der den Kommunen überlassen worden ist, wobei sich die Kommunen selbstverständlich an die Verordnung halten sollen und müssen. Allerdings muß dies erst vom Landesrecht rezipiert werden und kann dann im Kollisionsfall rechtsaufsichtlich beispielsweise von den Landesregierungen angewandt werden. Weil wir aber von den Vorgängen, die den Hintergrund Ihrer Frage bilden, Kenntnis haben, ist eine Frist bis zum 31. Dezember 1992 gesetzt worden, innerhalb deren Falscheinstufungen noch erleichtert korrigiert werden können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Lowack.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, darf man deswegen hoffen, daß vielleicht doch noch in den besonders krassen Fällen Abhilfe geschaffen wird?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Ihre Hoffnung begründet ist.
Frau Abgeordnete Klemmer, Sie haben zu einer Zusatzfrage um das Wort gebeten.
Herr Staatssekretär, ist mein Eindruck richtig, daß in den meisten Fällen die Kommunen unter einem Bedarf an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deshalb leiden, weil die Tarifabschlüsse nicht dem entsprechen, was qualifizierte Menschen in diesem Bereich als eine einigermaßen angemessene Bezahlung ihrer Leistungen zu erwarten haben?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Da bin ich überfragt. Ich kann aber darauf verweisen, daß die Arbeitnehmer natürlich qualifiziert durch ihre Gewerkschaften vertreten waren. Zu einem Tarifabschluß gehören bekanntlich zwei. Wenn die Gewerkschaften also zustimmen, bin ich bislang davon ausgegangen — im Gegensatz zu Ihnen — , daß sie damit den Bedürfnissen ihrer Klientel gerecht werden.
Wir kommen zur Beantwortung der Frage 10 des Abgeordneten Arne Fuhrmann:
Wurde bei der Erstellung des Berichtes „Organisation des Bundesgrenzschutzes" von der durch den Bundesminister des Innern eingesetzten Arbeitsgruppe berücksichtigt, daß es im Standort Lüneburg im Bereich der Bundeswehr durch die Reduzierung von 2 000 Soldaten und einer entsprechenden Anzahl von Zivilbeschäftigten zu erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Härtefällen kommt und damit der Wegfall von Dienst- und Arbeitsplätzen von zusätzlich 560 Polizeivollzugsbeamten und 90 Zivilangestellten für die Betroffenen und den Standort Lüneburg zu sozial unverträglichen Zuständen führt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fuhrmann, die vom Bundesminister des Innern eingesetzte Arbeitsgruppe zur Neuorganisation des Bundesgrenzschutzes hat in ihrem Abschlußbericht bei der vorgeschlagenen Festlegung der künftigen Standorte des BGS die Planungen der Bundeswehr nach den Stationierungsentscheidungen des Bundesministers der Verteidigung vom 5. August 1991 berücksichtigt. Zu den vorgeschlagenen Modellen für die künftige Standortverteilung gibt der Bericht in den Anlagen A 9 und A 10 ausdrücklich auch die jeweiligen Planungen der Bundeswehr wieder. Dies gilt auch für den Standort Lüneburg.
Die Entscheidung des Bundesministers des Innern über die Vorschläge der Arbeitsgruppe steht noch aus.
Da die jetzige Anzahl der Bundesgrenzschutz-Abteilungen wegen des Wegfalls der Grenzschutzaufgaben an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und der im Rahmen der Neustrukturierung des Bundesgrenzschutzes erforderlichen Personalumschichtungen nicht aufrechterhalten werden kann, kann es bei dieser Entscheidung nur darum gehen, welche Standorte bestehen bleiben können und welche aufgegeben werden müssen. Wegen weiterer Einzelheiten darf ich auf die Seiten 92 ff. des Berichtes Bezug nehmen.
Für die zu treffende Entscheidung sind neben fachlichen und aufgabenbezogenen Gesichtspunkten die vorgegebene Standortsituation und damit die vorhandenen Liegenschaften des Bundesgrenzschutzes und die jeweilige regionale und strukturpolitische Lage der bisherigen Standortgemeinden zu berücksichtigen. Mit Blick auf die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes ist die Bundesregierung — bei allem Vorrang fachlicher Gesichtspunkte — bemüht, sozialverträgliche Lösungen zu finden. Zur Vermeidung besonderer Härten können den von einer Standortauflösung betroffenen Beschäftigten Anschlußverwendungen in den nächstgelegenen Nachbarstandorten angeboten werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Fuhrmann, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich nehme an, Sie sind sich darüber im klaren, daß ich mit dieser Art von Antwort natürlich nicht zufrieden sein kann. Wie stellt sich das Ministerium, wie stellen Sie sich die tatsächliche soziale Abfederung in einer Region vor, in der der Verlust der Arbeitsplätze von 2 000 Bundeswehrsoldaten weder durch die Wirtschaft noch durch die Verwaltung dieser Region aufgefangen werden kann, und wie wollen Sie angesichts der Situation entscheiden, daß die Nachbarstandorte Uelzen und Winsen, die letzten Endes überhaupt nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügen, nicht in der Lage sein werden, irgendeinen der BGS-Beamten aufzunehmen, geschweige denn Arbeitsplätze für deren Ehegatten zu schaffen?Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Fuhrmann, Sie müssen davon ausgehen, daß eine endgültige Entscheidung noch gar nicht gefallen ist, sondern daß wir jetzt in der Phase sind, die Wirkungen von Modell eins und zwei abzufragen. Das heißt, die
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4046 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Parl. Staatssekretär Eduard Lintnerkommunalen Organe sind jetzt in der Lage, Stellung nehmen zu können, auf ihre Bedenken hinweisen zu können, genau wie Sie das jetzt tun. Wir werden diese Argumente zusammentragen und dann im Lichte des Gesammelten entscheiden müssen.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn ich den Bericht richtig erinnere, dann handelt es sich bei den Alternativen A und B jeweils um den Vorschlag, den Standort Lüneburg aufzugeben, obgleich dieser Standort vor nicht allzu langer Zeit, zumindest was die Anlagen, die Räume und die Plätze angeht, auf den modernsten Stand gebracht worden ist. Ich bin ein bißchen verblüfft, wenn ich jetzt höre, daß da noch abgewogen wird. Ich fände es natürlich schön. Aber da hätte ich natürlich gerne eine klare Aussage.
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Die klare Aussage kann ich im Moment nicht machen. Die klare Aussage wird die endgültige Entscheidung sein. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir das Verfahren so gewählt haben, die Betroffenen mit ihren Argumenten zu beteiligen. In dieser Phase befinden wir uns jetzt. Meines Wissens ist eine Frist bis zum 25. Oktober vorgesehen, in der die betroffenen Gemeinden, Mandatsträger, Landesregierungen uns mitteilen können, warum sie mit unserem Vorschlag nicht einverstanden sind oder warum sie einverstanden sind. Erst dann kann doch ein sachlich richtiges Urteil gefällt werden. Deshalb bitte ich, jetzt einfach um der sachorientierten Entscheidung willen, zuhören, das Gesagte aufnehmen und weitergeben zu dürfen. Im Hause muß das bewertet und auch gegenüber anderen Standorten abgewogen werden. Erst dann kann ich Ihrem Verlangen nach einer dezidierten Entscheidung nachkommen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Hansen.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß Sie in Ihren Bericht die Bemerkung aufgenommen haben: Standortreduzierung bei der Bundeswehr um ca. 50 % ? Bewerten Sie diese Bemerkung mit Blick auf die BGS-Reduzierung positiv oder negativ?
Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär: Dieser Hinweis ist deshalb aufgenommen worden, weil wir deutlich machen wollten, daß wir die Belastung aus anderen Gründen, die es in der Region bereits gibt oder die demnächst bevorsteht, bei unserer strukturpolitischen Sicht der Dinge mit berücksichtigen wollen. Ob dieser Gesichtspunkt ausreicht, zu einer solchen oder anderen Entscheidung zu kommen, will ich damit nicht behaupten. Aber er ist einer der wichtigen Gesichtspunkte.
Herr Staatssekretär, ich bedanke mich bei Ihnen; denn die Frage 11 des Abgeordneten Fuchtel soll auf dessen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz.
Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Göhner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Dr. Meyer auf:
Gegen wie viele Personen sind seit dem 15. September 1991 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, weil gegen sie der Verdacht wegen Mordes bzw. versuchten Mordes oder Totschlags bzw. versuchten Totschlags gegen Asylbewerber oder Ausländer besteht?
Herr Kollege Professor Meyer, die Ausschreitungen gegen Asylbewerber sind Gegenstand der morgen stattfindenden Sonderkonferenz der Innen- und Justizminister und -senatoren des Bundes und der Länder. In Vorbereitung auf diese Konferenz hat der Bundesminister der Justiz die Landesjustizverwaltungen, die ja allein über entsprechende Erkenntnisse verfügen, die Sie erfragen, u. a. um Mitteilung der Zahl der Verfahren im Zusammenhang mit Übergriffen gegen Asylbewerber seit Beginn des Jahres 1991 gebeten. Inzwischen liegen diese Auskünfte von 15 Ländern vor, allerdings nicht auf den von Ihnen erfragten Stichtag 15. September bezogen.
In diesen Berichten werden drei Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Tötungsdelikts gegen Asylbewerber ohne Angabe der Zahl der in diesen Verfahren Beschuldigten genannt. Die Bundesregierung geht davon aus, daß weitere Erkenntnisse in der angesprochenen Sonderkonferenz gewonnen werden.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Professor Meyer.
Herr Staatssekretär, könnten Sie offenlegen, in welchen Bundesländern die von Ihnen genannten Ermittlungsverfahren anhängig sind?
Ich bin im Moment überfragt. Wir haben eine Aufstellung für diese Konferenz insgesamt erstellt. Deshalb kann ich Ihnen diese Frage jetzt nicht beantworten. Ich reiche das gerne nach.
Zusatzfrage zwei. Bitte.
Herr Staatssekretär, ist an den Ermittlungen das Bundeskriminalamt beteiligt, oder gibt es Pläne, eine solche Beteiligung des Bundeskriminalamtes in Zukunft vorzusehen oder zu ermöglichen?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, nach meinen Kenntnissen ist dies nicht der Fall — unter dem Vorbehalt wegen der Zuständigkeit des Bundesministers des Innern für das BKA. Ich gehe aber davon aus, daß die notwendigen Ermittlungsverfahren von den jeweils zuständigen Landesjustizbehörden entsprechend geführt werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4047
Dann rufe ich die Frage 13 des Abgeordneten Professor Dr. Meyer auf:
Ist davon auszugehen, daß die Ermittlungsverfahren wegen Straftaten gegen Asylbewerber oder Ausländer beschleunigt betrieben werden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: § 5 Abs. 4 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren bestimmt, daß in Haftsachen die Ermittlungen besonders zu beschleunigen sind und das gleiche unter anderem für Strafsachen gilt, die besonders Aufsehen erregt haben.
Die Bundesregierung geht deshalb davon aus, daß die Ermittlungsverfahren wegen Straftaten gegen Asylbewerber oder Ausländer unter Beachtung dieser Vorschrift zügig und vorrangig betrieben wird. Wir sehen uns in dieser Annahme bestärkt durch die Mitteilung der Länder, daß die Ermittlungen mit großer Intensität geführt werden und daß bereits Anträge auf Verurteilungen im beschleunigten Verfahren gestellt sind, so z. B. in Sachsen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, gibt es neben der von Ihnen erwähnten Möglichkeit beschleunigter Verfahren auch Überlegungen, in geeigneten Sachen Strafbefehle zu beantragen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, dies wäre im Zuständigkeitsbereich der Landesjustizverwaltungen. In den Fällen, die Sie allerdings erfragt haben, nämlich bei den Tötungsdelikten, scheidet dies von Gesetz wegen aus.
Danke schön.
Ich habe noch eine Zusatzfrage.
Sie haben zwei Zusatzfragen gestellt, Herr Professor.
Nein, ich habe zu jeder Frage zwei Zusatzfragen und habe zu Frage zwei eine Zusatzfrage gestellt.
Entschuldigung, jawohl. Ich bitte um Verzeihung. Das ist völlig richtig. — Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da sich meine zweite Frage nicht auf Mord oder Todschlag, sondern generell auf Straftaten bezieht, fasse ich noch einmal nach wegen der Beschleunigungsmöglichkeiten im Strafbefehls- oder im beschleunigten Anklageverfahren und frage, ob Gegenstand der morgigen Besprechung auch sein wird, wie man durch die Ausschöpfung der gesetzlichen Beschleunigungsmöglichkeiten deutlich machen kann, daß die Straftaten, über die wir reden, nicht hingenommen und sehr beschleunigt bearbeitet werden.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, für den Bereich, in dem das bestehende Recht diese Möglichkeit einräumt, gehe ich davon aus, daß
die Behörden die Anwendung von Strafbefehlsmöglichkeiten prüfen, und ich denke, daß das auch morgen Gegenstand der Konferenz sein kann, wobei sich die öffentliche Aufmerksamkeit natürlich sehr stark auf die besonders schlimmen Vorfälle richtet. Da möchte ich doch darauf hinweisen, daß nach den uns vorliegenden Kenntnissen der Landesjustizverwaltungen, in elf Fällen, z. B. bei dem Vorfall Hoyerswerda, bereits Anklage erhoben ist. Ich denke, das spricht für die beschleunigte Bearbeitung. Gerade in diesem Bereich ist in zwei Fällen ein Antrag auf Verurteilung im beschleunigten Verfahren gestellt worden. 17 Beschuldigte befinden sich in Haft. Ich glaube, das zeigt, daß hier konsequent und vorrangig vorgegangen wird.
Herr Abgeordneter de With, bitte schön.
Herr Staatssekretär, gibt es bei der Bundesregierung Überlegungen, die bei der Bekämpfung der Kriminalität Rechtsradikaler deutlich über die Nutzung von Strafverfahrensmöglichkeiten hinausgehen, so wie das eine andere Bundesregierung bei der Bekämpfung des gewaltsamen Linksradikalismus in den 70er und zu Beginn der 80er Jahre getan hat, nachdem der Schaden dieser kriminellen Ausschreitungen, zumindest im Ausland, deutlich höher ist als das, was man unter die Überschrift „Linksradikalismus" bringen kann?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich denke, daß diese Frage morgen gemeinsam mit den Ländern besprochen werden muß, denn ich darf noch einmal darauf hinweisen, daß es sich hier um einen Zuständigkeitsbereich der Länder handelt. Wir erwarten, daß das bestehende Recht konsequent und vorrangig angewandt wird, denn ich denke nicht, daß wir bei den Vorfällen der jüngsten Vergangenheit auf etwaige neue gesetzgeberische Überlegungen warten können. Ich finde, der Bericht, den wir von den Landesjustizverwaltungen haben, zeigt, daß hier entschlossen und vorrangig gehandelt wird.
