Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich eine Erklärung zu dem uns alle bedrückenden Thema „Gewalt gegen Ausländer" abgeben.
Meine Damen und Herren, trotz aller Aufrufe von Staat, Kirchen, Parteien und gesellschaftlichen Gruppen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus reißt die Kette brutaler Gewalt gegen Ausländer nicht ab, die in unserem Land Zuflucht suchen oder in unserem Land leben.
Wir verurteilen Intoleranz und Gewalt. Wir treten den Gewalttätigkeiten mit aller Entschlossenheit entgegen. Die Anwendung von Gewalt verletzt Menschen und erzeugt ein Klima der Angst und Einschüchterung, der Ausgrenzung. Sie ist eine Verletzung elementarer Menschenrechte.
Angesichts der brutalen Gewalttätigkeiten solidarisiert sich der Deutsche Bundestag mit den Angegriffenen und denen, die sich schützend vor sie stellen:
Polizei, Nachbarn, engagierte Bürger, aber ebenso Kirchen, Gewerkschaften und Arbeitgeber.
Wir Parlamentarier lassen nicht zu, daß eine kleine Minderheit denjenigen, die als Flüchtlinge zu uns kommen und auf unseren Rechtsstaat vertrauen, mit Haß und Fremdenfeindlichkeit begegnet. Darin sind sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestags einig, auch wenn es über die Wege und Verfahren unterschiedliche Auffassungen gibt, wie die Probleme ständig steigender Zahlen von Asylsuchenden und Flüchtlingen bewältigt werden können.
Wir haben uns aber auch den Schwierigkeiten unserer Bürger in städtischen und ländlichen Gemeinden zu stellen; denn wo z. B. Unterkünfte fehlen, kommt es zu Spannungen und Abwehr. Deswegen haben wir politische Entscheidungen zu treffen, um den bestehenden Konflikten handelnd zu begegnen.
Wir haben mit allen Mitteln dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland auch in Zukunft ein ausländerfreundliches Land bleibt. Wir wollen mit unseren ausländischen Mitbürgern friedlich, füreinander offen und einander respektierend zusammenleben.
Für die Gewalttaten der letzten Wochen und Tage gibt es keine Rechtfertigung und keine Entschuldigung. Wer Gewalt anwendet, wer zu Steinen und Brandsätzen greift, darf nicht mit Verständnis rechnen. Er begeht Straftaten, die von den Strafverfolgungsbehörden unnachsichtig verfolgt werden müssen.
Wir wissen — gerade wegen unserer düsteren Erfahrung im Nationalsozialismus — um die fundamentale Bedeutung des politischen Asyls für rassisch, politisch und religiös Verfolgte. Es ist eine zentrale Aufgabe für uns, den Deutschen Bundestag, darüber zu wachen, daß fundamentale Menschenrechte die Achtung erfahren, die unsere Verfassung verlangt, und daß der innere Frieden in unserem Land erhalten bleibt.
Ich danke Ihnen.
— Herr Kollege Struck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Im Hinblick auf die Erklärung, die die Präsidentin soeben abgegeben und die den Beifall des ganzen Hauses gefunden hat, erkläre ich für die SPD-Bundestagsfraktion, daß unser Antrag zu dem Thema „Ausländerfeindlichkeit" auf der Drucksache 12/1270 heute nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden soll. Wir ziehen also entsprechend den Antrag zurück und weisen darauf hin, daß er dann nächste Woche in einer ausführlichen Debatte behandelt wird.
Ich betone noch einmal das Bedauern der SPD-Bundestagsfraktion darüber, daß wir in diesem Punkt zwischen den Fraktionen einen — wie ich meine — vermeidbaren Streit geführt haben.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schulz!
Frau Präsidentin! Ich möchte ebenfalls gemäß § 32 der Ge-
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Werner Schulz
schäftsordnung von dem Recht Gebrauch machen, eine kurze Stellungnahme außerhalb der Tagesordnung abzugeben.
Es kann allerdings nur vor Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes sein.
— Bitte!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bündnis 90/ DIE GRÜNEN finden es gut, daß der Antrag zur Ausländerfeindlichkeit von der Sozialdemokratischen Partei zurückgezogen wurde. Der Deutsche Bundestag — seine Präsidentin — hat eine unmißverständliche Stellungnahme aller Fraktionen und, ich denke, auch aller Gruppen zu den abscheulichen Ereignissen der letzten Tage abgegeben.
Um so bedauerlicher finden wir es, daß der Herr Bundeskanzler diese Konsequenz vermissen läßt und offenbar in den Fragen „Asylrecht", „Fremdenfeindlichkeit", „Schutz und Integration ausländischer Mitbürger" nicht den Konsens aller Demokraten, sondern nur den der ihm genehmen sucht.
Herr Schulz, Sie wollten zur Tagesordnung sprechen, und ich bitte Sie, das zu tun.
Das belebt schlechte Traditionen. Bündnis 90 fühlt sich dahin zurückversetzt, wo der Gründungsaufruf des Neuen Forums beginnt. Auch in dieser Gesellschaft bestehen ernsthafte, schwerwiegende Kommunikationsstörungen.
Der Bundeskanzler hat die Frage „Asyl- und Ausländerrecht" zur Chefsache erklärt —
Herr Schulz, ich möchte Sie bitten, jetzt zur Tagesordnung zu sprechen.
— und hat auf unseren Brief, in dem wir danach fragen, warum wir von dem sogenannten Allparteiengespräch im Bundeskanzleramt ausgegrenzt werden, bis jetzt keine Antwort gegeben.
Wir sind bis zur Stunde von einem unbeabsichtigten Versäumnis ausgegangen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Hier liegt eine mutwillige und fragwürdige — —
Herr Schulz, ich muß Ihnen das Wort entziehen. Ich habe Sie zweimal gebeten, zur Tagesordnung zu sprechen. Sie können
diesen Punkt heute nachmittag unter Ihrem Tagesordnungspunkt erörtern.
Herr Bohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begrüßen die Erklärung der Frau Präsidentin des Deutschen Bundestags zu Beginn dieser Plenarsitzung. Ich darf ergänzend darauf hinweisen, daß sich in ähnlichem Sinn auch der Herr Bundeskanzler zu Beginn des Parteiengespräches heute morgen um 8 Uhr im Kanzleramt unmißverständlich geäußert hat.
Wir begrüßen es, daß die SPD-Fraktion so verfahren will, wie es hier von Herrn Kollegen Dr. Struck vorgeschlagen und gehandhabt wurde.
In diesem Zusammenhang ist es sicher auch richtig, daß die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE Gelegenheit hat, heute nachmittag bei dem dann aufzurufenden Tagesordnungspunkt ihre Position zu allen möglichen Fragen deutlich zu machen.
Jedenfalls handelte es sich bei dem heutigen Gespräch im Kanzleramt um ein Parteiengespräch, also nicht um eine Veranstaltung der Fraktionen oder des Parlaments. Es ist die originäre Entscheidung des Parteivorsitzenden der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, wen er dazu einladen will.
Im übrigen darf ich — —
Herr Bohl, jetzt muß ich sagen, daß auch dies nicht zur Tagesordnung gehört!
Ich nehme das zur Kenntnis und darf mit der Bemerkung schließen, daß ich angesichts der Ausführungen der Frau Kollegin Köppe in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages
für die Entscheidung des Bundesvorsitzenden der CDU das größte Verständnis habe.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hoyer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich danke zunächst der Präsidentin für die klaren und fälligen Worte. Ich danke des weiteren Herrn Dr. Struck für die Bereitschaft, die Debatte heute nicht zu verlangen.Ich bitte darum, daß wir uns jetzt nicht durch weitere Erklärungen zur Sache wieder auseinanderreden, obwohl wir gerade eine Basis der Gemeinsamkeit formuliert haben. Es ist höchste Zeit, daß wir in dieser schwierigen Frage zusammenkommen.
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Dr. Werner HoyerIch bedanke mich.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich zunächst dem Kollegen Wolfgang Mischnick, der am 29. September seinen 70. Geburtstag feierte, ganz herzlich gratulieren
und ihm für sein verdienstvolles Wirken im Deutschen Bundestag ganz herzlich danken.Herr Kollege Joachim Clemens feierte am 6. Oktober seinen 60. Geburtstag. Auch ihm gelten unsere besten Glückwünsche.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Abrüstungsvorschlägen von Präsident Bush und Präsident Gorbatschow
2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften — Drucksache 12/1254 —3. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes — RÜG-ÄndG — Drucksache 12/1275 —4. Aktuelle Stunde: Proteste über mangelnde Transparenz und Kontrolle der TreuhandanstaltDarüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 8 a bis c ohne Aussprache zu überweisen. Die Vorlagen werden gemeinsam mit Tagesordnungspunkt 3 aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall.Weiterhin besteht interfraktionelles Einvernehmen darüber, folgende Vorlagen nachträglich zu überweisen. Aus der 11. Wahlperiode sollen der „Rheumabericht der Bundesregierung", Drucksache 11/1479, und der Zwischenbericht der Enquetekommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung", Drucksache 11/2495, dem Ausschuß für Gesundheit zur federführenden Beratung überwiesen werden.Ebenfalls aus der 11. Wahlperiode soll die Unterrichtung durch die Bundesregierung „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen" , Drucksache 11/3714, dem Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden.Außerdem sollen nachträglich der Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Schwangeren- und Familienhilfegesetz", Drucksache 12/551, dem Finanzausschuß zur Mitberatung und der Antrag der Fraktion der SPD „Mahn- und Gedenkstätten" , Drucksache 12/1189, dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.Sind Sie mit den nachträglichen Überweisungen einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Der Kollege Dr. Eberhard Brecht scheidet als stellvertretendes Mitglied der parlamentarischen Versammlung des Europarates aus. Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolger den Kollegen Christoph Matschie vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Damit ist der Kollege Christoph Matschie als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3, 8 a bis c und die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:3. Überweisung im vereinfachten VerfahrenBeratung des Antrags des Bundesministers der FinanzenEinwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Planegg, Flur Nr. 411— Drucksache 12/1146 —Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß8. a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungSechster Bericht der Bundesregierungüber Erfahrungen bei der Anwendungdes Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes— AÜG — sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung — BillBG —— Drucksache 11/2639 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung FinanzausschußAusschuß für Wirtschaftb) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht der Bundesregierung fiber die bisherigen Erfahrungen mit der Durchführung des Jugendarbeitsschutzgesetzes— Drucksache 11/3404 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Bildung und Wissenschaftc) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungSozialbericht 1990— Drucksache 11/7527 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und SeniorenAusschuß für Frauen und JugendAusschuß für Raumordnung, Bauwesen und StädtebauZP2 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
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Präsidentin Dr. Rita SüssmuthAufhebung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften— Drucksache 12/1254 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußZP3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des RentenÜberleitungsgesetzes — RÜG-ÄndG— Drucksache 12/1275 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung InnenausschußVerteidigungsausschußHaushaltsausschuß und gem. § 96 GOEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverständnis? — Das ist der Fall.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die BundesregierungBericht über die Armutsbekämpfung in derDritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe— Drucksache 12/924 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Bildung und Wissenschaftb) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu der Unterrichtung durch die BundesregierungAchter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung— Drucksachen 11/7313, 12/1172 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Winfried Pinger Günter SchluckebierIngrid WalzZu dem Bericht zur Entwicklungspolitik liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.Nach der interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Professor Winfried Pinger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über 90 Millionen Menschen — das sind mehr als die Bevölkerung der Bundesrepublik einschließlich der neuen Bundesländer — kommen jedes Jahr auf unserer Erde dazu. Sie werden nicht in den Industrieländern, sondern in den armen Ländern der Dritten Welt geboren. Heute leben auf der Erde über 5 Milliarden Menschen. Für das nächste Jahrzehnt wird eine Verdoppelung auf 10 Milliarden Menschen vorausgesagt. Bereits heute leben 1 Milliarde Menschen in absoluter Armut; das ist jeder fünfte Mensch. Die Zahl ist in den letzten Jahren trotz unserer großen Anstrengungen in der Entwicklungspolitik um 200 Millionen gestiegen.Wird die Dritte Welt in Armut und Elend versinken? Diese Frage stellen sich immer mehr unserer Mitbürger. Viele neigen zu Pessimismus oder gar zur Resignation. Aber wir können die Herausforderungen bestehen; denn wer genau hinsieht, stellt ermutigende Tatsachen fest.Da hat eine Familie in West-Sumatra, in der ärmsten Gegend West-Pasamans ein Monatseinkommen von 30 DM und spart davon 5 DM für ein neues, besseres Fischernetz. Eine andere Familie erhält von einer örtlichen Bank einen Kredit von 40 DM für Saatgut und zahlt den Kredit selbstverständlich pünktlich zurück.Das sind keine Einzelfälle. Zehntausende in dieser armen Region sind so ehrliche Kreditnehmer, daß die Rückzahlungsquote bei über 98 % liegt. In Bangladesh sind es über 1 Million landlose und ärmste Bewohner, die kleine und kleinste Kredite erhalten und zurückzahlen. Solche Programme gibt es in den ländlichen Bereichen Indiens wie in den Townships Südafrikas, in der Millionenstadt Surabaya oder in den Dörfern des Sahel.Diese Beispiele machen deutlich: Was wir brauchen, ist eine neue Entwicklungspolitik. Bei der alten Entwicklungpolitik standen der Staat und die Bürokratie des Entwicklungslandes im Mittelpunkt. Begünstigte waren allzu oft die Staatsklassen, denen die Armut der Menschen gleichgültig ist. Die Folge waren Verschwendung, Korruption, Benachteiligung der armen Bevölkerungsschichten, Unterdrückung von Minderheiten und Mißwirtschaft.Der Achte Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung sagt, worauf es ankommt: die schöpferischen Kräfte der Menschen stärken. Der Bericht der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe zeigt eindrucksvoll, daß die Masse der armen Bevölkerung in den Entwicklungsländern zur Selbsthilfe fähig und in der Lage ist, aus eigener Kraft die eigene Situation wesentlich zu verbessern.Die neue Entwicklungspolitik leistet Hilfe zur Selbsthilfe und fördert die Produktivkraft der Masse der armen Bevölkerung. Es geht um Förderung der Selbsthilfe statt Finanzierung der Bürokratie. Hilfe zur Selbsthilfe ist die erforderliche Initialzündung und die notwendige Organisationshilfe zu Beginn einer Selbsthilfeaktivität. Es kommt darauf an, diese Art der Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur tausendfach, sondern millionenfach zu gewähren.
Minister Spranger hat den Willen der Bundesregierung und seine eigene Zielsetzung im Sinn der Hilfe zur Selbsthilfe dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er ein eigenes Sektorreferat im BMZ geschaffen hat. Dies gibt uns Hoffnung, daß diese neue Entwicklungspolitik Schritt für Schritt auf der Basis der Berichte verwirklicht wird.
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Dr. Winfried PingerDer Staat in den Entwicklungsländern darf nicht länger der Hauptnutznießer unserer Entwicklungspolitik sein. Nicht die staatliche Bürokratie, sondern die Menschen, ihre Selbsthilfegruppen und ihre Selbstverwaltungsorganisationen müssen die Träger der Projekte und Programme sein.Die Bevölkerung in den Entwicklungsländern an unserer Planung lediglich zu beteiligen, ist zu wenig, ja, es ist der falsche Weg. Die Planung muß vielmehr von den Menschen selbst ausgehen. Es sind ihre Projekte, es sind ihre Ziele, es sind ihre Probleme, die gelöst werden müssen. Dementsprechend müssen natürlich unser Planungsinstrumentarium und auch die Richtlinien, die für unsere Durchführungsorganisationen gelten, geändert werden. Die GTZ hat in ihrem Bericht darauf hingewiesen. Nicht der Staat kann die Entwicklung bewirken, sondern nur die Menschen selbst können es.Der Staat muß sich darauf beschränken — aber dies muß er auch leisten —, die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß Selbsthilfe möglich ist. Minister Spranger hat gerade in den letzten Wochen und Monaten mit Recht immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen.Wir haben in unserer Fraktion inzwischen zahlreiche Beispiele untersucht, die zeigen, daß die arme Bevölkerung fähig ist, sich die finanziellen Mittel zur Innovation und zur Verbesserung ihrer Lage selbst zu erarbeiten. Insbesondere sind die armen Bevölkerungsschichten — das zeigten die Beispiele — bereit und in der Lage, zu sparen, wenn sie dadurch eine Chance sehen, aus ihrem Elend herauszukommen. Viele unserer Bürger sehen sich nicht in der Lage, Konsumverzicht durch Sparen zu leisten. Arme und Ärmste können und tun es, um ihre Situation zu verbessern.Die Rückzahlungsquote, nicht nur in dieser oder jener Gegend, liegt bei über 98 %. Das ist sehr beeindruckend.Eine weitere Erkenntnis: Nicht die dilettantische Darlehensgewährung, sozusagen aus der Hosentasche des Entwicklungshelfers, führt weiter, sondern die professionelle Handhabung durch eine engagierte Bank führt zu der breitenwirksamen Spar- und Kredittätigkeit.Ebenso verfehlt ist jede Art der Dauersubventionierung, etwa über verbilligte Zinsen. So gut dies oft gemeint ist: Ein System der Subventionierung führt sehr bald an die finanziellen Grenzen des Gebers; es führt auch allzu oft zu einer Nehmermentalität, die dann zu Rückzahlungsquoten von nur noch 60 % oder weniger führt. Das sind die alten Programme. Dies darf es nicht mehr geben.Die Armen sind im übrigen in der Lage — das indiziert ja die Rückzahlungsquote — , den Kredit produktiv anzulegen und damit nicht nur die Kreditsumme zurückzuzahlen, sondern auch den Zins zu zahlen.Die Bank kann dabei nicht prüfen, ob der Kredit sinnvoll angelegt wird. Die Gruppe tut es. Sie entscheidet mit, was geschieht. Das ist ja auch ein wesentliches Kriterium des Erfolges.Es geht um die Selbsthilfegruppe und um die Bank, die inzwischen erkennt, daß hier ein Potential von Kreditnehmern vorhanden ist, bei denen es sich lohnt, Kredit zu gewähren und bankmäßig tätig zu sein. Voraussetzung ist natürlich, die Selbsthilfegruppen und die Bankleute zu schulen und das Linkage zwischen der Selbsthilfegruppe und der Bank herbeizuführen.Nach den vielfältigen und erstaunlichen Erfolgen von „Sparen und Kredit der Armen" in vielen Ländern der Dritten Welt kann man sich nur wundern, warum diese Art der Hilfe zur Selbsthilfe nicht in jedem Land gefördert wird. Wir werden darauf bestehen, daß in Zukunft nach den Erfahrungen, die inzwischen vorhanden sind, grundsätzlich in allen Ländern solche Projekte durchgeführt werden.
Ich habe „Sparen und Kredit" als Selbsthilfeanstoß hervorgehoben, weil das besonders deutlich macht, daß die Ärmsten keine Geschenke erwarten, sondern nur eine Chance, um ihren Überlebenswillen durch- und einzusetzen.Die Erfahrung lehrt, daß die Armen ihre Aktivitäten nach ihrem ersten Erfolg bald ausweiten. Sie verbessern mit den gewachsenen Einkünften ihre Wohnung, und ihre Ernährung wird gesünder. Die wirtschaftlich erfolgreichen Frauen verschaffen sich Selbstvertrauen, Respekt und Anerkennung. Die Familie investiert in die eigene Fortbildung und in die Ausbildung der Kinder. Die Menschen bilden Fonds für gemeinschaftliche Aufgaben, sie schaffen Reserven für Umweltmaßnahmen usw.Aus dem Kreditprogramm entsteht schließlich ein sich selbst tragender regionaler Entwicklungsprozeß. West-Pasaman auf West-Sumatra nenne ich wieder als Beispiel; dort wurde gefördert durch die GTZ, also durch eine staatliche Durchführungsorganisation. Das zeigt: Eine derartige Hilfe zur Selbsthilfe ist auch durch unsere staatlichen Durchführungsorganisationen möglich.Hilfe zur Selbsthilfe ist entscheidend vor allem für die Förderung der Wirtschaft im informellen Sektor. Handwerks- und Kleingewerbeförderung in staatlicher Regie ohne Selbsthilfe und Selbstverwaltung führen allenfalls zum Aufbau einer neuen Wirtschaftsbürokratie.
Wenn jedoch die Handwerker über selbstverwaltete eigene Fort- und Ausbildungseinrichtungen sowie Dienstleistungszentren in eigener Trägerschaft unterstützt werden, so zeigen sich erstaunliche Produktivitätsfortschritte, Qualitätsverbesserungen und Produktausweitungen. Selbsthilfe und Selbstverwaltung sind auch die entscheidenden Stichworte für die Förderung der übrigen Wirtschaft in den Entwicklungsländern.Der Staat hat in diesem Bereich nichts zu suchen. Das gilt für uns hier in der Bundesrepublik, und das gilt auch für die Entwicklungsländer.
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Dr. Winfried Pinger— Ich möchte dies so apodiktisch sagen. Ich will allerdings gern darauf hinweisen, daß der Staat seine Aufgabe wahrnehmen muß. Noch einmal: Er muß die richtigen Rahmenbedingungen setzen und natürlich die Infrastrukturmaßnahmen ergreifen, die der einzelne Bürger und die auch die Selbstverwaltungsgruppe nicht schaffen können. — Ich sehe, wir sind uns einig.
Aber das hat nichts mit staatlicher Dienstleistung für die Wirtschaft zu tun. Da soll sich der Staat raushalten. Davon versteht er nichts. Das kann er nicht.Minister Spranger hat gerade auf die notwendigen Rahmenbedingungen hingewiesen, und ich selbst unterstreiche dies. Freiräume sind notwendig, wenn es um Sparen und Kredite geht; die Selbsthilfegruppen und die Banken brauchen Freiräume. Dies ist ein wichtiges Beispiel für die notwendigen Rahmenbedingungen. Wenn Sparen und Kredite möglich sein sollen, dann gehört dazu natürlich auch, daß der Staat die Inflationsrate begrenzt. Andernfalls werden Sparen und Kredite nicht möglich sein.Was für arme und ärmste Bevölkerungsschichten möglich ist, nämlich eine wirkliche Selbsthilfe, das müssen wir auch von den Mittel- und Oberschichten in den Entwicklungsländern erwarten können. Soweit dort eine Hilfe zu dieser Selbsthilfe notwendig ist, sei diese natürlich gewährt. Aber ich denke, daß das Prinzip der Herausforderung für alle Gruppen, also auch für diese Ober- und Mittelschichten, und natürlich auch für die gesamte Wirtschaft gelten muß. Wir dürfen gerade auch in diesem Bereich eine Nehmermentalität nicht aufrechterhalten.Alle Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit müssen sich kritisch fragen, warum sie nicht in noch größerem Umfang eine Hilfe zur Selbsthilfe verwirklichen. Umdenken ist erforderlich, und Umdenken kann nicht verordnet werden. Deshalb appelliere ich an alle Referate
— das Sektor-Referat ist eingerichtet, aber es kommt auf die Regional-Referate an — , nun das umzusetzen, was inzwischen an Erfahrungen da ist und was an Erfahrungen bei der Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe auch im Bericht enthalten ist.Wenn alle Organisationen in ihrem Feld tätig werden, indem sie dann die Erkenntnisse umsetzen, besteht auch angesichts der Bevölkerungsentwicklung kein Grund zu Pessimismus und Resignation. Wenn die Anstrengungen im Sinne der neuen Entwicklungspolitik eingesetzt werden, können auch alle, die die große Sorge haben, daß die Masse der armen Bevölkerung einen Ansturm auf unser Land durchführt, wieder Hoffnung haben.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dieter Schanz.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, daß wir diese Debatte gerade heute führen; denn nur wer die Massenarmut weltweit intensiv bekämpft, trägt ehrlicherweise dazu bei, daß die armen Millionen nicht zu uns kommen.
Auch führt uns das von der Gespensterdiskussion weg, wir müßten im Grundgesetz einen Artikel ändern.Der Bericht, den die Bundesregierung zur Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe vorgelegt hat, ist ein erstes Ergebnis des im Mai 1990 gemeinsam von SPD, CDU/CSU und FDP eingebrachten Antrags zum gleichen Thema. Schon zahlreiche Anträge und Analysen zur Gestaltung einer effizienten Entwicklungspolitik zur Überwindung der Armut wurden in den Bundestag eingebracht und sollen als Richtlinien und Handlungsanleitungen für die Umsetzung in konkrete Politik dienen.So stellen der heute zu besprechende Bericht der Bundesregierung sowie der achte entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung zwar eine weitere, recht ordentliche Analyse der Armutssituation dar und wiederholen schon lange zu allgemeinem Konsens gewordene Positionen. Der Bericht greift die im Mai 1990 formulierten Politikziele erneut auf, liefert damit im wesentlichen nichts neues und läßt zum Teil neue Erkenntnisse und Aspekte der Problemgewichtung und Forschungsergebnisse unberücksichtigt. Ein und ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des Antrages zur Armutsbekämpfung hätte man etwas mehr erwarten können.Interessant hingegen sind die im Bericht aufgeführten Stellungnahmen der einzelnen im politischen Bereich tätigen Institutionen, Stellungnahmen, in denen konkret aufgezeigt wird, wo Armutsbekämpfung ansetzt und wo durch zum größten Teil administrative Hindernisse der Prozeß der Überwindung der Armut blockiert wird. Dies sind im wesentlichen folgende Aspekte: das Jährlichkeitsprinzip bei der Mittelbewilligung bzw. -ausschöpfung, was häufig nicht den Projekterfordernissen entspricht, oder die Notwendigkeit eines arbeitsteiligen Vorgehens von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in den Industrieländern.Die von den Institutionen dargelegten Vorschläge zur Überwindung von Hindernissen in der Entwicklungszusammenarbeit, d. h. zu ihrer Effizienzsteigerung, gehen zum großen Teil in die gleiche Richtung und müssen beim BMZ bzw. von der Bundesregierung bei der Politikgestaltung aufgegriffen werden. Des weiteren ist eine verstärkte Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen im Süden einzufordern, da gerade unter dem Aspekt der Armutsbekämpfung wie der Demokratisierung von Gesellschaften diesen Organisationen die wichtige Funktion der Einbeziehung der Bevölkerung zur Selbsthilfe zukommt.Neben der Überprüfung, ob der Bericht mit seinen Politikempfehlungen auf dem neuesten Stand der Erkenntnisse ist, und der Feststellung, daß eine Mittelaufstockung generell erforderlich ist, gilt es auch bei
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Dieter Schanzuns, in unseren Schulen und Medien, eine entsprechende Aufklärungsarbeit über die Notwendigkeit von Entwicklungszusammenarbeit durchzuführen.Das Bewußtsein für die Problematik der Armut war bisher nur sehr schwach und hier bei uns im satten Norden auch nur schwer zu vermitteln. Aber mit dem Bewußtsein der globalen Zusammenhänge bei der Erhaltung der Umwelt — denn nunmehr spüren auch wir im Norden, daß auf dieser Erde etwas schiefläuft — ist die Bereitschaft da, in globalen Dimensionen zu denken und sich somit auch für die Situation der Menschen im Süden zu interessieren.Die Erkenntnis über den Zusammenhang von Umweltzerstörung und Armut kann bildungspolitisch als Vehikel zur Vermittlung der gesamten Entwicklungsproblematik verwendet werden und damit ein allgemeines Interesse in der Bevölkerung für Entwicklungspolitik und Völkerverständnis bieten.Gerade angesichts der Debatte um das Migrations-problem und der beschämenden Übergriffe von Deutschen gegen Asylbewerber und Ausländer, die ironischerweise gerade in der Woche des ausländischen Mitbürgers gehäuft zu verzeichnen waren, gilt es, zu erkennen, daß — neben dem schon lange überfälligen, klaren Wort des Bundeskanzlers, der diese Pogrome in aller Schärfe verurteilen muß — hier ein mächtiges Bildungsdefizit aufzufüllen ist.
Die Bundesregierung muß weg von ihrer bloßen Ankündigungspolitik, die sie in der Asyldiskussion mit so wohlklingenden Reden wie „Man muß die Not vor Ort lindern, damit die Menschen dort leben können" praktiziert und die mit dem neuen Minister nunmehr auch verstärkt Einzug in ihre Entwicklungspolitik gehalten hat.Zwar ist in täglichen Verlautbarungen und Pressemitteilungen des Ministers nachzulesen, daß der Schwerpunkt der Politik seines Hauses auf Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Bildungspolitik gelegt wird, analysiert man hingegen den Haushaltsplan für die Entwicklungszusammenarbeit in 1992, so finden gerade diese Bereiche einen äußerst schwachen Niederschlag.
Der Gesamtetat der Entwicklungszusammenarbeit liegt mit 0,32 % des Bruttosozialprodukts ohnehin weit von der 0,7 %-Marke entfernt.In Anbetracht der gebündelt und massiv auftretenden Probleme, die alle Mitglieder der Staatengemeinschaft — die einen mehr, die anderen weniger zu spüren bekommen, und in der Erkenntnis, daß es hohe Zeit ist zu handeln, d. h. schon lange vorliegende Konzepte in konkrete Politik umzusetzen, will ich hier und heute im Vorfeld der Internationalen Umweltkonferenz von Rio auf den speziellen Aspekt des Zusammenhangs von Armut und Umweltzerstörung aufmerksam machen und alle Verantwortlichen aufrufen, diese Problematik in adäquater Weise zu berücksichtigen. Die Rio-Konferenz soll Strategien und Maßnahmen entwickeln, die einer weltweiten Umweltzerstörung entgegenwirken und die Teilnehmerstaaten zu einer nachhaltig umweltverträglichen Entwicklungund Nutzung einer sozialen und ökologischen Weltwirtschaft sein.Dazu bedarf es maßgeblicher Veränderungen in den allgemeinen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Industriestaaten und den Entwicklungsländern. Die Zusammenhänge sind weitestgehend bekannt. Maßgebliche Initiativen im Ressourcenschutz lassen sich in reichen Nationen leichter realisieren als in Ländern, wo akute Armut oder Schuldendienst die Ursache der Umweltzerstörung ist.Die Zahl der Menschen in der Dritten Welt, die unterhalb der Armutsgrenze leben, steigt weiterhin. Armut ist damit eines der zentralen Probleme dieser Erde. Ein Durchbruch zum Abbau der Massenarmut ist nicht erfolgt. Es ist bisher nur selten gelungen, einen selbsttragenden Entwicklungsprozeß unter Beteiligung der ärmsten Bevölkerungsschichten einzuleiten.Für eine Strategie der Armutsbekämpfung ist es wichtig, daß die politischen und ökonomischen Bedingungen im Sinne einer gleichberechtigten Partnerschaft zwischen Nord und Süd gehalten werden. Konkret meine ich hier etwa die Durchführung von Bodenreformen, die dann der Mehrzahl der Landbevölkerung die Chancen auf eine eigene Erwerbsquelle liefert, die Förderung bzw. Einführung von ökologischem Landbau, finanzielle und technologische Transferleistungen für Umweltschutz an die Entwicklungsländer, Lösung der Schuldenproblematik debt for nature swap und des Schuldenerlasses, wo Mittel für Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut freigegeben werden.Ein zentraler Aspekt ist hier natürlich auch der Energiebereich, wobei Energieeinsparen und das Umsteigen von fossilen Energieträgern auf regenerative Energien, insbesondere den Aufbau einer Solarenergiewirtschaft, das vornehmliche Ziel sein muß. Die Ergebnisse der Anhörung, die wir bald im Ausschuß vornehmen, werden sicherlich interessante Handlungskonzepte liefern.Ich fasse zusammen: Mit der Umweltkrise spüren auch wir in den Industrieländern, daß Wachstum in der bisherigen Form nicht die Lösung aller Probleme mit sich bringt. So kann auch die Wachstumsproblematik rein quantitativ nicht die absolute Armut überwinden. Das ist keine neue Weisheit, aber gerade angesichts des hautnahen Erlebens der Problematik über Umwelt und Flüchtlinge ist es höchste Zeit, massiv Maßnahmen, die schon lange, zum Teil sogar von der Weltbank, propagiert werden, einzuleiten.Die Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio bietet hier einen guten Ansatz, eine politische Wende national und international einzuleiten. National wurde angesichts der Pogromstimmung der letzten Wochen in bitterer Weise deutlich, wie notwendig eine entwicklungspolitische Bildungs- und Ausbildungsarbeit bezüglich der skizzierten Zusammenhänge ist. Umwelt- und Energiepolitik zusammen müssen den Schutz der Erdatmosphäre sichern. Insgesamt bedarf es einer Mittelaufstockung gerade im Bereich der Armutsbekämpfung. Jede Definition des wirtschaftlichen Fortschritts im engeren Sinne muß über das reine Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens
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Dieter Schanzhinausgehen und die Reduzierung der Armut, eine größere soziale Gerechtigkeit, Verbesserung des Erziehungssystems, des Gesundheitswesens und der Ernährung sowie den Schutz der Umwelt beinhalten.Ich bedanke mich.
Als nächstes spricht die Abgeordnete Ingrid Walz.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich glaube, wir sind uns einig, daß wir am Wendepunkt in der Weltpolitik angelangt sind. Es vollziehen sich Veränderungen, die wir in unserem verkümmerten historischen Denken nach einer Phase der Erstarrung nicht mehr für möglich gehalten haben. Diese Eruptionen der Geschichte — ich möchte sie einmal so nennen — verändern nicht nur das Gesicht Europas, sondern verändern, sozusagen in Wellenbewegungen, auch die wirtschaftliche und kulturelle Landkarte in vielen Teilen dieser Welt.Der Ruf nach Freiheit, nach Selbstbestimmung, das Einklagen von Menschenwürde und die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit nehmen reale Gestalt an. Überall auf der Welt ist der Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft in Gang gekommen.Doch, meine Damen und Herren, die globalen Herausforderungen, die uns allen bekannt sind, machen es nötig, die Beziehungen zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern auf eine völlig veränderte neue Grundlage zu stellen. Neue Konzepte internationaler Zusammenarbeit sind nötig, die auch die Veränderungen aufnehmen müssen, die sich durch den Zerfall sozialistischer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme ergeben haben.Das klassische Verständnis des Nord-Süd-Konfliktes wird täglich überholt. Wir müssen davon ausgehen, daß es die unterentwickelten Länder nicht mehr nur im Süden, sondern auch im Osten gibt und daß damit Entwicklungszusammenarbeit eine neue Dimension erhält.
Wir haben uns gestern im AWZ darüber unterhalten, daß sozusagen aus der früheren Entwicklungshilfe, aus der heutigen Entwicklungspolitik tatsächlich wirtschaftliche Zusammenarbeit wird.Es geht darum, eine Weltordnung zu schaffen, die die Überwindung ungleicher Lebensverhältnisse zum Ziel hat, die Hunger und Armut beseitigt und soziale Gerechtigkeit verwirklichen möchte. Es kann und darf nicht sein, daß die Welt in Wohlstandsinseln, wie wir sie in Europa und in Nordamerika haben, und in Armutskontinente, die den Rest der Welt darstellen, zerfällt. Welche Konsequenzen dieses hat, erleben wir täglich draußen vor unserer eigenen Haustür und bestimmt die Asyldiskussionen.Der vorliegende achte entwicklungspolitische Bericht gibt einen Überblick über die wirtschaftliche Situation und die zentralen Probleme der Entwicklungsländer am Ende der 80er Jahre. Er stellt auch die internationalen Lösungsversuche im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs sowie die entwicklungspolitische Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland umfassend dar.Dieser Bericht stellt allerdings auch fest, daß alle Anstrengungen, die wir unternehmen, einschließlich einer nachhaltigen Erhöhung der Entwicklungshilfeleistung, letztlich erfolglos bleiben müssen, wenn die Entwicklungsländer nicht selber ihrer Eigenverantwortung gerecht werden und eine sozial und ökologisch verantwortliche Politik verfolgen. Sie müssen die Leistung des einzelnen anerkennen, den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Gesellschaftsstrukturen fördern und alle Bevölkerungsgruppen am Entwicklungsprozeß beteiligen. Ihre größte Aufgabe ist die Achtung der Menschenrechte.
Die Überwindung der Korruption ist dringend erforderlich. Das viele Geld, das wir in die Entwicklungszusammenarbeit gesteckt haben, hat nicht immer seinen Zweck erfüllt.Das Einfordern von Selbstverantwortung bedeutet doch auf unserer Seite, daß wir aus unserer Geberrolle schlüpfen, und bedeutet für die Entwicklungsländer, daß sie Abschied nehmen müssen von einer bequemen Nehmerrolle. Diese gezüchtete Nehmermentalität stand am Ende eines Prozesses der Kolonialisierung, die die europäischen Länder als Missionare begannen, als Kolonialherren fortsetzten und als „donor", also sozusagen als Geber, prolongierten.30 Jahre Entwicklungspolitik waren davon geprägt. Wir meinen, daß das Ende einer solchen ungleichen Partnerschaft gekommen sein muß.Deshalb begrüßen wir, daß die Bundesrepublik ihre Entwicklungspolitik nunmehr an den Prinzipien einer ökologisch orientierten Sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet hat. Wir müssen in Zukunft Partner sein; wir müssen Handelspartner werden.Meine Damen und Herren, wir wollen in Zukunft die Vergabe von Entwicklungshilfemitteln noch stärker an den Eigenanstrengungen der Empfängerländer, demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, orientieren. Dies gilt auch für die Absicht der Bundesregierung, künftige Entwicklungshilfeleistungen an die Bereitschaft der Partnerländer zu knüpfen, übermäßige Rüstungsausgaben auf ein vertretbares Maß zu reduzieren. Jährliche Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer von gegenwärtig 200 Milliarden Dollar können angesichts des Hungers, der Armut und der wachsenden Umweltgefährdung in großen Teilen der Welt nicht länger ohne Konsequenzen für die Entwicklungszusammenarbeit bleiben. Ich denke, das ist inzwischen ein Glaubenssatz auch aller anderen multilateralen Geber. Wir können Ihnen, Herr Minister Spranger, eigentlich nur dafür danken, daß Sie diese Diskussion — das muß man ohne Neid sagen — angefacht haben.
Aber, meine Damen und Herren, es gilt auch, international und koordiniert vorzugehen. Die Bemühungen um eine alle Waffengattungen umfassende welt-
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Ingrid Walzweite Abrüstung sowie eine restriktive Rüstungsexportpolitik müssen folgen.
Die Entwicklungsländer dürfen nicht länger Absatzmärkte für Rüstungsgüter sein. Die Vereinten Nationen sollten daher die Führungsrolle bei der Erarbeitung einer internationalen Konvention zur Regelung des weltweiten Waffenhandels übernehmen und die Einrichtung eines allgemeinen Registers für Waffenlieferungen vorsehen.Doch, meine Damen und Herren, bei aller Notwendigkeit einer Berücksichtigung von objektiven Vergabekriterien im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit im Hinblick auf Rüstung möchte ich allerdings vor einer undifferenzierten und allzu rigiden Handhabung warnen. Wir kommen in die Schwierigkeit, es beweisen zu müssen. Wir haben es gestern schon an einem Land exemplarisch vorgeführt bekommen, nämlich an Pakistan.Wir meinen, der Rückzug aus der Entwicklungszusammenarbeit mit den von einem Entwicklungshilfeembargo betroffenen Ländern schafft dort noch keine Änderung der Verhältnisse. Deshalb darf sich der entwicklungspolitische Dialog nicht nur auf die Fragen der Konditionierung beschränken.Wir denken, die Bekämpfung der Armut, die Verringerung des Bevölkerungswachstums und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sind die alles überragenden globalen Aufgaben. Es muß Ziel unserer Entwicklungspolitik sein, Armut, soweit es überhaupt geht, zu bekämpfen bzw. zu lindern. Wir müssen unsere Ziele und Schwerpunkte danach ausrichten.Aber um Not und Elend wirksam bekämpfen zu können, müssen die strukturellen Ursachen beseitigt werden. Das ist eine Aufgabe der Entwicklungsländer. Wir können nur nachhelfen; wir können nur die Hand zur Hilfe reichen. Dazu gehört natürlich in einer Vielzahl von Ländern, daß endlich die Bevölkerungsentwicklung und das Wirtschaftswachstum in Einklang gebracht werden. Das ist das Problem Afrikas. Es gibt dort eine starke Bevölkerungszunahme und auch wirtschaftliches Wachstum. Aber beides steht nicht im Einklang.Dies erfordert natürlich einen politischen Gesamtansatz, den wir auch in unserer Entwicklungszusammenarbeit beachten müssen. Das heißt, wir müssen unsere Hilfe noch mehr auf die Gesundheitsversorgung, auf die Familienplanung und auf die Bildung, aber auch auf die Einführung sozialer Sicherungssysteme ausdehnen.Meine Damen und Herren, die zentrale Rolle der Frauen im Entwicklungsprozeß wird zwar bei uns mit einer F-Komponente berücksichtigt. Aber ich fürchte, daß die Frauen die Verlierer der Entwicklung sind, sowohl in einigen Schwellenländern, wo sich eine industrielle Entwicklung überstürzt abgezeichnet hat und erfolgt ist, wie auch in den Ländern, in denen es keinen Fortschritt, sondern Rückschritt gab.Nun zu den Lösungen. Sie werden verstehen, daß wir Liberalen einen zentralen Lösungsansatz haben:Wir meinen den Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen und die Entfaltung privater unternehmerischer Initiative. Wir halten Marktwirtschaft und unternehmerische Initiative — gleichgültig in welcher Größenordnung — im Hinblick auf einen selbsttragenden Entwicklungsprozeß für unerläßlich. Nur über die Bildung eines Mittelstandes — ich muß die Philosophie der Liberalen hier noch einmal betonen — kann politische Stabilität erreicht werden. Der private Sektor und ein Abbau entwicklungshemmender Strukturen müssen deshalb auch im Mittelpunkt künftiger Entwicklungsbemühungen stehen. Das bedeutet: Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit muß zugunsten des privaten Sektors in den Entwicklungsländern umstrukturiert werden. Das nötige Instrumentarium muß den tatsächlichen Anforderungen angepaßt und handhabbarer werden.In vielen Ländern — Herr Professor Pinger hat es schon gesagt — gibt es ein ökonomisches Potential im sogenannten informellen Sektor. Die dort arbeitenden Menschen sind sozusagen die Hefe künftiger wirtschaftlicher Entwicklung: Es sind die Landwirte, die Händler, die Gewerbetreibenden. Meine Damen und Herren, ich muß immer wieder in Erinnerung rufen: Viele oder die meisten davon sind Frauen. Wenn wir ihnen helfen, helfen wir den Familien und auch den Wirtschaften dieser Länder.Das bedeutet aber auch, Organisation und Instrumente der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Interesse einer wirtschaftsnäheren Gestaltung zu überprüfen. Das bedeutet nicht, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit, Entwicklungspolitik sozusagen im Interesse der deutschen Exportwirtschaft eingesetzt werden. Aber im Sinne des von mir vorher Gesagten, daß wir Handelspartner werden wollen, bedarf es einer Überlegung, bedarf es neuer Konzepte.
— Nein, das glaube ich nicht. - Wenn die Länder in die Lage versetzt werden, sich über einen freien Handel selbst zu helfen, dann haben sie unsere Almosen wirklich nicht mehr nötig. Dabei muß das Subsidiaritätsprinzip allerdings voll zur Geltung kommen.Armutsbekämpfung heißt aber auch, die internationalen Bemühungen zur Lösung der weltweiten Verschuldungsprobleme durch eine zügige Umsetzung aller Elemente der weiterentwickelten einzelfallgerechten Schuldenstrategie fortzusetzen. Das verlangt aber gleichzeitig auch eine Verbesserung der internationalen Handelsbeziehungen und Marktzugangschancen für Entwicklungsländer. Die Abschottung der Märkte und der Protektionismus müssen beendet werden.
Ich begrüße deshalb die von der Bundesregierung und insbesondere — Eigenlob kann ja nicht schaden — die von Herrn Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann ergriffene Initiative für einen notwendigen Subventionsabbau.Unter diesen Gesichtspunkten müssen die Außenwirtschaftspolitik und die Handelspolitik verzahnt
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3870 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Ingrid Walzwerden. Die Umweltpolitik muß dazukommen. Diese Politikbereiche müssen sich stärker mit den Zielen einer zukunftsorientierten Entwicklungspolitik befassen.Meine Damen und Herren von der SPD, ich sehe bei Ihnen leider immer noch nicht genügend Ansatzpunkte für eine Übernahme ungeteilter Verantwortung bei der Schaffung einer Welt.
Die Bundesregierung einerseits ständig wegen eines unzureichenden Subventionsabbaus zu kritisieren und andererseits auf den Protestkundgebungen der Gewerkschaften zu den Scharfmachern zu gehören: Das ist in Wahrheit Ihr Verständnis von weltweiter Solidarität. Wir müssen hier Subventionen abbauen,
damit wir den Entwicklungsländern im Hinblick auf einen freien Marktzugang, im Hinblick auf einen freien Welthandel hellen können. Diesen Zusammenhang haben Sie leider noch nicht erkannt.
Das heißt: Die gegenwärtige Verhandlungsrunde des GATT muß endlich zu einem Erfolg geführt werden. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung für eine prosperierende Weltwirtschaft.
Die Verhinderung der Entstehung neuer weltweiter Flüchtlingsströme könnte damit verbunden werden. Dazu gehören, wie ich schon gesagt habe, aber auch Strukturanpassung und Reformbereitschaft in den Industriestaaten. Dies gilt im besonderen Maße für die Europäische Gemeinschaft hinsichtlich einer längst überfälligen Reform der EG-Agrarpolitik.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Übernahme globaler Verantwortung darf sich nicht darin erschöpfen, die finanziellen Leistungen für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. Notwendig ist eine aktive Politik der weltweiten Friedenssicherung, zu der auch die Überwindung der Unterentwicklung, die Durchsetzung von Menschenrechten und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gehören. Das vereinte Deutschland muß hierbei seinen Beitrag leisten und die vollen Pflichten eines Mitglieds der Vereinten Nationen einschließlich der Maßnahmen der kollektiven Sicherheit übernehmen. Ich weiß, meine Damen und Herren, daß uns diese Rolle nicht sehr vertraut ist. Aber wir müssen sie im Interesse unserer Partner weltweit wahrnehmen, und wir müssen akzeptieren, daß Stärke auch Verantwortung bedeutet.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Woche der Welthungerhilfe macht es möglich: Entwicklungspolitik wird zum Thema vieler Reden, erscheint in den Medien und wird sogar im Bundestag in ungewohnter Breite und für mich zu ungewohnter Zeit diskutiert.
— Ich mußte das wirklich einmal feststellen, weil ich sonst immer um Mitternacht zu diesem Thema spreche.Hunger, was ist das? Ich gebe mir Mühe, mir vorzustellen, was Hunger in seiner Gesamtheit ist, und was er für das Individuum bedeutet und was Hunger auslöst. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Auch daran sollte man einmal denken.Angesichts vieler sich jährlich wiederholenden sehr wichtigen und klugen Aussagen frage ich mich, warum sich mit der gleichen Kontinuität die Kritik an der Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit deutscher Entwicklungshilfe wenn schon nicht durch die breite Öffentlichkeit, so doch wenigstens durch die Kreise der Fachleute und Interessenten zieht. Ich bin weit davon entfernt, alles was aus Anlaß der Woche der Welthungerhilfe gesagt und geschrieben wird und wurde, pauschal als Sonntagsreden zu qualifizieren. Aber gerade wenn man die jüngsten Aussagen von Vertretern des BMZ mit der praktischen deutschen Politik in Verbindung setzt, tun sich für mich beachtliche Diskrepanzen auf.So äußerte der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger, Anfang Oktober laut dpa: Als eine der führenden Industrienationen und eines der wohlhabendsten Länder der Welt sei es die Pflicht Deutschlands, „unser im Zuge der Vereinigung gewonnenes Gewicht für verstärktes Engagement zugunsten der Entwicklungsländer sowohl im Rahmen der zwischenstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit wie auch im Rahmen multilateraler Institutionen zu nutzen".Auf der Tagung der EG-Finanzminister am Montag in Luxemburg scheiterte ein umfangreicher Schuldenerlaß für die AKP-Staaten unter anderem am Veto des deutschen Finanzministers.
Herr Minister Spranger, ich frage Sie an dieser Stelle: Ist das für Sie nicht wie ein Schlag ins Gesicht?Die Achtung der Menschenrechte ist nach Aussagen von Minister Spranger ein grundlegendes Kriterium für die Gewährung deutscher Entwicklungshilfe. Der NATO-Partner Türkei, dessen zum Teil in Deutschland oder von Deutschland ausgebildete Polizei nachgewiesenermaßen politische Gegner foltert — das kann ich belegen — , wird 1992
voraussichtlich allein im Rahmen der finanziellen Entwicklungszusammenarbeit 120 Millionen DM erhalten.Ich möchte die Kette der Beispiele nicht endlos weiterführen, obwohl es sich gerade bei diesem Thema
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Dr. Ursula Fischeraus dem vollen schöpfen ließe. Wichtig scheint mir jedoch die Bemerkung, daß diese offensichtlichen Widersprüche der Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungspolitik nicht gerade zuträglich sind.Daran ändern auch so sorgfältig erstellte Materialien wie die uns heute vorliegenden Dokumente nichts. Die Effizienz deutscher Entwicklungspolitik krankt ja gerade daran, daß es offensichtlich unmöglich ist, zumindest ansatzweise vorhandenes Problembewußtsein in konkrete Politik umzusetzen. So heißt es im Selbsthilfebericht auf seiten des BMZ lediglichdaß der Ansatz selbsthilfeorientierter Armutsbekämpfung nur ein Element zur Überwindung der Massenarmut in der Dritten Welt ist. Das BMZ bemüht sich daher, bei Diskussionen über internationale Handelsbeziehungen, Lösung der Schuldenproblematik und anderer Fragen der übergreifenden Rahmenbedingungen die jeweilige Bedeutung von Entscheidungen für die armen Bevölkerungsgruppen in Entwicklungsländern sichtbar zu machen.Wie der Entscheidung der EG-Finanzminister zu entnehmen ist, tragen diese Bemühungen im konkreten Fall leider keine Früchte.Ich glaube, daß man sich den Ursachen dieser Diskrepanz zwischen verbaler und praktischer Politik nur nähern kann, wenn man die reale Wertigkeit der einzelnen Politikbereiche betrachtet. In seinem Antrag zum Achten entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung stellt der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit wertungsfrei — wenn es das überhaupt gibt — die Forderung nach einer besseren Verknüpfung der Außenpolitik sowie der Agrar- und Handelspolitik mit der Entwicklungspolitik. Diese Aussage bedürfte meines Erachtens einer Präzisierung. Eine Verknüpfung besagter Bereiche besteht nämlich bereits, eben durch die Unterordnung der Entwicklungspolitik unter die handels- und außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland.Politik ist Interessenvertretung derer, die ihre Interessen artikulieren und ihnen durch wirtschaftliches Gewicht Nachdruck verleihen können. Deutsche Politik vertritt in allererster Linie die Interessen der deutschen Industrie, des deutschen Kapitals; das ist bei Frau Walz auch sehr gut zum Ausdruck gekommen. Es geht um Macht, um ihren Erhalt und ihre Ausdehnung, und in diesem Sinne hat auch die Entwicklungspolitik zu funktionieren, nicht als Vertretung derer, die in den Entwicklungsländern ihre Interessen eben nicht artikulieren können, sondern aus meiner Sicht als Feigenblatt und als Alibi für die Öffentlichkeit.Frau Dr. Helga Henselder-Barzel, die Vorsitzende der Deutschen Welthungerhilfe, sprach von der „Weltmacht Hunger" . Diese Formulierung gibt dem Hunger den Status eines selbständig agierenden Subjekts, einer Bedrohung, die ohne erkennbare Ursache da ist. Doch die Ursachen des Hungers, der Unterentwicklung und der Armut sind es, über die erst einmal Klarheit geschaffen werden muß, bevor man wirksame Konzeptionen zu ihrer Überwindung anbieten kann.Gerade hier greift die offizielle Entwicklungspolitik immer wieder zu kurz. Zum Beispiel verliert das in der Frage der Entwicklungszusammenarbeit kompetente Gremium in Auswertung des Achten entwicklungspolitischen Berichts der Bundesregierung kein Wort über die nur vom Norden zu vollziehenden Veränderungen der Lebens- und Produktionsweise der entwickelten Länder,
auch nicht über die konsequente Entschuldung und die notwendige Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen,
ohne die dauerhafte, selbsttragende Entwicklungsprozesse im Interesse der armen Menschen in der Zweidrittelwelt illusorisch bleiben. Statt dessen wird die Bundesregierung nachgerade aufgefordert, dem Süden die Vorstellungen des Nordens zu suggerieren, was in den meisten Fällen in ökonomische und/oder politische Nötigung ausartet, um an dieser Stelle das Wort „Erpressung" zu vermeiden.Das in der Tat verfeinerte Instrumentarium der Entwicklungspolitik mit dehnbaren Kriterien wie wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen, Respektierung der Menschenrechte und der international koordinierte Würgegriff der Strukturanpassungsmaßnahmen stellen nahezu sicher, daß Entwicklung auf jeden Fall so verläuft, daß relevante Interessen des Nordens, wie oben angeführt, nicht verletzt werden. Das Ziel heißt nicht Entwicklung, sondern Einpassung in bestehende weltwirtschaftliche Verhältnisse. Es geht um Märkte, Rohstoffe, Macht. Das haben wir vor kurzem oft genug erlebt. Solange es an politisch relevanter Stelle keine Notwendigkeit und keine ernsthafte Absicht gibt, sich den eigentlichen Ursachen von Unterentwicklung auch nur zu nähern,
solange unsere Welt weiterhin als die beste aller vorstellbaren Welten überhaupt verstanden und reproduziert wird, bleibt die oft proklamierte Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit nichts anderes als Kosmetik.Auch das Konzept der Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe läßt unter diesem Blickwinkel keine radikalen Veränderungen erwarten. Ich erinnere an dieser Stelle wieder an das Zehnjahresprogramm der UNO für die am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Gebracht hat es nichts. Das muß man sich doch einmal klarmachen. Es wird punktuell natürlich Wirkungen im Sinne der Verbesserung der Lebenssituation von Individuen haben, durchaus. Engagierte Menschen aus dem Norden werden über Erfahrungen eine Chance haben, ihre Lebensauffassung zu überprüfen. Es wird aber nie zu eigenständigen und selbsttragenden Entwicklungen in den Ländern führen, die über den Rahmen des vom Norden vorgegebenen gesellschaftlichen und politischen Projektes hinausgehen. Es wird die Ursachen von Armut, Hunger und Unterentwicklung überhaupt nicht berühren.
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Dr. Ursula FischerEs wird vieler Menschen und ihrer Erfahrungen und Einsichten hier bei uns bedürfen, damit sich der Norden verändert. Diese Menschen werden es schwer haben, solange die neu zu definierende Entwicklungspolitik im Norden nicht als integrativer und determinierender Bestandteil aller Politikbereiche wirksam wird.Ich meine damit z. B., daß es bereits mehr als aktuell ist, entwicklungspolitische Inhalte in das Bildungssystem komplexer und intensiver einzubeziehen, auch wirklich einzubeziehen, nicht nur darüber zu reden. In jedem Jahr, das ohne konsequente Veränderungen vor allem im Denken hier bei uns vergeht, reproduziert das traditionelle Schulsystem beispielsweise auch eurozentristische Sichtweisen und Vorurteile, werden Kinder mit der Normalität des Egoismus, der Gewalt und des Rechts des Stärkeren groß. Es gibt keinen Grund, warum diese Kinder als Erwachsene sensibler, toleranter und offener für die Probleme außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes sein sollten, als es heute ihre Eltern sind. Auch das ist ein Grund für die Ausländerfeindlichkeit, die uns im Moment entgegenschlägt.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entwicklungspolitik in den 90er Jahren muß den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die Bekämpfung der absoluten Armut, die Förderung von Bildung und Ausbildung sowie die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen sind zentrale Elemente einer solchen Strategie und Eckpfeiler unserer Entwicklungspolitik. Eine auf den Menschen ausgerichtete Entwicklungsstrategie wird aber nur dann zum Erfolg führen, wenn geeignete wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen gegeben sind.Diese Erkenntnis ist für uns nicht neu. Der Achte Bericht zur Entwicklungspolitik stellt heraus, daß das Kernziel der deutschen Entwicklungspolitik die Entfaltung der schöpferischen Fähigkeiten der Menschen in der Dritten Welt ist. Er betont, daß die entscheidenden Erfolgsvoraussetzungen hierfür die Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern selbst sind, insbesondere Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Freiraum für Privatinitiative und Achtung der Menschenrechte.Der Achte Bericht wurde am 3. Mai 1990 vom Kabinett verabschiedet. Die seit dieser Zeit eingetretenen Umbrüche in Osteuropa und der Sowjetunion haben nicht nur die Grundlage für eine von gemeinsamen Grundwerten getragene Zusammenarbeit aller Staaten in Europa gelegt, sondern auch ein neues Klima in der Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd geschaffen.Auch führende Vertreter der Entwicklungsländer betonen mittlerweile öffentlich, daß Demokratie undEntwicklung untrennbar miteinander verbunden sind. Mit dem Ende der ideologischen Überlagerung der Entwicklungspolitik durch den Ost-West-Konflikt ergibt sich jetzt eine historische Chance, konkrete und tiefgreifende Konsequenzen einzuleiten. Vor dem Hintergrund der knappen Haushaltsmittel kommt es mehr denn je darauf an, klare Schwerpunkte zu setzen und die Qualität unserer Hilfe zu verbessern.Der Selbsthilfebericht der Bundesregierung, über den wir heute ebenfalls beraten, ist ein Bericht der nichtstaatlichen und der staatlichen Entwicklungshilfe. Er zeigt exemplarisch den hohen Grad der Übereinstimmung in wichtigen entwicklungspolitischen Fragen. Herr Kollege Schanz, wir haben von Anfang an der Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen große Bedeutung zugemessen. Ich glaube, wir haben auch ein hohes Maß an intensiver und konstruktiver Zusammenarbeit erreicht.Die Bekämpfung der Armut hat oberste Priorität in der deutschen Entwicklungpolitik. Der vorliegende Selbsthilfebericht belegt: Kern der Armutsbekämpfung ist die Hilfe zur Selbsthilfe, weil nur auf dieser Grundlage eine dauerhafte, eigenständige Entwicklung zustande kommen kann. Ich stimme hier den Ausführungen des Kollegen Professor Pinger in vollem Umfang zu.In den Projektplanungen für die Haushaltsjahre 1991 und 1992 sind jeweils 10 % der staatlichen bilateralen Hilfe für die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe eingeplant. Das Setzen einer solchen Orientierungsgröße ist eine deutliche Akzentsetzung im Kampf gegen die Armut. Ich darf daran erinnern, daß über 50 % aller Projekte in der Zwischenzeit zur Befriedigung von Grundbedürfnissen und fast 28 % im Bereich des Umweltschutzes eingesetzt werden.Der vorliegende Selbsthilfebericht macht deutlich: Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe ist mehr als die bloße technische Abwicklung von Projekten. Sie ist vor allem auch ein gesellschaftlicher Prozeß, in dessen Verlauf mit allen Beteiligten, auch den Regierungen, Übereinstimmung erzielt werden muß. Dies ist eine aufwendige und oft langwierige Aufgabe ohne schnelle und spektakuläre Erfolge.
Unsere langfristigen Erfolgsaussichten hierbei sind gleichwohl vielversprechend. Der Selbsthilfebericht belegt nämlich auch: Die Fähigkeit der Armen zur Selbsthilfe wurde in der Vergangenheit oft unterschätzt.
Um dieses Potential zu entfalten, müssen ihnen aber auch die erforderlichen wirtschaftlichen und politischen Gestaltungsspielräume eröffnet werden. Der Selbsthilfebericht bestätigt die Schaffung entwicklungsförderlicher Rahmenbedingungen als eine grundlegende Voraussetzung für Entwicklung. Wir haben daher Kriterien erarbeitet, um das Vorhandensein entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen noch stärker als bisher bei der Mittelvergabe zu berücksichtigen und auch um die Mittelvergabe damit transparenter zu machen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3873
Bundesminister Carl-Dieter SprangerIch möchte die Gelegenheit unserer heutigen Beratung nutzen, Ihnen diese Kriterien zu erläutern. Sie wurden bereits bei der Planung unserer Entwicklungshilfe für 1992 berücksichtigt.Zur Beurteilung der Rahmenbedingungen ziehen wir insbesondere die folgenden fünf Kriterien heran: die Beachtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, die Schaffung einer — wie die Weltbank es in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht formuliert — marktfreundlichen Wirtschaftsordnung sowie die eigenen Entwicklungsanstrengungen eines jeden Landes im Interesse der armen Bevölkerungsmehrheit.Die Beachtung der Menschenrechte ist nicht nur ein moralischer Imperativ, sie ist auch unerläßlich für die Glaubwürdigkeit einer Strategie, die den „Menschen in den Mittelpunkt" stellt.
Auch die Entwicklungsländer selbst haben sich hierzu im internationalen Rahmen bekannt. Die Freiheit von Folter, die Gewährung grundlegender Rechte bei der Festnahme und im Justizverfahren, die Verwirklichung des Grundsatzes „Keine Strafe ohne Gesetz", die Gewährung von Religionsfreiheit und ein wirksamer Minderheitenschutz sind Maßstäbe, die wir bei der Beurteilung der Menschenrechtssituation in einem Lande heranziehen.
Ein zweites Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe ist die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß.
Sie ist auch in den international vereinbarten Menschenrechtskonventionen verankert. Dabei kann es nicht darum gehen, an historischen Verfassungsmodellen ausgerichtete Maßstäbe ohne Berücksichtigung soziokultureller Unterschiede auf einzelne Entwicklungsländer zu übertragen.
Wichtig ist aber auch, daß grundlegende Elemente einer demokratischen Ordnung verwirklicht werden. Hierzu gehören eine demokratische Wahlpraxis, die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die Presse- und Informationsfreiheit.
Der Selbsthilfebericht zeigt: Selbsthilfeförderung ist auch Demokratieförderung. Sie stärkt die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten der Betroffenen und damit auch ihr Potential, sich im politischen Prozeß Gehör zu verschaffen.Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit sind das dritte Kriterium, das wir bei der Vergabe von Entwicklungshilfe berücksichtigen. Die Unabhängigkeit der Justiz und die Verwirklichung des Grundsatzes „gleiches Recht für alle" sind grundlegende Elemente einer rechtsstaatlichen Ordnung. Rechtssicherheit erfordert allerdings mehr als die Wahrung von Individualrechten. Sie verlangt, daß auch staatliches Handeln transparent und berechenbar ist. Nur auf dieserGrundlage kann sich wirtschaftliches Planen und Handeln auf einer rationalen Grundlage vollziehen und an den Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft ausrichten.Die Existenz einer — wie die Weltbank es in ihrem jüngsten Weltentwicklungsbericht formulierte — marktfreundlichen Wirtschaftsordnung ist ein weiteres entscheidendes Kriterium. Unverzichtbare Elemente sind der Schutz des Eigentums, das Prinzip des Wettbewerbs und die Preisfindung durch den Markt.Die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte gerade in den Entwicklungsländern hängen schließlich nicht unerheblich davon ab, in welchem Maße sich der Staat seiner Kernaufgaben annimmt und mit welcher Effizienz er sie erfüllt. Die Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns ist daher das fünfte Kriterium. Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns heißt insbesondere: Die Regierungspolitik muß vorrangig darauf ausgerichtet sein, die wirtschaftliche und soziale Lage der ärmeren Bevölkerungsteile zu verbessern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten und nicht zuletzt auch geeignete Maßnahmen zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums zu ergreifen.Um diese Ziele im Rahmen der Staatstätigkeit vorrangig verfolgen zu können, müssen auch die eigenen Mittel eines Entwicklungslandes prioritär hierfür bereitgestellt werden. Dies wird in vielen Ländern nicht ohne eine Reduzierung überzogener Rüstungsausgaben zu erreichen sein,
eine Herausforderung für die Politik unserer Partnerländer, an der sich die Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns bewähren und messen lassen muß.Die Initiative des BMZ, Rüstungsausgaben bei der Vergabe von Entwicklungshilfe ausdrücklich zu berücksichtigen, hat in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit bereits ein breites und grundsätzlich zustimmendes, teilweise aber auch skeptisches Echo gefunden. Ich stimme der Kollegin Walz zu, wenn sie sagt: Das ist nicht nur eine bilaterale, sondern natürlich auch eine multilaterale Aufgabe, eine Aufgabe internationaler Gemeinsamkeit.Ich möchte an dieser Stelle zweierlei betonen: Erstens. Die Berücksichtigung von Rüstungskriterien bei der Hilfevergabe kann zwar nicht das komplexe Problem weltweiter Überrüstung lösen; die Bereitschaft der Entwicklungsländer, sich an Abrüstungsmaßnahmen zu beteiligen, im Gespräch Spannungen abzubauen sowie entschlossene Maßnahmen zur Begrenzung eigener Rüstungsexporte zu ergreifen, ist jedoch unerläßlich,
um auch in den Entwicklungsländern selbst eine Entwicklungsdividende entstehen zu lassen.
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Verheugen zu beantworten?
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3874 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, ich höre sehr gerne, daß Sie die Länder der Dritten Welt zur Abrüstung auffordern. Wie können Sie dann aber erklären, daß die Bundesregierung gleichzeitig Ländern der Dritten Welt weiterhin militärische Entwicklungshilfe in Form von Ausstattungshilfe für Armeen und Polizeien anbietet?
Ich höre, daß dieses Thema jetzt noch voll in der Beratung ist. Was bei dieser Vorlage, die mir im einzelnen nicht bekannt ist, schließlich herauskommt, wird sich nach den Beratungen in den Ausschüssen ergeben.
Herr Professor Pinger wünscht auch eine Zwischenfrage zu stellen. Bitte sehr.
Herr Minister, stimmen Sie mir zu, daß auch arme Entwicklungsländer ein Recht darauf haben können, sich zu verteidigen, und daß es sinnvoll sein kann, diesen Ländern zu helfen? Stimmen Sie mir zu, daß es auch sinnvoll sein kann, eine Polizeihilfe dergestalt zu leisten, daß Entwicklungsländer in der Lage sind, Kriminalität, insbesondere Drogenkriminalität, wirksam zu bekämpfen?
Herr Professor Pinger, Sie wissen ja, daß diese Dreiecksfragen nicht erwünscht sind. Nur eine großzügige Interpretation gestattet es mir, dem Herrn Minister zu ermöglichen, daß Sie die Antwort — und zwar, wie es im Hause üblich ist, stehend — entgegennehmen.
Herr Minister, bitte.
Herr Präsident, ich war in der Lage, die vielfältigen Aspekte dieser Frage aufzunehmen. — Ich stimme Ihnen in vollem Umfange zu, insbesondere auch unter dem Aspekt der Polizeiausstattung und Polizeiausbildung, Herr Kollege Professor Pinger. Wir können nicht Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit fordern und gleichzeitig den Regierungen und den Ländern die Unterstützung beim Aufbau der entsprechenden Organe zur Sicherstellung dieser Rechtsstaatlichkeit verweigern.
Fortfahren darf ich mit der Bemerkung, daß die Anwendung unserer neuen Kriterien bei der Vergabe von Entwicklungshilfe nicht zu Entscheidungen führen darf, die den Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit in den Entwicklungsländern zuwiderlaufen. Rahmenbedingungen und Eigenanstrengungen eines Empfängerlandes sind daher entscheidend nicht nur für den Umfang, sondern vor allem auch für die Art der Zusammenarbeit.Dieser Maxime liegt die Überzeugung zugrunde, daß die arme Bevölkerung eines Landes, dessen Regierung grundlegende Menschenrechte mißachtet und dem Einzelnen Möglichkeiten zur wirtschaftlichen und politischen Entfaltung verwehrt, nicht doppelt bestraft werden darf. Im Vordergrund unserer Bemühungen, die neuen Kriterien bei der Hilfevergabe zu berücksichtigen, steht daher die Frage: Wie können wir trotz Defiziten bei einzelnen Rahmenbedingungen mit einem Land so zusammenarbeiten, daß die Lebenslage der armen Bevölkerung verbessert wird?Die Einstellung der Zusammenarbeit mit einem Land kann nur die letzte Konsequenz darstellen. Im Interesse der Menschen in den Entwicklungsländern gilt es, vor einem solchen Schritt alle Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit zunächst daraufhin zu prüfen, ob sie Möglichkeiten bieten, Armut zu bekämpfen, Bildung und Fortbildung zu fördern und die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, ohne entwicklungswidrige Rahmenbedingungen zu stabilisieren.Im Interesse der Menschen in den Entwicklungsländern zu handeln heißt auch: Sensibilität und politisches Gespür müssen unsere Gespräche mit den offiziellen Vertretern unserer Partnerländer leiten. Dies heißt keineswegs und unter gar keinen Umständen, eklatante Menschenrechtsverletzungen zu ignorieren oder sich mit entwicklungswidrigen Rahmenbedingungen abzufinden. Es heißt vielmehr: Wir müssen sorgsam das Handlungspotential unserer Partnerregierungen abschätzen und ihre Entscheidungsalternativen bewerten.Bei der Bewertung des bisher Erreichten gilt es, zweierlei zu würdigen: Erstens. In einer angespannten Haushaltslage neue Akzente zu setzen kann nicht ohne eine begrenzte Umverteilung knapper Mittel erfolgen. Dies erfordert Zeit und Sensibilität. Wir können und werden keine Entwicklungsruinen entstehen lassen!Zweitens. Die deutsche Entwicklungspolitik gestaltet sich im engen Verbund und in Abstimmung mit unseren bilateralen und multilateralen Partnern, den Nichtregierungsorganisationen und auch den Regierungen der Entwicklungsländer. Unsere bilateralen staatlichen Leistungen für ein Land sind daher immer nur eine Komponente im Rahmen eines Entwicklungsprogramms, das externe Hilfe und eigene Mittel der Entwicklungsländer in einem konsistenten Gesamtprogramm verbindet. Es ist wichtig, daß im Rahmen solcher Gesamtprogramme Schwerpunkte gesetzt werden, die das Potential der armen Bevölkerungsmehrheit in den Entwicklungsländern, sich selbst zu helfen, steigern. Die enge Zusammenarbeit staatlicher Entwicklungsinstitutionen mit Nichtregierungsorganisationen im Norden wie im Süden ist hierfür von zentraler Bedeutung.Meine Damen und Herren, das Hineinwachsen der marktwirtschaftlich reformierten Volkswirtschaften Osteuropas in die Weltwirtschaft und die angestrebte wirtschaftliche Erholung der Entwicklungsländer auf der Grundlage wirtschaftlicher und politischer Reformen werden die Verflechtung und wechselseitige Abhängigkeit von Norden und Süden weiter verstärken. Die bestehenden Unterschiede im Wohlstand, im Verbrauch natürlicher Ressourcen und in den Ent-
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Bundesminister Carl-Dieter Sprangerwicklungschancen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern sind hiermit nicht vereinbar.Die Geschichte lehrt: Politik braucht Ziele und Perspektiven,
die über eine Legislaturperiode und möglicherweise auch über ein Politikerleben hinausgehen.
Ohne eine solche Perspektive wäre eine Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas nicht möglich gewesen.
— Auch da hätte ich gern Zustimmung von Ihnen!
— Gut, sehr schön. Manchen hat diese Perspektive allerdings gefehlt.