Ich rufe nunmehr die Frage 14 des Abgeordneten Professor Dr. Eckhart Pick auf, die den gleichen Sachverhalt noch einmal behandelt:Gegen wie viele Personen sind seit dem 15. September 1991 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, weil gegen sie der Verdacht besteht, Straftaten gegen Asylbewerber oder Ausländer begangen zu haben?Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Professor Pick, die Bundesregierung verfügt — Strafverfolgung ist Ländersache, um es noch einmal zu betonen — über keine eigenen Erkenntnisse. Wie ich bereits bei der Beantwortung der Fragen des Kollegen Professor Meyer mitgeteilt habe, hat der Bundesminister der Justiz jedoch in der letzten Woche zur Vorbereitung der morgigen Sonderkonferenz wegen der Ausschreitungen gegen Asylbewerber bei den Ländern angefragt und um Mitteilung der Zahl der Verfahren wegen Übergriffen gegen Asylbewerber seit Beginn des Jahres 1991 und der Zahl der Anordnungen von Untersuchungshaft gebeten.
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4048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Parl. Staatssekretär Dr. Reinhard GöhnerNach den erteilten Auskünften von 15 Landesjustizverwaltungen, die uns bis zur Stunde vorliegen, wurden im Jahre 1991 wegen des Verdachts der Straftaten gegen Asylbewerber etwa 432 Ermittlungsverfahren eingeleitet, wobei darauf hinzuweisen ist, daß dies die Verfahren sind und nicht die Zahl der Beschuldigten, die natürlich höher sein kann.Einige Länder haben ergänzend darauf hingewiesen, daß die Zahlen unvollständig sind, da sich die Akten wegen der in jüngster Zeit verübten Straftaten gegen Asylbewerber natürlich noch bei der Polizei befinden können. Insofern müssen wir auch diese Zahl mit Vorsicht behandeln.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Professor Pick.
Darf ich fragen, bis wann die Bundesregierung in der Lage ist, diese Zahlen aufbereitet vorzulegen, und ist sie bereit, uns diese Zahlen dann zur Verfügung zu stellen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, um es in aller Offenheit zu sagen: Wir denken, daß die Landesjustizverwaltungen, die zuständigen Ermittlungsorgane in den neuen Ländern, zur Zeit mit der Bewältigung dieser Verfahren selbst voll beschäftigt sind. Wir würden es ungern sehen, wenn wir sie jetzt mit umfangreichen Berichtspflichten forderten, in einer Phase, wo sie gerade hier vorrangig tätig sind. Deshalb bin ich nicht in der Lage, Ihnen eine solche Zusage mit einem fixen Termin zu versehen. Aber ich denke, daß wir diesen Bereich natürlich genau aufarbeiten und auch statistisch ermitteln werden.
Weitere Zusatzfrage, bitte schön, Herr Professor.
Wird es dann auch möglich sein, diese nach Ländern geordnet, so wie dies in den Vorfragen schon erbeten worden ist, vorzulegen?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, es kann sogar ausschließlich nur von den Ländern geliefert werden. Der Bund kann das nicht aus eigener Kenntnis tun. Wir sind also auf die Angaben eines jeden einzelnen Landes gesondert angewiesen.
Bitte schön, Herr Kollege de With.
Herr Staatssekretär, darf ich die Gelegenheit noch einmal nutzen und an meine frühere Frage anknüpfen, nachdem Sie sie offensichtlich zum Teil überhört hatten: Gibt es bei der Bundesregierung konzeptionelle Ansätze, die deutlich über die forcierte Nutzung von Strafverfahrensmöglichkeiten hinausgehen, um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen? Er muß ja wohl bei der Wurzel gepackt werden. Es bedarf hier einer größeren geistigen Anstrengung.
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege de With, ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich eben vielleicht nicht klar genug ausgedrückt habe. Ich finde, daß solche Überlegungen, wenn sie angestellt werden sollen, morgen Gegenstand der Sonderkonferenz sein sollten. Ich denke, es macht keinen Sinn, jetzt vorher darüber öffentlich zu debattieren. Das würde ich gern abhängig sehen von dem Standpunkt der Ermittlungsbehörden, die dort jetzt tätig sind.
Wir kommen zur Frage 15 des Abgeordneten Dr. Pick:
Gegen wie viele Personen sind seit dem 15. September 1991 Haftbefehle erlassen worden, weil gegen sie der dringende Verdacht besteht, Straftaten gegen Asylbewerber oder Ausländer begangen zu haben?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Professor Dr. Pick, nach Auskunft der Länder ergingen im Jahre 1991 gegen 39 Beschuldigte Untersuchungshaftbefehle wegen Straftaten gegen Asylbewerber oder Ausländer. Ein Land hat mitgeteilt, daß sich derzeit in allen Verfahren gegen Rechtsradikale 27 Beschuldigte in Untersuchungshaft befinden. Ob Gegenstand der Untersuchungshaftbefehle der Verdacht einer Straftat gegen Asylbewerber oder Ausländer ist, wie in Ihrer Frage angesprochen, wurde allerdings nicht mitgeteilt. Es können also auch andere Straftaten in diesem Zusammenhang in Betracht kommen.
Zusatzfrage, bitte schön.
Können Sie mir über das hinaus, was Sie eben angedeutet haben, noch etwas über den Stand dieser Ermittlungsverfahren sagen; z. B. in welchen Fällen solche Verfahren schon beendet worden sind und in welcher Form — gegebenenfalls durch Strafbefehl — , und in welchen Fällen sind die Verfahren eingestellt worden?
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das kann ich Ihnen nicht mitteilen, weil wir solche Erkenntnisse von den Landesjustizverwaltungen nicht mitgeteilt bekommen haben und auch nicht erfragt haben; wenngleich ich mir die Bemerkung erlauben darf, daß für die von Ihnen erfragten Fälle, nämlich die, in denen seit dem 15. September 1991 Haftbefehle erlassen worden sind, ein Abschluß der Verfahren sehr unwahrscheinlich sein dürfte. Ich habe die besonders vorrangige Bearbeitung, die es offenbar in Sachsen nach Mitteilung der dortigen Landesjustizverwaltung gibt, erwähnt; dort sind 17 Beschuldigte in Haft, und es gibt 11 Anklagen, was zeigt, wie vorrangig die Angelegenheiten auch bei den Staatsanwaltschaften behandelt wurden. In zwei Fällen gab es bereits Anträge auf Verurteilung im beschleunigten Verfahren. Darüber hinausgehende Erkenntnisse liegen uns nicht vor.
Herr Professor Meyer, bitte.
Herr Staatssekretär, zu den Haftbefehlen möchte ich die Zusatzfrage stellen, ob Ihnen bekannt ist, in wie vielen Fällen Haftverschonung abgelehnt worden ist, eventuell unter dem Aspekt der Verdunklungsgefahr wegen nicht in Haft sitzender möglicher Zeugen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4049
Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Es tut mir leid, Herr Kollege, darüber haben wir seitens der Landesjustizverwaltungen keine Kenntnisse vorliegen; wir haben sie, was ich betone, auch nicht erfragt.
Herr Staatssekretär Dr. Göhner, ich bedanke mich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht uns Herr Staatssekretär Dr. Grünewald zur Verfügung.
Ich rufe Frage 16 des Abgeordneten Haack auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß es Verbände gibt, die sich als gemeinnützig ausgeben und Abmahnungen im Bereich des Gesundheitswesens vornehmen, insbesondere mit dem Ziel, für bestimmte Anwälte Arbeit zu beschaffen ?
Schönen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Haack, die Bundesregierung hat einen — ich betone: einen! — Fall ermittelt, in dem Abmahnungen durch einen sogenannten Abmahnverein vorgenommen wurden.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Haack.
Wie beurteilt die Bundesregierung die Versuche von Abmahnvereinen, Hinweise auf Osteoporose-Kuren mit der Begründung untersagen zu lassen, daß es sich um eine Werbung mit fremdsprachlicher Bezeichnung handele, die nicht in den allgemeinen deutschen Sprachgebrauch eingegangen sind, wenn a) die Landesärztekammer Hessen den Standpunkt vertritt, daß das wohl der Fall sei, daß aber b) die Bundesärztekammer und die kassenärztliche Bundesvereinigung der Auffassung sind, daß der Begriff der Osteoporose in weiten Kreisen der Bevölkerung — und damit auch Frauen — bekannt sei und daß einige andere Landesärztekammern auch noch zu dieser Auffassung kommen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Haack, diese mehr medizinisch-fachlichen Fragen stehen außerhalb des Beurteilungsvermögens des Bundesfinanzministers. Wir haben uns natürlich nur mit der Frage der Gemeinnützigkeit dieser Abmahnvereine zu befassen.
Ich darf hinzufügen, daß diese Abmahnvereine nach meiner Auffassung in aller Regel die Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit nicht erfüllen, weil sie weder für das Allgemeinwohl nützlich sind noch weil sie in der Regel selbstlos handeln. Aber die medizinisch-fachliche Seite können wir nicht beurteilen.
Weitere Zusatzfragen sind nicht erwünscht.
Dann rufe ich Frage 17 des Abgeordneten Haack auf:
Sieht die Bundesregierung eine Notwendigkeit und Möglichkeit, hier über die Entziehung des Status der Gemeinnützigkeit regulierend einzugreifen?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das führt zu dem Einzelfall zurück. Die Bundesregierung hat natürlich veranlaßt, Herr Kollege Haack, daß die steuerrechtliche Behandlung des entsprechenden Vereins von der zuständigen obersten Landesfinanzbehörde überprüft wird.
Keine Zusatzfragen.
Dann rufe ich Frage 18 des Abgeordneten Lowack auf:
Was wird die Bundesregierung gegen das maßlose Hochtreiben der Gehälter ehemaliger Wirtschaftsfunktionäre der früheren VEB in den neuen Bundesländern unternehmen, die zunehmend Grundlage für überhöhte Arbeitslosengelder und Renten sind?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Lowack, die Festlegung der Gehälter für Führungskräfte von Treuhandunternehmen aus den neuen Bundesländern richtet sich nach den Richtlinien über die Vergütung von Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern vom Oktober 1990.
Inzwischen erhalten die Führungskräfte aus den neuen Bundesländern in Unternehmen der Treuhandanstalt etwa 50 % des marktüblichen Gehalts eines vergleichbaren Managers in den alten Bundesländern. Die Anhebung auf Westniveau verläuft hier eher langsamer und in kleineren Schritten als im Tarifbereich.
Die Erhöhung der Gehälter kann sich auf die Renten- und Arbeitslosenversicherung nur in einem begrenzten Rahmen auswirken. In der Renten- und Arbeitslosenversicherung besteht in den neuen Bundesländern eine Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3 400 DM monatlich. Entgelte oberhalb dieser Grenze führen weder in der Renten- noch in der Arbeitslosenversicherung zu höheren Leistungen.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lowack, Ihre Zusatzfrage.
Ist der Bundesregierung nicht bekannt, zu welch großem Unmut das Verfahren eben doch geführt hat, daß nämlich aus der Sicht der Bevölkerung Gehälter gewaltig angehoben wurden, um auf dieser Grundlage hinterher, sobald jemand entweder in Rente gegangen ist oder nach einer Entlassung Arbeitslosengeld in Anspruch genommen hat, überhöhtes Arbeitslosengeld oder überhöhte Renten zu erhalten?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich darf noch einmal wiederholen: Zu überhöhten Renten und zu überhöhtem Arbeitslosengeld führt diese Regelung wegen der Beitragsbemessungsgrenze ja nicht.
Der Bundesregierung ist natürlich der Unmut insoweit bekannt, als es sich um Personen und Persönlichkeiten handelt, die der Vergangenheit verhaftet sind.
Weitere Zusatzfrage?
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4050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Und die Bundesregierung sieht außer den Andeutungen, die Sie gemacht haben, keine Möglichkeit, das in irgendeiner Art und Weise zu unterbinden?
Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Was die Höhe der Gehälter anlangt, sehen wir keine Veranlassung. Ich sprach in diesem Zusammenhang bereits von etwa 50 % der Westgehälter. Die Entwicklung läuft nicht in der Weise, wie sich leider die tarifliche Entwicklung im Beitrittsgebiet entwickelt hat.
In dem eher politischen Bereich ist die Treuhandanstalt sehr massiv tätig. Der Bundesfinanzminister hat die Treuhandanstalt angewiesen, die Vergangenheit der leitenden Mitarbeiter zu überprüfen. Die Präsidentin hat durch einen Erlaß, einen Ukas vom August dieses Jahres sämtliche Aufsichtsratsvorsitzenden noch einmal gebeten, sich um dieses Problem zu kümmern. Auf die persönliche Empfehlung des Bundeskanzlers hin ist ein Vertrauenskränzchen — bestehend aus insgesamt 17 Personen — hochkarätiger Richter, Staatsanwälte und ehemaliger Behördenleiter, gebildet worden, das sich mit großem Erfolg um die Lösung dieses außerordentlich schwierigen Problems bemüht. Als erstes Ergebnis darf ich Ihnen mitteilen, daß sich die Treuhandanstalt inzwischen von rund 400 leitenden Mitarbeitern getrennt hat.
Herr Staatssekretär, ich kann mich bei Ihnen schon bedanken; denn die nachfolgenden Fragen werden auf Grund unserer Richtlinie Nr. 2 Abs. 2 schriftlich beantwortet. Es handelt sich um die Fragen 19 und 20 des Abgeordneten Dr. Jens, Frage 21 und 22 des Abgeordneten Bartsch, Frage 23 und 24 des Abgeordneten Hampel und Fragen 25 und 26 der Abgeordneten Dr. Lucyga und Frage 27 der Abgeordneten Frau Kolbe. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Riedl zur Verfügung.
Ich rufe zunächst einmal die Frage 28 des Abgeordneten Müller auf:
Hält die Bundesregierung eine regionale Differenzierung des Förderinstrumentariums für private Investitionen — etwa Fortführung der 12%igen Investitionszulage über den 30. Juni 1991 — für arbeitsmarktpolitisch besonders benachteiligte ostdeutsche Regionen für zweckmäßig?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter! Nach dem Steueränderungsgesetz von 1991 kann die 12%ige Investitionszulage schon jetzt bis zum 30. Juni 1992 und die 8%ige Investitionszulage bis zum 31. Dezember 1994 gewährt werden. Eine Änderung dieser Regelung ist nicht beabsichtigt.
Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß der Bund-Länder-Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur festgelegt hat, daß für einen Zeitraum von fünf Jahren, und zwar mit der sicherlich erfreulichen Möglichkeit der Verlängerung, das gesamte Gebiet der neuen
Bundesländer einschließlich Berlin zum Fördergebiet der Gemeinschaftsaufgabe zu machen ist.
Nach der gesetzlichen Aufgabenteilung ist es in der Gemeinschaftsaufgabe ausschließlich Sache der Länder, räumliche Schwerpunkte der Förderung zu setzen. Einige neue Länder haben mittlerweile räumliche Prioritäten gesetzt.
Innerhalb des von der EG für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft in den neuen Ländern genehmigten Höchstsatzes von 35 % Subventionswert, also höchstens 23 % Investitionszuschuß, und zusätzlich bis zu 12 Prozentpunkte für Fördermaßnahmen mit nichtregionaler Zielsetzung, können die Länder durch unterschiedliche Ausnutzung dieses Förderspielraums ein der jeweiligen regionalen Problemlage entsprechendes Fördergefälle erreichen. Hierfür wird die notwendige Flexibilität gewährleistet, um sich ändernden regionalen Problemlagen in den neuen Ländern möglichst schnell gerecht werden zu können.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller, bitte schön.
Eine kleine Zusatzfrage, Herr Staatssekretär: Darf ich Ihre Antwort so verstehen, daß die Bundesregierung nicht in Erwägung zieht, von sich aus eine Differenzierung von Bundesfördermaßnahmen vorzubereiten?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Abgeordneter, Sie können dies so verstehen. Ich möchte Ihnen aber ein zusätzliches Angebot machen. Wenn Sie einen Förderfall haben, der problematisch ist und bei dem es vielleicht an einer solchen Geschichte hapert, würde ich mich freuen, Sie bei mir im Büro begrüßen zu dürfen. Vielleicht können wir das dann gemeinsam besprechen.
Damit hat sich eine weitere Zusatzfrage erübrigt, und ich kann die Frage 29 des Abgeordneten Müller aufrufen:Ist die Bundesregierung bereit, die bisher überwiegend nur privatisierten Unternehmen zur Verfügung gestellten Fördermittel zur Erleichterung der Sanierungsanstrengungen auch Treuhandunternehmen zugänglich zu machen?Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Danke, Herr Präsident. — Herr Abgeordneter, nach den Förderregeln der Gemeinschaftsaufgabe, und zwar dem Rahmenplan, können Treuhandbetriebe gefördert werden. Die Durchführung der Förderung ist nach dem Grundgesetz ausschließlich Sache der Länder. Die neuen Länder haben dementsprechend von Anfang an von ihrem Recht Gebrauch gemacht, innerhalb der Vorgaben des Rahmenplans eigene Förderschwerpunkte zu setzen. Bei Treuhandbetrieben haben sie sich für eine relativ restriktive Förderpraxis entschieden. Danach konzentrieren die Länder den Einsatz der — das möchte ich doch einmal sagen — recht knappen Investitionsfördermittel auf solche Investitionen von Betrieben im Besitz der Treuhandanstalt, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit einer bevorstehenden Privatisierung des zu fördernden Betriebes stehen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4051
Parl. Staatssekretär Dr. Erich RiedlSeit kurzem sind die neuen Länder auch bereit, Investitionen zur Sanierung von Treuhandbetrieben mit Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe zu fördern, wenn ein von der Treuhandanstalt genehmigtes Sanierungskonzept vorliegt.Die Bundesregierung hat keine Möglichkeit, auf diese Förderpraxis der Länder einzuwirken. Aber, Herr Abgeordneter, ich halte als Wirtschaftspolitiker diese Art der praxisnahen Entscheidungen der Länder — wir haben an die Länder keine Noten zu verteilen — doch für sehr sinnvoll.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller? — Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 30 der Abgeordneten Frau Klemmer auf:
Ist die Bundesregierung bereit, nicht sanierungsbedürftige Flächen und Immobilien der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut bzw. Flächen und Immobilien nach deren Sanierung den Gemeinden zu dem Preis zurückzuübertragen, zu dem diese seinerzeit diese Objekte hatten abtreten müssen, um so den unverzichtbaren Beitrag zum wirtschaftlichen Überleben dieser Gemeinden zu leisten?
Herr Staatssekretär.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Frau Abgeordnete! Nach dem Entwurf des Gesetzes zu dem Abkommen vom 16. Mai 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken über die Beendigung der Tätigkeit der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut soll die Wismut-Nachfolgegesellcshaft Eigentum an allen ihr bisher zur unbegrenzten und unbefristeten Nutzung überlassenen Grundflächen erhalten.
Diese Regelung erscheint sachgerecht, weil die Bundesregierung als zukünftiger Alleingesellschafter in den kommenden Jahren — man höre und staune — mehr als 10 Milliarden DM für die Stillegung und Sanierung aufwenden muß. Frau Abgeordnete, ich unterstreiche: mehr als 10 Milliarden DM!
Eine Veräußerung von nicht sanierungsbedürftigen bzw. sanierten Flächen wird zu diesen Aufwendungen nicht mehr als einen doch recht bescheidenen Deckungsbeitrag leisten können.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Frau Abgeordnete Klemmer.
Herr Staatssekretär, können Sie eine Aussage darüber machen, wann sich Ihr Ministerium und das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in der Lage sehen werden, die Ergebnisse des mehr als tausendseitigen Gutachtens, das in Ihrem Ministerium zur Zeit, wie ich glaube, geprüft wird, den Kommunen und Gemeinden vorzustellen? Hielten Sie es nicht für besser, die Genannten schon im Vorfeld an den Überlegungen zu dieser Studie und an der Studie selber zu beteiligen und sie nicht nur mit Ihren Informationen zu versehen?
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Frau Abgeordnete, zum ersten Teil darf ich sagen: so schnell wie möglich. Das ist ein außerordentlich schwierig zu bewältigendes Thema — das wissen Sie selbst —; ich war erst gestern wieder dort.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Es entspricht natürlich meinem Demokratieverständnis, die Kommunen und alle Beteiligten auch aus psychologischen Gründen des Zusammenwachsens so schnell wie möglich zu informieren. Ob es Beschwernisse oder Hemmungen seitens der Ministerialbürokratie gibt, weiß ich nicht. Ich gehe aber der Sache einmal nach. Ich halte von dem Vorschlag, den Sie gemacht haben, auch als Kollege hier im Deutschen Bundestag sehr viel.
Zusatzfrage, Frau Abgeordnete? — Sie wollen keine mehr stellen.
Dann rufe ich die Frage 31 der Abgeordneten Frau Klemmer auf:
Ist die Bundesregierung zu der Zusage bereit, daß im Zusammenhang mit der auf die Uranerzförderung durch die SDAG Wismut folgenden Sanierung ausschließlich solche belasteten Materialien, Böden etc. einer dortigen Endlagerung zugeführt werden, die durch die Tätigkeit der SDAG Wismut angefallen sind, und daß die dafür entstehenden Lagerstätten nicht als Endoder Zwischenlager für sonstige radioaktive Materialien oder Böden etc. aus der Bundesrepublik Deutschland oder dem Ausland genutzt werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Herr Präsident! Frau Abgeordnete, die Sanierungskonzeption der SDAG Wismut bezieht sich ausschließlich auf die Sanierung der Betriebe und Anlagen der Wismut und der aus der Uranerzförderung resultierenden Folgenbelastungen. Ob für Sanierungsmaßnahmen für radioaktive Altlasten, die etwa auf den konventionellen Bergbau in den südlichen Gebieten der neuen Bundesländer einschließlich des Altbergbaus zurückgehen, gegebenenfalls Einrichtungen und Grundstücke der Wismut genutzt werden sollen, müßten wir im Einzelfall prüfen. Auch hier würde ich Ihnen, wenn Sie solche Einzelfälle kennen, anbieten, daß Sie diese mir bzw. dem Bundesministerium für Wirtschaft detailliert vortragen.
Ein Endlager des Bundes für an dieses abzuliefernde radioaktive Abfälle in der betroffenen Region ist seitens der Bundesregierung nicht beabsichtigt. Für eine Zwischenlagerung wäre gegebenenfalls der positive Abschluß eines gesonderten Genehmigungsverfahrens erforderlich. Ein entsprechender Antrag liegt nach Kenntnis der Bundesregierung nicht vor. — Ich hoffe auch, daß es nicht zu einem Antrag kommt. Das sage ich Ihnen auf Grund meiner Erfahrungen vor Ort von der katastrophalen Umweltbelastung dieses Gebiets ganz offen. Also, wir fordern solche Anträge nicht ex officio an.
Zusatzfrage? — Bitte schön, Frau Abgeordnete.
Herr Staatssekretär, meine Nachfrage dient der nochmaligen Sicherung Ihrer Antwort. Habe ich Sie richtig verstanden, daß die dortigen Schächte in keiner Weise als Endlager vorgesehen sind, daß Sie aber die Frage der Verwendung dieser Schächte als Zwischenlager heute noch nicht definitiv beantworten können?
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4052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Dr. Erich Riedl, Parl. Staatssekretär: Ja. Ich kann es Ihnen auch noch einmal schriftlich geben, gnädige Frau; dann können Sie es auch in Ihrem Wahlkreis verwenden.
Herr Staatssekretär, dann möchte ich mich bei Ihnen sehr herzlich bedanken, und wir können Sie sozusagen entlassen. Denn die Abgeordnete Frau Braband ist nicht im Saal, so daß ihre Fragen 32 und 33 nicht beantwortet werden können, und der Abgeordnete Jaunich hat darum gebeten, seine Fragen 34 und 35 schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Wimmer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 36 der Abgeordneten Margitta Terborg auf:
Welche Erkenntnisse hat das Bundesministerium der Verteidigung über den Zwischenfall am 5. Oktober 1991 in Brake gewonnen, bei dem ein Zug Soldaten nach einer ausgedehnten Zechtour faschistische Parolen gegrölt und Jagd auf philippinische Matrosen gemacht hat, und wie beurteilt sie die zögerliche Bereitschaft der örtlichen Truppenführung zur Zusammenarbeit mit der Polizei?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Terborg, nach den dem Bundesminister der Verteidigung vorliegenden Meldungen soll sich der Zwischenfall am 5. Oktober 1991 in Brake folgendermaßen ereignet haben: Einige Rekruten der Technischen Marineschule in Brake, die zu diesem Zeitpunkt gerade vier Tage Soldaten waren, haben während ihres Landgangs in Zivil nach reichlichem Alkoholgenuß in einer Gaststätte fünf philippinische Matrosen eines Motorschiffs bedroht. Die Matrosen verließen nach unserem heutigen Wissen das Lokal, verfolgt von ca. 25 Rekruten. Hierbei wurde ein philippinischer Matrose geschlagen und getreten. Ein Rekrut hat während dieser Auseinandersetzungen nach Zeugenaussagen offenkundig mit ausländerfeindlichen Parolen die Atmosphäre angeheizt. Andere Rekruten aus der Gruppe haben sich allerdings mit Wort und Tat gegen die Schläger gestellt und zur Beendigung beigetragen.
Durch Polizei und Feldjäger wurden fünf Rekruten namentlich identifiziert, u. a. der vermeintliche Schreier von Parolen.
Die polizeilichen Ermittlungen und die Überprüfungen der Technischen Marineschule sind noch nicht abgeschlossen. Vom Ergebnis dieser Untersuchungen hängt eine gegebenenfalls disziplinare Würdigung durch die Bundeswehr bzw. auch eine strafrechtliche Würdigung ab.
Zum zweiten Teil Ihrer ersten Frage teile ich Ihnen mit, daß nach den mir vorliegenden Informationen eine zögerliche Bereitschaft der örtlichen Truppenführung zur Zusammenarbeit mit der Polizei nicht erkennbar ist.
Zu einer Zusatzfrage, bitte schön, Frau Abgeordnete Terborg.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich den Gegensatz zwischen Ihrer Antwort und der Mitteilung der Polizei an mich, daß der Vorfall eigentlich viel ernster zu bewerten sei, als er in der Presse dargestellt worden sei?
Wie ich von der Standortleitung selbst erfahren habe, wollte der Kommandeur erst genau sieben Tage später mit der Truppe über diesen Vorfall reden. Halten Sie das nicht für eine sehr langsame Reaktion?
Ich will noch einmal auf das eingehen, was Sie in Ihrer Antwort auf den zweiten Teil meiner Frage gesagt haben. Daß die Feldjäger ganz rasch zur Stelle waren, ist mir bekannt. Meine Frage zielte eigentlich darauf ab, daß es vom Samstag bis zum Montagnachmittag der örtlichen Polizei nicht möglich war, mit der Standortleitung Kontakt aufzunehmen. Deshalb ist die Polizei dann auch am Montag, ohne Kontakt mit unserer Bundeswehrführung zu haben, an die Presse gegangen. Ich finde, ein solcher Vorfall müßte eigentlich sofort den Standortältesten alarmieren. Ich frage Sie: Sehen Sie das anders?
Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, nach den uns vorliegenden Informationen sind die Feldjäger ja gerade über diese Einheit unterrichtet worden, die die in Frage kommenden Rekruten aufgenommen hatte. Von daher ergibt sich auch schon aus Ihrer Darstellung, daß wir nach den vorliegenden Informationen offenkundig alles getan haben, um zügig einschreiten zu können.
Was die Ihnen durch die Polizei vorgetragenen Daten betrifft, biete ich Ihnen gerne an, daß Sie uns das zur Verfügung stellen. Es kann ja durchaus sein, daß wir das, was Sie von der Polizei bekommen haben, selber nicht haben.
Ich kann Ihnen sagen, daß wir in diesem Fall und in ähnlichen Fällen mit allem Nachdruck tätig werden und daß wir deswegen das gute Angebot auf Kooperation in diesen Fragen gerne annehmen. Wenn Sie Informationen haben, dann gehen wir diesen durch eigenes verantwortliches Handeln gerne nach.
Frau Abgeordnete, ich lasse noch eine — aber bitte kurze — Zusatzfrage zu, weil wir dann am Ende der Fragestunde sind.
Ich danke zunächst einmal für das Angebot; darauf komme ich gerne zurück.Ich habe jetzt noch die zweite Zusatzfrage, ob neu eingezogene Soldaten ohne jede Belehrung in die Öffentlichkeit entlassen werden.Mich würde ferner interessieren, ob auch ein Längerdienender an diesem Übergriff beteiligt war. Wissen Sie das schon?Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Wer im einzelnen daran beteiligt gewesen ist, ist Gegenstand der entsprechenden Untersuchungen. Ihre Frage wird man bei Gelegenheit beantworten können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4053
Parl. Staatssekretär Willy WimmerWir haben hier allerdings im Zusammenhang mit den vier Tagen das eine oder andere festzustellen, z. B. daß die jungen Leute Anspruch auf Ausgang hatten. Ich gebe Ihnen auch gerne die einzelnen Informationen darüber, wie sich die Belehrungen bzw. sonstigen Informationen über den dienstlichen Alltag in der Truppe auf die entsprechende Gruppe ausgewirkt haben, was den Informationszugang betrifft.