Das Zusammenwachsen Europas muß zur Grundlage einer neuen Perspektive werden, die globales Denken und globales Handeln vereint:
den Ausgleich zwischen Norden und Süden als zentrale Herausforderung der Zukunft.Die Weltbank hat berechnet, daß eine Entwicklungsstrategie, die auf der Grundlage geeigneter Rahmenbedingungen wirtschaftliches Wachstum mit verstärkten Investitionen in den Menschen verbindet, die Zahl der in Armut lebenden Menschen von 1,1 Milliarden heute auf 835 Millionen im Jahr 2000 verringern kann — trotz anhaltenden Bevölkerungswachstums. Die Reduzierung der absoluten Armut in den Entwicklungsländern ist daher nicht nur eine Hoffnung, sie ist eine konkrete Möglichkeit.Sie zur Wirklichkeit werden zu lassen erfordert mehr als nur Entwicklungspolitik, der jedoch eine zentrale Bedeutung zukommt. Entwicklungspolitik ist nicht unabhängig vom Gesamtzusammenhang der Politik eines Landes zu sehen,
und sie darf es auch nicht sein. Um die historische Aufgabe des Ausgleichs zwischen Nord und Süd zu meistern, muß die Gesamtheit der politischen Entscheidungen der Industrieländer in zunehmendem Maße mit Programmen und Zielen der Entwicklungspolitik kohärent werden.
Die Liberalisierung des Agrarhandels, der Abbau von Protektionismus und Handelsschranken
sowie die entschlossenen Bemühungen zum Abschlußder Uruguay-Runde sind hierfür von besonderer Bedeutung und zugleich auch ein kritischer Test für unsere Fähigkeit und unseren Willen, uns mit aller Kraft für eine gemeinsame Zukunft einzusetzen.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Professor Dr. Hauchler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieviel taugt die Entwicklungspolitik der Bundesregierung wirklich? Gibt sie eine Antwort auf die globalen Probleme wachsender Armut, Umweltzerstörung und Bevölkerungsexplosion, Ausbeutung und Flucht?
Diese Frage hat zwei Seiten. Die eine ist: Stimmen die Prinzipien? Sind sie geeignet, die Entwicklungsaufgaben im Süden und auch im Osten zu lösen? — Die andere Seite ist: Meint es die Bundesregierung wirklich ernst mit den Prinzipien, die Sie, Herr Minister, verkünden?
Zum einen geht es also um die Substanz deutscher Entwicklungspolitik, zum anderen um ihre Glaubwürdigkeit.Mein Urteil lautet, kurz zusammengefaßt: mehr Schein als Sein.
Der Schein trügt, und das Sein bleibt weit hinter dem Anspruch zurück.
Ich will Ihnen das begründen. — Daß der Schein trügt, zeigen die Widersprüche zwischen dem, was der Entwicklungsminister sagt, und dem, was die Regierung tatsächlich tut.Erstens. Der Entwicklungsminister verkündet, Demokratisierung und Menschenrechte, Abrüstung und Umweltschutz seien entscheidende Konditionen deutscher Entwicklungspolitik. — Wir Sozialdemokraten wollen den Minister ausdrücklich loben, wenn er erkannt hat, daß diese Kriterien nicht nur unter humanitären und emanzipatorischen Aspekten zum eisernen Bestand des Politikdialogs gehören müssen, sondern auch wichtige Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung sind.Doch, wie gesagt, der Schein trügt. In diesem und auch im nächsten Jahr gehören weiterhin — weiterhin! — gerade jene Entwicklungsländer zu den Hauptempfängern deutscher Steuergelder, die massiv Menschenrechte verletzen,
einen demokratischen Aufbruch bremsen, hochgerüstet sind, massiv ins Waffenexportgeschäft einsteigen
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3876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Ingomar Hauchlerund den Umweltschutz nicht ernst nehmen — ein Skandal!
Ich nenne nur China, Indien, Pakistan, die Türkei und Marokko.
Auf diese Länder treffen alle diese Dinge, die ich genannt habe, mehr oder weniger zu, und daran ändern auch kosmetische Korrekturen nichts, die jetzt für 1992 im Zuge allgemein sinkender Zusagen vorgenommen wurden.
Herr Minister Spranger, was Sie uns und der Öffentlichkeit hier präsentieren, ist eine Mogelpackung!
Zweitens. Der Entwicklungsminister verkündet neue Prioritäten, eine entwicklungspolitische Offensive pro Bildung und pro Umwelt. — Gut so, verehrter Minister Spranger! Sie scheinen erkannt zu haben, daß wirksame Hilfe zur Selbsthilfe vor allem die eigenen Potentiale in den Entwicklungsländern stärken oder wenigstens erhalten muß, statt weiter isolierte Großprojekte und weiße Elefanten zu finanzieren.Doch schon wieder trügt der Schein. Für Bildung werden nur gerade 2 % mehr ausgegeben. Am Umweltschutzfonds der Weltbank will sich die Bundesrepublik gerade mal mit 38 Millionen — nicht Milliarden, Millionen! — beteiligen, und die Regenwaldprojekte kommen und kommen nicht richtig in Gang.Die Dimension und die Konzeption unserer Hilfe bleibt sowohl bei der Bildung als auch bei der Umwelt in eklatanter Weise hinter den Aufgaben, die vor uns stehen, zurück. Da stimmt wenig — außer der Rhetorik.
Deshalb: Mogelpackung Nr. 2.Drittens. Der Bundeskanzler sagt in seiner Regierungserklärung: Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu. — Er münzt dies ausdrücklich auch auf den Süden. Gut so! Wir Sozialdemokraten würden uns freuen, wenn die Dritte Welt nicht zum Steinbruch zur Finanzierung der deutschen Einheit, des Golfkrieges oder gar der Senkung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer gemacht würde.
Doch auch hier eine Mogelpackung: 1992 werden erneut die Zusagen für bilaterale finanzielle und technische Zusammenarbeit zurückgefahren. Die Zusagen wurden seit 1989 bis heute um eine Milliarde abgesenkt.
Wachsende Verantwortung? Einen weiteren Knick nach unten verhindern wohl nur massive deutsche Lieferinteressen — Lieferungen, die mit dem Geld des Steuerzahlers hoch subventioniert werden sollen. Indiesen ökonomischen China-, Indonesien- und ZaireConnections war ja insbesondere Entwicklungsstaatssekretär Lengl persönlich immer besonders hilfreich.
Die ehrenwerten Herren in CDU, CSU und FDP scheren sich offenbar wenig um das Kanzlerwort, für den Süden eine wachsende Verantwortung zu übernehmen; denn auch dort, wo die Ursachen von Elend und Flucht bekämpft werden sollen, steigen zwar die Aufgaben weiter, der Spielraum für planvoll eingesetzte deutsche Hilfe aber schrumpft zusammen.Es ist ein Armutszeugnis: Trotz massiver Ost-WestAbrüstung werden Unsummen für ein neues Jagdflugzeug verschleudert.
Die Zigmilliarden für ein gigantisches neues Straßenprogramm und für Steuersenkungen bei Großverdienern werden auch mit den Groschen der Ärmsten der Welt finanziert.
Sozialdemokraten protestieren gegen eine solche Politik der Kälte und des Zynismus.Bestimmten Prinzipien und Prioritäten, die der Entwicklungsminister verkündet, stimmen wir Sozialdemokraten ausdrücklich zu: politische Rahmenbedingungen in den Politikdialog einbringen, Bildung und Umweltschutz zu Prioritäten erheb en, wachsende deutsche Verantwortung. Doch die Praxis deutscher Entwicklungspolitik entlarvt solche Ankündigungen leider als bloße politische Rhetorik — vielleicht gut gemeint von Ihnen,
aber halt doch nur Rhetorik — , eben als dreifach geschnürte Mogelpackung.Wenn ich dies sage, so will ich allerdings Minister Spranger selbst etwas in Schutz nehmen; denn Engagement in der Sache und einige Schritte in die richtige Richtung will ich ihm nicht absprechen. Er kann sich jedoch im Kabinett offenbar genausowenig durchsetzen wie im eigenen Hause gegen seinen Parteifreund Siegfried Lengl, wenn er mit Mobuto und Li Peng Geschäfte macht. Die Glaubwürdigkeit deutscher Entwicklungspolitik gerät dabei unter die Räder. Sie wird insbesondere auch durch den Agrarprotektionismus und massive deutsche Lieferinteressen immer wieder konterkariert.Meine Damen und Herren, wir kritisieren nicht nur, daß an sich richtige Prinzipien nicht in die Praxis umgesetzt werden. Wir kritisieren auch, daß die Bundesregierung an einer entwicklungspolitischen Strategie festhält, die bereits gescheitert ist. Sie hat weder die wachsende Armut und Umweltzerstörung im Süden stoppen noch gar bisher zu einer dauerhaften Entwicklung aus eigener Kraft beitragen können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3877
Dr. Ingomar HauchlerDas alte Denken der konservativ-liberalen Koalition läßt sich auf drei Feldern exemplarisch demonstrieren: Erstens. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems hat endgültig zu einer blinden Überschätzung des Marktes und einer undifferenzierten Unterschätzung des Staates im Entwicklungsprozeß geführt.
Das ist gefährlich. Es wird verkannt, daß in Europa der Übergang von feudalen zu demokratischen Mechanismen in Wirtschaft und Gesellschaft lange Zeit brauchte und ohne den Aufbau effizienter staatlicher und sozialer Strukturen nicht denkbar gewesen wäre.
Diese Erfahrung hat die konservativ-liberale Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik offenbar vergessen oder verdrängt.Wettbewerb und Markt, unternehmerischer Geist und Privatinvestitionen gedeihen auch im Süden und im Osten nicht einfach urwüchsig auf der Wiese. Sie brauchen ein geeignetes Umfeld und bestimmte staatliche Rahmenbedingungen. Dazu gehören heute auf jeden Fall effektive administrative und rechtliche Strukturen, ein entwickeltes Bildungs-, Gesundheits- und auch Sozialsystem — denken Sie an die Bevölkerungsexplosion — , Reformen in der Land- und Einkommensverteilung, ein funktionierendes Steuersystem und ein sich aufbauender eigener Kapitalmarkt. Dies gilt übrigens auch für die Entwicklungen in Osteuropa und in der Sowjetunion.
Wir sollten dort nicht die Fehler machen, die wir seit 30 Jahren im Süden praktizieren.
Zweitens. Die Bundesregierung versäumt es, darauf hinzuwirken, daß die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen endlich so gestaltet werden, daß Entwicklungsländer faire Wettbewerbsbedingungen vorfinden, daß die Weltmarktzinsen so weit sinken, daß sich Investitionen im Süden und im Osten wieder lohnen, daß der Schuldendienst nicht zur Entwicklungsblockade wird und der Protektionismus abgebaut wird.Der Entwicklungsminister spricht zu Recht über Demokratie, politische Menschenrechte und Abrüstung. Aber er verschweigt, daß die vom Norden diktierte Strukturanpassungspolitik immer mehr Menschen im Süden buchstäblich in Not und Elend, ja oft in den Tod stürzt, also den Abbau sozialer Menschenrechte bewirkt. Wie widersprüchlich solch eine Strukturanpassungsstrategie geworden ist, zeigt die Tatsache, daß wir aus dem Entwicklungsetat zunehmend Subventionen an Entwicklungsländer zahlen, damit sie den bei uns hoch subventionierten Protektionismus wenigstens teilweise kompensieren können.
Wahrlich ein teurer Irrsinn!An dieser Front wäre der Entwicklungsminister gefordert, mehr als beim Ablichten seiner Großartigkeit — die ich ja zugebe — auf vielen Projektreisen. Er tut es nicht, aber er müßte endlich offen bekennen, daß die Strukturanpassungspolitik des IWF gar nicht funktionieren kann, weil die entscheidende Bedingung von uns selbst nicht erfüllt wird, nämlich stabile Zinsen auf niedrigem Niveau und freier Handel — statt dessen immer kleinere Pflästerchen auf eine immer größere Wunde.Das dritte Beispiel des alten Denkens dieser Bundesregierung ist der Glaube, das westeuropäische Entwicklungsmodell solle und könne nahtlos in den Süden und Osten exportiert werden, also die Vorstellung, dieses historische Modell innerhalb eines begrenzten Kulturraumes sei quasi ein ewig gültiges Blue print für Entwicklungen in allen Teilen der Welt.
— Das sagen Sie, und das ist Ihre Politik. Wann wachen Konservativ-Liberale eigentlich auf, um zu sehen, daß auch der Norden selbst umsteuern muß,
um die seit Jahrhunderten anhaltende, früher offen brutale und heute eher verdeckt schleichende Ausbeutung der Ressourcen des Südens und der globalen Umwelt zu stoppen? Die Erde hält eine Globalisierung der ressourcenfressenden, die Umwelt und die traditionelle Selbstversorgung zerstörenden Art nördlicher Wirtschaftsdynamik nicht aus; das wissen Sie wie ich.
Es ist höchste Zeit, endlich umzudenken, und zwar im gemeinsamen, auch in unserem Interesse.Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Der Entwicklungsminister verkündet Prinzipien, welche nicht umgesetzt werden, bis jetzt wenigstens nicht. Das schadet der Sache und der Glaubwürdigkeit unseres Landes im Ausland. Die Entwicklungspolitik der Bundesregierung krankt jedoch vor allem daran, daß sie aus den Fehlern der Vergangenheit fast nichts gelernt hat. Ideologische Fixierung verhindert ein Umsteuern in der Strategie. Die konservativ-liberale Koalition macht mehr denn je den Markt zum Fetisch. Sie verdrängt, daß die von uns bestimmte Weltwirtschaft Entwicklung bis heute mehr blockiert als fördert, und sie stilisiert in eurozentristischer Arroganz das westliche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zur allein seligmachenden Entwicklungsdroge.
Das ist dem Süden bisher schlecht bekommen und wird sich für uns alle in Zukunft rächen.
Herr Professor Hauchler, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Ankündigung, zum Schluß zu kommen, auch wahrmachen würden.
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3878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Jetzt bin ich am Schluß, Herr Präsident.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Hauchler, Sie haben dem Minister offensichtlich nicht zugehört. Jedenfalls hat man diesen Eindruck, wenn Sie von Mogelpackung sprechen.
Es kann doch nicht im Ernst Ihre Meinung sein, daß diese Bundesregierung nichts für globalen Umweltschutz tut. Wenn eine Regierung in der Welt in diesem Bereich etwas geleistet hat, dann ist das die von uns geführte Bundesregierung. Wir haben nur ein Problem: Wir müssen in diesem Bereich vieles nachholen, was Sie in Ihrer Regierungszeit gerade in diesem Bereich versäumt haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die heutige entwicklungspolitische Debatte findet statt — —
Herr Abgeordneter Schmidt, dies veranlaßt Herrn Professor Hauchler, Sie um die Beantwortung einer Zwischenfrage zu bitten.
Herr Kollege Hauchler, ich bin bereit, gleich mit Ihnen darüber zu sprechen, aber ich möchte jetzt gerne meine Rede fortsetzen.
Das ist Ihr gutes Recht.
Die heutige entwicklungspolitische Debatte findet statt vor dem Hintergrund dramatischer weltpolitischer Veränderungen. Die atemberaubende Umbruchphase ist in erster Linie durch eine in dieser Größenordnung nicht für möglich gehaltene Abrüstung in Ost und West und durch den weltweiten Zusammenbruch der kommunistischen Systeme gekennzeichnet. Die neue Weltlage wird auch durch den Siegeszug der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft bestimmt. Der bisher alles überschattende Ost-West-Konflikt gehört endgültig der Vergangenheit an. Diese veränderte weltpolitische Lage öffnet den Blick für die großen Herausforderungen, vor denen wir als reiche Industrienation in den nächsten Jahren stehen werden.Jeden Tag sterben in der Welt 40 000 Kinder an Unterernährung und ihren Folgen. Mindestens 500 Millionen Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika leiden an lebensbedrohlichen Mängeln und Fehlernährung. Die globale Bedrohung der Schöpfung durch die Bevölkerungsexplosion und die weltweite Umweltzerstörung wird auch für die Menschen in den reichen Industrienationen immer konkreter und offensichtlicher.
Die wirklich existentiellen Aufgaben, die wir als verantwortliche Politiker lösen müssen, liegen somit auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik. Verantwortliches Handeln heißt daher zunächst, die Entwicklungspolitik auch im Bewußtsein des Parlaments aus dem Schattendasein zu holen und an die Spitze der politischen Prioritätenskala zu stellen.
Dies heißt außerdem, daß wir der Entwicklungspolitik und dem dafür zuständigen Ministerium in Zukunft mehr Kompetenzen zubilligen müssen; denn es besteht für mich kein Zweifel daran, daß bisher klassische Felder deutscher Außen- und globaler Umweltpolitik künftig Schwerpunktaufgaben deutscher Entwicklungspolitik sein werden.
Ich will in der gebotenen Kürze einige Aspekte künftiger deutscher Entwicklungshilfepolitik skizzieren, auf die es nach meiner Auffassung ankommt, wenn wir der Verantwortung für unseren Planeten in Zukunft gerecht werden wollen. Verantwortungsbewußte entwicklungspolitische Strategien müssen in erster Linie darauf gerichtet sein, die sich abzeichnende dramatische Bevölkerungsexplosion zu verhindern. Die Weltbevölkerung wächst jedes Jahr um ca. 100 Millionen Menschen. Dieser Zuwachs entspricht ungefähr der Bevölkerungszahl Mittelamerikas. Niemand, der sich mit entwicklungspolitischen Fragen beschäftigt, bestreitet, daß sich Armut und Überbevölkerung gegenseitig bedingen.Daher muß ebenso unumstritten sein, daß Hilfe mittels Armutsbekämpfung und gleichzeitig mittels bevölkerungspolitischer Maßnahmen erforderlich ist, um den Teufelskreis von Bevölkerungswachstum, Armut und Zerstörung der Umwelt zu durchbrechen. Wenn wir dies nicht schaffen, wird jeder gutgemeinte entwicklungspolitische Ansatz scheitern, da Meine wirtschaftliche und soziale Fortschritte dann auf immer mehr Menschen verteilt werden müssen.Konkret heißt das für uns, daß wir das Für und Wider entwicklungspolitischer Projekte danach zu beurteilen haben, ob sie auch einen bevölkerungspolitischen Effekt haben. Ein solcher Effekt wird, wie wir heute auf Grund von Untersuchungen wissen, durch die Förderung von Bildungsangeboten auf breiter Basis erreicht. Deswegen ist es wichtig und ein richtiger Ansatz, wenn wir in diesem Bereich in Zukunft stärker investieren.
Die Wahrnehmung von Verantwortung in dieser Frage heißt für mich aber auch, daß wir den kritischen Dialog mit der katholischen Kirche zum Thema Emp-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3879
Andreas Schmidt
fängnisverhütung in der sogenannten Dritten Welt aufnehmen.
Nur die ökologische und soziale Marktwirtschaft kann die Lage der verarmten Länder tiefgreifend verbessern. Die sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaften sind nicht nur in Mittel- und Osteuropa gescheitert, sondern hinterlassen auch in Afrika und in Teilen Asiens eine verarmte und verelendete Bevölkerung.
Lassen Sie mich zwischendurch sagen: Es berührt mich immer komisch, wenn die PDS hier ihre alte Ideologie vertritt; denn diese Ideologie ist auch schuld an der Armut in diesen Ländern.
Wenn man sich für marktwirtschaftliche Systeme in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern ausspricht, heißt das im Umkehrschluß aber auch, diesen Ländern eine Chance einzuräumen, erfolgreich am Welthandel teilzunehmen. Um dieses Ziel zu erreichen, sind vor allem politische Veränderungen bei uns notwendig. Sehr deutlich wird dies im Bereich der Landwirtschaft. Die Agrarpolitik in Westeuropa, Kanada und in den USA hat durch Subventionierung von Agrarfabriken zu einer riesigen Überproduktion von Nahrungsmitteln geführt, die dann zu Billigpreisen in die armen Länder des Südens exportiert werden.
Die Folge ist, daß sich in den armen Ländern eigener Nahrungsmittelanbau nicht mehr lohnt. Die noch aus der Kolonialzeit stammende Arbeitsteilung, nach der der arme Süden einerseits billige Rohstoffe liefert und andererseits als Absatzmarkt dient, bleibt dadurch weitgehend erhalten.
Verantwortliche Entwicklungspolitik bedeutet, den Entwicklungsländern die Möglichkeit zu geben, veredelte Agrarprodukte in Industrieländer zu exportieren. Protektionismus der Industrienationen gegenüber den Entwicklungsländern ist nicht nur mit der Idee einer internationalen Marktwirtschaft unvereinbar. Protektionistische Schranken führen auch jede Entwicklungspolitik ad absurdum, da sie die Chancen der Entwicklungsländer zu wirtschaftlichen Gesundungen vereiteln.
Darum müssen wir alles tun, damit die GATT-Runde in Uruguay zu einer weiteren Öffnung unserer Märkte für die Entwicklungsländer führt.Verantwortung in diesem Zusammenhang heißt für uns Entwicklungspolitiker dann auch, daß wir uns in diesen Fragen sehr kritisch mit unseren Agrarpolitikern auseinandersetzen.
Ein weiterer Punkt scheint mir für eine zukünftig erfolgreiche Entwicklungspolitik entscheidend zu sein. Die bisherige Entwicklungszusammenarbeit hat vielfach die Zentralisierung in den Nehmerländerngefördert. Diese Zentralisierung hat zu einer unvorstellbaren Zusammenballung politischer und wirtschaftlicher Macht in den Großstädten geführt.Als Folge der Explosion der Städte leben immer mehr Menschen in sich ständig ausweitenden Slums. Diese Entwicklung ist für die betroffenen Menschen in den ärmsten Ländern verhängnisvoll. Denn sowenig es in den überbevölkerten Städten ein Durchsikkern der Entwicklungshilfe von oben nach unten gibt, so wenig findet bei der Zentralisierung eine regionale Streuung von Ballungszentren in die ländlichen Regionen statt. Wenn wir die Entwicklungsländer auffordern, eigene Binnenmärkte zu schaffen, dürfen wir nicht länger in die urbanen Wasserköpfe investieren, sondern müssen verstärkt dezentrale Projekte in den ländlichen Räumen fördern.
Die Erarbeitung neuer entwicklungspolitischer Strategien heißt auch, daß wir uns die Frage stellen, wer eigentlich die richtigen Partner der Entwicklungshilfeprojekte vor Ort sind. Die Vergangenheit war durch die Entwicklungshilfe geprägt, die sich bewußt einseitig an staatliche Institutionen in den Entwicklungsländern gebunden hat. Hierdurch wurden wertvolle Mittel vergeudet. Auch heute sind die Regierungen der Entwicklungsländer noch zu mehr als 90 % die alleinigen Partner der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit.
Dieser Tatbestand ist um so erstaunlicher, als feststeht, daß die staatlichen Administrationen der ärmsten Länder nicht in der Lage sind, ihre Planungs- und Verwaltungsaufgaben zu erfüllen, die vereinbarten Eigenleistungen zu erbringen und ein dauerhaftes Funktionieren der Programme und Projekte zu gewährleisten. Korruption, Machtmißbrauch und Veruntreuung von Finanzmitteln haben viele entwicklungspolitische Chancen vereitelt.
Verantwortliche Entwicklungspolitik für die Zukunft heißt auch, daß wir den Mut haben, uns zugunsten der Bevölkerung auch in die inneren Angelegenheiten der Entwicklungsländer einzumischen.
Wir dürfen die Unterdrückung kultureller und ethnischer Minderheiten nicht mit dem Hinweis übersehen, es handele sich um die innere Angelegenheit eines Staates. Wir müssen aggressive und diktatorische Staaten international isolieren und — wie es die Regierung richtig konzipiert hat — den Umfang unserer Entwicklungshilfe von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Umweltschonung und Abrüstungsbereitschaft abhängig machen.
— In China fördern wir fast nur noch Umweltmaßnahmen.
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3880 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Andreas Schmidt
Meine Damen und Herren, ich plädiere in diesem Zusammenhang für einen entwicklungspolitischen Doppelbeschluß Je demokratischer und rechtsstaatlicher ein Partnerland ist, um so intensivere und dezentralere Kontakte können wir zu ihm aufbauen und entsprechende Projekte fördern; je diktatorischer und militärisch gerüsteter aber ein Regime ist, desto flexibler und verläßlicher müssen wir die Selbsthilfe der Bevölkerung am Regime vorbei unterstützen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die internationale Entwicklungspolitik ist heute mit geradezu dramatischen Herausforderungen konfrontiert. Wir wissen, daß die Menschheit in einem Boot sitzt. Die Lösung der entwicklungspolitischen Probleme ist daher nicht nur eine moralisch-ethische Frage, sondern die Verbesserung der Lebenssituation in den ärmsten Ländern ist auch die existentielle Überlebensfrage für uns alle.Vielen Dank.
Nunmehr spricht die Abgeordnete Brigitte Adler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Achte Bericht der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik zitiert eine Studie der Weltbank von 1989, die belegt, daß die Wohlfahrtsverluste der Entwicklungsländer durch die Handelsbeschränkungen der Industrieländer im agrarischen und nichtagrarischen Bereich jährlich doppelt so hoch sind wie die Beträge, die die gesamte Dritte Welt pro Jahr an Entwicklungshilfe erhält. Im Ergebnis trägt Entwicklungshilfe dazu bei, die wirtschaftlichen Folgen der mit viel höherem Aufwand durch die Industriestaaten verursachten Entwicklungshemmnisse zu mildern.Diese Aussage zeigt deutlich auf, wo die eigentlichen Probleme der Entwicklungshilfepolitik liegen. Die Bilanz ist bis heute negativ, obwohl niemandem der gute Wille zur Hilfe für die Länder der Dritten Welt abgesprochen werden soll. Die Übereinstimmung in vielen Bereichen dieses Politikfeldes darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir alle keine wirksame Hilfe zur Selbsthilfe auf breiter Front zustande gebracht haben, wenngleich gute und wertvolle Arbeit in vielen Bereichen geleistet wird. Aber sie ist immer wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Nachhaltigkeit läßt allzuoft zu wünschen übrig.Wer oder was trägt aber die Schuld? Ist Entwicklungshilfe immer noch eine Almosenhilfe? Hat die Arbeit der Entwicklungsdienste die Länder nicht vorangebracht? Wodurch zeichnen sich gute Projekte aus? Haben sie zu dem angestrebten Strukturwandel geführt? — Fragen über Fragen drängen sich auf, wenn man den Bericht der Bundesregierung liest.Stellt der Bericht die drängendsten Probleme zwar klar und offen dar — z. B. Armut und Hunger, Bevölkerungswachstum, Fehlentwicklungen der Agrarpolitik, des Agrarhandels, der Nahrungsmittelhilfe und die Verschuldung, um nur einige Beispiele zu nennen —, so gibt die Darstellung der Bundesregierungaber zu, daß ein Durchbruch hin zum Abbruch der Massenarmut noch nicht erreicht wurde.Weiter heißt es, daß für die Überwindung der Armut gesellschaftliche Rahmenbedingungen nötig seien. Wie aber müßten solche Rahmenbedingungen aussehen, die die Entwicklungshilfe nicht als Faß ohne Boden darstellen? Wer setzt die Kriterien? Ist es richtig und gerecht, wenn wir diese Probleme mit unseren Kategorien und Kriterien zu lösen versuchen? Werden wir den soziokulturellen Bedingungen dieser Länder gerecht? Geben wir unseren Maßstab von Entwicklung vor? Was macht man mit der Feststellung des stellvertretenden Generalsekretärs der FAO, der meint, daß die Überwindung der Armut nur durch Stärkung der Kaufkraft und eine Intensivierung des landwirtschaftlichen Anbaus zu erreichen sei? Welche Intensivierung ist hier gemeint? Ewa die Fehler der Industrieländer mit Hilfe von Agrarchemie zu wiederholen? Soll das zugelassen werden, weil Nahrungsmittel vor Ort fehlen?Als ein Mangel des Berichtes zeigt sich, daß er die Ursachen der Unterentwicklung nicht tiefgreifend genug erfaßt. Es wird nicht der Teufelskreis aufgezeigt, in dem die Entwicklungsländer allzuoft gefangen sind.Es fehlt vielen Menschen in den Ländern der Dritten Welt eine landwirtschaftliche Stelle, um sich und ihre Familien zu ernähren. Deshalb besteht oft nur noch als Ausweg die Flucht in den Wald zur Brandrodung oder den Ausweg in die Slums der großen Städte. Es sollte einmal überdacht werden, ob nicht ein Recht, sich selbst zu ernähren, postuliert werden sollte.
Dies sollte für alle Menschen gelten.
In vielen Entwicklungsländern aber fehlt die Kaufkraft. Es verschlimmert die Situation, daß die Agrarindustrie mit ihren Produkten die Preise für einheimische Grundnahrungsmittel kaputtmacht, so z. B. wenn hochsubventioniertes Getreide aus der EG in die Länder der Dritten Welt exportiert wird und damit die einheimischen Grundnahrungsmittel verdrängt.Die Terms of Trade als Meßlatte für die Kaufkraft der Entwicklungsländer sind ständig gesunken. Die Länder der Dritten Welt müssen immer mehr aufwenden, um an die Güter der Industrieländer heranzukommen. Aber nicht nur die Güter, sondern auch das Know-how und die Dienstleistungen werden von den Industrieländern teuer verkauft. Ihre Interessen und die Interessen der Entwicklungsländer haben keine Übereinstimmung. Gerade die GATT-Verhandlungen zeigen dies deutlich. In Wirklichkeit setzen sich nämlich die Industrieländer, auch die Agroindustrie, gegen die Interessen der Entwicklungsländer durch. Für sie bleiben die Brosamen.Eine Menge Weltkonferenzen zeugen von viel Gesprächsbereitschaft, aber auch von nicht zu verhehlender Unfähigkeit, die Umsetzung zu bewerkstelligen. Entwicklungshilfe braucht die ressortübergreifende Akzeptanz. Auch bei uns fehlt diese. Die GATTRunde zeigt dies im Hickhack zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium, dem Landwirtschaftsministe-
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Brigitte Adlerrium und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit nur zu deutlich auf.
Die Forderung nach Strukturanspassungsprogrammen der Entwicklungsländer hat sicher etwas für sich, werden doch Umweltkriterien und sozial verträgliche Gestaltung neben harten wirtschaftspolitischen Zielsetzungen eingebracht. Aber es sind die Kriterien der OECD-Länder, in deren Reihen die Bundesregierung die Initiative ergreifen könnte, um helfende, vorwärtsbringende und nicht nur an den deutschen Exportinteressen orientierte Maßnahmen zu treffen. Das gute Gewissen erkauft man sich durch Finanzhilfen und durch technische Hilfe.Den Nicht-Regierungsorganisationen gibt man Spielräume, um sich als guter und nicht nur als dominierender Partner darzustellen. Um nicht mißverstanden zu werden: Die NGOs leisten vorzügliche, unkonventionelle Hilfe, eine Hilfe,die aber nicht alle Fehler der Vergangenheit und der Gegenwart auszugleichen vermag.Zu sehen, daß der kleine erreichte Fortschritt durch die Bevölkerungszunahme wieder aufgefressen wird, zeigt das Dilemma, in dem die unterentwickelten Länder stecken. Rahmenbedingungen wie die Reduzierung von Rüstungskosten, Bildungs- und Ausbildungsprojekte und Umweltverträglichkeitsprüfungen sind richtig, aber alleine nicht ausreichend. Gerade bei der Rüstung ist darauf hinzuweisen: Die Industrieländer haben ihre zur Verschrottung freigegebenen Waffen untergebracht. An die eigene Nase müssen wir uns fassen, bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen.
Demokratisierungsprozesse beginnen, Afrika und andere Kontinente zu verändern. „Beteiligungsrechte der Bevölkerung" nennt der Bericht diesen Vorgang. Wir sollten ihn unterstützen, ohne zu bevormunden. Denn auch bei uns müßte noch so manches in der Gewaltenteilung verbessert werden.Was aber die Projekte der Bundesregierung angeht, so zeigt sich vor Ort, daß eine Folgeabschätzung der Handlungen notwendig ist. So wird z. B. an der Elf enbeinküste ein Projekt zur Bekämpfung der Tsetse-fliege erfolgreich durchgeführt. In einer reinen Ackerbauregion wird nun Vieh gehalten. Es war versäumt worden, die Akzeptanz für diese Maßnahme in Gesprächen mit anderen Bauern in den Dörfern zu klären. Dies ist eine Kleinigkeit, durch die aber Ärger und Folgeschäden vermieden werden können.Die Begabung der Menschen besser zu nutzen, wäre, volkswirtschaftlich gesehen, dringend geboten. Bildung und Ausbildung sind das beste Startkapital eines jeden Menschen. Wenn aber die Industrieländer festlegen, daß Rohstoffe aus den Entwicklungsländern eine bestimmte Bearbeitungsstufe nicht überschreiten dürfen, nützen solche Wünsche wenig. Die Veredelung der Rohstoffe wollen die Industrieländer mit ihren Arbeitskräften und ihrem Know-how leisten. GATT soll hier Regelungen treffen, geistiges Eigenturn sichern, Patentrechte achten und Dienstleistungen von Nord nach Süd transferieren.Wie ernst Industrieländer die gleichberechtigte Partnerschaft nehmen, wird sich in dem Regelwerk des GATT ablesen lassen. Hier könnte die Bundesregierung ihre politischen Orientierungslinien praktisch umsetzen.
Die Situation der Schwächsten in diesem Prozeß zeigt, wie weit entfernt wir von der Anerkennung der Menschenwürde sind. Mit wenigen Sätzen streift der Bericht die Aids-Problematik. Frauen und Kinder sind diejenigen, die um ihr Leben betrogen werden.Ich spreche dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und allen, die sich um Entwicklungspolitik bemühen, den guten Willen nicht ab. Uns muß aber klarwerden, daß die Interessen der Länder des Nordens als Industrienationen die politische Handlungsmöglichkeit diktieren. Das heißt, nicht nur die Entwicklungsländer haben umzudenken, sondern auch wir.Punkt 2 unseres Entschließungsantrages fordert deshalb, daß wir den Entwicklungsländern nicht nur die Verhaltenserwartung des Nordens suggerieren, sondern den Entwicklungsländern hellen, ihre Interessen gegenüber der Bundesrepublik und den anderen Industrieländern zu artikulieren.Von den schönen Worten bleibt sonst nur Kosmetik. Die Bundesrepublik muß ihre moralische Verpflichtung ernst nehmen und sich nicht nur vor den Karren der wirtschaftlichen Interessen der Industrie spannen lassen. Deshalb sollte das BMZ aktiv die GATT-Verhandlungen beeinflussen und sie nicht nur dem Bundeswirtschaftsminister überlassen. Chancen gibt es genug. Nehmen Sie Ihre eigenen Aussagen ernst, helfen Sie mit, daß Entwicklungshemmnisse der Industriestaaten die Entwicklungshilfe nicht länger behindern.
Nunmehr erteile ich der Frau Abgeordneten Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage ihres ersten Selbsthilfeberichtes, des Berichtes über die Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe, kommt die Bundesregierung einer Forderung des Bundestages nach. Auf der Basis eines Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und der FDP verlangt der Bundestag in seinem Beschluß vom 10. Mai 1990 von der Bundesregierung, in einem Bericht die Folgerungen darzustellen, die sich aus der Anwendung des entwicklungspolitischen Ansatzes „Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe " ergeben, sowie die Aktivitäten der mit öffentlichen Mitteln arbeitenden Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit darzustellen und dabei auch Vorschläge für die Beseitigung von Problemen bei der
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3882 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerUmsetzung dieses entwicklungspolitischen Ansatzes darzulegen.Es ist zu begrüßen, daß durch den vorliegenden Bericht erstmals ein Überblick über die unmittelbar der Armutsbekämpfung dienenden Aktivitäten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gegeben wird.Die in dem Bericht enthaltenen Einzeldarstellungen der insgesamt 19 staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit zeigen, daß nach Auffassung dieser Institutionen mehr als die Hälfte aller Projekte der Entwicklungszusammenarbeit eine ausdrückliche Armutsorientierung aufweist, die allerdings zu einem nicht unerheblichen Teil — das muß man hier sagen — bereits vor der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages gegeben war.Es wird deutlich — die FDP-Fraktion begrüßt das — , daß das sektorübergreifende Konzept „Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe" damit zu einer zentralen Orientierungsmarke der deutschen Entwicklungszusammenarbeit geworden ist.
Der große Anteil der armutsorientierten Entwicklungszusammenarbeit ergibt sich daraus, daß in ihm alle entwicklungspolitischen Projekte zusammengefaßt sind, die mittelbar und unmittelbar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der an und unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerungsschichten ausgerichtet sind — ein Anspruch, der zumindest implizit natürlich von allen entwicklungspolitischen Aktivitäten erhoben wird.Wesentliches Kriterium für die Abgrenzung der ausdrücklich armutsorientierten Projekte von der Entwicklungszusammenarbeit im allgemeinen ist hier die Selbsthilfeorientierung der Maßnahmen, d. h. Projekte werden im wesentlichen dann als Maßnahmen zur Armutsbekämpfung bezeichnet, wenn sie in Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Selbsthilfeorganisationen der Partner durchgeführt werden oder dazu dienen, die nationalen Rahmenbedingungen für die Entstehung und Entwicklung solcher Organsiationen zu verbessern. Insofern stellt dieser Ansatz nicht einen neuen Projekttyp dar, was schon darin zum Ausdruck kommt, daß mit ihm alle volkswirtschaftlich bedeutsamen Sektoren, von der Ausbildung bis zur Wasserversorgung, gefördert werden können. Es ist aber positiv anzumerken, daß durch die Beschlußfassung des Bundestages in die Planungsprozesse der deutschen Entwicklungszusammenarbeit die generelle Forderung eingeflossen ist, dem unmittelbaren Zielbezug auf die Verbesserning der Lebensbedingungen der ärmeren und armen Bevölkerungsschichten verstärkt Rechnung zu tragen.Mit dem vorliegenden Bericht wird belegt, daß der Beschluß des Deutschen Bundestages dazu beigetragen hat, eine Umorientierung der deutschen Entwicklungspolitik herbeizuführen, d. h., an Stelle der bis in die 90er Jahre reichenden primär verfolgten Wachstumsstrategie eine Strategie zu setzen, die stärker als bisher zielgruppenorientiert an den unmittelbaren Bedürfnissen armer Bevölkerungsschichten ausgerichtet ist. — Herr Hauchler, hier zeigt sich schon, daß umgedacht worden ist und daß man angefangen hat, dies umzusetzen.
Hatte man noch bis spät in die 70er Jahre geglaubt, daß allein Wachstum des Bruttosozialprodukts in den Entwicklungsländern gewissermaßen automatisch auch den armen Bevölkerungsteilen zugute kommen würde, setzte sich die Erkenntnis durch, daß die so orientierte Entwicklungszusammenarbeit häufig auch zu extremen Einkommensdisparitäten führte.Der folgende Bericht zeigt, daß die häufig soziokulturell bedingten Gründe für die Entstehung dieser Disparitäten auch die Umsetzung des jetzt guten und richtigen Selbsthilfeansatzes erschweren. Es liegt auf der Hand, daß eine Strategie, die gewissermaßen von außen in die bestehende Einkommensverteilung eingreift, auf Ablehnung der Machteliten stößt, daß sich Regierungen in ihren Kompetenzen beschnitten sehen und eine solche Strategie tendenziell als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten auffassen.Die daraus erwachsenen Widerstände seitens offizieller Stellen und das damit häufig verbundene Fehlen selbsthilfefördernder Rahmenbedingungen sind die wichtigsten Ursachen für die Schwierigkeiten, den neuen Ansatz umzusetzen. Diese Schwierigkeiten können mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit allein nicht beseitigt werden. Beiträge zur Lösung der Schwierigkeiten müssen im entwicklungs- und im außenpolitischen Dialog mit den Partnerländern geleistet werden.
Demokratisch-partizipative Strukturen werden am ehesten durchzusetzen sein, wenn die Politiken der Geberländer aufeinander abgestimmt sind. Die FDP-Fraktion nimmt deshalb die Vorlage des ersten Selbsthilfeberichtes zum Anlaß, zu begrüßen, daß im Entwurf des Vertrages zur Europäischen Politischen Union eine europäische Entwicklungspolitik begründet wird und die Gemeinschaft sowie die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, Kohärenz zwischen ihren Entwicklungspolitiken und der gemeinsamen Außenpolitik herzustellen.
Es dürfte allerdings auch klar sein, daß der Selbsthilfeansatz allein nicht ausreicht, die entwicklungspolitischen Probleme unserer Partner generell zu lösen. Auf Grund seiner meist nur punktuellen Wirksamkeit wird er allein auch nicht dazu führen können, den Lebensstandard der armen Bevölkerungsschichten auf breiter Front zu verbessern. Er ist ein Ansatz, der insbesondere in den ärmeren Partnerländern erfolgversprechend eingesetzt werden kann, der aber durch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit, die unmittelbar mit Regierungsinstitutionen und privaten Trägerorganisationen durchgeführt werden, ergänzt werden muß.Erst recht wird der Selbsthilfeansatz nur marginal zur Lösung der Probleme beitragen können, die uns durch armutsbedingte Flüchtlingsströme insbeson-
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Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerdere aus den südlichen und östlichen Anrainerstaaten entstehen.Zur Verhinderung der heute vermutlich nur in Ansätzen erkennbaren armutsbedingten Wanderungsbewegungen werden Konzepte entwickelt werden müssen, die in ihrer Breitenwirkung, aber auch in ihrem Mittelbedarf weit über den Selbsthilfeansatz hinausgehen.Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Ich bin der festen Überzeugung, daß wir mittelfristig nicht umhinkommen, die am meisten von Armut bedrohten Länder insbesondere Osteuropas schrittweise in Systerne sozialer Grundsicherung einzubeziehen, die solidarisch und anteilig von den Ländern selbst, aber auch von den westeuropäischen Staaten finanziert werden müssen.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Achte Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung gibt mit einer knapp dreijährigen Verspätung einen Überblick über die entwicklungspolitischen Ansätze der Bundesregierung in den Jahren 1987 und 1988.Ich halte die Vorlage dieses Berichts für unzulässig spät. Denn Sinn macht eine solche Analyse doch nur, wenn als notwendig erkannte Veränderungen schnell in die praktische Arbeit umgesetzt werden können.
Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN trägt eine Reihe theoretisch richtiger Ansätze der Bundesregierung für eine Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit mit, so die Einführung der Umweltverträglichkeitsprüfung oder die Berücksichtigung der Menschenrechtssituation und des Rüstungshaushalts in den Entwicklungsländern. Wir stehen nachdrücklich hinter der Forderung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den Industrieländern tiefgreifend zu verändern.Um so mehr bedauern wir aber, daß die Bundesregierung diese theoretischen Erkenntnisse bislang nur völlig unzureichend in der konkreten Entwicklungszusammenarbeit umsetzt, daß die Praxis deutscher Entwicklungspolitik deswegen eher konventionell denn innovativ ist.Bei der inhaltlichen Analyse und der Bewertung des Berichts will ich von den üblichen Zahlenlitaneien und dem Herbeten mehrstelliger Summen absehen. Allzuoft dienen die Zahlenkolonnen doch nur der Beruhigung unseres eigenen schlechten Gewissens.Es ist völlig unzureichend, was unser reiches Land von seinem Überfluß abgibt. Das sage ich auch und gerade im Hinblick auf die östlichen Bundesländer. Niemand in Deutschland lebt so erbärmlich, so menschenunwürdig wie eine Mehrzahl der Menschen in den südlichen Ländern. Selbst die sozialistischen Slums von Hoyerswerda oder Marzahn sind Paläste gegen die Pappkartonsiedlungen, die ich in Port-au-Prince gesehen habe.Wir alle wissen doch auch, daß der Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit viel zu gering ist, um einen wirklichen Beitrag zur Veränderung der Verhältnisse zwischen Nord und Süd leisten zu können.Aber selbst bei enormer Aufstockung des Haushalts hätte die Entwicklungszusammenarbeit in der bisher praktizierten Form nur geringe Aussicht, die Situation der sogenannten Entwicklungsländer wirklich zu verbessern. Unsere eigene Ignoranz, die Ignoranz der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern, ist dabei ein Haupthemmnis.Auch wenn die Partizipation der Bevölkerung auf der Flagge eines jeden Entwicklungsprojektes großgeschrieben wird, erfahren die betroffenen Menschen zuweilen erst am Tag ihrer Umsiedlung von dem entwicklungspolitisch sinnvollen Projekt. Die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung von den ersten Planungen an, das Ernstnehmen und Einbeziehen ihres jahrtausendealten Wissensschatzes über das Land und seine Bedingungen, die Berücksichtigung ihrer Traditionen, Mythen und Bräuche, der sozialkulturellen Faktoren also, sind für den Erfolg eines Projektes eine unabdingbare Voraussetzung. Nur wenn Menschen motiviert und aktiviert werden, für sich selbst etwas zu tun, wird sich in ihren Lebensbedingungen etwas ändern.Wirksame Entwicklungspolitik bedingt Partnerschaft. Partnerschaft aber wird nur zwischen mündigen und ebenbürtigen Partnern lebendig. Deshalb ist es richtig, der Grund- und Fortbildung ein noch stärkeres Gewicht in der Entwicklungszusammenarbeit zu geben und die Zusammenarbeit zwischen den Nichtregierungsorganisationen zu verstärken.Im vorliegenden Bericht wird die Partizipation der Bevölkerung zwar sporadisch genannt; doch kaum eine der beispielhaft genannten Maßnahmen läßt eine Umsetzung dieses Ziels erkennen. Das zeigt sich insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich, wo auf einen einseitigen Know-how-Transfer gesetzt wird, — von Nord nach Süd, versteht sich.Aber gerade in diesem Bereich kann man auf Erfahrungen der einheimischen Bauern nicht verzichten. Vielen westlichen Wissenschaftlern scheint verborgen geblieben zu sein, daß sich traditionelle Anbaumethoden und landwirtschaftliche Nutzungssysteme, auch Brandrodungsbau, oftmals viel mehr im Einklang mit der Natur befinden als sogenannte entwikkelte technisierte landwirtschaftliche Modelle.
Der Ausbau von Maßnahmen zur Drogenbekämpfung ist aus meiner Sicht gleichfalls problematisch. Ganz offensichtlich werden unter dem Deckmantel der Drogenhilfe Polizei- und Ausstattungshilfe geleistet, die oft nichts anderes als Militärhilfe sind und damit die herrschenden gesellschaftlichen Mißstände konservieren und stützen.Die Bundesregierung muß sich die Frage gefallen lassen, wie sich z. B. Ausstattungshilfe an Zaire oder Indonesien mit den von ihr heute vorgestellten Indi-
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Konrad Weiß
katoren, die Vergabe der Entwicklungshilfe an den Rüstungsetat und die Situation der Menschenrechte an die Demokratisierung und den Umweltschutz in den betreffenden Ländern zu binden, vereinbaren läßt.Wie, frage ich die Bundesregierung, ist mit diesem Konzept die rücksichtslose Hilfeverweigerung gegenüber Haiti zu rechtfertigen? Da hat ein Volk nach Jahrzehnten der schlimmsten Diktatur mit überzeugender Mehrheit eine demokratische Regierung gewählt, einen Präsidenten, der, getragen vom Volk, eine christliche, soziale, demokratische Politik verwirklichen wollte. Ich hatte im Sommer die Gelegenheit, im persönlichen Gespräch mit Präsident Aristide sein Konzept für die Demokratisierung, die Errichtung einer sozial gerechten Gesellschaft und auch einer funktionierenden Marktwirtschaft — dies alles basierend auf der Theologie der Befreiung — kennenzulernen.Die Bundesregierung — das betrifft nicht in erster Linie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit — hat Präsident Aristide kalt und berechnend auch nur die geringste Hilfe verweigert.
Selbst 3 Millionen DM, die Präsident Aristide zur Wiederherstellung der Energieversorgung in Port-au-Prince erbeten hatte und die an ein deutsches Unternehmen zurückgeflossen wären, das lieferbereit war, selbst diese geringe Hilfe hat Deutschland den Menschen in Haiti verweigert.
Das ist Schlichtweg ein Skandal.Ich klage die Bundesregierung an, gemeinsam mit anderen europäischen Staaten mitschuldig geworden zu sein am Sturz der Demokratie in Haiti.Es liegt wohl auch am geringen Stellenwert, den Entwicklungspolitik innerhalb der politischen Interessenlandschaft hat, wenn sich so wenig verändert. Schon die Lobby der Landwirte reicht aus, um die Interessen der Entwicklungsländer vergessen zu machen. Im Bericht heißt es — ich zitiere — :Eine 1989 erschienene Studie von Weltbank und IWF belegt, daß die Wohlfahrtsverluste der Entwicklungsländer durch die Handelsbeschränkungen der Industrieländer im agrarischen Bereich jährlich doppelt so hoch sind wie die Beträge, die die gesamte Dritte Welt an Entwicklungshilfe erhält.Ich wiederhole: ,,... jährlich doppelt so hoch sind wie die Beträge, die die gesamte Dritte Welt pro Jahr an Entwicklungshilfe erhält" !
Im Ergebnis trägt die Entwicklungshilfe dazu bei, die wirtschaftlichen Folgen der mit viel höherem Aufwand durch die Industriestaaten verursachten Entwicklungshemmnisse zu mildern.Auch in der aktuellen Uruguay-Runde drohen die Verhandlungen wieder am Agrar-Streit zu scheitern.In dieser Woche erst wurde gemeldet, daß Bundesfinanzminister Waigel gemeinsam mit seinem britischen Kollegen in Luxemburg einen Schuldenerlaß zugunsten der ärmsten Länder blockiert hat. Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN verurteilt diese Hilfeverweigerung der deutschen Regierung.Die Schuldenkrise und die Situation der Umwelt zeigen sehr deutlich, daß nicht nur Strukturanpassungsprogramme mit harten sozialen Konsequenzen gefordert sind, sondern eine grundlegende Veränderung der von den Industrieländern diktierten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. In dem behandelten Zeitraum — ich beziehe mich erneut auf den Bericht — flossen auf Grund der notwendigen hohen Schuldendienstzahlungen jährlich mehr Mittel von den hochverschuldeten Entwicklungsländern an die Gläubigerländer als umgekehrt.Solange das politische Selbstverständnis der Bundesregierung es zuläßt, daß die Entwicklungspolitik als verlängerter Arm der Handels- und Sicherheitspolitik mißbraucht wird und sie im besten Fall als Notpflaster agieren kann, bleiben entwicklungspolitische Strategien letztlich wirkungs- und sinnlos.Die Bundesregierung hat nächstes Jahr Gelegenheit, sich auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München und auf der Konferenz Umwelt und Entwicklung in Rio für eine wirklich neue Weltwirtschaftsordnung — das heißt immer auch für die Zukunft der Entwicklungsländer und für unsere eigene Zukunft — einzusetzen. Ich hoffe, daß aus den Worten Taten werden.Vielen Dank.
Herr Abgeordneter Jürgen Augustinowitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Hauchler, Ihre Rede heute hat sich von den anderen vor allen Dingen dadurch abgehoben, daß Sie eine sehr aggressive Sprache gewählt haben.
Ich finde es immer wieder interessant, Sie hier im Parlament und im Ausschuß zu hören. Im Ausschuß gefallen Sie mir sehr viel besser, weil Sie sich dort durch die Ihrer Person eigene Sachlichkeit auszeichnen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit finanzielle und technische Entwicklungszusammenarbeit überhaupt zu einem Nutzen für die Entwicklungsländer führen können, sind bestimmte Rahmenbedingungen erforderlich. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen.Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die durch den Marshallplan bereitgestellten Gelder auch deshalb zu einer schnellen Entwicklungsdynamik, weil die For-
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Jürgen Augustinowitzderungen der Geberländer erfüllt worden waren, bestimmte Rahmenbedingungen zu schaffen, nämlich eine marktwirtschaftliche und eine parlamentarischdemokratische Grundordnung. Eine Grundannahme, von der man sich leiten lassen darf, lautet demnach, daß es einen Zusammenhang zwischen politischen Freiheiten, wie sie eine Demokratie bietet, und sozialer Entwicklung gibt. Da, wo Partizipation des Volkes an politischen Entscheidungen möglich ist, wird es schneller zu einer erfolgreichen Entwicklungszusammenarbeit kommen.Diese einleuchtende Grundthese macht deutlich, wie wichtig und sinnvoll es ist, Kriterien für die Vergabe von Entwicklungshilfegeldern zu finden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es daher sehr, daß die Bundesregierung ihrer Pflicht nachgekommen ist und nun in der Entwicklungszusammenarbeit noch mehr und verstärkt darauf achtet, daß nicht gegen wichtige Kriterien verstoßen wird. Ich nenne hier nur die Stichworte Umwelt, Einhaltung der Menschenrechte, marktwirtschaftliche Ordnung, Rüstungspolitik der Empfängerländer und demokratische Entwicklung. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: Weltinnenpolitik der Zukunft muß Demokratiepolitik sein.
Seit einiger Zeit ermöglicht es der Wegfall des Ost-West-Konflikts, neu zu gewichten. Dabei möchte ich den Zusammenhang zwischen der Vergabe von Entwicklungshilfegeldern und der Rüstungspolitik der Empfängerländer herausstellen. Natürlich hat jeder Staat ein Recht auf Selbstverteidigung. Wenn allerdings mit Waffengewalt bzw. deren Androhung Demokratiebestrebungen im Inneren eines Staates — z. B. aktuell in Haiti — oder eine aggressive Außenpolitik unterstützt werden, muß man die Frage nach der Verantwortung der Länder stellen, die eine solche auf Waffengewalt gestützte Politik gegen das eigene Volk oder gegen andere Völker betreiben. Es kann und darf nicht das Interesse des deutschen Steuerzahlers sein, daß die Gelder Deutschlands, die den Menschen zugute kommen sollen, indirekt in Rüstungsprojekte fließen. Diese Fehlleitung von Ressourcen kann auch projektgebundene Entwicklungshilfe nicht verhindern, weil dadurch die Entwicklungsländer indirekt Gelder für Rüstungsgüter freimachen können.Die Transparenz des Haushalts der Empfängerländer ist daher besonders anzumahnen. Häufig übersteigen die Ausgaben für Rüstung den Haushalt für das Bildungs- und Gesundheitswesen. Bildung ist aber eine unerläßliche Bedingung dafür, daß solche Projekte wie Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe greifen können. Die Beschlußempfehlung des AWZ zum Achten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung nimmt dieses Thema auf und fordert nachdrücklich, daß die Bundesregierung darauf achtet, daß in zukünftigen Berichten die Einhaltung der Menschenrechte sowie die Reduzierung übermäßiger Rüstungsausgaben enthalten sein müssen und thematisiert werden. Die Rahmenplanung 1992 für den Bundeshaushalt zeigt, daß erste Schritte in dieser Richtung bereits unternommen worden sind. So sind u. a. wegen übermäßiger Rüstungsausgaben die Ansätze für die Volksrepublik China, für Indien und für Pakistan zurückgefahren worden. Das sollte doch die Zustimmung des ganzen Hauses finden.
Die Bundesregierung hat sich also diesem Problem gestellt. Meine Fraktion kann Bundesminister Spranger nur ermutigen, das Kriterium Rüstung eines Entwicklungslandes bei der Hilfevergabe weiterhin in die Überlegungen einzubeziehen. Allerdings muß sich die gesamte Bundesregierung anschließend auch an ihren eigenen Worten messen lassen; ich sage bewußt: die gesamte Bundesregierung.
Wichtig ist hierbei, daß diese Kriterien auch umsetzbar sein müssen. Nicht umsetzbare Kriterien sind schlechter als überhaupt keine.Durch eine Sicherheitsgarantie der Vereinten Nationen wären zudem manche Staaten in der Lage, den heute hohen Rüstungsetat zu reduzieren und diese Friedensdividende für ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung einzusetzen.Auch wir müssen unsere notwendigen verfassungsrechtlichen Klärungen hierzu treffen. Ich fordere die Opposition auf, hier endlich zuzustimmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer.
Ich möchte im Zusammenhang vortragen.In diesem Sinne plädiere ich für eine pragmatische Entwicklungspolitik, die zumindest der Erkenntnis Rechnung trägt, daß die Entwicklung eines Landes auch von innenpolitischen Faktoren abhängt.Zusammengefaßt heißt das: Mit Rahmenbedingungen, die wir als Geberland vom Partner in der Entwicklungszusammenarbeit erwarten, ist nun einmal die Überrüstung eines Landes nicht zu vereinbaren. Um die Bewertung der Kriterien, wann die Rüstungspolitik eines Landes übermäßig ist, wird es Streit geben. Aber ich hoffe, wir können uns auf mindestens drei Punkte einigen:Erstens. Die Staaten, in denen die Streitkräfte in erster Linie diktatorische Regime und ihre Eliten an der Macht halten, sollten mit der Ausrede der legitimen Sicherheitsbedürfnisse bei uns keinen Erfolg haben.
Zweitens. Die Militärhaushalte müssen auch in den Entwicklungsländern offengelegt werden.
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Jürgen AugustinowitzDrittens. Sosehr wir Aufrüster meiden, so deutlich sollten wir die Abrüster unterstützen.
Panama und Nicaragua z. B. haben in der jüngsten Zeit bedeutende Abrüstungsschritte unternommen und folgen dem Beispiel Costa Ricas.Für die Industrieländer ist eine Selbstbeschränkung beim Rüstungsexport erforderlich.
Erst sie rechtfertigt, Gleiches von den Rüstungsexporteuren unter den Entwicklungsländern zu fordern.Ich habe bisher nur von der bilateralen Zusammenarbeit gesprochen. Es ist natürlich genauso selbstverständlich, daß wir unseren Einfluß auch in der multilateralen Zusammenarbeit geltend machen und das Thema Rüstung und Entwicklung fortwährend in den internationalen Politikdialog einbringen müssen.
So ist eine Einflußnahme in der Weltbank, in den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, im IWF usw. notwendig.Wir sollten dabei auch berücksichtigen, daß wir mit einem solchen Verhalten eine vorhandene Opposition in den Ländern mit Überrüstung stärken. Dies käme einer demokratischen Mindestforderung gleich.Entwicklungspolitik ist eine humanitäre Herausforderung. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen, um unserem Auftrag gerecht zu werden, am Aufbau einer gerechteren Weltordnung mitzuwirken. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt das Ansinnen der Bundesregierung, dem Instrument Entwicklungshilfe eine herausragende Bedeutung in diesem Zusammenhang zukommen zu lassen.
Ein letztes Wort: Heute wird im Bundeskanzleramt zum Thema Asyl diskutiert. Wir sind uns über einige Dinge nicht einig. Aber einig sind wir uns, daß der Kernpunkt in der Hilfe dort liegen sollte, von wo die Menschen zu uns kommen.
Wir sollten gemeinsam all diejenigen, die sich heute, gestern und vorgestern zu dieser Frage geäußert und immer wieder gesagt haben, das sei der richtige Weg, auch bei den zukünftigen Haushaltsberatungen beim Wort nehmen und sie um Unterstützung bitten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Günter Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht ungewöhnlich, daß sich ein Außenpolitiker in einer entwicklungspolitischen Debatte zu Wort meldet, es sollte aber nicht ungewöhnlich sein, sondern es sollte in Zukunft die Regel werden — und umgekehrt übrigens auch — , weil wir Entwicklungspolitik undAußenpolitik nicht mehr so scharf trennen dürfen, wie das in der Vergangenheit der Fall war.Wir diskutieren heute nämlich auch über die Verantwortung des vereinten Deutschland in der Welt. Ich meine, daß von dieser Debatte auch ein außenpolitisches Signal ausgehen sollte, ein Signal an die Länder der Dritten Welt, zumal die Armen und die Armsten mehr und mehr die Gefahr sehen, daß sie aus unserem Blickfeld verschwinden. Ganz Afrika fühlt sich marginalisiert, an den Rand gedrückt, nicht mehr wahrgenommen. Das gilt auch für andere Teile der Welt. Ich finde, eine solche Debatte ist eine gute Gelegenheit, zu zeigen, daß wir bei all den enormen, wichtigen und großen Aufgaben, die wir im eigenen Land und vor unserer Haustür zu erledigen haben, unsere Verantwortung gegenüber den anderen Teilen der Welt nicht vernachlässigen wollen, sondern daß wir dazu stehen und daß wir sie fortsetzen.Das ist auch vor allem deshalb so wichtig, weil unsere ganz unmittelbaren, eigenen Interessen betroffen sind. Wir diskutieren dieses Thema nicht aus der Position von jemandem, der ganz uneigennützig nur anderen helfen will, sondern wir wissen alle sehr genau, daß die Fortsetzung der Entwicklungstendenzen der letzten zehn Jahre auch für uns in den reichen Industriestaaten eine existentielle Gefahr bedeuten würde. Diese Entwicklungstendenzen sind hier mehrfach angesprochen worden; ich nenne die Stichworte noch einmal: Verelendung, Umweltzerstörung, zunehmende ethnosoziale Konflikte innerhalb von Staaten und zwischen Staaten, Flüchtlingsströme, Bevölkerungsexplosion, Menschenrechtsverletzungen gegenüber einzelnen, gegenüber Gruppen und gegenüber ganzen Völkern.Zusammengenommen ist das ein sozialer und politischer Zündstoff, der sich eines Tages auch in einer Weise entladen könnte, die für uns sehr schwierig und sehr unangenehm werden wird. Die Vorboten erleben wir ja bereits: Was wir in den letzten Wochen unter der falschen Überschrift „Asyl" diskutiert haben, ist in Wahrheit nichts anderes als die Ankündigung einer neuen Völkerwanderung, mit der wir fertig werden müssen, auf die wir uns einzustellen haben.Deshalb fordern wir und treten ein für die bessere Koordinierung von Entwicklungspolitik und Außenpolitik. Das ist auch gerade heute möglich und notwendig, weil die neue Weltlage, die auch schon erwähnt worden ist, ganz neue Chancen, Perspektiven und Möglichkeiten der Entwicklungspolitik eröffnet. Ich denke, wir stimmen darin überein, daß in der Vergangenheit, in der Zeit des Ost-West-Konflikts, auch die Entwicklungspolitik nicht davor bewahrt geblieben ist, im Zusammenhang mit diesem Konflikt instrumentalisiert zu werden. Das mag man nicht gern hören, aber es ist ein Faktum, daß die Entwicklungspolitik auch damit etwas zu tun gehabt hat, wem man aus außenpolitischen Gründen helfen wollte und wem nicht, und daß Kriterien, die auch in der Vergangenheit gegolten haben, durchaus unterschiedlich angewandt worden sind, nämlich ob ein Land zum westlichen Lager gehörte, oder ob es im Verdacht stand, im östlichen Lager zu stehen, oder gar den Versuch gemacht hat, neutral zu sein, was manchmal als noch schlimmer empfunden worden ist.
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Günter VerheugenDies hat alles keine Existenzberechtigung mehr, und es hat auch keinen großen Sinn mehr, heute noch darüber zu reden, ob das nun richtig oder falsch war, moralisch verwerflich oder außenpolitisch notwendig. Es ist vorbei, und wir müssen in unsere Köpfe aufnehmen, daß es vorbei ist und alle diese Kriterien hinfällig sind.Damit soll auch die Zeit vorbei sein, wo unsere Außenpolitik und auch unsere Entwicklungspolitik ohne Rücksicht auf den Charakter von Systemen und Regierungen Hilfe auch dort geleistet hat, wo die Armutsbekämpfung im wesentlichen darin bestand, daß der Präsident und seine Clique in einem Land ihre Armut bekämpft haben, — das allerdings sehr oft sehr erfolgreich; das muß ich zugeben.Da sind Systeme und Machteliten aus außenpolitischer Rücksichtnahme gehalten worden; das war uns immer sehr peinlich. Am deutlichsten hat das, glaube ich, einmal Präsident Kennedy in den 60er Jahren in bezug auf Somoza gesagt. Er hat gesagt: Er ist zwar ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund. — Herr Präsident, ich habe das jetzt etwas frei übersetzt, weil Kennedy in dem Zusammenhang eine Sprache benutzt hat, die nicht parlamentsfähig ist. Es war noch etwas schlimmer.
Die amerikanische Politikersprache, Herr Kollege, ist nicht immer parlamentsfähig.
Wir beide kennen sie, Herr Präsident.
Ich möchte hier gern an das anschließen, was Herr Bundesminister Spranger über die Kriterien gesagt hat. Das ist ja nun seit einigen Jahren eine weltweite Diskussion. Ich fand es gut, Herr Bundesminister, daß Sie von Kriterien und nicht von Konditionen gesprochen haben. Das ist wichtig. Der Begriff Kriterien bedeutet, daß wir uns ein Muster, einen Rahmen machen, nach dem wir unsere Entscheidungen treffen. Das hätte immer schon so sein müssen, und so war es im Prinzip ja auch.
Jetzt gelten andere Kriterien. Ich schließe nicht aus, daß wir dabei in ein moralisches Dilemma geraten können. Wenn wir das, was Sie, Herr Spranger, gesagt haben, sehr ernst nehmen, kann das in der Tat dazu führen, daß man in Einzelfällen sagt: Mit diesem Land arbeiten wir nicht zusammen.
Das Ergebnis wäre, daß die Menschen in diesem entsprechenden Land, die ohnehin schon von einem blutsaugerischen, erpresserischen und ausbeuterischen System bedrängt werden, noch einmal bestraft werden, wenn wir ihnen nicht mehr helfen. Diese Gefahr muß vermieden werden. Das heißt, daß es noch sehr viel mehr als in der Vergangenheit auf die Auswahl der Projekte, die wir betreiben, ankommt.
Wenn man die Kriterien zugrunde legt, die Sie, Herr Bundesminister, hier genannt haben, ist das ein hoher Anspruch, der Glaubwürdigkeit bei unserem eigenen Handeln verlangt. Da sehe ich noch etwas Nachholbedarf. Ich glaube, daß wir noch etwas glaubwürdiger werden, wenn wir beispielsweise in der Frage der Menschenrechte endgültig damit aufhören, doppelte Standards zugrunde zu legen. Es sind immer noch doppelte Standards vorhanden. Natürlich wird China in der Staatengemeinschaft anders behandelt, als etwa Zaire zur Zeit behandelt wird. Ich begrüße die harte Hand gegen Zaire sehr. China als Großmacht und Mitglied des Weltsicherheitsrats kann sich Dinge leisten, die sich andere nicht leisten können.
Ich könnte noch sehr viel verfänglichere und gefährlichere Beispiele bringen. Ich wollte nur das Problem deutlich machen. Doppelte Standards können wir nicht dulden.
Wir sollten auch nicht — ich habe versucht, das eben in der Zwischenfrage auszudrücken — Abrüstung verlangen und gleichzeitig weitere militärische Ausstattungshilfe leisten. Die militärische Ausstattungshilfe ist ein Relikt des Kalten Krieges. Dafür gibt es keine Rechtfertigung mehr.
Herr Bundesminister, Sie sind vom Auswärtigen Amt bei der Aufstellung des neuen Dreijahresplans nicht einmal beteiligt worden. Sie haben uns auf Ihrer Seite, wenn Sie vom Auswärtigen Amt verlangen, daß die entwicklungspolitischen Kriterien mit einbezogen werden. Sie haben uns auch auf Ihrer Seite, wenn Sie verlangen würden, daß wir statt militärischer Ausstattungshilfe beispielsweise die humanitäre Hilfe oder die Demokratisierungshilfe in den ärmsten Ländern Afrikas oder Lateinamerikas verstärken. Sie können sich da gern auf die Opposition berufen.
Sie würden noch glaubwürdiger, Herr Bundesminister, in Ihrer Forderung nach einer Marktorientierung in den Ländern, denen wir helfen wollen, wenn Sie oder Ihre engsten Mitarbeiter darauf verzichten würden, in diesen Ländern staatsinterventionistisch einzugreifen, indem beispielsweise Ihr Staatssekretär nicht immer genau erkennen läßt, wo eigentlich der Unterschied zwischen der Vertretung von Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Vertretung von Interessen bayerischer Konzerne liegt. Machen Sie ihm bitte einmal klar, daß das nicht zusammenpaßt.
Herr Kollege Verheugen, Ihre Redezeit ist schon ein Stück überzogen.
Ich hätte gern noch etwas über das Mehrparteiensystem und die Demokratisierung gesagt. Mir ging es darum, Ihnen deutlich zu machen, daß wir stärker als in der Vergangenheit gerade in dieser neuen Weltlage und einer Zeit, da wir unsere Rolle in der Außenpolitik neu definieren und suchen, die Entwicklungspolitik auch in außenpolitische Überlegungen und Konzeptionen einbeziehen müssen.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Christian Ruck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einige Anmerkungen zum umweltpolitischen Teil des achten Ent-
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Dr. Christian Ruckwicklungsberichts machen. Er zeigt die dramatische großflächige Zerstörung der Natur in den Entwicklungsländern und ihre katastrophalen Folgen regional, national und global. Er zeigt schonungslos, daß auch die Industrienationen in hohem Maße dafür mitverantwortlich sind und daß ohne unser Zutun ein Gegensteuern nicht mehr möglich ist. Er schildert auch das wachsende Bewußtsein für die Probleme in Nord und Süd.Das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat, Herr Professor Hauchler, die Zahl seiner Projekte zum Schutz der natürlichen Ressourcen in der Dritten Welt in der Vergangenheit natürlich eindrucksvoll erhöht. Wir nähern uns inzwischen einem Drittel des Etats, und dies oft — das muß man auch einmal sehen — ohne Begeisterung seitens der begünstigten Partnerländer. Der Bundeskanzler hat die Erhaltung der Schöpfung weltweit als internationales Thema durchgeboxt, wofür ich ihm noch einmal an dieser Stelle herzlich danke.
Meine Damen und Herren, der Kampf hat erst begonnen. Der Bericht macht auch deutlich, wie eng die dauerhafte Erhaltung der Schöpfung mit der langfristigen Bekämpfung der Armut und der krassen sozialen Ungerechtigkeit in der Dritten Welt mit der Förderung des Umweltbewußtseins und mit einer effizienten Entwicklungspolitik seitens des Nordens verflochten ist. Wer mit seiner Familie vor dem Nichts steht, kann keine Gedanken an die Vielfalt der Schöpfung oder die Probleme des Klimawandels verschwenden.
Wir können doch andererseits nicht abwarten, ob und bis langfristige Umweltstrategien greifen. Für viele Ökosysteme in den Entwicklungsländern ist es dann zu spät. Außerdem sitzt uns mit Recht die Umweltkonferenz in Brasilien 1992 im Nacken — eine historische Chance für uns und unsere Umwelt, die wir nutzen müssen.
— Was wir auch tun, genau.
— Natürlich, natürlich, ich bin da guter Hoffnung.Deshalb noch einige Anmerkungen, meine Damen und Herren, für ein rasches Handeln in nächster Zeit.Erstens. Wir müssen gemeinsam bis zur Konferenz in Rio mit unseren eigenen Konzepten zur Bekämpfung des hausgemachten Treibhauseffektes zu Stuhle kommen, um glaubwürdig zu sein. Außerdem müssen wir überzeugend versichern können, daß der Norden bereit ist, den Entwicklungsländern die positiven und globalen Effekte des Tropenwaldschutzes zu vergüten.Wir müssen zweitens die Umweltverträglichkeit deutscher Projekte und solcher mit deutscher Beteiligung noch stärker als bisher durchleuchten. Stichwort: Staudämme.Wir müssen drittens die Zahl unserer integrierten Schutzprojekte erhöhen. Projekte also, die mit der dort lebenden Bevölkerung zustande kommen und ihr gerade durch Erhalt der Umwelt Einkommensquellen aus der Überwachung, dem Tourismus, der Forschung oder der nachhaltigen Wald- und Tiernutzung verschaffen. Gerade auch in unserer eigenen Entwicklungs- und Projektpolitik gibt es dazu eine ganze Reihe von hervorragenden und höchst erfolgreichen Prototypen.Viertens. Wir müssen unsere Projektpolitik flexibler machen. Es ist ein Drama, meine Damen und Herren, daß große Finanzmittel blockiert sind, weil viele Länder mit ihrer Projektsuche nicht vorankommen, während die Zeit davon läuft. Andererseits haben örtliche und bewährte internationale Umweltorganisationen überall geeignete Projekte, aber zuwenig Geld. Auch hier sollten wir uns trauen, gewisse Steuermittel in die Hände kompetenter Nichtregierungsorganisationen zu legen.