Damit sind wir am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf: Aktuelle Stunde
Pulverfall Tschernobyl: Sofortige Stillegung aller Gefahren-Reaktoren Osteuropas — Folgerungen für die Energiepolitik in Deutschland
Die Aktuelle Stunde geht auf einen Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN zurück.
Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist noch kein halbes Jahr her, daß wir hier über die Schlußfolgerungen aus der Tschernobyl-Katastrophe gemeinsam debattiert haben, und schon wieder erreichen uns aus der Ukraine Hiobsbotschaften. Wahrscheinlich hat die Erde, haben wir alle zusammen am Wochenende mehr Glück gehabt als vor fünf Jahren. Doch die Gefährdung durch die technisch katastrophalen Reaktoren in Osteuropa bleibt, sie wächst von Tag zu Tag.Ich kann es also verstehen, wenn Bürgerinnen und Bürger erneut Angst haben, Schwangere daran denken, ihre Koffer zu packen, um in gegebenenfalls weniger bestrahlte Gebiete zu fliehen. Aber irgendwann gibt es auf dieser Erde dann keine sicheren Orte mehr, wenn es zu einer Katastrophe gekommen ist.Die jüngste Havarie in Tschernobyl sollte dem Bundesumweltminister als Wink mit dem Zaunpfahl dienen, um bei seinem Besuch in der Sowjetunion endlich auf die sofortige Stillegung des Katastrophenreaktors Tschernobyl sowie der baugleichen Reaktoren in Osteuropa zu drängen. Er kann sich dabei des Beifalls der sicher nicht atomkritischen „FAZ" sicher sein, die feststellt, daß nachrüsten nicht mehr hilft, und die Stillegung aller Blöcke fordert, bevor weiteres Unheil über Europa hereinbricht.Es genügt allerdings nicht, den miserablen Sicherheitszustand der AKW in Osteuropa zu kritisieren und damit von den grundsätzlichen Problemen der Atomenergie auch und gerade im Westen abzulenken. Wer die Gefahren der osteuropäischen Kraftwerke in düsteren Farben malt, gleichzeitig aber eine Renaissance der westlichen Atomkraft fördert, handelt unverantwortlich, und möglicherweise wird man später sagen: sogar kriminell.Wer sich aber angesichts der nun schon fast regelmäßig aus Osteuropa kommenden Atomnachrichten hinter dem angeblich so hohen Sicherheitsstandard der deutschen AKW verschanzen will, dem sei gesagt, daß auch eine hundertmal so hohe Sicherheit nichtsüber den Zeitpunkt eines tatsächlichen Unfalls aussagt. Ich sage Ihnen, auch Elektronik, Technik und besonders auch Menschen können selbst in Deutschland versagen, und dann sind vielleicht Millionen Deutsche auf atomarer Asylsuche irgendwo in der Welt.Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, da hatten sich die Rauchschwaden über Tschernobyl kaum verzogen, da wurde bekannt, daß offenbar mit Wissen der Bundesregierung Vorbereitungen für die atomare Endlagerung in den neuen Ländern, auch in meiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern, getroffen werden. Offenbar in der trügerischen Hoffnung, auf Grund der alltäglichen Sorgen und Nöte der Menschen würde sich der Widerstand gegen solche Anlagen, die im Westen nicht mehr durchsetzbar sind, gering halten. Dieser Widerstand ist aber schon stärker, als sie glauben, und zwar zu Recht. Wir mögen mit der Deponie Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern bereits die größte föderale Müllkippe von Deutschland haben, aber Greifswald darf nicht auch noch zum Atomklo für westliche AKW werden.
Auch der Beschluß der EG-Umweltminister in Sachen Energieabgabe zeigt, wie die Atomkraft gehätschelt wird: Atomstrom wird schlicht und ergreifend von der Steuer ausgenommen, mit der durchsichtigen Scheinargumentation, daß hier kein CO2 emittiert wird.
— Wir sprechen uns dann wieder, Herr Baum.Tatsache ist aber, daß gerade Atomkraftwerke das größte strukturelle Hindernis bei der Bekämpfung des Treibhauseffektes darstellen. Die völlig uneffiziente Stromproduktion ohne Wärmenutzung und die zentralistischen Strukturen behindern den dringend notwendigen Umbau der Energieversorgung hin zu dezentralen und hocheffizienten regenerativen Energiequellen. Wenn das wäre, dann wären wir auf dem richtigen Weg.Meine Damen und Herren, während Sie sich einem Ausstieg noch verweigern, haben die Versicherungen weltweit ihren Ausstieg aus der Atomversicherung begonnen. Denen wird die Sache zu heiß. So wird von der Transportversicherung das Nuklearrisiko, insbesondere das Risiko aus zivilen Unfällen in Atomkraftwerken, spätestens ab 1. Januar 1992 nicht mehr abgedeckt.Die Versicherungen sind nahezu einstimmig der Auffassung, daß — ich zitiere — „auf Grund der neuen Erkenntnisse über die mögliche flächenmäßige Ausdehnung von radioaktiver Verseuchung als Folge ziviler Kernkraftwerksunfälle eine privatwirtschaftliche Versicherung dieses Risikos nicht mehr machbar" sei.Die Gründe für die Kündigung der Verträge liegen — ich zitiere wieder — „ebenso wie bei dem 1937 weltweit beschlossenen Ausschluß des Kriegsrisikos auf Land in den nicht kalkulierbaren, die Möglichkei-
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4054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Dr. Klaus-Dieter Feigeten der privaten Versicherungswirtschaft übersteigenden Größtschadenspotentialen".Sie hören richtig: Hier wird das Nuklearrisiko mit einer Kriegssituation verglichen.Die Politik muß sich diese Erkenntnisse zu eigen machen. Der schnellstmögliche Ausstieg aus der Atomkraftnutzung muß jetzt eingeleitet werden.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Klinkert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, Sie teilen meine Einschätzung, daß derzeit von den sowjetischen Schrottreaktoren eine größere Gefahr für Europa ausgeht als von den sowjetischen Atomwaffen. Der Brand in Tschernobyl hat ein neues Alarmsignal zur Beurteilung der atomaren Sicherheit gesetzt. Mehr als drei Stunden wütete im Kraftwerk Tschernobyl ein Großbrand — dies bei einem Kraftwerk, von dem man hätte annehmen können, daß nach den Ereignissen von 1986 nun endlich alle erdenklichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit getroffen sind.
Wie nahe Europa an einem erneuten Super-GAU war, läßt sich heute noch nicht abschätzen. Natürlich drängt sich die Frage nach einem sofortigen Abschalten von Tschernobyl auf. Aber es gibt in der Sowjetunion nicht nur e i n Tschernobyl. Die installierte Leistung der vergleichbaren Reaktoren mit der Bezeichnung RWMK beträgt 20 000 Megawatt in der Sowjetunion. Dazu kommen 36 000 Megawatt der Kraftwerkstypen, die in Greifswald oder auch Kosloduj anzutreffen sind.
Die Opposition ist schnell dabei, den osteuropäischen Staaten zu raten, diese Kraftwerke abzuschalten, und macht dafür teilweise sogar die Bundesregierung verantwortlich. Aber wir können nicht so tun, als ob diese Länder, in denen nun Gott sei Dank demokratische Regierungen — zumindest zum größten Teil — installiert sind, Kolonien Deutschlands wären, in denen wir bestimmen, wann das Licht auszugehen hat.
Im übrigen: Was haben Sie dem Abschalten entgegenzusetzen? Wir sind in Westeuropa nicht in der Lage, Strom in genügendem Ausmaß zur Verfügung zu stellen. Es soll natürlich auch kein Atomstrom sein, wie Sie, Herr Feige, eben durchblicken ließen. Es fehlt an Kraftwerkskapazitäten und auch an den erforderlichen Leitungen.
Was hat die Bundesregierung dem entgegenzusetzen? Die Bundesregierung bemüht sich, die osteuropäischen Länder dazu zu bewegen, über anerkannte Gutachter der IAEO eine schonungslose Sicherheitsanalyse aller ihrer Kraftwerke erstellen zu lassen. Auf der Basis dieser Ergebnisse muß eine Prioritätenliste erstellt werden, die eventuell auch zur Abschaltung
einzelner Kraftwerke führt, die aber auch Hilfe bei der Nachrüstung und der Sanierung aufzeigt. Wir brauchen ein Stillegungs- und Sanierungsprogramm für die Kernkraftwerke der osteuropäischen Länder, das mit in der Verantwortung aller Industrieländer der westlichen Welt zu stehen hat.
Das Wichtigste dabei sind aber Finanzierungsmodelle, um das zu erreichen, was bereits 1986 die Unionspolitiker Laufs, Schmidbauer und Fellner erklärten, nämlich daß der im Bundesgebiet erreichte Standard der Reaktorsicherheit international verbindlich zu machen ist.
Bundesumweltminister Töpfer fährt in wenigen Tagen in die Ukraine und wird dort über konkrete Maßnahmen beraten. Er veranlaßte ja bereits den IAEO-Bericht über die Sicherheit älterer Reaktoren.
Es ist insgesamt eine breitere europäische Sensibilität zu diesem Thema zu verzeichnen. Aber, ich glaube, alle diese Maßnahmen sind nicht ausreichend. Was wir brauchen, ist eine tatsächliche Perestroika der internationalen Reaktorsicherheit, die um so erfolgreicher sein kann, je mehr durch Demokratie und Marktwirtschaft in den osteuropäischen Ländern die Voraussetzungen für das Greifen westlicher Hilfe geschaffen werden.
Danke schön.
Nun spricht der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine unheilvolle Kette menschlichen und technischen Versagens hat uns in Tschernobyl an den Rand einer erneuten nuklearen Katastrophe gebracht. Wie vor fünf Jahren müssen wir, denke ich, den vorliegenden Informationen mit großem Mißtrauen begegnen. Dies gilt insbesondere für die Beteuerung, für die Bevölkerung in Tschernobyl bestehe keine Gefahr mehr.Es muß uns im Grunde alle bedrücken, daß fünf Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 zwar über Verbesserungen östlicher Kernkraftwerke, über internationale nukleare Sicherheitsgemeinschaften gesprochen wird, aber nicht ein einziges konkretes Ergebnis vorliegt, das mehr Sicherheit gebracht hätte.
Die Sicherheitsmisere osteuropäischer Kernkraftwerke ist ebenso offensichtlich wie die Unfähigkeit der Industriestaaten, hier Abhilfe konkret durchzusetzen. — Soeben ist der Zwischenruf gemacht worden: „Wer ist denn zuständig?" Dieser Zwischenruf offenbart eine abgrundtiefe Unkenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge. Wenn in Tschernobyl etwas passiert, dann sind wir alle betroffen. Insoweit ist eine grenzüberschreitende Verantwortung gegeben.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4055
Harald B. Schäfer
Man kann sich angesichts der Tatsache, daß wir in einer internationalen Risikogemeinschaft leben, im Deutschen Bundestag doch nicht hinstellen und sagen: Tschernobyl geht uns nichts an, wir sind nicht zuständig.
Die Frage „Wer ist zuständig?", verehrter Kollege Harries, ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Es ist schlimm, wenn Zwischenrufe gemacht werden, ohne daß vorher zumindest im Ansatz nachgedacht wird.
Ich will nun aber zu dem Thema der Aktuellen Stunde zurückkommen. Es ist, glaube ich, in dieser Situation für niemanden beruhigend, wenn Umweltminister Töpfer morgen nach Tschernobyl reist, sich dort vor Ort publikumswirksam informieren läßt und wieder keine konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit der Atomkraftwerke in Mittel- und Osteuropa das Ergebnis sind.
— Ich teile doch seine Besorgnis, weil seit fünf Jahren nichts wirklich passiert ist. Aber es muß doch die Frage gestellt werden, wer hierfür die Verantwortung trägt.
Selbst in der Logik der Befürworter der Kernenergie hätte längst ein großes westeuropäisches Programm zur Beseitigung der größten Mängel in den osteuropäischen Kernkraftwerken anlaufen können. Wer hindert denn die westlichen Industriestaaten daran? Wer hindert denn die Internationale Atomenergie-Organisation, nicht nur über den Abschluß von Sicherheitskonventionen zu reden, sondern tatsächlich etwas zur Verbesserung der Situation zu tun?
Ich kann, meine Damen und Herren, den Verdacht nicht loswerden — ich sage das mit vollem Bewußtsein — , daß viele Atomexperten intern der Meinung sind, daß ein Großteil der russischen Kernkraftwerke gar nicht auf westeuropäischen Sicherheitstandard nachrüstbar ist.
Das muß man dann auch sagen. Und nicht ohne Grund hat Bundesumweltminister Töpfer Greifswald stillegen lassen müssen.
Nicht ohne Grund haben sich die westdeutschen Energieversorgungsunternehmen auch beim Abschluß des Stromvertrags beharrlich geweigert, das Kombinat zu übernehmen, zu dem auch die ostdeutschen Kernkraftwerke gehören. Sie wußten schon, warum.Was wir heute brauchen — und da wünsche ich mir eine gemeinsame Initiative hier, egal, wie wir sonst zur Kernenergienutzung stehen — , ist eine europäische Initiative zur Sanierung der osteuropäischen und russischen Stromversorgung,
verbunden mit einer Strategie der Stillegung dieser unsicheren Kernkraftwerke.
Wir alle wissen, meine Damen und Herren, daß die Energieeffizienzrevolution — vor allen Dingen im Osten, aber auch bei uns — noch vor uns liegt und daß riesige Energieeinsparpotentiale brachliegen. Wir wissen, daß wir westliches Know-how und Kapital in diese Länder transferieren müssen, damit diese Energieeffizienzrevolution stattfinden kann. Das sind wir dem Klimaschutz und damit den nach uns kommenden Generationen schuldig.Wir müssen heute entscheiden, wohin westeuropäisches Know-how und Kapital gehen: in die Energieeffizienzrevolution oder in eine vergebliche Sanierung dauerhaft zu gefährlicher Kernkraftwerke. Hier unterscheiden sich Regierung und Opposition wegen ihrer unterschiedlichen energiepolitischen Vorstellungen.
Herr Abgeordneter Schäfer, Sie sprechen ja erfreulicherweise frei, und deswegen wird es Ihnen auch nicht schwerfallen, die Zeit einzuhalten.
„Ceterum censeo" will ich noch sagen: Die miserablen und nicht länger akzeptablen Sicherheitsstandards osteuropäischer Kernkraftwerke werden und können nicht dazu führen, daß den westdeutschen Reaktoren ein sicherheitstechnischer Persilschein auszustellen wäre.
Für uns Sozialdemokraten bleibt es dabei: Wir wollen auch in der Bundesrepublik — hier wollen wir damit anfangen — eine sichere Energieversorgung ohne die Nutzung von Kernkraftwerken auf Dauer ermöglichen. Wir müssen heute mit dem Einstieg in das Solarzeitalter beginnen, um morgen das Atomzeitalter zu überwinden.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist oft sehr nützlich, Ihnen zuzuhören, Herr Schäfer.
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4056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Klaus HarriesDas, was Sie heute geboten haben, war schwach und widerspruchsvoll.
Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß Sie an uns hier appellieren, Europa und — verstärkt — die Bundesrepublik Deutschland sollten die Energieversorgung und die Stromversorgung des Ostens, insbesondere der Sowjetunion und anderer östlicher Länder, übernehmen
— oder finanzieren —, und gleichzeitig dafür plädieren, wir sollten unsere Energiepolitik in einem ganz entscheidenden Punkt ändern, indem Sie nämlich weiterhin für den Ausstieg aus der Kernenergie plädieren. Herr Schäfer, die Antwort darauf, wie das machbar sein soll, wie diese Rechnung aufgehen soll, sind Sie uns voll schuldig geblieben. Sie müssen hier zu gegebener Zeit noch einiges erklären, um das Bild wieder zurückzurücken, das Sie hier heute fälschlicherweise entworfen haben.Meine Damen und Herren, wir sind uns völlig einig, daß Tschernobyl mit Recht wieder zu Schlagzeilen geführt hat. Wir sind uns auch darüber einig, daß offenbar wieder ein Störfall stattgefunden hat, der zu größeren Katastrophen hätte führen können. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.Auch für mich war es erschreckend, zu hören und zu lesen, daß die Katastropheneinsatzzüge, die gar nicht in oder unmittelbar um Tschernobyl stationiert werden können, offenbar erst nach dreieinhalb Stunden am Unglücksort waren. Dreieinhalb Stunden sind zu lang! Auch für mich ist es erschreckend, wieder zu lesen, daß der Unglücksreaktor aus dem Jahre 1986 immer noch strahlt, immer noch gefährlich ist, so daß weiteres passieren kann, und daß die Sowjets bisher nicht daran gedacht haben, eine Ummantelung vorzunehmen, um das Sicherheitsrisiko im Interesse der Bevölkerung dort und hier — darin sind wir doch völlig einig — abzubauen.Auch ich bin der Auffassung, daß der Bundesumweltminister morgen mit Sicherheit die Gelegenheit nutzen wird, auf Grund von Verträgen und Sicherheitsabsprachen, die von uns mit angeregt worden sind, mit Nachdruck dafür zu plädieren, daß Tschernobyl möglichst bald abgeschaltet wird. Auch darüber sind wir uns einig.Aber hier nun die Forderung zu stellen, alle Kernkraftwerke seien sofort abzuschalten und es sei dann von uns zu finanzieren,
das, meine Damen und Herren, halte ich für absolut irreal. Das kann nicht unsere Forderung sein, denn wir tragen auch Verantwortung bei Verhandlungen darüber, wie hier ein Sicherheitsnetz gespannt werden kann. Das hat sich in Bulgarien, wie ich meine, hervorragend bewährt. Das ist überhaupt keine Frage. Aber wenn hier nun gefordert wird, an Stelle der Sowjets, an Stelle der Russen zu bauen und zu investieren, dann sage ich: Das kann nicht unser Ziel sein.Ich bitte, auch einmal abzuwägen, Herr Schäfer, worin jetzt — vor dem Winter, vor dem Zusammenbruch der ohnehin notleidenden Wirtschaft drüben in der Sowjetunion — die größeren Gefahren liegen. Wenn das noch kommen sollte, dann wäre das für die dortige Bevölkerung, für die vielen Millionen von Menschen, überhaupt nicht zu ertragen. Das bitte ich einmal abzuwägen.Von daher meine ich, daß wir unseren Bundesumweltminister mit Recht und mit Nachdruck bitten sollten, morgen in der Sowjetunion — in Tschernobyl, in Moskau oder in Kiew — zu sagen: Fangt an, Anlagen zu schließen! Laßt uns langsam Anstrengungen unternehmen, gemeinsam zu besseren Lösungen zu kommen! — Das kann aber nicht von heute auf morgen geschehen.Danke.
Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Frau Braband das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste im Bundestag fordert den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist bereits bekannt. Wir sagen: Der Ausstieg aus der Atomenergie sollte in Tschernobyl beginnen.Der erneute Brand in Tschernobyl beweist: Nichts hat sich seit 1986 geändert. Die Atomkraftwerksbetreiber haben nichts hinzugelernt. Wieder versagte die Abschaltautomatik, und das trotz Nachrüstung mit westlicher Sicherheitstechnologie. Der Brand hätte leicht wieder zur Katastrophe führen können. Nur die sofortige Stillegung aller Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK kann weitere Katastrophen verhindern. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß andere Bauarten ihr eigenes, spezifisches Störfallprofil haben. Sie sind deshalb nicht wesentlich sicherer, auch nicht im Westen.
— Das ist keine Hysterie. Das ist eine Frage von Sicherheitsdenken an sich.Nachrüstung mit westlicher Technik konnte nicht verhindern, daß in Tschernobyl 2 die Abschaltautomatik versagte. Westliche Sicherheitstechnik wird auch keinen möglichen schweren Störfall im AKW Kosloduj in Bulgarien verhindern. In allen graphitmoderierten Reaktoren des Westens sind ähnliche Störfälle wie in Tschernobyl möglich. Auch in Druckwasserreaktoren sind Störfälle möglich, siehe Harrisburg, siehe Biblis A.
Darum müssen alle Atomanlagen stillgelegt werden. Denn es gibt keine absolut sicheren Atomkraftwerke. Niemand kann diesen Beweis antreten. Es gibt nur unsichere und solche, die noch unsicherer sind.Natürlich würde ein Energie-Crash-Programm die Länder Osteuropas in Schwierigkeiten bringen — es ist richtig, daß hier darauf hingeweisen wird — , so wie
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Jutta Brabandauch Frankreich Probleme mit der Stromversorgung bekommen würde. Eine verfehlte Energiepolitik, das Setzen auf die mit der militärischen Nutzung untrennbar verbundene Atomenergie zeitigt hier ihre Folgen. Doch was sind diese Schwierigkeiten im Vergleich zu den Problemen, die eine atomare Katastrophe in Cattenom, in Biblis oder der Sowjetunion verursachen würden?
— Katastrophe ist Katastrophe. Das kann man sehr wohl gleichsetzen.
Die 1986 stattgefundene Katastrophe in Tschernobyl zeigt doch: Es kann niemandem von uns egal sein. Das wird immer wieder betont. Ich denke, darum sollte all denen, die ausstiegswillig sind, jedoch tatsächlich massive und soziale Schwierigkeiten bekommen — anders als dieses Land —, geholfen werden. Insbesondere die reichen EG-Staaten sind hier tatsächlich in der Pflicht.Statt Geld für weitere, fragwürdige Sicherheitstechnik auszugeben, sollte umgehend im Rahmen einer Europäischen Energiesparcharta — nicht etwa einer Energiecharta — der Ausstieg aus der Atomenergie in Ost- und Westeuropa in Angriff genommen werden. In der Bundesrepublik ist er sofort möglich. Durch effiziente Energienutzung und Energieeinsparung kann eine umweltfreundliche, sozialverträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung in Ost- und Westeuropa verwirklicht werden. Die Technologien sind vorhanden, allein der politische Wille fehlt.In diesem Zusammenhang muß auch darüber gesprochen werden, daß es unmöglich ist, so viele Mittel für weitere Forschungsvorhaben auf diesem Gebiet auszugeben. Dieses Geld kann nutzbringender verwendet werden.Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal auf Kosloduj verweisen, auf die Reaktorteile im Wert von insgesamt 19 Millionen DM aus dem abgeschalteten Greifswaldreaktor, die nach Bulgarien geschafft werden sollen. Das geschieht für meine Begriffe nicht etwa, um die baugleichen Blöcke abzuschalten, nein, Kosloduj soll mit deutschem Schrotttransfer sicherer gemacht werden. Ich kann nur noch einmal davor warnen, der ach so billigen Energiequelle Atomkraft in Kosloduj weiteres Geld nachzuwerfen. Die dringendsten Nachrüstungen beziffert die Wiener Atomenergiebehörde auf 50 bis 60 Millionen Dollar. Siemens kommt allerdings schon auf 200 bis 300 Millionen DM je Block.23 Millionen DM will die EG für Kosloduj bereitstellen. Selbst Atomexperten halten einen daraus resultierenden Sicherheitsgewinn für Kosloduj für sehr zweifelhaft. Das Geld wäre in Energiealternativen für Bulgarien besser angelegt.Erinnern wir uns: In Wackersdorf wurden 10 Milliarden DM in den Sand gesetzt. In Kalkar sind noch mindestens 7 Milliarden DM dazugekommen. Dafür hätten 20 moderne Heizkraftwerke — das beantwortet auch das Problem, das Herr Klinkert behandelthat — gebaut werden können oder 500 000 Solaranlagen von 1 000 Watt Leistung. Die jetzt für die Atomenergie ausgegebenen Mittel müssen umgehend im Rahmen einer solchen europäischen Energiesparcharta für Projekte in Ost- und Westeuropa zur effizienten Energienutzung und -einsparung verwendet werden.
Frau Abgeordnete, darf ich Sie auf das rote Licht vor Ihnen aufmerksam machen.
Ich denke, es geht um die Sicherheit aller Menschen in Europa. Ich finde, wenn Betroffenheit und Erschrecken über das, was in der Welt und auch hier geschieht, nicht dazu führen, daß Schlußfolgerungen gezogen werden, dann eignet sich diese Betroffenheit maximal für einen Wahlkampf.
Ich danke.
Ich erteile dem Abgeordneten Jörg Ganschow das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tschernobyl macht wieder Negativschlagzeilen. Das ist richtig. Der Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl am Freitagabend der vergangenen Woche hat wieder einmal auch Sicherheitsmängel in osteuropäischen Atommeilern aufgezeigt.Bei dem jetzigen Vorfall konnte man nach dem neuesten Kenntnisstand feststellen, daß Schlimmeres vermieden wurde, was auf schnelles, engagiertes, couragiertes Eingreifen der Sicherheitskräfte zurückzuführen war. Der Reaktor war vor der Explosion im Turbinenraum abgeschaltet worden. Ein Übergreifen der Flammen auf den Reaktorblock wurde verhindert. Sie müssen das bitte auch einmal von der technischen Seite und nicht nur vom Wollen her sehen. Radioaktive Stoffe sollen nach Angabe des Kernenergieministeriums nicht frei geworden sein. Das Freiwerden ist schon deshalb nicht möglich, weil dort ein Turbinenbrand stattgefunden hat, der mit dem eigentlichen Reaktor überhaupt nichts zu tun hat. Solch ein Turbinenbrand hätte in einem Braunkohlekraftwerk die gleiche Auswirkung gehabt, allerdings kaum für solche Schlagzeilen gesorgt.
Allein, dieser Unfall hätte aus unserer Sicht wahrscheinlich trotzdem eine komplette Abschaltung nach sich gezogen, nicht nur in diesem einen Kraftwerk, sondern in allen Kraftwerken gleicher Bauart. Aber wir müssen noch einmal darauf zu sprechen kommen: Wir haben weder die Möglichkeit noch das Recht, ein sowjetisches oder ein anderes osteuropäisches Atom-
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4058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Jörg Ganschowkraftwerk sofort abzuschalten bzw. stillzulegen. Oder wollen Sie dort Bundeswehr einmarschieren lassen?
Wir können es höchstens von den entsprechenden Behörden dieser Länder fordern. Für wichtiger halte ich es, daß wir uns endlich auf die Erarbeitung entsprechender Konzepte konzentrieren und nicht auf eine Hysteriekampagne, verbunden mit Verbalattakken gegen sämtliche Atomkraftwerke in Europa.
Das kann doch nicht der Ersatz für Hilfeleistungen an osteuropäische Staaten sein.
Eine generelle Abschaltung der veralteteten Kraftwerke in Osteuropa kann nur dann Realität werden, wenn Alternativen zur Verfügung stehen. Die Menschen dort müssen über den bevorstehenden Winter kommen. Ihnen muß auch in der Zukunft geholfen werden. Das muß Ihnen doch allmählich klar werden.Stromeinspeisungen aus Westeuropa sind nur begrenzt möglich. Es gibt nur eine West-Ost-Koppelung. Auch das habe ich Ihnen neulich erklärt. Sie ist voll ausgelastet. Zudem würden bei den riesigen Entfernungen unvertretbar hohe Transportverluste auftreten. Die einzige Alternative wäre eine Einspeisung aus Ostdeutschland in das ehemalige Verbundnetz MIR. Das ginge. Das wäre aber nur dann möglich, wenn alle Braunkohlekraftwerke, auch die aus bekannten Umweltgründen bereits stillgelegten, wieder ans Netz gingen und unter voller Leistung Strom erzeugten. Auch dies dürfte wohl einer mittleren Umweltkatastrophe gleichkommen.