Wir müssen fünftens versuchen, die Zahl der Umweltexperten in den Entwicklungsländern zu erhöhen, die mithelfen, eine geordnete Raumplanung und Umweltgesetzgebung zu erarbeiten und durchzusetzen. Hierzu könnten wir z. B. die Zahl der ausländischen Stipendiaten in den einschlägigen Disziplinen erhöhen und stärker als bisher unseren jungen Männern die Möglichkeit geben, anstatt des Wehrdienstes Umweltdienst in der Dritten Welt nach Beendigung ihrer Ausbildung zu leisten.Schließlich müssen wir sechstens noch stärker als bisher versuchen, unsere umweltpolitischen Leitgedanken international durchzusetzen. Es nützt nämlich nichts, wenn wir um jedes Stückchen Tropenwald kämpfen und Japan fast hemmungslos Südostasien kurz und klein holzt.
Es nützt auch nichts, wenn wir uns mit großen Finanzmitteln an Tropenwaldaktionsplänen beteiligen und diese statt den Schutz der Wälder die Abholzung fördern. Es nutzt auch nichts, wenn die Weltbank zwar eine globale Umweltfazilität einrichtet, mit ihren anderen Projekten aber ihre eigenen Umweltbestrebungen konterkariert.In diesen Punkten, meine Damen und Herren, glaube ich, sind kurz- und mittelfristig die größten Anstrengungen zu tätigen. Wir sollten sie gemeinsam unternehmen.Als Neuling im Bundestag darf ich sagen, daß ich dankbar bin für die Rückendeckung meiner Arbeitsgruppe und der Politiker, die Beamten im BMZ gerade in diesen Fragen und auch für den kooperativen Geist, der im Entwicklungsausschuß herrscht. Wir bewegen hier weltweit nur etwas, wenn wir zusammen engagiert handeln und wenn auch die verschiedenen Ressorts unbürokratisch an einem Strang ziehen. Dies sind wir in einer entscheidenden Phase der globalen Umweltdiskussion nicht nur der Erhaltung der Schöp-
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Dr. Christian Ruckfung schuldig, sondern auch den zukünftigen Generationen von Menschen.
Herr Kollege Dr. Werner Schuster, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Arzt lernt man, in seinem Leben zwei Wahrheiten zu schätzen: Erstens. Ohne richtige Diagnose gibt es keine richtige Therapie. Zweitens. Patienten sind grundsätzlich nur an richtiger Therapie interessiert. Was würden Sie, meine Damen und Herren, von Ihrem Hausarzt halten, wenn Sie nach einer gewissen Zeit feststellen müßten, daß er sich zwar redlich um Diagnostik bemüht, Ihnen aber wichtige Ergebnisse nur teilweise mitteilt und bei seinen therapeutischen Konsequenzen schlicht „Fehlanzeige" ausweist? Ich bin sicher, Sie würden um Ihrer selbst willen den Hausarzt in kürzester Zeit wechseln.
Genauso ging es mir, als ich den Achten Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung gelesen habe: unvollständige Diagnostik, Vorenthaltung wichtiger Erkenntnisse und praktisch keine therapeutischen Vorschläge. Richtig stutzig wurde ich erst dann, als ich beim Nachlesen der gleichen, vor zwei Jahren geführten Diskussion zum siebten Bericht feststellen mußte, daß mein Kollege Schluckebier bereits damals für die SPD dem Grunde nach die gleichen betrüblichen Feststellungen machen mußte.
Manche von Ihnen wissen, meine Damen und Herren, daß ich vor vielen Jahren in Tansania geboren bin und sehr emotionale Beziehungen dorthin habe. Was soll ich eigentlich meinen schwarzen Freunden
— das, meine Damen und Herren, sind die einzigen Schwarzen, die mich wirklich lieben —
in dieser Situation raten? Die Menschen im Süden können ihren Arzt leider nicht wechseln.
Auf einer Tagung von ostdeutschen NGOs wurde kürzlich formuliert: Wir sind in der Entwicklungspolitik nicht wahrhaftig; die süßen Worte überwiegen. — Das gilt nicht nur, Herr Spranger, für Ihren Bericht, sondern das gilt auch für alle politischen Parteien.
Die Wahrheit ist doch, daß sich die Situation in den meisten Entwicklungsländern in den 80er Jahren drastisch verschlechtert hat. Die Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen zwischen den reichen Ländern im Norden und den armen im Süden haben sich vergröBert und nicht verkleinert — trotz der fast 55 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe im letzten Jahr. Für Schwarzafrika reden alle Entwicklungsexperten — egal, welcher Couleur — von einem verlorenen Jahrzehnt, nur der achte Bericht nicht.Die Wahrheit ist, daß Finanzströme von Norden nach Süden zu einem reinen Bankgeschäft verkommen sind. Der Kapitaltransfer von Norden nach Süden belief sich 1990 nach OECD-Angaben — nicht nach Angaben von Jusos — auf 142 Milliarden Dollar. Dem stand ein Schuldendienst von 162 Milliarden Dollar gegenüber, d. h. ein Negativsaldo von 20 Milliarden Dollar. Eine Rendite von 12 % ist ein Wort für jede Bank!Hinzu kommen die vielzitierten Wohlfahrtsverluste durch unseren Protektionismus. Die unverdächtige Weltbank beziffert diese Verluste — das ist hier mehrfach gesagt worden — auf 100 Milliarden Dollar. Die jährlichen Wohlfahrtsverluste sind doppelt so hoch wie die gesamte Entwicklungshilfe.Die Wahrheit ist also: Wir im Norden beuten die im Süden aus und leben auf deren Kosten. Wenn wir diese Wohlfahrtsverluste konsequent abbauen würden, könnte der Süden seine Schulden in Höhe von 1,4 Billionen Dollar spielend selbst bezahlen. Auch diese Konsequenz verschweigt der achte Bericht.Die Wahrheit ist, daß für viele Großprojekte in der Dritten Welt, für die wir uns öffentlich loben lassen, immer noch gilt: Kein Geld wäre besser als falsches Geld.
Darauf hat Frau Erler schon vor vielen Jahren hingewiesen. Jeder von uns kennt solche Ruinen — hier darf ich an viele gemeinsame Diskussionen im AwZ erinnern — , aber wir haben nicht den Mut, sie auch als solche zu entkleiden. Für die notwendige Bildung und Ausbildung in der Dritten Welt ist andererseits nicht genügend Geld vorhanden.Für mich war der prägendste Eindruck bei Diskussionen mit professionellen Entwicklungshelfern vor Ort, daß diese meine Einschätzungen meistens teilen. Ich frage mich, warum ich solche Kritik nicht auch in den offiziellen Papieren wiederfinde.
Wahr ist auch, daß die berühmte Friedensdividende mittlerweile in aller Munde ist. Aber ihr praktischer Niederschlag im Sinne einer umfassenden Umschichtung vom Verteidigungshaushalt in den Entwicklungsetat, von Stoltenberg zu Spranger, hat weder im letzten Jahr noch in diesem Jahr stattgefunden.Wahr ist auch, daß wir dem selbstgesetzten Ziel von 0,7 % öffentlicher Entwicklungshilfe auch in zehn Jahren nicht nachgekommen sein werden und dankbar unsere Wiedervereinigung hierfür als Alibi vorschieben können.Wahr ist auch, meine Damen und Herren, daß die Entwicklungspolitik hier im Bundestag — außer bei
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3890 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. R. Werner SchusterSonntagsreden — in der Praxis keine Rolle spielt. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit spielt weder in der Öffentlichkeit noch in unseren Fraktionen eine entscheidende Rolle. Die Haushälter bestimmen die Entwicklungspolitik. Im Bundesligajargon heißt das: Platz 20 — mit dem einzigen Vorteil: Wir können nicht absteigen. — So ist der AwZ das Spiegelbild des genauso ohnmächtigen BMZ.Sie, meine Damen und Herren, haben vorhin Herrn Schanz bei seinen Ausführungen zum Thema „Armut und Umwelt" und Frau Adler bei ihrer Darstellung der Veränderungen im GATT-System zugestimmt, doch jeder von uns weiß: Der Finanz-, der Wirtschafts- oder der Landwirtschaftsminister werden daraus keine praktischen Konsequenzen ziehen;
denn wenn es anders wäre, meine Damen und Herren, hätten wir längst von dem nötigen homerischen Kampfgetöse im Kabinett gehört.
Ich kann nur hoffen, daß sozialdemokratische Minister dies anders machen werden; die Vergangenheit läßt mich allerdings wenig optimistisch sein.Die Wahrheit ist, daß wir zur Zeit eine unsägliche Asyldebatte führen und nicht den Mut haben, unseren Wählerinnen und Wählern deutlich zu sagen, daß die Flucht ihre praktischen Ursachen hat und daß die Fluchtwelle in Zukunft eher größer denn kleiner werden wird, daß nur konsequentes Teilen hier langfristig Abhilfe schaffen könnte.
Hier ist der von mir sehr geschätzte Bundespräsident wohl die einzige rühmliche Ausnahme.
Wahr ist auch, daß wir uns in den letzten Jahren schwergetan haben, Mißstände bei den Empfängerländern klarzustellen. Herr Spranger, Herr Hauchler und Herr Verheugen, Sie haben über diesen Aspekt der Kriterien ausführlich referiert. Auch hier gilt: Kein Geld ist besser als schlechtes Geld. An der spoonfeeding mentality in der Dritten Welt sind wir Geberländer nicht ganz schuldlos.Dies, meine Damen und Herren, war der diagnostische Teil.Jetzt komme ich zum therapeutischen Teil. Was ist zu tun? — Ich glaube, vier Dinge sind zu tun:Erstens. In der Entwicklungszusammenarbeit ist eine Fortschreibung bisheriger Strategien obsolet, wollen wir nicht weiter in die Sackgasse geraten. Eine Umkehr, ein Damaskus, in der Entwicklungspolitik ist überfällig.
— Ich teile seine Worte. — Diese Einsicht fällt insbesondere denen unter uns schwer, welche in den letzten Jahrzehnten engagiert an der Entwicklungszusammenarbeit beteiligt waren. Doch Barmherzigkeit ist kein guter Ratgeber, wenn unser Globus überleben soll.
Dazu, wie es anders gehen könnte, haben meine Vorredner von der SPD Ausführungen gemacht.Zweitens. Wir brauchen eine Bewußtseinsänderung bei allen von uns. Es gibt nicht die Erste und die Dritte Welt, es gibt nur eine Welt.
Wer hindert uns eigentlich, an dieser entwicklungspolitischen Bewußtseinsbildung zu arbeiten, angefangen im Kindergarten über die Schule, die Berufsschulen, die Hochschulen bis hin zur Erwachsenenbildung? Anfangen bei uns! — Auch dieser Satz, Herr Minister, fehlt im Achten Bericht.Drittens. Wir brauchen persönliche Betroffenheit, nicht nur bei ein paar Experten, bei Entwicklungshelfern, nein, bei der großen Menge unserer Wähler und Wählerinnen. Hier ist für mich nach wie vor der überzeugendste Weg das persönliche Engagement in Dritte-Welt-Initiativen in Nichtregierungsorganisationen. Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie praktische Partnerschaft mit Menschen in der Dritten Welt bei primär völlig Unbeteiligten plötzlich zum Aha-Erlebnis wird.
Neulich las ich, daß in den Niederlanden zwei Drittel aller Kommunen mehrjährige partnerschaftliche Erfahrungen mit der Dritten Welt aufweisen. Ist es wirklich ein Zufall, daß die Niederlande im Verhältnis zu uns dreimal soviel an Entwicklungshilfe ausgeben?Vierter und letzter Punkt. Wir brauchen Verhaltensänderungen bei uns. — Auch dieser Hinweis fehlt im Achten Bericht völlig. — Unser europäisches Weltmodell ist völlig ungeeignet zur Lösung der Probleme unseres Globus. Wir werden uns in Konsumverzicht üben müssen, wir werden mehr für Rohstoffe aus der Dritten Welt bezahlen, mehr Produkte aus dem Süden kaufen, den Erhalt der Tropenwälder durch Ausgleichszahlungen ermöglichen müssen. Kurz gesagt, meine Damen und Herren: Wir werden Teilen mehrheitsfähig machen müssen. Nur wenn sich der Norden ändert, hat der Süden eine Chance und damit unsere e in e Welt.
Sie werden jetzt sagen: Das ist unmöglich. — Das kann ich nicht ausschließen. Mir hilft hier aber eine afrikanische Weisheit, welche zur Maxime vieler NGO-Gruppen geworden ist: Viele kleine Leute, welche in vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, die können das Gesicht der Welt verändern. — Wer, meine Damen und Herren, hindert uns eigentlich daran, dies gemeinsam wenigstens zu versuchen?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3891
Herr Abgeordneter Burkhard Zurheide, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Verheugen, Sie brauchen sich in gar keiner Form zu entschuldigen, wenn Sie als Außenpolitiker hier in einer entwicklungspolitischen Debatte reden. Deswegen haben wir Sie eben auch unterstützt, als Sie das gesagt haben.
Wir halten das eigentlich für selbstverständlich. Für meine Fraktion ist Außenpolitik und Entwicklungspolitik überhaupt kein Widerspruch; ganz im Gegenteil: Wir sehen die Einheit dieser beiden Politikbereiche. Es gibt keinen strukturellen, prinzipiellen Widerspruch zwischen Außen- und Entwicklungspolitik.
Es wird häufig behauptet, aber es gibt ihn eben nicht. Aus diesem Grunde ist es in unserer Fraktion auch völlig üblich, daß sogenannte Entwicklungspolitiker auch in außenpolitschen Debatten reden.
— Nein, daran liegt es nicht. Das sind unterschiedliche Personen, Herr Verheugen. Das würde ja sonst umgekehrt auch für Sie gelten.
Ich finde das völlig in Ordnung. Dahinter steht nämlich auch ein strukturelles Problem: Wenn wir ständig selber davon reden, es gäbe solche Widersprüche, dann glauben wir irgendwann selber einmal daran. Es ist in der Tat nicht so.
Ich möchte noch auf zwei Punkte eingehen, die der Kollege Hauchler vorhin angesprochen hat. Dabei teile ich im wesentlichen das, was der Kollege Augustinowitz gesagt hat, nämlich daß Sie im Ausschuß eigentlich eine etwas andere Rede führen als hier.
Ich will das einmal an einem Beispiel deutlich machen.
— So ist es. Das ist ja auch richtig. Daran kann man ja erkennen, daß w i r die Meinung zwischen Ausschußsitzung und Plenardebatte nicht wechseln.
Sie haben z. B. ausgeführt, der Kriterienkatalog den das BMZ in der Frage vorgelegt habe, welchen Ländern Mittel gekürzt werden, sei nicht ausreichend, sei nicht vorhanden. Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, daß für verschiedene Länder, für China, Pakistan — sie wurden mehrfach genannt — , die Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich gekürzt worden sind. Nehmen Sie doch auch einmal zur Kenntnis, daß in diesen Ländern eine Diskussion darüber begonnen hat, nämlich über die Frage, warum denn gekürzt worden ist. Allein die Erzielung dieses Effektes ist doch schon wertvoll genug, um hieran weiterarbeiten zu können.
Natürlich wird das eine ganze Weile dauern und wird viele Jahre brauchen, bis wir das konsequent durchgesetzt haben. Aber ein Anfang ist gemacht worden, und an diesem Anfang wird auch unsere Fraktion mitarbeiten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Hauchler?
Unter dieser allgemeinen Voraussetzung, daß die Zeit nicht angerechnet wird, selbstverständlich gern.
Grundsätzlich werden weder die Zwischenfragen noch die Antworten auf die Redezeit angerechnet.
Herr Kollege, ich habe ausgeführt, daß ein Widerspruch besteht zwischen dem, was der Entwicklungsminister an richtigen Prinzipien in die Diskussion geworfen hat, und dem, was die Bundesregierung auf diesen Feldern tatsächlich tut. Unter anderem — —
Herr Kollege Hauchler, jetzt müssen Sie aber auch eine Frage stellen.
Man muß ja die Basis für eine Frage schaffen.
Das muß die Rede des Kollegen sein.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die entwicklungspolitischen Zusagen auf bilateraler Ebene in den letzten Jahren zurückgefahren worden sind, daß dies nicht einer wachsenden Verantwortung der Deutschen für die Dritte Welt entspricht und daß dadurch der Spielraum für sinnvolle Projektplanung zusammengeschrumpft ist?
Herr Kollege, ich bin nicht bereit, dieses so zur Kenntnis zu nehmen, weil es so nicht zutrifft.
— Herr Kollege, es trifft so nicht zu. Die Mittel für diese Länder sind — wie hier mehrfach ausgeführt und von Ihnen auch nicht bestritten — tatsächlich gekürzt worden, unter anderem wegen übermäßiger Rüstungsausgaben. Ich denke, es wäre auch für die Opposition ganz sinnvoll, einmal zu sagen, daß wirklich ein Anfang gemacht worden ist, auch wenn Ihnen das vielleicht noch nicht ausreicht. Aber zu behaupten, hier werde eine völlig widersprüchliche Politik gemacht, halte ich in der Tat für nicht zutreffend.
Sie haben noch einen zweiten Punkt angesprochen, den ich auch für bemerkenswert halte. Sie sagen, daß nach Wegfall des Ost-West-Konfliktes — was unbestritten ist; das ist gar keine Frage — in der Koalition
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3892 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Burkhard Zurheidenach wie vor altes Denken vorhanden sei, nämlich insoweit, als der Markt überschätzt werde und der Staat unterschätzt werde. Das ist insoweit überraschend, als ich bisher den Eindruck hatte, daß Sie auch in den Ausschußsitzungen immer der Meinung waren, daß die Förderung der Privatwirtschaft in den Ländern der Dritten Welt selbstverständlich sinnvoll, richtig und ein ganz wichtiges Ziel ist.
Dies hört sich anders an, dies hört sich in der Tat so an wie die alte Debatte der letzten zehn Jahre, die Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die nicht einmal mehr von der UNCTAD aufrechterhalten wird.
Sie haben völlig zu Recht vier Kriterien genannt, die nach Ihrer Auffassung angewandt werden müßten: Aufbau eines Kapitalmarktes, staatliche Verwaltung, ein ordentliches Rechtssystem. Genau dies ist richtig. Genau dies ist die Politik der Bundesregierung und der sie unterstützenden Parteien zum Aufbau der Privatwirtschaft in den Entwicklungsländern.Ich glaube, es ist in der Tat wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, daß eine gesunde Entwicklung der Länder der Dritten Welt primär und überwiegend dadurch erreicht werden kann, daß die dortigen Volkswirtschaften so funktionieren, daß möglichst viele Menschen dort ein ordentliches Einkommen und damit Auskommen haben. Ich meine deswegen, die beste Entwicklungspolitik ist in der Tat, die Wirtschaft der Dritten Welt zu fördern. Dies kann nach Lage der Dinge im wesentlichen nur über die Förderung der Privatwirtschaft erfolgen. Dies haben auch alle internationalen Organisationen mittlerweile anerkannt. Wir tun hier nichts anderes.
— Das haben Sie sehr wohl bestritten. Sie haben gesagt, es herrscht — —
— So ist es, ganz genau. Das tun wir eben nicht. Sie haben das mit den vier Kriterien begründet, denen wir zustimmen. Also stimmt es nicht.Abschließend möchte ich noch Herrn Augustinowitz etwas fragen, der vorhin gesagt hat, die Politik der Kürzung der Rüstungsausgaben und der Auswirkungen auf die Entwicklungspolitik müßte von der gesamten Bundesregierung getragen werden. Wir haben partout nicht verstanden, wen Sie eigentlich gemeint haben, ob Sie den Bundeskanzler gemeint haben oder den Minister — —
— Das Auswärtige Amt. Dies zu erklären, Herr Augustinowitz, fiele in der Tat schwer.Herzlichen Dank.
Herr Abgeordneter Graf von Waldburg-Zeil, verzeihen Sie, daß ich Ihren kleinen Flirt unterbreche, aber Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung des südlichen Afrika war von Anfang an
— — Wir sind doch bereits bei diesem Tagesordnungspunkt?
Nein.
Dann habe ich nicht das Wort?
Meine Damen und Herren, einen kleinen Moment. Graf Waldburg-Zeil, würden Sie bitte noch einmal einen Moment Platz nehmen?
Entschuldigung. — Das Verfahren in bezug auf die Wortmeldungen — ich will hier jetzt nicht ansprechen, durch wen — ist zumindest dergestalt, daß hier oft nicht mehr erkennbar ist, ob es sich um die nächste Runde zum gleichen Tagesordnungspunkt handelt oder ob damit schon der nächste Tagesordnungspunkt gemeint ist. Jetzt lag der Fehler bei mir. Ich habe Sie aufgerufen, Graf Waldburg, obwohl wir erst diesen Punkt abschließen müssen.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/924 — Bericht über die Armutsbekämpfung in der Dritten Welt durch Hilfe zur Selbsthilfe — an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Drucksache 12/1172 zum Achten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?— Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1272. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
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Vizepräsident Hans KleinEin Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika— Drucksache 12/851 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Auswärtiger AusschußNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Viertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entwicklung des südlichen Afrika war von Anfang an, seit der „Wind des Wandels" zur Unabhängigkeit zahlreicher schwarzafrikanischer Staaten geführt hatte, schwer belastet durch die Rassentrennungspolitik Südafrikas. Das galt insbesondere für die Nachbarstaaten. Man mußte sich vorsehen, versuchen, politische Unabhängigkeit nicht durch wirtschaftliche Abhängigkeit zu verlieren.In der Zwischenzeit hat sich die Situation grundlegend verändert. Wenn ich nur das nationale Friedensabkommen zum Aufbau einer Vielparteiendemokratie in Südafrika vom 14. September 1991 als Aufhänger nehme, besser aber noch die Auflistung der Schritte des stufenweisen Apartheidabbaus, kann ich konstatieren, daß zwar sicher noch viele Schwierigkeiten und Gefahren auf dem Wege liegen, daß aber die Entwicklung unumkehrbar geworden ist. Um so dringlicher stellt sich nun die Aufgabe, von der bisherigen Konfrontation zur Kooperation überzugehen.Der Antrag „Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika" ist weit davon entfernt, den souveränen Regierungen schwarzafrikanischer Staaten etwas empfehlen zu wollen, dem sie mißtrauen. Sicher ist es auch anderen Kolleginnen und Kollegen so gegangen wie der Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die im letzten Jahr Botswana und Namibia bereiste. Herr Kollege Hauchler, Sie waren derjenige, der immer die bohrenden Fragen gestellt hat. Die Präsidenten beider Staaten, Masire und Nujoma, sprachen sich für die Zeit nach der Herstellung demokratischer Verhältnisse in Südafrika unverblümt für dessen Aufnahme in die Southern African Development Coordination Conference, also die SADCC, aus.Es geht umgekehrt bei diesem Antrag darum, die Länder des südlichen Afrika auf diesem Wege einer künftigen Entwicklungspartnerschaft zu begleiten. Wenn die Bundesregierung den Aufforderungen dieses Antrages folgt, wird der Effekt für sie gleichermaßen wie für die Partnerländer positiv sein.Erstens. Im Zeichen beengter Staatsfinanzen gilt es, vorhandene Mittel noch zielgerichteter und erfolgsorientierter einzusetzen. Dies wird gegenüber einem größeren Wirtschaftsraum sehr viel einfacher sein.Zweitens. Das immer stärkere Zusammenrücken von Entwicklungs- und Umweltpolitik kann nur in größeren räumlichen Dimensionen zu Erfolgen führen. Als Stichwort möchte ich nur die Erhaltung der Okavango-Sümpfe erwähnen. Dasselbe gilt übrigens für den Energieverbund.Drittens. Wesentlich bei der überregionalen Zusammenarbeit ist natürlich die Europäische Gemeinschaft. Dies war der Grund, daß der Antrag die Entsendung einer EG-Expertenkommission als Katalysator bei der Strukturierung länderübergreifender Wirtschaftskontakte empfohlen hat.Viertens. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit erlaubt auch die Nutzung des Wissens entwicklungspolitischer Institutionen aus dem südlichen Afrika selbst. Was vielen von uns entgangen ist: Schon in der Zeit der Apartheid gab es eine Reihe wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Institutionen in Südafrika, die längst den falschen Weg der getrennten Entwicklung eingesehen und versucht hatten, die jetzt eingeleitete neue Entwicklung vorzubereiten. Nur als Beispiel möchte ich etwa die Urban Foundation nennen.Fünftens. Nach gescheiterten Versuchen mit planwirtschaftlichen Modellen könnte der Wirtschaftsraum südliches Afrika den Beweis erbringen, daß zwischen Sozialismus und Kapitalismus auch ein afrikanischer Weg Sozialer Marktwirtschaft gangbar ist.
Sechstens. Besondere Bedeutung werden Wiederaufbau und Entwicklung Angolas und Mosambiks gewinnen. Der Gründer und Präsident der Deutschen Gesellschaft für afrikanische Staaten portugiesischer Sprache, Professor Dr. Manfred Kuder, der in diesem Herbst 80 Jahre alt werden wird, hat im zweiten Quartalsheft des „Internationalen Afrikaforums" einen wichtigen Beitrag über die Rolle von Angola und Mosambik in einem künftigen gemeinsamen Markt verfaßt.Siebtens. Der besonderen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Namibia kann gerade eine verstärkte regionale Entwicklungspolitik im südlichen Afrika Rechnung tragen.Abschließend möchte ich darauf verweisen, daß wir, wenn heute des öfteren davon gesprochen worden ist, daß wir Flüchtlingen dort helfen sollten, wo die Ursachen der Flucht entstehen, dies natürlich nicht erst heute denken. Wir haben vielmehr in einem von der Koalition gemeinsam gestellten Antrag, der, wenn ich mich recht erinnere, nur sehr wenige Gegenstimmen gefunden hat, einen entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen skizziert. Es ist immer schade, daß bei einem Wechsel von einem Parlament zum anderen solche Dokumente verloren gehen. Man sollte sie eigentlich nachlesen; denn hierin stehen einige sehr wichtige Dinge. Gerade im gemeinsamen Raum des südlichen Afrika haben wir eine ganze Menge von Fluchtbewegungen gehabt, sowohl von den ehemaligen portugiesischen Kolonien als auch natürlich zwischen den Frontlinienstaaten und der Republik Südafrika. Hier könnte man in großem Maße befriedend wirken.Ich möchte hinzufügen, daß dieser Beitrag, den wir damals beschlossen haben, nicht nur entwicklungs-
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Alois Graf von Waldburg-Zeilpolitische Komponenten für die Länder dort gehabt hat, sondern umgekehrt auch mit ins Auge gefaßt hat, daß Flüchtlinge, die hier sind, hier auch etwas lernen, was sie später in den Entwicklungsländern wieder einsetzen können. Ich bitte, auch das in aller Ruhe in die Diskussion der kommenden Tage einzubeziehen und den damaligen Antrag nachzulesen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Hans-Günther Toetemeyer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den Antrag der Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ist es wieder zu einer Debatte über Südafrika gekommen. Ich finde das sehr schön. Das war eine angenehme Urlaubsüberraschung. Dieser Antrag ist ja im Urlaub von Ihnen eingebracht worden.
— Bei uns auch. Die Tatsache, daß ich es gelesen habe, spricht dafür, daß ich gearbeitet habe, Herr Kollege.
Ich freue mich, daß wir heute wieder einmal Gelegenheit haben, diese Probleme unter einem ganz bestimmten Aspekt zu diskutieren. Bei vielem, was Sie am Ende feststellen, stimmen wir zu; zu einigen Punkten möchte ich gern ein paar Anmerkungen machen in der Hoffnung, daß es so geht wie in der Vergangenheit, nämlich daß wir uns am Ende auf einen gemeinsamen Text einigen.Ich meine, es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, daß die Ursachen der Wirtschaftskrise in Afrika — so steht es in Ihrem Antrag — in erster Linie in den binnenwirtschaftlichen Problemen begründet sind. Ich will diese Probleme nicht unterschätzen; ich meine aber, das ist mit Sicherheit falsch.Wir sollten bei einer solchen Debatte immer wieder darauf hinweisen, daß wir im historischen Bewußtsein feststellen müssen, daß die wirtschaftlichen und politischen Probleme Afrikas eben nicht hausgemacht sind, sondern ihre Ursache in der jahrhundertelangen kolonialen Ausbeutung durch die europäischen Mächte haben.
Dies muß gesagt werden; denn das ist ein ganz wesentlicher Denkansatz, der an erster Stelle stehen muß. Dann kann man über alle anderen Fragen diskutieren.Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Hinweis geben — dies mache ich mit besonderer Freude, weil wir heute schon des öfteren von Dividenden gesprochen haben — : Vor wenigen Wochen ist ein Buch mit dem Titel „Globale Trends" erschienen, das ich Ihnen allen Kollegen sehr zur Lektüre empfehle. Es stammt von der von Willy Brandt gegründeten deutschen Stiftung „Entwicklung und Frieden" . Das ist in der Tat eine hervorragende Friedensdividende; denn hier ist das Kapital von Willy Brandt aus dem Nobelpreis sehr sinnvoll eingesetzt worden — ein besonderes Beispiel für Friedensdividende.In diesem Buch wird sehr deutlich darauf hingewiesen — damit komme ich zu den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die ich angesprochen habe; das fehlt mir in Ihrem Antrag — , daß die Interdependenzen zwischen ökonomischen, ökologischen und gesellschaftlichen Trends inzwischen in zunehmendem Maße unabhängig von nationalen Grenzen sind. Das gilt auch für Afrika. Unsere eine Welt — so wird hier gesagt — gleicht immer mehr einem komplexen System vielfach kommunizierender Röhren.Die Wissenschaftler, die hier ihre Beiträge zusammengetragen haben, haben daraus 24 Trends analysiert, von denen ich in bezug auf Subsahara-Afrika, über das wir ja heute diskutieren, nur fünf kurz nennen möchte.Erstens: Das verschärfte Wohlstandsgefälle. — Das Gefälle zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen in den Industrieländern und den Entwicklungsländern im südlichen Afrika hat sich von 15 : 1 im Jahre 1967 auf 20 : 1 Ende der 80er Jahre verschlechtert. Salim Lone, der Sprecher des United Nations Africa Recovery Program, hat im Juni dieses Jahres, etwa zu der Zeit, als der Antrag eingebracht wurde, in New York darauf hingewiesen, daß das Pro-Kopf-Einkommen in Subsahara-Afrika 1991 um weitere 2 % sinken wird. Dies— so prognostiziert er — werde noch schlimmer; denn seit dem Beginn des Reformprozesses in Osteuropa— ich zitiere ihn hier — sei Afrika aus dem Blickpunkt internationaler Politik gerückt. — Um so erfreulicher ist dieser Antrag, den wir hier diskutieren. — Er hat im Juni 1991 gesagt — wörtliches Zitat — : „Die westlichen Finanzströme fließen nun nach Osteuropa. "Zweiter Trend: Anhaltendes Wachstum der Weltbevölkerung. Während die Bevölkerung bei uns im Norden stagniert, wird die Bevölkerung im Süden bis 2025 um 900 Millionen steigen. Gleichzeitig werden die Gesellschaften im Süden Afrikas immer jünger, wie wir alle wissen. Die Weltbank hat schon im vergangenen Jahr darauf hingeweisen, daß die Zahl der schulpflichtigen Kinder in Subsahara-Afrika jährlich um vier Millionen wächst. Nach Hochrechnungen des IWF werden von 1990 bis 2000, wenn sich die wirtschaftlichen Tendenzen nicht ändern, rund 40 Millionen Kinder in Afrika durch Hunger oder durch Hunger hervorgerufene Krankheiten sterben. Muß Afrika schon zur Zeit jährlich rund 15 Millionen t Nahrungsmittel einführen, werden das in 30 Jahren bei Anhalten des Trends 200 Millionen t sein. Um einen Vergleich zu nennen: 200 Millionen t sind die Jahresgetreideernte der Vereinigten Staaten.
— Einverstanden, die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
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Hans-Günther Toetemeyer— Das habe ich nicht bestritten. Aber wir wollen am richtigen Ende anfangen, Herr Kollege. Darum geht es mir.Drittens: Konzentration des Welthandels. Von 1980 bis 1990 hat der Anteil der Industrieländer am Welthandel auf über zwei Drittel zugenommen, wobei zugleich der größte Teil des Handels untereinander abgewickelt wird. Die Staaten des Südens werden immer weiter von der Weltwirtschaft abgekoppelt. Während der Export verarbeiteter Waren und Dienstleistungen einen immer höheren Anteil einnimmt, ist der Handel mit Rohstoffen nur minimal gewachsen. Hinzu kommt der drastische Verfall der Rohstoffpreise, verbunden mit dem Protektionismus der Industrieländer.Die Länder des südlichen Afrika erleben zur Zeit eine weitere Talfahrt der Rohstoffpreise. Der IWF erwartet nach einem Rückgang von 8 % im vergangenen Jahr ein weiteres Abrutschen um 3 % in diesem Jahr.Ich will hier nur ein Beispiel aus meinem Heimatland Namibia nennen. Da wird das Ganze deutlich. Dieses Land, das es jetzt sehr schwer hat, seine Unabhängigkeit zu bewahren, hat die beiden Zinnminen in Uis und in Brandberg-West schließen müssen. Das ist die Folge des Fallens der Rohstoffpreise. Von der Schwierigkeit der Uranmine Rössing möchte ich in diesem Zusammenhang nicht reden. Ich hoffe, daß sie überwunden werden kann.Viertens: Verlagerung der Kapitalströme. Die Länder Afrikas haben Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre in der Hoffnung auf steigende Rohstoffpreise auf den internationalen Finanzmärkten Kredite aufgenommen. Die Hoffnung hat, wie wir alle wissen, getrogen. Jetzt will ich einmal die Zahl des vergangenen Jahrzehnts nennen, weil sie symptomatisch ist. 1980 bis 1990 wurden von afrikanischen Staaten 46 Milliarden US-Dollar Zinsen gezahlt, nur in einem Jahrzehnt. Der Rohstoffpreisverfall betrug im gleichen Jahrzehnt 137 Milliarden US-Dollar. Der Abfluß insgesamt beträgt also, wenn man addiert, 183 Milliarden US-Dollar. Der gesamte Nettozufluß betrug, wenn ich Kredite, Entwicklungshilfe und Investitionen zusammenrechne, 128 Milliarden US-Dollar, 183 zu 128 Milliarden US-Dollar: Das bedeutet, daß allein in diesem Jahrzehnt in Afrika ein Verlust von 55 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen war.
IWF und Weltbank haben mit Umstrukturierungsprogrammen für die Volkswirtschaft gegenzuwirken versucht. Hierzu sagte Lone, den ich schon eben zitiert hatte — ich zitiere ihn — :Kein einziges dieser Programme war in Afrika erfolgreich. Auf Afrika kommen schwere Zeiten zu.Letzter Punkt: Anhaltende Ungleichheiten im Bildungswesen. Eine Folge der Programme — das ist das, was Lone meint — war die Rückführung der Ausgaben im Bildungswesen. Damit hat sich die Kluft zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern weiter vertieft. Das ist im Blick auf den sich in den afrikanischen Ländern vollziehenden Demokratiesierungsprozeß, den wir jetzt erleben — Ende dieses Monats wird in Sambia gewählt; ich hoffe, bald in Angola und in Mosambik —, lebensgefährlich. Denn, meine Damen und Herren, Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben setzt Bildung voraus.
Und hier komme ich zur ersten Folgerung. Mittel zur Strukturanpassung, wenn wir sie denn geben, dürfen nicht mehr in Form globaler Import- bzw. Zahlungsbilanzhilfen an afrikanische Regierungen gegeben werden, sondern müssen gezielt und zweckgebunden zur Finanzierung von Einrichtungen des Bildungswesens gegeben werden.
Dann schaffen wir Unterstützung für die demokratische Entwicklung in Afrika, sonst nicht.
Meine Damen und Herren, nun zu SADCC; das ist ja der Kern Ihres Antrages. Ich stimme zu, dies ist eine Chance für die Länder des südlichen Afrika, ähnlich wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einem gemeinsamen Markt zu kommen. Ich bin ganz sicher, und die Vorbereitungen in der SADCC laufen ja darauf hin, daß auch das von der schwarzen Mehrheit regierte demokratische Südafrika Teil der SADCC sein wird. Ich halte das sogar für lebenswichtig, weil dann eine Chance besteht, die binnenwirtschaftlichen Probleme — die ich nicht bestreite — besser in den Griff zu bekommen, als das heute mit Einzelstaaten möglich ist.Da wird uns oft von afrikanischen Politikern entgegengehalten — ich habe das gerade in der letzten Woche im Wilton Park erlebt — , daß sie sagen: Aber da gibt es schwache Partner und starke Partner. Die hat es auch in der Europäischen Gemeinschaft gegeben. Das ist kein Grund dagegen.
Sie haben nach einem langen Prozeß — wir sind ja noch nicht am Ende, Herr Kollege Köhler — davon profitiert, die Schwachen mehr als die Starken. Es hat also keine Dominanz eines Staates in der Wirtschaftsgemeinschaft gegeben. Dies ist die Hoffnung für das südliche Afrika. Darin stimmen wir überein.Ich bleibe dabei, wir sollten versuchen, zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Wir werden Änderungsanträge stellen.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Arno Schmidt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Toetemeyer, zu Ihrer anfänglichen Einlassung und auch bei wesentlichen
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3896 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Arno Schmidt
Dingen Ihrer Rede: Hier gibt es sicherlich keinen Dissens.Was seit einigen Monaten in Südafrika geschieht, ist nichts anderes als ein Liberalisierungsprozeß und mit den Umwälzungen in Ost- und Mitteleuropa vergleichbar. De Klerk hat in seiner Amtszeit bereits wichtige Säulen der Apartheid-Politik demontiert und damit seinen Ankündigungen Taten folgen lassen.
— Ja, ich glaube schon.Mit der weitgehenden Aufhebung von Sanktionen räumt der Westen — manche meinen, voreilig; ich meine, doch zum richtigen Zeitpunkt, zieht man Parallelen auch zur Sowjetunion — der südafrikanischen Regierung einen erheblichen Vertrauensvorschuß ein. Das ist so.Machen wir uns aber nichts vor: Der Ref ormprozeß mag im ganzen zwar unumkehrbar sein, aber Rückschläge drohen nicht allein auf Grund der eklatanten Gewaltpotentiale innerhalb der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, sondern ebenso von seiten der Ewiggestrigen, die ihren Machtverlust nicht verkraften können.
Da ist die Rede vom „Betrug am weißen Mann" und von Putschvorbereitungen — eine Drohung, die meines Erachtens durchaus ernstzunehmen ist.Wann also sollte man ein Zeichen der Unterstützung und Ermutigung für den Reformprozeß durch die schrittweise Aufhebung von Sanktionen setzen, im Moment der beherzten Neuorientierung oder dann, wenn womöglich die innenpolitischen Reformer den Rückzug antreten müssen, weil sie vor der Größe der Aufgabe alleingelassen wurden?Die Sanktionen, meine ich, haben ihren Zweck erfüllt. In der jetzigen Situation aber sind sie teilweise anachronistisch geworden. Ihre Beibehaltung würde das Land auf allen möglichen Gebieten den Anschluß verpassen lassen. Sanktionen des Westens werden dann anachronistisch, wenn selbst die Nachbarstaaten Südafrikas über ihre Aufhebung nachzudenken beginnen und teilweise bereits wieder Handel mit Südafrika betreiben. Ich glaube, es gibt in dieser Region schon 17 Handelsmissionen von Staaten, die mit Südafrika Handel treiben.Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsraum südliches Afrika, vor Jahren noch eine Utopie, könnte langsam an Gestalt gewinnen. In der Region ist das Bewußtsein, wirtschaftlich aufeinander angewiesen zu sein, durchaus lebendig, ich glaube, lebendiger als je zuvor. Erstmals wurde, wenn auch leider mit einem sehr gemächlichen Zeitrahmen versehen, ein Integrationsabkommen zur afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichnet — bei allen Schwierigkeiten.Darüber hinaus scheint vor allem auch die Organisation der Frontstaaten zögernd zu der Einsicht zu gelangen, Südafrika zum beiderseitigen Vorteil in die Zehnergemeinschaft aufzunehmen. Es wäre ein großer Schritt nach vorne, wenn diese wirtschaftliche Integration im südlichen Afrika gelänge und die Republik Südafrika zum Motor einer gewiß schmerzlichen und langwierigen Gesundungsphase der Region werden könnte.Die Reintegration Südafrikas in den politischen und wirtschaftlichen Prozeß des Kontinents könnte auch Hilfe zur Selbsthilfe im Sinne der Grundsätze unserer Entwicklungszusammenarbeit sein und insbesondere den Staaten Schwarzafrikas helfen.Unser gemeinsamer Koalitionsantrag formuliert deshalb die Möglichkeiten eines deutschen und europäischen Beitrags — ohne diese Dimension geht es meines Erachtens nicht mehr — zu einer Politik der Kooperation in dieser Region.Natürlich ist die ökonomische Gesundung ohne die entschlossene Fortsetzung der politischen Selbstreinigung und die schrittweise Befreiung von der Apartheid, von den Altlasten, nicht vorstellbar.Im Sinne der konsequenten Weiterführung des Reformprozesses müssen in absehbarer Zeit eine verfassunggebende Versammlung — das ist auch vorgesehen — einberufen und freie Wahlen eingeleitet werden. Hier ist auch der ANC gefordert, nicht nur mit überholten planwirtschaftlichen Gedankenspielen aufzuräumen — die jüngsten Rufe nach Verstaatlichung ganzer Wirtschaftsbereiche sind hier doch wohl der falsche Weg —,
sondern auch die Forderung nach einem neuen Einheitsstaat noch einmal zu überdenken.Eines steht fest: Der Frieden ist wackelig und noch nicht überall durchgesetzt. Die Kultur der Gewalt — wie es Bischof Tutu umschrieben hat — ist nicht von heute auf morgen durch eine demokratische Streitkultur zu ersetzen. Bisher fehlende Zukunftsperspektiven, Wohlstands- und Bildungsgefälle, unberechenbare Sprengkraft von Stammesrivalitäten haben die Radikalisierungsbereitschaft jahrelang angeheizt.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ohne Zweifel wird die Umgestaltung in Südafrika noch eine lange Zeit benötigen. Aber die Südspitze Afrikas scheint sich meines Erachtens ihren Namen endlich verdienen zu wollen: Kap der Guten Hoffnung.
Ich danke schön.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße ausdrücklich den Antrag der Koalitionsfraktionen, der die Haltung und die Aktivitäten der Bundesregierung in dieser Region in eindrucksvoller Weise unterstützt und bekräftigt.
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Bundesminister Carl-Dieter SprangerIch sage auch, Kollege Graf von Waldburg-Zeil: Das ist eine hervorragende Grundlage für die zukünftige Politik der Bundesregierung gegenüber dem südlichen Afrika.Die Länder Mosambik, Simbabwe, Sambia, Malawi, Namibia, Botswana, Swasiland und Lesotho sind seit langem bevorzugte Partner in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Die Bundesregierung hat allein aus bilateralen staatlichen Mitteln diese Regionen in den Jahren 1990 und 1991 mit Zusagen in Höhe von fast 600 Millionen DM gefördert. Dazu kommen noch bedeutende Leistungen über multilaterale Institutionen und besonders auch über nicht staatliche deutsche Institutionen. Kirchen und politische Stiftungen sind bereits in der Republik Südafrika tätig. Ihnen standen 1990 21 Millionen DM aus BMZ-Mitteln zur Verfügung.Der Zusammenschluß der Staaten des südlichen Afrikas zur sogenannten Koordinierungskonferenz für die Entwicklung des südlichen Afrikas ist eine wesentliche Voraussetzung für die volle Nutzung der vorhandenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Chancen in der Region. Die Bundesrepublik hat seit 1981 SADCC-Projekte direkt mit rund 111 Millionen DM gefördert, wobei neben Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur u. a. auch Projekte der regionalen Agrarforschung und der Fachkräfteausbildung gefördert werden.Die aktuellen politischen Veränderungen im südlichen Afrika wie z. B. die Abschaffung der gesetzlichen Rassendiskriminierung in Südafrika, die Aufnahme der Republik Namibia in die SADCC und der Friedensschluß in Angola eröffnen neue Wege der regionalen Zusammenarbeit über die schon bestehenden Verflechtungen hinaus. Die Chancen für eine engere Kooperation sind besonders gut, wenn die Integration des wirtschaftlichen Potentials Südafrikas in die SADCC zum Nutzen aller gelingt.Südafrika kann seinen Nachbarn viel bieten. Das betrifft den Zugang zu seinen Märkten, die Öffnung der Verkehrswege und Häfen, aber auch die Öffnung der südafrikanischen Universitäten mit ihren afrikaspezifischen Forschungsinstituten.Das gilt auch für die von Ihnen angesprochene Entwicklungshilfe. Zum Beispiel haben schwarze und weiße Südafrikaner als Experten in ihrer Region sicher bessere Voraussetzungen für eine Tätigkeit als manche Europäer oder Nordamerikaner.
Wir werden diesen Prozeß fördern, indem wir uns an grenzüberschreitenden Infrastrukturmaßnahmen etwa im Bereich des Straßenbaus, der Energieversorgung, des Ausbaus der Eisenbahnen und anderer Bereiche mehr beteiligen. Schwerpunkte wird auch die Förderung der Zusammenarbeit zwischen deutschen und südafrikanischen Nichtregierungsorganisationen sein.Unsere besonderen Entwicklungsbemühungen im Hinblick auf Namibia fügen sich, z. B. beim Straßenbau, ebenso nahtlos in dieses Konzept ein wie unsere Zusammenarbeit mit Mosambik.Meine Damen und Herren, wir haben alle mit Freude und Erleichterung das Abrücken der Regierung der südafrikanischen Republik vom System der Apartheid zur Kenntnis genommen. Wir ermutigen Südafrika, seine Öffnung nach innen wie nach außen konsequent fortzusetzen.
Diese Öffnung darf jedoch nicht einseitig sein. Auch die Regierungen der Anrainerstaaten sollten unvoreingenommen die ihnen gebotenen historischen Möglichkeiten zu einer konstruktiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem bislang bekämpften Nachbarn ergreifen.Mit unseren entwicklungspolitischen Beiträgen und unseren politischen Gesprächen wollen wir auch in Zukunft dazu beitragen, daß es auch zu einer vernünftigen innenpolitischen Regelung des Verhältnisses von Schwarz und Weiß in Südafrika kommt. Entscheidend ist, daß Südafrika seine Wirtschaftskraft erhält und damit als Lokomotive für die Entwicklung in den Anrainerstaaten dienen kann. Hier ist jedoch auch der ANC gefordert. Als eine wichtige Vertretung der schwarzen Bevölkerung muß er konstruktive Vorstellungen für das Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen, die geprägt sind vom Vorbild einer gewaltfreien Demokratie und einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, entwickeln. Denn in Fragen der Wirtschaftspolitik sind die südafrikanischen Parteien noch weit auseinander. Während die Regierung Wohlstand für alle durch wirtschaftliches Wachstum erreichen möchte, hält vor allem der ANC nach wie vor an der Idee fest, dies durch Verstaatlichung und Umverteilung zu schaffen.Ich fordere von dieser Stelle aus den ANC auf, die Chancen einer blühenden Nach-Apartheid-Zeit Südafrikas nicht durch das Beharren auf Konzepten zu verbauen, die weltweit, bishin zum einstigen Mutterland des Sozialismus, fehlgeschlagen sind.
Die Vergabe deutscher Entwicklungshilfe für die Staaten auch in dieser Region setzt voraus, daß der Empfänger ein geeignetes Umfeld schafft, das eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung zugunsten der betroffenen Bevölkerung möglich macht. Darauf weist der Koalitionsantrag zu Recht hin.Es bleibt die Aufgabe aller derjenigen Kräfte, die sich für eine wirksame und rasche Entwicklung der Region südliches Afrika einsetzen, politisch weiterhin auf einen friedlichen Übergang sowie auf die Förderung geeigneter interner Rahmenbedingungen hinzuwirken. Wir werden diese Kräfte weiter tatkräftig unterstützen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der hier vorgelegte Antrag fordert die Bundesregierung auf, ihre Politik
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3898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Uwe-Jens Heuerstärker auf die Integration des sich wandelnden südlichen Afrikas auszurichten. Ziel müsse die völlige Aufhebung der Apartheid und seine demokratische Verfassung für alle Bürger Südafrikas sein.Ich meine, daß das keineswegs genügt und der Verantwortung der Bundesrepublik für die heutigen Verhältnisse in Südafrika nicht gerecht wird. Das juristische Repressionsgebäude der Apartheid ist im wesentlichen beseitigt; aber ihre Folgen bestehen fort. Das rassistische Bildungssystem hat dazu geführt, daß heute, wie uns sieben Mitgliedern des Rechtsausschusses auf unserer kürzlichen Reise in die Republik Südafrika und nach Namibia mitgeteilt wurde, 9 Millionen Menschen, vornehmlich im Alter von 25 bis zu 40 Jahren, nicht lesen und schreiben können und daß 40 % der Kinder nicht zur Schule gehen. 3,5 Millionen Menschen wurden zwangsweise in die Homelands und die Townships umgesiedelt. Das sind trostlose Riesensiedlungen, die weder die alte Struktur der Stammesdörfer noch eine städtische Struktur haben. Gewaltige Arbeitslosigkeit — vielleicht ein Drittel — verschärft die Widersprüche. Trotz Beseitigung der juristischen Schranken können die Schwarzen nach wie vor praktisch nicht in die weißen Stadtteile ziehen.Die Exekutive ist völlig unverändert. Die Forderung nach einer Interimsregierung wird scharf abgelehnt. Es gibt nach wie vor außerhalb der Homelands nur einen einzigen schwarzen Richter. Die Emigranten können zum überwiegenden Teil zurückkommen, aber jegliche Rehabilitierung wird abgelehnt.Zu den 18 Ermordeten beim Begräbnis des Generalsekretärs einer Bürgervereinigung schrieb die „Frankfurter Rundschau" am 9. Oktober, daß hinter diesen Attentaten immer deutlicher trainierte Killertrupps zum Vorschein kommen, deren Hintermänner offenbar das Ziel haben, den Reformprozeß in Südafrika zu destabilisieren.In unseren Gesprächen wurde von offizieller Seite zur Vergangenheit nicht Stellung genommen. Das Kapitel ist abgeschlossen. In Gesprächen hörten wir häufig von der Angst vor einem Sieg des ANC bei künftigen Wahlen. In Namibia hat sich dieser Prozeß früher vollzogen. Eine Verfassung wurde gemeinsam beschlossen. Die SWAPO stellt mehr als die Hälfte der Abgeordneten und die Regierung. Das Schicksal der Schwarzen aber hat sich auch dort nicht gebessert.Das Hauptproblem ist, wie mir scheint, in beiden Ländern affirmative action, also Hilfe für die Benachteiligten, wie es in Namibia heißt. Eine demokratische Verfassung nützt nur dann etwas, wenn es gelingt, das Leben der schwarzen Bevölkerung real zu verbessern. Ich sehe eine Hauptaufgabe verantwortungsbewußter deutscher Politik darin, den konservativen Weißen — das sind auch viele Deutsche — klarzumachen, daß eine gefährliche Konfrontation nur dadurch verhindert werden kann, daß die Weißen bereit sind, von ihren Privilegien abzugeben. Ich bedaure es, daß der Minister hier vornehmlich Kritik an den ANC gerichtet hat. Ich bin der Meinung, man muß dies den Weißen dort eindeutig sagen.Wir haben verantwortungsbewußte Politiker der SWAPO gesprochen. Ihr Erfolg hängt von einer entsprechenden Haltung bei den Weißen ab. Das gilt in noch stärkerem Umfange für Südafrika. Ich meine, daß alle die Staaten, die das Apartheidregime in Südafrika als Verbündeten im Kalten Krieg unterstützt haben, verpflichtet sind, die Beseitigung der Folgen der Apartheid wirksam zu unterstützen. Ich möchte Professor Hauchler ausdrücklich zustimmen: Die einfache Propagierung der freien Marktwirtschaft wird dort ebensowenig fruchten, wie das heute in Ostdeutschland der Fall ist.Lassen Sie mich noch auf eine Tatsache hinweisen, die mich betroffen gemacht hat. Ich habe schon erwähnt, daß die offiziellen Vertreter Südafrikas keine Worte der Kritik oder gar der Verurteilung der Vergangenheit fanden. Ich stellte aber auch keine Forderung nach einer solchen Verhaltensweise bei meinen deutschen Kollegen fest. Das war auch heute hier nicht der Fall. Ich habe mich nun gefragt, warum etwa im Gegensatz zur Beurteilung der alten DDR hier so wenige tadelnde Worte gefunden werden, warum für die Verbrechen der Apartheid nicht nach einem Nürnberger Tribunal gerufen wird, wie es jetzt in bezug auf die DDR ein beliebtes Thema ist.In der „Frankfurter Rundschau" las ich gestern ein Interview mit Daniel Tjongarero von der SWAPO. Er könne es nicht akzeptieren, daß in Namibia eine Politik der Versöhnung vollzogen wird, dagegen in der Bundesrepublik keine Großherzigkeit waltet. Er erklärte weiter:Ich denke schließlich, wenn uns Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher 1982 bei den Durchführungsverhandlungen zur UN-Resolution 435 zwingen konnte, die Bedingung zu akzeptieren, daß wir Verbrechenstatbestände nicht nachträglich juristisch verfolgen können, dann möchte ich wissen, warum die Bundesrepublik die Taten von ostdeutschen Agenten, Botschaftern und Beamten nachträglich aburteilt.Warum also wird mit der ehemaligen DDR anders verfahren?Ich sehe keine andere Ursache als die, daß unsere Richter, Botschafter, Wissenschaftler, Künstler an einem gescheiterten Versuch mitgewirkt haben, in Deutschland den Sozialismus aufzubauen, während es sich in Südafrika vorher und heute um Kapitalismus handelt. Dieser Versuch wird nicht verziehen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ein Satz noch, bitte.
In dem Apartheid-Südafrika konnte Siemens Fabriken errichten, in der DDR nicht. Die Antwort wird vielen von Ihnen zu einfach sein, aber ich habe keine andere gefunden. Vielleicht helfen Sie mir.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Volkmar Köhler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die dringende Bitte an die Bundesre-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3899
Dr. Volkmar Köhler
gierung, aber auch an uns alle, diesen Antrag nicht nur als einen Antrag zum Thema südliches Afrika zu verstehen. Von seiner grundsätzlichen Intention her beschäftigt er sich mit Afrika im ganzen. Ich glaube, wenn uns heute viele gerade auch entwicklungspolitisch orientierte Leute in der Presse sagen, Afrika könne man eigentlich vergessen, dann ist das der Moment, genau die gegenteilige Position einzunehmen.Wir brauchen neue Impulse für die deutsche und auch für die europäische Afrikapolitik. Es ist dringend. Wir müssen Wege finden, um die Produktivkräfte Afrikas zu stärken, wenn dieser Kontinent nicht im Elend untergehen soll. Die demographischen Zahlen sind dramatisch. Seit Jahren wird in Afrika das Wirtschaftswachstum durch das Bevölkerungswachstum übertroffen. Das ist ein Verarmungszenario.Kollege Toetemeyer hat etwas zur Finanzierungsstruktur gesagt. Der Nettokapitaltransfer nach Afrika ist heute überwiegend nur noch durch staatliche Zuwendungen, aber nicht mehr durch wirtschaftliche Impulse gekennzeichnet. Afrika hat in hohem Maße an Attraktivität verloren.Aus diesem Szenario versucht der vorliegende Antrag einen Weg herauszufinden, auch wegen der Tatsache, daß die seit Jahrzehnten in Europa geltende Vision eines Eurafrika, einer Zusammenarbeit zwischen Rohstoffproduzenten und verarbeitenden Volkswirtschaften, daran zerbrochen ist, daß man hier völlig ungleiche Kräfte zusammenzuspannen versucht hat.Es ist aus diesem Grunde erforderlich, die historische Situation aufzugreifen. Denn Afrika wird nicht mehr durch die Strukturen zusammengehalten, die einmal von der Ost-West-Spannung oder von gemeinsamen Feindbildern geprägt wurden. Wir haben wirklich die Möglichkeit, neue konzeptionelle Überlegungen anzustellen. Wir müssen in dieser Situation den Vorschlag, den die Präsidenten Arab Moi und de Klerk vorgelegt haben, in Afrika vier Zonen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu begründen, ernsthaft diskutieren. Ich kenne die Hindernisse. Ich weiß, was in Ostafrika auf diesem Gebiet gescheitert ist. Ich kenne die Unwirksamkeit der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ich weiß, wie schwer es ist, aus Nachbarländern, deren Außenhandel jeweils zu 70 % bis 100 % vom gleichen Rohstoff abhängt, eine Wirtschaftsgemeinschaft zu machen.Trotzdem muß auf dieses Thema eingegangen werden. Es gibt inzwischen die UMA, die Vereinigung der Maghreb-Staaten. Die Maghreb-Staaten sind auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Das geht uns sehr viel an, meine Damen und Herren. Denn dort ist die Bevölkerung zu 50 % jünger als zwanzig Jahre und fragt nach Arbeit, Brot, Behausung und einer Zukunft. Wenn sie sie da nicht finden, werden sie sie in Europa suchen. Wir können über Asylprobleme und Einwanderungsgesetze für die Europäische Gemeinschaft nicht nachdenken, ohne uns dieser Frage mit allem Nachdruck zuzuwenden.
Wir haben genau die gleiche Dringlichkeit im südlichen Afrika. Schon 1987 haben wir auf der SADCC-Konferenz von Gaborone die konfrontative Situation zwischen den SADCC-Staaten und der Südafrikanischen Republik weitgehend überwunden. Jetzt geht es darum, den Beteiligten zu raten und zu helfen und ihnen mit unseren überragenden Erfahrungen in der Konstruktion von Zonen wirtschaftlicher Kooperation Wege zu zeigen, wie die Südafrikanische Republik in den Zusammenarbeitsmechanismus von SADCC eintreten kann, in einen Bereich, in den die deutsche Entwicklungshilfe seit 1981 immerhin runde zwei Milliarden DM plaziert hat. Das gibt uns das Recht und die Möglichkeit, uns dort am Gespräch zu beteiligen.Die südafrikanische Regierung plant nicht etwa, am Lomé-Abkommen zu partizipieren. Das würde eine völlig ungute Situation schaffen. Das weiß sie auch. Aber die Frage, ob ein europäisches Kooperationsabkommen mit einer südafrikanischen Wirtschaftszone eines Tages vernünftig und richtig ist, sollte rechtzeitig gestellt werden. Natürlich gibt es da Eifersucht und Sorge. Simbabwe hat Sorge um seine Fachkräfte und seine Industrie bei einer solchen Zusammenarbeit. Um so wichtiger ist es, diesen Regierungen und Staaten klarzumachen — wie das vorhin Herr Toetemeyer gesagt hat — , daß dabei alle etwas gewinnen können. Natürlich ist es auch ganz wichtig, der Regierung in Pretoria klarzumachen, daß sie diese Chance nicht mit der Errichtung einer politischen oder wirtschaftlichen Hegemonie verwechseln darf. Denn im dem Moment, wo das versucht würde, wäre der Ansatz von vornherein gescheitert.Aber wir müssen darüber reden, daß Wachstum der Wirtschaft nötig ist, wenn z. B. in den nächsten Jahrzehnten — denn so lange wird es dauern — die Strukturen überwunden werden sollen, die in der Apartheidszeit entstanden sind und die überwunden werden müssen. Wir wissen doch, daß die Gleichstellung des Bildungssystems für die schwarze Mehrheit in Südafrika nicht mit 18 % des Etats des Landes zu machen wäre, sondern daß dazu 47 % des Etats des Landes gehören würden — wenn man diese Gleichstellung erreichen will — , was so gar nicht vorstellbar ist. Aber man kann Wege finden — und es sind einsichtsvolle Bildungspolitiker beim ANC vorhanden, mit denen man darüber reden kann — , um dies glaubhaft schrittweise in Gang zu setzen.Wir sollten dem ANC und den SADCC-Regierungen, mit denen wir doch auch in guten Gesprächsverhältnissen sind, deutlich machen, daß wir vielleicht verstehen, wenn sie im Moment um taktischer Vorteile beim Verfassungsprozeß willen bei den Entscheidungen auf diesem Wege zögern, daß aber das Taktieren, um kurzfristige Vorteile zu erreichen, schädlich ist, wenn es um die Zukunftsstrategien geht, die in Wahrheit für diesen Teil Afrikas Frieden, Wohlstand und ein menschenwürdiges Leben bringen können.
Ein letzter Gesichtspunkt, meine Freunde: Wir werden uns immer etwas darüber unterhalten, wie wir im Moment Präsident de Merk und die Haltung seiner Regierung bewerten. Aber lassen Sie uns eines nicht
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3900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Volkmar Köhler
vergessen: Eine andere und bessere Chance zur Überwindung der Apartheid als diesen Präsidenten und seine Regierung finden wir weit und breit nicht.
Hier ist auch die Frage, ob wir es uns leisten können, möglicherweise den Verfall seiner politischen Basis zu betrachten, oder ob wir nicht die Pflicht haben, jetzt Angebote zu machen, die unmißverständlich auch den ewig Gestrigen in Südafrika signalisieren, daß wir diesen Weg wollen und daß die politische und die wirtschaftliche Kraft der freien Welt dazu zur Verfügung steht, wenn endlich Vernunft und Friede eintreten. Hier sind weitreichende politische Impulse nötig. Ich appelliere an die Bundesregierung, ich beschwöre die Bundesregierung, dies nicht im operationalen Detail abzuhandeln, sondern zu sehen, daß wir hier die Chance haben, einen neuen Weg einer Politik für Afrika in seiner Gesamtheit und speziell für Südafrika zu entwickeln. Ich bitte es deswegen auch als politische Initiative gegenüber diesen Regierungen, wie es im Antrag in II unter 2.2 steht, ernst zu nehmen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist leider weit überschritten.
Herr Präsident, ich war zu Ende. Ich danke für Ihre Geduld.
Das Wort hat der Abgeordnete Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist das Schicksal, wenn man einer so kleinen Gruppe angehört.
— Auch die Gefahr, natürlich.Dennoch begrüßt die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE die Behandlung der Regionalpolitik des südlichen Afrika im deutschen Parlament und unterstützt den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP in vielen Punkten.
Für das südliche Afrika gibt es die berechtigte Hoffnung, daß es gelingen könnte, dem Teufelskreis von Gewalt zu entkommen und einer friedlichen Entwicklung den Weg zu bahnen. In Angola bemühen sich jahrzehntelang verfeindete Gegner, die Zukunft ihres Landes friedvoll zu gestalten. Auch in Mosambik mehren sich die Anzeichen, daß statt der Waffen die politische Vernunft eine Chance erhält. Namibia nutzt seine Unabhängigkeit mit erfreulicher Souveränität. Und Südafrika beginnt, der Apartheid den Rücken zu kehren.In den Staaten Afrikas wird über die Einführung von Mehrparteiensystemen und Pluralismus, Meinungsfreiheit und Marktwirtschaft gestritten, wird nach Wegen zur Integration von präkolonialen und kolonialen Traditionen gesucht. Afrika entdeckt sein eigenes schönes Gesicht.Der Wille zu radikalen Reformen ist da. Doch unübersehbar ist auch die Tatsache, daß es den Afrikanern, die in den Gebieten südlich der Sahara leben, nach den Jahren der geleisteten Entwicklungszusammenarbeit schlechter geht als zum Ende der Kolonialzeit. Der Verfall der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt hat dem Kontinent von 1981 bis 1990 einen Verlust von 150 Millionen Dollar gebracht. Das Bruttosozialprodukt der meisten Staaten Afrikas sank in den letzten Jahren, während der Schuldenberg wuchs. Die von den nördlichen Kreditgebern empfohlenen Strukturanpassungen steigerten die Armutsexplosion mehr, als daß sie sie bremsten.Es besteht kein Zweifel, daß Afrika bei allen Bemühungen, sich selbst aus seiner tiefen Krise zu befreien, nicht alleingelassen werden kann. Wir wissen aber auch, daß mit unserer Unterstützung allzuleicht auch unser Wertesystem, unser Demokratieverständnis, unser Verständnis von Menschlichkeit und Kultur, exportiert werden kann. Zwar wehren sich die Afrikaner mit zunehmendem Selbstbewußtsein, aber der hohe Grad an wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit läßt ihnen dabei nur einen geringen Spielraum.Mir scheint leider auch der vorliegende Entschließungsantrag nicht frei zu sein von postkolonialer Arroganz; zumindest berücksichtigt er mir nicht sensibel genug das afrikanische Selbstbewußtsein, das Selbstbestimmungsrecht und den Selbstbestimmungswillen.
— Ich habe aber den Antrag gelesen, und wir können gern darüber diskutieren, in welchen Punkten ich das gesehen habe. Ich denke, es ist eher unterschwellig, aber es sind europäische Denkansätze. Erst wenn wir lernen, gänzlich andersartige Sozialisierungsmodelle als demokratisch, also dem Volkswillen gemäß, zu begreifen und ein gänzlich andersartiges Menschenbild als human zu akzeptieren, haben wir die Fesseln des kolonialen Denkens wirklich überwunden.Eine schnelle Integration Südafrikas in die SADCC, wie in diesem Antrag gefordert, stehen wir skeptisch gegenüber. Sie würde eine ausgeglichene Entwicklung der Region erschweren. Südafrika hat, wirtschaftlich gesehen, das dreifache Potential der Region, und die in den SADCC-Leitlinien ausgedrückte Distanz zu Afrika ist nicht nur politisch zu verstehen, sondern auch als Ansatz, die wirtschaftliche Abhängigkeit zu reduzieren.Die Absichtserklärungen der SADCC, Südafrika einzugliedern, sind in der Organisation nicht unwidersprochen. Solange nicht die letzten Elemente der politischen Apartheid in Südafrika beseitigt sind, muß unser Engagement zurückhaltend bleiben. Dabei wissen wir auch, daß es zur Überwindung der sozialen, der mentalen Apartheid ein weiter Weg ist. Diesen
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Konrad Weiß
Prozeß der inneren Befreiung und Befriedung erfolgreich zu unterstützen, setzt höchste politische Verantwortung und Sensibilität voraus.
Das Wort hat der Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen, unser Kollege Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Vielen Dank für die netten Worte!
Meine Damen und Herren! Seit der letzten Bundestagsdebatte am 15. März 1990, die sich mit dieser Region befaßt hat, hat sich die Lage verändert, auf die Veränderungen im südlichen Afrika ist hingewiesen worden. Die Unabhängigkeit Namibias ist inzwischen zustande gekommen, Angola ist auf dem Weg zur Aussöhnung und zum Frieden und auch zu einer demokratischen Entwicklung. Eine neue Runde der Verhandlungen zwischen der Regierung in Mosambik und Renamo hat gerade in Rom begonnen. Staaten der Europäischen Gemeinschaft drängen auf eine demokratische Entwicklung auch in diesem Land. Nur so kann dieser unselige und schreckliche Bürgerkrieg beendet werden. Ich hoffe allerdings auch, daß es gelingen wird, all die vielen Quellen auszutrocknen, die dieser Organisation Renamo immer noch die Möglichkeit geben, durch Überfälle schlimmste Schäden in Mosambik anzurichten.
Meine Damen und Herren, die Situation im südlichen Afrika hing immer von der inneren Lage und dem äußeren Verhalten Südafrikas als der bedeutendsten Regionalmacht ab. Wir sind froh, daß es durch die Regierungsübernahme des Staatspräsidenten de Klerk zu wesentlichen Fortschritten in Südafrika gekommen ist, was alle Redner heute betont haben.
Deutliche Schritte zur Abschaffung der Apartheid wurden gemacht. Staatspräsident de Klerk und der ANC-Führer Nelson Mandela haben ein von Respekt getragenes gegenseitiges Vertrauensverhältnis entwickelt. Dies wurde zur Grundlage vieler bis dahin nicht vorstellbarer Gespräche zwischen der Regierung Südafrikas und den wichtigsten Antiapartheidsorganisationen.
Nach zwei Jahren zum erstenmal wieder in diesem Land bei einem Zwischenaufenthalt am vergangenen Samstag, habe ich mich selbst davon überzeugen können, auf welche Weise es heute möglich ist, daß Vertreter der Regierung und der schwarzen Bevölkerungsmehrheit, und zwar aller ihrer Gruppen, sachlich, unpolemisch, ja fast freundschaftlich miteinander diskutieren. Natürlich dürfen wir die hier genannten Fakten nicht übersehen, daß zwar ganz wesentliche Apartheidsgesetze abgeschafft wurden, aber in der Wirklichkeit die Rassentrennung nicht völlig beseitigt ist, daß vor allem die Homelands sowohl für die Überwindung der Apartheid als auch für die Schaffung einer föderalen Ordnung, wie man sie ja erstrebt, ein sehr wesentliches Hindernis darstellen, daß es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, trotz des Friedensabkommens vom April dieses Jahres, bei denen auch die Sicherheitskräfte in Südafrika eine außerordentlich fragwürdige Rolle spielen, und schließlich, daß durch die Aufdeckung von Zahlungen der Regierung an die Inkatha das Vertrauen in diese politische Organisation durchaus erschüttert ist.
Ohne jeden Zweifel aber ist viel Positives erreicht worden. Die Verfassungsdiskussion im Lande ist in vollem Gange. Die Regierungspartei bekennt sich jetzt zu demokratischen Prinzipien wie „one person, one vote", was lange Jahre selbst bei uns umstritten war.
Die Bundesregierung bemüht sich, durch Gespräche sowohl mit der Regierung Südafrikas als auch mit dem ANC diesen Prozeß zu fördern und zu beschleunigen. Durch unsere positiven Maßnahmen vor allem im kulturellen Bereich wollen wir die krassen Unterschiede in den Lebensumständen der Schwarzen und Weißen mildern.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß Präsident de Klerk in Bloemfontein erklärt hat, daß die Verfassungsvorstellungen der Nationalpartei keineswegs eine fertige Verfassung darstellen, sondern daß intensive Verhandlungen hierüber erfolgen müssen, bei denen es natürlich auch darauf ankommt, daß alle Seiten zu Kompromissen bereit sind.
Das Zusammentreten einer Allparteienkonferenz scheint noch in diesem Jahr möglich zu sein. Wir hoffen, daß die letzten politischen Gefangenen vor allem in Homelands wie Bophuthatswana bis dahin freigelassen sind.
Auf die Entwicklung in Südafrika reagieren die Staaten des südlichen Afrikas mit Hoffnungen. Zugleich aber zeigen sie — ich glaube, Herr Kollege Köhler, dafür muß man auf Grund früherer Erfahrungen Verständnis haben — Zurückhaltung. Wir sollten ihre Vorsicht nicht tadeln, denn zuviel hängt für sie von der Entwicklung in Südafrika ab.