Ich halte es für wesentlich sinnvoller, daran zu arbeiten, daß endlich die Entwicklung zu einem gesamteuropäischen Stromverbund vorangetrieben wird, auch unter Einbeziehung der Kernenergie, statt jetzt hysterisch den sofortigen Totalausstieg zu fordern. Wer einen Sofort- und Totalausstieg fordert, hat immer noch nicht begriffen, daß dieser sofortige Ausstieg aus der Kernenergie in der momentanen Situation völlig unrealistisch ist, da alternative Energieformen selbst in dafür begünstigten Regionen, beispielsweise Wind- und Sonnenenergie in Südkalifornien, nur teilweise Ersatz bieten können. Mittlerweile sollte auch Ihnen bekannt sein, daß der Strom nicht nur aus der Steckdose kommt, sondern daß ein wichtiger Teil der erforderlichen Energie auch aus Atommeilern in diese Steckdosen kommt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Klemmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer häufiger sind wir leider gezwungen, uns auch hier mit dem Thema Kernkraft zu befassen. In jüngster Zeit waren die Stichworte Greifswald, Kosloduj, zuletzt Wismut, und nun Tschernobyl, auch das nicht zum erstenmal. Auch die anderen der 15 Atomkraftwerksstandorts in der UdSSR sind nach unseren Maßstäben besonders gefährlich. Seit 1989 wurden in der Sowjetunion insgesamt 118 außerplanmäßige Abschaltungen registriert, davon 54 wegen Bedienungsfehlern des Personals, 63 wegen Versagens der Ausrüstung und eine, in Armenien, nach dem Erdbeben.Dabei könnte nicht nur die Ukraine gut ohne Tschernobyl auskommen. Der Unglücksreaktor dort stellt nur 7 % der Kraftwerkskapazität. Gleichzeitig sind andere Energiequellen verfügbar. In Sibirien lagern 38 % der in der Welt bekannten Vorkommen von Erdgas, einer vergleichsweise sauberen Energiequelle. Die immensen Ölvorkommen der Sowjetunion stellen immer noch an die 10 % der gesamten Weltreserven dar. Aber bei der Erdölförderung und bei der Erdölverarbeitung kommt es in der Sowjetunion zu katastrophalen Bodenverschmutzungen. In den Gebieten der Förderung sind die Böden in einem Radius von 1 bis 2 km um die Förderstellen mit Öl in einer Schicht bis zu 2 m verschmutzt.Meine Damen und Herren und auch Herr Minister Töpfer, hier liegen Möglichkeiten zur Hilfe. Das gilt nicht nur für die Rohstoffgewinnung, sondern auch für die Produktion. Gerade 60 bis 65 % eines Barrels Öl werden in den veralteten sowjetischen Raffinerien genutzt — gegenüber einem Wirkungsgrad von 90 bis 95 % in westlichen Raffinerien. Das Einsparpotential ist beträchtlich. Das hat der Kollege Schäfer schon erwähnt. Der Verbrauch an Brennstoff und Energie je Einheit erzeugten Bruttosozialprodukts ist mindestens dreimal so hoch wie in westlichen Industrieländern, Tendenz steigend.Insgesamt wird das Einsparpotential auf 30 bis 60 % des gesamten Primärenergieverbrauchs geschätzt. Zum Teil gehen Energieressourcen ohne jeden Nutzeffekt verloren und belasten die Umwelt. Bei der Erdölförderung werden Jahr für Jahr um die 15 Milliarden Kubikmeter Gas abgefackelt. Das entspricht einem Drittel des Erdgasverbrauchs von Großbritannien. Große Mengen Erdgas gehen wegen unzureichender Dichtungen direkt am Bohrloch verloren. Die direkten Förderverluste werden für 1989 auf noch einmal 14 Milliarden Kubikmeter Gas beziffert. In den sowjetischen Raffinerien könnte nach Ansicht westlicher Experten die Hälfte des Energieverbrauchs problemlos eingespart werden. Der überhöhte Energieverbrauch in der Eisen- und Stahlindustrie übersteigt die Energieerzeugung aller Kernkraftwerke.In den privaten Haushalten kann die Wärme der Heizungen nicht reguliert werden, und wegen des Fehlens einer zuverlässigen Wärmeisolierung gehen hier jährlich 200 Millionen t Steinkohleneinheiten verloren. Das ist die Hälfte des gesamten Energieexports der UdSSR.Schon diese wenigen Zahlen verdeutlichen, daß die Sowjetunion mit westlicher Hilfe relativ bald auf Kernenergie verzichten könnte, zumal außerdem für
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Siegrun Klemmerdie nächste Zeit eine starke Verringerung des Energieverbrauchs zu erwarten ist. Diese Zeit kann und muß genutzt werden für einen energiepolitischen Neuanfang in Osteuropa.Herr Bundesminister, Sie reisen morgen nach Tschernobyl. Wir hoffen, daß Sie in Ihrem Gepäck diesmal keine Ersatzteile aus Greifswald dabei haben.
— Stellen Sie doch nicht solche überflüssigen, dummen Fragen. Das haben wir Ihnen bei Kosloduj und Greifswald schon beantwortet.
— Das wollten wir nicht, Herr Baum. Sie wissen, daß das gar nicht wahr ist.Unterbreiten Sie bitte der Sowjetunion statt dessen Hilfsangebote für die Rohstofförderung, für moderne Energieproduktion und für sparsamen Energieverbrauch. Diese Hilfe kann mit den geförderten Rohstoffen bezahlt werden. Als ein Hauptgeber der bisherigen finanziellen Hilfen kann sich die Bundesregierung nicht damit herausreden, sie habe auf die Energiepolitik Osteuropas keinen Einfluß.Meine Damen und Herren, Kernkraftwerke stellen eben nicht nur ein Sicherheitsrisiko dar, bei entsprechender Energiepolitik sind sie schlicht überflüssig. Dies gilt für die Sowjetunion ganz offensichtlich. Nicht auf der Stelle — das ist natürlich klar — können dort sämtliche Kernkraftwerke abgeschaltet werden, aber daß es bald möglich ist, ist nachweisbar. Und es ist nötig.Die SPD fordert den Bundesumweltminister auf, das Seine dazu beizutragen und nicht etwa ein in Armenien stillgelegtes Atomkraftwerk eventuell mit deutscher Hilfe wieder in Betrieb gehen zu lassen. Ein weiteres Tschernobyl, nachdem wir am letzten Freitag hauchdünn an einem zweiten GAU vorbeigekommen sind, muß mit unserer Hilfe vermieden werden. Herr Bundesminister, das Ihre dazu beizutragen, dazu fordern wir Sie ganz herzlich und eindringlich auf.Danke schön.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Frankenhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer der „Sofortigen Stillegung aller Gefahren-Reaktoren Osteuropas" das Wort redet, verkennt — bewußt oder unbewußt — die realistische Situation, in der wir uns befinden. Wer dieses Thema ernsthaft angehen will, muß erstens berücksichtigen, daß der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung im europäischen Teil der UdSSR ca. 23 %, in der CSFR ca. 27 % und in Ungarn beispielsweise sogar 46 To beträgt, Quoten also, die sichnicht von heute auf morgen — auch nicht durch Ihre Beiträge — durch andere Stromerzeugungssysteme ersetzen lassen.Zweitens ist zu berücksichtigen, daß es sich bei diesen Ländern, von denen wir sprechen, um souveräne Staaten handelt, denen unsererseits jedenfalls nichts vorgeschrieben werden kann.
Wir sollten auch tunlichst vermeiden, den Anschein zu erwecken, als ob wir das wollten oder gar könnten.Mit dem sogenannten Ausstieg aus der Kernenergie ist das ja auch hierzulande, Herr Kollege Schäfer, so eine Sache. Wenn ich z. B. an Ihre Genossen in der Münchener SPD, im Münchener Stadtrat, denke, die seit über 10 Jahren — jedenfalls rhetorisch — so häufig und so engagiert aus der Beteiligung am Kernkraftwerk Ohu II ausgestiegen sind mit der Folge, daß sie quasi heutzutage endgültiger daran beteiligt sind als jemals zuvor.
— Wer erzählt Ihnen denn dieses Ammenmärchen. Es gibt umfangreiche Angebote der anderen Anteilseigner — Sie sollten nicht von etwas reden, von dem Sie nichts verstehen — , die mit Freude das zur Kenntnis genommen hätten, wenn die Stadt München ausgestiegen wäre, weil man natürlich in der Regel keine unsicheren Kantonisten als Vertragspartner haben möchte.
— Ja, wenn Sie es nicht verstanden haben, erkläre ich es Ihnen hinterher noch einmal.Wenn wir das dringende Problem des unzureichenden Sicherheitsstandards der Kernkraftwerke in Osteuropa erfolgreich bewältigen wollen, müssen wir den vom Bundesumweltminister Töpfer und der Bundesregierung eingeschlagenen Weg konsequent, allerdings auch im schnellstmöglichen Tempo weitergehen. Es muß erreicht werden, daß die internationale Völkergemeinschaft die Lösung dieses Problems als ihre ureigenste, existentielle Aufgabe annimmt,
da wir uns in einer internationalen — es ist schon genannt worden — Risikogemeinschaft befinden.
Bundesminister Töpfer ist die Initiative bei der Internationalen Atomenergiekommission zu verdanken, die dann zur Kosloduj-Konferenz am 7. September geführt und ein Soforthilfeprogramm zur Folge hatte. Besonders ist sein Vorschlag zu begrüßen, die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Brasilien im Juni nächsten Jahres mit dem Thema der Kernenergiesicherheit zu befassen.Sowohl auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft als auch auf der Ebene der G-7 Länder ist die
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4060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Herbert Frankenhauserkonstruktive Zusammenarbeit wirksam voranzutreiben, um mindestens schrittweise die kerntechnische Sicherheit auf den Standard der Bundesrepublik zu bringen und durch eine Neustrukturierung der Energieversorgung einseitige Abhängigkeiten von sicherheitsbedenklichen Kernkraftwerken zu beseitigen. Gleichwohl, eine sichere Energieversorgung ist die unverzichtbare Voraussetzung für eine weitere positive Entwicklung der Staaten Mittel- und Osteuropas. Allerdings sollte man die Phase der Studienerstellung schnellstens abschließen und zu Taten kommen, beispielsweise in der Verbesserung der Überwachungssysteme.Der Bundesrepublik kommt bei dem gesamten Problembereich außerhalb ihrer wirtschaftlichen, finanziellen Leistungskraft eine besondere Stellung zu, die in ihrer hohen Fachkompetenz begründet ist. Fachkompetenz hat natürlich nur der aufzuweisen, der selbst mit höchstem Verantwortungsbewußtsein Kernenergietechnik betreibt.
Ich muß mich bei dieser Gelegenheit auch entscheiden
— na, es ist ja schön, wenn Sie es trapsen hören — jedem Versuch widersetzen, durch eine unzulässige— wie auch heute wieder versucht — Gleichsetzung der osteuropäischen Reaktortechnik mit der hier eingesetzten, unsere Kernkraftwirtschaft zu diskreditieren und damit unsere Bevölkerung beunruhigen und verunsichern zu wollen. Durch unseren unbestrittenen Sicherheitsstandard, durch unsere Erfahrung und durch unser Forschungswissen in dieser Technologie, die unbedingt auch fortgeführt werden muß, sind wir für die betroffenen Staaten anerkannt kompetente Berater. Diese Chance gilt es zu nutzen.Vielen Dank.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Klaus Kübler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Harries, ich will doch noch einmal sehr eindeutig in Richtung an Sie und die anderen Kollegen von der CDU sagen: Die SPD ist natürlich nicht für einen unrealistischen Ausstieg, aber wir sind natürlich für einen realistischen Ausstieg. Daran besteht gar kein Zweifel. Nichts anderes wurde hier auch von Herrn Schäfer gesagt.Lassen Sie mich noch ein zweites sagen. Es geht hier auch nicht um Verunsicherung der Bevölkerung in diesen Fragen, sondern wir sind in der Tat unmittelbar an einem zweiten großen Supergau in Tschernobyl vorbeighrescammt. Dies wissen wir. Darüber müssen wir deshalb sprechen. Herr Töpfer bräuchte ja auch nicht nach Tschernobyl zu reisen, wenn dies alles so harmlos wäre.Lassen Sie mich ganz kurz noch einmal, weil dies auch für die Öffentlichkeit wichtig ist, sagen, wie dieser Vorfall zustande kam. Der Reaktorblock 2 — seinerzeit, 1986, war es der Reaktorblock 4 — war abgeschaltet und wieder hochgefahren worden, dann kam es zu einem Kurzschluß im Hauptgenerator der Turbinenhalle, der dazu führte, daß Stromkabel brannten. Jetzt wurde Gott sei Dank vorsorglich per Hand abgeschaltet. Sonst hätte in der Tat der Brand, der in der Turbinenhalle ausgebrochen war, mit Sicherheit auch auf den Reaktorblock übergegriffen.Ich sage hier sehr ausdrücklich, daß wir der richtigen und schnellen Reaktion der Betreibermannschaft in diesem Teil des Kernkraftwerkes in der Tat zu Dank verpflichtet sind; wir alle, auch hier im Westen.Störfälle und kleine Brände gehörten in Tschernobyl — übrigens auch, das sage ich einmal zu „meinem" Kernkraftwerk Biblis — zur Tagesordnung. Auch wir haben in Biblis fast wöchentlich, 14tägig oder alle drei Wochen irgendeinen kleineren Störfall.
— Ich habe den Vergleich bisher noch nicht gezogen. Ich habe nur gesagt: Wir haben eine Menge, eine Vielzahl kleinerer Störfälle.
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, daß in Tschernobyl überhaupt keine Nachrüstungen stattfanden, wenn ich richtig unterrichtet bin, sondern nur Reparaturen.Jetzt lassen Sie mich einen weiteren Punkt bringen, nämlich daß die schwierige wirtschaftliche, soziale und ordnungspolitische Situation in der Ukraine und in anderen Republiken auch nicht gerade beruhigend für die Sicherheitslage in den sowjetischen Kernkraftwerken insgesamt ist.An dieser Stelle muß man sich fragen: Was hat eigentlich die Wiener Atomenergiebehörde getan?