Sie wissen, welche politische und wirtschaftliche Bedeutung dieses Land für die gesamte Region hat und erst recht haben wird.
Deshalb ist es zu begrüßen, daß sich die Mitgliedstaaten der SADCC im August 1991 auf einer Konferenz in Arusha bereit erklärt haben, ein Postapartheid-Südafrika in ihre Region aufzunehmen. Ich habe daran auch gar keinen Zweifel. Damit stünde auch dem Beitritt Südafrikas in diese Organisation für afrikanische Einheit nichts mehr im Wege.
Herr Staatsminister, Sie haben zwar nur noch 15 Sekunden Redezeit, aber ich unterbreche Sie, um Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Köhler zulassen.
Ich bitte um Verständnis; wir können das gleich unmittelbar im Anschluß an diese Debatte in einem wie üblich guten Dialog fortsetzen.
Aber es würde Ihnen nicht angerechnet.
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3902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Ich fürchte nur, meine Kollegen sind nicht so froh, wenn sich die Gesamtdauer der Debatte verlängert. Bitte schön, Herr Kollege Köhler, wie immer. Ich bin mit meinen Ausführungen fast am Ende.
Herr Staatsminister, ich möchte nur kurz von Ihnen wissen, ob das auch bedeutet, daß die Bundesregierung eine Vereinbarung über eine atomwaffenfreie Zone zwischen den SADCC-Staaten und der Südafrikanischen Republik aktiv unterstützen würde.
Ich gehe davon aus, daß wir eine solche Entwicklung unterstützen werden. Ich glaube, es liegt im Gesamtinteresse unserer Politik, daß wir Regionen von solchen Waffen befreien, die dort nicht hingehören.
Nur wenn die Menschen in allen Staaten des südlichen Afrikas Selbstvertrauen in die Entwicklung in ihrem Nachbarland gefunden haben, wird die Region wirklich und endgültig zur Ruhe kommen. Ob dies geschieht, hängt vor allem von der weiteren Entwicklung in Südafrika ab.
Mit dem heute zu beschließenden Antrag, der die gute Überschrift „Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika" hat, will der Deutsche Bundestag — wir fördern und unterstützen das natürlich — diese Entwicklung ermutigen. Sie soll einen Beitrag zum Zusammenwachsen der Region leisten.
Die Bundesregierung ist — das hat Herr Kollege Spranger schon deutlich gemacht — bereit, bei der Schaffung eines neuen demokratischen Südafrikas ihren Rat zur Verfügung zu stellen, wenn dieser Wunsch an sie herangetragen werden sollte.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/851 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zweiten Fakultativprotokoll vom 15. Dezember 1989 zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe
— Drucksache 12/937 —Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rudolf Bindig, Evelin Fischer ,
Monika Ganseforth, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966
— Drucksache 12/556 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Darüber scheint Einverständnis zu herrschen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Rainer Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Zweiten Fakultativprotokoll zum internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, das die Bundesregierung zur Ratifizierung durch Deutschland vorschlägt, wird an die Staaten in aller Welt appelliert, sich durch Annahme des Protokolls in völkerrechtlich bindender Form zur Abschaffung der Todesstrafe zu verpflichten. Das Zweite Fakultativprotokoll geht somit sehr viel weiter als das Sechste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, über das wir in diesem Hause 1988 beraten haben und das einen entsprechenden Appell nur an den Kreis der Mitgliedstaaten des Europarats richtet. Ich darf daran erinnern, daß mein Vorgänger im Amt hier 1988 — als es um die Ratifizierung des Sechsten Zusatzprotokolls ging — erklärte
— nein — :Das Ziel der Bundesrepublik ist und bleibt die weltweite Abschaffung der Todesstrafe. Auf dem Weg zu diesem Ziele sehen wir das Sechste Protokoll nur als eine Etappe an. Weitere Schritte müssen folgen.Heute kann die Bundesregierung mit Genugtuung feststellen, daß ein zweiter, sehr wesentlicher Schritt mit dem Zustandekommen des Zweiten Fakultativprotokolls zum Zivilpakt gelungen ist, bei dem es um die Abschaffung der Todesstrafe auf der Ebene der Vereinten Nationen geht. Darüber sind wir besonders deswegen erfreut, weil das Protokoll auf eine deutsche Initiative zurückgeht. Innerstaatlich bereitet die Ratifizierung des Zweiten Protokolls keine Schwierigkeiten.Der Beitritt zum Ersten Fakultativprotokoll — und das mögen Sie mit Ihrem Zwischenruf eben gemeint haben —
zum Zivilpakt, das einzelnen Bürgern das Recht gibt, sich mit Beschwerden an den Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen zu wenden, verursacht demgegenüber Kopfschmerzen. Wie Sie wissen, ha-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3903
Parl. Staatssekretär Rainer Funkeben sich alle Bundesregierungen, die seit der Auflegung des Fakultativprotokolls zur Zeichnung am 19. Dezember 1966 im Amt waren, nicht zum Beitritt entschließen können. Das betrifft sowohl die große Koalition als auch die sozial-liberale Koalition als auch seit 1982 die neue Koalition. Denn das Kontrollsystem des Fakultativprotokolls ist schwächer als das nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Überschneidungen der beiden Kontrollsysteme und eine Schwächung des besseren regionalen Schutzsystems mußten vermieden werden. Außerdem waren für Beschwerden aus Berlin Schwierigkeiten zu befürchten.Der nun vorliegende Entwurf der SPD-Fraktion gibt uns Gelegenheit, diese Frage erneut zu prüfen, und dies ist sicherlich auch von seiten der Bundesregierung als nützlich zu betrachten. Denn es kann ja kein Zweifel daran bestehen, daß der Zivilpakt zu den grundlegenden internationalen Menschenrechtspakten gehört. Die Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Staaten gibt uns einen Anstoß, über die Stärkung des internationalen Menschenrechtsschutzes nachzudenken. Ich denke dabei insbesondere an die Staaten, die einen Beitritt zum Ersten Fakultativprotokoll erwägen und bisher ihren Bürgern keine Beschwerdemöglichkeit an internationale Kontrollorgane eröffnen. Sie sollten zum Beitritt ermuntert werden. Zu bedenken ist auch, daß der Abbau der Ost-West-Spannungen einige der bisher gegen den Beitritt Deutschlands zum Ersten Fakultativprotokoll sprechenden Gründe in einem anderen Licht erscheinen läßt.Andere Bedenken bleiben. Die Staaten des früheren Ostblocks schicken sich an, sich dem Europäischen Kontrollsystem anzuschließen. Unter diesen Umständen könnte es fraglich sein, ob es das richtige Signal ist, das schwächere universelle Kontrollsystem zu stärken. Schließlich möchte ich an das bekannte Problem der Zuständigkeit für Vorlagen für Vertragsgesetze erinnern.Die Bundesregierung wird prüfen, ob sie ihrerseits die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum jetzigen Zeitpunkt vorschlagen kann.Ich danke Ihnen.
Herr Abgeordneter Rudolf Bindig, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sowohl die gerade zu Ende gegangene Moskauer KSZE-Konferenz über die menschliche Dimension als auch die mit weltweiter Beteiligung abgehaltene Straßburger Konferenz über parlamentarische Demokratie haben die Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß die internationalen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte und die Rechte der Völker verstärkt und ständig verbessert werden müssen, um wirklich effizient zu werden.Menschenrechte sind nicht länger ausschließlich die Angelegenheit von Staaten, sondern die Verletzung von Menschenrechten begründet ein internationales Recht — wenn nicht gar eine Pflicht — auf Intervention. Die Geltendmachung von international übernommenen Menschenrechtsverpflichtungen ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten. Diese Auffassung stellt einen noch vor wenigen Jahren undenkbaren Fortschritt in der Menschenrechtsdebatte dar.Die Verstärkung des vorhandenen internationalen Menschenrechtsinstrumentariums und die Einbindung von möglichst vielen Staaten in die kodifizierten Abkommen gewinnen weiterhin dadurch an Bedeutung, daß sich der frühere Gegensatz zwischen westlichem und östlichem Menschenrechtsverständnis weitgehend aufgelöst hat. Unter den Begriffen „Menschenrechte", „Demokratie" und „Rechtsstaat" wird jetzt in weiten Bereichen dasselbe verstanden. Der Beitritt möglichst vieler Staaten zu den bestehenden großen, weltweiten Menschenrechtspakten und ihren Zusatzabkommen ist deshalb besonders wichtig.Wir diskutieren heute den Beitritt Deutschlands zu zwei wichtigen Zusatzabkommen zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, den Zusatzprotokollen zur Abschaffung der Todesstrafe und zur Anerkennung der Individualbeschwerde. Der Gesetzentwurf zur Abschaffung der Todesstrafe ist von der Bundesregierung eingebracht worden, der Gesetzentwurf zur Anerkennung der Individualbeschwerde von Abgeordneten der SPD. Hinter den unterschiedlichen Einbringsungswegen steckt durchaus politische Brisanz.Das Abkommen zur völkerrechtlichen Ächtung und weltweiten Eindämmung der Todesstrafe geht auf eine Initiative der damals SPD-geführten Bundesregierung von 1980 zurück. Nachdem die Beratung des eingebrachten Entwurfs in den Gremien der Weltorganisation zunächst einen äußerst zähen Verlauf genommen hatte, trat allmählich ein Meinungswechsel ein, der zeigte, daß die Zweifel an der Berechtigung der Todesstrafe weltweit gewachsen sind und daß eine größere Sensibilität der Regierungen für das Problem der Todesstrafe eingetreten ist.Dieser Meinungsumschwung in den Vereinten Nationen ist auch durch den politischen Wandel in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Staaten wesentlich bewirkt worden, die sich in der letzten Phase der Beratung aktiv für das Protokoll eingesetzt haben. Daß die deutsche Initiative zur weltweiten Eindämmung der Todesstrafe dann doch noch zum Erfolg führte, dazu hat schließlich auch beigetragen, daß zahlreiche afrikanische und asiatische Staaten durch Stimmenthaltung mitgeholfen haben, daß der Entwurf die UN-Generalversammlung passieren konnte.Die vom Islam geprägten Staaten lehnen die Abschaffung der Todesstrafe als unvereinbar mit ihrer Religion ab. Besonders bedauerlich ist, daß die USA an der Todesstrafe weiterhin festhalten wollen und bei der Schlußabstimmung gegen das Fakultativprotokoll gestimmt haben.Für Deutschland selbst ist das Abkommen materiell von geringerer Bedeutung, weil der Grundgesetzartikel 102 eindeutig festlegt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Außerdem hat sich Deutschland durch Beitritt zu einem Zusatzabkommen zur Europäischen Menschenrechtskonvention auch international bereits eindeutig zur Ächtung der Todesstrafe verpflichtet. Die Bedeutung dieses Abkommens liegt darin, daß
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3904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Rudolf BindigStaaten, die noch an der Todesstrafe festhalten, damit ermutigt werden sollen, diesen wichtigen Schritt nachzuvollziehen.Das Abkommen ist von Deutschland initiiert worden. Es ist nach Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung zügig gezeichnet worden, und die Bundesregierung legt jetzt das Ratifikationsgesetz dem Bundestag vor. Es gibt keinen Zweifel, daß der Bundestag das Gesetz ebenfalls zügig ratifizieren wird.Gänzlich anders liegen die Dinge bei dem Abkommen, das die Anerkennung der Individualbeschwerde im Rahmen des Zivilpaktes regelt. Dieses Abkommen ist bereits im Dezember 1966 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen worden und durch die entsprechende Anzahl von Ratifikationen 1976 in Kraft getreten. Obwohl knapp 50 Staaten, darunter die Mehrheit der Europarats-Staaten, das Fakultativprotokoll ratifiziert und damit die Kompetenz des Ausschusses für Individualbeschwerden anerkannt haben, hat sich die Bundesregierung bisher zäh gesträubt, das Abkommen überhaupt zu zeichnen, geschweige denn dem Bundestag das Ratifikationsgesetz zuzuleiten.Wieder einmal müssen wir Abgeordneten von der SPD zu dem ungewöhnlichen Schritt greifen, zu einem internationalen Abkommen den Entwurf eines Ratifikationsgesetzes aus dem Bundestag vorzulegen. Der Bundesregierung wird dieses Verfahren erneut nicht behagen, obwohl der Geschäftsordnungsausschuß eindeutig festgestellt hat, daß der Weg der Einbringung eines Entwurfs eines Ratifikationsgesetzes zu einem internationalen Abkommen aus den Reihen der Mitglieder dieses Hauses durchaus zulässig ist. Vermutlich dürfte das allerdings der erste Fall sein, bei dem im Bundestag der Entwurf eines Ratifikationsgesetzes auf diesem Wege vorgelegt wird, obwohl das Abkommen von der Bundesregierung bisher noch nicht einmal gezeichnet worden ist.Über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren haben wir die Bundesregierung mit Abgeordnetenfragen, Kleinen Anfragen und in Entschließungsanträgen des Bundestags immer wieder aufgefordert und ermahnt, das Abkommen zu zeichnen und dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung vorzulegen — leider ohne damit die Lethargie der Bundesregierung in dieser Frage zu durchbrechen.Richtig ist, daß das Individualbeschwerdeverfahren des Protokolls hinter den Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention in einigen Bereichen zurückbleibt. Eine Individualbeschwerde im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention wird in einem justizförmigen Verfahren ausgeübt, das in der Regel durch eine abschließende Konventionsentscheidung oder durch ein verbindliches Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abgeschlossen wird.Auch wenn die Entscheidungen des UN-Ausschusses völkerrechtlich nicht dieselbe Bindungswirkung wie jene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entfallten, kommt ihnen dennoch eine große moralische und politische Bedeutung zu. In einer beachtlichen Zahl von Fällen konnte der Ausschuß massive Verletzungen der Rechte auf Leben, persönliche Freiheit, physische Integrität, gerechtes Gerichtsverfahren, Meinungsfreiheit, politische Partizipation und ähnlicher Rechte feststellen.Der Pakt enthält zudem einige Rechte, die in der europäischen Konvention nicht enthalten sind, z. B. das Selbstbestimmungsrecht, Rechte der Angehörigen von Minderheiten, das Recht auf gleiche Ämterzugänglichkeit oder das Recht Fremder, nicht willkürlich des Landes verwiesen zu werden. Steckt hinter dem zuletzt genannten Recht vielleicht ein Grund dafür, daß das Bundesministerium des Innern und insbesondere ein südliches Bundesland gegen die Ratifikation dieses Abkommens agieren?Aufhorchen läßt auch, daß die Bundesregierung ihre Argumentation zu der Frage, warum sie bisher nicht zu einer Zeichnung und Ratifikation bereit gewesen ist, im Lauf der Debatte gewechselt hat. Während mir der damalige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Dr. Jahn, 1987 schriftlich als einen der hauptsächlichen Gründe, die die Bundesregierung bisher veranlaßt haben, das Fakultativprotokoll nicht zu zeichnen und nicht zu ratifizieren, genannt hat, „daß in den allgemeinen Erläuterungen zur Kommentierung zu Art. 6 des Zivilpakts festgestellt wird, daß der Besitz von Atomwaffen das Recht auf Leben verletzt, und daß bei Annahme des Fakultativprotokolls dies ein Einfallstor für Protestbewegungen wäre, die ihre Ablehnung der Atomraketenstationierung im Wege einer Vielzahl von Einzelbeschwerden geltend machen könnten", hat sie später diese Begründung, die ich schriftlich habe, nicht nur fallenlassen; sie wollte sie gar nicht mehr wahrhaben.Als Begründungen wurden dann Sorgen geäußert, daß die westliche Gruppe unter den 18 Mitgliedern im Ausschuß in der Minderheit sei, daß es Probleme bei der Vertretung von Berlin durch die Bundesrepublik Deutschland geben könnte und daß man gegen Doppelverfahren im UN-System und im europäischen Menschenrechtssystem sei.Da das Abkommen selbst Doppelverfahren von Individualbeschwerden, die bereits in einem regionalen Menschenrechtssystem behandelt worden sind, ausschließt, die Berlinproblematik sich inzwischen erübrigt hat und außerdem der frühere Ost-West-Gegensatz die Willensbildung im Ausschuß nicht mehr prägen dürfte, hoffen wir nun, daß die Bundesregierung endlich ihren Widerstand gegen die Ratifikation dieses Abkommens fallenläßt.Der Pakt stellt einen wichtigen Schritt zum Ziel der weltweiten Anerkennung von Individualbeschwerden dar und hilft, den Standard weltweit geltender Rechtsinstrumente auszubauen. Dieses Abkommen soll Staaten, die bisher keine Individualbeschwerde anerkennen, dazu ermutigen, diesen wichtigen Schritt nachzuvollziefien.Unser Gesetzentwurf soll die Denkprozesse bei der Bundesregierung anregen. Wir hoffen, daß sich die Bundesregierung und vor allem die Abgeordneten der sie tragenden Fraktionen im Deutschen Bundestag davon überzeugen lassen, daß die Zeit drängt, daß
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3905
Rudolf Bindigauch Deutschland diesem wichtigen Abkommen beitritt.
Herr Kollege Heinrich Seesing, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Beratung von Gesetzentwürfen der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion zur Sicherung von Menschenrechten ist ein guter Anlaß, wieder einmal über unsere Zäune zu schauen und die Sorgen der Weltgemeinschaft ins Auge zu fassen. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung geht es um die Abschaffung und Ächtung der Todesstrafe in aller Welt. In den vergangenen Jahren hat sich der Deutsche Bundestag schon mehrfach mit dieser Frage befaßt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 die Todesstrafe abgeschafft. Schon viele Staaten der Erde haben den gleichen Schritt vollzogen. Dennoch hat mir sehr zu denken gegeben, daß in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 15. Dezember 1989 nur 59 Staaten dem sogenannten Zweiten Fakultativprotokoll, das ja Gegenstand des vorgelegten Gesetzentwurfs ist, zugestimmt haben. 26 Staaten stimmten dagegen, 48 enthielten sich. Der Weg ist also noch sehr weit, bis alle Staaten der Erde auf die Verhängung und die Vollstreckung der Todesstrafe verzichten werden.
Nun geht dieses menschenrechtspolitische Instrument auf eine deutsche Initiative zurück. Auch deswegen sollten wir um eine rasche Ratifizierung besorgt sein. Es wäre nur zu wünschen, wenn wir bei allen internationalen Vereinbarungen ein schnelleres Tempo zustande brächten.
Es stellt sich die Frage: Warum halten eigentlich noch so viele Staaten an der Todesstrafe fest? Sicher, oft gibt es dafür historische oder religiöse Gründe. Oft scheint mir aber das Verhältnis zum Leben insgesamt getrübt zu sein. Eine Welle von Grausamkeit, von Mißachtung des Lebens, von Haß und von Mord und Totschlag, durchzieht die Welt, auch unser Land. Ich bin erschüttert, wenn ich sehe, wie leichtfertig gerade junge Menschen Verwundungen und Verletzungen bei anderen, ja sogar den Tod anderer in Kauf nehmen, um ihr Mütchen zu kühlen.
Im Grunde geht es in all den Diskussionen, die wir in diesen Monaten führen, immer wieder um unsere Einstellung zum Leben des Menschen. Da muß die Frage erlaubt sein, welchen Platz wir den Ausländern in unserer Gesellschaft einräumen, wie wertvoll uns ihr Leben ist, für wie wertvoll wir sie halten, die unser Bruttosozialprodukt um 100 Milliarden DM jährlich bereichern. Aber es geht auch um die Frage, wie wir den Mißbrauch mit dem bisher freiesten Asylrecht der Welt verhindern wollen — und das den Menschen zuliebe, die wirklich auf unsere Hilfe angewiesen sind, wenn Tod und Verletzung sie bedrohen.
Ich frage auch nach der Ernsthaftigkeit unseres Redens über die Rechte des Menschen und den Schutz ' seines individuellen Lebens, wenn wir noch nicht einmal in der Lage sind, die ungeborenen Kinder vor Willkür zu schützen. Selbst die Frage, wie wir es denn in Zukunft mit dem Menschen am Ende seines Lebens halten, muß bei uns diskutiert werden. Kann nicht Euthanasie, bei uns aus historischen Gründen lieber Sterbehilfe genannt, für manchen alten Menschen nichts anderes sein als die Vollstreckung eines Todesurteils, das Verwandte und Ärzte gegen ihn ausgesprochen haben?
In dieser Situation ist mir recht, daß wir durch den Gesetzentwurf der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gezwungen werden, uns mit der Frage zu befassen, wie denn nun Menschenrechtsverletzungen erfaßt und geprüft werden sollen. Auch hier will ich nicht auf die feinen Unterschiede eingehen, die zwischen dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 und der Europäischen Menschenrechtskonvention bestehen.
Sinn all dieser internationalen Vereinbarungen soll es ja sein, irgendwie und irgendwann Verhältnisse zu schaffen, unter denen jeder Mensch seine bürgerlichen und politischen, seine wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und schließlich auch religiösen Rechte genießen kann. Meine Damen und Herren, wie muß sich diese Welt noch ändern, wenn sie diesen Zustand herbeiführen will!
Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über die Ratifizierung der beiden Fakulativprotokolle zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 beraten, so erfolgt das zu einer Zeit, in der täglich massenweise Menschenrechtsverletzungen vorkommen.Von welcher Bedeutung die Ratifizierung dieser beiden Fakultativprotokolle ist, wird deutlich, wenn wir die soeben durch die Presse gegangene Information von amnesty international betrachten: Nach den vorliegenden Informationen befinden sich in den USA zur Zeit 2 400 zum Tode Verurteilte in Gefängnissen. Eine nicht unbedeutende Zahl davon sind Jugendliche, z. T. unter 18 Jahren. Nach amnesty international verurteilen und töten die Vereinigten Staaten mehr jugendliche Straftäter als fast alle anderen Staaten dieser Welt.Mit dieser traurigen Bilanz verletzt die USA-Regierung, die in vielen anderen Zusammenhängen die strikte Einhaltung der internationalen Menschenrechtsstandards fordert, sowohl den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte als auch die amerikanische Menschenrechtskonvention.Nicht weniger erschreckend sind die Zahlen, die uns aus solchen Ländern wie Irak, Iran, Bangladesh und Sri Lanka bekannt wurden.
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3906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Uwe-Jens HeuerMit dem Wissen um diese Dinge in der Welt ist es für uns sehr zu begrüßen, daß das Fakultativprotokoll uns jetzt zur Entscheidung vorliegt. Wir sollten alles dafür tun, daß das obengenannte Protokoll nunmehr schnellstens in Kraft tritt, insbesondere da wir hier als zehntes Land das Zünglein an der Waage sind. Das wird nicht nur beispielgebend für europäische Staaten sein, die dieses Protokoll bisher nicht ratifizierten, sondern auch auf die Staaten der Dritten Welt und hoffentlich auch auf die USA nicht ohne Wirkung bleiben.Im Zusammenhang mit der Verwirklichung der Menschenrechte erscheint die Ratifizierung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 eine logische Konsequenz.Auch wenn dieses zweite Protokoll im Hinblick auf die Ausgestaltung der Individualrechte hinter den Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention zurückbleibt, ist dieses Protokoll ein Kompromiß, der geeignet ist, internationale Rechtsmechanismen aufzubauen, die fähig sind, Unrechtstatbestände zu beseitigen, die Würde des Menschen wiederherzustellen und Menschenrechtsverletzungen jeder Art zu verhindern oder jedenfalls einzuschränken.Wir stimmen also beiden Gesetzentwürfen zu und wünschen eine rasche Erledigung.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Todesstrafe ist abgeschafft." Das bestimmt ebenso kurz wie bündig Art. 102 des Grundgesetzes. Wer — wie ich in meiner dienstlichen Tätigkeit — gesehen hat, für welche Nichtigkeiten z. B. 13jährige während des Dritten Reiches hingerichtet worden sind, der weiß, welchen Fortschritt diese Bestimmung des Grundgesetzes damals bedeutet hat.
Die wenige Wochen zurückliegenden Berichte über den Vollzug der Todesstrafe in der ehemaligen DDR haben die Grausamkeit dieser Strafe erneut unterstrichen. Zu den Hingerichteten gehörte ein Heranwachsender, der, offensichtlich psychisch schwer gestört und damit in seiner Verantwortlichkeit eingeschränkt, zwei Jungenmorde begangen hatte. Herr Professor Heuer, Sie waren als Rechtsprofessor in der DDR für diese Rechtsordnung mitverantwortlich.
Deshalb sollten Sie auch dies hier ansprechen, wenn Sie über die Situation in den USA reden. Ich hätte von Ihnen gerne eine Erklärung dazu gehört.
Herr Kollege, gestatten Sie dazu eine Zwischenfrage des Kollegen Heuer?
Ja.
Können Sie mir mitteilen, wie viele zum Tode Verurteilte in DDR-Gefängnissen waren, als die DDR der BRD angeschlossen wurde?
Ich weiß überhaupt nicht, wann die DDR angeschlossen wurde.
Ich spreche — wie Sie wissen — vom 3. Oktober.
Sie sprechen vom Beitritt?
Ja. — Ich will Ihnen eines sagen: Ein Rechtsprofessor ist auch hier nicht für die Politik seines Landes verantwortlich. Ich war Bürger dieses Landes, und ich war für dieses Land. Aber ich bin außerstande, die Verantwortung für jede Entscheidung der politischen Führung zu übernehmen. Im übrigen hat die DDR, wie Sie wissen, die Todesstrafe später als die Bundesrepublik — das weilß ich — abgeschafft.
Viel zu spät, Herr Kollege!
Aber sie hat sie abgeschafft. Ich sehe für mich keinen Grund, heute nicht die Abschaffung der Todesstrafe in anderen Ländern einzuklagen. Sie können uns das Recht, hier zu irgend etwas Stellung zu nehmen, nicht mit der Begründung absprechen, daß irgend etwas früher in der DDR nicht dem entsprach und vielleicht auch meinen Wünschen nicht entsprach. Ich meine, das entspricht nicht den parlamentarischen Gepflogenheiten.
Sie müssen uns das Rederecht hier zu den Fragen zugestehen, die hier diskutiert werden. Deswegen meine ich, daß auch ich über die Todesstrafe in dieser Welt und auch darüber reden kann, was in anderen Ländern geschieht. Ich glaube nicht, daß es zulässig ist, mir dieses Recht abzusprechen.
Herr Kollege Heuer, Sie hatten sich nur zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Aber Sie waren so direkt angesprochen worden, daß ich es für richtig halte, daß Sie sich dazu erklärend äußern. Aber inzwischen war auch die Grenze der Zeit für eine Zwischenbemerkung schon erreicht.
Ich halte den Vorwurf dennoch aufrecht, Herr Präsident.Der große Liberale Thomas Dehler hat als Ergebnis der Diskussion um die Todesstrafe schon 1952 festgestellt: Erstens. Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe ist zweifelhaft. Zweitens. Der Sicherheitsgedanke vermag sie nicht zu rechtfertigen. Drittens. Die Gefahr von Justizirrtümern ist nicht auszuschalten. Es bedarf nicht vieler Worte, um festzustellen: Der Voll-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3907
Jörg van Essenzug der Todesstrafe ist ein Angriff auf die Menschenwürde.Der Bundestag hat in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten, zuletzt bei der Debatte über das Protokoll Nr. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Ablehnung der Todesstrafe mit erfreulich breitem Konsens unterstrichen. Ich begrüße nachdrücklich, daß es auf Grund der Initiative meiner Parteifreunde und der Bundesregierung zu diesem Fakultativabkommen mit nunmehr weltweitem Anspruch gekommen ist.
— Ich habe es nachgelesen, Herr Kollege.
— Ich weiß. Ich habe es trotzdem nachgelesen. Ich habe die Erklärung damals gesehen und mit großer Freude festgestellt, daß es insbesondere meine Parteifreunde waren.
Das ändert nichts an meiner Feststellung: Es ist ein erfreuliches und zugleich notwendiges Signal an alle in der Welt.Wir debattieren heute zugleich über den Gesetzentwurf der SPD, dem Fakultativabkommen zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 zuzustimmen. Bei der Beurteilung dieses Vorschlags kann man nicht übersehen, daß unsere Bürger nach der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits Zugang zu einem gerichtsförmigen Verfahren haben, an dessen Ende Entscheidungen stehen, die für die Staaten bindende Wirkung haben.Diese bindende Wirkung fehlt — das haben Sie zugegeben — in dem hier zur Beratung anstehenden Protokoll, das lediglich vorsieht, daß der prüfende Ausschuß seine Auffassung dem betroffenen Vertragsstaat und dem Beschwerdeführer mitteilt.Dennoch halte ich dieses Bedenken und auch die übrigen bekannt gewordenen nicht mehr für durchgreifend; Sie werden das sicher mit Interesse hören.
Wir werden uns der Ächtung der Todesstrafe trotz der eindeutigen Regelung im Grundgesetz anschließen. Wir sollten das hier auch wegen der Signalwirkung tun. Damit folgen wir nur dem Beispiel der überwiegenden Mehrheit der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, bei denen die Situation ja gleich ist.Allerdings halte ich es für überlegenswert, uns einem Vorbehalt vieler unserer Nachbarn anzuschließen. Diese haben die erneute Prüfung nach diesem Fakultativprotokoll ausgeschlossen, wenn ein Verfahren nach der Menschenrechtskonvention bereits anhängig gewesen ist. Dennoch ändert dies nichts an meinem Fazit: Dies sind zwei erfreuliche Vorschläge, die schnell verabschiedet werden sollten.Vielen Dank.
Herr Abgeordneter Poppe, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bündnis 90/DIE GRÜNEN unterstützt nachhaltig die Ratifizierung beider Fakultativprotokolle zum sogenannten Zivilpakt. Dadurch kann deutsche Menschenrechtspolitik nur glaubwürdiger und wirksamer werden.Der von der SPD eingebrachte Gesetzentwurf zum Fakultativprotokoll von 1966 zur Eröffnung eines Inchvidualbeschwerdeweges im Rahmen des Zivilpaktes ist eigentlich ein alter Hut. Jedoch weigerte sich die Bundesregierung bisher hartnäckig, die Ratifizierung einzuleiten, was sie mit einer vermuteten Schwächung der individuellen Beschwerdemöglichkeiten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention begründete.Dieses Argument erwies sich zunehmend als haltlos. Auch die Bundesregierung räumte bereits 1988 ein, daß ihr von praktischen Schwierigkeiten oder Überschneidungen in den europäischen Ländern, die sowohl die Konvention als auch das Fakultativprotokoll ratifiziert haben, nichts bekannt ist.Der Argumentation im Gesetzentwurf kann ich nur zustimmen. In der Tat geht es darum, den Standard weltweit geltender Rechtsinstrumente unabhängig von möglicherweise besseren Lösungen in einzelnen Weltregionen auszubauen. Wir jedenfalls hätten in der früheren DDR viel dafür gegeben, wenn eine schnelle Ratifizierung durch die Bundesrepublik zumindest den Druck auf das DDR-Regime erhöht hätte, die eingegangenen Menschenrechtsverpflichtungen auch tatsächlich einzulösen.Dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum zweiten Fakultativprotokoll, das sich auf die Abschaffung der Todesstrafe bezieht, wird sicher mit großer Mehrheit zugestimmt werden.Zum Erklärungsteil der vorliegenden Drucksache gestatte ich mir nur den kleinen Hinweis, daß nicht erst das Ratifizierungsverfahren in der Bundesrepublik als zehntem Vertragsstaat das Fakultativprotokoll erstmals in Kraft treten läßt. Es war bereits einmal in Kraft, nachdem es die Volkskammer im Sommer 1990 ratifiziert hatte.Wichtiger noch als die Ratifizierung selbst erscheint uns aber die konkrete Menschenrechtspolitik, auf die das zweite Fakultativprotokoll die Vertragsstaaten und somit auch seinen Initiator, die Bundesrepublik Deutschland, verpflichtet.Die weltweite Abschaffung der Todesstrafe wird nur gelingen, wenn der Druck auf alle Staaten, die bis heute an der Todesstrafe festhalten, verstärkt wird. Das aber kann nicht bedeuten, nur gegen Todesurteile und Hinrichtungen im Iran oder in anderen Dritte-Welt-Ländern zu protestieren, sondern z. B. auch gegen solche in den USA, wo die Zahl der mit
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3908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Gerd PoppeTodesstrafe bedrohten Delikte nicht etwa eingeschränkt, sondern sogar ausgeweitet wurde.Zu Recht weist amnesty international u. a. auf den skandalösen Umstand hin, daß gegenwärtig 31 zur Tatzeit jugendliche Straftäter in amerikanischen Todeszellen auf ihre Hinrichtung warten.Wenn das Zweite Fakultativprotokoll jemals weltweiter Standard werden soll, dann wird sich keine Bundesregierung auf der Ratifizierung ausruhen können. Sie wird sich stärker engagieren müssen, auch gegenüber Freunden und Bündnispartnern, wenn ihre Menschenrechtspolitik glaubwürdig sein soll.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/937 und 12/556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Zu dem Tagesordnungspunkt 7 a bis e — Beratung und Abstimmung über Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist — schlage ich angesichts der Plenarsituation die Beratung am Nachmittag vor.
Deshalb treten wir jetzt in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird uni 14.00 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir kommen nun zur
Fragestunde
— Drucksache 12/1238 —
Zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Verfügung.
Ich rufe Frage 3 der Frau Kollegin Susanne Kastner auf:
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um der EG-Kommission bis zum 31. Dezember 1991 alle Überschreitungen der Grenzwerte der Trinkwasserverordnung in den neuen Bundesländern mit den jeweils erforderlichen Sanierungsplänen zu melden, und wie will sie verhindern, daß die von der EG-Kommission genehmigten Ausnahmefristen entfallen, d. h. die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung ab 1. Januar 1992 eingehalten werden müssen, wenn sie ihrer Meldepflicht bis zum 31. Dezember 1991 nicht nachkommt?
Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Kastner, Ihre Frage möchte ich wie folgt beantworten: Die Frage bezieht sich offenbar auf Art. 7 der Richtlinie des Rates 90/656/EWG vom 4. Dezember 1990. Durch diese wird Deutschland verpflichtet, der Richtlinie über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1995 nachzukommen und sich zu bemühen, dieses Ziel bereits bis zum 31. Dezember 1991 zu erreichen.
Sind zu diesem Zeitpunkt die Qualitätsnormen der Richtlinie 80/778/EWG nicht erreicht, übermittelt Deutschland der Kommission alle zweckdienlichen Angaben einschließlich eines Sanierungsplanes, aus dem hervorgeht, durch welche Maßnahmen bis zum 31. Dezember 1995 eine Übereinstimmung mit den Normen der Richtlinie gewährleistet werden kann.
Die oben genannte EG-Richtlinie ist in der Bundesrepublik Deutschland durch die Trinkwasserverordnung in nationales Recht umgesetzt worden. Durch den Einigungsvertrag gilt die Trinkwasserverordnung bereits seit dem 4. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern. Somit ist die Bundesrepublik Deutschland der Verpflichtung gemäß der Richtlinie 90/656/EWG in großem Umfang nachgekommen. Zur Umsetzung der EG-Richtlinie 90/656/EWG hat die Bundesregierung in ihrer EG-Recht-Überleitungsverordnung vom 18. Dezember 1990 in Kapitel II Nr. 5 festgelegt, daß bei sieben von 56 Parametern die Grenzwerte bis zum 1. Oktober 1995 außer Kraft gesetzt sind, bei einem weiteren bis zum 1. Oktober 1993 und bei Zusatzstoffen für die Aufbereitung bis zum 31. Dezember 1992.
Es ist abzusehen, daß bei diesen acht Parametern und bei den Zusatzstoffen eine Übereinstimmung mit den Normen der Richtlinie 80/778/EWG nicht bis zum 31. Dezember 1991 in den neuen Bundesländern an allen Orten gewährleistet werden kann. Die Bundesregierung hat deswegen das Sekretariat der Fachkommission Soforthilfe Trinkwasser beim Bundesgesundheitsamt beauftragt, bereits jetzt alle zweckdienlichen Angaben einschließlich eines Sanierungsplanes in einem Bericht zusammenzufassen, der bis zum 31. Dezember 1991 von der Bundesregierung der Kommission übermittelt werden wird.
Es ist nicht erkennbar, weswegen die Ausnahmefristen für die erwähnten acht Parameter entfallen sollen. Mit der Vorlage des Berichtes wird die Bundesregierung ihrer Pflicht aus der EG-Richtlinie nachkommen.
Wir hatten uns einmal darauf verständigt, daß wir vergleichsweise kurze Antworten haben wollen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Ich bin ein bißchen verwirrt, Frau Staatssekretärin, und ein bißchen erschlagen von den Drucksachennummern. Aber nachdem Sie am Schluß Ihrer Antwort doch noch von der sehr wichtigen Meldepflicht zum 31. Dezember 1991 gesprochen haben, möchte ich Sie fragen: Wie stellen Sie sich eigentlich den Vollzug in der Praxis vor, nachdem Sie wissen, daß weder die Fachkommission Soforthilfe Trinkwasser noch der Mittelbau in den neuen Bundesländern, d. h. die Wasserhygieneinstitute, personell ordentlich ausgestattet sind?
Ich kann Ihre Angaben aus meiner Sicht nicht bestätigen. Wir haben diese Kommission mit Computern,
Deutscher Bundestau — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3909
Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl
aber auch mit Personal ausgestattet. Sie wissen, daß wir 1991 ein Finanzvolumen von 5 Millionen DM und 1992 von 6 Millionen DM bereitgestellt haben.
Weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Geben Sie mir recht — Staatssekretär Schmidbauer hat das ja in einer der letzten Fragestunden auch bestätigt — , daß diese 5 Millionen DM bei weitem nicht ausreichen, um dieses Defizit aufzuholen?
Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin, Sie wissen, daß das nicht reine Aufgabe des Bundes ist, sondern es ist Aufgabe der Länder, hier in dieser Frage — —
— Es ist unter anderem auch Aufgabe der Länder, hier mit einzuschreiten.
Frau Kollegin Blunck.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir bitte sagen, wie die Fachkommission zusammengesetzt ist, ob da ein Wasserfachmann und ein Biologe drin sind, ob da Juristen drin sind, wie das denn insgesamt umgesetzt werden soll? Aber ich möchte das nicht so sehr in der Theorie und auch nicht so ausweichend haben, sondern ich möchte das bitte für den Verbraucher ersichtlich haben. Können sie das machen?
Wenn Sie das so genau für den Verbraucher haben wollen zur Verbreitung, werde ich es Ihnen gerne schriftlich zustellen.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Wie werden die Verbraucher in den neuen Ländern über die Grenzwertüberschreitungen informiert, und was tut Ihr Haus dazu, um beispielsweise diese Frage der Grenzwertüberschreitung und die Gefährlichkeit mancher Trinkwasservorkommen den Verbrauchern überhaupt nahezubringen.
Durch die örtlichen Wasserwerke werden ständig Informationen an die Verbraucher herausgegeben.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Schily.
In welcher Weise werden von den Wasserwerken Informationen herausgegeben?
Sie werden über die Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor. Ich bedanke mich bei Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl.
Wir kommen jetzt zum nächsten Geschäftsbereich, dem des Bundesministers für Forschung und Technologie. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Bernd Neumann zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 8 des Kollegen Dr. Klaus Kübler:
Liegen der Bundesregierung Informationen vor, daß die Zahl der brennenden Ölquellen in Kuwait nur noch 200 beträgt und daß deshalb für das deutsche Firmenkonsortium, das sich am Löschen beteiligen wollte, eine Beteiligung an den Löscharbeiten kommerziell nicht mehr vertretbar ist?
Herr Staatssekretär.
Eine Gruppe deutscher Firmen, die sich zu einem Konsortium zusammenschloß, hat am 13. August 1991 dem kuwaitischen Ölminister und der Kuwait Oil Company ein Angebot auf Löschen, Verschließen, Sichern und Sanieren von Ölsonden übergeben. Zur Vorbereitung des Angebotes hatte unter Leitung des BMFT eine Expertendelegation Kuwait besucht, um vor Ort die näheren Bedingungen eines Löscheinsatzes kennenzulernen. Die kuwaitische Regierung zeigte sich an einem deutschen Angebot sehr interessiert. Zu diesem Zeitpunkt gingen alle internationalen Experten davon aus, daß die sehr aufwendigen Löscharbeiten sich noch auf mehrere Jahre erstrecken würden.
Das Angebot des deutschen Firmenkonsortiums wurde mit der Kuwait Oil Company erhandelt. Auf Grund zwischenzeitlich erreichter Fortschritte bei den Löscharbeiten mußte das Angebot zweimal auf Wunsch der kuwaitischen Seite im Umfang reduziert werden.
In jüngster Zeit haben sich nun die Verhältnisse drastisch zum Positiven verändert. Die monatliche Löschrate wird auf etwa 80 Bohrlöcher beziffert. Nach aktuellen Informationen sollen zur Zeit noch ca. 180 bis 200 Quellen brennen.
Wegen dieser Situation, die das Löschen und Verschließen der meisten Quellen bis zum Jahresende erwarten läßt, konnte die kuwaitische Seite dem deutschen Konsortium nicht die notwendige Zahl von mindestens 24 zu löschenden Sonden zusagen, die einen wirtschaftlichen Einsatz des technisch anspruchsvollen Geräts gewährleistet hätte. Ein Auftrag kam daher nicht zustande.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Kübler.
Herr Staatssekretär, worin sieht die Bundesregierung die Gründe dafür, daß es den deutschen Firmen nicht gelungen ist, sich bei den Löscharbeiten zu beteiligen, zumal aus neun Ländern, unter anderem auch Rumänien oder Iran, mit
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3910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Klaus Kübler26 Teams dort gelöscht wird, aber deutsche Firmen aus der Bundesrepublik sich da offensichtlich nicht beteiligen? Worin sehen Sie da die Gründe?Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Sie erinnern sich, daß die ersten Aufträge der Kuwaitis an Red Adair und kanadische Brandexperten gingen, weil diese als die erfahrensten der Welt galten. Ob die Kuwaitis mit Rücksicht auf die im Golfkrieg führende Nation USA und die am Krieg sonst beteiligten Nationen andere Bewerber zunächst nicht zuließen, kann nicht belegt werden. Aber wir gehen sicherlich gemeinsam davon aus, daß das etwas damit zu tun hat. Erst als die Kuwaitis einsahen, daß mit den verfügbaren US-Löschteams die große Zahl der Brände nicht in vernünftiger Zeit zu bekämpfen war, wurden noch andere Nationen eingeladen.Das BMFT hat, wie Sie wissen, sofort nach Kriegsende versucht, Kontakte aufzunehmen. Das war ungeheuer schwierig. Die deutsche Expertendelegation wurde auch erst sieben Wochen nach dem Angebot von Bundesminister Riesenhuber nach Kuwait eingeladen. Deshalb kann, was die politische Seite, was uns betrifft, nicht gesehen werden, was anders und besser hätte gemacht werden können. Wir haben uns sofort um die Beteiligung bemüht, aber die Türen waren nicht sehr geöffnet. Als sie geöffnet wurden, waren schon andere beteiligt.Dann galt es zunächst einmal, sich mit den in Frage kommenden Firmen eines Konsortiums vor Ort umzusehen. Das ist, wie Sie wissen, im Juni geschehen. Es wurde dann ein Angebot gemacht. Wie es weiterging, habe ich Ihnen soeben in der Beantwortung Ihrer Frage berichtet.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich daraus entnehmen, daß deutsche Firmen dort diskriminiert worden sind?
Bernd Neumann, Parl. Staatssekretär: Ich glaube dies nicht. Die deutschen Firmen — dieses Konsortiums unter Führung der Frankfurter Firma Lurgi — haben dann im August ein Angebot gemacht. Dieses Angebot war sehr umfassend und sollte den damaligen Wünschen der Kuwaitis Rechnung tragen. Daß es nicht zum Zuge kam, ist, glaube ich, weniger darauf zurückzuführen, daß die deutschen Firmen nun diskreditiert oder besonders schlecht behandelt werden sollten, sondern einfach darauf, daß sich der gesamte Vorgang des Löschens viel schneller abwickelte, als zu erwarten war, und andere — insbesondere auch die kriegführenden Nationen — bereits im Einsatz waren. Deshalb kam das umfangreiche, mit großem technischen Know-how ausgestattete Angebot des deutschen Konsortiums — auch im Hinblick auf die Preisfrage und den Umfang des Angebots — auf Grund des Ablaufes der Zeit nicht mehr zum Zuge. Ich sehe darin weniger eine Diskriminierung deutscher Firmen.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor. Ich bedanke mich, Herr Staatssekretär.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die Frage 9 des Kollegen Dr. Klaus Kübler wird gemäß unserer Geschäftsordnung schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsminister Dr. Lutz Stavenhagen zur Verfügung. Ich rufe die Frage 10 des Kollegen Peter Conradi auf:
Welche disziplinarrechtlichen Schritte hat die Bundesregierung gegen den Beamten des Bundesnachrichtendienstes eingeleitet, der am 6. März 1990 über die Besprechung im Bundeskanzleramt am 28. Februar 1990 einen nicht dem Gesprächsverlauf entsprechenden Bericht angefertigt hat?
Herr Kollege, dem Verfasser des BND-internen Vermerks vom 6. März 1990 über die Besprechung am 28. Februar 1990 ist wegen der Abfassung dieses Vermerks kein disziplinarrechtlich relevanter Vorwurf zu machen. Die in Ziffer 2.4 des Vermerks enthaltene Verweisung auf die Ziffer 1.6 des BND-internen Vorgesprächs stellt eine mißverständliche Wiedergabe des Verlaufs der Besprechung im Bundeskanzleramt dar. Die Verweisung ist schon inhaltlich durch das Stichwort „Einbürgerungsverfahren" begrenzt. Zu diesem Thema enthält die Ziffer 1.6 des Vermerks Ausführungen nur in ihrem zweiten Absatz.
Die im ersten Absatz der Ziffer 1.6 angesprochene Darstellung der Ausstellung der sogenannten Gutmann-Papiere hatte einen rein nachrichtendienstlichsicherheitlichen Zusammenhang und keinen Bezug zum Einbürgerungsverfahren.
Dieses „Einbürgerungsverfahren" — als solches schon wegen der vorhandenen deutschen Staatsbürgerschaft von Herrn Schalck-Golodkowski nicht im eigentlichen Wortsinn so zu bezeichnen — konnte sich nur auf das Verfahren zur Ausstellung regulärer Personalpapiere für das Ehepaar Schalck-Golodkowski beziehen. An diesem Verfahren hatte der BND keine Beteiligungsfunktion, auch wenn es wegen seiner Bedeutung für Schalck-Golodkowski bei dessen Kontakten mit dem BND immer wieder zur Sprache gekommen war.
Zusatzfrage, Kollege Conradi.
Herr Staatsminister, wie zuverlässig muß man Besprechungsvermerke des BND zukünftig einschätzen, wenn im Vermerk zur Besprechung und zur Vorbesprechung mißverständliche — so sagten Sie — Feststellungen getroffen werden, die dann ein Jahr später korrigiert werden?Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, wie ich schon sagte, war es ein BND-interner Vermerk, der dem Kanzleramt auch nach dem Gespräch nicht vorgelegt wurde. Sonst hätten wir sicher auf die mißverständliche Querverweisung hingewiesen. Wir haben den Vermerk jetzt bei der Zusammenstellung der Akten für den Untersuchungsausschuß zu Schalck-Golodkowski so vorgefunden. Es ist in der Tat so, daß ein solches Mißverständnis in einem der-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3911
Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagenartigen Vermerk für einen nicht am Gespräch beteiligten Leser durchaus einmal vorkommen kann.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi.
Herr Staatsminister, ist die Vermutung ganz abwegig, daß der Beamte des BND, der jetzt über ein Jahr später festgestellt hat, der damalige Vermerk sei in der Sache nicht zutreffend gewesen, nicht mit einem Disziplinarverfahren bedacht wird, sondern für seine Sie entlastenden Aussagen einer Beförderung entgegensieht?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, ich kann Ihnen im Moment keine Übersicht über die anstehenden Beförderungen beim Bundesnachrichtendienst geben.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Beucher.
Herr Staatsminister, beurteilen auch Sie die Akten so, daß wir es eigentlich mit drei verschiedenen Vermerken zu tun haben: einmal mit dem Bericht über den tatsächlichen Verlauf, dann mit dem Bericht des Mitarbeiters des BND und ferner mit der Korrektur des Vizepräsidenten?
Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Nein, Herr Kollege, es gibt einen Vermerk, der zu dem BND-internen Vorgespräch am 28. Februar Stellung nimmt. Weiter hinten bezieht sich der Vermerk auf das Gespräch im Bundeskanzleramt am 28. Dies ist ein Vermerk, der ein Vorgespräch und das Gespräch im Kanzleramt beschreibt.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Herzlichen Dank, Herr Staatsminister.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Die Frage 11 des Kollegen Hans Wallow wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen. Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Klaus Harries werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Fragen 14 und 15 des Kollegen Ludwig Stiegler werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 16 des Kollegen Otto Schily wird auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien ebenfalls schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 17 des Kollegen Dr. Eberhard Brecht wird aus demselben Grund schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Ottfried Hennig zu Verfügung.
Die Frage 18 der Kollegin Vera Wollenberger wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Die Frage 19 des Kollegen Gernot Erler wird mündlich beantwortet:
Welche Länder haben bisher ihr Interesse an welchen Waffen und Ausrüstungsgegenständen der ehemaligen NVA gezeigt?
Sie haben das Wort, Herr Staatssekretär.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Kollege Erler, schriftliche Anfragen auf Lieferung liegen vor von den NATO-Partnerstaaten USA, Türkei, Griechenland und Frankreich, von den europäischen Nicht-NATO-Staaten Finnland, Schweden, Schweiz, Österreich und Malta, von den mittelosteuropäischen Staaten UdSSR, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien sowie von den außereuropäischen Nicht-NATO-Staaten Uruguay, Nigeria, Ecuador, Ägypten, Thailand, Algerien, Indien, Indonesien, Südkorea, Madagaskar, Pakistan, Peru und Singapur.
Gewünscht werden dabei alle Kategorien von Heeres-, Luftwaffen- und Marinematerial einschließlich des sogenannten Treaty Limited Equipments, TLE, d. h. solchen Gerätes, für das der KSE-Vertrag Begrenzungen vorsieht, also Panzer, Schützenpanzer, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge.
Eine Zusatzfrage, Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie denn die Tatsache, daß ein so ausgedehntes internationales Interesse auch von technologisch hochstehenden Ländern an von der Bundesregierung zur Aussonderung vorgesehenen Waffen mit Milliardenwert besteht?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, es ist schwierig, das in einem Satz zu bewerten, solange ich Ihre zweite Frage, an welche Länder denn bereits konkret verkauft oder verschenkt worden ist, noch nicht beantwortet habe. Das muß man ja mit dazunehmen.
Insgesamt halte ich dieses Interesse technologisch hochentwickelter wie anderer Länder nur für natürlich, wenn man weiß, daß hier Rüstungsmaterial der NVA in großem Umfang zur Verfügung steht, von dem inzwischen feststeht, daß wir einen wesentlichen Teil davon für Zwecke der Bundeswehr nicht gebrauchen können. Ich glaube, dann liegt dieses Interesse auf der Hand.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Erler.
Sie haben mich jetzt so gespannt auf die Beantwortung der zweiten von mir eingebrachten Frage gemacht, daß es mir schwerfällt, noch eine ergänzende Frage zu dieser Frage zu stellen, aber ich will es trotzdem tun, und zwar indem ich nach den Kriterien frage, die die Bundesregierung bei
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Gernot Erlerder Frage anwendet, welche Wünsche sie positiv beantworten wird.Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Auch das wollte ich Ihnen eigentlich auf Ihre zweite Frage antworten, Herr Kollege Erler.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Conradi.
Ist sich die Bundesregierung eigentlich darüber im klaren, daß die Waffenlieferungen an Staaten, die nicht als Demokratien einzustufen sind, zur Folge haben können, daß dort Konflikt- und Krisensituationen entstehen, deren Folgen wir dann durch weitere Flüchtlinge hier zu spüren bekommen?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Selbstverständlich ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, Herr Kollege Conradi. Ich weise auch ausdrücklich darauf hin, daß die Ausgangsfrage darauf abzielt, welche Länder ihr Interesse bekundet haben, aber nicht darauf, an welche Länder wir geliefert haben.
Weitere Zusatzfragen zu Frage 19 liegen nicht vor.
Dann rufe ich Frage 20 des Kollegen Erler auf:
An welche Länder hat die Bundesregierung bereits welche Bestände an Waffen- und Ausrüstungsgegenständen der ehemaligen NVA verkauft oder verschenkt?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, an NATO-Staaten wurde im Rahmen der Unterstützungsmaßnahmen während der Golfkrise Material an die USA, Frankreich, Griechenland und die Türkei geliefert.
An Nicht-NATO-Länder sind — mit Ausnahme von Ägypten — bisher noch keine Lieferungen erfolgt. Ägypten erhielt mit Zustimmung des Bundessicherheitsrates unentgeltlich 30 ABC-Spürpanzer einschließlich eines Ersatzteilpaketes.
Mit Finnland und Uruguay wurden mit Zustimmung des Bundessicherheitsrates Kaufverträge von Regierung zu Regierung — jeweils vertreten durch das Verteidigungsministerium — abgeschlossen. Die Materialauslieferung ist ab Oktober 1991 geplant.
Zu Einzelheiten des jeweiligen Vertragsinhaltes wurde auf Wunsch der Käufer Vertraulichkeit gegenüber der Öffentlichkeit vereinbart. Außerdem sind die Materialwunschlisten zum Teil „VS-Vertraulich" oder mit einem höheren Verschlußgrad eingestuft.
Die Bundesregierung wendet bei den Lieferungen von Material der ehemaligen NVA die Rüstungsexportregeln des Kriegswaffenkontrollgesetzes und die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" vom 5. Mai 1982 an. Das Material wird im übrigen KSE-vertragskonform behandelt.
Zusatzfrage, Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben ja soeben angekündigt, daß Sie hier auch Kriterien nennen würden. Darf ich, nachdem ja auch mehrere Wünsche aus den osteuropäischen Nachbarstaaten vorliegen, noch einmal fragen: Wird die Bundesregierung der Idee nähertreten, auch an diese Staaten, die ja schon viele Waffen gleicher Bauart haben, Waffen aus dem Bestand der NVA zu liefern, sie ihnen zu schenken oder sie ihnen zu verkaufen?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, dies muß in jedem Einzelfall außerordentlich sorgfältig geprüft werden. Ich verweise noch einmal ganz explizit darauf, daß wir die Rüstungsexportregeln des Kriegswaffenkontrollgesetzes und auch die „Politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" selbstverständlich anwenden — dies habe ich unterstrichen — und daß wir in jedem Einzelfall natürlich auch das politische Umfeld des jeweiligen Staates einer sehr sorgfältigen Betrachtung unterziehen.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, ich habe noch eine Frage zu den zu erwartenden Einnahmen aus den Kaufverträgen, die ja offenbar jetzt einlaufen. Zu wessen Gunsten werden diese Einnahmen verbucht? Werden sie z. B. auch dafür benutzt, um die hohen Kosten zu verringern, die im Verteidigungshaushalt für die Bewachung von altem NVA-Material veranschlagt sind, oder wohin fließen diese Einnahmen?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Das kann leider nicht direkt dafür benutzt werden, Herr Kollege, sosehr uns das aus Ressortsgründen angenehm wäre, sondern das geht über den Bundesminister der Finanzen in den allgemeinen Bundesetat.
Zusatzfrage, Kollege Conradi.
Ist sich die Bundesregierung darüber im klaren, daß sie mit den Waffenlieferungen an die Türkei unmittelbar, direkt und voll verantwortlich zur Erhöhung der Zahl von politisch Verfolgten und anderen Flüchtlingen aus der Türkei in die Bundesrepublik beiträgt?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das sieht die Bundesregierung nicht so wie Sie. Vielmehr hat sie zum gegebenen Zeitpunkt, der jeweils zu berücksichtigen ist, vollverantwortlich entschieden, wie sie entschieden hat, und hält den Zusammenhang, den Sie hergestellt haben, nicht für gegeben.
Zusatzfrage, Kollege Schily.
Herr Staatssekretär, halten Sie es für angemessen, daß die Wünsche Ihrer Vertragspartner in dieser Art von Rüstungsgeschäften nach Diskretion das Recht des deutschen Parlaments und der
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Otto Schilydeutschen Öffentlichkeit auf Informationen über diese Art von Geschäften beschränken?Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich glaube, daß wir uns erstens im Rahmen des international in vergleichbaren Fällen durchaus Üblichen bewegen, daß wir zweitens so verfahren, wie das auch in der Vergangenheit bei vergleichbaren Dingen gehandhabt worden ist, und daß drittens Kollegen, die sich in diesem Bereich besonders bewegen, d. h. Verteidigungsausschuß oder Haushaltsausschuß, unter den gegebenen Vertraulichkeitskriterien selbstverständlich auch weitere Informationen erhalten. Ich glaube, daß immer entsprechend verfahren worden ist.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Marschewski.
Herr Staatssekretär, können Sie mir die Frage beantworten, ob vielleicht auch bis 1982 Waffenlieferungen an die Türkei seitens der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sind?
Dr. Ottfried Hennig, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich bin im Augenblick überfragt, weil der Zusammenhang mit der Ursprungsfrage für mich nicht so ganz offensichtlich vorauszuahnen war. Ich will Ihnen das aber gerne schriftlich beantworten.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Die Fragen 21 und 22 des Kollegen Hinsken werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministers für Verteidigung — herzlichen Dank, Herr Staatssekretär — und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Dieter Schulte zur Verfügung.
Die Fragen 23 und 24 des Kollegen Karl Stockhausen werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 25 der Kollegin Verena Wohlleben und die Frage 26 des Kollegen Wolfgang Börnsen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 27 des Kollegen Otto Schily:
Bei welchen deutschen Flughäfen, insbesondere bei welchen Neubauten, werden die Dachflächen der Flughafengebäude zur solartechnischen Energiegewinnung genutzt?
Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Schily, bisher sind keine Anlagen zur solartechnischen Energieerzeugung im Bereich von Flughäfen bekannt. Nach meiner Kenntnis sind aus wirtschaftlichen Gründen von den Flughäfen bisher Anlagen zur Solarenergieerzeugung nicht installiert worden.
Herr Staatssekretär, da die Flughäfen eine Eigenversorgung, beispielsweise für Strom, benötigen: Hat die Bundesregierung einmal eine Studie anfertigen lassen, ob nicht ein erhebliches
Energiesparpotential genutzt werden könnte, wenn man im Flughafengelände solartechnische Möglichkeiten einbauen würde?
Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die Flughäfen sind auch in dieser Frage eigenverantwortlich. Aber wenn Sie für Ihre Frage einen Anlaß haben — davon muß ich wohl ausgehen —, bin ich gerne bereit, mit Ihnen in ein intensives Gespräch darüber einzutreten. Ich habe ein paar Unterlagen hier. Sie sind für Juristen wie mich und Sie vielleicht etwas überfordernd. Aber vielleicht können wir das etwas vertiefen.
Herr Kollege Schily, eine weitere Zusatzfrage.
Das Angebot nehme ich sehr gerne an, Herr Staatssekretär. Allerdings glaube ich, daß sich ein Jurist in sehr viele Sachgebiete einarbeiten kann. Das ist vielleicht auch für Sie möglich.
Weil es in Ihrer ersten Antwort hieß, daß das aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu erwägen sei, wollte ich Sie fragen, ob nicht die Bundesregierung, die ja in anderen Bereichen versucht, ein Tausend-DächerProgramm für die Nutzung von Sonnenenergie aufzubauen, gerade die großen Dachflächen etwa des neuen Stuttgarter Flughafens — dort ist das Dach vom Architekten allerdings in die falsche Richtung geneigt worden — nutzt
— das weiß ich nicht, Herr Marschewski —,
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3914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3915
Es geht hier um die Frage der Behandlung von christlichen oder anderen religiösen Gemeinschaften in der
Türkei, nicht um die Frage, ob Waffenlieferungen in einem Zusammenhang mit der Toleranz stünden.
Entschuldigen Sie bitte, aber diese Frage ist sicher nicht im Zusammenhang mit den Fragen zu sehen, die Ihre Kollegen hier gestellt haben.
Wir kommen jetzt zur Frage 31 des Kollegen Dr. Rudolf Sprung:
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um die Wahrung des Rechts auf ungehinderte Religionsausübung durch die Regierung der Türkei zu erreichen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die Bundesregierung hebt in ihren Kontakten mit der türkischen Regierung immer wieder die Bedeutung hervor, die die Bundesregierung der Gewährung der Religionsfreiheit beimißt. Sie wird auf die Situation der Christen auch weiter ihr besonderes Augenmerk richten.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Sprung.
Herr Staatsminister, welche Erfolgschancen — ich möchte die Frage noch einmal stellen — haben denn diese Bemühungen von seiten der Bundesregierung?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das ist natürlich sehr schwer zu beantworten. Sie wissen, daß Demarchen, wie sie Botschafter Eickhoff am 30. Januar dieses Jahres bei der türkischen Regierung durchgeführt hat, und zwar auf Weisung des Auswärtigen Amtes, im Hinblick auf die Menschenrechte nicht unbedingt zur Folge haben, daß sich die Türkei sofort an solche Demarchen der Bundesregierung hält. Ich kann nur sagen: Wir hoffen, daß der ganze Themenkomplex der Religionsfreiheit, der in der Demarche ja zur Sprache gekommen ist, von der Türkei im Hinblick auf das von Ihnen bereits genannte Verhalten der Türkei im Rahmen Europas und auf das Interesse der Türkei, der Europäischen Gemeinschaft nahezukommen oder ihr eines Tages beizutreten, beachtet wird.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily.
Herr Staatsminister, könnten Sie sich vorstellen, daß die Bundesregierung auch versucht, ihren Demarchen, die Religionsausübung in der Türkei zu gewährleisten, dadurch Nachdruck zu verleihen, daß sie diesem Staat gegenüber erklärt, solange die Mindestrechte nach europäischen Maßstäben nicht gewährleistet seien, würden beispielsweise keine Waffen geliefert?Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich darf darauf hinweisen, daß ich keinen Zusammenhang zwischen dem, was hier bezüglich möglicher Waffenlieferungen an die Türkei nun plötzlich vorgebracht wird, und einem Problem sehe, das traditionell
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3916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Staatsminister Helmut SchäferSchwierigkeiten gemacht hat — nicht nur in der Türkei —, nämlich der Behandlung von Religionsgemeinschaften, die dort nur eine ganz kleine Minderheit darstellen.Im übrigen habe ich deutlich gemacht, daß man das sehr differenziert sehen muß. Es gibt eine Fülle christlicher Religionsgemeinschaften, die in der Türkei traditionell in gar keiner Weise Schwierigkeiten haben. Wir bedauern, daß es moderne, neuere christliche Organisationen gibt, die sich dort jetzt niederlassen und auf diese Schwierigkeiten stoßen.Ich kann nur sagen: Wir werden uns auch weiterhin bemühen, alles zu tun, damit die Türkei ohne Einschränkungen Religionsgemeinschaften so behandelt, wie wir in Europa das gewohnt sind.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Lattmann.
Herr Staatsminister, sehen Sie denn einen Zusammenhang zwischen dem nicht gewährten Recht auf uneingeschränkte Religionsausübung und der Frage, welche Länder der Europäischen Gemeinschaft beitreten können oder nicht? Andersherum gefragt: Halten Sie es für denkbar, daß ein Land, in dem Mindeststandards, die in den Demokratien Europas üblich sind, nicht gewährt werden, in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen werden kann?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich glaube, daß der ganze Komplex der Bemühungen der Türkei, Mitgliedsland der Europäischen Gemeinschaft zu werden, auch die Frage einer Angleichung des geltenden türkischen Rechts an das Recht, das wir in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft für selbstverständlich halten, umschließt.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Hedrich.
Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, daß wir entsprechend einer Aussage Ihres Kollegen in der Bundesregierung, des Entwicklungshilfeministers Spranger, von heute morgen, als Kriterium für die Gewährung deutscher Hilfe — auch Waffenhilfe — an andere Länder auch die Menschenrechte zu betrachten, solche Kriterien mindestens auch in bezug auf diejenigen Länder anwenden sollten, mit denen wir engere Beziehungen haben als mit anderen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, das tun wir auch. Ich kann nur sagen, daß das, was in der Türkei insbesondere bei der Behandlung einiger religiöser Gemeinschaften zu bemängeln ist, der Türkei ständig vorgehalten werden wird. Das wird auch durch den Ablauf der heutigen Fragestunde im Deutschen Bundestag geschehen, in der die Meinung der Abgeordneten ja sehr deutlich zum Ausdruck gekommen ist.
Wir kommen nun zur Frage 32 des Kollegen Hedrich:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß die deutsche katholische Kirche in der Türkei durch die türkischen Gesetze in die Rechtsform einer Aktiengesellschaft gezwungen wird, was erhebliche steuerliche Belastungen zur Folge hat und eine ernsthafte Existenzbedrohung darstellt, und welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund zu ergreifen?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, nach türkischem Recht können ausländische juristische Personen, also auch die im Verband der Diözesen Deutschlands verfaßte deutsche katholische Kirche in der Türkei, kein Grundeigentum erwerben. Einer nach türkischem Recht errichteten Aktiengesellschaft ist dies hingegen möglich. Der Bundesregierung ist bekannt, daß das Grundstück, auf dem die deutsche katholische Gemeinde in Istanbul ihre Aktivitäten ausübt, der Gemeinde von einer Aktiengesellschaft vermietet wird, die eigens zu diesem Zweck gegründet wurde.
Die Bundesregierung betrachtet insgesamt die Rechtslage ausländischer christlicher Gemeinden und damit auch die der deutschen katholischen Gemeinde in der Türkei als verbesserungsfähig und verbesserungsbedürftig. Sie befindet sich hierüber in einem Meinungsbildungsprozeß, in den zentrale deutsche kirchliche Stellen und Stellen der Türkei eingeschaltet sind.
Keine Zusatzfrage.
Wir kommen damit zur Frage 33 des Kollegen Peter Conradi:
Welche disziplinarrechtlichen Schritte hat die Bundesregierung gegen den ehemaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes und heutigen deutschen Botschafter in Indien, Dr. Hans-Georg Wieck, eingeleitet, der entgegen der eindeutigen Weisung des Bundeskanzleramtes — „Befragung: ja, Betreuung: nein" — dafür sorgte, daß der ehemalige DDR-Staatssekretär Schalck-Golodkowski auf Antrag des BND Ausweispapiere unter einem Decknamen erhielt?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Bundesminister des Auswärtigen als derzeitiger Dienstvorgesetzter von Botschafter Dr. Wieck hat wegen des von Ihnen angesprochenen Sachverhalts noch keine disziplinarrechtlichen Schritte eingeleitet. Vorermittlungen nach § 26 der Bundesdisziplinarordnung sind dann zu veranlassen, wenn Tatsachen bekannt werden, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen. Diese Voraussetzungen liegen bisher nicht vor.
Bei einer für den betroffenen Beamten so schwerwiegenden Maßnahme wie der Einleitung von disziplinarischen Vorermittlungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen.
Zusatzfrage des Kollegen Conradi.
Ist es üblich, Herr Staatsminister, daß der Präsident des Bundesnachrichtendienstes entgegen einer klaren Weisung des Bundeskanzleramts handelt? Sehen Sie das als einen Normalfall an? Staatsminister Stavenhagen, Ihr Kollege aus dem Kanzleramt, hat uns in der vergangenen Fragestunde gesagt, er habe eine Weisung erteilt, und der Präsident des BND habe das Gegenteil davon gemacht. Ist dies im Verhältnis zwischen Bundesregierung und BND üblich?
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3917
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es kann dahingestellt bleiben, ob unter diesen Voraussetzungen, die Sie nennen, der Verdacht eines Dienstvergehens nach § 55 des Bundesbeamtengesetzes gegeben wäre. Der Sachverhalt liegt nämlich insofern anders, als den Untersuchungsausschuß auch die Frage beschäftigt, wie bindend eine solche Weisung war und ob Botschafter Dr. Wieck von ihr abweichen konnte, wenn er das Bundeskanzleramt, wie er behauptet, nachträglich darüber unterrichtete, und in welcher Form diese Unterrichtung geschah.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Conradi.
Kann man aus der Tatsache, daß weder disziplinarrechtliche noch sonstige Maßnahmen ergriffen worden sind, nachdem bekannt wurde, daß der BND-Präsident anders gehandelt hatte, als der zuständige Minister im Kanzleramt angeordnet hatte, schließen, daß die Aufsicht des Kanzleramtes gegenüber dem BND nur sehr nachlässig gehandhabt wird und der BND-Präsident frei entscheiden kann, ob er Weisungen des Kanzleramtes berücksichtigt oder nicht?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Diesen Schluß, Herr Kollege, können Sie sicher nicht ziehen. Ich darf darauf verweisen, daß die Untersuchungen im Zusammenhang mit der Affäre Schalck-Golodkowski nicht abgeschlossen sind, daß weitere Zeugen vernommen werden und daß sich die Situation jederzeit ändern kann. Soviel kann ich Ihnen heute sagen.
Ich bitte um Verständnis, daß ich als Vertreter des Auswärtigen Amtes hier schlecht in eine Debatte über Interpretationen des Bundesbeamtengesetzes oder des Disziplinarrechtes einsteigen kann.
Herr Kollege Beucher.
Herr Staatsminister, kann die Tatsache, daß Sie disziplinarrechtlich nicht ermitteln und nicht vorermitteln, einfach damit zusammenhängen, daß Sie in Kenntnis der Person des jetzigen Botschafters und früheren Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes Wieck der festen Überzeugung sind, daß er nicht gelogen hat, daß er die Wahrheit gesagt hat und daß deshalb die Auseinandersetzung hier auf einen sogenannten Nebenkriegsschauplatz verschoben wird?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich hatte gerade darauf hingewiesen, daß die Untersuchungen in diesem ganzen Zusammenhang noch nicht abgeschlossen sind, daß Zeugenvernehmungen, auch des Kollegen Stavenhagen, bevorstehen und daß wir uns im Augenblick dazu kein anderes Urteil erlauben können als das von mir verlesene, nämlich daß zum derzeitigen Zeitpunkt kein Anlaß besteht, ein Disziplinarverfahren gegen Herrn Wieck zu eröffnen.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Otto Schily.
Herr Staatsminister, können wir dann davon ausgehen, daß sich nach dem derzeitigen Stand Ihrer Einschätzung Herr Wieck völlig korrekt verhalten und die Wahrheit gesagt hat?
Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich bin nicht sicher, ob Sie diesem Ausschuß angehören. Ich gehöre ihm nicht an. Insofern ist das Meinungsbild, das Sie sich dort machen konnten, wahrscheinlich sehr viel zutreffender, als wenn ich jetzt theoretisch irgendwelche Vermutungen anstelle.
Ich habe Ihnen gesagt: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt kein ausreichender Grund vor, ein Disziplinarverfahren zu eröffnen. Die Untersuchungen bzw. Verhandlungen im Untersuchungsausschuß sind nicht abgeschlossen; es sind noch nicht alle Zeugen vernommen worden, und man muß den Prozeß abwarten, bevor Endgültiges gesagt werden kann. Ich bitte um Verständnis, daß ich hier keine Bewertungen des Verhaltens derjenigen abgeben kann, die in diesem Zusammenhang vom Untersuchungsausschuß vernommen werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Frage 34 des Kollegen Hans Wallow wird schriftlich beantwortet, und die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amtes. Herr Staatsminister, herzlichen Dank.
Damit sind wir auch am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Proteste über mangelnde Transparenz und Kontrolle der Treuhandanstalt
Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde beantragt.
Als erster Redner hat Herr Kollege Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist Ihnen sicher schon aufgefallen, daß in Deutschland mit zweierlei Maß gemessen wird. Was sich die Treuhandanstalt leistet, würde die politische Führung einer westdeutschen Institution nie und nimmer überleben. Die Skandale häufen sich. Ich will hier nur folgende Stichworte nennen:Da war die im Zusammenspiel von Bundesverkehrsminister, Bundeswirtschaftsminister und Treuhand in den Ruin getriebene DDR-Fluglinie Interflug.Da war der Fall der Chemnitzer Kugellagerfabriken, die vom westdeutschen Konkurrenten Kugelfischer aus Schweinfurt übernommen und bei erster Gelegenheit fallengelassen wurden.Da gibt es die anrüchigen Praktiken von Wirtschaftsberatungsunternehmen wie der Düsseldorfer
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3918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Werner Schulz
KPMG, die Treuhandbetriebe und ihre möglichen Käufer gleichzeitig beraten.Da ist die Glühlampenfabrik NARVA, für die ein japanischer Investor bereit war, 1 050 Arbeitsplätze zu garantieren, die dann urplötzlich an Grundstücksspekulanten geriet.Da ist schließlich der Verkauf der Geräte- und Reglerwerke Teltow, eines 130 Millionen-Objektes, zum symbolischen Preis von einer D-Mark an den Frankfurter Immobilienaufkäufer Claus Wisser — ein Geschäft, das selbst dem Treuhand-Vorstand, der gewiß nicht kleinlich ist, suspekt erscheint. Die Liste läßt sich beliebig verlängern.Verantwortlich für die fortgesetzten Fehlleistungen der Treuhandanstalt ist eine Melange aus politischer Einflußnahme, der Plazierung von Lobbygruppen, struktureller Überforderung und immer wieder zutage tretender krimineller Energie. Oft wird nach dem Muster verfahren, die Betriebe erst endgültig in den Ruin zu treiben, um sie dann zu einem Spottpreis zu verramschen.Unheimlich wird die Sache dadurch, daß die Treuhandanstalt jeder wirksamen Kontrolle entzogen ist. Im Gegensatz zu treuherzigen Beteuerungen ihres Führungspersonals trägt sie selbst gezielt zur Intransparenz bei. Eine erfolgreiche Überwachung der Treuhandanstalt kann man dem Bundesfinanzminister nicht bestätigen — allerdings auch nicht den Willen dazu. Vielmehr erhärtet sich der Eindruck, daß sich die Bundesregierung hinter Frau Breuels breitem Rücken versteckt.Wo bleibt die parlamentarische Kontrolle? Der überforderte Unterausschuß Treuhandanstalt läuft wie alle anderen den Skandalen hinterher. Die parlamentarische Aufarbeitung gerät zum folgenlosen Ritual. Erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, gelingt es gelegentlich dem öffentlichen Protest — wie im Fall NARVA —, es halbtot wieder herauszuzerren.Meine Damen und Herren, wir leisten uns zu Recht einen Sonderausschuß für das ungeborene Leben. Es ist überfällig, daß wir für den historisch einmaligen Vorgang der Privatisierung einer gesamten Volkswirtschaft endlich auch einen vollwertigen Ausschuß schaffen. Was muß denn noch passieren? Hier entsteht doch sozialer Zündstoff für die nächsten Jahre!Die Treuhandanstalt ist eine merkwürdige Institution. Sie ist weder Behörde, noch ist sie Konzern. Sie gehorcht nicht bürokratischer Steuerung durch die Regierung, sie unterliegt aber auch nicht der Regelung durch die Zwänge des Marktes. Sie ist nicht genötigt, eine ausreichende Rendite zu erwirtschaften.In der Treuhandanstalt gilt die Geschwindigkeit der Privatisierung als Erfolgskriterium. Zu den Merkwürdigkeiten zählt auch die erstaunliche Tatsache, daß es trotz anderslautender Absichtserklärungen bei fast allen Privatisierungen gelungen ist, ausländische Investoren aus den Schlüsselbereichen der Wirtschaft herauszuhalten — mit fatalen Folgen für den Wettbewerb, für die Arbeitsplätze und den Erhalt der industriellen Struktur in Ostdeutschland.Meine Damen und Herren, der Treuhandanstalt geht es nicht darum, die ihr anvertrauten Unternehmen im Zweifelsfall auch gegen die westdeutsche Konkurrenz in den Markt zu boxen. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Autoren einer Studie des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung sprechen zurückhaltend von „Interessenkonflikten" der beteiligten Treuhandmanager. Das Ergebnis: Betriebe, die nicht bei westdeutschen Großunternehmen untergebracht werden, gelten als nicht sanierungsfähig. Was bleibt, sind Immobilien; für die finden sich bekanntlich immer Interessenten.Es ist hier leider keine Zeit, über die notwendige Neuorientierung der Treuhandpolitik in allen Bereichen zu diskutieren. Wir haben hierfür einen umfassenden Gesetzentwurf vorgelegt. Im Moment geht es darum, dem Ausverkauf des Volkseigentums, der Verschleuderung von Bundesvermögen endlich ein Ende zu setzen und die unabdingbare demokratische Kontrolle der Treuhandanstalt zu verstärken. Vorschläge gibt es genug; jetzt muß gehandelt werden! Uns interessiert die Konsequenz, welche die Bundesregierung aus all dem zieht.
Als nächster hat der Kollege Dr. Christian Neuling das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es zeichnet den Haushaltsausschuß und damit auch den Unterausschuß Treuhandanstalt aus, Herr Kollege Schulz, daß man, bevor man die Polemik eröffnet, erst einmal in Ruhe und Nüchternheit die Sache darstellt. Insoweit möchte ich drei Anmerkungen machen.Erste Anmerkung: Arbeitsbilanz der Treuhandanstalt. Man konnte den Zeitungen entnehmen, daß bis Ende des Jahres ca. 4 500 Unternehmen verkauft sein werden. Damit werden ca. eine dreiviertel Million Arbeitsplätze gesichert sein. Die Menschen, deren Arbeitsplatz dadurch gesichert ist, haben, so glaube ich, keinerlei Verständnis für Ihre Polemik, die Sie hier gerade abgezogen haben.Damit verbunden ist die nüchterne Bilanz: Die Arbeit der Treuhandanstalt war erfolgreich. Was Sie in den letzten drei, vier Minuten gemacht haben, ist im Grunde, ohne jegliche Prüfung vier bis fünf Fälle herausgenommen zu haben, wissend, daß diese Fälle morgen im Unterausschuß behandelt werden, wissend, daß es sich im Grunde genommen nur um Behauptungen handelt. Diese stellen Sie hier heraus, um die Arbeit der Treuhandanstalt insgesamt und damit auch der Mitarbeiter sowohl bei der Treuhandanstalt als auch bei den Einzelunternehmen zu diskreditieren. Ich halte das für eine ganz schlimme Politik — das muß ich Ihnen sagen, Herr Kollege Schulz — , die überhaupt nicht geeignet ist, auch nur einen Hauch von Beitrag zur Lösung der Probleme zu leisten. So werden wir nicht weiterkommen.Die zweite Anmerkung: organisatorischer Aufbau der Treuhandanstalt. Innerhalb eines Jahres wurde dort die Mitarbeiterzahl von 305 auf mehr als 3 000 aufgestockt, um die Probleme zu lösen, um die Aufgaben zu bewältigen. Es waren Ende 1990 ca. 3 Millio-
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Dr. Christian Neulingnen Menschen in den Unternehmen der Treuhandanstalt beschäftigt; derzeit sind es 2 Millionen. Bei einer derartigen Aufbauleistung treten natürlich zwangsläufig Fehlentwicklungen auf, sowohl innerhalb der Organisation als auch bei den einzelnen Stellenbesetzungen. Dies berechtigt aber nicht dazu, die Arbeit insgesamt in einer Art und Weise zu diskreditieren, die im Grunde genommen jedes Maß an nüchterner Betrachtung verloren hat.Es bleibt sicherlich Aufgabe der Treuhandanstalt, ihre Kontrollmechanismen zu verbessern. Hierzu wird mein Fraktionskollege Schulz noch etwas sagen. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, Herr Kollege Schulz — jetzt meine ich den anderen, den vom Bündnis 90 —, daß Sie wenigstens einmal den Versuch machen, auf die einzelnen Kontrollmechanismen einzugehen. Ich möchte es angesichts der Zeit, die hier nur zur Verfügung steht, nicht tun. Es besteht aber eine Vielzahl von Kontrollmechanismen innerhalb wie außerhalb der Treuhandanstalt, nämlich: Revisionsabteilung, Controlling-System, Mitzeichnungsverfahren, Verwaltungsrat. Im Verwaltungsrat sind auch die einzelnen neuen Bundesländer sowie die Gewerkschaften vertreten. Das heißt: Es besteht durchaus ein umfangreiches Kontrollsystem.Last, but not least ist selbstverständlich der Unterausschuß zu nennen. Wenn Sie einmal die Zeit hätten, regelmäßig bei den Unterausschußsitzungen dabeizusein — —
— Da sind Sie häufiger als im Haushaltsausschuß— das will ich konzedieren —, aber man muß bei sämtlichen Unterausschußsitzungen dabeisein, um sich insgesamt ein abgewogenes Urteil bilden zu können.Die dritte Anmerkung, die ich in dem Zusammenhang machen möchte, ist, daß man, so glaube ich, einfach einmal ein Gespür für die Probleme insgesamt in den neuen Bundesländern, für die gewaltigen strukturpolitischen Verwerfungen entwickeln muß, um deutlich zu machen, unter welchem Zeitdruck welche Probleme gelöst werden müssen. Hierzu einige Zahlen, die auch für mich — so muß ich sagen — in dieser Größenordnung erschreckend bis völlig unerwartet sind:In der ehemaligen DDR waren Ende 1989 ca. 9,8 Millionen Menschen erwerbstätig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind es noch 4,8 Millionen. Das heißt: Die sogenannte verdeckte Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR liegt bei ca. 5 Millionen. Jeder zweite Arbeitsplatz hält also der Überprüfung durch eine wettbewerbsorientierte Wirtschaft nicht stand.Was ist mit den Arbeitskräften geschehen?
— Herr Kollege Thierse, ich empfehle Ihnen, nicht „abenteuerlich" zu sagen, sondern einmal nüchtern auf die Zahlen einzugehen! — Ca. 1,2 Millionen Erwerbstätige, Herr Kollege Thierse, sind allein vomArbeitsmarkt in Westdeutschland aufgenommen worden.
Ca. 1,4 Millionen Menschen sind in Weiterbildung bzw. ABM, und ca. 2,3 Millionen sind arbeitslos oder auf Kurzarbeit null. Hier müssen Sie sich einfach einmal das ganze Ausmaß der Probleme vorstellen!Wenn jetzt der Hinweis von der PDS/SED kommt, dann sage ich Ihnen eines:
Das bedeutet im Grunde genommen eine verbrecherische Führung der Wirtschaft und letztlich auch ein Verbrechen an den Menschen in der ehemaligen DDR.
Jeder zweite Arbeitsplatz in der ehemaligen DDR hält der Überprüfung durch eine wettbewerbsorientierte Wirtschaft nicht stand. Das zeigt, welche enormen Probleme zu lösen sind. Das zeigt letzten Endes auch, welcher umfangreichen Unterstützung diese Menschen von uns bedürfen, und sie bedürfen keiner billigen Polemik. — Schönen Dank.
Als nächstes hat der Kollege Helmut Esters das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um die Kontrolle über die Treuhandanstalt im parlamentarischen Bereich ausüben zu können, ist die Aktuelle Stunde das denkbar ungeeignetste Instrument.
Dennoch müssen wir uns diesen Fragen stellen. Wir alle wissen, welch schwierige Aufgaben der Treuhandanstalt insgesamt aufgebürdet worden sind, und wissen auch, daß sie sich weitgehend keiner sonderlich großen Beliebtheit erfreut. Jeder von uns, der einmal vor Ort in den Betrieben war, kann sich ein Urteil erlauben. Ich würde auch Ihnen, Herr Schulz, empfehlen,
bevor Sie über NARVA sprechen, es einmal wie ich zu tun. Gehen Sie einmal einen ganzen Tag mit Betriebsrat, mit Geschäftsleitung und mit Aufsichtsratsmitgliedern dorthin. Dann kann man sich Urteile erlauben. Lesen Sie dann einmal die entsprechenden Gutachten über die Berater, die zum Teil auch Scharlatanen gleichen, die dort hingesetzt worden sind. Lesen Sie sich diese Gutachten einmal durch. Dann kann man eine ganze Ecke mehr über derartige Dinge sagen als in diesem einfachen Fall. Für uns ist ganz
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Helmut Esterswichtig, daß die Konstruktion der Treuhandanstalt so gewählt worden ist, daß die Parlamentarier in einf ache Entscheidungen, in Sachentscheidungen der Treuhand nicht eingreifen können.Wir haben zu kontrollieren, ob der Bundesminister der Finanzen als zuständiges Organ, als zuständiges Bundesministerium seine Aufgaben erfüllt. Wir haben uns selbstverständlich auch jederzeit über Einzelfälle berichten zu lassen. In vielen Fällen ist dies sogar eine Hilfe. Dann sind wir dem Finanzministerium und dem Finanzminister auch dankbar, weil sie uns — dies geschieht jenseits der großen Publizistik, dies geschieht im Stillen — durch Taten die entsprechende Hilfe gewähren.Wichtig wird auch sein, daß wir uns in einem Punkt einig sind: Wenn es immer einmal wieder Fälle gibt, wo die Innenrevision und ähnliches mehr innerhalb der Treuhandanstalt versagen, müssen wir uns darin einig sein, daß wir dann auch den Bundesrechnungshof daransetzen, Einzelfälle zu untersuchen, um festzustellen, welche Art von Seilschaften es aus dem westlichen Teil in dieser Richtung gibt. Ich vermute einmal, daß die westlichen Seilschaften zur Zeit eine Ecke größer sind als diejenigen, die wir sonst unter dem Gesamtkomplex der Seilschaften betrachten.
Dies wird für uns ein ganz wichtiger Teil sein.Wenn wir zusammen mit dem Finanzministerium, mit den Geschäftsführungen und mit den Betriebsräten mithelfen, Konzepte kreativ zu entwickeln, indem wir anderen Sachverstand aus ähnlich gelagerten Unternehmen bei uns heranzuziehen, dann kann man vieles in dem Bereich mittelfristig überbrücken. Ich gebe gern zu, daß die Treuhand in zwei Bereichen erfolgreich ist. Christian Neuling hat es angesprochen. Der eine Teil ist die Privatisierung dort, wo es sich lohnt. Daß diese passabel über die Runden geht, beweisen die Zahlen. Daß die Treuhand da, wo geschlossen werden muß, schnell dabei ist, wissen wir auch. Was sie nicht kann, ist, den Teil zu übernehmen, der mittelfristig überlebensfähig ist und der mittelfristig saniert werden kann. Uns muß es gemeinsam darauf ankommen, daß die Unternehmen, die eine Überlebenschance haben, nicht als verlängerte Werkbänke westdeutscher oder europäischer oder internationaler Unternehmen in den neuen Ländern bleiben, sondern daß sie dort einen eigenen Industriestandort haben. Dies ist im Interesse der Menschen sinnvoll. In diese Richtung müssen wir fahren. Dabei müssen wir alle Möglichkeiten der Kontrolle, die wir hier haben, auch voll ausschöpfen. Soweit es an uns liegt, wird dies geschehen.
Als nächster hat das Wort der Kollege Paul Friedhoff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, die Treuhandanstalt, die größte Holding der Welt mit gleichzeitig der größten Ansammlung von konkursreifen Unternehmen, kommt nicht aus den Schlagzeilen heraus.Gegenstand der aktuellen Kritik sind die Vorgänge um den Verkauf des Geräte- und Reglerwerkes in Teltow bei Berlin. Dies ist, nach allem was wir wissen, in der Tat ein Skandal.Als erste Konsequenz ist der zuständige Treuhanddirektor beurlaubt worden. Eine interne Sonderprüfungskommission ist eingerichtet. In Wirtschaftsdelikten erfahrene Staatsanwälte und Kriminalbeamte untersuchen etwaige Unregelmäßigkeiten grundsätzlich bei Vertragsabschlüssen. Hier müssen wir leider erwarten, daß noch weiteres Fehlverhalten von Treuhandmitarbeitern aufgedeckt werden wird. Dies ist bedauerlich, und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.Viele dieser Schwierigkeiten resultieren aber aus den Kindertagen der Treuhand, als diese über zuwenig qualifiziertes Personal und auch über keine klare Linie verfügte. Hinzu kommt, daß die Treuhand ihr Personal unter großem Zeitdruck auswählen mußte. Sehr viele undurchsichtige Vorverträge, die aus dieser Zeit datieren, wirken natürlich bis heute nach.Nur eine gute Organisation und interne Kontrolle der Treuhandanstalt können die Gefahr von Mißbräuchen und Betrügereien minimieren.Konsequenzen sind — wie geschehen — schnell und offen zu ziehen, um dem Eindruck entgegenzuwirken, in der Treuhandanstalt und in ihrem Umfeld würde im großen Stil — von alten und neuen Seilschaften — gemauschelt. Anderenfalls, wenn dieser Eindruck bestehen bleiben würde, wäre ein Vertrauensschaden die Folge, der nicht nur die Treuhand, sondern den gesamten Umbauprozeß in den neuen Bundesländern beeinträchtigen würde.Die Treuhandanstalt beschäftigt heute fast 3 000 Mitarbeiter, die wiederum etwa 2,9 Millionen Beschäftigte betreuen. Wie in jedem anderen Unternehmen wird es mit Sicherheit auch dort schwarze Schafe geben.Doch diese Pannen zwingen zur Überprüfung, ob das vorhandene System der internen Kontrollen ausreicht. Hier scheinen in der Tat Defizite vorhanden zu sein. Wenn z. B. der mit der Kaufverhandlung betraute Mitarbeiter gleichzeitig auch den Vertrag abschließen kann, dann werden Unregelmäßigkeiten zumindest erleichtert.
Das Mehr-Augen-Prinzip durch Trennung dieser beiden Funktionen, wie es bereits teilweise in einigen Bereichen der Treuhand eingeführt wurde, sollte nach meiner Auffassung grundsätzlich gelten. Der personelle Aufbau ist in der Zwischenzeit auch so weit erfolgt, daß die anfällige Organisationsstruktur der Treuhand aus der Anfangszeit konsequent revidiert werden kann.Meine Damen und Herren, die Treuhandanstalt packt vieles richtig an, und sie kann unbestreitbare Erfolge vorweisen: Das Privatisierungstempo hat sich deutlich beschleunigt, und der Aufschwung beginnt an Fahrt zu gewinnen. Erste vorsichtige positive Anzeichen gibt es auch auf dem Arbeitsmarkt. In vielen der Betriebe, die privatisiert worden sind, geht es aufwärts. Es zeigt sich also, daß eine zügige Privatisie-
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Paul K. Friedhoffrung den erforderlichen Strukturwandel auch beschleunigen kann.Die Sanierung der ehemaligen Staatsbetriebe muß aber durch private Unternehmer erfolgen. Die Staatsholding Treuhand ist weder als Institution noch organisatorisch und personell in der Lage, diese Sanierungsaufgaben zu leisten und in den Unternehmen schnell und flexibel einen wirksamen Umstrukturierungsprozeß in Gang zu setzen.Zu begrüßen ist daher das zunehmende Engagement auch der deutschen Kreditinstitute, Risikokapital bereitzustellen und Unternehmen von der Treuhand zu übernehmen oder Minderheitsbeteiligungen einzugehen. Dies ist ein guter Weg, die planwirtschaftlichen Staatsbetriebe in den Markt zu bringen. Dieser Ansatz ist zu unterstützen. Die Treuhandanstalt ist aufgefordert, ihren Teil zum Gelingen beizutragen; denn mit dieser Methode bleiben in den neuen Bundesländern eigenständige Unternehmen erhalten, und es werden dann eben nicht nur Dependancen westlicher Konzerne entstehen. Dies ist zugleich die Voraussetzung für eine langfristige und positive Wirtschaftsentwicklung.Meine Damen und Herren, die Treuhandanstalt muß ihre internen Kontrollmechanismen weiter verstärken, um Unregelmäßigkeiten bei Unternehmens-und Grundstücksverkäufen unmöglich zu machen. Wir dürfen die Treuhand nicht mit Forderungen wie Durchführung von Sanierungsmaßnahmen überfordern. Die von der Opposition immer wieder gef orderten politischen Kontrollgremien würden die im Ganzen erfolgreiche Arbeit der Treuhand nur erschweren und damit dem raschen Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern schaden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das erste Problem bei der Treuhandanstalt besteht schon einmal darin, daß sie einen einzigartigen Zentralismus verkörpert, der sogar noch weit über den Zentralismus hinausgeht, den man in der früheren DDR bereits gewöhnt war.
Aber da gab es immerhin noch ungefähr 15 Industrieministerien. Jetzt macht das alles eine Behörde.Der zweite große Mangel besteht darin, daß in diesem Organ keinerlei Transparenz herrscht. Ich habe vor kurzem an einer Art Talk-Runde an der Humboldt-Universität teilgenommen. Dort erklärte der Stellvertreter von Frau Breuel auf eine entsprechende Frage: Kein Eigentümer redet über Verkaufspreise und gute Geschäfte.Da liegt schon das Grundmißverständnis: Er ist nämlich nicht Eigentümer, sondern er verwaltet das Eigentum der ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürger, d. h. der Bewohnerinnen und Bewohner der neuen Bundesländer, jetziges Bundeseigentum. Insofern hat die Öffentlichkeit sehr wohl einen Anspruch auf Information.Das ist übrigens nicht nur unsere Forderung. Wenn Sie heute in der „Frankfurter Rundschau" den Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung lesen, werden Sie feststellen, daß dieses Institut eine deutliche Kurskorrektur, Transparenz und Kontrolle verlangt. Das sind alles Industrielle und Wissenschaftler, die hier bisher gearbeitet haben und die aus ihrer Sicht sagen, daß die Treuhandanstalt so nicht weiterarbeiten kann.Es wird in allen Zeitungen immer wieder über alte Seilschaften berichtet. Ich meine, wie hier schon angeklungen, daß die neuen Seilschaften dort beachtlichen Umfang angenommen haben. Wenn sie sich dann noch mit alten verbinden, wird es natürlich eine völlige Katastrophe.
— Ja.
Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Der Vorsitzende des Verwaltungsrates, Dr. Jens Odewald, ist zugleich Vorsitzender des Vorstandes der Kaufhof Holding AG, Köln, die sich u. a. mit der Durchführung von Immobiliengeschäften aller Art, einschließlich Immobilienentwicklung und der Verwaltung von Vermögen und Erwerb, Verwaltung und Veräußerung von Beteiligungen an in- und ausländischen Unternehmen, beschäftigt. Über Beteiligungen ist die Kaufhof AG an mehreren Grundstücksgesellschaften beteiligt. Dr. Odewald ist bei der Treuhandanstalt auch im Fachausschuß Immobilien tätig.Zweites Beispiel: Das Verwaltungsratsmitglied Klaus Piltz ist Vorstandsvorsitzender der VEBA AG, Düsseldorf, und im Aufsichtsrat der VEBA Kraftwerke Ruhr AG sowie der VEBA Oel AG. Die VEBA AG, Düsseldorf, die in der Liste der 500 größten deutschen Unternehmen 1990 mit einem Umsatz von 49,2 Milliarden DM den vierten Platz belegte, hält z. B. 100 % des Aktienkapitals der Preussen Elektra AG, die am Zustandekommen des sogenannten Stromvertrages wesentlich beteiligt war, gegen den über 140 Kommunen der neuen Bundesländer vor dem Bundesverfassungsgericht klagen. Da wird deutlich, worin diese Seilschaften bestehen.Der Direktor des Unternehmensbereichs 4, Niederlassungen, Dr. Wolf R. Klinz und der inzwischen beurlaubte Leiter des Bereichs Elektrotechnik/Elektronik Harald Lang, kennen sich auf Grund ihrer gemeinsamen Arbeit für den schweizerischen Elektrokonzern Landis & Gyr. Kunz arbeitete dort im Vorstand, Lang wurde Chef der deutschen Tochtergesellschaft. Gemeinsam verscherbelten beide nach Pressemitteilungen die Geräte- und Reglerwerke, GRW, in Teltow für eine DM.Da wird ersichtlich, wie ungeheuer kompliziert es ist, wenn man sozusagen Wirtschaftseigentümer und -manager von bestimmten Betrieben zu Beamten macht, die dann an sich selbst oder an die mit ihnen Verbündeten verkaufen.
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Dr. Gregor GysiWas brauchen wir? Wir brauchen als erstes eine öffentliche Bilanz des Vermögens der ehemaligen DDR per 3. Oktober 1990, die immer noch nicht vorliegt. Wir brauchen eine öffentliche Bekanntgabe der Einnahmen und Ausgaben, und zwar konkret nach Regionen und Betrieben. Wir brauchen eine Einbeziehung der Betriebsräte und der zuständigen Gewerkschaften. Wir brauchen eine Rechenschaftslegung vor Bundestag, Landesparlamenten und Kommunen.Wir brauchen endlich den Erlaß der Altschulden bei sanierungsfähigen Betrieben, insbesondere bei Wohnungsgesellschaften. Ich sage: Es kann doch nicht im Ernst so sein, daß Sie alles, was es in der DDR gab, vernichten, und nur die Schulden sollen bleiben und über Jahrzehnte hin abbezahlt werden.Wir brauchen die Überführung von Betrieben in kommunales Eigentum, die nicht saniert und nur als Immobilien verkauft werden. Dann wäre dieses Interesse weg, und die Kommunen könnten sich damit materiell, finanziell stärken und gleichzeitig auf soziale und ökologische Lösungen hin orientieren.Wir brauchen endlich auch die Bereitschaft, Betriebe dort, wo Belegschaften bereit sind, sie zu übernehmen, den Belegschaften zu übergeben und sie dabei zu unterstützen.Als letztes und Wichtiges füge ich hinzu — das müßte man natürlich länger ausführen — : Wir brauchen statt Finanzpolitik Wirtschaftspolitik. Um hier ein Signal zu setzen, müßte die Treuhandanstalt endlich dem Wirtschaftsminister und nicht dem Finanzminister unterstellt werden.
Wir brauchen eine degressive Subvention — DIW hat übrigens genau das vorgeschlagen — : Lohnsubventionierung statt Bezahlung von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, und das degressiv, so daß sich die Betriebe darauf einstellen können, in welcher Frist — drei, vier Jahre — sie saniert sein müssen und marktfähig sein müssen. Dann hätten sehr viele Betriebe eine Chance. Arbeitslosigkeit könnte abgebaut werden, statt alles rundweg zu verschleudern, zu verkaufen und den Leuten keine Chance zu geben.Danke.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Grünewald.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Schulz, wer im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt von Dauerskandal spricht, der hat den Auftrag nicht erkannt, oder er will ihn nicht erkennen
— Sie wollen ihn ja auch verändern — , der erkennt die Arbeit der Treuhandanstalt nicht an und der mißgönnt ihr vielleicht auch den Erfolg, d. h. jene Erfolge, auf die der Kollege Neuling schon hingewiesen hat. Mit billiger Propaganda gegen die Treuhandanstalt, wiedas hier und woanders immer wieder betrieben wird, ist diesem sensiblen Institut nun keineswegs gedient.
Sachlichkeit ist einzufordern.
Damit ist nun überhaupt nicht gesagt, daß die Arbeit der Treuhandanstalt nicht auf den Prüfstand muß, daß wir Einzelfälle nicht zu überprüfen haben. Das versteht sich bei einem solchen Mammutuntemehmen von selbst. Ja, das ist ein großes Unternehmen, Herr Gysi. Aber das hat mit dem Zentralismus, dem Sie ein Leben lang angehangen haben und auch heute wohl noch anhängen, nun wirklich nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Deswegen gilt auch hier — ich habe das in diesem Hause schon einmal gesagt —: Wo gehobelt wird, gibt es Späne. Und bei der Treuhandanstalt muß gehobelt werden. Deshalb kann es auch zu Fehlentscheidungen, zu irgendwelchen Unzulänglichkeiten immer wieder kommen wie in jedem anderen Lebensbereich auch.Ich sage in aller Deutlichkeit, daß die Bundesregierung großen Wert darauf legt, in allen Fällen, in denen es Anhaltspunkte für subjektives Fehlverhalten oder für irgendwelche sonstigen Unzuträglichkeiten gibt, schnell und lückenlos aufzuklären und auch schnell und ebenso lückenlos daraus die Konsequenzen zu ziehen, und das geschieht auch so.Wer sich ernsthaft mit der Arbeit der Treuhandanstalt auseinandersetzt, kann ihre Erfolgsbilanz überhaupt nicht leugnen. Lassen Sie mich den Zahlen des Kollegen Neuling nur noch eine Zahl hinzufügen: Bei den Verkaufsverhandlungen sind Investitionen in einer Größenordnung von insgesamt 70 Milliarden DM zugesagt worden. Das ist doch das, was wir dringend brauchen, um drüben Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen.Das Ganze kommt im übrigen nicht von selbst. Das ist unternehmerische Knochenarbeit, die da geleistet wird. Herr Gysi, ich finde es einen unglaublichen Vorgang, wenn Sie so renommierte deutsche Wirtschaftler wie Herrn Odewald, wie Herrn Piltz nun in Seilschaften einzubinden versuchen. Wir sollten froh und dankbar für ihren Einsatz sein. Herr Odewald hat es doch überhaupt nicht nötig, sich diese zusätzliche Belastung für die Treuhand — ich weiß um seine Arbeit, die er da leistet — anzulachen. Wenn wir ohnehin einen so großen Bedarf an Managern in den Aufsichtsorganen und in den Geschäftsführungen haben, sollten wir sie nicht auch noch diskriminieren. Ohne diese Männer, die mehr als ihre Pflicht für diesen Bereich tun, wäre die Treuhandanstalt überhaupt nicht zu führen.
Das sollte man hier auch einmal dankbar anerkennen.Herr Gysi, warum sprechen sie nicht über die Rahmenbedingungen für die Treuhandanstalt? Diese sind doch der eigentliche Grund für die Misere: Jahr-
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Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewaldzehnte der Mißwirtschaft, zusammengebrochene Märkte, fehlende konkurrenzfähige Produkte,
niedrige Produktivität, nicht lebensfähige Unternehmensstrukturen und die schon erwähnten Defizite im Management sowie total veraltete Produktionsanlagen. Das alles muß man doch, bitte schön, berücksichtigen, wenn man hier so leichtfertig mit Kritik an der Arbeit der Treuhandanstalt herüberkommen zu müssen meint.Ich will der Diskussion um die angesprochenen Einzelfälle keineswegs ausweichen. In erster Linie sind ja NARVA und die Geräte- und Reglerwerke und Eltronic-eb in Teltow gemeint. Auch aus der Sicht der Bundesregierung bedarf alles, was jetzt aufgespült worden ist, einer sorgfältigen Prüfung und einer schnellen Klärung. Dies ist auch schon längst veranlaßt, wie doch gerade Sie, Herr Kollege Schulz, aus Ihrer Mitarbeit im Unterausschuß „Treuhandanstalt" wissen. Die Innenrevision der Treuhandanstalt prüft seit langem den gesamten Branchenbereich. Der Bundesminister der Finanzen wird in Ausübung seiner Rechts- und Fachaufsicht den Fortgang sehr sorgfältig verfolgen.Das abschließende Ergebnis bleibt abzuwarten. Niemand wird mich provozieren, dem heute vorzugreifen, um so weniger, als doch morgen im Unterausschuß der Treuhandanstalt all diese Fälle zur Diskussion anstehen. Herr Kollege Esters, Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, daß es deswegen auch nicht ein paar Stunden vorher einer Aktuellen Stunde hier im Bundestag bedarf.Zur Transparenz und Kontrolle gestatten Sie mir noch einige wenige Worte. Die Treuhandanstalt wurde im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Nichts aufgebaut. Vor einem Jahr um diese Zeit herum begann sie erst mit ihrer operativen Tätigkeit. Arbeits-und Organisationsabläufe sind inzwischen so gestaltet, daß sie unter den gegebenen Bedingungen ein gehöriges Maß an Effizienz, Transparenz und Kontrolle gewährleisten.Die Privatisierung, Reprivatisierung, die Sanierung und die Stillegung von Unternehmen vollziehen sich auf der Grundlage interner Richtlinien der Treuhandanstalt. Für Grundstücksverkäufe gibt es — das wird immer gerne global in Zweifel gezogen — ganz besondere Sicherheitsvorkehrungen. Diese Richtlinien sind selbstverständlich mit dem Bundesminister der Finanzen abgestimmt. Sie werden den jeweiligen Erfahrungen entsprechend immer wieder aktualisiert, verbessert und angepaßt.Das gesamte für die vielfältigen Aufgaben der Treuhandanstalt besonders schwierige Controlling wird zügig ausgebaut. Das Controlling ist auf Veranlassung des BMF eingeführt worden. Ich habe mich einmal selber in stundenlanger Mühe über dieses Regelungswerk — Vizepräsident Brahms hat es erdacht — informiert. Ich kann Ihnen nur sagen: Es hat mir unglaublichen Respekt abverlangt, was da in kurzer Zeit geleistet worden ist.Die danebenstehende, unmittelbar der Präsidentin zugeordnete Innenrevision arbeitet, soweit das bis heute geht, ebenso effektiv. Wir meinen, daß wir schon ein sehr gutes Sicherheits- und Frühwarnsystem haben, das natürlich wie alles auf dieser Welt noch verbessert werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Bundesministerium der Finanzen hat zusammen mit der Treuhandanstalt allein über 2 000 Einzeleingaben von Bürgern aufgegriffen. Wir haben in einer Vielzahl der Fälle gemeinsam mit der Treuhandanstalt Abhilfe schaffen können.
Auch die genannten Fälle Eltronic-eb und Geräte-und Reglerwerke in Teltow sowie NARVA in Berlin zeigen doch letztlich das Funktionieren der Kontrolle. So wurde der Verkauf von Eltronic-eb Teltow dem Bundesministerium der Finanzen zur haushaltsrechtlichen Einwilligung vorgelegt. Diese wurde nach eingehender Prüfung bei uns im Hause versagt, und der Vorstand der Treuhandanstalt ist bereits am 27. August gebeten worden, den Verkauf durch die Innenrevision auf die Angemessenheit der Vertragsbedingungen und mögliche Unregelmäßigkeiten überprüfen zu lassen.
Die Kontrollmechanismen funktionieren also. Das beweisen der oben genannte Fall und auch all die anderen Fälle, die wir morgen im Unterausschuß zu besprechen haben. Die beanstandeten Einzelfälle werden wir aufgreifen. Auch weitere werden zukünftig nicht generell auszuschließen sein, wie das auch woanders der Fall ist.
Auf der anderen Seite müssen wir uns im klaren sein, daß es eine absolute und lückenlose Kontrolle nicht geben kann und, wie ich meine, auch nicht geben darf. Denn das würde Stillstand der Privatisierung, der Sanierung und der Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft bedeuten. Das kann doch wohl nicht in unserem Interesse sein, die wir Investitionen initiieren wollen, Arbeitsplätze sichern und schaffen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen die schwere Arbeit der Treuhandanstalt etwas konstruktiver begleiten.
In diesem Sinne wünsche ich der Treuhandanstalt und allen, die dort Verantwortung tragen, für diesen dornenreichen, schwierigen Weg in die Zukunft allen erdenklich guten Erfolg im Interesse einer hoffentlich bald auch im östlichen Teil unseres Vaterlandes florierenden Wirtschaft.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Arne Börnsen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben soeben schöne Worte zu der Arbeit der Treuhand gefunden. Sie haben aber, wie ich meine, in Ihrem Beitrag Grundsätze für die Arbeit der Treuhand in der Zukunft vermissen lassen, die sich von den bisherigen Kriterien unterscheiden könnten. Sie sagten in einem Ihrer Sätze einmal, daß wir gemeinsam — natürlich! — über die Rahmenbedingungen für die Treuhandanstalt nachdenken sollten.
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Arne Börnsen
Wenn wir das Thema dieser Aktuellen Stunde für uns konstruktiv analysieren, bedeutet das doch, zu überprüfen, inwieweit die berechtigten Proteste, die hier genannt wurden, und die berechtigten Einwände uns dazu bringen sollten, zu überlegen, wo die Ursachen liegen, nicht immer nur im Einzelfall, sondern möglicherweise auch in der Systematik.Wir können nicht bezweifeln, daß die Einzelfälle so eingetreten sind, wie sie hier geschildert werden. Es ist trotzdem ohne Zweifel so, daß wir deswegen die Treuhandanstalt nicht in der Gesamtheit verteufeln dürfen. Aber daß Mißbrauchsmöglichkeiten, teilweise auch Bereicherungsmöglichkeiten oder Fehlentscheidungen bestanden, kann nicht geleugnet werden.Ein Prinzip z. B., welches in privaten Unternehmen selbstverständlich ist, ist bei der Treuhand offensichtlich nicht die Regel, nämlich daß Entscheidungen nach dem sogenannten Vieraugenprinzip getroffen werden, daß nicht einer allein eine Entscheidung treffen darf, wie offensichtlich geschehen, sondern daß an Entscheidung und Abzeichnung immer mindestens zwei Personen beteiligt sind. Natürlich stehen in der Regel ja noch einige mehr zur Verfügung.Aber das ist nur ein schlaglichtartiger Hinweis darauf, daß es systembedingte Schwierigkeiten gab. Die Ursachen wurden genannt: schneller Ausbau, Herkunft der West-Manager; das ist ohne Zweifel ein Problem, auch wenn ich mich nicht auf einzelne Personen beziehen will.Die Frage ist nun: Kann das technisch korrigiert werden? Sie haben darauf hingewiesen, Herr Staatssekretär, daß ein Controlling, welches nach Ihrer Ansicht vernünftig arbeitet, eingeführt wurde. Allerdings ist es offensichtlich so, daß zum einen das BMF erst darauf drängen mußte, daß es eingeführt wird, und zum zweiten der Zeitpunkt der Einführung erst im August 1991 lag, daß also tatsächlich ein Jahr lang ein vernünftiges Controlling und Revisionssystem nicht vorhanden war.Ich glaube aber, das eigentliche Problem bei der Treuhand und den daraus resultierenden Schwierigkeiten liegt darin, daß bis jetzt bei der Frage der Sanierung und der Privatisierung immer Einzelfallösungen gewählt wurden, die zusätzlich in manchen Bereichen sehr starkem persönlichen Einfluß unterlagen. Ich verweise nur auf die beiden Namen Späth und Biedenkopf, die auf die spezifischen Unternehmen sicherlich einen sehr positiven Einfluß hatten. Aber daß hier nach unterschiedlichen Kriterien die Unternehmen saniert werden, wenn man einmal den Aufwand pro Arbeitsplatz berechnen würde, das kann man, glaube ich, auch nicht leugnen.Im Gegensatz zu diesen Einzelfallösungen sollte ein globaler Ansatz gewählt werden, es sollten generelle Subventionierungs- und Privatisierungsregeln aufgestellt werden und — Sie werden vielleicht staunen, daß das von mir genannt wird — es sollte ein verstärkter marktwirtschaftlicher Ansatz bei der Sanierungstätigkeit der Treuhand gewählt werden.Auf den Hintergrund dessen, worauf ich hinaus will, ist bereits in einigen Wortmeldungen verwiesen worden, nämlich auf das, was das Deutsche Institut fürWirtschaftsforschung gerade in den letzten Tagen veröffentlicht hat und was auch gestern noch einmal im „Handelsblatt" stand, daß nämlich die Investitionspolitik der Treuhand bis jetzt dazu geführt hat, daß die privaten Betriebe oder die privaten Investoren sich eher abwartend verhielten hinsichtlich ihrer Investitionsbereitschaft und daß sich die Liquiditätsbürgschaften in der Praxis offensichtlich als ein nicht ausreichendes Kriterium erwiesen haben. Es muß unser Ziel sein — jetzt leuchtet bei mir bedauerlicherweise das Licht auf — , daß die abwartende Haltung, die deutlich geworden ist, beseitigt wird.Ich möchte deswegen ganz kurz fünf Punkte nennen, die in eine Konzeption, welche seitens der Bundesregierung der Treuhand vorgegeben werden sollte, einfließen könnten bzw. die erst einmal in die Diskussion einfließen sollten.Der erste Punkt ist die Feststellung: Eine Einstufung der Unternehmen hinsichtlich ihrer Sanierungsfähigkeit liegt vor. Das Zettelchen haben wir ja. Somit haben wir eine prozentuale Aufschlüsselung, welche Betriebe sanierungsfähig sind und welche nicht, in einer bestimmten Abstufung. Das Ziel muß sein, daß den Betrieben die Möglichkeit gegeben wird, Produkte und Produktionsanlagen zu modernisieren, und daß dafür das erforderliche Investitionskapital zur Verfügung gestellt wird. Dafür ist auch privates Kapital erforderlich, und dafür sollten — das wurde auch schon genannt, ich wiederhole es — auch die Banken ihr Engagement verstärken. Die Treuhand sollte sich in einer Größenordnung, wie das die Banken bereits tun, beteiligen.
Herr Kollege Börnsen, kommen Sie bitte zum Schluß.
Das tue ich mit meinem letzten Punkt. Der letzte Punkt: Der Hinweis darauf, daß auch eine Lohnsubventionierung vorgenommen werden soll oder mit anderen Worten Einarbeitungshilfen gewährt werden sollten, würde ebenfalls ein konstruktiver Ansatz sein.
Herr Kollege, wir befinden uns in der Aktuellen Stunde.
Ich danke Ihnen.
Als nächster hat der Kollege Gerhard Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gehöre zu denen, die sich zur Treuhand, zu ihrer Arbeit und dem ihr zugrunde liegenden Konzept grundsätzlich bekennen. Wenn ich allerdings Presseberichte wie diejenigen, die jetzt zu dieser Aktuellen Stunde führen, zur Kenntnis nehmen muß, beschleicht mich ein deutliches Gefühl des Unbehagens.Die aufgeworfene Frage der mangelnden Transparenz und fehlenden Kontrolle sollte durchaus diskutiert werden. Die Frage lautet allerdings: Brauchen wir andere, weitergehende neue Kontrollmöglichkei-
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Gerhard Schulz
ten, selbst unter der Gefahr, daß wir das Unternehmen totkontrollieren, oder reicht es aus, wenn die vorhandenen öffentlichen Kontrollmöglichkeiten genutzt werden? — Ich spreche nicht von den internen Kontrollmöglichkeiten; das sind andere.Ich will die Kontrollmöglichkeiten kurz und sehr grob darstellen, weil die Zeit sonst nicht ausreicht. Im Treuhandverwaltungsrat sitzen u. a. die fünf Ministerpräsidenten der neuen Länder. Es gibt innerhalb der Treuhand, und zwar in der Präsidialabteilung, die sogenannten Länderbeauftragten, deren koordinierende Funktion darin besteht, den Kontakt zwischen den Ländern und der Treuhand herzustellen.Diese Treuhandwirtschaftskabinette sitzen in der Regel alle vier Wochen zusammen. In Sachsen finden im Vorfeld dieser Beratungen der Treuhandkabinette Beratungen mit den Landtagsabgeordneten statt, und zwar fraktionsübergreifend. Damit ist also ein direkter Zugriff der sächsischen Landtagsabgeordneten auf den Inhalt dieser Beratungen möglich.Es gibt in den Beiräten der jeweiligen Treuhandaußenstellen die Verbindung zwischen regionaler Politik, Wirtschaft und der Treuhand. Im Beirat der Niederlassung Leipzig — woher ich komme — sind vertreten: das sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, der Regierungspräsident, der Landrat, der Stadtrat für Wirtschaft, zwei Vertreter der Gewerkschaften sowie jeweils ein Vertreter der Kirchen, der Bürgerbewegung und der Landwirtschaft. Vertreten sind weiterhin die IHK, die Handwerkskammer und in Vertreterfunktion der Unternehmerverb and Sachsen und der Landesverband der sächsischen Industrie.Es finden zwischen der Treuhand und den Länderwirtschaftsministerien Branchengespräche statt. Dem jeweiligen Wirtschaftsminister stehen also an einem Tag mehrere Branchendirektoren als Gesprächspartner zur Verfügung. Dabei können gegensätzliche Interessen besprochen, abgeklärt und soweit wie möglich in Übereinstimmung gebracht werden.Die Treuhandanstalt hat die Aufgabe, die Wirtschaft der ehemaligen DDR in die Struktur der Sozialen Marktwirtschaft zu überführen. Sie hat nicht die Aufgabe, selber Strukturpolitik zu betreiben. Das ist durch das Treuhandgesetz festgelegt. Wer etwas anderes will, muß ein anderes Gesetz schaffen; er kann dafür nicht die Treuhand prügeln.Allerdings wird durch die Gespräche in den verschiedenen Gremien durch die Treuhand versucht, den Ländern so weit wie möglich entgegenzukommen und ihnen bei der Erfüllung ihrer landeseigenen Strukturpolitik behilflich zu sein, d. h., die Interessen des jeweiligen Landes in die Geschäftspolitik der Treuhand einfließen zu lassen.Das betrifft z. B. die Privatisierung der Flughäfen, wo das jeweilige Land und die Kommunen unmittelbar beteiligt sind. Es geht — als Beispiel aus Sachsen — um die Porzellanmanufaktur Meißen, es geht um die Problematik der Lausitz mit ihrer Textilmonostruktur, und es geht — was in der Presse schon kolportiert wurde — um das Zentrum für Mikroelektronik in Dresden. Entgegen den Pressemeldungen ist die Standortfrage Dresden oder Erfurt noch lange nicht entschieden. Man sucht noch gemeinsam nach dem besten Konzept. Auch in der Problematik der GISAG in Leipzig ist inzwischen viel bewegt worden.Gestern — das ist ganz aktuell — hat in Dresden das Treuhandkabinett getagt. Bei dieser Beratung hat man sich unter dem Eindruck der Vorfälle in Berlin darüber verständigt, in Zukunft Regionalberatungen durchzuführen. Teilnehmer daran sind die Landtagsabgeordneten, die Bundestagsabgeordneten, die Beobachter des Europäischen Parlaments — all das fraktionsübergreifend — , die Landräte, die Industrie- und Handelskammer, die Treuhandzentrale Berlin und die jeweilige Treuhandniederlassung. Sinn dieser Beratung ist es, Lösungen für die Probleme dieser einen bestimmten Region, in der die Beratung stattfindet, zu besprechen.Weiterhin erfüllt sich jetzt ein vor langer Zeit geäußerter Wunsch des sächsischen Wirtschaftsministeriums, eine Art Frühwarnsystem einzuführen, um mit einer Karenzzeit von ungefähr einem Vierteljahr zu erfahren, welcher Betrieb liquidiert werden soll. Dadurch hat die Landesregierung Zeit, sich in Gesprächen mit der Industrie- und Handelskammer, der Handwerkskammer usw. zu überlegen, was mit der freiwerdenden Immobilie geschehen soll, um die Standortbedingungen des Mittelstands zu verbessern.Zum Schluß will ich noch ein ganz aktuelles Beispiel aus Sachsen nennen, das zeigt, was alles möglich ist: Die Lausitzer Glas AG sollte stillgelegt werden. Es gab Beschwerden der Belegschaft, der Geschäftsführung, der Kommune und der Landräte. Durch Beratungen mit der Treuhandanstalt konnte gemeinsam ein Konzept erarbeitet werden, welches die Aufteilung der Aktiengesellschaft in vier Betriebe zur Folge hat, und zwar in die Betriebe Bärenhütte, Oberlausitzer Glas, Telelux und das im Land Brandenburg ansässige Glaswerk Döbern. Damit können die Standorte gesichert werden.Ich bin also — um zum Fazit zu kommen — nicht der Auffassung, daß wir weitere Kontrollmöglichkeiten brauchen. Vielmehr bin ich der Auffassung: Die vorhandenen Möglicheiten reichen aus, wenn sie intensiv genutzt werden.
Das Wort hat der Kollege Werner Zywietz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Treuhand ist natürlich in vielerlei Beziehung für ein politisches Gespräch und für eine politische Debatte ein gewichtiges Thema. Denn das, was sich dahinter verbirgt, nämlich die Privatisierung der sozialistischen Konkursmasse, Herr Gysi, ist zweifellos eine gewichtige und für viele Menschen schicksalhafte Aufgabe.Ich komme zu dieser Aktuellen Stunde aus den laufenden Haushaltsberatungen. Ich weiß, daß der vorläufige, der bisherige Haushaltplan der Treuhand für 1991 ein Defizit von 20 Milliarden DM ausweist; das ist ja kein Pappenstil. Das heißt, wir haben es auf der einen Seite damit zu tun, was aus der Hinterlassenschaft der Ex-DDR wird, damit, wer neuer Eigentümer
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Werner Zywietzwird und was aus dieser Hinterlassenschaft zu machen ist. Aber wir sehen auf der anderen Seite auch, daß dann, wenn die Erlöse die Aufwendungen nicht tragen, für den gesamtdeutschen Steuerzahler eine erhebliche Summe Geldes zu zahlen übrigbleibt. Mindestens zwischen diesen Polen, wenn nicht noch zwischen anderen, bewegt sich die Arbeit, über die wir hier diskutieren. Die Arbeit der Treuhandanstalt ist über alle Maßen bedeutsam, aber auch schwer, weil die Hinterlassenschaft, weil der Schrott — wenn man es einmal plastisch ausdrückt — , der hinterlassen worden ist, so unendlich groß ist.Wenn ich Ihnen zuhöre, Herr Gysi, dann muß ich sagen: Da muß man schon zu dem üblichen noch einen größeren Appell an die eigene Toleranz richten, wenn man diese zynischen Äußerungen vernimmt. Das ist nicht leicht zu ertragen.
Sie reden von Seilschaften, als könnten Sie sich unter diesem Begriff gar nichts vorstellen. Das Ganze, was hinterlassen worden ist, ist das Ergebnis von Seilschaften.Wenn Sie über Fachleute so herziehen, wie Sie es gemacht haben, dann kann man nur sagen: Eine anmaßende politische Laienspielschar hat diese Hinterlassenschaft produziert. Über andere, die sich bemühen, daraus etwas Besseres zu machen, sollten Sie nicht mit dieser zynischen Gesichtsmaske sprechen;
das ist in der Tat unangemessen.Ich habe häufig hinübergeschaut, um zu sehen, wie Sie sich verhalten. Ich muß sagen: Es stößt an die Grenzen einer sehr wohlwollenden Toleranz. Sie nutzen sie ganz schön aus. Das ist der Situation nicht angemessen.
— Was haben Sie den Menschen vorher zugemutet? Darüber sollten Sie sich einmal näher befragen.
Von der geheuchelten Humanität, die Sie jetzt an den Tag legen, war dabei keine Rede. Es lohnt wirklich nicht, jetzt darauf einzugehen. Das können wir in anderer Form machen.Helmut Esters hat recht: Das Thema Treuhand ist ein sehr bedeutsames Thema. Man kann darüber sprechen. Bloß, eine Aufregungs- oder Ablenkungsdebatte ist diesem Thema nicht angemessen. Diese kann man aber leider nur im Fünf-Minuten-Takt führen. Wir müssen über Formen und Modalitäten einer etwas tiefergehenden und seriöseren Diskussion, wie wir sie beispielsweise im Unterausschuß Treuhandanstalt und im Haushaltsausschuß führen, nachdenken und uns permanent damit beschäftigen, damit der Weg zur Besserung gefunden werden kann. Daß dies nicht mit großen Vokabeln und einer ausladenden Handbewegung geschehen kann, ist jedem, der sich ein bißchen damit beschäftigt hat, klar.Wir haben gerade nicht vor, den Nachlaß der Ex-DDR in Krabbeltischmanier zu verwursteln, wie Sie es eigentlich vor der Einheit begonnen haben und wie es vielleicht auch noch zu Beginn dieser Phase ein bißchen dominant war. Das beabsichtigen wir mit dem geordneten Privatisierungsvorhaben der Treuhand eben nicht. Wir haben vielmehr vor, unter all den Schwierigkeiten eine Marktwirtschaft sukzessive aufzubauen, die sozial und auch ökologisch orientiert ist. Gerade die Altlasten, vor allem die ökologischen Altlasten, haben ein Großteil der Defizite kreiert. Dies ist jedoch die Hinterlassenschaft eines anderen Systems. Aber das werden wir an anderer Stelle noch besprechen können.Ich gehöre keineswegs zu denen, die jetzt sagen: Alles, was die Treuhand macht, ist richtig. Aber dort wird eine gewaltige Aufgabe ohne Beispiel geleistet. Sie wird von Tag zu Tag — so möchte ich einmal bildhaft sagen — in besserer Manier vollzogen. Lernfehler am Anfang sind eingeschlossen. Aber das Motto lautet: Learning by doing, Herr Schulz.Man kann beispielsweise noch lernen, daß es nicht gut ist, daß kleine Unternehmen mit riesigen Flächen verkauft werden. Man wird in Zukunft wohl stärker dazu übergehen müssen, wenn man einen Betrieb veräußert, dann nur das betriebsnotwendige Flächenvermögen mitzugeben und nicht die riesigen Flächen, die durch irgendwelche Zufälle an kleinen Unternehmen in alter Art nun einmal dranhängen. Das macht keinen ökonomischen Sinn.
Da ist anzusetzen; bei der Revision ist anzusetzen; beim Vier-Augen-Prinzip ist anzusetzen. Es können auch mehr Zwischeneigentümer — das steht in der Verantwortung der Banken — und andere Investorengruppen auftreten, um erst einmal für ein, zwei oder drei Jahre eine gewisse Übersicht, Transparenz und Ordnung hineinzubekommen. Das halte ich schon für nachdenkenswerte Methoden und Wege, um aus einem vielleicht zu großen Erfolgsdruck herauszukommen und nicht allzu viele Fehler zu machen.Ein Gutteil ist ja auch schon abgearbeitet worden. Ich habe das Bild vor Augen, daß die regionale Komponente noch verstärkt werden kann, indem man aus den 15 an den alten Bezirken orientierten Niederlassungen beispielsweise fünf Länderzwischentreuhandgesellschaften macht. Wenn Schwerin halb fertig ist und Neubrandenburg auch die halbe Arbeit gemacht hat, dann kann ich aus den drei Niederlassungen in Mecklenburg-Vorpommern vielleicht eine kleinere Treuhandanstalt machen, die die zweite Halbzeit der Arbeiten absolviert. Es sind durchaus Denkmodelle möglich, die mehr Effizienz gewährleisten.
Ich jedenfalls — ich muß auf die Uhr schauen — habe einen hohen Respekt vor der immensen Arbeit, die zum Wohle von Demokratie, Marktwirtschaft und Föderalismus von der Treuhand geleistet wird. Auch ich sage mit einem etwas skeptischen Unterton: Wir haben uns ja auch von politischer Seite her schon stärker mit der Treuhand beschäftigt.
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Herr Zywietz, würden Sie bitte zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Schluß. — Aber ich wünschte mir noch mehr, daß auch die Verantwortlichen in der Treuhand — sei es im Management oder im Verwaltungsrat — wissen, daß der politische Aufsichtsrat der Aktivitäten der Treuhand eigentlich der Deutsche Bundestag ist. Der Bundeshaushalt ist eigentlich der wahre Treuhänder für all das, was im Namen der Treuhand geschieht.
Kollege Zywietz, es sind mittlerweile sechs Minuten.
Hier müssen wir noch stärker zueinander kommen, als es bisher gelungen ist.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hinrich Kuessner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben sich sehr zufrieden über den Stand der Transparenz bei der Treuhand geäußert. Dies ist noch nicht zu unseren Bürgern herübergekommen. Das ist, glaube ich, der springende Punkt. Wir können die Umstrukturierung nicht an den Menschen vorbei machen. Hier muß noch viel Offentlichkeitsarbeit geleistet werden.Wir haben dem Bundesminister für Verkehr im Haushaltsausschuß heute 8 Millionen DM bewilligt, damit Mittel vorhanden sind, um den Leuten bei uns mitzuteilen, welche Rechte sie haben. Das ist, denke ich, sehr wichtig.In den neuen Ländern wird sehr viel auf die Treuhand geschimpft. Ich bin letzte Woche auf einem Workshop in Mecklenburg-Vorpommern gewesen. Es ging um die Entwicklung im ländlichen Raum. Zufrieden waren die Teilnehmer nicht. Bei der Suche nach den Ursachen für den fehlenden Aufschwung auf dem Lande wurde — neben ungeklärten Grundstücksfragen — vor allem die Arbeit der Treuhand kritisiert. Alle Teilnehmer ließen Dampf ab, und es gab wenig Widerspruch.Ich denke, man muß sich einmal überlegen, woran es liegt, daß diese negative Stimmung bei uns doch sehr, sehr verbreitet ist. 1989/90 sind die Menschen bei uns mit großen Hoffnungen aufgebrochen. Endlich konnte man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sein Leben aktivieren. Aber plötzlich ist das nicht so: Der Arbeitsplatz ist unsicher, oder er ist nicht mehr vorhanden. Viele können für sich keine Zukunft erkennen. Umschulungsmaßnahmen laufen ins Leere, weil der entsprechende Arbeitsplatz noch nicht vorhanden ist. Man ist wieder da, wo man nicht sein wollte. Man fühlt sich ausgeliefert. Man möchte etwas tun, man möchte Geld verdienen, denn es lohnt sich, aber man stellt fest, daß man nicht gefragt ist. Man steht außen vor.Die Entscheidungen fallen woanders, ohne daß man darauf Einfluß nehmen könnte. Die Briefe mit den Entscheidungen über die Zukunft des Betriebes kommen von der Treuhand. Viele haben den Eindruck, daß wieder eine zentral geleitete Behörde vorn grünen Tisch aus Entscheidungen fällt. Das Schlimme an der Sache ist, daß viele Menschen das Gefühl haben, Machtapparaten hilflos gegenüberzustehen. Das hat manchen in die alte Lethargie zurückgestoßen, andere reagieren sogar mit Gewalt.An dieser Entwicklung, denke ich, ist die Treuhand nicht ganz unschuldig. Die Entscheidungen sind für die Betroffenen nicht immer nachvollziehbar. Die Vertreter der Treuhand bemühen sich nicht genügend, sie verstehbar zu machen. Das Auftreten mancher Vertreter der Treuhand ist nicht das eines Partners, von dem man den Eindruck hat, daß er nach den besten Lösungen für die Menschen in den neuen Ländern sucht. Die Treuhand hat sogar Initiativen von Geschäftsleitungen und Arbeitnehmern zur Sanierung von Betrieben gestoppt. Ich könnte Beispiele aus meiner Gegend nennen.Man spürt: Es geht auch um Verteilungskämpfe zwischen Ost und West. Mancher Kaufinteressent guckt sich genau das Grundstück, aber nicht die Arbeitsplätze an. Es fällt schwer, den Ruf der Treuhand zu verbessern, wenn man als Abgeordneter dieses Hauses fast drei Monate vergeblich auf eine Antwort von der Treuhand warten muß. Aber die eigentlichen Ursachen für diese negative Stimmung liegen sicher woanders. Die Treuhand führt das aus, was Regierung und Parlament ihr an Vorgaben mit auf den Weg geben.Da kommen wir wieder auf das, was hier schon oft gesagt wurde: Es waren politische Fehler, daß Rückgabe vor Entschädigung, daß Sanierung nicht von Anfang an gleichwertig neben die Privatisierung gestellt wurden. Ungelöste Eigentumsfragen sind der Hemmschuh. Entscheidungen werden nach hinten geschoben. Bei dem schon erwähnten Workshop stand im Vordergrund: Was wird aus den Grundstükken, die die Treuhand auf dem Lande verwaltet? Einjährige Pachten machen Betriebe nicht kreditwürdig. Wegen fehlender Investitionsentscheidungen wird immer mehr Kraft in Ersatzmaßnahmen gesteckt, z. B. in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Um diese Ersatzmaßnahmen kommen wir in der Übergangszeit nicht herum. Aber sie binden Geld und Kraft.Auf der Insel Usedom hat z. B. eine West-Berliner Gruppe ein Pilotprojekt zur Betreibung von 500 AB-Maßnahmen ins Leben gerufen. Nachdem 3,7 Millionen DM geflossen sind, wurden Konten gesperrt. So ging in einer strukturschwachen Gegend Hoffnung wieder kaputt.Für den Bürger im Osten muß erkennbar werden, daß es bei der Arbeit der Treuhand grundsätzlich um Erhaltung bzw. um Schaffung einer entwicklungsfähigen und stabilen Wirtschaftsstruktur und die Wiedererlangung der Vollbeschäftigung im Osten geht. Ich denke, an dieser Stelle muß ganz gewaltig Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden, damit unsere Leute das erkennen und die Umstrukturierung mit vollziehen.Danke.
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3928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Das Wort hat der Kollege Kurt Rossmanith.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Treuhand hat uns hier im Deutschen Bundestag schon einige Male beschäftigt. Ich bin sicher, daß wir uns in diesem Hohen Hause noch sehr häufig mit dieser Problematik werden beschäftigen müssen. Aber in bezug auf das Thema, zu dem heute die Veranstaltung stattfinden soll, möchte ich Helmut Esters recht geben: Ich glaube nicht unbedingt, daß es sinnvoll ist, jetzt für die weitere Kontrolle der Arbeit der Treuhandanstalt eine Aktuelle Stunde zu inszenieren.
Selbstverständlich ist die enorme Aufgabe, die in der Treuhand bewältigt werden muß, immer wieder ein Stoff für Diskussionen und auch für berechtigte Kritik, wobei Fragen der Transparenz und Kontrolle eine wesentliche Rolle spielen; das liegt an sich in der Natur der Sache.
Sicherlich sind auch Verfehlungen vorgekommen. Die werden auch in Zukunft nicht ausgeschlossen sein. Jeder sollte dabei mitbedenken, daß keiner frei von Fehlern ist. Ich möchte nur davor warnen, daß man jede Kritik oder jede laute Klage als bare Münze nimmt. Ich glaube, man muß auch beachten, daß hinter derartigen Klagen mitunter handfeste Einzelinteressen stehen.
Wir sollten es deshalb der Treuhand und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber an der nötigen Fairneß nicht mangeln lassen und sehr genau differenzieren, bevor man allzu schnell und ungeprüft mit kritischen Äußerungen in die Öffentlichkeit tritt.
Der Umbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern von einer sozialistischen Kommandowirtschaft in eine freie Soziale Marktwirtschaft ist sicherlich mit vielen Schwierigkeiten verbunden und läßt sich nicht von heute auf morgen bewältigen.
Kollege Neuling hat schon darauf hingewiesen, daß mit der Umstellung und Hinführung zur Sozialen Marktwirtschaft die Wettbewerbsfähigkeit vieler Arbeitsplätze einfach nicht mehr gegeben war und wir auch deshalb in dieser Problematik stecken. Das ist ohne Frage für die Betroffenen schmerzlich. Deshalb sind Entscheidungen, wie sie die Treuhand mitunter treffen muß, gerade wenn es um Stillegungen geht, natürlich häufig äußerst umstritten. Ich glaube aber, daß wir dennoch den klaren Blick dafür nicht verlieren dürfen, daß der Erhalt nicht mehr wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze den Wachstumsprozeß in den neuen Bundesländern nur erschweren und den Aufschwung damit verzögern würde.
Deshalb müssen die schnelle Privatisierung, verbunden mit Sanierung, und die Begleitung von Stilllegungen nach wie vor das oberste Ziel der Treuhandanstalt sein. Hier benötigt sie unsere Unterstützung.
Das Privatisierungstempo hat zugenommen. An den Arbeitsmarktzahlen vom September haben wir gesehen, daß das langsam seinen Niederschlag findet und daß ein Umschwung erkennbar ist.
Es ist natürlich so, daß die Treuhand ihre Entscheidungen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu treffen hat. Wie anders wären sonst eine soziale
Marktwirtschaft zu realisieren und Arbeitsplätze dauerhaft — dauerhaft! — zu schaffen? Sie ist auch kein Instrument — dafür wurde ihr kein Auftrag gegeben — für Regional- und für Strukturpolitik. Das haben wir von der Politik zu bewerkstelligen.
Hier haben wir mit Verantwortung zu tragen.
Ich darf Ihnen sagen, daß wir die parlamentarische Kontrolle sehr ernst nehmen. Ich brauche hier nur auf das hinzuweisen, was Kollege Helmut Esters gesagt hat. Diese Kontrolle erfolgt durch den Haushaltsausschuß und den Unterausschuß Treuhandanstalt, auch durch Besuche vor Ort. Wir kontrollieren die Regierung, sprich das Finanzministerium, aber auch das Wirtschaftsministerium. Es trifft ja nicht zu, daß das Wirtschaftsministerium gänzlich aus der Verantwortung entlassen wäre. Natürlich ist das Wirtschaftsministerium insbesondere in Sachfragen mitverantwortlich.
Wir haben morgen wieder eine Sitzung des Unterausschusses Treuhandanstalt. Wir hatten fast jede Sitzungswoche eine entsprechende Sitzung. Wer anwesend war, konnte sehen, daß wir die Kontrolle sehr ernst nehmen, daß wir Berichte von der Regierung anfordern, daß wir vor Ort gehen, z. B. nächste Woche wieder in die Lausitzer Braunkohleabbaugebiete.
Kollege Rossmanith, kommen Sie bitte zum Ende.
Wir haben im Haushaltsausschuß für die unabhängige Kommission 162 Arbeitsplätze geschaffen, um auch hier eine weitere Kontrollmöglichkeit zu haben.
Das, was wir in Zukunft angehen müssen — letzter Satz — , ist, die Transparenz, die schon oft angesprochen wurde, deutlicher werden zu lassen und die Kontrolle der Regierung auch in diesem Punkt noch zu verstärken, damit wir über wichtige Punkte und Entscheidungen noch schneller informiert werden und nicht zu lange auf Berichte warten müssen.
Das Wort hat der Kollege Christian Müller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich bin der Meinung, daß die struktur- und sozialpolitischen Folgen von Treuhandentscheidungen uns hier noch des öfteren beschäftigen werden. Das liegt wohl nicht an der Existenz der Treuhandanstalt an sich, sondern vielmehr an der Dramatik des so notwendigen Umstrukturierungsprozesses der östlichen Wirtschaft und der durch die Politik zu verantwortenden Konstruktion, innerhalb deren die Treuhandanstalt ihre Aufgabe erfüllen muß.Dieser Prozeß des Wandels hat gravierende Folgen für die davon betroffenen Menschen. Ich glaube schon, daß hier im Westen Deutschlands, wo vergleichbare Vorgänge über Jahrzehnte hinweg abliefen, nur in Ansätzen erfaßt wird, was dabei im Osten in
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Christian Müller
solch extrem kurzen Zeiträumen zu leisten ist. Den Menschen bei uns zu Hause wird auf nahezu allen Gebieten eine ungeheure Anpassungsleistung abverlangt. Bisher war es wohl auch so, daß die meisten dazu bereit waren. Aber jeder Mensch braucht eine Chance und vor allem eine Perspektive. Diese wird — wen verwundert es, daß es so ist? — vorzugsweise im wirtschaftlichen Bereich begründet.Für mich heißt das, daß die Regierung aufgerufen ist, die Konzepte zur Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West gerade im wirtschaftspolitischen Bereich zu überdenken. Das hat sehr wohl etwas mit der politischen Verantwortung für die Tätigkeit in der Treuhandanstalt zu tun. Dabei beziehe ich mich ausdrücklich auf die Aussagen des Herrn Bundesfinanzministers, daß Kernbereiche der Industrie durch Sanierungskonzepte erhalten werden müssen.Hier geht es mir persönlich nicht um Einzelentscheidungen der Treuhandanstalt und auch nicht um eine pauschale Bewertung ihrer Tätigkeit. Einzelentscheidungen sind in der Regel überprüfbar. Sie unterliegen allerdings subjektiven Einflüssen, so daß effektivere und ohne zusätzlichen Zeitverzug arbeitende Kontrollmechanismen für Vergabeentscheidungen nachdrücklich zu fordern sind.Wie auch immer eine Entscheidung über einen Betrieb ausfallen mag, mit ihr wird ebenso auf die Struktur einer Region wie auf das dort vorhandene soziale Gefüge Einfluß genommen. Dies ist das Spannungsfeld, in dem die Treuhandanstalt ihre Aufgabe auszuführen hat.Aus dieser Situation heraus ergeben sich für mich zwei Schlußfolgerungen:Erstens. Es ist doch wohl tatsächlich an der Zeit, den politischen Auftrag der Treuhandanstalt ganz offen zu verändern. Daher ist eine Novelle des Gesetzes dahin gehend zu fordern, daß der Sanierungsauftrag in klarer Form gesetzlich umrissen wird. In diesem Zusammenhang ist die Entlastung von Altschulden nach meinem Dafürhalten unumgänglich. Wenn es den Tatsachen entspricht, daß rund 70 % der Treuhandunternehmungen unter unterschiedlichen Bedingungen sanierungsfähig sind, ist zu erkennen, daß hier eine Aufgabe zu bewältigen ist, die dann auch umfassende Konzepte erfordert und die Bereitstellung von Investitionsbeihilfen geradezu einfordert. Allerdings sind hier auch die Länder gefordert, Prioritäten festzulegen, Schwerpunkte zu benennen und Standortentscheidungen zu fällen. Für mein Bundesland Sachsen vermisse ich z. B. noch immer ein schlüssiges Konzept zur Entwicklung der Regionen.Zweitens. Es zeichnet sich meines Erachtens bereits ziemlich deutlich ab, in welchen Regionen der östlichen Bundesländer die Maßnahmen des Aufschwungs Ost nicht greifen werden. Freilich liegen exakte und meßbare statistische Angaben dafür im Moment sicher noch nicht vor. Man sollte aber auch bei der Beurteilung dieses Problems vielleicht auf die Treuhandstatistik zurückgreifen. Ein brauchbares Signal wäre aus meiner Sicht für die Förderbedürftigkeit der Regionen das Fehlen von Unternehmen der Gruppen 1 und 2, die als rentabel einzuschätzen wären, bzw. die Tatsache, daß die Zahl der Arbeitsplätze in solchen Unternehmungen äußerst geringfügig wäre.Ich persönlich plädiere dafür, nicht länger zu warten und unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um den entstehenden strukturschwachen Problemregionen, die vorwiegend an den östlichen und südöstlichen Grenzen des Landes zu finden sind, bereits im Ansatz Hilfe zu leisten. Dies bedeutet mindestens, diese Randregionen möglichst schnell als Förderregionen zu deklarieren und entsprechend zu behandeln. Dazu gehört ebenfalls eine Differenzierung der Investitionsförderung in möglichst schneller und durchgreifender Form; z. B. keine Senkung von 12 auf 8 % im nächsten Jahr.
Kollege Müller, kommen auch Sie bitte zum Schluß.