Wenn ich es einmal ganz neutral sage, Herr Minister Töpfer: Muß dies nicht Anlaß sein, das Instrumentarium, die Kompetenzen der Wiener Atombehörde dahin zu prüfen, ob sie ausreichend sind?Jetzt fahren Sie ja dankenswerterweise in die Sowjetunion. Sie werden jetzt nicht nur nach Tschernobyl reisen, sondern wahrscheinlich auch mit der ukrainischen und der sowjetischen Regierung sprechen. Ich sage, nicht nur wie Siegrun Klemmer das gesagt hat: Sie tragen hoffentlich keine Ersatzteile aus Greifswald mit. Ich hoffe auch, daß Sie kein neues Kernkraftwerk für die Sowjetunion im Gepäck haben. Ich sage dies bewußt ganz generell. Ich sage hier auch, daß in der Tat mit Ihrer Reise große Erwartungen verbunden sind. Ich könnte mir vorstellen, daß, wenn der bundesdeutsche Umweltminister hier international wahrnehmbar eine ganz deutliche Sprache spricht, dies zu Fortschritten führt.Dies ist in der Tat auch nicht eine interne Angelegenheit der Sowjetunion, sondern diese Frage ist, weil sie auch uns betrifft, eine Frage, auf die wir einwirken müssen; nicht nur wollen, sondern einwirken müssen. Sicherlich: Es ist letztlich eine Entscheidung der So-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4061
Dr. Klaus Küblerwjetunion. Aber genauso, wie wir uns um Menschenrechte in anderen Ländern kümmern — und auch die Menschenrechtssituation wird bei solchen Fragen angesprochen — , so müssen wir uns darum kümmern. Wir müssen — ich sage dies ganz ausdrücklich — uns hier einmischen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Auch die neuen demokratischen Kräfte in der Ukraine und in der Sowjetunion sind hier gefordert, zusammenzuarbeiten und neue demokratische Qualitäten zu beweisen und dafür zu sorgen, daß die Sicherheit in der Weise hergestellt wird, daß in der Tat Tschernobyl 1 bis 4 abgeschaltet wird.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Nun spricht der Abgeordnete Gerhart Rudolf Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie oft haben wir in diesem Raum über Tschernobyl diskutiert. Der Schock wirkt bei jedem von uns — jedenfalls bei mir — nach.Ich bin überzeugt, daß die Ablösung des alten Regimes in der Sowjetunion auch auf Tschernobyl zurückzuführen ist, weil dessen Unfähigkeit an keinem Beispiel deutlicher geworden ist als an diesem; das war auch nicht zu verbergen. Also: Wir alle stehen unter dem Eindruck von Tschernobyl.Natürlich ist nicht hinwegzudiskutieren, daß die baugleichen Kernkraftwerke dort — die anderen in abgestufter Weise — nicht sicher sind und daß eine atomare Katastrophe von ihnen her droht; das muß man klar sagen. Es gibt kaum ein Thema, das einem den Schlaf so rauben könnte wie dieses. Ich hoffe, wir sind uns darin einig.Es ist sicherlich so, daß der Kollege recht hat — auch ich sehe das so — : Genscher hat vor der UNO im September eine neue Rolle der UNO skizziert, in der der Völkergemeinschaft auch das Recht auf Einmischung bei Menschenrechtsverletzungen, Hungerkatastrophen und auch bei diesen Fällen zugestanden wird. Auch hier stellt sich letztlich diese Frage. Notfalls müssen wir von diesem Recht Gebrauch machen. Wir dürfen nicht nur von außen her reden und Inspektoren hinschicken. Die Sicherheit ist bedroht, nicht nur unsere Sicherheit, sondern es geht weit darüber hinaus.Ich mache mir keine Illusionen über die Schwierigkeiten, das Ziel zu erreichen. Mein Ziel ist die Stillegung von Tschernobyl und der anderen Kernkraftwerke. Es kann nicht um das Ob, sondern nur um das Wie gehen. Wir dürfen nicht wegdiskutieren, welche Schwierigkeiten es gibt, aber wir müssen dieses Ziel vor Augen haben. Ich begrüße auch Ihren Besuch, Herr Minister. Ich wünsche mir nur, daß nicht alle Verantwortung auf die Bundesrepublik zukommt. Das kann nur die Völkergemeinschaft. Allein Tschernobyl stillzulegen ist ein Milliarden-Projekt. Das kann nicht allein die Aufgabe der Bundesregierung sein. Dasmuß die Völkergemeinschaft machen. Sie haben recht, dieses Thema erneut auf die Tagesordnungen von G 7, also des Weltwirtschaftsgipfels, der Konferenz in Brasilien und der EG zu setzen. Wenn es ein Thema im Umweltbereich gibt, das so dringend zu Handlungen Anlaß gibt, ist es dieses. Vorübergehend wird auch Nachrüstung von Anlagen, die dafür geeignet sind, nicht auszuschließen sein.Aber die Sache hat natürlich auch eine Wirkung auf uns. Es sollte nicht so sein, daß wir dauernd unsere alten Schlachten schlagen, Herr Schäfer. Aber dennoch möchte ich doch einmal zu bedenken geben, ob wir nicht einem Themen- und Prioritätenwechsel ausgesetzt sind. Wenn Sie immer noch über einen kurzfristigen Ausstieg aus der Kernenergie diskutieren, kommt Ihnen, Herr Schäfer, das nicht merkwürdig vor?
— Doch, Sie halten doch den alten Gesetzentwurf mit dem befristeten Ausstieg aufrecht.Müßten wir denn nicht, vor die Alternative gestellt, die Kernenergie nach höchsten Sicherheitsstandards zu produzieren oder die Anlage in der Sowjetunion laufen zu lassen,
sagen: Jawohl, wenn die Dinge dort drüben auf diese Weise schnell zu einem Abschluß gebracht werden können, liefern wir dahin? Denn — das ist der große Unterschied, und deswegen habe ich mich hier immer mit Zwischenrufen gemeldet — es ist nicht vergleichbar. Wir haben höchste Sicherheitsstandards. Wir, alle unsere Regierungen — ich war auch einmal dafür zuständig — , haben gesagt: Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit. Sie können unsere Situation nicht annähernd mit derjenigen in der Sowjetunion und den anderen Kernkraftwerken vergleichen.Herr Schäfer, wollen wir denn nicht einmal versuchen, von den sterilen Konfrontationen in der Energiepolitik wegzukommen? Wir sind gehalten, in Westeuropa eine neue Energiepolitik zu konzipieren. Das braucht die Gemeinschaft.
Das setzt aber voraus, daß die politischen Kräfte hier im Lande zueinander finden und daß ein gewisser Grundkonsens besteht, daß nicht immer mit Weisungen gearbeitet werden muß, sondern daß die Länder und der Bund die Verantwortung gemeinsam tragen und daß man dann die osteuropäischen Länder in diesen Energiekonsens einbezieht, in eine Energiepolitik, die langsam über Westeuropa hinauswächst, was natürlich auch Steigerung der Effizienz der Energieausbeutung sowie Energieeinsparung bedeutet. Das alles ist ja notwendig und wird nicht bestritten.Ich bin der Meinung: Bekräftigung dessen, was Sie, Herr Minister, tun. Sie standen an der Spitze der internationalen Bewegung. Aber es ist noch lange nicht genug. Tschernobyl und die osteuropäischen Kernkraftwerke dürfen uns nicht ruhen lassen. Wir müssen erhebliche Anstrengungen unternehmen. Es ist eine erhebliche Gefährdung, die uns zum Handeln zwingt.
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4062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Gerhart Rudolf Baum Ich danke.
Nun erteile ich dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es sind gerade drei Wochen her, daß wir am 25. September eine Aktuelle Stunde zu Kosloduj hatten. Ich habe dort einleitend gesagt, daß das Thema weltweit zu den zentralsten, wichtigsten und schwierigsten Problemen zählt, die wir zu bewältigen haben. Ich habe damals darauf hingewiesen, wir sollten nicht den Fehler machen, nur auf Kosloduj zu blicken und nicht darauf zu achten, daß alle 53 Kernkraftwerke in Mittel- und Osteuropa entsprechend beachtet werden müssen.Das, was Herr Kollege Baum hier gerade gesagt hat, war eine Quintessenz, die auch ich genannt habe. Es kann nur so sein, daß wir zu einer europäischen Energiecharta kommen und daß wir da die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas einschließlich der Republiken der ehemaligen Sowjetunion einbinden, damit wir aus der Zwangslage herauskommen, immer und immer wieder zweitbeste Lösungen mittragen zu müssen, obwohl wir beste erreichen könnten. Das ist die Aufgabe, meine Damen und Herren.
Nun haben wir wieder eine Aktuelle Stunde zu einem kernenergiepolitischen Thema. Es hat mich enttäuscht, Herr Kollege Feige. Sie haben diese Aktuelle Stunde beantragt. Sie haben — ich habe auf die Uhr geschaut — zu den Kernkraftwerken in Mittel- und Osteuropa 30 Sekunden gesprochen. Dann waren Sie beim abgeschalteten Kernkraftwerk in Greifswald
und haben über Greifswald gesprochen. Selbstverständlich haben wir Greifswald abgeschaltet — wenn Sie das zumindest noch einmal unterstrichen hätten! — , weil wir dort, wo wir handeln können, natürlich nach dem Motto verfahren: Sicherheit geht allen anderen Überlegungen vor.Nun stehen wir vor der Situation, in insgesamt 53 Kernkraftwerken gemeinsam schwierige Sicherheitsaufgaben bewältigen zu müssen. Es ist doch ganz klar, daß wir uns erst einmal darum bemühen, das nicht alleine machen zu müssen, sondern möglichst viele an unsere Seite zu bekommen. Daran haben wir in Wien bei der IAEO, in der G 7, in dem Zusammenwirken mit der Europäischen Gemeinschaft, auf dem deutsch-französischen Gipfel in Lille gearbeitet, überall mit dem Ziel, nicht Kernenergie besser zu machen, sondern eine aktuelle Bedrohung der Sicherheit in Europa zu vermeiden. Das ist unser Ziel, und daran arbeiten wir weiter. Es ist nicht damit getan, daß wir Aktuelle Stunden zu einem Kernkraftwerk machen.Ich habe meine Entscheidung, morgen nach Moskau und Samstag nach Kiew zu fahren, doch nicht getroffen, nachdem ich gehört habe, daß es in Tschernobyl wieder einen solchen Unfall gegeben hat. Diese Reise war längst beschlossen. Wir sind von den Kollegen aus der Ukraine gebeten worden, dort hinzukommen.Ich möchte mich — da das angesprochen wurde — mit großem Nachdruck vor die Kollegen aus der Ukraine stellen, die ein unglaublich schweres Erbe angetreten haben und jetzt in Ehrlichkeit und Offenheit versuchen, das aufzuarbeiten, was ein unverantwortliches, menschenverachtendes Regime hinterlassen hat. Das ist es: Sie haben uns gebeten zu kommen.
Herr Kollege Schäfer, es ist wirklich nur schwer erträglich, daß dann gesagt wird: Da macht er wieder einen öffentlichkeitswirksamen Auftritt. Glauben Sie wirklich, daß mit solchen Sätzen die Möglichkeit zu einem energiepolitischen Konsens bei uns erarbeitet wird, den wir so dringend wie nie brauchen, weil wir nur dann anderen helfen können, wenn wir zu Hause zumindest einer Meinung sind? Das ist doch der Zusammenhang.
Wir haben seit 1986 den von Ihnen an so vielen Stellen geradezu unglaublich diskreditierten Personen der RSK und der GRS die Frage vorgelegt, ob der RBMK-Reaktor in Tschernobyl und an allen anderen Stellen, wo er gebaut worden ist, nachrüstbar ist.
Die Unmöglichkeit der Nachrüstung ist uns bestätigt worden, meine Damen und Herren. Am fünften Jahrestag der Katastrophe in Tschernobyl haben sich dort der Energieminister und der Gesundheitsminister zu Worte gemeldet. Ich darf zitieren, was der Energieminister am 27. April, glaube ich, in der „Prawda Ukrainji" geschrieben hat. Da steht:Die bisherige offizielle Version, wonach die Katastrophe auf Verstöße des Bedienungspersonals gegen die Arbeitsordnung des Reaktors zurückgeführt wird, ist zweifelhaft und unmoralisch.Die Hauptursache wird in der fehlerhaften Konstruktion der Anlage gesehen, bei der von einem falschen Konzept der Reaktorsicherheit ausgegangen wurde.Heute wissen wir, daß es bereits eineinhalb Jahre vor der Katastrophe 1986 am ersten Reaktor ein, wie er gesagt hat, „Tschernobyl en miniature " gegeben hat, daß dort genau dieser Vorfall eingetreten ist. Frau Braband ist sofort nach ihrer Rede gegangen. Genau wie in der ehemaligen DDR wurde dort alles verschwiegen und vertuscht. Heute arbeiten wir das gemeinsam mit den Kollegen auf, die in der Demokratie der Ukraine jetzt die Verantwortung übernommen haben. Respekt vor diesen Leuten!
Das hat mit öffentlichem Showeffekt nichts zu tun. Die Reaktion, wenn wir nicht hingingen, meine Damen und Herren, möchte ich hören.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4063
Bundesminister Dr. Klaus TöpferWir gehen — ich sage das deutlich — nicht allein Tschernobyls wegen dorthin, sondern wir gehen hin, weil wir wissen, daß es noch andere Standorte gibt, von denen wir gegenwärtig zunehmend die Informationen bekommen, was dort alles passiert ist und auch verschwiegen und vertuscht wurde.Heute wissen wir, daß in Tschernobyl noch die gesamten abgebrannten Brennelemente — über 10 000 — dieser Reaktoren lagern. Heute wissen wir noch nicht genau, wo die Schnellen Brüter stehen und wie sie betrieben werden. Wir haben unseren Schnellen Brüter — bei unserem Sicherheitsniveau — abgestellt.Hier wegzutauchen, das wäre verantwortungslos. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Manchmal hätte man eher die Bereitschaft, das zu tun. Jeder weiß, daß wir das, wenn wir dort hinkommen, sehr deutlich klarmachen können; aber jeder, der das klarmacht, weiß auch, daß wir helfen müssen.Natürlich sagen auch die Kollegen in der Ukraine, sie wollen heraus aus der Kernenergie, aus dieser Kernenergie. Ich zitiere wieder:Die ukrainische Energiewirtschaft war 1986 und ist auch heute noch auf die Atomenergie orientiert. Alle anderen Energiezweige wurden zweifellos vernachlässigt. Seit 1986 wurde wertvolle Zeit für eine Umorientierung verloren. Der Energieminister hält eine Konzentration aller Mittel auf die traditionelle und auf eine ökologisch unbedenkliche Energiegewinnung für erforderlich.Der braucht unsere Ratschläge nicht. Der hat seine Lektion gelernt. Aber er braucht uns, damit er in dem Zeitraum, wo die Anlagen noch nicht abgestellt sind, weil die guten Ratschläge, die wir alle mitbringen, Zeit und Geld benötigen, um umgesetzt zu werden, alles daransetzen kann, um die Katastrophe zu verhindern. Das ist unsere Aufgabe.Natürlich ist es richtig, die Energieeffizienz zu erhöhen. Natürlich ist es richtig, die Verluste bei der Gewinnung von Gas und Öl zu vermindern. Wer will das denn bestreiten? Aber selbst wenn wir das morgen entscheiden und Geld keine Rolle spielt, brauchen wir in Kenntnis der organisatorischen Strukturen in diesen Ländern doch mindestens drei, vier Jahre, um das umzusetzen. In diesen drei, vier Jahren laufen die Kernkraftwerke, ob wir es wollen oder nicht. Dann ist es unsere moralische Verpflichtung, so gut zu helfen, wie es überhaupt möglich ist.
An diesem Punkt sollten wir mitarbeiten; dafür wäre ich wirklich dankbar.Ich hatte nach der letzten Einwendung des Kollegen Schäfer bei der Kosloduj-Debatte etwas die Hoffnung, daß wir dadurch etwas weitergekommen wären. Das, was heute hier gesagt worden ist, hat diese Hoffnung sehr enttäuscht.
Herr Bundesminister, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie unterbreche. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie noch länger reden, die Debatte neu eröffnet wird. Ich will Sie nicht in Ihren verfassungsmäßigen Rechten beeinträchtigen, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen.
Herr Präsident, ich war beim wirklich letzten Satz. — Wie gesagt, ich war enttäuscht über diese Debatte. Aber ich schließe wirklich nicht aus, und ich lade dazu ein, daß wir auf diesem schwierigen und wichtigen Gebiet zur Gemeinsamkeit zurückkehren und unsere internationalen Verpflichtungen erfüllen.
Ich danke Ihnen.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Josef Vosen das Wort.
Herr Bundesumweltminister! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte eigentlich erwartet, Herr Töpfer, daß Sie uns einige Ihrer Gedanken vortragen würden, mit welchen Konzepten Sie jetzt in der Sowjetunion verhandeln werden, was Ihre Absichten dort sind und wie Sie sich vorstellen, dort praktisch helfen zu können. Das alles haben Sie hier nicht vorgetragen. Ich nehme an, daß Sie das tun werden, wenn Sie von dieser Reise zurückkehren. Ich denke, daß es dann Zeit wäre.Wir können an dieser Problematik Tschernobyl nachvollziehen — das gilt für die gesamte Kernenergie — , daß diese im Unglücksfall nicht völkerverträglich ist. Das ist immer eine internationale Veranstaltung — wir wissen es — , und deswegen müssen die nationalen Grenzen bei dieser Problematik gedanklich übersprungen werden. Man kann nicht sagen, das sind nationale Angelegenheiten. Das sind immer Dinge, die alle Völker angehen.Es ist auch eine Technik, die nicht umweltverträglich ist. Auch das hat Tschernobyl mit all seinen Langzeitfolgen, die daraus resultieren, bewiesen.Die Gesundheitsschäden, die dadurch eingetreten sind, lassen auch den Schluß zu, daß die Kernenergie, wenn das Unglück eintritt, nicht humanverträglich ist.Sie ist, selbst wenn sie funktioniert, auch nicht sozialverträglich. Das haben die ganzen Dinge in unserem eigenen Land, z. B. die Vorgänge um Wackersdorf gezeigt. Dort mußten Polizeimethoden angewandt werden, um die Technologie vor Terror und vor vielem anderen mehr zu schützen.
Dies gilt auch für unsere eigenen Kernkraftwerke. Man kann nicht immer sagen: Wir haben die sichersten Kernkraftwerke der Welt; bei uns passiert das nie.Nun kann man, wenn man selber nicht sukzessive und moderat aus der Kernenergie aussteigt, natürlich auch schlecht verlangen, daß das andere tun; das kann man nicht verlangen.Ich war in der vorigen Woche in der Sowjetunion und habe dort Gespräche geführt mit Leuten von der entsprechenden Atomenergiebehörde, mit denen Sie
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4064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Josef Vosenvermutlich ebenfalls sprechen werden. In der Sowjetunion besteht ja bei den Verantwortlichen nicht die Absicht auszusteigen, sondern auf rund 70 bis 100 Ligawatt zuzubauen; sie wollen also zulegen; das ist die Absicht.Ich meine, unter diesen Umständen ist es natürlich zwingend erforderlich, daß bei den Verhandlungen — das sage ich einmal — auch ein Weg aufgezeigt wird, wie man die Energieversorgung der Sowjetunion und der Republiken denn auch anders sichern kann. Dazu muß man natürlich technische Hilfen anbieten, so daß man zumindest mit modernster Technik fossile Energie, die ja ungefährlicher ist, nutzt. Da müssen wir unser Know-how in jeder Weise anbieten.Ich denke, daß auch gigantische internationale Hilfsprogramme nötig sind, um die Ökonomie in der Sowjetunion wieder in Gang zu bringen. Dazu gehört natürlich auch die Energieversorgung. Das heißt, es muß ein großer Teil dieser Mittel in eine umweltverträgliche Energieversorgung für die Zukunft investiert werden. Das muß Teil dieser Programme sein, um wirklich helfen zu können.Zum einen ist also materielle Hilfe erforderlich, und zum anderen müssen sich Programme für technische Hilfen anschließen.Wir haben in Roßendorf ein Zentrum, in dem diese Reaktortypen auf ihre Sicherheit hin untersucht werden. Ein großes wissenschaftliches Potential ist dort vorhanden, welches wir in der internationalen Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern einsetzen sollten.Das Beispiel der osteuropäischen Länder und das Problem der Sicherheit zeigen aber, wie wenig exportfähig Kernenergie ist. Denn Kernenergie in dritte Länder zu exportieren ist ja noch gefährlicher als ein Export in den Bereich Osteuropas.Ich denke mir also, meine Damen und Herren, daß ein moderates Ausstiegsprogramm für die Sowjetunion viele, viele Jahre braucht und daß wir alles tun müssen, um dort international und national zu helfen. Ich glaube, daß wir dies im Rahmen unserer Möglichkeiten können. Ich hoffe sehr, daß Sie, Herr Töpfer, auf diesem Weg erfolgreich sind. Ich möchte Ihnen nicht unterstellen, daß Sie diese Reise ohne diese Absichten machen; das sage ich mit allem Ernst; ich hoffe es sehr. Ich glaube, daß wir alle einmal über die Kernenergie auch in unserem eigenen Land nachdenken sollten.Herzlichen Dank.
Nun erteile ich Herrn Dr. Friedrich das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Vosen, Sie haben einen Satz gesagt; ich habe ihn mir notiert. Dieser entwertet Ihre ganze Rede. Der Satz lautet: Die Kernenergie ist nicht humanverträglich und nicht sozialverträglich.
— Nein, so haben Sie es gesagt. Wir lesen es im Protokoll nach.Herr Kollege Vosen, Sie sind intellektuell nicht in der Lage zu differenzieren, oder Sie arbeiten hier mit üblen Tricks.
Es gibt nicht d i e Kernenergie; es gibt nicht einmal d a s russische Kraftwerk,
sondern es gibt bei den Russen sehr unterschiedliche Technologien. Wir haben wieder eine ganz andere Technologie, und die Franzosen haben wieder eine etwas andere Sicherheitstechnologie. Solange Sie so oberflächlich formulieren, Herr Kollege Vosen, entwerten Sie ihre Reden, weil die ganzen Schlußfolgerungen nur noch in die Irre führen.
Ich glaube, wir sollten noch einmal feststellen, daß wir eigentlich die Debatte vom 25. September forführen, weil uns dieses neue Unglück von Tschernobyl überhaupt keine neuen Erkenntnisse gebracht hat, sondern längst vorhandene Erkenntnisse nur bestätigt hat.
Ich nehme nur als ein Beispiel das, was der hier anwesende Abteilungsleiter Dr. Hohlefelder in Erfurt, glaube ich, im Juni gesagt hat. Auf Grund dieser Rede muß man mit solchen Ereignissen leider Gottes — das beunruhigt mich — rechnen. Wir hatten noch Glück, daß das Ereignis im nicht nuklearen Teil stattgefunden hat. Es ist also gar nichts Neues, und wir reden jetzt wieder über notwendige Konsequenzen im früheren Ostblock und Konsequenzen bei uns.
Ich sage Ihnen noch einmal, kurz gefaßt, wie die Konsequenzen bei unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn ausschauen müssen: Erstens. Ältere Reaktoren unverzüglich dichtmachen.
Zweitens. Neuere Reaktoren nachrüsten — ich sage noch etwas dazu — , aber sofort Alternativprogramme einleiten, um die Energieversorgung möglichst schnell auf andere Beine zu stellen.
Dabei ist es jetzt, wenn ich auf das eigentliche Problem komme, völlig egal, wo ich den Schwerpunkt lege, ob ich sage, das müssen erneuerbare Energien oder die Steinkohle oder die Kernenergie sein. Die Russen können zur Zeit gar nichts bezahlen, und die Tschechen können gar nichts bezahlen.
— Ja. — Ich bin geradezu erschüttert, wenn danngesagt wird: Macht doch Energiesparen! Weiß denn
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991 4065
Dr. Gerhard Friedrichjemand, wie teuer Energiesparen ist? Weiß denn jemand, was es kostet, Gebäude zu dämmen, Wärmedämmung zu machen? Dann habe ich nicht einmal Strom überflüssig gemacht, sondern meistens den Einsatz fossiler Brennstoffe. Sie reden so locker über Energiesparen. Das sind doch Milliardenprogramme, wenn wir nur an irgendeine Republik in der Sowjetunion denken.Mit der heutigen Rede des Kollegen Schäfer möchte ich mich nicht befassen; das war eine Ihrer mäßigen. Aber ich wollte dazu sagen, Herr Kollege Schäfer: Am 25. September haben Sie eine Rede gehalten, die doch bemerkenswert war; das habe ich beim Nachlesen gesehen.
— Sie haben da erstens einmal festgestellt: Für die russischen Reaktoren in Bulgarien trägt der Umweltminister Deutschlands keine Verantwortung. — Vielen Dank; nicht alle sind hier auf diesem Kenntnisstand.
Zweitens, Herr Kollege Schäfer, haben Sie auf sehr subtile Art und Weise deutlich gemacht, daß Sie den Ausstiegsbeschluß der SPD in zeitlicher Hinsicht, also beim zeitlichen Programm immer lockerer sehen. Sie haben wahrscheinlich erkannt, daß man unsere Kernkraftwerke bereithalten muß, um möglicherweise Atomstrom hinüberzuliefern.
— Vielleicht habe ich Sie mißverstanden. Lesen Sie mal Ihre Rede nach! Sie haben sinngemäß gesagt: Das mit den Jahren sehe ich jetzt relativ locker; es kann also länger als zehn Jahre dauern.Dann — jetzt muß ich doch mal mein Manuskript nehmen — kam der Schwachpunkt Ihrer damaligen Rede, und da sollten wir weiter diskutieren. Sie haben nämlich wie folgt begründet, daß Sie grundsätzlich beim Aussteigen bleiben wollen: Wir müssen ein Beispiel für Glaubwürdigkeit setzen, wir müssen zu Hause beginnen, wenn wir von den anderen das Aussteigen erwarten.
Herr Dr. Friedrich, ich darf Sie nicht anders behandeln als die anderen Abgeordneten auch. Ich bitte um Verständnis.
Da sind Sie auf das Prinzipielle ausgewichen, und im Ausschuß sollten wir mal konkret werden, nicht Glaubensbekenntnisse verkünden, sondern nüchtern die Situation analysieren.
Vielen Dank.
Als letztes erteile ich dem Abgeordneten Heinrich Seesing das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der heutigen Aktuellen Stunde betrifft im Grunde drei unterschiedliche Fragestellungen, erstens das „Pulverfaß Tschernobyl". Ich möchte uns alle aufrufen — ich habe darüber nachgedacht — , bei der Auswahl von schlagkräftigen Begriffen doch zurückhaltender zu sein. Von einem Pulverfaß weiß man, daß es explodieren kann, wenn man unsachgemäß mit ihm umgeht.
Es fliegt in die Luft. Es wird einige Zerstörungen geben. Aber nach ein paar Stunden hat sich die Natur vom Schrecken erholt. Die Vögel singen wieder, die Pflanzen wachsen, die Menschen räumen auf.Die sogenannten Schadensfälle der TschernobylReaktoren sind da von ganz anderer Wirkung. Wir alle wissen davon. Ich spreche lieber von einer Katastrophe. Diese Reaktoren — 16 Blöcke davon werden betrieben — gibt es nur in der Sowjetunion. Sie gehören zu der Baureihe RBMK-1000. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit wird jetzt auch die Gelegenheit bekommen, diesen Reaktortyp zu überprüfen.Ich kenne viel zuwenig die Lage der Energieversorgung in der bisherigen Sowjetunion, um lautstark die sofortige Stillegung dieser Reaktorblöcke fordern zu können. Ich will aber gestehen, daß mir sehr viel wohler wäre, wenn es nicht nur zur Stillegung, sondern auch zum sicheren Einschluß käme.
Die zweite Fragestellung betrifft die sofortige Stillegung aller Gefahrenreaktoren Osteuropas. Vor wenigen Wochen — das wurde hier schon mehrfach gesagt — haben wir uns mit dem bulgarischen Kernkraftwerkspotential befaßt. Für die endgültige Bewertung aller Kernkraftwerke Osteuropas dürfte die Sicherheitsanalyse der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zum Greifswalder Block 5 von richtungsweisender Bedeutung sein. Die Internationale AtomenergieOrganisation der Vereinten Nationen in Wien will 1992/93 eine international verbindliche Sicherheitskonvention verabschieden. Man kann davon ausgehen, daß die Sicherheitsanalyse von Block 5 des Kernkraftwerks Greifswald eine wichtige Grundlage dafür sein wird. Ich bin schon froh darüber, daß die sowjetische Seite den Empfehlungen der GRS zustimmt.In der Sowjetunion, in der CSFR und in Ungarn werden 15 gleiche Exemplare der sowjetischen Baureihe WWER 440/213 betrieben. Sieben Blöcke in der CSFR und in Polen stehen vor der Fertigstellung. Die Aufgabe der westlichen Welt wird es sein, diese Kraftwerksblöcke auf einen vertretbaren Sicherheitsstandard zu bringen. Die GRS hat dazu einen Katalog von Maßnahmen zur Beseitigung der in Greifswald festgestellten Mängel geliefert.Für das Frühjahr 1992 ist eine Sicherheitsstudie der GRS über die sowjetische 1 000-Megawatt-Baureihe WWER 1000 angekündigt worden. In Stendal war ein solcher Reaktor im Bau. In Betrieb sind davon in der Sowjetunion 16 Blöcke, in Bulgarien ein Block. Auch
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4066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 49. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 16. Oktober 1991
Heinrich Seesinghier wird der Aufwand für die Sicherheitsertüchtigung groß sein.Für hochgefährlich halte ich die ältere sowjetische Baureihe WWER 4440/230. Die vier in Greifswald stehenden Blöcke sind abgeschaltet. Vier Blöcke laufen noch in der Sowjetunion und zwei in der CSFR. Über die vier Blöcke in Kosloduj sprachen wir. Für diese zehn Blöcke sollte das Aus gesprochen werden.Bei den anderen Baureihen sollten wir Wissen, Technik und vielleicht Geldmittel zur Verfügung stellen, damit sie an westliches Sicherheitsdenken angepaßt werden können.Drittens komme ich zu den Folgerungen für die Energiepolitik in Deutschland. Meine Damen und Herren, ich bin mit dem „Club of Rome" einer Meinung, daß die Einschränkung der Verbrennung fossiler Energieträger die wichtigste Aufgabe der Zukunftspolitik ist, damit auch längerfristig noch Leben auf dieser Erde möglich bleibt. Neben den regenerativen Energien gibt es nur eine Alternative: die Kernenergie.Ich plädiere nicht unbedingt nur für den Bau von Schnellen Brütern, wie es der „Club of Rome" tut.
Ich spreche mich aber dafür aus, die auch in Deutschland in einigen Jahren neu zu errichtenden Kernkraftwerke so zu planen, daß bei Störfällen schlimmstenfalls nur die Anlage selbst betroffen sein kann, jedoch nicht mehr die Umgebung. Wir sollten das gemeinsam als ein wichtiges Ziel deutscher und europäischer Energiepolitik angehen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde und gleichzeitig am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 17. Oktober 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.