Ich komme zum letzten Satz. Diese Angelegenheit schließt für mich auch die nicht sehr populäre Forderung nach einem Grenzlandförderungsprogramm ein, à la Zonenrandförderung, und ich meine, daß Sanierungskonzepte für Treuhandbetriebe in diese Rahmenbedingungen einzubinden sind.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Karl Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nur ein paar kurze Schlußbemerkungen aus meiner Sicht machen, Herr Gysi. Wenn Sie hier Tränen über den Zentralismus bei der Treuhandanstalt weinen, dann sind das nicht nur Krokodilstränen, sondern dann wollen Sie damit einfach vergessen machen, daß Herr Modrow der Erfinder dieses Superzentralismusgebäudes gewesen ist und daß wir jetzt versuchen, mit Hilfe dieses Instruments, das uns da zur Verfügung gestellt worden ist, die Folgen einer total falschen Politik aus über 40 Jahren zu beseitigen. Das sind die wahren Hintergründe für Schwierigkeiten, die heute auftreten.
Zweitens. Es ist leicht, Herr Schulz, zu polemisieren und exemplarische Fälle, Einzelfälle zugestandenermaßen, auch als Maßstab für das Gesamtverhalten der Treuhandanstalt zu nehmen. Wir müssen jeden Einzelfall prüfen — das tun wir, und das wollen wir. Wir wollen jeden Einzelfall aufklären, und da, wo Fehlverhalten erkennbar ist oder auch nur der Verdacht dafür besteht, wollen wir dem nachgehen. Dazu gibt es überhaupt keinen Streit, überhaupt keinen Unterschied.Vor allem brauchen wir aber vorbeugende Maßnahmen, um zu verhindern, daß es überhaupt zu Mißbräuchen, überhaupt zu Fehlverhalten kommen kann.
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Dr. Karl H. FellNun habe ich mir sagen lassen, daß es dort ein ausgeklügeltes Verfahren der Mitzeichnung und der Mitentscheidung, je nach Umfang, nach Volumen, Schwergewicht der Entscheidung bei der Treuhandanstalt gibt: Mitzeichnung der regional Verantwortlichen, Mitzeichnung von Vorstandsmitgliedern, so daß von der Seite her gesehen eigentlich verhindert sein müßte, daß ein einzelner ihm zustehende Befugnisse mißbraucht. In diesem Punkt geht es sicherlich darum — Herr Friedhoff hat darauf hingewiesen — , neu anzusetzen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir diese Vorbeugung verbessern können. In dem eigentlichen Ziel, nämlich Arbeitsplätze zu erhalten und mit Hilfe der Treuhandanstalt über die Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, sind wir uns doch einig.
Daß Unmut entsteht, weil wegen der maroden Situation so viele Arbeitsplätze verlorengehen, ist verständlich. Es ist auch verständlich, daß die Menschen mit einer entsprechenden Unruhe reagieren.Ich bin beruflich im Bankenbereich tätig und habe dort gerade mit Sanierungsproblemen zu tun. Sanierungen und das Herbeiführen von Investitionen sind äußerst sensible Vorgänge. Je mehr dabei mitzureden versuchen, desto schwieriger wird es, überhaupt noch einen Investor zu finden. Auch insoweit müssen wir uns von der Politik her mit Zurückhaltung in den Entscheidungsfeldern bewegen.
Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß vernünftige Entscheidungen getroffen werden können, und wir müssen natürlich das Verhalten kontrollieren.
— Einverstanden. Es müssen Eigentumsregelungen gefunden werden, damit Unsicherheiten vermieden werden. Aber es bringt überhaupt nichts, wie Sie es getan haben, die Manager, die sich zur Verfügung stellen, um in der Treuhandanstalt vernünftige Entscheidungen herbeizuführen, von hier aus zu verteufeln.
Machen wir uns nichts vor: Herr Rohwedder ist ein Opfer falscher Schreierei über die Treuhandanstalt geworden. Wenn wir auf die Zukunft bezogen verantwortliche Mitarbeiter finden wollen, dann müssen wir uns vor solchen Pauschalierungen, wie Sie sie hier immer wieder vorgebracht haben, hüten.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Pohler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! GestattenSie mir, zu Beginn dieser Diskussion über die Treuhand auf einige Ergebnisse, die in den letzten Jahren erzielt wurden, hinzuweisen. Per 31. August 1991 gab es 3 378 genehmigte Unternehmensverkäufe und -teilverkäufe, Verkaufserlöse von 12,527 Milliarden DM, Investitionszusagen in Höhe von 70 Milliarden DM, Arbeitsplatzzusagen für 578 387 Beschäftigte und 563 Management-Buyouts, was rund 24 % der von den Niederlassungen privatisierten Unternehmen entspricht. Täglich werden von der Treuhand mittlerweile 20 Unternehmen privatisiert.Diese Zahlen zeigen: Eines der größten Unternehmen der Welt hat die Operationsfähigkeit erreicht. Bei ca. 3 000 Mitarbeitern, die für diese Arbeit kurzfristig eingestellt wurden, können auf Grund mangelnder Erfahrungen Fehler nicht ausgeschlossen werden.Es fehlt jedoch nicht an der erforderlichen Transparenz und Kontrolle: Mit der am 14. März 1991 verabschiedeten Grundsatzvereinbarung zur Zusammenarbeit von Bund, den neuen Ländern und der Treuhand wurde die Basis für den für die Arbeit der Treuhand wichtigen Informationsaustausch geschaffen. Durch die Treuhandwirtschaftskabinette, aber auch durch die Beiräte bei den Niederlassungen sind die Voraussetzungen gegeben, diese Vereinbarung umzusetzen.Es gibt weitere Prozesse, die den Informationsaustausch garantieren, so beispielsweise regelmäßige Gespräche des Treuhandvorstands mit allen Landesregierungen sowie fortlaufende Gespräche einzelner Mitglieder des Vorstands. Bereits seit Dezember 1990 finden monatliche Gespräche zwischen Länderabteilungen und Landesregierungen über Grundsatz- und Einzelfragen statt. Hinzu kommen Branchengespräche zwischen Branchendirektoren und Landesregierungen über Problembranchen.Ebenso fehlt es nicht an einer ausreichenden Sicherung von Kontrollmechanismen: An oberster Stelle steht hier die dem BMF durch den Einigungsvertrag zugewiesene Fach- und Rechtsaufsicht. Die Treuhand wird weiterhin von der EG-Kommission sowie wettbewerbsrechtlich vom Kartellamt kontrolliert.Auch die Treuhand selbst hat eigene Kontrollgremien wie die Revision, die allein 23 Mitarbeiter hat. Für 1992 ist vorgesehen, diesen Personalbestand auf 50 Mitarbeiter zur Bewältigung der Prüfungsaufgaben in der Treuhandanstalt, ihren 15 Niederlassungen und den ca. 10 000 zugehörigen Betrieben zu erhöhen.Diese Mitarbeiter sind auch für die Bewältigung dieser komplexen Aufgaben qualifiziert und besitzen langjährige Erfahrung im Bank- und Wirtschaftswesen. Ich meine, das ist entscheidend.Ein wesentlicher Faktor, der bei der Treuhand immer wieder diskutiert wird, ist auch die Zusammensetzung des Personals. Hier kann man feststellen, daß die Treuhandanstalt selbst sich nicht verschließt, das durch Stasi-Vergangenheit belastete eigene Personal zu überprüfen. Dafür wurde ein eigens dafür geschaffenes Direktorat gebildet, das in enger Zusammenarbeit mit der Gauck-Behörde den Personalbestand überprüft.
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Dr. Hermann PohlerInsgesamt wurden bis zum heutigen Tag ca. 50 Personen aus Gründen ihrer politischen Vergangenheit entlassen, weitere 10 bis 15 Fälle werden zur Zeit bearbeitet. Als Kriterium gelten dabei nicht nur Mitarbeit beim MfS oder Mitgliedschaft im ZK und Politbüro sondern auch Partei- und Staatsfunktionen auf Bezirks- und Kreisebene. Die Treuhand legt dabei zu Recht Wert darauf, nicht schematisch vorzugehen, sondern jeden Einzelfall individuell zu prüfen. Dieses erfordert natürlich einen nicht unerheblichen Zeitaufwand.
Um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu erhöhen, wurden Bereiche herausgeholt bei der Treuhand, und das sind die Leute, die im Bereich Finanzen, Sondervermögen und Landwirtschaft tätig sind.
Herr Abgeordneter Dr. Pohler, ich bin ja bemüht, außerordentlich großzügig zu sein. Aber bei der Aktuellen Stunde bin ich gezwungen, sehr darauf zu achten, daß die Zeit nicht überschritten wird. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie langsam zum Ende kommen könnten.
Noch ein letztes Wort! Zu berücksichtigen ist auch, daß die Vertrauensbevollmächtigten in den Ländern sehr aktiv geworden sind. Zum Beispiel wurden in Leipzig in den letzten elf Monaten allein 400 Anhörungen durchgeführt und 284 schriftliche Anfragen bearbeitet.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Wir kommen jetzt zu verschiedenen Abstimmungen ohne Aussprache. Ich wäre dankbar, wenn das Plenum dabei einigermaßen besetzt bleiben würde.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 i auf : Beratungen ohne Aussprachea) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Mai 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Bangladesch zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen— Drucksache 12/756 —Beschlußempfehlung und Bericht desFinanzausschusses
— Drucksache 12/1263 —Berichterstattung:Abgeordneter Detlev von Larcher
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30.Oktober 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indonesien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen— Drucksache 12/757 —Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 12/1253 —Berichterstattung:Abgeordneter Hansgeorg Hauser
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Präsidenten des BundesrechnungshofesRechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1989— Einzelplan 20 —— Drucksachen 11/7316, 12/1197 —Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Conrad Schroeder
Ina AlbowitzRudolf Purpsd) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses
zu den dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht— Übersicht 3 —— Drucksache 12/1211 —Berichterstattung:Abgeordneter Herbert Helmriche) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Beaufsichtigung von Kreditinstituten auf konsolidierter Basis— Drucksachen 12/152 Nr. 3, 12/805 —Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl H. Fellf) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke ListeMietstop in den neuen Bundesländern— Drucksachen 12/158, 12/806 —Berichterstattung:Abgeordnete Rolf Rau Otto Reschkeg) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
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Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Sammelübersicht 29 zu Petitionen— Drucksache 12/1198 —h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 30 zu Petitionen— Drucksache 12/1199 —i) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses
Sammelübersicht 31 zu Petitionen— Drucksache 12/1200 —TOP 7 a: Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1263, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/756 mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste einstimmig angenommen.TOP 7 b: Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/1253, auch diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe den Gesetzentwurf Drucksache 12/757 mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.Wir kommen jetzt zu Punkt 7 c. Wer stimmt der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/1197 zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen der beiden Gruppen mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 7 d: Wer stimmt der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/1211 zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 7 e: Wer stimmt der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/805 zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 7 f: Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/806, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung bei Enthaltungen aus der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE und bei Ablehnung durch die Gruppe PDS/Linke Liste mit den Stimmen der CDU/CSU und der überwiegenden Mehrheit der SPD-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 7 g bis 7i: Wer stimmt den Beschlußempfehlungen auf den Drucksachen 12/1198 bis 12/1200 zu? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 9:Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke ListeAntifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne— Drucksache 12/1193 —Oberweisungsvorschlag: InnenausschußIm Ältestenrat ist für die Aussprache eine FünfMinuten-Runde vereinbart worden. Erhebt sich Widerspruch gegen diesen Vorschlag des Ältestenrates? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich kann also die Aussprache eröffnen und erteile der Abgeordneten Frau Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute demolieren wieder Neonazis in dem größer gewordenen Deutschland die Wohnungen und Geschäfte von Ausländern und Ausländerinnen. Menschenjagden werden veranstaltet, und Menschen werden wegen ihrer Hautfarbe totgeschlagen.Im Ausland und bei jüdischen Organisationen werden deshalb Ängste vor einem Vierten Reich wach. Sie sehen ihre Befürchtungen, die sie schon während des Anschlußprozesses geäußert habe, heute dramatischer denn je bestätigt. Dabei ist es nicht nur der Terror der Nazi-Banden, der diese Assoziationen weckt. Bedrohlich ist vor allem der politische Ruck nach rechts. Mit Kampagnen gegen angeblichen Asylmißbrauch, sogenannte Scheinasylanten, und dem Gerede von Flüchtlingsströmen werden in der Bevölkerung gezielt Ängste geschürt.Allgemein wird immer wieder behauptet, nichts sei so langweilig wie die Tageszeitung von gestern. Ich behaupte hier: Nichts ist für die Analyse der pogrom-artigen Auseinandersetzungen so aufschlußreich wie die Tageszeitungen von den letzten ausländerfeindlichen Kampagnen 1989 und 1986 — und und und. 1989 hatten die neofaschistischen Republikaner in ihrem Wahlprogramm für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus niedergeschrieben, wie sie die „uneingeschränkte Zuwanderung von zahllosen Scheinasylanten unterbinden" wollen. Ihre Forderungen waren unter anderem — Zitat — : Asyl nur für wirklich politisch Verfolgte, erhebliche Verkürzung des Asylverfahrens — alles Zitate! —, unverzügliche Abschiebung von rechtskräftig abgelehnten Asylbewerbern.Die Republikaner fordern seit ihrem Bundesparteitag 1987 weiter die Unterbringung von Asylsuchenden in Sammelunterkünften, Grenzrichter und die Streichung der Barmittel.Damals waren die REPs am rechten Rand der Gesellschaft. Heute liegen sie damit in der Mitte der Gesellschaft.Diese Forderungen hatten die REPs vom rassistischen Schutzbund für das deutsche Volk übernommen. Deren Gründer hatten das damals berüchtigte Heidelberger Manifest unterschrieben, in dem es unter anderem heißt — ich zitiere — : Die Integration großer Mengen nichtdeutscher Ausländer ist ohne Gefährdung des eigenen Volkes, seiner Sprache, Kultur und Religion nicht möglich. — Meine Damen und Herren, einige von Ihnen stimmen sicherlich mit mir
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Ulla Jelpkedarin überein, daß dies Rassismus in seiner puren Form ist.Nur: Heute kann mensch dies auch aus anderen Reihen hören. Da stellt sich kürzlich ein gewisser Herr Reiche hin und kann meines Wissens ungestraft folgendes sagen — ich zitiere einmal aus der „Berliner Morgenpost" vom 6. 9. 1991 — : Große Flüchtlingsströme aus dem Osten könnten der europäischen Kultur ein Ende setzen. Sie könnten für Europa gefährlicher werden als die Rote Armee in den Zeiten des Kalten Krieges. — Reiche ist heute immer noch Landesvorsitzender SPD in Brandenburg.Seine rassistisch vorgetragene Bedrohungsanalyse wird normalerweise etwas dezenter formuliert. Quer durch die Regierungsparteien und die SPD wird sonst mit völkischem Gemurre der Bevölkerung argumentiert, die Zahl der Flüchtlinge habe angeblich das Verträgliche überstiegen. Als Beleg dafür werden die neofaschistischen Terroranschläge angeführt. Es paßt dazu, daß man heute, nach der Wahl in Bremen, zu den Erfolgen der Deutschen Volksunion aus den Reihen der CSU hören kann, daß nicht jeder DVU-Wähler rechtsradikal sei — eine, wie ich meine, enthüllende Äußerung.Trotz der hohen Stimmenanteile der Neofaschisten in Bremen und der ständigen Angriffe auf Ausländer und Ausländerinnen sieht der Generalsekretär der CSU, Huber, — Zitat — keine nationale oder rechtsradikale Welle.Die aktuellen Zahlen des BKA sprechen eine andere Sprache. Allein in den Monaten August und September, also in der Zeit, als die Kampagne gegen das Asylrecht losgetreten wurde, wurden 262 Angriffe gegen Ausländer und Ausländerinnen verübt. Das sind mehr, als in den ganzen sieben Monaten zusammen, bevor die Asyldebatte begann.Meine Damen und Herren, dies sind die traurigen Resultate der penetrant vorgetragenen Tiraden, daß in diesem Land zu viele Fremde leben.In den letzten Wochen konnte mensch natürlich kein Wort darüber hören, wieso so viele Menschen ihr Land verlassen, kein Wort darüber, daß sie Kriegen und Bürgerkriegen entfliehen, kein Wort darüber, daß sie aus Hungergebieten der wachsenden Armut entfliehen, auch kein Wort darüber, daß die Armut, aber auch ökologische Katastrophen in den Herkunftsländern von reichen Industrienationen zu verantworten sind.Ich werde niemals die Logik nachvollziehen können, die hinter der Kaltschnäuzigkeit steckt, wenn darüber diskutiert wird, daß man z. B. Menschen an der Grenze getrost in Hungergebiete zurückschicken will. Die technokratisch formulierte Menschenverachtung und die Negierung von grundlegenden Menschenrechten, die dahintersteckt — das ist das, was sich in brutaler Weise heute auf der Straße entlädt.Eine antifaschistische Aufklärung gegen Rassismus — —
Frau Abgeordnete,
ich habe eben bemerkt, daß Sie dem Beschluß des Ältestenrats, also eine Fünfminutenrunde durchzuführen, zugestimmt haben, und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich an Ihren eigenen Beschluß hielten.
Ja. Ich habe aber noch einen Satz zu sagen. — Eine antifaschistische Aufklärungskampagne gegen Rassismus über die Ursachen der Fluchtbewegung ist dringend geboten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Abgeordnete Stübgen hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dem Antrag der PDS/Linke Liste habe ich zu verdanken, daß ich heute hier stehen und reden darf. Ich kann Ihnen sagen, daß ich darüber nicht böse bin.Ich stimme der Intention Ihres Antrags zu. Es handelt sich um eine überlegenswerte flankierende Maßnahme innerhalb der in kürzester Zeit durchzuführenden Maßnahmen im Hinblick auf die Asylproblematik.Sosehr ich die Intention Ihres Antrags begrüße, um so mehr muß ich aber auch weite Teile Ihrer Begründung, die Sie schriftlich vorgelegt haben und die Sie eben mündlich vorgetragen haben, kategorisch zurückweisen, worauf ich später zurückkommen werde.Ich möchte jetzt schon ganz deutlich erklären: Wir werden in der Asylrechtsdiskussion nicht weiterkommen, wenn sich die demokratischen Parteien gegenseitig vorwerfen, die jeweils anderen Parteien würden durch öffentliche Verlautbarungen die Neofaschisten ermutigen und damit direkt schuldig an den Ausschreitungen werden. Allerdings bleibt für mich fraglich, ob man es der Demokratie zumuten kann, die PDS als demokratische Partei zu bezeichnen, wo sie sich doch überwiegend noch aus den Schindern des SED-Regimes zusammensetzt.
Lassen Sie mich zu dem Antrag anmerken: Einer Aufklärungskampagne im Sinne von Informationen ist im Grundsatz zuzustimmen. Darüber hinaus muß eine Klarstellung der gebräuchlichen Begriffe vorgenommen werden, und der Vermischung der Begriffe Asylbewerber, Asylberechtigte, Aussiedler und ausländische Mitbürger mit Aufenthaltsgenehmigung muß entgegengewirkt werden. Im Gegensatz zu Asylbewerbern und Asylberechtigten handelt es sich bei Aussiedlern nicht um Ausländer, sondern um Deutsche, die die weitaus schwerere Last der Folgen des nationalsozialistischen Regimes zu tragen hatten und denen gegenüber wir eine besondere Verantwortung haben, der wir uns meines Erachtens nicht entziehen können.
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Michael StübgenZusätzlich lebt in der Bundesrepublik Deutschland eine große Zahl ausländischer Mitbürger, die zum Teil seit Jahrzehnten hier wohnen und die durch ihren Arbeitsbeitrag die gute wirtschaftliche Situation in Deutschland mitbestimmen. Die Asylrechtsdiskussion bezieht sich ausschließlich auf die Gruppe der Asylbewerber. Mit Verlaub muß ein Ansatz die Eindämmung des Asylbewerberzustroms sein. Die Kommunen sind an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen und geraten in Konflikt mit der ihnen vom Grundgesetz vorgeschriebenen Fürsorgepflicht, die Grundversorgung und Sicherheit der Bürger und damit auch die Sicherheit der Asylbewerber in ihren Städten und Dörfern zu garantieren. Dies ist aber nur möglich, wenn Bewerber aus Nichtverfolgerstaaten schon an der Grenze abgewiesen werden können. Dazu muß es nach meiner Auffassung zu einer Änderung oder Ergänzung des Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz in Verbindung mit dem Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz kommen; nicht, um das Asylrecht auszuhöhlen, sondern um es materiell zu schützen.Lassen Sie mich noch hinzufügen, daß ich natürlich nicht so naiv bin, zu glauben, daß mit dieser Maßnahme das Problem der Armutsmigration und der Gewaltmigration in der Welt gelöst werden könnte. Dazu sind andere Maßnahmen notwendig. Das ist weder in einigen wenigen Jahren zu schaffen noch von der Bundesrepublik alleine. Zum anderen ist es wichtig, anzumerken, daß im Hinblick auf die fallenden Grenzen der EG im Jahre 1993 unser weltweit liberalstes Asylrecht nicht beibehalten werden kann.Zur Verdeutlichung sei genannt, daß bei einer Jahre zurückliegenden Abstimmung in der UNO über eine weltweite Anerkennung unseres Asylrechts nur ein Mitglied vorbehaltlos zugestimmt hat, nämlich der Vatikan. Wir wollen mit der Grundgesetzänderung eine Annäherung an die Genfer Flüchtlingskonvention erreichen,
die bekanntermaßen international konsensfähiger ist.Lassen Sie mich zum Schluß noch auf die Vorwürfe vom Bündnis 90 und von der PDS, wir hätten mit der inszenierten Asyldebatte gezielt Ausländerfeindlichkeit geschürt, eingehen.
Es ist eine schäbige Verleumdung, so zu tun, als ob jeder, der den Begriff Asylmißbrauch gebraucht, mit den Rechtsradikalen sympathisiert. Hier handelt es sich um einen Terminus technicus, der unter anderem Ausfluß der mangelhaften Abschiebepolitik der Länder ist.Ich persönlich bringe auch Verständnis für Bürger auf, die nicht verstehen können, daß sich 70 % der Asylbewerber nach Ablehnung ihres Antrags ohne rechtliche Befugnis in Deutschland aufhalten; nur um solche geht es bei diesem Begriff. Es ist deshalb auch auf die Intensivierung der Abschiebung derjenigen, die nicht politisch verfolgt werden, hinzuwirken, um den tatsächlich Verfolgten ein menschenwürdiges Dasein gewährleisten zu können.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die hier aufgezeigten Probleme sind durch eine Aufklärungskampagne sicherlich nicht zu lösen. Dies ist, wie schon gesagt, eine überlegenswerte flankierende Maßnahme. Der hier vorliegende Antrag zielt auf eine bildungs- und kulturpolitische Einwirkung auf die Gesellschaft, die sicher in der Schul-, Jugend- und Kulturpolitik effizient einzusetzen ist, welche wiederum im wesentlichen in die Zuständigkeit der Länder fällt. Eine Unterstützung durch den Bund wird bei der Diskussion im Innenausschuß sicherlich relevant sein. Ich werde mich dafür einsetzen.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Lambinus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stimmt dem Vorschlag des Ältestenrates, den Antrag auf Drucksache 12/1193 an den Innenausschuß zu überweisen, zu. Wir werden diesen Antrag dort wohlwollend beraten.Es wäre gut, sinnvoll und notwendig gewesen, wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dem Antrag meiner Fraktion zugestimmt hätten, heute an dieser Stelle in verbundener Debatte über das Problem der Ausländerfeindlichkeit in unserem Land zu reden.
In Anbetracht von 500 Anschlägen in den letzten Wochen und Tagen auf Menschen, die in unserem Land Zuflucht suchen, wäre es höchste Zeit gewesen, daß sich der Bundestag heute mit dieser Problematik beschäftigt und Signale setzt, so wie dies unser Bundespräsident dankenswerterweise bereits getan hat — wofür er von einigen von Ihnen kritisiert worden ist — und wie dies die Bundestagspräsidentin heute morgen getan hat.
Wir hatten einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt,
der in jedem einzelnen Satz so formuliert war, daß er von allen Mitgliedern dieses Hauses hätte getragen werden können.
Dieser Antrag deckt Meinungsverschiedenheiten nicht zu, betont aber unsere gemeinsame Solidarität mit Verfolgten und verurteilt jede Form von Ausländerfeindlichkeit. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben sich geweigert, darüber heute zu reden.
Dies läßt den Verdacht aufkommen, daß Sie weiterhinIhr parteipolitisches Süppchen kochen wollen, ohne
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Uwe LambinusRücksicht auf verängstigte Menschen und ohne Rücksicht auf das Ansehen unseres Landes in der Welt.
Sie wollen den von Chaoten und Kriminellen verursachten Druck ausnützen, um Ihre Vorstellungen von der Lösung des Asylproblems durchzusetzen,
und zwar ohne Rücksicht darauf, ob dabei im Grunde genommen unveräußerbare Prinzipien des Grundgesetzes zumindest in Frage gestellt werden.
Unser Grundgesetz beginnt mit der Feststellung, daß die Würde des Menschen unantastbar ist,
die Würde des Menschen und nicht etwa nur die Würde derer, die das Grundgesetz das ihre nennen dürfen. Dieser Feststellung haben sich alle folgenden Artikel des Grundgesetzes unterzuordnen, auch Art. 16 des Grundgesetzes.Sie erwecken in der Öffentlichkeit den Eindruck, als seien alle Probleme mit einer Änderung des Grundgesetzes lösbar. Damit handeln Sie fahrlässig und machen sich mitverantwortlich dafür, daß viele Bürger in unserem Lande ungeduldig werden und — so wie Sie es tun — nach einfachen Lösungen suchen.
Die neuaufflammende Ausländerfeindlichkeit bei Teilen unserer Bevölkerung ist aber nur am Rande auf die ungelösten Probleme des Flüchtlingszustroms zurückzuführen. In Wirklichkeit kommt hier auch zu Tage der Unwille über Ihre Politik der Zweidrittelgesellschaft.
Ihr Versagen bei der Gestaltung einer wirklich sozialen Marktwirtschaft, die von Ihnen schamlos betriebene Umverteilungspolitik von unten nach oben
— das Statistische Jahrbuch spricht Bände; lesen Sie es dort nach! — sind mit Ursache für dumpfes Unbehagen, welches sich an den Schwächsten der Gesellschaft, den Ausländern entlädt. Der Ruf „Ausländer raus! " und die kriminellen Akte der letzten Tage und Wochen finden ihre geistigen Urheber auch in jenen Politikern, die von durchraßter Gesellschaft reden und ähnliche, dem Wörterbuch der Unmenschen entnommene Redewendungen, gebrauchen.Wenn Wilfried Hasselmann sagt, die CDU brauche ein klares Feindbild und müsse den rechten Wählerrand mit National- und Vaterlandsgefühlen binden, dann sagt dies mehr als alle anderen Worte.
Wenn dieses Zitat nicht genügt, dann auch noch die-ses: „Herr Schönhuber hat zum Teil CDU-Programmeabgeschrieben, radikalisiert und dabei manchmal die Grenzen des guten Geschmacks überschritten" — so Heinrich Lummer. Wenn für Heinrich Lummer Reps, DVU und NPD nur die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten, dann frage ich mich manchmal, wo der Grundkonsens der Demokraten eigentlich noch zu finden ist. Nur noch in Sonntagsreden und in Reden zur Woche der Brüderlichkeit? — Nein, meine Damen und Herren, hier und heute ist dieser Grundkonsens gefragt; er wäre nötiger denn je. Hier und heute hätte dieser Grundkonsens der Demokraten mit einer ehrlichen Debatte über die uns umtreibenden Probleme des Hungers und der Not in der Welt und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme unter Beweis gestellt werden können.Diese Debatte — letzter Satz, Herr Präsident — hätte mit der gemeinsamen Feststellung enden können — ich zitierte aus unserem Antrag — :Die Würde des Menschen und das Recht auf Unversehrtheit sind durch das Grundgesetz garantiert. Diese Rechte gelten für alle Menschen. Sie sind nicht für Deutsche reserviert. Der Deutsche Bundestag erklärt seine feste Absicht, mit allen seinen Kräften den inneren Frieden in unserem Lande zu wahren und zu sichern.Diese Chance, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben Sie für heute vertan.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Hackel das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Das Anliegen des vorliegenden Antrags der PDS, die Bundesregierung zu veranlassen, eine antifaschistische und antirassistische Aufklärungskampagne durchzuführen, verdient durchaus Unterstützung. Angesichts der Zahl der Anschläge, die allein während des letzten Wochenendes auf Ausländerunterkünfte im gesamten Bundesgebiet verübt wurden, kann die Notwendigkeit des Handelns — auch der Bundesregierung — von niemandem mehr ernsthaft bestritten werden.Die Bekämpfung der Ausländerfeindlichkeit, insbesondere die Bekämpfung der aggressiven und gewalttätigen Form, in der sie sich heute darstellt, muß unser aller Ziel werden. Ein Rechtsstaat darf einem solchen Treiben nicht tatenlos zusehen.Mittlerweile dürfte uns allen bewußt sein, daß allein die Änderung des Asylverfahrens keine Lösung der Probleme bringt. Gelingt es uns nicht, die Ausländerfeindlichkeit abzubauen, so müssen wir befürchten, daß rechtsradikale Randalierer nicht nur in Hoyerswerda, sondern auch in anderen Orten von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung Beifall erhalten. Gerade unter Berücksichtigung der deutschen Geschichte würde dies aber das internationale Ansehen der Bundesrepublik in besonderem Maße und nachhaltig schädigen.Bezüglich des Umfanges der Aufklärungskampagne bin ich der Ansicht, daß die Bevölkerung nicht
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Heinz-Dieter Hackelnur über das Ausmaß und die möglichen Ursachen des Rechtsradikalismus aufgeklärt werden muß, sondern auch über die Lebensbedingungen, denen Asylbewerber in ihrem Heimatland ausgesetzt sind.Darüber hinaus ist der sich anbahnende Fremdenhaß, der mittlerweile nahezu jeden Ausländer trifft, umgehend zu bekämpfen.
Hier muß bereits in den Schulen Aufklärungsarbeit geleistet und für Verständnis geworben werden. Des weiteren können auch gesellschaftliche Vereinigungen, die Gewerkschaften und Parteien sowie kirchliche Organisationen im Rahmen ihrer Fortbildungsmaßnahmen insoweit wertvolle Arbeit leisten.Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß jetzt in erster Linie die Bundesregierung zum Handeln aufgerufen ist. Sie ist durchaus in der Lage, die notwendige Aufklärungskampagne zu führen. Zum einen hat sich in der Vergangenheit gezeigt, daß sie den Bürgern aktuelle Themen — man denke z. B. an die Wiedervereinigung — nahebringen kann. Zum anderen sind von verschiedenen Seiten bereits Gestaltungsmöglichkeiten für eine solche Kampagne vorgeschlagen worden.Es gilt nun für uns alle, nicht mehr zu zögern, sondern diese Vorschläge aufzugreifen und endlich zügig umzusetzen.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Gysi, ich hätte Ihre Partei, aber vor allem Sie, für lernfähiger gehalten. Glauben Sie wirklich, daß mit einer Kampagne zur Aufklärung und Ablehnung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus das Problem aus der Welt zu schaffen ist?
Ich habe zu genau das in den Ohren, was Ihre Vorgängerpartei mit solchen Kampagnen immer bezweckt und gewollt hat. Wenn man in Ihrem Antrag die „Bundesregierung" einmal durch „Politbüro" ersetzt, dann kommen einem Schauer aus Grüften entgegen. — Haben Sie wirklich vergessen, daß es Ihre Vorgängerpartei gewesen ist, die Vietnamesinnen in Deutschland, in der DDR, zwangssterilisiert hat, daß es Ihre Partei gewesen ist, die im Jahre 1980 im Bezirk Frankfurt/Oder Stasi-Spitzel in die Kneipen geschickt hat, damit diese dort die schlimmsten Polenwitze erzählen und die Stimmung gegen die Polen aufheizen? Haben Sie wirklich vergessen, daß es Ihre Vorgängerpartei gewesen ist, die ein ganzes Land isoliert hat, die die Menschen isoliert hat, so daß sie nicht gelernt haben, mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen, die anders aussehen, umzugehen?
Ich will hier abbrechen.
Kampagnen sind keine Lösung. Nur eine tiefgreifende Veränderung in unserer Gesellschaft, ein Umdenkprozeß schafft das. Natürlich muß man dazu Schritte machen. Aber Kampagnen sind keine geeigneten Schritte.
Ich möchte Ihnen flankierend zu unserem geplanten Einwanderungs- und Flüchtlingsgesetz einige Vorschläge machen. Wir schlagen erstens vor, daß sich der Bundestag Zeit nimmt für eine mindestens ganztägige Debatte — unter Einbeziehung der Ministerpräsidenten der Länder; denn diese haben in erster Linie mit diesem Problem auch zu tun — zum Thema „Verwirklichung des Grundrechts auf Asyl und Schutz von Leben und Gesundheit der Flüchtlinge und der Einwanderer".
Wir schlagen zweitens vor, die Bundesregierung möge ein finanzielles Hilfsprogramm bereitstellen, das staatliche Stellen und Initiativen in den neuen Bundesländern fördert, die für ein multikulturelles Zusammenleben und für die Integration von Flüchtlingen und Einwanderern eintreten. Es kann nicht so sein, daß das Sodi-Komitee und andere SED-Nachfolgeorganisationen alles Geld bekommen und daß die Gruppierungen, die nichtstaatlichen Organisationen, die nach der Revolution entstanden sind, nichts bekommen.
Drittens. Die Bundesregierung möge den Bericht und die Vorschläge ihrer ehemaligen Ausländerbeauftragten, Frau Liselotte Funcke, ernst nehmen und ihre Vorschläge umsetzen.
Viertens. Die Bundesregierung möge eine Arbeitsgruppe „Flüchtlingsschutz und Wahrung des Asylrechts" einberufen, die unter Beteiligung der Länder, der Asylbeauftragten der Kirchen und Einwandererorganisationen und natürlich aller Parteien — auch der politischen Vereinigungen und Parteien, die hier im Parlament als Gruppen vertreten sind — Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte und zur Sicherung der körperlichen und seelischen Integrität von Flüchtlingen und Einwanderern erarbeitet. Die Arbeitsgruppe möge Vorschläge zur Öffentlichkeitsarbeit gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit machen. Aber das kann keine Kampagne sein, das kann nur ein langer Lernprozeß sein, der schon in den Kindergärten anfangen muß.
Ich bitte Sie, diesen Antrag zurückzuziehen. Er ist kontraproduktiv.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1193 an den Innenausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe nunmehr den Punkt 10 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Vizepräsident Dieter-Julius CronenbergUnantastbares Grundrecht auf Asyl und die jüngsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen— Drucksache 12/1216 — Überweisungsvorschlag:Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAuch hierzu ist Ihnen der interfraktionelle Vorschlag einer Fünfminutenrunde zu machen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.Ich darf den Abgeordneten Weiß wiederum bitten, die Debatte zu eröffnen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist bei einer so kleinen Gruppe etwas kompliziert.
Vor der Begründung dieses Antrags meiner Fraktion, der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, muß ich auf den Beginn der heutigen Plenardebatte zu sprechen kommen. — Nur unter Ausnutzung der Geduld der Präsidentin war es meinem Kollegen Werner Schulz möglich, diesem Hohen Hause Mitteilung darüber zu machen, daß der Bundeskanzler unsere Fraktion nicht in das sogenannte Allparteiengespräch einbezogen hat. In einer Replik auf Werner Schulz bezog sich der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion auf einen Redebeitrag meiner Kollegin Ingrid Köppe am 4. September 1991, in dem sie den Bundeskanzler persönlich angefragt hatte.
Ich darf Sie, Herr Präsident, meine Kolleginnen und Kollegen, daran erinnern, daß ich mich seinerzeit von der Form, in der Frau Köppe ihre Fragen gestellt hatte, vor diesem Haus distanziert habe, eine Entscheidung, zu der ich auch mit Abstand und nach heftiger Kritik stehe.
Um so empörter aber bin ich, wenn — und nur so kann ich Herrn Bohl verstehen — die Äußerung einer Parlamentarierin in diesem Hohen Haus zum Anlaß genommen wird, um meine Fraktion, Bündnis 90/DIE GRÜNEN, wie ungehorsame Kinder zu bestrafen.
Muß ich den Herrn Bundeskanzler wirklich daran erinnern, daß nicht dieses Parlament ihm rechenschaftspflichtig ist, sondern er uns, Ihnen allen, auch Frau Köppe, auch mir?
Wir vertreten hunderttausende Menschen aus den östlichen Bundesländern. Unsere Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN vertritt 2,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Brandenburg, Mecklenburg, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Ost-Berlin. Sie alle haben sehr wohl zu dieser Debatte etwas beizutragen und haben einen Anspruch darauf, gehört zu werden.
Gestatten Sie mir noch eine persönliche Bemerkung. Ich habe in der DDR zu einer Zeit vor dem wachsenden Rechtsradikalismus gewarnt, als das für mich noch unmittelbare persönliche und berufliche Konsequenzen hatte. Weil ich nicht geschwiegen habe, wurde ich von der SED und dem Staatssicherheitsdienst verfolgt. Ich habe damals nicht geschwiegen, und ich werde auch heute nicht schweigen. Ich lasse mich als Abgeordneter des demokratisch gewählten Bündnisses 90 auch vom Bundeskanzler dieser Republik nicht ausgrenzen. Nicht Herr Kohl hat zu entscheiden, wer Partner in einem Allparteiengespräch ist. Das haben die Wähler entschieden.
Meine Fraktion erwartet die unverzügliche und persönliche Information vom Bundeskanzler über das, was am heutigen Morgen verhandelt worden ist. Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90, verlangt, bei künftigen Gesprächen einbezogen zu werden. Ich bitte um die Solidarität aller Demokraten in diesem Hohen Haus.
Das uns hier beschäftigende Problem ist zu elementar und zu überlebenswichtig für Deutschland, um es zum Zankapfel der Parteien zu machen. Wir sind — das betone ich ausdrücklich — zur konstruktiven Mitarbeit bereit und haben, da wir uns seit Monaten mit der Frage der wachsenden Ausländerfeindlichkeit beschäftigen, konkrete Konzepte und Lösungsvorschläge einzubringen.
Es ist Zeit, daß die Debatte über die Einwanderer und Flüchtlinge versachlicht wird. Die emotionalisierte Debatte über Flüchtlinge und Einwanderer, über Menschen, die wegen Verfolgung oder aus wirtschaftlicher Not bei uns Zuflucht suchen, muß ein Ende haben. Ja, ich stimme der „Zeit" zu: Diese Debatte ist mißraten und heizt den Nationalismus an.
In der Asyldebatte wird vollkommen außer acht ge- lassen, daß die Anzahl der Asylsuchenden im Vergleich zu der Anzahl der Einwanderer, z. B. nach dem Bundesvertriebenengesetz, gering ist. Durch die immer und immer wieder wiederholten Metaphern des unverkrafteten Asylantenstroms und des vollen Bootes, die im Widerspruch zur Statistik stehen, werden rechtsradikale Gruppen in ihren Gewalttätigkeiten noch verstärkt.
Die Diskussion um eine Änderung des Grundrechtes auf Asyl und die Beseitigung der Rechtsweggarantie für Flüchtlinge muß endlich beendet werden. Das Grundrecht auf Asyl ist für meine Fraktion, Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, unantastbar. Aber anders als die Bundesregierung stellen wir uns der Tatsache, daß Deutschland seit langem ein Einwanderungsland ist. Aus dieser Erkenntnis heraus arbeiten wir seit längerem mit Betroffenen, d. h. mit hier Geborenen und mit Zugewanderten, an einem Einwanderungsgesetz und einem Flüchtlingsgesetz. Ich würde es begrüßen, wenn alle Parteien dieses Hauses gemeinsam mit uns die Arbeit daran fortsetzen würden.
Vielen Dank.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Blens.
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3938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, der Antrag des Bündnisses 90 und der GRÜNEN leidet an einem Mangel: Sie werfen alles
in einen Topf, was differenziert werden muß. Wir müssen die verschiedenen Gruppen, um die es geht, wenn wir über Ausländerfeindlichkeit sprechen, sauber auseinanderhalten.
Wir haben die Gruppe der Skinheads, oder sagen wir auf deutsch: der Glatzköpfe, die mit Brandsätzen, Knüppeln und Steinen gegen Ausländer wüten. Meine Damen und Herren, das sind Kriminelle und nichts anderes. Ihr Verhalten kann mit Politik nicht erklärt werden. Es kann mit Politik, behaupte ich, auch kaum beeinflußt werden.
Die Täter sind, soweit sie bekannt sind, überwiegend zwischen zwölf und 20 Jahre alt. Sie sind offenbar in erster Linie auf Gewalt und Randale aus. Ihr rechtsextremistisches Gehabe dient meist ohne eigentlich politisch-ideologischem Hintergrund vor allem der Provokation und womit kann man in Deutschland besser provozieren als mit rechtsextremen Parolen und Schmierereien? Diesen Kriminellen und ihrer Gewalt muß mit aller Konsequenz mit den Mitteln der Polizei und der Strafverfolgung begegnet werden, und zwar so schnell wie möglich.
Dann gibt es die zweite Gruppe. Das sind diejenigen - und ich behaupte, das ist nur eine relativ kleine Gruppe in Deutschland —, die den Gewalttätern Beifall klatschen, deren Fremdenfeindlichkeit so groß ist, daß sie nur schwer und, wenn überhaupt, nur über sehr lange Zeit hin abgebaut werden kann. Diese Gruppe ist ein Problem jeder Gesellschaft. Ich behaupte, das ist nicht ein Problem nur der deutschen Gesellschaft. Wenn man sich die Wahlergebnisse in anderen Ländern ansieht, weiß man das.
Dann gibt es die dritte Gruppe, und das ist die größte, und auf die müßten wir unser besonderes Augenmerk richten.
— Nun warten Sie doch mal ab und hören Sie zu, statt dummes Zeug dazwischenzurufen. — Das ist die große Zahl der Leute, die weder ausländerfeindlich sind noch Gewalttätern Beifall klatschen, die Gewalt gegen Ausländer wie jede Gewalt verabscheuen, die aber der Meinung sind, daß es nicht angeht, daß die Zahl der Asylbewerber und derjenigen, die sich zu Unrecht auf das Grundrecht berufen, von Jahr zu Jahr immer weiter ansteigt.
Meine Damen und Herren, damit sind wir beim Problem des Asyls. Im Antrag der Gruppe 90 heißt es: „Das Grundrecht auf Asyl ist unantastbar. " Dieser Satz wird von uns ohne jede Einschränkung unterschrieben.
Keiner will das Grundrecht für wirklich politisch Verfolgte abschaffen oder einschränken. Und ich sage
dazu: Das gilt nicht nur für die Fraktionen dieses Hauses; nach neuesten Umfragen sagen 83 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik genau exakt dasselbe. Aber es sagen gleichzeitig etwa 70 % der Bevölkerung, der Zuzug von Asylbewerbern müsse begrenzt werden. Das heißt, das Grundrecht wird akzeptiert, der Fehlgebrauch des Grundrechts wird gesehen, und von der Politik wird erwartet, daß der Fehlgebrauch abgestellt wird. Geschieht das nicht, sind wir dazu nicht in der Lage, dann entsteht allerdings tatsächlich die Gefahr, daß das Grundrecht auf Asyl grundsätzlich in Frage gestellt wird und daß dann Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen geleitet wird.
Meine Damen und Herren, deshalb ist es unsere Aufgabe, den Fehlgebrauch des Asylgrundrechts soweit wie möglich einzuschränken. Darum geht es, und darum ging es auch heute beim Gespräch beim Bundeskanzler. Ich halte es für nicht gut, daß heute nur eine Teileinigung zustande gekommen ist. Ich halte es auch für nicht gut, daß SPD und FDP schon vor Abschluß der Gespräche bestimmte Modelle, bestimmte Möglichkeiten, dem Fehlgebrauch des Grundrechts entgegenzutreten, dadurch ausgeschlossen haben, daß sie zunächst am Anfang gesagt haben: Jede Anderung des Grundgesetzes kommt für uns nicht in Betracht.
Wenn wir alles ausschöpfen wollen, um Fehlgebrauch zu verhindern, kommen wir nach unserer Überzeugung an einer Änderung des Grundgesetzes nicht vorbei. Da das nun von vornherein ausgeschlossen worden ist, da über die entsprechenden Möglichkeiten gar nicht ernsthaft und nicht in der Sache gesprochen werden konnte, weil Sie es ausgeschlossen hatten, sehen wir schon heute an den ersten Erklärungen — und in Zukunft werden wir es weiter sehen —, was kommt: Die Diskussion über die Möglichkeiten zur Einschränkung des Asylfehlgebrauchs wird weitergehen.
Ich hätte es begrüßt, wenn wir alles in der Sache diskutiert hätten, ohne Vorfestlegung, auch die Frage der Grundgesetzänderung, und wenn wir alles sachlich geprüft hätten und am Schluß zu gemeinsamen Überzeugungen gekommen wären; denn nur dann hätte die Chance bestanden, die öffentliche Diskussion über Grundgesetzänderungen und anderes zu beenden und hier zu einer breiten Übereinstimmung zu kommen, einer Übereinstimmung, die wir brauchen, wenn wir die schädlichen Folgen einer immer heftiger werdenden Diskussion über dieses Thema vermeiden wollen.
Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Sonntag-Wolgast das Wort.
Nur eine Vorbemerkung, Herr Weiß, zu Ihnen: Auch die SPD hat öffentlich gerügt, daß Sie vom Allparteiengespräch ausgeschlossen waren.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt Bilder, die wollen einem nicht aus dem Kopf. Ich denke da an die achtjährige Libanesin mit ihren lebensgefährlichen Brandverletzungen, und ich denke auch an das Foto von der zertrümmerten Fenster-
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3939
Dr. Cornelie Sonntag-WolgastScheibe mit dem dunkelhäutigen verschreckten Gesicht dahinter. Was sich in den zurückliegenden Wochen bei uns zugetragen hat, zählt zu den schändlichsten Kapiteln der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Die Steinewerfer und Brandstifter verdienen unsere Empörung, aber ebenso die heimlichen und die hämischen Beifallklatscher.Wir haben uns zu schämen, liebe Kollegen und Kolleginnen. Ich bin traurig über die jämmerlich kurze Zeitspanne, die das deutsche Parlament — in dieser Woche jedenfalls — den schrecklichen Anschlägen auf die Asylbewerber und die ausländischen Arbeitnehmer widmet.
— Ich habe gesagt: in dieser Woche.Auch wenn die Bundestagspräsidentin heute morgen ein wenig von dem Makel weggenommen hat, frage ich doch die CDU/CSU-Fraktion bzw. die wenigen hier anwesenden Mitglieder, ob sie sich nicht doch sofort und vorbehaltlos unserem Vorstoß für einen parteiübergreifenden Appell gegen den Fremdenhaß hätten anschließen sollen.
Aber es war Ihnen parteipolitische Starre wohl wichtiger als die moralische Pflicht, gegen Intoleranz, gegen Mißgunst und Vorurteile Bollwerke der Vernunft zu bauen. Das hätte die Botschaft auch in dieser Woche sein müssen, und das hätten die bedrohten Ausländer und Ausländerinnen auch verdient.
Das ist auch der Grund, liebe Kollegen und Kolleginnen der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, warum wir Ihrem Antrag nicht zustimmend folgen. Sie machen zwar einige konkrete Vorschläge zur Bekämpfung des Fremdenhasses, die auch richtig und wichtig sind, aber wir brauchen in diesem Moment mehr, wir brauchen einfach deutlichere Signale.Es mag vielen selbstverständlich erscheinen, aber es muß wohl doch gesagt werden: Jeder Mensch, der sich in unserem Land aufhält — und sei es nur vorübergehend — , hat Anspruch auf Schutz von Leib und Leben. Alle Mandatsträger in Bund, Ländern und Gemeinden sind verpflichtet, diesen Schutz zu garantieren. Es darf einfach nicht geschehen, daß Minderheiten in Deutschland für vogelfrei erklärt werden. Jeder, der dazu schweigt, der dazu klatscht oder auch nur mit den Achseln zuckt, macht sich mit schuldig.
Ich freue mich über die Gegenbewegung, die in diesen Tagen eingesetzt hat. Ich meine die vielen Kundgebungen gegen Ausländerhaß, die Menschenketten, die Patenschaften für Asylbewerberheime, die Inserate, die Plakate, die Hilfsangebote. Es sieht doch so aus, daß das andere, das bessere Gewissen sich regt. Wir alle sollten es tatkräftig unterstützen.Aber das Wichtigste steht noch aus, nämlich die energische Demonstration des Rechtsstaates. Er muß genauso präsent sein wie die gemeinen Angreifer. Wir brauchen hier nicht den Staat, der zuschaut, wir brauchen diese wehrhafte Demokratie, die einst auf dem Höhepunkt der Anschläge der RAF so inbrünstig beschworen wurde.Der Erfolg von Hoyerswerda — so sagen die Fachleute — habe anderswo Skinheads ermuntert, sich auch an Wohnunterkünften für Asylsuchende zu vergreifen. Mit „Erfolg" ist wohl die Tatsache gemeint, daß die Adressaten der Anschläge weggeschafft wurden, statt daß man für ihre Sicherheit Sorge trug. Ich finde, es darf nicht geschehen, daß die Opfer vertrieben werden, während die Täter bleiben.
Gestern sprachen Sie, Herr Blens, im Innenausschuß davon, die Berichte seien aufgebauscht, es werde dramatisiert und Panik verbreitet.
Ich frage: Wer hat denn eigentlich aufgebauscht und dramatisiert? Waren und sind es nicht die Politiker vorzugsweise aus Ihren Reihen in der Union, die mit Begriffen wie „massenhafter Asylmißbrauch", „Scheinasylanten", „Schmarotzer" und was sonst noch an schlimmen Vokabeln auf dem Markt war,
die Stimmung geschürt haben, Herr Blens? Es stimmt, es sind Brände gelegt worden. Aber ich sage: Es wurde vorher mit Worten gezündelt.
Vor ein paar Wochen — das sage ich zum Schluß — sagte mir bei einer Diskussion mit Türken einer: Eigentlich haben wir allmählich doch das Gefühl, die Deutschen mögen uns, und wir sind in einem ausländerfreundlichen Land. Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich habe mich über diesen Satz gefreut, und ich sehne mich nach der Zeit, in der ich guten Gewissens wirklich wieder an ihn glauben kann.
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es stimmt einfach nicht, Herr Blens, daß niemand das Asylrecht abschaffen will. Sehen Sie sich den Gesetzentwurf der CSU im Bundesrat an. Damit soll nicht nur eine institutionelle Garantie geschaffen werden, sondern es soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, politische Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen. Dann sagen Sie hier bitte im Deutschen Bundestag, daß Sie diesen Gesetzentwurf der CSU ablehnen!
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3940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Burkhard Hirsch— Das ist im Bundesrat eingebracht; das muß man nur nachlesen.
Es ist ja interessant: Heiliges Recht, und politische Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen.Wir haben erst vor wenigen Tagen in der Art einer Aktuellen Stunde über das Asylrecht und die beschämenden Vorgänge gesprochen, die es im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Ausländern in der Bundesrepublik gegeben hat. Von einer ganztägigen Debatte sind wir weit entfernt. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie angesichts der vielen, zum Teil boshaften Presseerklärungen der verehrten Kollegen verschiedener Fraktionen hilfreich wäre. Sie sind Gott sei Dank so gut wie unbeachtet geblieben, weil sie nur den Zweck hatten, den jeweiligen politischen Gegner für alle Schwierigkeiten verantwortlich zu machen.In Wirklichkeit streiten wir in der Bundesrepublik seit Jahren über die Ausländerpolitik, über das Asylrecht, über die Aussiedler und über die Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht.
Bei allen diesen Streitpunkten ist an Aggressivität und daran nicht gespart worden, den Fremden als eine Gefahr darzustellen, die uns und unser Volk überfremdet, überschwemmt und bedroht. Die Ausländerpolitik ist meistens ein Reflex innenpolitischer Auseinandersetzungen gewesen.
Nur wenige Politiker haben den Mut gehabt, zu sagen, daß wir in einem Europa der offenen Grenzen gegen unsere ureigensten Interessen verstießen, wenn wir versuchten, uns erneut zu isolieren.
Ich will den Kollegen Geißler zitieren: Es müsse zur Mindestausstattung politischen Führungswillens gehören, dem mit Glaubwürdigkeitsbeweisen nicht gerade verwöhnten deutschen Volk die Wahrheit über seine Zukunft zu sagen.
Er fährt fort:
Die werdende Wirklichkeit ist aber nicht die völkische Renaissance der Deutschen, sondern das Leben mit mehr Ausländern.
Wir werden nicht 5, sondern 8, 9, vielleicht 10 Millionen bei uns haben. Es kommt nicht mehr darauf an, ob wir mit ihnen zusammenleben wollen, sondern nur noch darauf an, wie.Das ist so.
Über das Asylrecht ist gestritten worden, solange es in Anspruch genommen wird, auch bei sehr viel weniger Flüchtlingen als heute. Wir haben schon vor Jahren darüber geklagt, daß es auf diesem Gebiet keinenRechtsfrieden gegeben hat, sondern immer nur die Forderung nach neuen Gesetzen. Das hat mit dazu beigetragen, daß wir uns mehr mit dem Asylrecht befaßt haben als mit den Fluchtursachen
und zu wenig mit der Frage, worauf denn die sozialen Angste in unserer eigenen Bevölkerung beruhen.
Unser Problem ist doch nicht nur das Asylrecht; die Asylfrage deckt vielmehr politische und soziale Probleme auf, die bei uns und in den Herkunftsländern ungelöst bestehen
und nun durch eine Wanderungsbewegung offensichtlich werden. Das muß und sollte dargestellt werden können. Die Zeit dafür haben wir nicht.Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, erstens der Gewalt zu widerstehen. Sie darf keinen Erfolg haben. Was zum Gewaltmonopol des Staates gegenüber dem Terrorismus, gegenüber den kriminellen Organisationen und gegenüber angeblich rechtsfreien Räumen gesagt worden ist, muß auch hier, im Bereich der Ausländer- und der Asylantenwohnheime, gelten. Das ist übrigens nicht in erster Linie, aber auch ein ernsthaftes Problem unseres internationalen Ansehens geworden.Wir haben jetzt zweitens die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß politisch Verfolgte aufgenommen werden, und gleichzeitig sicherzustellen, daß Flüchtlinge und Zuwanderer, die aus anderen Gründen als wegen politischer Verfolgung in die Bundesrepublik kommen wollen, dieses Ziel jedenfalls nicht mit Hilfe des Asylrechts erreichen können. Das setzt schnelle Entscheidungen voraus. Die Grundsätze eines fairen Verfahrens, die individuelle Chance, angehört zu werden, müssen gewahrt bleiben.Drittens besteht unsere Aufgabe jetzt darin, zu einer akzeptablen europäischen Lösung zu kommen. In einem Europa der offenen Grenzen kann kein Land allein dieses Problem, seine Ursachen und seine Folgen bewältigen.Wir können ja nicht nur über polizeiliche und verwaltungsgerichtliche Maßnahmen sprechen und nicht mehr darüber, warum Menschen überhaupt auf die Straße gehen und zu wandern beginnen. Wir müssen natürlich mehr tun, um die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern zu stabilisieren. Niemand täusche sich darüber, daß ohne diese Anstrengungen überhaupt nichts erreicht werden wird.Wir werden die einzelnen Punkte des Antrages daraufhin prüfen, ob sie uns diesen Zielen näherbringen.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen dem Antrag
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3941
Dr. Gregor Gysivon Bündnis 90/GRÜNE trotz Ihrer Bemerkungen, Herr Weiß, zu, weil wir ihn einfach inhaltlich für richtig und auch angemessen halten. Natürlich — da stimme ich der Sprecherin der SPD-Fraktion zu — reicht das nicht aus. Aber ich finde, man kann nicht immer zu ersten Schritten nein sagen mit der Begründung, daß größere Schritte nötig sind, wenn die größeren Schritte einfach nicht kommen. Also, dann lassen Sie uns doch erst einmal wenigstens die ersten Schritte gehen, damit überhaupt etwas in dieser Hinsicht getan wird.Herr Weiß, Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich bin schon ein bißchen entsetzt, daß Sie in diese Art von Polemik verfallen, was, wie ich meine, in diesem Zusammenhang auch völlig überflüssig ist, auch und gerade was meine Person betrifft. Sie können mir sicherlich viel vorwerfen, aber nicht, daß ich zum Rechtsradikalismus oder zur Ausländerfeindlichkeit oder zu sonst irgend etwas neige. Deshalb finde ich es auch unangebracht, so zu reagieren.Sie können natürlich sagen, Sie hielten eine solche Kampagne nicht für sehr sinnvoll. Aber ich will Ihnen einmal etwas sagen: Hier bestimmen Medien die öffentliche Meinung. Diese Medien arbeiten auch diesbezüglich in einer ganz bestimmten Richtung. Da wäre es eben nicht schlecht — damit hat man z. B. bei der Anti-Aids-Kampagne ja durchaus Erfolge erzielt — , wenn eine breite Aufklärung über das Leben ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger über Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen stattfinden würde. Es kann zumindest etwas Positives bewirken, und das würde ich nicht so ohne weiteres abqualifizieren. Das mit irgendwelchen Kampagnen der SED zu vergleichen ist mir so billig und so unbegründet, zumal es sich an eine ganz andere Kampagne anlehnte, daß ich es einfach entschieden zurückweisen muß und auch sagen will, daß es dem Thema wirklich überhaupt nicht angemessen ist.
Die Ausländerpolitik der SED habe ich selbst oft genug kritisiert. Das ist aber jetzt hier nicht das Thema. Ich sage Ihnen auch eines zu der Aufregung über die Ausgrenzung vom Kanzler. Ich kann mich darüber nicht mehr aufregen, weil ich nichts anderes gewöhnt bin. Mit Anbiederung, glaube ich, kommen wir dort keinen Schritt weiter. Wir kommen vielmehr nur mit konkreter Opposition weiter.Aber nun zum eigentlichen Thema. Was mich bei dem, was von der CDU/CSU geboten wird, so entsetzt— ich will das so deutlich sagen — , ist folgendes — ich weiß gar nicht, ob Sie das in dieser Konsequenz einmal durchdacht haben — : Wissen Sie nämlich, was Sie den Tätern sagen? Sie sagen ihnen — ich sage es jetzt hart, aber es ist so — : Wir sind uns ja im Ziel einig; wir unterscheiden uns nur in der Methode.
— Nein. Sie sagen: Wir sind uns einig, die müssen weg. Nur, ihr wollt das mit Gewalt, und wir wollen dasüber eine Änderung des Grundgesetzes oder dieser oder jener gesetzlichen Bestimmung erreichen.
— Das ist ein Unterschied in der Methode, aber nicht im Ziel, und das ist kreuzgefährlich, weil sie sich dadurch nämlich halb bestätigt fühlen.
— Ja, das ist auch kreuzgefährlich.Es kommt noch etwas hinzu, wenn man auf diese Art und Weise Illusionen schafft und gleichzeitig natürlich auch diese Stimmung anheizt. Wieso eigentlich kann man ein solches Thema wie das Leben mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, wie das Leben mit Flüchtlingen zu einem Wahlkampfthema machen? Dann weiß man doch von vornherein, daß man damit eine entsprechende Atmosphäre schürt. Es ist genau ein undemokratisches Herangehen, wenn man sich nicht einig ist, daß solche Themen natürlich nicht zu Wahlkampfzwecken mißbraucht werden dürfen, um genau solche Stimmungen nicht zu schüren, und wie viele Wahlkämpfe haben Sie schon mit dem Thema Asyl bestritten? — Sehr viele.
Aber es geht auch um Vokabeln. Sie machen den Menschen doch richtig Angst mit Ihren Formulierungen von „massenhaftem Asylmißbrauch" und wenn Herr Stoiber so weit geht, von „Durchmischung" und „Durchrassung" zu sprechen, ohne daß es irgendeine Art von Verantwortlichkeit in dieser Partei gibt. Ich hoffe zumindest, daß man in allen anderen Parteien, wenn ein führender Funktionär mit solchen Begriffen operieren würde, wenigstens spüren würde, daß sich die ganze Partei dagegen auflehnt, während man dort nur klammheimliche Zustimmung zu spüren bekommt.
Ich füge hinzu: Es wäre auch wichtig, z. B. einmal die wirklichen Ursachen zu benennen, wie es jetzt hier zum Teil geschehen ist. Wir sind doch mit schuld an dem Elend der Dritten Welt. Es ist doch eine Tatsache, daß bei jeder Mark, die aus der Bundesrepublik Deutschland in die Dritte Welt geht, 3 DM zurückkommen. Der Hunger, das Elend, das wir dort produzieren, klopft jetzt an unsere Tür, und da sagen wir, das wollen wir aber nicht hier haben, das soll schön dort bleiben. Das halte ich für in hohem Maße unmoralisch. Ich halte es nicht nur für unmoralisch, sondern— das füge ich hinzu — es ist auch eine riesige Illusion. Ich sage es noch einmal: Mit Grundgesetzänderungen, mit Visa-Bestimmungen o. ä. werden Sie diese Probleme nicht lösen. Die Völkerwanderungen werden stattfinden, und hier werden Hunderttausende stehen. Ich glaube auch, daß Herr Geißler dazu eine sehr differenzierte Auffassung hat, die sich aber offensichtlich in seiner Partei überhaupt nicht durchsetzt.Ich warne davor, diese Probleme zu mißbrauchen, wie es gegenwärtig geschieht. Wenn wir hier nicht wirklich eine einheitliche moralische und politische Kampagne gegen jede Form von Ausländerfeindlich-
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3942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Gregor Gysikeit hinbekommen, die sich ja immer mehr zuspitzt, bis hin zum Rassismus — es gibt ja auch deutliche Anzeichen für Antisemitismus; ich habe in Bonn gerade ein Plakat der NSDAP überreicht bekommen, das an den Wänden klebt und auf dem steht: Kauft nicht beim Juden —, wenn wir dort also nicht eindeutig Front beziehen und man nicht wirklich spürt, das stößt auf den unnachgiebigen Widerstand aller politischen Parteien, z. B. der hier im Bundestag vertretenen, dann würden wir uns alle mitschuldig daran machen, daß eines Tages Zustände entstehen, die wir dann nicht mehr beherrschen können.
Das Wort hat die Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich heute über die Ursachen der Ausschreitungen in den neuen Bundesländern äußern. Sehr geehrter Herr Gysi, ich muß sagen, diese Ursachen sollten wir in unserer unmittelbaren Nähe suchen und nicht Tausende Kilometer entfernt. Ich glaube, auch Sie kommen aus einem Land, das sehr viel mit dem zu tun hat, was heute passiert. Genau dazu möchte ich mich äußern.
Die Gewalttätigkeiten in den neuen Ländern haben ein beängstigendes Ausmaß erreicht; das ist richtig. Mich machen wie die meisten anderen Menschen die Ausschreitungen betroffen, nicht zuletzt deshalb, weil die Bilder, die wir sehen, unsere Nachbarn und Freunde im Ausland sehr beunruhigen. Es darf dafür keine Entschuldigungen geben.
Ich denke, wenn wir als Politiker handeln wollen, müssen wir uns um die Ursachen kümmern. Vieles von dem, was wir heute erleben, ist eine Folge des diktatorischen Systems der DDR. Konrad Weiß hat darauf hingewiesen: Die Menschen in der DDR hatten kaum Kontakt zu Ausländern. Dafür hat die SED gesorgt. Ins nichtsozialistische Ausland durften sie nicht fahren, Freundschaft zu den sozialistischen Nachbarn war verordnet. Sie hatten nicht die Chance, fremde Kulturen kennen- und deshalb auch verstehen zu lernen. Deshalb ist es für sie heute schwer, Toleranz gegenüber anderen Kulturen zu üben. Wer die Trostlosigkeit von Städten wie Hoyerswerda einmal gesehen hat, die Bauweise, den Mangel an Freizeitmöglichkeiten, die Lieblosigkeit von Spielplätzen, der erkennt, wie wenig früher die Politik für die Menschen gemacht wurde.
Die zweite Ursache hängt mit dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie zusammen. Auch das sage ich. Geld, Firmennamen und Schulbücher kann man austauschen. Aber niemand kann aus seiner Biographie aussteigen. Anders als für westdeutsche Jugendliche ist für junge Ostdeutsche das Leben im neuen Deutschland ein tiefer biographischer Einschnitt. Die Pluralität, die die Jugendlichen jetzt verkraften müssen, müssen sie erlernen. Nach langen
Jahren der verordneten Völkerfreundschaft ist diese Toleranz nicht einfach da.
Ich bitte Sie auch um folgendes: Wir können die Ausschreitungen nur dann verstehen, wenn wir uns klarmachen, daß hinter den Gewalttäti keiten und vermeintlichen Sympathieäußerungen Ängste und Unsicherheiten der Menschen in den neuen Bundesländern stehen. Diese lassen sich nur dann abbauen, wenn wir sie nicht pauschal mit Ausländerfeindlichkeit gleichsetzen.
Wir müssen diese Ängste ernst nehmen und dürfen sie nicht sofort als ausländerfeindlich hinstellen.
Für mich folgt aus den genannten Ursachen: Wir müssen unsere ausländischen Mitbürger genauso wie jeden Deutschen vor Gewalt schützen. Das ist heute gesagt worden. Das ist Sache der Polizei. Diese kennt ihre Aufgabe. Aber sie ist aus ihrer Geschichte heraus — das hat wieder etwas mit dem diktatorischen SEDRegime zu tun — in den neuen Bundesländern zutiefst verunsichert. Hier muß neues Selbstbewußtsein geschaffen werden. Genau daran arbeitet die Bundesregierung zusammen mit allen demokratischen Parteien.
Festhalten möchte ich auch: Wir dürfen nicht in blinden Aktionismus verfallen. Wir brauchen eine langfristig orientierte Politik. Das möchte ich gerade im Hinblick auf Jugendliche hier noch einmal verdeutlichen. Wir müssen die Arbeit der freien Träger unterstützen. Wir brauchen ein dichtes Netz von Beratungs- und Hilfsangeboten. Wir brauchen Jugendsozialarbeit. Wir werden dabei auf die Hilfe von erfahrenen Sozialarbeitern und Sozialpädagogen aus der Bundesrepublik angewiesen sein. Mit einem 20Millionen-DM-Aktionsprogramm wollen wir vom Bundesministerium für Frauen und Jugend Ansätze fördern, die die Ursachen von Gewalt aufdecken und diese Ursachen auch beseitigen.
Wir erstellen eine Gewalttopographie.
— Lassen Sie mich doch bitte aussprechen.
Ich wäre den Damen und Herren verbunden, wenn sie zur Kenntnis nähmen, daß Frau Dr. Merkel das Wort hat und nicht Sie.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3943
Dafür wäre ich Ihnen auch sehr verbunden.
Die Bewertung können Sie auch stumm vornehmen.
Darf ich weiterreden?
Aber selbstverständlich, Frau Ministerin. Ich übergebe Ihnen das Wort.
Ich wollte Ihnen gerade von einem Projekt berichten, das sich nicht mit der Notwendigkeit beschäftigt, Löcher für den Augenblick zu stopfen, sondern damit, langfristig in der Jugendarbeit etwas gegen diese gewalttätigen Ausschreitungen zu tun. Wir werden zusammen mit den Ländern Orte herausfinden, an denen diese Gewaltgefährdung besonders existiert. Wir werden dort Prävention und Intervention im Blick auf Gewalttätigkeiten aufbauen, aber eben auch Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche schaffen, die heute noch nicht zu denen gehören, die gewalttätig geworden sind.
Ich denke — das wurde auch schon gesagt — , die Mehrzahl der Bundesdeutschen in den neuen Bundesländern und in den alten Bundesländern ist nicht rechtsradikal und nicht ausländerfeindlich. Es gibt aber — und das müssen wir ernst nehmen — einen Trend zur Polarisierung. Der Kern rechtsextremistischer Jugendlicher wächst. Er beträgt zur Zeit etwa 1 %. Wir müssen alles tun, um diesen Kern nicht größer werden zu lassen. Aber es gibt auch eine ganz starke und wachsende Ablehnung von Skins, Reps und Faschos im Osten. Die werden insbesondere von den Jugendlichen ganz emotional und stark abgelehnt. Ich bitte Sie: Unterstützen Sie diese Jugendlichen! Ich bitte auch die Medien: Helfen Sie, daß kein falsches Bild über die Menschen in den neuen Bundesländern entsteht! Sie wollen in Toleranz und Freundschaft zu den Ausländern leben. Ich denke, wir müssen ihnen dabei helfen.
Danke.
Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1216 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Überweisung an den Ausschuß für Familie und Gesundheit soll allerdings nicht erfolgen. — Widerspruch dagegen erhebt sich offensichtlich nicht. — Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, möchte ich Ihnen folgendes mitteilen: Im Ältestenrat wurde vereinbart, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des interfraktionellen Gesetzentwurfs zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes auf Drucksache 12/1282 zu erweitern. Die Beratung soll jetzt vor dem Tagesordnungspunkt 11 erfolgen. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll abgewichen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch im Hause? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, daß dies mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen worden ist.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen weiterhin vor, eine Debattenzeit von 30 Minuten festzusetzen. — Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann darf ich dies ebenfalls als beschlossen feststellen.
Damit kann ich diesen Zusatzpunkt der Tagesordnung aufrufen:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetz es
— Drucksache 12/1282 —
Ich erteile dem Abgeordneten Jürgen Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies ist heute nicht die erste Debatte über das Thema Diätenerhöhung, die in diesem Parlament stattfindet. Es ist noch nicht einmal nur in diesem Parlament so, daß jährlich über das Thema Diätenerhöhung geredet wird.
Ich habe ein bißchen in der Geschichte nachgeguckt, weil man sicherlich auch daraus lernen kann, und bin auf eine der ersten Diätendebatten in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus gestoßen. Die war am 5. Dezember 1904. Damals hat der Reichstagsabgeordnete von Bülow einen bedenkenswerten Ausspruch getan — ich zitiere — :Ich muß es mir also versagen, das so oft Gesagte zu wiederholen und die pro und contra mehr als einmal dargelegten Gründe hier noch einmal durchzugehen. Ich glaube mir das um so mehr versagen zu können, als auch in der heutigen Debatte tatsächlich und prinzipiell nichts Neues über diesen Punkt vorgebracht worden ist.
Es ist natürlich schwierig, wenn eine solche Debatte jedes Jahr stattfindet, die Argumente wirklich immer wieder abzuwägen und vielleicht auch Neues vorzutragen.
Dennoch ist es wichtig, sachlich und ohne Emotionendiese Argumente zu wägen, wenn auch in der viel-
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3944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Dr. Jürgen Rüttgersleicht vergeblichen Hoffnung, Vorurteile abzubauen.Dieser Deutsche Bundestag hat eine unabhängige Kommission aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingesetzt, die den Auftrag hatte, zu überprüfen, ob die Abgeordnetenentschädigung angemessen ist. Das Ergebnis hat uns alle überrascht. Die Vertreter des DGB, der Arbeitgeber und der Sozialverbände kamen zu dem Schluß, daß die Abgeordnetenentschädigung um 3 000 DM pro Monat erhöht werden müßte, um sie als angemessen bezeichnen zu können. Dann lese ich gerade auch heute wieder in den Zeitungen, daß die Abgeordneten viel zuviel verdienten. Dies zeigt mir eines ganz deutlich: Was für den einen zuviel ist, ist für den anderen zu wenig.Nun hat die Präsidentin in diesem Jahr eine Erhöhung der Entschädigung von 4,8 % sowie der Aufwandsentschädigung von 5,9 % vorgeschlagen. Vielleicht sollte man hier auch einmal sagen, selbst wenn nach der Erfahrung das, was hier von diesem Pult gesagt wird, häufig gerade unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, daß sie damit auch einem Vorschlag des Bundes der Steuerzahler gefolgt ist.Das führt uns zu einem weiteren Kriterium, wie diese Debatten jährlich ablaufen. Der Bund der Steuerzahler hat ausweislich eines Artikels vom 11. September 1991 gesagt, daß es von Fingerspitzengefühl zeugen würde, wenn die Diätenerhöhung in diesem Jahr eine „4" vor dem Komma hätte. Dann lese ich heute morgen in einem Blatt, das versucht hat, einiges zusammenzurühren, daß derselbe Bund der Steuerzahler durch seinen Präsidenten den Erhöhungsvorschlag heute, wenige Tage später, als instinktlos bezeichnet. Mir zeigt das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie primitiv hier eigentlich Kampagnen zusammengestrickt werden und gar nicht versucht wird, einen öffentlichen Diskurs über dieses Thema zu führen, den ich für notwendig halte.Ich glaube, daß diese vorgeschlagenen Anhebungen gerechtfertigt sind. Wir haben im ersten Halbjahr 1991 einen erheblichen Anstieg der Realeinkommen in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Die tariflichen Einkommen stiegen im Durchschnitt um 6,4 %, die Beamten- und Versorgungsbezüge um 5,07 %, das Volkseinkommen pro Erwerbstätigen um 6,3 %, die Mindestregelsätze der Sozialhilfe um 5,64 %, die Renten um 4,7 %.Nun sind diese Daten als Anhaltspunkte für unsere Entscheidung wichtig, aber sie reichen natürlich als rein mathematische Darstellung zur Begründung nicht aus, weil auf der anderen Seite auch berücksichtigt werden muß, daß die Beiträge für die Sozialversicherung in diesem Jahr um 1,5 Prozentpunkte gestiegen sind und etwa bei den Beamten- und Versorgungsbezügen die Erhöhung um zwei Monate verschoben worden ist. Deshalb ist es nur konsequent, daß die Abgeordnetenbezüge niedriger, als rein mathematisch errechnet, ausfallen müssen. Beides berücksichtigt der Vorschlag.Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesrepublik Deutschland ist eine Leistungsgesellschaft, dazu bekennen wir uns, und da wird das Einkommen nach Verantwortung und Belastung gemessen. Ich meine, davon darf auch für Parlamentarier keine Ausnahme gemacht werden, einmal wenn der Bundestag für die Bevölkerung repräsentativ sein soll, zum anderen wenn der Übergang aus einem normalen Berufsleben in den Bundestag und wiederum vom Bundestag in den Berufsalltag möglich sein soll.Ich glaube, daß der Vorschlag für die diesjährige Erhöhung auch ein Signal der Selbstbeschränkung ist,
weil wir weit unter den Empfehlungen der unabhängigen Berater bleiben, weil wir weit hinter der Entwicklung des öffentlichen Dienstes zurückbleiben, weil die anderen Berufsgruppen demgegenüber spürbare reale Einkommensverbesserungen erreichen werden. Nun darf man auch nicht vergessen, daß die Tarifverhandlungen in den letzten Jahren zu einer deutlichen Verkürzung der Arbeitszeit geführt haben. Auch an dieser Entwicklung haben die Abgeordneten nicht partizipiert. Ich glaube, man kann feststellen, daß die diesjährige Erhöhung deshalb keine Verbesserungen im Hinblick auf die Angemessenheit der Abgeordnetenbezüge bringt.
Ich weiß nicht, ob das nicht vielleicht schon verfassungsrechtlich bedenklich ist, ich halte es aber für verantwortbar, weil wir im vereinten Deutschland in diesem Jahr in einer besonderen Situation stehen.Wir halten, so meine ich, Maß, und daß im Gegensatz zu anderen, die uns öffentlich dazu auffordern.
Dennoch wird die Kritik groß sein; auch darüber bin ich mir im klaren. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, öffentliche Kritik ist eine wichtige Kontrollinstanz, und das gilt besonders dann, wenn wir nach dem Grundgesetz und nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet sind, Entscheidungen in eigener Sache zu treffen. Jeder von uns würde das gern ändern, aber die Rechtslage ist nun einmal so, und ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht in nicht allzu ferner Zukunft diese Interpretation des Grundgesetzes weiterentwickelt, um vielleicht über Vorschläge reden zu können, die Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung an ein unabhängiges Gremium zu übertragen oder an irgendeinen Index zu koppeln.Dennoch finde ich es wichtig, daß wir uns jedes Jahr dieser Diskussion neu stellen und stellen müssen und jedes Jahr eine neue selbständige politische Entscheidung treffen müssen. Dabei wird nicht in irgendwelchen Hinterzimmern verhandelt, sondern in aller Öffentlichkeit und auf der Basis objektiver Daten. Ich glaube, daß deshalb der Vorwurf der Selbstbedienung unberechtigt ist. Er ist vielleicht verständlich, weil keine andere Berufsgruppe selbständig über ihr Einkommen befinden kann, aber keine andere Berufsgruppe ist gleichzeitig auch in dem Maß gezwungen, ihr Einkommen, ihre Verantwortung und ihre Leistung gegenüber den Bürgern zu rechtfertigen.Nun will ich noch ganz kurz auf einige unübersehbare Widersprüche der Diskussion in der Öffentlich-
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Dr. Jürgen Rüttgerskeit hinweisen. Ich meine, die Kritiker dieses Verfahrens, auch die Kritiker der jetzt anstehenden Erhöhung, müssen sich schon entscheiden. Man kann eben nicht einerseits darüber klagen, das Parlament sei zu beamtenlastig, und gleichzeitig die Entschädigung so niedrig halten, daß für viele Facharbeiter, Mittelständler, Freiberufler, aber auch Journalisten die Übernahme eines Mandates finanziell uninteressant wird.
Man kann nicht einerseits darüber klagen, die Abgeordneten schafften es nicht, den Informationsvorsprung der Regierung auszugleichen, gleichzeitig aber auch Klage erheben, daß Abgeordnete teure Mitarbeiter und Büros haben. Ich meine, die Forderung: Macht es besser, aber macht es billiger! mag populär sein, sachgerecht ist sie nicht.Wir haben auch die Aufgabe, mit unserer Entscheidung zu sagen, was uns unsere Leistung wert ist, d. h. eine Selbsteinschätzung vorzunehmen und ein angemessenes Selbstbewußtsein zu demonstrieren. Dieses Selbstbewußtsein ist mitentscheidend für das Bild, das sich die Bürger von uns Abgeordneten und von unserer Arbeit machen.
Die öffentliche Diätendiskussion droht jedes Jahr mehr zum Ritual zu erstarren. Ich sagte es: auf der einen Seite die Klagen über die Selbstbedienung, auf der anderen Seite ängstliche Verteidigung und Klagen über Unverständnis. Beides ist wenig hilfreich. Ich halte zwar die Frage, was das Parlament kostet, für legitim, aber sie ist eben nicht sehr aufschlußreich. Das gilt besonders für die Falschmeldung, der Bundestag sei das teuerste Parlament der Welt. Denn mit 2 DM im Jahr kosten die Abgeordneten jeden Bundesbürger deutlich weniger als in fast allen europäischen Nachbarstaaten. Deshalb komme ich zu dem Schluß, daß wir überhaupt keinen Grund haben, diese Diskussion in der Öffentlichkeit zu fürchten.Vielen Dank.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Peter Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum erstenmal in der Geschichte des Deutschen Bundestages diskutieren wir den Bericht der Präsidentin über eine mögliche Erhöhung unseres Gehaltes und unserer Aufwandsentschädigung unter dem besonderen Aspekt, daß Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Ländern in dieses Haus gekommen sind, für die die Zahlen, die in diesen Berichten genannt sind, eine schwere „Hypothek" gegenüber den Menschen in ihren Wahlkreisen sind. Ich habe absolut Verständnis dafür, daß insbesondere die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern große Probleme haben, nicht nur die Höhe unseres jetzigen Lohnes, sondern auch die vorgesehene Erhöhung von 4,8 % zu verstehen und den Bürgern ihres Wahlkreises zu vermitteln.Ich wende mich direkt an die Kollegen aus der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, die alle aus den neuen Bundesländern kommen. Ich verstehe Ihre Schwierigkeiten.Es wäre fatal, wenn in den Diskussionen des Parlaments der Eindruck erweckt würde, daß wir Abgeordnete zweier Klassen hätten, nämlich auf der einen Seite Abgeordnete aus den neuen Bundesländern, die in gar keiner Weise das mit nachvollziehen können, was die Präsidentin auf Grund geordneter Kriterien, die niemand in Frage stellt, vorgeschlagen hat, und auf der anderen Seite diejenigen, die aus der Situation, die wir alle kennen, diesen Vorschlag der Präsidentin noch als zu wenig ansehen. Die Präsidentin hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Kriterien, die man anwenden muß, eine größere Erhöhung vorsehen müßten. Ich erkläre deshalb für die Mitglieder meiner Fraktion, daß wir selbstverständlich akzeptieren, daß viele von uns aus den neuen Bundesländern bereit sein werden, das — von dem sie glauben, daß es gegenüber den Bürgern in ihrem Wahlkreis nicht mehr vertretbar sei — als Spende für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist eine Anregung, die die anderen Fraktionen dieses Hauses befolgen sollten.
Ich sage darüber hinaus, daß dieses übrigens seit längerem — das sage ich den Kolleginnen und Kollegen des Bündnisses 90, die es noch nicht wissen können, weil sie erst nach der Bundestagswahl zu uns gekommen sind — schon von vielen Abgeordneten aus den alten Bundesländern praktiziert wird. Ein Teil dessen, was wir als Lohn oder Gehalt erhalten, wird von vielen für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung gestellt, und zwar in nicht unerheblichem Umfang. Wir erwarten deshalb von Ihnen nichts Besonderes; viele von uns tun das selbst schon seit langer Zeit.Ich kann mir, meine Damen und Herren, nicht ernsthaft vorstellen, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht in der Lage sein sollten, das, was die Präsidentin vorgeschlagen hat und was Gegenstand des Gesetzentwurfes ist, gegenüber denjenigen deutlich positiv und offensiv zu vertreten, die andererseits, wenn sie im kleinen Kämmerlein mit uns darüber diskutieren, uns ganz freundlich und unverblümt sagen, daß das Gehalt, das wir beziehen, für sie nur ein Taschengeld sei. Ich rede z. B. von Journalisten, die Kommentare darüber schreiben, wie unverschämt ein Abgeordneter sei, der sein Gehalt um 4,8 % erhöhen wird, während er selbst eine viel größere Tarif erhöhung bekommen hat und im übrigen sein Gehalt, von dem er lebt, sehr viel höher als das Gehalt eines Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist.
Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, meine Damen und Herren und Herr Präsident, daß uns hier von Leuten Vorhaltungen gemacht werden, die ein Vielfaches von dem, was wir erhalten, verdienen — nach dem Motto: Da bedienen sie sich selbst. Auf der anderen Seite verzichtet keiner von denen auch nur auf einen Pfennig seiner Lohnerhöhung oder seiner
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Dr. Peter Struckaußertariflichen Erhöhung. Ich bin nicht mehr bereit, eine solche Diskussion mitzutragen.
Wir werden den Vorschlag der Präsidentin in unserer Fraktion und in den zuständigen Ausschüssen beraten. Selbstverständlich bin ich davon überzeugt, daß wir diesen Vorschlag sehr gut vertreten können. Ich appelliere auch an alle Mitglieder dieses Hauses, sich nicht in eine Angstecke drängen zu lassen und nicht etwas verteidigend zu diskutieren, was man nicht verteidigen muß. Ein Mitglied des Deutschen Bundestages hat, wie ich meine, einen Anspruch darauf, seiner Arbeit entsprechend bezahlt zu werden. Was heute zur Debatte steht und vorgeschlagen wird, ist keineswegs unangemessen, sondern es hält sich in einem maßvollen Rahmen.Zuletzt ein Hinweis auf eine Presseveröffentlichung. Niemand in dieser Republik regt sich darüber auf, daß ein Mann wie Jupp Heynckes, den ich sehr schätze, dann, wenn er aus Gründen, die ich als aktiver Fußballer auch nachvollziehen kann, von seinem Arbeitgeber entlassen wird, nach Presseberichten eine Abfindung von 1,2 Millionen DM erhält. Es regt sich auch niemand über das Gehalt eines Bundesligafußballers auf, das ein Vielfaches höher ist als unser Gehalt.
Meine Damen und Herren, ich leiste Respekt und Anerkennung dem Bundesligafußball. Aber ich denke, den gleichen Respekt verdienen wir auch; denn unsere Arbeit ist mindestens genauso viel wert wie die eines Bundesligafußballers. Da habe ich eigentlich gar keine Zweifel.
Der letzte Punkt: Ich spreche hier einmal über die „Bild"-Zeitung — der Kollege Jürgen Rüttgers hat das schon getan — und erkläre folgendes:
— Augenblick, Herr Weiß; den Satz noch zu Ende. — Wenn die „Bild"-Zeitung in diesem Zusammenhang absolut falsche Darstellungen gibt, z. B. diejenige, wir bekämen 27 000 DM im Monat — in Wirklichkeit ist es so, daß kein Abgeordneter von der Entschädigung, die für die Beschäftigung von Mitarbeitern mit eingerechnet wird, auch nur einen Pfennig sieht, weil die Mitarbeiter sie bekommen — , wenn die „Bild"-Zeitung in solch diffamierender und infamer Weise argumentiert, dann werfe ich ihr vor, daß sie hier nicht nur ein billiges Argument gegen Lohn für Abgeordnetentätigkeit verwendet, sondern daß sie eigentlich die parlamentarische Demokratie treffen will nach dem Motto: Die dort verdienen zuviel, arbeiten zuwenig und sind eine Schwatzbude. Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen, daß eine solche Entwicklung vom Deutschen Bundestag hier unwidersprochen akzeptiert wird.
Ihrer Zwischenbemerkung vorhin habe ich entnommen, daß Sie bereit sind, eine Zwischenfrage zuzulassen. Bitte schön, Herr Abgeordneter Weiß.
Herr Kollege, würden Sie mir recht geben, daß die Arbeit einer Krankenschwester in Ostdeutschland, die 800 DM im Monat verdient, oder die Arbeit eines Arztes, der an einer Klinik in Berlin-Buch vielleicht 2 000 DM im Monat verdient, mindestens ebenso — wenn nicht in einem ungleich höheren Maße — wichtig ist wie die eines Fußballers und daß es aus meiner Sicht, aus der Sicht jemandes, der aus einem der neuen Bundesländer kommt, den Menschen dort gegenüber unverantwortlich ist, eine solche Erhöhung unserer Diäten anzustreben?
Herr Kollege Weiß, ich gebe Ihnen da nicht recht.
Herr Abgeordneter Weiß, es wäre nett, wenn Sie die Usancen des Hauses beachten würden.
Ich wiederhole: Herr Kollege, ich gebe Ihnen da nicht recht. Es ist nicht unverantwortlich. Ich habe versucht, das auszudrücken. Ich versuche es in wenigen Worten noch einmal. Es ist nicht unverantwortlich, darzustellen, daß die Tätigkeit eines Abgeordneten des höchsten Gremiums, das es in dieser parlamentarischen Demokratie gibt, eine Tätigkeit ist, die mit der eines Managers der mittleren Ebene in der Industrie verglichen werden kann, die von der Vorbildung her, die wir hier in der Regel alle haben, auch mit jeder Tätigkeit eines Akademikers in unserer Wirtschaftswelt verglichen werden kann.Daher sage ich: Das, was wir verdienen — wirklich im wahrsten Sinne des Wortes — , ist eine angemessene Entschädigung für die Leistung, die wir erbringen. Zwar gibt es in diesem Hause mit Sicherheit auch Kolleginnen und Kollegen, die weniger arbeiten als andere; die gibt es übrigens in jedem anderen Beruf. Aber es sei erlaubt, darauf hinzuweisen: Ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages, der seinen Beruf ernst nimmt, hat einen Stundenlohn von 23 bis 25 DM. Das läßt sich nachweisen; auch die Unterlagen der Frau Präsidentin weisen das aus. Das halte ich nun absolut nicht für überzogen.Was die Krankenschwester angeht, so bin ich in der Tat der Meinung: Wenn sie 800 DM im Monat verdient, dann verdient sie viel zuwenig. Aber die Auf-
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Dr. Peter Struckgabe ist dann, das zu ändern, Herr Kollege Weiß, und da eine vernünftige Regelung zu kriegen.
— Nein, das ist hier kein Argument. — Also, es geht hier darum, deren Situation zu verbessern. Ich verstehe, daß Sie im Zusammenhang mit der Diätenerhöhung Probleme haben — ich habe das noch einmal ausdrücklich gesagt —, übrigens nicht nur Sie, sondern auch viele aus meiner Fraktion. Doch ich sage noch einmal: Niemand ist daran gehindert, das, was hier jetzt zusätzlich beschlossen werden wird, für gemeinnützige Zwecke zur Verfügung zu stellen — oder gar darüber hinauszugehen. Übrigens war in der Vergangenheit auch niemand von uns daran gehindert, das zu tun.Ein letzter Satz noch: Wir müssen hier aufpassen, alle zusammen, daß die Debatte über das Thema Diäten nicht zu einer Diskussion — auch hier in diesem Hause — wird, wie sie von einem Mitglied des Hauses, das der „Bild"-Zeitung auf den Leim gekrochen ist, heute leider schon öffentlich geführt wurde. Ich bitte auch diejenigen Mitglieder des Deutschen Bundestages, die den Gesamtbetrag — unser jetziges Gehalt und dann vielleicht noch die vorgesehene Erhöhung — als zu hoch ansehen, dringend darum, zu respektieren, daß diejenigen, die sich für diesen Vorschlag aussprechen, gute Gründe dafür haben — ich glaube, ich habe sie dargestellt — , und niemandem zu unterstellen — wenn er denn dafür ist, wie meine Fraktion —, er sei raffgierig. Die, die das tun, kriechen auf den Leim derjenigen, die etwas ganz anderes bewirken wollen als hier nur eine Diskussion über das Thema Diäten.Deshalb appelliere ich an alle, die Diskussion in den nächsten Wochen so ordentlich zu führen, daß wir auch vor der Öffentlichkeit bestehen können, und zwar offensiv gegenüber der Öffentlichkeit bestehen können und nicht verschämt in einer Ecke.Vielen Dank.
Nun spricht der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst bei den beiden Vorrednern dafür, daß sie einen so sachlichen, sachgerechten Einstieg in diese ernste Debatte gefunden haben, die wir in der Tat jedes Jahr führen, führen müssen und, ich denke, auch führen wollen; denn das Bundesverfassungsgericht verlangt von uns, über jede Veränderung der Höhe der Entschädigung im Plenum zu diskutieren und vor den Augen der Öffentlichkeit darüber als über eine selbständige politische Frage zu entscheiden — so steht es in der Gerichtsentscheidung —. Daß wir in eigener Sache entscheiden, ist also verfassungsrechtlich vorgegeben.Dabei wäre es für uns alle sicher einfacher und bequemer, übrigens wahrscheinlich auch günstiger, wenn wir uns bei der Regelung unserer eigenen Angelegenheiten, speziell der Diätenfrage, hinter denEmpfehlungen eines Beirats oder einer sonstigen außerparlamentarischen Kommission verstecken könnten. Wir können dies nicht und, ich denke, wir wollen dies nicht, weil es dem Selbstverständnis des Parlaments besser entspricht, daß wir über diese unsere eigenen Angelegenheiten in eigener Verantwortung und, ich füge hinzu, hoffentlich auch mit dem notwendigen Selbstbewußtsein entscheiden.Ich meine, daß wir die von der Frau Präsidentin vorgeschlagene und in den Entwurf übernommene Anhebung der Diäten und der Kostenpauschale gut vertreten können, obwohl ich persönlich sage — das war auch die Tendenz in meiner Fraktion — , daß eine Erhöhung um 6 % bei späterem Inkrafttreten möglicherweise zweckmäßiger und angemessener gewesen wäre, weil nunmehr ein Langzeiteffekt in die Regelung eingebaut wird, den wir eigentlich bedenklich finden.Aber der Entwurf ist sehr maßvoll, und die Erhöhung soll erneut um einiges niedriger ausfallen, als es die objektiven Bezugsdaten zugelassen hätten; denn aus den objektiv und unabhängig aufbereiteten Daten ergäbe sich ein Erhöhungssatz von 6,3 %.Wir halten es nicht für richtig auf jegliche Anhebung — wie Bündnis 90/GRÜNE vorschlagen — zu verzichten, wenngleich ich nicht verkenne — das gilt selbstverständlich auch für meine Kolleginnen und Kollegen der eigenen Fraktion —, daß insbesondere Sie, die Sie aus den neuen Bundesländern kommen, hier ein Sonderproblem angesichts der dort deutlich niedrigeren Einkommen haben.Aber dieses Problem lösen wir weder durch eine Nullrunde für alle noch durch eine Reduzierung, die ja in der Logik der Begründung des Bündnisses 90 eigentlich fällig wäre, noch durch eine Ungleichbehandlung zwischen Ost-Abgeordneten und West-Abgeordneten, die ja nun überhaupt nicht in Frage kommen kann. Dieses Problem muß jeder Abgeordnete individuell und für die Bürger seiner Region glaubwürdig lösen. Übrigens: Die Wege, die hier beschrieben worden sind, gelten natürlich auch für Abgeordnete aus dem Westen.Wir sollten den Fehler nicht wiederholen, der 1977 bis 1983 gemacht worden ist, als eine regelmäßige Anpassung der Abgeordnetenentschädigung unterlassen wurde; eine Unterlassung, die — nebenbei bemerkt; das wird oft vergessen — besonders die Versorgungsempfänger und Hinterbliebenen getroffen hat, wahrscheinlich die einzige Gruppe in diesem Land, für die viele Jahre hinweg alles unverändert geblieben ist.Der Entwurf enthält keinen Vorschlag, den bestehenden Rückstand von mehr als 3 000 DM, der vorhin von Herrn Rüttgers zu Recht beschrieben worden ist, aufzuholen. Das paßte ja wohl auch nicht in die gegenwärtige politische Landschaft. Aber das wird als Merkposten für uns erhalten bleiben müssen, wenn wir ehrlich sind; denn der Abstand wird größer.Es gibt auch keine Sonderzuschläge, und es gibt, was vielen Bürgern nicht bewußt ist, bei uns auch kein 13. oder gar 14. Gehalt, wie es in der Wirtschaft schon fast gang und gäbe ist.
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Dr. Werner HoyerDaß die für die meisten von uns nicht ausreichende Kostenpauschale — je aktiver wir als Politiker sind, desto weniger ausreichend ist sie — oder gar die bei der Bundestagsverwaltung für uns geführten Konten für die Bezahlung von Mitarbeitern in der Öffentlichkeit nunmehr in unsere Bezüge eingerechnet werden, das allerdings empfinde ich als infam.
Mit der Anpassung rücken die Abgeordneten keineswegs in die Gruppe der Spitzenverdiener in unserem Land. Auch die Kosten für das Parlament bleiben mit 2 DM pro Jahr und Bürger, denke ich, bezahlbar. Das sollte uns das Parlament wert sein. International liegen wir damit in der Tat bei den Kosten am Ende.Ich habe in der letzten Debatte zu diesem Thema die Frage gestellt: Was für einen Bundestag wollen wir eigentlich? Was für eine Struktur der Mitgliedschaft dieses Hauses wollen wir eigentlich? Wollen wir überwiegend solche Mitglieder des Hauses haben, für die die Wahl in den Deutschen Bundestag der lang ersehnte finanzielle Aufstieg ist, oder wollen wir den Bundestag für alle Berufsgruppen attraktiv machen? Davon sind wir nämlich weit entfernt. Die Berufsstruktur dieses Hohen Hauses, die das Handbuch ausweist, spricht hier Bände.
Ein Blick in den Haushaltsplan für 1992 zeigt: In den Bonner Ministerien gibt es nicht weniger als 4 000 Beamte, die, wenn man als typischen Fall den 50jährigen Familienvater mit zwei Kindern annimmt, mindestens so viel verdienen wie die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Mehr als 2 000 dieser Bonner Beamten verdienen deutlich mehr; denn ein Ministerialrat kommt unter den genannten Bedingungen auf etwa 130 000 DM, der Ministerialdirigent auf 153 000 DM — der Abgeordnete bisher auf 115 000 DM, in Zukunft auf 121 500 DM.
Aber unser Maßstab, Frau Kollegin, sollte nach meiner Auffassung natürlich eher außerhalb des öffentlichen Dienstes liegen. Nur, wenn wir uns die Lage im privatwirtschaftlichen Bereich ansehen und wenn wir uns halbwegs selbstbewußt die möglichen Beruf sperspektiven für uns selbst dort ansehen, so wird die Diskrepanz krasser und nicht geringer.Ich habe damals auch gesagt, ich hielte es für unverantwortlich, jemanden aus der beruflichen Sphäre deshalb nicht in den Deutschen Bundestag zu holen, weil die Tätigkeit im Bundestag, verglichen mit der beruflichen Tätigkeit, unattraktiv oder — das sei nebenbei bemerkt — wenig abgesichert ist. Das Parlament besteht vor der Öffentlichkeit nicht, wenn es seine eigenen Angelegenheiten nicht transparent, mit Maß und — bitte nicht vergessen — mit gelassenem Selbstbewußtsein regelt.Ich bedanke mich.
Nun spricht der Abgeordnete Henn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Diätenerhöhungen im Deutschen Bundestag oder in den Landtagen auf der Tagesordnung stehen, schlägt gewöhnlich die Stunde der Populisten. Ich werde mich an dieser Masche nicht beteiligen, auch wenn sie aus diesem Hause hier kommen sollte.Das, was eine große deutsche Boulevardzeitung heute als Aufmacher bringt, ist einfach widerlich. Für mich ist der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt.
Ich finde es besonders widerlich und im höchsten Maße heuchlerisch, wenn das von Leuten kommt, die als Chefredakteur etwa eine Million bei diesem Blatt verdienen. Ich frage mich, wofür eigentlich.Ich meine, es dürfte unter ehrlichen und vernünftigen Menschen auch völlig unstrittig sein, daß Abgeordnete des Deutschen Bundestages für westliche Maßstäbe nicht zu den Großverdienern gehören und, gemessen an persönlicher Leistung, Arbeitseinsatz und Verantwortung, eher am unteren Ende der Skala der leitenden Angestellten stehen.
Dies habe ich vorausgeschickt. Ich sage dennoch, daß wir als Abgeordnetengruppe der PDS es für unangemessen halten, in dieser schwierigen sozialen und psychologischen Lage unseres Landes den Bürgerinnen und Bürgern eine Erhöhung der Abgeordnetenbezüge zuzumuten. Ich denke, wir schaden damit dem Ansehen des Parlamentes, weil man Vorurteile bestärkt und es so aussieht, als wollten wir unsere parlamentarische Tätigkeit wie einen Job betrachten, als sei es nicht so, daß unsere Bereitschaft, ein Mandat auszuüben, mehr mit politischer Überzeugung, mit Verantwortungsbewußtsein und Engagement für das Allgemeinwohl zu tun hat.Ich meine, niemand würde am Hungertuch nagen, wenn wir auf diese Diätenerhöhung verzichten. Es gibt viele sozial engagierte Menschen, hier im Land und anderswo, die Hervorragendes leisten, auch für weniger Geld oder ohne überhaupt nach Geld zu fragen. Mit rund 9 600 DM brutto im Monat läßt es sich bei allen zusätzlichen Belastungen, die das Mandat mit sich bringt, dennoch vernünftig leben.Ich füge hinzu: Mir gefällt auch der Bezug zu Tarif-und Einkommenssteigerungen nicht, obwohl ich, glaube ich, gerade von diesem Feld etwas verstehe; denn ich habe jahrelang in Tarif- und Verhandlungskommissionen zugebracht und dort manchmal um Pfennige für Stahlarbeiter gestritten, die unter harten Bedingungen arbeiten müssen. Ich meine, das ist eine Argumentationslinie, die, wenn Sie sie ganz streng haben wollen und das an Tariffragen anbinden wol-
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Bernd Hennlen, ein ganz anderes Ergebnis hervorbringen würde, als Sie erreichen wollen; denn Sie hätten bei Eintritt der ostdeutschen Abgeordneten in den Deutschen Bundestag zunächst einmal das Einkommensniveau im Osten berücksichtigen und die Diäten senken müssen, um dann von diesem gemeinsamen Niveau ausgehend auch Tarif- und Einkommenssteigerungen berücksichtigen zu können. Ich meine, so, wie es jetzt gemacht wird, geht es nicht.
Ein Letztes: Ich habe auch mit Vorstandsgehältern zu tun gehabt. Wenn man Zeit im Aufsichtsrat zubringt, dann weiß man, was da verdient wird.
— Herr Bohl, ich kann Ihnen das sagen, wenn Sie das interessiert — das steht auch im Handbuch — : MANNutzfahrzeuge.Ich will damit sagen, daß dort Verträge gemacht wurden, die natürlich streng erfolgsorientiert waren. Ich glaube nicht, daß die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land den Eindruck haben, daß das Unternehmen Deutschland zur Zeit auf Erfolgskurs ist.
Ich bitte Sie deshalb ganz dringend darum, daß wir in einer Zeit, in der die Schulden wachsen, in der die Steuern erhöht werden, solche Dinge nicht machen. Ich bitte Sie: Lassen Sie das! Setzen Sie diese Frage aus, bis es in Deutschland aufwärtsgeht. Ich glaube, wir können diese Zeit abwarten, und wir können es verkraften.
Nun spricht Herr Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ungefähr eine halbe Stunde lang ist das Bündnis 90 jetzt gescholten worden. Ich habe drei Minuten Zeit, zu antworten. Darum will ich die drei Minuten jetzt ausnutzen.
Herr Struck, ich unterstelle, daß Sie unsere Lage haben verstehen wollen. Aber Sie können es nicht. Ich will Ihnen nur sagen: Unsere Probleme liegen an ganz anderen Stellen. Ich vergleiche mich nicht mit irgendeinem Fußballspieler oder mit irgendeinem Journalisten, der mehr verdient, sondern ich vergleiche mich mit den Leuten in Dresden, in Leipzig und in Berlin, angefangen bei meinen eigenen Kindern. Dann geniere ich mich einfach, wenn zu diesem Zeitpunkt die Diäten erhöht werden.
Das ist mein zweiter Punkt: Sie sprechen dauernd von Leistung. Wir sind keine Fußballspieler, wir sind keine Manager, sondern wir sind Abgeordnete und sollen die Leistungen von Abgeordneten erbringen. Nun sehen Sie sich dieses Parlament an. Was hat es in der Debatte der letzten Tage geleistet? Wir haben das nicht geleistet, was wir hätten leisten müssen.
Dieses Parlament hatte zu erklären, daß es mit einer Stimme, mit allen Fraktionen, neben denen steht, die jetzt so verletzt worden sind und deren Menschenwürde so angetastet worden ist, wie es geschehen ist.
Herr Dr. Ullmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? Ich rechne Ihnen das nicht an.
Jetzt nicht, hinterher!
— Herr Struck, sofort.
Herr Abgeordneter Struck, das ist sein gutes Recht.
Ich muß jetzt weiterreden. Denn wir haben schon die entsetzten Briefe der vom Rehabilitierungsgesetz, vom Unrechtbereinigungsgesetz Betroffenen auf den Tischen liegen. Sie sind entsetzt angesichts der Minimalbeträge, die sie kriegen. Zur gleichen Zeit fängt der Deutsche Bundestag an, über Diätenerhöhung zu reden. Haben Sie nicht ein Gefühl für die Geschmacklosigkeit, die hier vorliegt?
Was ist das für ein Parlament?
In den letzten Debatten hat das Ansehen dieses Hauses auch dadurch gelitten, daß der Herr Bundeskanzler — nach dem, was Herr Bohl heute vormittag gesagt hat — im Gefühl einer persönlichen Reaktion auf eine Frage einer unserer Abgeordneten eine ganze Gruppe dieses Parlaments von wichtigen Besprechungen aussperrt. Wenn es wahr ist, was Sie gesagt haben, Herr Bohl,
dann hat er seiner eigenen Autorität und dem Ansehen dieses Hauses schweren Schaden zugefügt.
Darum sage ich: Diätenerhöhung jetzt ist Selbstbeschädigung der Autorität dieses Parlaments.
Zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege Struck das Wort. Oder wollen Sie jetzt eine Frage beantwortet haben?
Ich will nur eine Zwischenfrage stellen.
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3950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Bitte schön!
Herr Kollege Ullmann, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie gesagt haben, Sie genierten sich und Sie schämten sich für dieses Parlament, und das Ansehen des Parlamentes sei in den letzten Tagen schwer beschädigt worden? Habe ich Sie da richtig verstanden?
Ganz richtig!
Gut. Dann möchte ich Ihnen folgende Frage stellen: Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß diese Art der Argumentation, die Sie soeben verwandt haben, wir schädigten das Ansehen des Parlaments durch eine politische Debatte so oder so, nun gerade Wasser auf die Mühlen derer ist, die über die „Bild"-Zeitung in der Tat versuchen wollen, dieses Parlament als Schwatzbude zu diskreditieren, und daß Sie gerade diesen Leuten auf den Leim kriechen? Sind Sie nicht mit mir der Meinung, Herr Kollege Ullmann, daß ich natürlich nachvollziehen kann, daß Sie sich genieren oder schämen, wie Sie dargestellt haben, daß es aber neben Ihnen durchaus eine Reihe von vielen, vielen Abgeordneten dieses Hauses gibt, die sich absolut nicht schämen, für die Leistung, die sie im Hause für ihre Wähler und für unsere Demokratie erbringen, eine angemessene Entschädigung zu erwarten?
Das sehe ich wohl, Herr Struck; und darin sehe ich das große Problem.
Nun hat sich der Abgeordnete Bohl zu einer Kurzintervention gemeldet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß die Ausführungen des Herrn Kollegen Ullmann so verstehen, als hätte ich heute morgen bei der Geschäftsordnungsdebatte gesagt — ich nehme an, darauf wurde rekurriert — , der Bundeskanzler habe die Gruppe Bündnis 90 nicht eingeladen, weil Frau Köppe neulich in der Haushaltsdebatte eine sehr merkwürdige Argumentation und Rede von sich gegeben habe.
Das habe ich mit Sicherheit nicht gesagt; das wird man dem Protokoll entnehmen können. Ich habe nach meiner Erinnerung gesagt, daß es die Entscheidung des Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden der CDU ist, wen er zu einem solchen Gespräch einlädt, und daß das nicht zu kommentieren ist.
Ich habe als meine persönliche Meinung — dazu stehe ich auch — hinzugefügt, daß ich angesichts der Ausführungen der Vertreterin der Gruppe Bündnis 90 in dieser Haushaltsdebatte persönlich großes Verständnis dafür hätte, wenn eine solche Rede Anlaß für eine Absage oder Nichteinladung wäre. Das war also eine subjektive Wertung, die ich vorgenommen habe. Ich bin weder zu einer Erklärung autorisiert, noch weiß ich, weshalb der Bundeskanzler die Gruppe Bündnis 90 nicht eingeladen hat.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Koppelin das Wort für eine Erklärung gemäß § 30 unserer Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gehöre einer Berufsgruppe an, die hier mehrmals angesprochen wurde: Ich bin von Beruf Journalist. Ich muß Ihnen sagen: Ich habe in diesem Beruf ein ganzes Stückchen mehr Geld als hier als Abgeordneter verdient.
Trotzdem werde ich der Erhöhung nicht zustimmen.
Dabei bin ich durchaus der Meinung — auch das will ich Ihnen sagen — , daß manche Presseartikel über die Diätenerhöhung in keiner Weise seriös sind. Ich will meinen Vorrednern auch durchaus meinen Respekt bekunden. Nur ich kann der Erhöhung nicht zustimmen.Ich möchte das ganz kurz begründen. Ich vermag nicht einzusehen, daß wir in diesem Jahr, in dem wir den Bürgern erheblich mehr Steuern zugemutet haben, als Mitglieder dieses Hauses ein höheres Einkommen bewilligen.
— Lassen Sie mich das ganz kurz sagen. Ich habe bei den anderen doch auch mit Respekt zugehört. Ich bitte da wirklich um Verständnis.Hier wurde von Herrn Weiß das Beispiel der Krankenschwester genannt. Ich könnte genauso aus meinem Wahlkreis berichten, wo es sehr, sehr viele Landwirte gibt. Denen kann ich einfach nicht erklären, wie ich mir in diesem Jahr eine Diätenerhöhung zubilligen kann, während sie jedes Jahr niedrigere Einkommen haben. Das kann ich nicht erklären; das muß ich leider gestehen.Wie soll ich in den neuen Bundesländern — ich bin sehr viel in Mecklenburg-Vorpommern — erklären, daß ich hier für eine Diätenerhöhung gewesen bin? Viele Kollegen aus den neuen Bundesländern haben — das höre ich immer wieder — ein ungutes Gefühl. Ich meine, wir aus den alten Bundesländern könnten hier mit diesen Kollegen Solidarität zeigen, indem wir sagen: Wir verzichten in diesem Jahr auf die Erhöhung.
Ich bin durchaus bereit, im nächsten Jahr mit mir darüber reden zu lassen.Ich kenne auch manchen Kollegen aus dem Hause, der z. B. die diesjährigen Tarifabschlüsse kritisiert. Wir selber billigen uns aber entsprechende Erhöhungen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3951
Jürgen Koppelnzu. Auch dafür fehlt mir ein bißchen das Verständnis.Warum ich mich in erster Linie gemeldet habe: Ich halte es für unvertretbar, daß die Kostenpauschale, die wir bekommen, rückwirkend zum 1. Juli angehoben wird. Diese Kostenpauschale ist doch für die laufenden monatlichen Kosten gedacht. Jetzt aber bewilligen wir uns nachträglich eine Kostenpauschale für Monate, die schon vorüber sind. Das kann ich überhaupt nicht akzeptieren.Ich habe in der letzten Zeit immer wieder aus dem Hause Stimmen gehört, ein Bundestagsabgeordneter werde schlecht bezahlt. Ich kann dazu für mich nur sagen: Mich hat keiner gezwungen, Bundestagsabgeordneter zu werden. Ich tue das hier sehr gerne und mit Engagement.
— Herr Kollege, ich kann für mich etwas erklären. Sie können ja später hier nach oben kommen und ebenfalls etwas erklären.Wie gesagt: Ich tue das gern und mit Engagement, und ich komme mit meinem Geld aus.Vielen Dank für Ihre Geduld.
Es wird interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/182 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß sowie gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung gleichzeitig an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Weitere Vorschläge machen Sie nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Punkt 11 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Adler, Ina Albowitz, Anneliese Augustin, weiterer Abgeordneter aller Fraktionen und Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen Kinderpornographie
— Drucksache 12/709 —
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Der Ältestenrat schlägt Ihnen hierzu eine Debattenzeit von 90 Minuten vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Ich darf das als beschlossen feststellen.
Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Professor Männle das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Presseberichte über die neuesten Entwicklungen am Videomarkt, z. B. des „Stern" im November 1989 und die Enthüllungen des Journalisten Karremann in der Zeitschrift „Tempo", lösten schockartige Reaktionen, Entsetzen,Ratlosigkeit, aber auch Wut aus. Unglaubliches wurde präsentiert. Enthüllt wurde eines der bestgehüteten Geheimnisse der Nation: sexuelle Ausbeutung von Kindern, sexuelle Gewalt gegen Kinder, Verleih, Vermietung und Verkauf von Kindern für die Herstellung pornographischer Filme und Videos.Das Geschäft mit Kindersex, ja Babysex blüht. An Nachfrage mangelt es keineswegs. Das privat und kommerziell genutzte Handelsnetz für die sogenannte heiße Sexware wird immer dichter.Am Werk sind skrupellose Geschäftemacher, aber auch gewissenlose und verantwortungslose Eltern, Väter und Mütter, die in Sklavenhaltermanier ihre Kinder als Sexobjekte betrachten, vor allem ihre Töchter, aber auch ihre Söhne als Werkzeuge zur Befriedigung ihrer sexuellen Phantasien gebrauchen oder ihre Kinder für Sexspiele anderer feilbieten.Eltern — das Wort geht in diesem Zusammenhang nur schwer von den Lippen — verletzen in sträflicher Form ihre Elternpflichten, sie mißachten grundlegende Menschenrechte, sie nutzen schamlos und brutal die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit und die Not aus. Sie zerstören das Leben der Schutzbedürftigsten.Kinder leiden oft lebenslang unter den Folgen dieser physischen und psychischen Mißhandlung. Das Ausmaß ist erschreckend. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamts können bis zu 25 % der Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland sexuelle Mißhandlungen am eigenen Körper erfahren. Bei den Fällen von Verurteilung sexueller Vergehen an Kindern sind es zu 80 % die Väter oder andere Männer aus dem sozialen Nahfeld.Aber nicht nur die Horrorzahlen müssen uns wachrütteln und zu politischem Handeln zwingen; jeder Einzelfall zeigt das Skandalöse, zeigt menschenverachtende Brutalität. Oft ist es der nette Onkel von nebenan, der tüchtige Geschäftsmann, ein bekanntes Ehepaar der Eltern, ja selbst der sogenannte brave Ehemann, die fürsorgliche Mutter, die sich mal etwas Extravagantes gönnen wollen — so die schöngefärbte Umschreibung für ein menschenverachtendes, perverses Handeln.Die Familie, Ort des Schutzes, des Vertrauens, der Fürsorge für Kinder, wird damit zum Tatort eines der schrecklichsten Vergehen an Kindern. Wer zu solchen Verbrechen schweigt, macht sich mitschuldig. Es darf keine Rücksicht auf gutnachbarliche Beziehungen oder auf den guten Ruf der Familie geben. Schweigen, Untätigsein heißt hier Kumpanei mit den Tätern.
Die Arbeit der staatlichen Gemeinschaft, die nach unserer Verfassung über die Ausübung der Elternrechte und Elternpflichten wachen soll, wird untergraben, wenn die Gesellschaft ihre Mithilfe bei der Aufdeckung sexueller Ausbeutung von Kindern verweigert.Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht um einen Aufruf zur Schnüffelei, zur Diskreditierung von Zärtlichkeit zwischen Eltern und Kindern, von legitimer Intimität, sondern wir sprechen heute bei
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Ursula Männlediesem Tagesordnungspunkt über Pornographie, über Mißachtung von Kinderrechten, über Verletzung der Menschenwürde von Kindern.Alle in unserer Gesellschaft, Nachbarn, Lehrer, Pfarrer, sind aufgefordert, hier wachsam zu sein. Dies sind wir den Opfern, den Kindern, schuldig.
Mit den bestehenden Gesetzen konnte diesen Straftaten bislang nicht wirksam genug begegnet werden. Der private Tausch von Videos wurde auf Grund der neuen Medien wesentlich erleichtert, die Strafverfolgung dageben erheblich erschwert. Der bloße Konsument, der Besitzer von Videos mit kinderpornographischem Inhalt bleibt nach der jetzigen Rechtslage straflos. Es sollten jedoch alle rechtlichen Instrumente, wie z. B. Verbot des Besitzes, die Erhöhung des Strafmaßes für den Tatbestand Kinderpornographie und Verbesserung des Zugriffs von Verfolgungsbehörden, ausgeschöpft werden.Der Konsument von Kinderpornographie schafft die Nachfrage für Kinderpornographie, schafft einen Anreiz für die Produzenten. Der Konsument und die Konsumentin machen sich mittelbar auch an dem Inhalt dieser Produktionen, an der sexuellen Mißhandlung und Ausbeutung von Kindern schuldig.
Im Mittelpunkt stehen muß vor allem die Prävention, eine umfassende Gefahrenaufklärung für Kinder, die auch Verhaltensstrategien und Hilfen für den Fall sexueller Ausbeutung aufzeigt. Aufklärung darf sich aber nicht nur auf das potentielle Opfer konzentrieren. Dies bedeutet, wie z. B. Dr. Mauermann vom BKA mehrfach unterstrichen hat, den Kindern die Last des Neinsagens und die Verantwortung für den Stopp der sexuellen Ausbeutung aufzubürden.Frau Präsidentin, darf ich ganz kurz unterbrechen? Bei uns fällt eine Rednerin aus. Wir haben uns den Rest aufgeteilt. Das ist leider nicht gemeldet worden. Deswegen darf ich vielleicht noch eine Minute weiterreden.
Gut. Ursula Männle : Sehr nett.
— Auch zwei, danke.
Ich darf vielleicht noch ganz kurz einige Maßnahmen erläutern, die unserer Meinung nach notwendig sind. Es sind dies vor allem eine antisexistische Erziehung von Jungen in Familie, Schule und Jugendarbeit, eine grundlegende Einstellungsänderung bei den Tätern, den Erwachsenen, mehr Respekt für Kinder- und für Frauenrechte, die Vermittlung eines partnerschaftsbezogenen Sexualitätsbegriffes, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, Aufbau auch einer Männerbewegung gegen männliche Gewalt und — das sage ich speziell als Frau — einer Frauenbewegung gegen weiblichen Machtmißbrauch und gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Frauen.
Der Kampf gegen Kinderpornographie und gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern endet — auch dies ist wichtig — nicht an deutschen Grenzen. Kinderrechte sind Menschenrechte. Menschenrechte sind unteilbar. Unser Schutz gilt daher allen Kindern, unabhängig von ihrer Nationalität. Insbesondere Kinder aus der Dritten Welt — ich erwähne hier Thailand und die Philippinen — sind Opfer sexueller Ausbeutung von Bürgern aus den Wohlstandsregionen.
Unser Einsatz für die Achtung der Menschenwürde und für das sexuelle Selbstbestimmungsrecht darf daher keine regionalen Grenzen kennen, auch keine Altersgrenzen. Der Schutz für Hilfsbedürftige muß lückenlos werden.
— Auch keine Parteigrenzen, liebe Kollegin. Genau dies wollte ich zum Schluß sagen.
Deswegen bin ich sehr froh, daß wir als Frauen der Fraktionen zunächst mit den Vertretern aus der Kinderkommission, aber im Anschluß daran auch mit vielen Mitgliedern des Deutschen Bundestages diese gemeinsame Initiative über alle Grenzen hinweg starten konnten. Ich hoffe, daß sich auf Grund dieser interfraktionellen Zusammenarbeit in diesem Feld Entscheidendes verändern wird.
Als nächste hat die Abgeordnete Ursula Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag werden Tausende von Kindern geboren, und jeden Tag sind Tausende von Kindern Gewalt ausgesetzt. Diese Gewalt beginnt schon oft vor der Geburt, setzt sich fort in der Erziehung und zeigt sich in der fortschreitenden Zerstörung der Umwelt, die die Gesundheit und das Aufwachsen der Kinder auf vielfältige Weise beeinträchtigt.Meldungen über Gewalt und sexuellen Mißbrauch an Kindern nehmen in erschreckender Weise zu. Immer häufiger werden Berichte über eine der brutalsten Formen kindlicher Ausbeutung bekannt: Kinderpornographie, eine Mischung aus Skrupellosigkeit, Geldgier und Perversion, sexuelle Gewalt an Kindern bis hin zum authentischen Geschlechtsverkehr mit Vier- bis Fünfjährigen — meist Mädchen — , manchmal sogar mit Säuglingen, ein weltweites, knallhartes Millionengeschäft, ein Markt, der weitgehend von professionellen, international operierenden und kriminellen Händlern beherrscht wird.Die Händler kennen sich untereinander. Ringtausch oder verdeckter Kauf werden bevorzugt. Bedarf ist vorhanden und wird befriedigt. Auch dies ist eine Blüte des ungezügelten, freien Marktes, und die Kunden haben immer Geld.Nach den Berechnungen des Bundeskriminalamts wird der Jahresumsatz des Kinderpornomarktes allein in den Altbundesländern auf über 400 Millionen DM geschätzt. Kinderpornos aus der Bundesrepublik Deutschland sind überall in der Welt gefragt. Kinder-
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Ursula Schmidt
pornos, das sind Fotos und Filme, die den sexuellen Mißbrauch an Kindern dokumentieren. Und Kinderpornos fordern zum sexuellen Mißbrauch auf. Der Kinderporno beginnt im Kopf und endet oft genug in Gewalt.Das geschieht überall, jeden Tag, ganz in der Nähe, hinter bürgerlichen Fassaden in scheinbar intakten Familien. Es geschieht nicht nur in fernen Ländern. Es ist nicht nur das auch von gutbürgerlichen deutschen Männern angemietete Hotelzimmer in der Dritten Welt, in dem gefilmt wird, sondern und vor allem das Wohnzimmer hier in der Bundesrepublik Deutschland, das Zuhause von geachteten, unauffälligen Bürgern.Es ist nicht die Abhängigkeit, das Elend und die Not, die hier ausgebeutet werden, sondern die Hilflosigkeit des Kindes und sein Vertrauen gegenüber den Eltern, den ersten und wichtigsten Bezugspersonen in seinem Leben. Kinderpornographie, das ist eine neue Form des sexuellen Mißbrauchs. Das Kind wird nicht nur mißbraucht, es wird auch noch verkauft, es wird zur Ware.Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes werden jährlich allein in den Altbundesländern 300 000 Kinder Opfer sexueller Mißhandlung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bedeutet, daß jeden Tag hier in der Bundesrepublik über 800 Kinder sexuelle Gefahr erfahren. Ich finde eines schon zuviel.
Nach Schätzungen von Experten wird jedes zweite bis vierte Mädchen und jeder siebte bis zehnte Junge in der Kindheit und Jugend sexuell mißhandelt. Das sind 18 bis 32 % aller Kinder und Jugendlichen. Und es ist, wie gesagt, nicht der fremde Onkel, vor denen Kinder von Eltern, in Kindergärten und in der Schule gewarnt werden, zu 80 % sind es die eigenen Väter und Stiefväter oder sonstige nahe Familienangehörige, die sich sexuell an den Kindern vergehen. Nur 6 % der Kinder kennen den Täter nicht. Und bei der Produktion kinderpornographischer Darstellungen ist die Situation ähnlich. Das Erschütternde ist: Die Filme werden nicht nur kommerziell, sondern vor allem privat hergestellt. Es handelt sich zumeist um Amateurfilme, hergestellt von Vätern, Stiefvätern und Onkeln und in Einzelfällen auch unter Beteiligung von Müttern mit den eigenen Kindern. Dies ist für mich, Kolleginnen und Kollegen, das gemeinste Verbrechen, das Eltern oder Erzieher ihren Kindern antun können.
Die Folgen für die Kinder, die vor laufender Kamera mißbraucht werden, sind grenzenlos, sowohl für die körperlichen als auch für die seelischen Schäden. Späterer Drogenkonsum und das Abgleiten in die Prostitution sind oftmals die Folge. Die Opfer haben eines gelernt: Die Preisgabe ihres Körpers ist mit einer Belohnung verbunden. Und eines ist auf jeden Fall sicher: Sie werden niemals in ihrem Leben fähig sein, eine unbefangene, selbstbestimmte Sexualität zu entwickeln.Sexueller Mißbrauch, das bedeutet für Kinder eine Situation des ohnmächtig Ausgeliefertseins, schweigen, um Angehörige zu schützen, eine frühe Koppelung von Haß und Liebe, eine Verdrängung, um überleben zu können, und schließlich eine Verarmung und Zerstörung der Persönlichkeit.Das Urteil für die Opfer ist lebenslänglich. Und wie sieht das Strafmaß für die Täter aus? Wer Kinder quält, muß bei uns nicht mit Strafe rechnen, ja er kann geradezu gewiß sein, überhaupt nicht entdeckt zu werden. Sexueller Mißbrauch ist zumeist Privatsache, fast ohne Risiko für die Täter. Das ist ein Skandal in unserer Gesellschaft, der viel zu lange hingenommen und tabuisiert wurde.
Frau Männle hat schon darauf hingewiesen, daß für die Herstellung und den Vertrieb von Kinderpornographie das Gesetzbuch eine Höchststrafe von einem Jahr vorsieht. Meistens bleibt es jedoch bei einer Geldbuße, wenn es denn überhaupt zu einer Verurteilung kommt. Entscheidend ist auch: Der Besitz und Konsum von Kinderpornographie ist in der Bundesrepublik nicht strafbar. Das macht den polizeilichen Zugriff auf die Hersteller und Vertreiber zum großen Teil unmöglich.Folgendes muß getan werden: eine drastische Verschärfung des Strafrechts und eine Ausweitung des Straftatbestandes, eine Kampagne zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit, eine Verstärkung der Zusammenarbeit der Behörden im Inland, aber auch auf internationaler Ebene, präventive Maßnahmen gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern, insbesondere Projekte zur Aufklärung und Unterstützung der Kinder, Beistand und Erleichterung für das Kind im Strafprozeß.Die Einsicht, daß wir andere Gesetze und ein größeres Angebot an Hilfe brauchen, um dieser Form der Gewaltkriminalität begegnen zu können, hat dazu geführt, daß die Frauenpolitikerinnen aller Bundestagsfraktionen und die Mitglieder der Kinderkommission einen Antrag erarbeitet haben, der einen ganzen Katalog von Maßnahmen gegen Kinderpornographie vorsieht.Die SPD begrüßt ausdrücklich die im Antrag vorgesehenen Maßnahmen. Wir wissen, die Verschärfung der strafrechtlichen und gesetzlichen Vorschriften ist ein äußerst wichtiger Aspekt; er ist aber nicht der einzige. Gesetzliche Regelungen können immer nur ein Beitrag zur Lösung eines Problems sein. Der Schwerpunkt muß im Bereich der Prävention, der Beratung und der Therapie liegen.Notwendig ist eine Bewußtseinsänderung der Erwachsenen, eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Bedürfnisse und Rechte von Kindern und für die Leiden der Opfer. Wir müssen hellhöriger, wachsamer werden und auffällige Verhaltensweisen von Kindern bewußter wahrnehmen.
Die Familie darf nicht länger als gesellschaftlicher Schutzraum tabuisiert werden, sondern muß auch als möglicher Tatort erkannt werden. So, wie es für die internationale Staatengemeinschaft immer selbstverständlicher wird, sich in innerstaatliche Angelegen-
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Ursula Schmidt
heiten einzumischen, wenn Menschenrechte elementar verletzt werden, muß es auch für Staat und Gesellschaft selbstverständlich werden, sich in familiäre Angelegenheiten einzumischen, wenn dort elementare Rechte mißachtet werden.
Kinder sind das schwächste Glied in unserer Gesellschaft. Sie brauchen unseren besonderen Schutz, damit sie eigenständige Persönlichkeiten werden können, was sie sein könnten, wenn man sie ließe, wenn sich Erwachsene nicht tagtäglich leichtfertig über die Rechte der Kinder hinwegsetzen würden.Die Opfer von heute sind vielfach die Täter von morgen. Kinderpornographie ist nur ein Teilbereich, wenn auch einer der schmutzigsten und skrupellosesten der alltäglich ausgeübten Gewalt gegen Kinder.Gewalt in der Familie ist ein weltweites Problem. Die Opfer sind vorwiegend Frauen und Kinder. Bekämpfen können wir diese Gewalt nur gemeinsam, Männer und Frauen. Die Umsetzung unseres vorliegenden Antrags ist ein wichtiger Schritt dorthin.
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Pornographie ist keine Erfindung der Gegenwart. Relikte vergangener Kulturen zeigen immer wieder auch pronographische Darstellungen.Die Kinderpornographie jedoch, über die wir heute dringend reden müssen, ist ein Vorgang, bei dem man nicht zur Tagesordnung übergehen kann. Wer einmal in die Gesichter der Mädchen und Jungen gesehen hat, die vor laufender Kamera von Männern und Frauen — ich sage bewußt: „und Frauen" ; meine beiden Vorrednerinnen haben diesen Aspekt vergessen —
sexuell mißbraucht worden sind, weiß bereits dann, was diesen Kindern angetan wird. Es bedarf nicht der Bestätigung durch Psychiater, daß die psychischen und körperlichen Folgen vielfältig und von langer Dauer sind. Depressionen gehören ebenso zu den Auswirkungen wie Alkohol- und Drogenabhängigkeit.Eigentlich hat der Gesetzgeber einen deutlichen Riegel vor diese Handlungen geschoben. Der sexuelle Mißbrauch von Kindern wird in § 176 StGB mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft. Die Verbreitung solcher pornographischen Produkte ist in § 184 Abs. 3 StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht.Der Blick in einschlägige Magazine zeigt jedoch schnell, daß diese gesetzlichen Regelungen offensichtlich nicht die Wirkung entfalten, die wir alle wünschen. Gleich reihenweise findet man die Angebote gewissenloser Eltern, die ihre Kinder gegen Geld verkaufen. Bei dem hohen kommerziellen Interesse verwundert es nicht, daß auch neue Medien wie Btx in das Angebot einbezogen werden.Die Justiz muß sich fragen lassen, ob sie mit diesem Mißbrauch von Kindern angemessen umgegangen ist. Die hohe Zahl der Einstellungen der einschlägigen Verfahren, die zu Recht auch von meinen Vorrednerinnen beklagt worden ist, ist alarmierend. Sexueller Mißbrauch von Kindern, der diesen Filmen immer zugrunde liegt, ist nie eine Kleinigkeit.
Sie ist es insbesondere auch deshalb nicht, weil die Nachfrager mit ihrem Interesse an dieser Pornographie für den lukrativen Markt sorgen. Alle Nachfrager sind damit mittelbar für den immer neuen sexuellen Mißbrauch von Kindern verantwortlich.
Ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten schon davor gewarnt, in höheren Strafen ein Allheilmittel zu sehen. Dem Unwertgehalt dieser Taten wird die bisherige Strafdrohung jedoch eindeutig nicht gerecht.
Die vorgeschlagene Erhöhung des Strafrahmens für den Vertrieb von Kinderpornographie— ich beschränke es ausdrücklich auf diesen Bereich und beziehe den der Gewaltpornographie, in dem Erwachsene freiwillig mitwirken, nicht ein — ist eine dringend notwendige Maßnahme. Aus der Mitverantwortung für den sexuellen Mißbrauch und um den geänderten Marktbedingungen gerecht zu werden sollte schon der Besitz dieser Produkte verboten werden.
Durch eine erleichterte Einzugsmöglichkeit, die nicht an den Nachweis des Eigentums geknüpft werden sollte, muß der Boden für die Weiterverbreitung dieser Filme entzogen werden. Die Recherchen der Medien in den letzten Jahren haben nämlich gezeigt, daß die Vertreiber in aller Regel nur noch ein Band vorrätig halten, um jeweils bei Bedarf Kopien ziehen zu können.Zur besseren Bekämpfung wird immer wieder — der Antrag ist hier keine Ausnahme — auch die Forderung nach Sonderdezernaten für Kinderpornographie bei den Staatsanwaltschaften erhoben. Ich spreche mich ausdrücklich gegen eine solche neue Sondereinrichtung aus. Ihrer bedarf es nämlich nicht. Vielmehr sollte die Verfolgung dieser Delikte den inzwischen nahezu überall bestehenden Sonderdezernaten für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zusätzlich zugewiesen werden. Bei einigen staatsanwaltlichen Behörden, z. B. im Bereich der Generalstaatsanwaltschaft Hamm, in der ich tätig war, ist dies bereits mit Erfolg geschehen.Durch die besonders geschulten Dezernentinnen und Dezernenten wird einem weiteren Anliegen des Antrages Rechnung getragen, nämlich den Schaden für die Kinder während des Verfahrens vor der Justiz nicht zusätzlich zu vergrößern.
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Jörg van EssenDie Erfahrungen aus den Ermittlungsverfahren zeigen, daß Pädophile ihren Neigungen häufig im Ausland nachgehen, wobei die Niederlande und Südostasien besonders hervorzuheben sind. § 184 StGB schützt bereits in Abs. 1 Nr. 9 ausländische Interessen an einer Verbreitung von Pornographie. Viel dringender ist jedoch der Schutz auch ausländischer Kinder vor sexuellem Mißbrauch.
Ich unterstütze daher nachdrücklich die Vorschläge des Antrages in dieser Richtung.Die Initiative sollte schließlich Anlaß sein, über die presserechtlichen Verjährungsvorschriften einmal grundsätzlich nachzudenken. Den berechtigten Interessen der Medien wird durch eine Vielzahl von Vorschriften, etwa das Zeugnisverweigerungsrecht, Rechnung getragen. Zusätzliche Erweiterungen sind in der Diskussion.Bedarf es eigentlich noch der kurzen Verjährungsfrist bei Pressedelikten, die auch den Herstellern von Kinderpornos nutzt? Hier ist eine sorgfältige Beratung angesagt. Die Gefahr, nicht nur die gewünschte Fliege Kinderpornographie mit der Klappe zu erwischen, ist allerdings auch besonders groß.Insgesamt enthält der Antrag eine Fülle von guten Anregungen, die, wo immer möglich, schnell umgesetzt werden sollten.Vielen Dank.
Als nächste hat die Abgeordnete Barbara Höll das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Der vorliegende Antrag beschäftigt sich mit einem sehr dringlichen Problem. Sexueller Mißbrauch von Kindern, Kinderpornographie und auf sie begründete Gewinnschöpfung gehören zu den abscheulichsten und verabscheuungswürdigsten Entartungen menschlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft. Die PDS/Linke Liste begrüßt diesen Antrag, weil damit ein diesen Staat und seine Zukunft belastendes Defizit aufgegriffen wird.Es ist eine politische Tatsache, daß die Lebensqualität von Kindern ein wesentliches Chrakteristikum jedes Gemeinwesens ist. Weil dieser Antrag nach Wegen sucht, um eine so gravierende Beeinträchtigung der Lebensqualität von Kindern wie deren sexuellen Mißbrauch durch Kinderpornographie künftig auszuschließen, wird ihm unsere Abgeordnetengruppe zustimmen.Wir stehen heute vor der Tatsache, daß Kinderpornographie schon bisher als Straftatbestand gilt, sich jedoch eine Strafverfolgung wegen des häufigen Tatorts Privatsphäre als sehr schwierig erweist. Mit dem Entstehen des Kinderporno-Videomarktes sind zwar sexueller Mißbrauch von Kindern und die auf ihm beruhende Gewinnschöpfung angewachsen, aber wirksame Gegenmaßnahmen fehlen. Einerseits werden diese Straftaten nach wie vor hauptsächlich in derPrivatsphäre begangen. Der Vertrieb und Verkauf von Kinderpornographie entzieht sich ebenfalls der Öffentlichkeit. Andererseits werden sich die Opfer in der Regel erst später dieses Mißbrauchs bewußt und sind sowohl dem staatlichen Schutz der Kinder vor sexuellem Mißbrauch als auch einer wirksamen Strafverfolgung Grenzen gesetzt.Hierzu sind Erfahrungen der Altbundesländer reichlich vorhanden. Für die neuen Bundesländer stellt sich das Problem anders. Mit Pornokommerz sind sie neu konfrontiert. Der Pornomarkt ist noch nicht so verfestigt wie in den Altbundesländern. Man kann noch nicht von einer allgemeinen Akzeptanz derselben sprechen. Darin liegen Chancen, um die Ausbreitung von Kinderpornographie von vornherein einzudämmen und ihr entgegenzutreten.Deshalb ist es unsere Verantwortung, die bestehenden Chancen zu nutzen und solche Rahmenbedingungen zu schaffen, daß in den neuen Bundesländern Kinderpornographie und ein Markt dafür nicht erst Fuß fassen können und bundesweit das Verbot von Kinderpornographie durchgesetzt wird. Es ist nur zu wünschen, daß all den beantragten Maßnahmen, von einer Strafmaßerhöhung, einer Verlängerung der Verjährungsfrist über neue Zugriffsmöglichkeiten der Verfolgungsorgane auf Hersteller, Vertreiber und Besitzer von Kinderpornographie bis zur Sperrung des Btx-Systems der Bundespost für derartige Angebote Erfolg beschieden sei. Alle diese Maßnahmen sind in der Hoffnung zu unterstützen, daß damit jeglichem sexuellen Mißbrauch von Kindern und Kinderpornographie ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden kann.Angesichts der bekannten Schwierigkeiten bei der Aufklärung solcher Straftaten und ihrer großen Dunkelziffer bringen die beantragten Maßnahmen jedoch auch einen gewissen Grad von Hilflosigkeit zum Ausdruck. Deshalb müssen wir weitergehend darüber nachdenken, ob der Platz und die Stellung von Kindern in diesem Staat und in dieser Gesellschaft ausreichen, um sie vor jeglichem sexuellen Mißbrauch zu bewahren.Die PDS/Linke Liste betrachtet die Kindheit als einen das Leben jedes Menschen prägenden sozialen, politischen, moralischen und kulturellen Wert. Da Kindheit oder Kindsein nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche, in die Zukunft weisende Dimension hat, tragen die Gesellschaft und konkret der Staat wesentliche Verantwortung für die Entwicklungsbedingungen der kommenden Generationen. Hier liegt für uns ein wesentlicher Ansatzpunkt zur Bekämpfung sexuellen Mißbrauchs von Kindern und von Kinderpornographie.Im öffentlichen Bewußtsein in der Bundesrepublik und im Alltagsbewußtsein der Bürgerinnen und Bürger wird vorrangig davon ausgegangen, daß Kindheit und Kindsein in erster Linie eine individuelle Angelegenheit sind. Nicht wenige Eltern lassen sich von reinem Besitzdenken leiten, das sich so äußert: Das ist mein Kind, und mit dem mache ich, was ich will. — Mit diesem Leitspruch werden sowohl autoritäre Entmündigung als auch Vernachlässigung oder gar sexueller Mißbrauch von Kindern gerechtfertigt.
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Dr. Barbara HöllIn Anbetracht dessen scheint es nur unabdingbar, die gesellschaftliche Dimension der Kindheit als eigenständige Lebensphase und als prägenden Wert herauszustellen und den Kindern in diesem Staat generell einen höheren politischen Stellenwert beizumessen. In erster Linie halte ich es für geboten, solche Grundrechte für Kinder wie Recht auf eigenständige Wahrung ihrer Interessen vor dem Gesetz, soziale Grundsicherung, Schutz vor jeglicher Gewalt, vor Mißbrauch und Mißhandlung, elterlicher Fürsorge und freier Zugang zu Vater und Mutter, kostenlose Bildung, Schutz der Gesundheit, ein Leben in einer intakten Umwelt festzuschreiben und damit zu dokumentieren, was Kinder dem Staat wert sind.Vor einem solchen Hintergrund erhalten Aufklärungskampagnen und Öffentlichkeitsarbeit zum Schutz der Kinder vor Mißbrauch für Kinderpornographie einen breiteren Wirkungskreis. Die Autorität solcher staatlichen Maßnahmen wie Strafverschärfung, Einrichtung von Sonderdezernaten zur Aufklärung dieser Straftaten bzw. Anzeigepflicht würde steigen.Die PDS/Linke Liste unterstützt den vorliegenden Antrag nachdrücklich. Wir sehen darin einen ersten Schritt, um den Maßstäben der UNO-Kinderkonvention auf diesem Gebiet gerecht zu werden.Ich danke.
Als nächste hat das Wort Cornelia Yzer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zahlen, heute bereits mehrfach genannt, sind Horrorzahlen: 300 000 Kinder, vorwiegend Mädchen, werden nach Schätzungen jährlich in der Bundesrepublik sexuell mißbraucht. Kinderpornographie als eine Ausprägung dieses Mißbrauchs greift um sich. Im Juni 1991 konnte das Bundeskriminalamt allein bei einer einzigen Aktion 600 Videos bezüglich Kinderpornographie beschlagnahmen. Doch auch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach Schätzungen beträgt der Jahresumsatz, der mit Kinderpornographie erzielt wird, mindestens 400 Millionen DM. Die Zahlen belegen: Nachfrager von Kinderpornographie sind keine belanglose Minderheit. Zehntausende müssen es sein, die ihre perversen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder befriedigen. Sie gehen bislang straffrei aus, denn Besitz und Konsum von Kinderpornographie sind nicht strafbar. Lediglich Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie sind, wenngleich auch mit einem viel zu geringen Strafmaß, strafbewehrt. Dem muß ein Ende gesetzt werden. Denn die Konsumenten sind hier auch die Täter. Sie schaffen den Markt und machen sich damit ebenso schuldig wie die Produzenten von Videos.Kinder werden körperlich und seelisch mißhandelt. Psychische Dauerschäden sind nicht selten die Folge. Wir wissen aus Berichten vieler Frauen, die in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Mißbrauchs wurden, daß sie auf Grund ihrer schrecklichen Erfahrungen zum Teil über viele Jahre hinweg — zum Teil nie — ihre eigeneSexualität nicht haben leben können. Das alles nehmen Produzenten und Konsumenten von Kinderpornographie aus niederen Motiven in Kauf. Diese zerstörerische kriminelle Energie muß sich künftig beim Strafmaß niederschlagen.
Die Dunkelziffer bei der Aufklärung von Kinderpornographie liegt wie bei allen Delikten des sexuellen Mißbrauchs hoch. Schätzungen gehen von rund 90 % aus. Eine Verlängerung der Verjährungsfristen bietet die Chance einer höheren Aufklärungsrate. Die Opfer von Kinderpornographie sind in der Regel schweigende Opfer. Kinder werden sich oft erst nach Jahren ihres Mißbrauchs bewußt. Zudem sind 80 % der Täter Väter, Angehörige oder gute Bekannte der Familie. Kinder können daher oftmals erst nach Jahren die Tat aufdecken, nämlich dann, wenn sie in der Lage sind, sich von diesem Personenkreis zu lösen.Wer Opfer sexuellen Mißbrauchs ist, kann in der Regel über die Tat nicht so frei sprechen wie Opfer anderer Delikte. Wir müssen daher auch prozessual den betroffenen Kindern jede nur denkbare Erleichterung gewähren. Sonderdezernate bei den Staatsanwaltschaften, wie es sie seit einigen Jahren, aber leider bislang nur an wenigen Orten gibt, haben sich meines Erachtens bestens bewährt. Ich habe vor einigen Jahren im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit den Aufbau des ersten derartigen Sonderdezernats in Nordrhein-Westfalen, damals ein Pilotprojekt, mitverfolgen können. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die dort tätigen Staatsanwälte durch die ausschließliche Befassung mit dem Deliktkreis „Gewalt gegen Frauen und Kinder" ein die Ermittlungen förderndes Einfühlungsvermögen für die Opfer entwickeln. Das sollte man auch ermöglichen.
Deshalb sollten wir auch von dieser Stelle aus den Bundesländern empfehlen, solche Sonderdezernate bei allen Staatsanwaltschaften einzurichten.Bei der Aufklärung von Kinderpornographie wird man in erster Linie auf die Anzeige der Opfer bauen müssen. Wir sollten aber nichts unversucht lassen, Dritte anzuhalten, an der Aufklärung mitzuwirken. Eine Anzeigepflicht für bestimmte, mit Kindern besonders befaßte Berufsgruppen wie Ärzte, Kindergärtnerinnen und Lehrer scheint mir ein erfolgversprechender Weg zu sein; denn auch für die Angehörigen dieser Berufsgruppen ist Kinderpornographie nach wie vor ein Tabuthema mit der Folge, daß im Zweifel ein Verdacht eher verworfen wird, als daß ihm nachgegangen wird. Als Gesetzgeber sind wir aufgerufen, im Interesse des Opferschutzes und der Prävention das Thema aus der Tabuzone herauszuholen.Der vorliegende Gesetzesantrag hat zum Teil Kritik erfahren. In einem Brief fand ich den Satz, es sei zu bedenken, daß es in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung immer mißlingen müsse, einen Konsens darüber zu erzielen, was letztendlich pornographisch sei. Es gibt gewiß Bereiche, in denen die Politik vorsichtig mit moralischen Werturteilen umgehen sollte. Aber über eines sollte in diesem Haus Konsens
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Cornelia Yzerbestehen: Kinderpornographie in jeder Form und ihr Konsum sind zutiefst unmoralisch.
Als nächste spricht die Abgeordnete Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gewalt gegen Kinder hat in unserer Gesellschaft verschiedene Formen. Sie ist alltäglich, sie gehört quasi zum normalen Leben. Körperliche Züchtigung, Vernachlässigung, Liebesentzug gehören ebenso dazu wie die sexuelle Gewalt gegen Kinder. Daß ausgerechnet über Pornographie mit Kindern als eine Form der sexuellen Gewalt heute im Bundestag diskutiert wird, liegt allein daran, daß das Thema so offensichtlich und so unleugbar geworden ist, daß kein Mensch mehr davor die Augen verschließen kann.Pornographie mit Kindern ist mehr als andere Formen sexueller Gewalt dazu geeignet, Aufmerksamkeit, ehrliche Empörung, aber auch heuchlerische Reaktionen zu erwecken. Das besondere Interesse der Öffentlichkeit gerade an diesem Gewaltdelikt birgt zwei Gefahren in sich: erstens die, daß andere Formen der sexuellen Gewalt verharmlost werden. Die Art und Weise, wie die Debatte zu dieser Teilproblematik im Moment geführt wird, kann ohne weiteres dazu führen, daß sich Väter, die ihre Töchter täglich sexuell mißhandeln, ohne sie dabei zu fotografieren, im Sessel zurücklehnen und sich für anständige Menschen halten. Das gleiche gilt natürlich für Männer, die ihre Ehefrauen vergewaltigen oder sexuell nötigen, was ja vom Gesetz noch immer ausdrücklich geduldet wird.Die zweite Gefahr entsteht durch die Art und Weise, wie das Thema Pornographie mit Kindern in der Öffentlichkeit behandelt wird. Anteilnahme und Interesse verkommen zu Voyeurismus und Sensationsgier. So mancher Bericht über Pornographie mit Kindern ist selbst pornographisch, so manches Blatt steigert seine Auflage mit ensprechenden Schlagzeilen und Abbildungen, während die große Masse aller Fälle der sexuellen Gewalt gegen Mädchen und Frauen weiterhin tief unter der Decke familiärer Wohlanständigkeit bleibt.Die Existenz dieser Gefahrenmomente bedeutet natürlich nicht, daß wir es unterlassen sollten, gegen Pornographie mit Kindern etwas zu unternehmen; wir haben uns ja auch ganz bewußt diesem Antrag hier angeschlossen. Allerdings müssen wir uns davor bewahren, den Tatbestand der Pornographie mit Kindern als den Tatbestand der sexuellen Gewalt an sich zu definieren. Das heißt, daß wir uns auch davor bewahren müssen, die anderen und noch viel häufiger vorkommenden Formen sexueller und sonstiger Gewalt gegen Kinder und Frauen zu verharmlosen.Ebensowenig darf Gewalt gegen Kinder, darunter insbesondere die Herstellung von Pornographie mit Kindern, unter keinen Umständen, wie das auch hier schon anklang, pathologisiert werden oder als ausschließlich aus der individuellen Persönlichkeitsstruktur der Täter resultierendes Delikt erklärt werden. Gewalt und sexuelle Mißhandlung — bis hin zur Vermietung von Kindern zum Zwecke der Herstellung pornographischer Videofilme — sind keine individuellen, sondern gesellschaftliche Probleme. Bei den Männern, die ihre Töchter sexuell mißhandeln, bei den Menschen, die ihre Kinder zur Herstellung von pornographischen Filmen vermieten, handelt es sich nicht um Psychopathen, sondern um im statistischen Sinne durchschnittlich strukturierte Personen. Die Häufigkeitsanalysen belegen das: 25 bis 50 % der Mädchen werden Opfer sexueller Gewalt, die Täter sind zu 75 % — hier wurde sogar gesagt: bis zu 80 % — Familienangehörige, Väter, Onkel, Stiefväter oder auch Brüder.Ebenso „normal" ist der deutsche Mann, der als Sextourist in den fernen Osten fährt. 60 % aller Deutschen Thailand-Touristen sind Sextouristen. Ca. 100 000 deutsche Männer fahren pro Jahr nach Thailand, um sich dort Sex mit Kindern zu kaufen. Die Nachfrage ist mittlerweile so groß, daß die Zahl der einheimischen kindlichen Prostituierten nicht mehr ausreicht und Kinder aus anderen ostasiatischen Ländern dorthin importiert werden. Der boomende Tourismus wird von der Weltbank und vom Internationalen Währungsfonds gefördert.Meine Damen und Herren, die sexuelle Mißhandlung eigener oder fremder Kinder, die Vermietung oder Anmietung von Kindern zum Zwecke der Herstellung pornographischer Filme, der Verkauf und Konsum solcher Filme sowie die Umwandlung ganzer Länder zu Bordellen für den weißen, westlichen Mann, all diese Erscheinungen sind keine besonderen Auswüchse, sondern logische Folge einer kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft, in der Männer grundsätzlich Herrschaft über Frauen ausüben, einer Gesellschaft, in der alles, aber auch wirklich alles käuflich ist und in der männliche Interessen dafür ausschlaggebend sind, was hergestellt, gekauft oder verkauft und also konsumiert wird.Damit will ich natürlich nicht behaupten, daß die sexuelle Mißhandlung von Kindern in der DDR nicht möglich gewesen wäre oder nicht stattgefunden hat. Der real existierende Sozialismus war nur eine andere Spielart patriarchaler Verhältnisse, in denen solche Themen zudem extrem tabuisiert waren. Die sozialistische Familie war grundsätzlich sauber, genauso sauber wie die christliche Kleinfamilie im Westen, deren wirklichen Zustand wir an Hand der Statistik nur erahnen können.Meine Damen und Herren, kennzeichnend für die derzeitige Diskussion ist auch der breite Raum, den die Mißhandlung von Jungen und das vereinzelte Phänomen von Frauen als Täterinnen in der Berichterstattung einnehmen. Ich möchte überhaupt nicht in Frage stellen, daß auch Jungen von Männern sexuell mißhandelt werden und daß es auch Täterinnen gibt. Aber der Umstand, daß gerade das in der Boulevardpresse und leider auch in diesem Haus überaus ungleichgewichtig hervorgehoben wird, veranlaßt mich, die Tatsachen noch einmal deutlich zu benennen: 80 bis 90 % aller mißhandelten Kinder sind Mädchen, weit über 90 % der Täter und vor allem der Konsumenten sind Männer. An meine Vorrednerinnen und
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3958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Christina SchenkVorredner gerichtet: Ich denke, wir kommen in dieser Frage nicht viel weiter, wenn wir nicht dazu kommen, die Täter und die Opfer ganz klar zu benennen.Meine Damen und Herren, Gewalt und insbesondere sexuelle Gewalt gegen Kinder sind ein außerordentlich komplexes Problem, das auch in dieser Komplexität angegangen werden muß. Wir brauchen eine umfassende Prävention mit den Bestandteilen Aufklärung, Information und Ausbildung auf der Basis feministischer Analysen zur Gewaltsituation von Mädchen bzw. Kindern und Frauen in dieser Gesellschaft, wir brauchen die materielle und finanzielle Absicherung von Therapie, Selbsthilfe und Beratung, eingeschlossen die finanzielle Existenzsicherung von Mädchenhäusern und betreuten Mädchengruppen. Wir brauchen finanzielle Unterstützung der Arbeit von Initiativen, Projekten, Vereinen, die sich gegen die sexuelle Gewalt gegen Kinder und insbesondere gegen die sexuelle Gewalt gegen Mädchen wenden.Wir brauchen weitere gesetzgeberische Initiativen zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der von sexueller Gewalt betroffenen Mädchen und Kinder. Insbesondere brauchen wir auch eine internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die sexuelle Mißhandlung von Kindern.Zum Schluß möchte ich noch eine Anmerkung machen: Wenn § 184 Abs. 3 des Strafgesetzbuches neu formuliert wird, sollte bei dieser Gelegenheit eine Präzisierung vorgenommen werden. Der Begriff „Gewaltpornographie" im § 184 ermöglicht in der Pauschalität, wie er dort verwendet wird, die Diskriminierung von Menschen — ich meine erwachsene Menschen —, die Sexualpraktiken bevorzugen, welche für Unbeteiligte, die den emotinalen Hintergrund nicht kennen, gewalttätig erscheinen und die es in Wirklichkeit nicht sind, da sie im gegenseitigen Einvernehmen bzw. auf Wunsch der Beteiligten in dieser Form stattfinden. Gewalt im eigentlichen Sinne liegt in den Fällen, die ich hier meine, nicht vor. Pornographie, die wirklich Gewalt im Sinne der Mißachtung der Selbstbestimmung beinhaltet, ist vom visuellen Eindruck her von der SM-Pornographie nicht unterscheidbar. Der Kampf gegen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts Erwachsener im Zusammenhang mit der Produktion pornographischen Materials kann im Gegensatz zum Kampf gegen die Pornographie mit Kindern ausschließlich im Herstellungsprozeß geführt werden, nicht durch den strafrechtlichen Umgang mit dem fertigen Produkt. Der Begriff „Gewaltpornographie" erzeugt im Zusammenhang mit § 184 eine erhebliche Rechtsunsicherheit und macht auch hinsichtlich der Intention dieses Paragraphen wenig Sinn.Völlig anders ist die Situation bei der Pornographie mit Kindern. Hier muß grundsätzlich immer von einem Gewaltverhältnis ausgegangen werden. Es ist daher richtig, nicht nur die Herstellung und den Vertrieb, sondern auch den Erwerb und den Besitz derartiger Produkte strafrechtlich und vor allem mit aller Konsequenz zu verfolgen.
Als nächster spricht der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Schmidt und Frau Kollegin Männle haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Kinder zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft zählen. Sie bedürfen unseres besonderen Schutzes. Ich bin deshalb der Kinderkommission des Deutschen Bundestages und auch den frauenpolitischen Sprecherinnen der Fraktionen sehr dankbar, daß sie schon im letzten Jahr mit dem Antrag „Maßnahmen gegen Kinderpornographie" die Aufmerksamkeit auf besonders üble Perversionen Erwachsener gelenkt haben, vor denen wir die Kinder schützen müssen.Im Bundesministerium der Justiz ist auf Grund dieses Antrages bereits geprüft worden, inwieweit gesetzgeberische Maßnahmen im Bereich des Strafrechts ergriffen werden müssen und können, um das berechtigte Anliegen des vorliegenden Antrags, nämlich den besseren Schutz der Kinder vor sexuellem Mißbrauch, durchzusetzen.Das geltende Strafrecht bedroht zwar schon im § 176 StGB Täter des sexuellen Mißbrauchs von Kindern — eine solche Straftat ist ja Gegenstand von kinderpornographischen Videofilmen — mit Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren. Auch ist die Veröffentlichung und Verbreitung von Kinderpornographie nach § 184 Abs. 3 StGB strafrechtlich absolut verboten. Aber obwohl diese Strafvorschriften eigentlich hätten verhindern sollen, daß kinderpornographische Produkte überhaupt entstehen und auf den Markt — „Markt" jetzt einmal in Anführungsstrichen — gelangen, gibt es sie, wie wir bereits von den Vorrednerinnen gehört haben, immer noch und mehr denn je. Die Gründe macht der vorliegende Entschließungsantrag deutlich.Deshalb ist im Bundesministerium der Justiz der Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes mit dem Titel „Kinderpornographie" erarbeitet worden, der das geltende Strafrecht ergänzt.
Er ist bereits mit den anderen Ressorts abgestimmt und wird jetzt den Ländern, die da auch eine ganz wichtige Rolle spielen, zur Stellungnahme zugeleitet. Der Gesetzentwurf soll möglichst noch in diesem Jahr eingebracht werden.
Er sieht vor, den Strafrahmen für die Verbreitung kinderpornographischer Schriften, Ton- und Bildträger, Abbildungen und anderer Darstellungen auf Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe zu erhöhen, den bisher straffreien Besitz kinderpornographischer Darstellungen mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe zu bedrohen und die Einziehung von kinderpornographischen Darstellungen unabhängig davon zu ermöglichen, ob sie weiterverbreitet werden sollen oder nicht. Damit wären wohl die Forderungen, die in dem Entschließungsantrag unter II, Nummern 1, 2 und 5, genannt worden sind, weitgehend erfüllt.
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Parl. Staatssekretär Rainer FunkeInsbesondere deswegen, weil durch den Konsum von kinderpornographischen Filmen der Markt für solche Produkte geschaffen wird, die praktisch nur durch sexuellen Mißbrauch von Kindern entstehen können, erscheint es auch angemessen, schon den bloßen Besitz — man muß es so sagen — dieser Machwerke unter Strafe zu stellen. Dies haben wir auch in anderen Bereichen, in dem wir z. B. den Besitz von Drogen unter Strafe stellen.Die Erhöhung des Strafrahmens auf drei Jahre Freiheitsstrafe für die Verbreitung harter Pornographie sollte sich allerdings auf kinderpornographische Produkte beschränken. Denn nur hier greift der straferhöhende Gesichtspunkt der mittelbaren Förderung des Kindesmißbrauchs ein. Insoweit kommen wir, glaube ich, Ihren Bedenken schon durchaus nach.Durch diese Straferhöhung wird zugleich auch einem der unter Nummer 3 des Antrags genannten Anliegen Rechnung getragen. Der erweiterte Strafrahmen führt nämlich zur Verlängerung der Verjährungsfrist von drei auf fünf Jahre für die Verbreitung und Veröffentlichung von Kinderpornographie.Eine Verlängerung der Verjährung für die Delikte des sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen, die in § 174 StGB geregelt ist, und des sexuellen Mißbrauchs von Kindern — wie erwähnt, in § 176 StGB — wird nach einer unter Nummer 3 des Antrages ebenfalls angeregten Prüfung demgemäß nicht empfohlen.Für die in der Forderung Nummer 5 des Antrages angesprochene Abschöpfung des Gewinns aus der Kommerzialisierung von Kinderpornographie dürfte sich bereits jetzt aus den §§ 73 ff. StGB eine ausreichende gesetzliche Grundlage ergeben. Die beabsichtigte Einführung der Bruttogewinnabschöpfung wird diese Regelung sogar noch verbessern.In einem weiteren Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz ist die in der Forderung Nummer 9 des Antrages angesprochene Ausweitung der Geltung des deutschen Strafrechts hinsichtlich des sexuellen Mißbrauchs von Kindern im Ausland umgesetzt worden. Hier will ich kurz das Stichwort „Sextourismus" erwähnen.Bisher gilt das deutsche Strafrecht nach § 5 Nr. 8 StGB für solche Auslandstaten nur, wenn Täter und Opfer Deutsche sind und hier ihre Lebensgrundlage haben. Der Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes zu den §§ 175 und 182 StGB, der jetzt mit den beteiligten Bundesressorts abgestimmt wird, sieht eine Erweiterung des deutschen Strafrechtsschutzes vor. Ausländische Kinder werden hiernach unabhängig von den in ihrer Heimat geltenden Schutzaltersgrenzen durch das deutsche Strafrecht vor dem sexuellen Mißbrauch durch deutsche Täter, die hier ihre Lebensgrundlage haben, geschützt.
Diese Fälle sind von Ihnen auch ausführlich in den bisherigen Beiträgen genannt worden.
Ich weiß, daß diese Frage zwar sehr wichtig ist; aber wir müssen natürlich mitbedenken, daß dies auch zuKomplikationen mit ausländischen Regierungen führen kann. Denn hier liegt sicherlich ein gewisser Eingriff in die Souveränität der jeweiligen Länder vor. Ich erwähne nur einmal, daß in den Hauptproblemländern auf diesem Gebiet, in Thailand und auf den Philippinen, die Schutzaltersgrenzen mit 14 und 12 Jahren anders gesetzt sind als bei uns, so daß diese Länder von Eingriffen in ihre Souveränität sprechen könnten.Man sollte demgemäß die tatsächlichen Möglichkeiten der Strafverfolgung in solchen Fällen nicht überschätzen. Dennoch glaube ich, daß diese gesetzlichen Änderungen erfolgen müssen.Um die Anwendung des deutschen Strafrechts auf die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie im Ausland zu erreichen, bedarf es keiner gesetzgeberischen Initiative. Gemäß § 6 Nr. 6 StGB gilt bereits für alle Straftaten nach § 184 Abs. 3 StGB — Verbreitung sogenannter harter Pornographie und deren Vorbereitung — unabhängig vom Recht des Tatorts deutsches Strafrecht.Auch die in der Forderung Nummer 10 des Antrags empfohlene Erwägung einer Änderung des Strafverfahrensrechts dürfte derzeit keinen weiteren gesetzgeberischen Bedarf aufzeigen; denn bereits nach geltendem Verfahrensrecht kann den Belangen des geschädigten Kindes wohl in ausreichender Weise Rechnung getragen werden.Ein im Herbst 1990 vom Land Hessen ins Leben gerufenes Projekt mit dem Titel „Einsparung von Zeugenvernehmungen von Kindern in Strafverfahren" kann möglicherweise aufzeigen, ob weitere verfahrensrechtliche Erleichterungen für Kinder geschaffen werden sollten. Aber man sollte die Erfahrungen mit diesem Projekt in Hessen erst einmal abwarten, um zu sehen, ob hier ein zusätzlicher Zeugenschutz erforderlich ist.Zu den weiteren Forderungen des vorliegenden Antrags, die teils andere Bundesressorts, teils den Kompetenzbereich der Länder betreffen, möchte ich hier und heute im einzelnen nicht Stellung nehmen. Ich möchte aber nochmals meinen Dank an die Initiatoren des Antrags wiederholen und meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daß wir das Ziel, nämlich einen besseren Schutz von Kindern und für Kinder, gemeinsam erreichen. Der Bundesminister der Justiz wird jedenfalls das in seinen Kräften Stehende dafür tun.Vielen Dank.
Als nächster hat die Abgeordnete Trudi Schmidt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor 14 Tagen haben wir über die Änderung des § 218 StGB, über den Schutz des ungeborenen Lebens, ganztägig debattiert. Heute bleibt den einzelnen Fraktionen eine halbe Stunde, um die Notwendigkeit des Schutzes unter uns lebender Kinder vor sexuellem Mißbrauch darzustellen, zu begründen, warum § 184 Abs. 3 StGB verschärft werden muß. Ich werde wohl manches wie-
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Trudi Schmidt
derholen, was hier schon gesagt wurde. Aber ich denke, man kann gar nicht oft genug auf die Problematik hinweisen.
Was Kindern da angetan wird, wie nicht nur die Körper dieser Kleinen geschändet, sondern auch ihre Seelen zerbrochen werden, das wurde in einer Expertenanhörung zur Kinderpornographie am 29. März 1990 in erschütternder Weise dargestellt. Die Sachverständigen haben übereinstimmend festgestellt, daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern, der mit der Herstellung von Kinderpornographie verbunden ist, weitreichende psychische und physische Folgen für die betroffenen Kinder hat, die häufig ein Leben lang andauern. Verlust der sexuellen Identität, Abgleiten in die Prostitution, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, körperliche Schäden wie Unterleibsbeschwerden sind nur die Spitze des Eisberges.Die Anhörung hat auch gezeigt, daß sich Kinderpornographie und der damit verbundene Mißbrauch von Kindern durch neue Medien wie Video und Btx in erschreckendem Maße ausweiten. Millionenumsätze werden im Pornographiehandel erzielt. Kommt es aber zu einem Strafverfahren, wird dieses häufig bei Zahlung einer Geldbuße und Rückgabe der Ware eingestellt. Im Verhältnis zu den Gewinnen liegen die Geldbußen in einer lächerlichen Höhe.
Ich denke, daß nicht nur der § 184 Abs. 3 StGB, der den Straftatbestand „Vertrieb pornographischer Schriften " zum Inhalt hat, wie im vorliegenden Antrag vorgeschlagen, um den Straftatbestand „Besitz" erweitert und verschärft werden muß, sondern daß auch der § 176 StGB — sexueller Mißbrauch von Kindern — so verschärft werden sollte, daß in jedem Falle Freiheitsstrafen in solcher Höhe bemessen werden, daß die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann.Wenn nach Schätzungen des Bundeskriminalamts 25 % der Mädchen in der Bundesrepublik sexuellen Mißbrauch am eigenen Körper erfahren haben, dann müßte auch das Strafmaß für Eltern verschärft werden, die diese verbrecherischen Handlungen an ihren Kindern zulassen, die ihre Kinder zur Herstellung pornographischer Filme vermieten. Allzuoft erfolgen Freisprüche oder milde Urteile von Richtern, die wenig sensibel für die Qualen der Kinder sind. Hier müßte eine intensive Schulung von Richtern erfolgen, um sie für die psychische Situation der Kinder zu sensibilisieren.
In jedem Fall von sexuellem Mißbrauch sollten die Kinder aus der Famillie herausgenommen werden. Leider gibt es bei uns viel zu wenige Kinderschutzzentren, in denen die Kinder nicht nur untergebracht, sondern auch von geschulten Psychologen und Sozialarbeitern mit dem Ziel betreut werden, den angerichteten Schaden so weit wie möglich wieder zu heilen.Unumgänglich ist es auch, eine Anzeigepflicht für Ärzte, Sozialarbeiter und Lehrer einzuführen, um die Qual der Kinder nicht noch dadurch zu verlängern, daß sich der Kreis der Personen, die als erste Verdacht schöpfen — das sind in der Regel Ärzte und Lehrer — vor einer Anzeige drücken.
Als Verbesserung in der Strafprozeßordnung unterstütze ich die Vorschläge, die in der Anhörung gemacht wurden, z. B. die Beiordnung einer Anwältin bei Bekanntwerden sexuellen Mißbrauchs für das betroffene Opfer, die Beschränkung sowohl des Verfahrens auf die Tatsacheninstanz als auch der Glaubwürdigkeitsüberprüfung in Prozessen, um weitere psychische Belastungen für das Kind in Grenzen zu halten.Um der Täter überhaupt habhaft zu werden, sind die Kontrollmöglichkeiten an öffentlichen Verkaufsstellen zu verbessern. Dazu gehören in erster Linie die Verbesserung der Ausstattung von Vollzugsbehörden, die Einrichtung von Sonderdezernaten, die bessere Zusammenarbeit zwischen Zollbehörden und Polizei zur Bekämpfung des Versandhandels sowie die Schaffung internationaler Kooperationsvereinbarungen zur Bekämpfung der Herstellung von Kinderpornographie im Ausland.Nach allem, was wir zum Thema Kinderpornographie heute gehört haben, kann nur durch eine Verschärfung der bestehenden Gesetze, also auch durch eine Strafbarkeit des Besitzes und eine Abschöpfung der Gewinne, der Markt ausgetrocknet werden, um das Martyrium der betroffenen Kinder zu beenden.Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch einmal, wieviel Leid gerade Jugendlichen zugefügt wird, die an der Herstellung harter Pornographie beteiligt sind, der Gewaltpornographie, die sich erst durch die Freigabe der Pornographie allgemein in diesem erschreckenden Maße ausgedehnt hat.Zum Schluß noch ein Blick in die Bibel. Christus, der Mann des Friedens, der predigte, seine Feinde zu lieben, denen, die uns hassen, Gutes zu tun, der sagte „Wer euch auf die rechte Wange schlägt, dem haltet auch die linke hin" , kannte, wenn es um das Wohl von Kindern geht, keine Gnade. Von ihm stammen die Worte: Wer einen dieser Kleinen zum Bösen verführt, für den wäre es besser, er würde mit einem Mühlstein um den Hals im tiefen Meer versenkt. — Danke.
Als nächster spricht der Abgeordnete Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war in den Beiträgen der Vorrednerinnen und Vorredner sehr oft von Schätzungen über das Ausmaß und den Umfang dieses schrecklichen Phänomens die Rede, über das wir heute sprechen; aber es war sehr wenig von gesicherten Zahlen und Erkenntnissen die Rede.In der Tat, wenn man sich einmal in der Literatur umschaut, welchen kriminologischen und soziologi-
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Dr. Eckhart Pickschen Hintergrund das Thema Kinderpornographie hat, ist man enttäuscht. Es gibt wenig nachvollziehbare Fakten und Daten. Es gibt mehr Ahnung von der Größe des Problems. Ich darf als Beispiel aufführen, daß in dem rechtsvergleichenden Standardwerk von Simson und Geerds „Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte" aus dem Jahre 1969 das Stichwort „Kinderpornographie" überhaupt nicht auftaucht.Daraus ist zu folgern, daß das Thema Pornographie und vor allem das Thema Kinderpornographie erst in jüngster Zeit aktuell geworden ist, offensichtlich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Medien. Der privat gedrehte Film und noch mehr das Video haben erst ermöglicht, diese Form der Perversion sozusagen umlauffähig und damit vermarktungsfähig zu machen. Denn diese Techniken können — anders als etwa der in der Öffentlichkeit gezeigte Film, im geheimen zirkulieren, mit einem dadurch ziemlich geringen Entdeckungsrisiko.Inzwischen scheint das Geschäft mit der Kinderpornographie so attraktiv zu sein, daß es eine Form der internationalen Kriminalität geworden ist. Ich glaube, auf diese Entwicklung muß unsere Gesellschaft und müssen letztlich auch wir als Gesetzgeber reagieren.In dem Gutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, der sogenannten Gewaltkommission, wird das Thema Pornographie als Teil bzw. Vorstufe der Gewalt eingeordnet. Ich darf daraus zitieren:Entwürdigende Darstellungen von Gesellschaftsgruppen in den Medien legitimieren ihre aggressive Mißachtung. Von solchen Degradierungen sind in den Medien vor allem die Frauen betroffen...Und weiter:Darüber hinausgehend werden Frauen in pornographischen Darstellungen als bloße Objekte gezeigt . . .Diese Beurteilung gilt — das möchte ich hinzufügen — in einem besonderen Maße für Kinderpornographie. Kinder sind in einem solchen Falle erst recht Objekte von Gewalt und Voyeurismus, weil sie sich am wenigsten wehren können, weil sie Gegenstand unwürdigster Ausbeutung sind.Besonders gefährlich scheint mir in diesem Zusammenhang die Gewöhnung an die mißbräuchliche Benutzung von Kindern zu sein — gefährlich deswegen, weil die pornographische Ausbeutung von Kindern sozusagen als normal und üblich angesehen werden könnte. Damit ist die große Gefahr verbunden, daß Hemmschwellen fallen und daß die Bereitschaft zur Gewalt gefördert wird.Kinderpornographie ist schließlich auch Ausdruck der Einstellung unserer Gesellschaft — zumindest eines Teiles — zu Kindern überhaupt. Kinderfeindliche Einstellung dokumentiert sich sehr vielfältig. Gerade auf diesem Gebiet sind der Phantasie — wie so oft — keine Grenzen gesetzt. Sie ergibt sich sicher auch aus der Geschichte, obwohl diese Erkenntnis relativ wenig gesichert ist. Gewalt mit Geschäft verbunden — damit müßte das Unwerturteil unserer Gesellschaft eigentlich einhellig und ausnahmslos sein.Wir wissen, daß in vielen Fällen auch die Familien, die ihre Kinder für pornographische Aufnahmen zur Verfügung stellen, insbesondere wenn sie aus den Entwicklungsländern kommen, mit zu den Ausgebeuteten gehören. Oft ist die Zustimmung zur pornographischen Aufnahme der Versuch, die familiäre Not zu lindern. In diesen Fällen darf die berechtigte Empörung nicht daran hindern, die sozialen Ursachen zu ergründen und Mißstände zu beseitigen.Auch wenn solche Produkte sexueller Gewalt an Kindern nicht Notlagen entstammen, sondern in scheinbar intakten Familien vorkommen und nur der Gewinnsucht oder sexuellen Motiven dienen, sind jedenfalls die Familienbande zerstört.Das Strafrecht — das ist eine allgemeine Erkenntnis — sollte das letzte Mittel sein, und es sollte auch ganz gezielt eingesetzt werden. Die Höhe der Strafe muß abhängig sein von der Schwere des Verstoßes gegen allgemeingültige Normen unseres Rechtsgüterschutzes.Rechtsgut, meine Damen und Herren, ist im Falle der Kinderpornographie einmal das Recht an der eigenen Persönlichkeit, die bei Kindern besonders zerbrechlich und schützenswert ist, und damit auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, und zwar völlig unabhängig vom Lebensalter. Kinderpornographie ist so gesehen die körperliche und seelische Mißhandlung der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft.Wenn man die neueste polizeiliche Kriminalstatistik von 1990 zugrunde legt, wurden 1990 insgesamt 392 Fälle von Verbreitung pornographischer Erzeugnisse an Personen unter 18 Jahren festgestellt, also nach den Tatbeständen des § 184 Abs. 1 und seinen Nummern. Dabei geht es ganz allgemein um die Überlassung pornographischer Erzeugnisse an Minderjährige.Es fällt auf, daß zu dem hier in erster Linie einschlägigen Tatbestand, nämlich dem des § 184 Abs. 3 StGB, der die sogenannte harte Pornographie betrifft, auch in dieser aktuellen Statistik nichts enthalten ist. Wir müssen fragen, warum. Das ist zumindest auch kennzeichnend für die Situation.Das Fehlen dieser statistischen Erhebungen zeigt, daß sich diese menschlichen Dramen auch jetzt noch zum allergrößten Teil im Verborgenen abspielen, innerhalb der Familie, die eigentlich Schutz darstellen sollte. Das ist das eigentlich Perverse, das gezielte Ausnutzen der Arglosigkeit da, wo sie eigentlich am ehesten gerechtfertigt ist, im Kreise der Familie.Ich glaube, daß die bisherige Einstufung der Kinderpornographie als Vergehen überdacht werden muß. Wir wissen, die Höchststrafe ist ein Jahr Freiheitsstrafe, bzw. es wird eine Geldstrafe verhängt. Aber es muß die Frage erlaubt sein, ob hier nicht eine Mindeststrafe eingeführt werden sollte. Ich finde, das ist im Verlaufe der parlamentarischen Beratungen zu überlegen. Damit wäre allerdings die Einstufung der Kinderpornographie als Verbrechen verbunden; das muß man dabei sehen. Ich kann mir zumindest nicht
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Dr. Eckhart Pickvorstellen, daß der Strafrahmen genauso bleibt wie bisher, z. B. vergleichbar mit dem beim Straftatbestand „Erschleichen von Leistungen" . Beispielsweise ist das Schwarzfahren mit genau derselben Strafandrohung belegt — ein Jahr Höchststrafe — wie die Kinderpornographie. Das wäre an anderen Straftatbeständen auch noch nachzuweisen.Die vom Gesetzgeber getroffene Einordnung ist zuletzt im Jahre 1973 durch das Vierte Strafrechtsreformgesetz bestätigt worden. Damals ist die sogenannte harte Pornographie durchaus als Problem gesehen worden. Man muß diese Vorschrift immer im Kontext mit dem § 176 StGB sehen, der den sexuellen Mißbrauch von Kindern unter 14 Jahren unter Strafe stellt.Wir haben festzustellen, daß die Entwicklung Formen angenommen hat, die der Gesetzgeber nicht voraussehen konnte. Sie ist zu einem nationalen und internationalen Problem geworden.In der hoffentlich in diesem Hause in Kürze zu verabschiedenden UNO-Kinderrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten in Art. 34 — ich zitiere —,... das Kind vor allen Formen der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen Mißbrauchs zu schützen. Zu diesem Zweck treffen die Vertragsstaaten insbesondere alle geeigneten innerstaatlichen, zweiseitigen und mehrseitigen Maßnahmen, um zu verhindern, daß Kinder ... für pornographische Darbietungen und Darstellungen ausgebeutet werden.Aus dieser Konvention ergeben sich für uns Verpflichtungen und Anleitungen zum Handeln,
und dies sicher auch auf strafrechtlichem Gebiet, sowohl was den Strafrahmen betrifft als auch die Differenzierung nach der Schwere der Rechtsgutverletzung. Ich finde, daß auch die Frage erörtert werden muß, ob z. B. das Herstellen solcher Pornos nicht in einem besonderen Maße verwerflich ist. Ich bin der Auffassung, daß auch der Besitz unter Strafe gestellt werden sollte.Es ist von den Vorrednerinnen und Vorrednern auch schon gesagt worden, daß die Verjährungsfrage insbesondere im Zusammenhang mit den Presserechten der Länder angesprochen werden muß, damit die Strafverfolgung auch noch nach Jahren, vor allem auf Anzeige der Betroffenen, noch einsetzen kann.Ich möchte schließlich noch auf einen Punkt kommen, der mir in diesem Zusammenhang — im Rahmen der Sanktionen — besonders wichtig zu sein scheint. Ich denke dabei an die Abschöpfung der Gewinne. Ich bin mit Ihnen, Herr Funke, nicht ganz der Meinung, daß in diesen Fällen schon durch die Verfallsregelungen eine Lösungsmöglichkeit angedeutet ist. Denn Sie wissen, daß durch § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB der Verfall ausgeschlossen ist, wenn Ansprüche — auch nur potentielle Ansprüche — des Opfers in Rede stehen.Insofern erinnere ich an unseren Vorschlag der Abschöpfung von Gewinnen, also an ein Phänomen, das nicht nur im Rahmen der Drogenkriminalität und der internationalen Kriminalität eine Rolle spielt. Dieses Instrument könnte eingesetzt werden, um eine echte Gewinnabschöpfung — und nicht nur etwa die Beschlagnahme und Einziehung des Materials — zu gewährleisten.
Es muß insgesamt riskanter und nicht lohnenswert sein, sich an diesem Geschäft zu bereichern.Eines allerdings — auch das ist schon gesagt worden — kann das Strafrecht nicht schaffen, nämlich solche Fehlentwicklungen überhaupt zu verhindern. Der Hinweis auf die Anhörungen hat ja auch ergeben, daß entsprechende flankierende Maßnahmen notwendig sind: Aufklärung und Mithilfe bei der Entdeckung solcher Straftaten und die Mitwirkung von Zeugen sind wichtig. Noch wichtiger sind aber therapeutische Begleitung der Betroffenen, in erster Linie der Kinder, aber auch der Familie.Letztlich kommt es darauf an, daß wir das Bewußtsein dafür schärfen, daß Kinderpornographie kein Kavaliersdelikt ist, sondern eine besonders häßliche Form sexuellen Mißbrauchs von Kindern.
Als nächster spricht der Abgeordnete Herbert Werner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Kinderpornographie handelt es sich um eine besondere Form sexuellen Mißbrauchs und sexueller Gewaltanwendung gegenüber abhängigen und widerstandsunfähigen Personen, vorwiegend Kindern. Sie ist deswegen besonders verwerflich.Verwerflich in einem besonderen Maße ist auch die Tatsache, daß darüber in unserer Gesellschaft in der Öffentlichkeit viel zuwenig gesprochen wird und daß zumeist der Mantel des Schweigens, aus welchen unvernünftigen Gründen auch immer, über dergleichen Vorgänge und Vorfälle gelegt wird.Wir haben es auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik Deutschland im Jahr — so lauten die Aussagen der Fachleute — mit etwa 61 000 bis 65 000 sexuellen Mißhandlungen und Gewaltanwendungen bei Kindern zu tun. Die Zahl 300 000 ergibt sich aus der Gesamtzahl der Belästigungen auf dem Hintergrund von Hochrechnungen und wird, wie Sie wissen, von manchen Fachleuten relativiert und als eine sogenannte Skandalzahl bezeichnet. Aber ich meine, es geht hier nicht um Zahlen. Vielmehr muß das jeweilige Einzelschicksal ganz ernstgenommen werden, und man muß hier handeln.Das Gewaltpotential und das Aggressionspotential sind überall in unserer Gesellschaft vorhanden, und zwar leider auch und gerade in unseren Familien. Der Tatort Familie ist schon wiederholt angesprochen worden. Es ist gerade dieser Tatort, an dem in überwiegendem Maße Kinderpornographie produziert, erworben, verbreitet und gehandelt wird.Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir uns alle darüber Gedanken machen, wie wir auf den verschiedenen Interventionsfeldern handeln. Das
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Herbert Werner
Stichwort Aufklärung ist schon angesprochen worden. Die Aufklärung über Kinderpornographie, über Anwendung sexueller Gewalt und über sexuellen Mißbrauch hat im Elternhaus zu beginnen. Es muß zu einem Thema der Schulen werden, es muß zu einem Thema sämtlicher Organisationen werden, die sich mit Jugendhilfe und Jugendarbeit beschäftigen.Ich meine, gerade hier sind der Bund, vor allem aber die Länder und die Kommunen aufgerufen, endlich im Rahmen des neu geschaffenen Kinder- und Jugendhilferechts zu handeln. Handeln müssen sie auch mit der Schaffung besonderer Zufluchtsstätten für die betroffenen Kinder und für deren Familienangehörige. Es gibt leider viel zuwenig Kinderschutzzentren, und es gibt viel zuwenig Frauenhäuser, und — ich sage das im Wissen um die Probleme der Finanzierung — meist sind sie in einer Lage, daß sie stets um ihre eigene Existenz kämpfen müssen.Es gibt viel zu wenig zielgerichtete, und zwar familiengerichtete, ganzheitliche Therapiemöglichkeiten und -einrichtungen. Es genügt nicht, lediglich das psychologische oder psychiatrische Gespräch mit dem betroffenen mißhandelten Kind zu führen; vielmehr muß auch der Täter in seinem sozialen Umfeld nicht nur zunächst erfaßt werden, sondern er muß innerhalb dieses Umfeldes auch kurz- und langfristig behandelt werden.
Wenn eine solche therapeutische Möglichkeit nicht gegeben ist, dann, aber erst dann muß man den Täter aus der Familie herausnehmen und auf Dauer separieren.Daß wir den Besitz wie die Produktion und das Handeln mit solchen pornographischen Erzeugnissen verbieten müssen, ist, glaube ich, eine allgemein akzeptierte Tatsache; es ist wohl auch eine Tatsache, daß zumindest bei labilen Personen das Zuschauen zum Nachahmen anregt. Es muß uns auch Anlaß zum Nachdenken sein, daß 40 % der Täter während ihres Lebensweges selbst einmal Opfer waren. Gerade deswegen ist es so wichtig, Verbreitung und Besitz von Kinderpornographie zu unterbinden.Zum Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß wir ab 1993 in einem Europa ohne Grenzen leben werden, in einem Europa, in dem Btx und sonstige modernste Kommunikationssysteme frei konvertierbar, aneinanderschaltbar und austauschbar sein werden. Damit ergeben sich ganz besondere Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Mißbrauch dieser Systeme.Ich möchte hier an dieser Stelle sagen, daß es mir und uns in keiner Weise genügen kann, wenn die Post zwar zugibt, daß auch ihre Systeme mißbräuchlich in Anspruch genommen werden können, dann aber gleichzeitig erklärt, man könne hier nichts tun; denn der Mißbrauch werde durch den jeweiligen Mieter von Leitungen, von Verfügungsnummern und dergleichen durchgeführt. — Hier muß der Gesetzgeber, so meine ich, gleichfalls handeln; denn hier gilt es, dem Bösen zu wehren.Daß wir schließlich auch die im Ausland oder an Ausländern im Zusammenhang mit Kinderpornographie von Deutschen begangenen Straftaten verfolgen müssen, ist wohl eine Selbstverständlichkeit.Das Wichtigste scheint mir zu sein, daß wir in den Familien die Möglichkeit eröffnen, wieder miteinander das vertrauensvolle Gespräch zu führen, und daß wir von seiten der öffentlichen Hand, des Staates jede mögliche Hilfe und Unterstützung dafür anbieten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Eimer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Beurteilung des unappetitlichen Gegenstandes der heutigen Beratung erübrigt sich, glaube ich, jede weitere Diskussion. Die Empörung ist ganz allgemein.Um es klar zu sagen: Es geht nicht um die normale Pornographie, sondern um die sogenannte harte Pornographie, d. h. die Darstellung der Unzucht mit Kindern. Sie selbst ist verboten. Die davon erzeugten pornographischen Videokassetten — um diese handelt es sich meistens — sind ebenfalls verboten. Sie dürfen nicht hergestellt, eingeführt und vertrieben werden.Auf Grund dieser Verbote müßte sich die heutige Debatte eigentlich erübrigen. Leider sieht die Realität jedoch anders aus. Technische Entwicklungen machen eine Änderung und Ergänzung der Gesetze notwendig.Durch die Änderung der Herstellung dieser Erzeugnisse ist eine Gesetzeslücke entstanden. Dem Täter kann der Handel mit diesen ekelhaften Erzeugnissen kaum nachgewiesen werden. Die Händler brauchen nicht mehr ein Lager für derartige Machwerke, sondern benötigen nur ihre sogenannten Masterkassetten und die entsprechenden Leerkassetten. Meldet sich ein Kunde, so können schnell Kopien gezogen werden, und der Kauf wird vollzogen. Damit ist der Handel schwer nachweisbar, und der Täter ist kaum zu überführen. Wie gesagt, weder der Besitz von harter Pornographie noch der Besitz von Leerkassetten ist bisher verboten.Da das Strafmaß sehr gering ist, kommen die Straftäter, falls man sie erwischt, zu allem Überfluß auch noch sehr glimpflich davon. Daher brauchen wir dringend ein Besitzverbot, damit die Täter überführt und bestraft werden können. Dabei geht es mir vor allem darum, daß mit jeder Aufnahme Kinder mißbraucht werden, ihre Seelen zerstört werden und sie für ein Leben lang gestört sind.Nachdem der Handel nicht über die üblichen Wege, also z. B. über Videotheken, erfolgt, sondern die Produkte privat vertrieben werden, sind neue Formen der Ermittlung nötig. Die „normalen" pornographischen Erzeugnisse, die über Videotheken vertrieben werden, haben mit dem Vertriebsweg und der Herstellung der hier besprochenen Kinderpornographie nichts zu tun, wie eine bayerische Ministerin in der bayerischen Staatszeitung glauben machen will. Damit wird nur diffamiert.
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3964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Norbert Eimer
Ich glaube aber, daß diese Sache ernst genug ist, so daß wir alle zusammenstehen und möglichst schnell zum Handeln kommen müssen. Ich bin deswegen sehr dankbar, daß diese Debatte hier so abgelaufen ist.Dazu gehört selbstverständlich auch, daß die Hersteller dieser pornographischen Werke dann strafrechtlich verfolgt werden müssen, wenn die Tat im Ausland erfolgt und das Kind nicht ein deutsches ist.Weil die mir zur Verfügung stehende Redezeit nicht so lang ist, kann ich nicht auf alle Punkte eingehen und hinweisen. Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit die Bundesregierung bitten, zu prüfen, ob dieses Thema nicht zum Anlaß genommen werden sollte, den Jugendschutz insgesamt neu zu überdenken. Neue Zeiten, neue Medien und neue Techniken erfordern auch neue Überlegungen und neue Gesetze.Nachdem jugendgefährdende Sendungen europaweit über Satellit ausgestrahlt werden, dürfen wir uns eigentlich nicht mehr leisten, was wir uns zur Zeit der alten Bundesrepublik geleistet haben, als wir ca. 25 Gesetze hatten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Jetzt sind es natürlich noch mehr, nämlich zwei Bundesgesetze — das Gesetz gegen jugendgefährdende Schriften und das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit — und zusätzlich in den Ländern Rundfunkgesetze mit Jugendschutzparagraphen sowie die Gesetze zu den neuen Medien. Hinzu kommen noch Staatsverträge wie der Btx-Vertrag.Ich meine, wir können uns das nicht mehr leisten. Ich bitte das Ministerium, zu überprüfen, ob wir diese Gesetze nicht zu einem einzigen bundesweiten Jugendschutzgesetz zusammenfassen könnten.Ich will eine zweite Anregung geben. Wir haben in den heute käuflichen Videogeräten elektronische Schalter, die den Videorecorder über das VPS-System rechtzeitig einschalten, wenn eine Sendung beginnt. Warum sollten wir nicht das gleiche System benutzen, und mittels elektronischer Filter die Sendungen, die für Jugendliche nicht geeignet sind, rechtzeitig ausschalten, wenn die Eltern dies wollen und entsprechend programmieren? Die Sender müßten nur die Information, für welches Alter eine Sendung geeignet ist, über das VPS-System mitliefern.Meine Damen und Herren, neue Techniken zum Schaden unserer Kinder eröffnen auch die Chancen zu neuen Techniken zum Schutz unserer Kinder. Meine Anregung soll aber nicht falsch verstanden werden. Ich will mit meinen Vorschlägen für eine große Lösung nicht eine kurzfristig erreichbare kleine Änderung verhindern. Ich bitte die Bundesregierung vielmehr, schnell zu handeln. Der interfraktionelle Antrag zeigt, daß das Parlament dies zum Thema Kinderpornographie auch tun will. Ich danke vor allem dem Parlamentarischen Staatssekretär für seine Ausführungen. Er gibt mir Hoffnung.Vielen Dank.
Als letzter spricht zu diesem Tagesordnungspunkt der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte der Hoffnung, die der Kollege Eimer angesprochen hat, nicht wehren und auch nicht widersprechen. Aber ich verspüre am Ende dieser Debatte doch eine gewisse Ohnmacht angesichts der von vielen Rednerinnen und Rednern zu Recht und zutreffend beschriebenen Schwierigkeiten, den bedrohten Kindern wirksam zu helfen. Davon wollen wir uns nicht bange machen lassen.Gerade deshalb fühlt sich das Bundesministerium für Frauen und Jugend, das ja auch Kinderministerium ist, herausgefordert, der Gewalt gegen Kinder zu begegnen. Denn unser bedrückendes Thema weist ja weit über das Strafrecht und seine Möglichkeiten hinaus.Für die weitere Arbeit an diesem Thema bleibt die Frage: Wie kann aus unseren guten Worten eine für die Kinder gute Wirklichkeit werden? Fünf Aufgaben stellen sich aus meiner Sicht. Ich möchte sie zusammenfassend kurz anreißen.Was müssen wir tun, damit sich die bedrückende Situation verändert, die heute alle Debattenteilnehmer beschrieben haben?Erstens. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen und zusammenfassen, den Tätern ihr mieses Handwerk zu legen. Die körperliche und seelische Beschädigung von Kindern muß durch wirksame Strafen verhindert werden. Datenschutz etwa bei der Post darf nicht zum Täterschutz werden. Die Öffentlichkeit muß durch intensive Diskussionen des Themas aufgerüttelt werden.Zweitens. Wir müssen den Konsumenten klarmachen, daß sie selbst zu den Tätern gehören. Wir müssen den Bereich wirksamer tabuisieren. Wir müssen erreichen, daß die Kunden vor dem Gefühl, Täter zu sein, zurückschrecken und von ihrer Tat ablassen.Drittens. Lehrer, Erzieherinnen und Eltern, aber auch Nachbarn und Freunde müssen wir sensibel machen für das Erkennen von Kindesmißbrauch. Das gilt für Ausbildung, für Fortbildung, für Begleitung. Dabei geht es nicht um einen pauschalen Verdacht gegen die Familie. Aber daß das Unmögliche auch in der Familie nebenan möglich sein kann, müssen wir, denke ich, öffentlich klarmachen.Viertens. Wir müssen den Kindern bei Bedrohung Ansprechmöglichkeiten und Hilfen zugänglich machen. Es gibt interessante Projekte — ich denke etwa an das Projekt „Schlupfwinkel" in Erfurt — , wo Organisationen damit anfangen, solche Ansprechmöglichkeiten noch deutlicher zu machen. Ich meine, das müssen wir unterstützen. Wir werden auch, denke ich, den Vorschlag von Herrn Eimer aufnehmen müssen, uns zu überlegen, ob nicht den neuen Formen der Bedrohung auch neue Formen der Hilfe gegenübergestellt werden müssen.Fünftens, so meine ich, ist es die Aufgabe, uns für eine Erziehung einzusetzen, die die eigenständige
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Parl. Staatssekretär Peter HintzePersönlichkeit von Kindern achtet, ihr Selbstwertgefühl stärkt und ihre Widerstandskraft gegen Übergriffe fördert.
Aus der Sicht der Bundesregierung begrüße ich daher die interfraktionelle Initiative nachdrücklich. Herr Kollege Funke hat eben dargestellt, daß wir mit einer Gesetzesinitiative das, was im Bereich des Rechtes, im Bereich des Strafrechts geleistet werden kann, um die abschreckende, die präventive Wirkung zu erhöhen, angehen wollen. Das gilt für die Erhöhung des Strafrahmens von einem auf drei Jahre Freiheitsstrafe. Das gilt für die Einführung der Strafbarkeit des Besitzes von Kinderpornographie sowie die Erleichterung des Einzugs solcher Darstellungen und für eine Reihe anderer Regelungen, die im interfraktionellen Antrag auch angesprochen sind.Das allein kann aber nicht ausreichen. Die Bundesregierung will dazu beitragen, das Bewußtsein der Öffentlichkeit für dieses Thema zu stärken. Ziel muß es sein, die Kinder vor einem direkten Mißbrauch zu schützen. Ziel muß es aber auch sein, das Risiko der Händler, Hersteller und Käufer solcher Machwerke durch die Strafverfolgung so zu erhöhen, daß sie von ihrem Tun ablassen.Um dies zu erreichen, bedarf es nach meiner Überzeugung einer breit angelegten Kampagne gegen den Mißbrauch von Kindern, gegen Gewalt gegen Kinder, gegen den sexuellen Mißbrauch von Kindern, von dem Kinderpornographie nur ein schrecklicher Ausschnitt ist.Wenn uns das gelingen soll, wenn wir dem Mißbrauch von Kindern in seinen verschiedenen Erscheinungsformen — einschließlich der heute gründlich diskutierten Frage der Kinderpornographie — wirksam begegnen wollen, dann brauchen wir ein noch größeres Bewußtsein dafür, daß Eingriffe in die körperliche, geistige und seelische Integrität von Kindern kein Kavaliersdelikt sind, daß hier die Grenze des Verträglichen nicht verletzt, sondern meilenweit überschritten ist.Ich möchte zum Schluß kommen. Kinder haben einen unverlierbaren Anspruch auf die Achtung der Unverletztlichkeit ihrer Würde und auf eine unbelastete Entwicklung in ihrem eigenen Leben. Damit dieser Anspruch Wirklichkeit wird, müssen wir nicht nur als Gesetzgeber handeln. Wir benötigen vor allen Dingen mehr Informationen, mehr Aufklärung, neue Ideen, mehr Initiativen zum Thema sexueller Mißbrauch, zum Thema Kinderpornographie, zum Thema Gewalt gegen Kinder insgesamt.Wir haben gemeinsam mit dem neuen Kinder- und Jugendhilferecht institutionelle Möglichkeiten gesucht und geschaffen, um dem zu begegnen. Es darf auch nicht die Organisation der Betreuung und Begleitung von mißbrauchten Kindern zu kurz kommen, damit sie aus ihrer Beschädigung wieder herausfinden.Die Bundesregierung will gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag alles tun, um das zu verwirklichen, um die Rechte, den Schutz und das Leben von Kindern zu gewährleisten.Ich danke Ihnen.
Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/709 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz
13. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes
— Drucksache 12/553 —Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Das findet Ihre Zustimmung.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heribert Blens.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren jetzt erneut zu sehr später Stunde und erneut am Hochzeitstag des Datenschutzbeauftragten über dieses Thema.
Er hat nun einmal das Pech, und wir werden trotzdem diskutieren. Herr Einwag, wir haben aber vereinbart, die Aussprache nicht zu lange zu führen, damit Sie noch zu Ihrer Frau kommen.Meine Damen und Herren, der 13. Tätigkeitsbericht des Datenschutzbeauftragten unterscheidet sich von den meisten seiner Vorgänger der letzten Jahre in einem ganz wesentlichen Punkt. Die meisten Berichte der letzten Jahre begannen im wesentlichen damit, zu sagen: Der Übergangsbonus nach dem Volkszählungsurteil läuft bald aus; das Datenschutzgesetz muß renoviert werden; es muß ein neues Gesetz kommen; der Bundestag steht unter Druck, und nun macht endlich voran!Beim 13. Bericht hört es sich ganz anders an. Auf der Seite 6 steht: Es ist erfreulich, daß das neue Bundesdatenschutzgesetz im Berichtsjahr noch verabschiedet und verkündet worden ist. — Es wird auch darauf hingewiesen, wie schwierig es war, es dann trotz plötzlich veränderter Mehrheiten im Bundesrat im Vermittlungsausschuß doch noch über die Bühne zu bringen.Herr Einwag, Sie haben allen gedankt, die daran mitgewirkt haben. Wir nehmen das dankend zur
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Dr. Heribert BlensKenntnis. Aber ich gebe den Dank auch an Sie zurück. Denn Sie haben uns allen — ich glaube, das kann ich für alle Fraktionen sagen, die an den Gesetzen mitgearbeitet haben — jederzeit mit Rat und Tat zur Verfügung gestanden und zu dem guten Ergebnis wesentlich beigetragen.Meine Damen und Herren, der Bericht enthält aber auch den Hinweis darauf, daß mit dem neuen Datenschutzgesetz, mit dem Verfassungsschutzgesetz, dem MAD-Gesetz und dem BND-Gesetz noch nicht alle notwendigen Konsequenzen aus dem Volkszählungsurteil gezogen worden sind. Es werden weitere Gesetze geändert werden müssen. Ich denke, daß wir den Weg, den wir in der letzten Wahlperiode gut gegangen sind, auch in dieser Wahlperiode weitergehen werden und daß wir zu weiteren Verbesserungen und Konkretisierungen des Datenschutzes kommen werden.Ich will einen zweiten Punkt nennen, der ebenfalls erfreulich ist. Herr Einwag hat in seinem Bericht auch in diesem Jahr wieder darauf hingewiesen, daß bei den Bundesbehörden der Datenschutz anerkannt ist. Er hat gesagt, daß es trotzdem für ihn noch ein schwieriges Stück Arbeit ist, im Einzelfall bei seinen Kontrollen den Datenschutz immer so durchzusetzen, wie er es für richtig hält. Aber er sagt auch, daß sich die Erfolge seiner Arbeit sehen lassen können. Ich denke, wenn wir den Bericht lesen, können wir das bestätigen. Sie können sicher sein, Herr Einwag, daß wir Sie auch in Zukunft bei Ihrer Arbeit in Sachen Datenschutz unterstützen werden.Der dritte Punkt. Sie haben im Bericht darauf hingewiesen, daß es immer wieder neu Diskussionen über Datenschutz und Verbrechensbekämpfung gibt und daß insbesondere nach terroristischen Anschlägen immer wieder die Behauptung erhoben wird, der Datenschutz behindere die erfolgreiche Arbeit der Polizei und der Ermittlungsbehörden.Ich stimme Ihnen zu, daß dann, wenn es so wäre, in der Tat über Änderungen des Datenschutzgesetzes nachgedacht und diskutiert werden müßte. Als jemand, der an diesem Gesetz mitgewirkt hat, kann ich nur sagen, ich fühle mich in hohem Maße für eine solche Veränderung verantwortlich, wenn die Erforderlichkeit nachgewiesen ist. Aber genau das ist der entscheidende Punkt. Es reicht nicht aus, allgemein zu behaupten, es sei notwendig, Datenschutzgesetze zu ändern, und allgemein zu behaupten, die Datenschutzgesetze behinderten die polizeiliche Tätigkeit. Wenn wir tätig werden sollen, dann muß konkret gesagt und nachgewiesen werden, welche Vorschriften des Datenschutzrechts welche polizeilichen Maßnahmen unmöglich gemacht oder ernsthaft behindert haben. Ohne diese Konkretisierung der Vorwürfe können wir als Gesetzgeber nicht tätig werden. Eine solche Konkretisierung habe ich bisher noch nirgendwo gehört.Ein vierter Punkt. Sie haben im Bericht auf Probleme des Datenschutzes auch in den neuen Ländern hingewiesen. Sie sagen, daß in den neuen Ländern viel guter Wille bei den Behörden vorhanden ist. Aber natürlich ist es unvermeidbar, daß auch beim Datenschutz in den neuen Ländern Probleme auftreten. Wir haben den neuen Ländern von heute auf morgen unser gesamtes, und zwar sehr kompliziertes, Rechtssystem übergestülpt. Wir haben es Behördenapparaten übergestülpt, die dieses Recht nicht kannten und die am 3. Oktober vergangenen Jahres zum Teil nicht einmal die Gesetzestexte hatten. Was für das gesamte Rechtssystem gilt, gilt natürlich auch für das Datenschutzrecht. Wir können nicht erwarten, daß die Behörden der neuen Länder von heute auf morgen in der Lage sind, das Rechtssystem perfekt anzuwenden. Deswegen ist es erforderlich, auch in Sachen Datenschutz immer wieder Hilfe und Beratung zu gewähren und anzubieten. Vor allen Dingen brauchen wir alle etwas Geduld. Herr Einwag, ich bin sicher, daß Sie als Bundesdatenschutzbeauftragter alle diese drei Dinge haben.Ich glaube, ein besonders gravierendes Problem des Datenschutzes ergibt sich aus der Existenz der Stasi-Unterlagen, und zwar hier speziell der Opferakten. Bei diesen Unterlagen ergibt sich das Problem des Datenschutzes.
Ich meine, es ist wirklich das datenschutzrechtlich brisanteste Material, das es in Deutschland gibt und das wir da liegen haben. Der Mißbrauch dieses Materials kann für Betroffene zu katastrophalen Folgen führen. Deshalb müssen wir diesem Material unsere besondere Aufmerksamkeit schenken.Was die rechtliche Beurteilung angeht, so gilt: Als die Daten erhoben wurden, als die Leute bespitzelt wurden, als ihre Telefone abgehört wurden, galt doch drüben nicht das Grundgesetz. Wir können also nicht sagen: Die Erhebung war verfassungswidrig. Aber seit dem 3. Oktober 1990, dem Tag, an dem die Wiedervereinigung vollzogen wurde, sind diese Unterlagen im Besitz des Bundes, und sie unterliegen uneingeschränkt dem Grundgesetz. Das heißt, daß wir die Normen des Grundgesetzes auf dieses Material anwenden müssen und danach verfahren müssen.
— Bei der Verwendung. — Auch das Innehaben von Daten unterliegt den Normen des Grundgesetzes.Das Bundesverfassungsgericht hat schon sehr früh, nämlich im September 1955, gesagt:Artikel 1 des Grundgesetzes mit dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen anerkennt für jeden Menschen eine ureigene Intimsphäre, die allen staatlichen totalen Inquisitionen und Registrierungen entzogen bleiben muß. Die schrankenlose Durchleuchtung persönlicher Verhältnisse verstößt deshalb gegen Artikel 1 des Grundgesetzes.Meine Damen und Herren, genau das trifft auf die Stasi-Opferakten, die durch totale Bespitzelung der Menschen zustandegekommen sind, zu.Daraus ergeben sich mindestens zwei Konsequenzen — das scheinen mir die wichtigsten zu sein — :Erste Schlußfolgerung: Die Opferakten, deren Inhalt in so hohem Maße gegen die oberste Verfassungsnorm des Grundgesetzes verstößt, sind der Verwertung durch die Behörden des Rechtsstaats zum
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Dr. Heribert BlensNachteil des Opfers grundsätzlich entzogen. Dahinter muß jedes andere Interesse des Staates, auch das Interesse des Staates an der Strafverfolgung zurücktreten. Ich denke, daß wir das im Stasi-Unterlagen-Gesetz auch so festlegen müssen.Zweite Schlußfolgerung: Der Rechtsstaat ist nicht berechtigt, die Opferakten mit dem in so hohem Maße verfassungswidrigen Inhalt gegen den Willen der Betroffenen aufzubewahren und zu erhalten. Deshalb muß der Betroffene das Recht haben, die Vernichtung seiner Akte zu verlangen. Dafür kann es meines Erachtens auch keine Fristen geben, innerhalb deren die Opferakten zunächst einmal aufbewahrt werden sollten, um irgendwelche anderen staatlichen oder wissenschaftlichen Interessen zu befriedigen. Andere Interessen, z. B. das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Stasi-Systems, müssen in diesem Fall hinter dem Grundrechtsschutz zurückstehen. Der Grundrechtsschutz geht vor.Ich denke, es ist gut, daß diese beiden Punkte auch nach der Anhörung über das Stasi-Unterlagen-Gesetz nun von allen Fraktionen auf breiter Basis anerkannt werden. Ich hoffe, daß sie so in das Stasi-UnterlagenGesetz Eingang finden. Aber wir müssen wissen: Mit dem Gesetz allein ist zwar eine Menge erreicht, aber es ist nicht alles an Datenschutz erreicht. Es wird auch nach Erlaß des Gesetzes ständiger Begleitung und ständiger Kontrolle bedürfen.Herr Einwag, ich möchte Ihnen — wenngleich ich glaube, daß wir das kaum zu sagen brauchen — gerade dieses brisante Material, die Stasi-Unterlagen und insbesondere die Opferakten, in den nächsten Jahren Ihrer besonderen Obhut empfehlen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Gerd Wartenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Diskussionen der Datenschutzberichte sind zu einer wichtigen und guten Tradition in diesem Hause geworden. Manches an diesen Diskussionen ist zuweilen etwas ritualisiert, aber ich glaube, man muß trotzdem immer wieder auf einige Grundsätze hinweisen. Deswegen will ich auch diesmal feststellen, daß es sich bei der Wahrnehmung datenschutzrechtlicher Belange um eine Form des Grundrechtsschutzes und nicht um Spielereien aufgeregter, buntgefiederter Exoten am Rande der Gesellschaft handelt, wie es hin und wieder leider immer noch dargestellt wird.
Datenschutz dient zunächst der Sicherung der Grundrechte der Bürger, darüber hinaus aber auch der Sicherung des demokratischen Systems. Das Bundesverfassungsgericht hat sowohl im Volkszählungsurteil als auch im Brokdorf-Urteil auf die konstitutive Bedeutung des Datenschutzes hingewiesen.
Meine Damen und Herren, der Datenschutz ist immer wieder vor Diffamierungen in Schutz zu nehmen. In der letzten Debatte hat hier als Schlußredner ein Herr gesprochen, der uns als Staatssekretär Hintze annonciert wurde. Da war plötzlich der Datenschutz bei der Post schuld für die Kinderpornographie. So einfach ist das. — Der Satz ist so gefallen. Es gibt Probleme bei Btx, ohne Frage. Aber der pauschale Satz, der Datenschutz bei der Post sei sozusagen Täterschutz, ist nicht gut. Er fiel mir auf. Wir haben das aber sehr häufig. Die widerwärtigste Diffamierung besteht darin, daß der Datenschutz immer wieder als Täterschutz dargestellt wird. Nach dem Anschlag auf Detlev Karsten Rohwedder haben sich der Präsident des Bundeskriminalamtes . . .
Herr Wartenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Das machen wir gleich. — ... und Teile der konservativen Politik wieder zu der Behauptung verstiegen, eine wirksame Terrorismusbekämpfung scheitere am Datenschutz. Diese Behauptungen sind nicht in einem einzigen Fall bewiesen. Sie stellen lediglich eine allgemeine Herabsetzung des Datenschutzes dar. Der Datenschutz verkommt so zum Prügelknaben, um Hilflosigkeit bei der Strafverfolgung zu kompensieren. Solche Tendenzen müssen bekämpft werden. — So, jetzt können Sie in diesem Zusammenhang Ihre Frage stellen.
Herr Abgeordneter Hintze.
Herr Kollege, sind Sie bereit anzunehmen, daß ich mich für die Verkürzung, die möglicherweise in der Aussage liegt, entschuldige? Ich bitte Sie aber auch, mir die Frage zu beantworten, ob sie zur Kenntnis nehmen, daß es in Bereichen der Post — etwa was Postschließfächer und diverse andere Dinge angeht, die alle dem interfraktionellen Antrag zu entnehmen sind — eine Reihe von Möglichkeiten gibt, die die Täter in diesem bedrükkenden Bereich nutzen. Es ging mir nicht um eine pauschale Verkürzung, wie das von Ihnen mißverstanden wurde.
Ich nehme Ihnen das gerne ab. Aber trotzdem bitte ich insbesondere Mitglieder der Bundesregierung, darauf zu achten, nicht so pauschal über diesen sensiblen Bereich zu urteilen und Kausalitäten herzustellen, die sich so nicht ergeben. Das ist wirklich ein Problem in unserer Gesellschaft.
— Ein solcher Spruch wirkt leider sehr, sehr hart, vielleicht nicht so sehr in einer Debatte, die öffentlich weniger wahrgenommen wird, aber in anderen Bereichen. Wir haben das pausenlos. Ich will das gar nicht irgendeiner Partei zuweisen. Wir haben diese Probleme. Ich bitte Sie, darauf Rücksicht zu nehmen.Allerdings muß ich Ihnen sagen: Das ist nicht ein spezielles Problem etwa der Pornographie, sondern es ist überall so, daß es datenschutzrechtliche und damit eben auch grundrechtsähnliche Bestimmungen gibt, die bestimmte Strafverfolgungsmaßnahmen ausschließen. Das ist ein Abwägungsproblem. Man kann nicht im Einzelfall für eine noch so gut gemeinte Sache bestimmte Grundsätze durchbrechen. Denn dann
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Gerd Wartenberg
stellt man fest, daß man in große Konflikte kommt. Ich bin bereit, bei bestimmten Dingen auch in diesem Zusammenhang darüber nachzudenken. Aber diese Pauschalität geht einfach nicht. Wir bekommen dann überall, etwa bei der Strafverfolgung, die gleichen Probleme. Ich bitte, darüber nachzudenken. Es ist ein grundsätzliches Problem. Es sagt sich immer so einfach, daß der Datenschutz schuld an diesen Dingen sei.Meine Damen und Herren, ein wesentlicher Schwerpunkt des 13. Berichts sind die datenschutzrechtlichen Probleme, die sich durch die deutsche Einheit ergeben. Im Gebiet der Beitrittsländer stellt sich insbesondere das Problem, die vorhandenen Daten der ehemaligen DDR auf rechtsstaatlich einwandfreie Grundlagen umzustellen.Kollege Blens hat zu Recht etwas ausführlicher auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die Probleme, die damit verbunden sind, hingewiesen. Das Schlimme ist, daß das Stasi-Unterlagen-Gesetz und die dieses Gesetz betreffenden Akten nur ein kleiner Teil sind. Da ist die Datei der Kriminalpolizei, die Zerschlagung des zentralen Einwohnerregisters — ein ganz wichtiger Punkt — , die Abschaffung des Personenkennzeichens, das Strafregister des ehemaligen Generalstaatsanwalts der DDR, das zentrale Fahrerlaubnisregister, die Register der DDR-Arbeitsverwaltung und der Rentenversicherung sowie der Datenspeicher gesellschaftliches Arbeitsvermögen, was immer das sei. Das sind alles Dinge, die sehr stark in die Rechte der Bürger eingreifen. Es ist ein schreckliches Erbe, das wir übernommen haben.Dieses Erbe muß so gesichert werden, daß unsere Behörden oder auch andere nicht berechtigte Stellen außer den Betroffenen keinen Zugriff auf diese Dateien haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.Aber ich glaube, wenn man diese schrecklichen Dateien hier auflistet, kann man auch ein bißchen stolz sein auf unser Rechtssystem und sagen, wie wichtig so etwas wie Datenschutz in einem Rechtsstaat ist und wie gut er letzten Endes trotz aller Mängel bei uns wirkt.
Wir haben gerade im Vergleich zu dem, was uns die DDR hinterlassen hat, eben nicht diese schrecklichen Probleme in unserem Gesellschaftssystem gehabt. Wir haben immer wieder Korrekturen machen müssen, aber der Unterschied zeigt sich gerade in diesem Bereich doch wieder sehr deutlich.Ich denke, bei allen diesen Datensammlungen muß — auch darauf hat Herr Blens hingewiesen — der Grundsatz gelten: Der Betroffene hat Anspruch auf die Löschung und auf die Daten insofern, wenn er Ansprüche auf Entschädigung oder andere Dinge gerichtlich sichern will. Aber ansonsten müssen diese unrechtmäßig erworbenen Daten also vernichtet werden, dürfen nicht genutzt werden. Das ist, glaube ich, der Obersatz, um das ganz verkürzt zu sagen, zu dieser Erbschaft.Ich meine, daß gerade der Datenschutz eine sehr positive Rolle spielen kann, das Vertrauen der verunsicherten Menschen in den neuen Bundesländern in unseren Rechtsstaat zu stärken. Wir wissen, daß sich im Moment viele noch nicht mit unserem Rechtssystem wirklich vertraut gemacht haben, aus verschiedenen sozialen Gründen in vielen Bereichen vielleicht auch noch kein Vertrauen in die komplizierten Materien entwickeln konnten. Ein offensiver Datenschutz und die Vermittlung des Datenschutzgedankens könnten eine große Rolle spielen, um dieses Vertrauen in unser Gesellschaftssystem, das wir jetzt alle gemeinsam haben, zu stärken.In diesem 13. Datenschutzbericht geht es aber nicht nur um die deutsche Einheit, sondern natürlich wie immer auch um die hausgemachten Probleme. Es ist ja auch die eigentliche Aufgabe des Datenschutzbeauftragten, diese zu monieren und darüber zu wachen, daß seine Monita auch zu einer Veränderung des Verwaltungshandelns führen — notfalls dadurch, daß er anmahnt, daß eben gesetzliche Regelungen geschaffen werden sollten.Von den Ressorts der alten Bundesrepublik steht im Mittelpunkt der Kritik des Datenschutzbeauftragten zum wiederholten Male der Postminister. Seine Dickfelligkeit bei der Weigerung, die seit Jahren diskutierten Vorschläge zur notwendigen Verbesserung des Datenschutzes aufzugreifen, ist schon skandalös.Auch die Telekom ist in ihren drei Datenschutzverordnungen keineswegs diesen Anregungen gefolgt. Der Bundesrat hat erst am 27. September, bezogen auf die Datenschutzverordnung für die posteigenen Dienste, erhebliche Veränderungen gefordert. Vielleicht besteht nunmehr die Hoffnung, daß die angestrebten datenschutzrechtlichen Vorkehrungen beispielsweise bei der Display-Problematik oder der Verbindungsdatenaufzeichnung zufriedenstellend getroffen werden. Allerdings geht das offensichtlich immer wieder nur mit großem Druck auf den Postminister.Wie zu hören ist, soll es auf das Bemühen der Bundesregierung zurückzuführen sein, daß für die ISDNRichtlinie der Europäischen Gemeinschaft sehr allgemeine Regelungen vorgeschlagen werden, um die deutschen Regelungen beibehalten zu können. Bei dieser Problematik sind andere Länder, z. B. Frankreich, sehr viel weitergegangen. Es ist schon bemerkenswert, daß der deutsche Postminister unermüdlich bemüht ist, besseres EG-Recht zu verwässern.Meine Damen und Herren, ich will noch auf einen kleinen Punkt in diesem Bericht hinweisen. Wir wissen, daß Geheimdienste dem besonderen Mißtrauen der Abgeordneten ausgesetzt sind, und zwar aus gutem Grund. Es gibt einen Vorgang, der besonders ärgerlich ist.Der Datenschutzbeauftragte ist von Petenten gebeten worden, Vorgänge über ihre Person beim Bundesnachrichtendienst zu kontrollieren. Nach Eingang der Anfragen beim Bundesnachrichtendienst hat, bevor der Datenschutzbeauftragte kontrollieren konnte, der Bundesnachrichtendienst sämtliche Daten gelöscht und die entsprechenden Aktenunterlagen vernichtet. Das mag ein kleiner Fall sein, es ist aber ein skandalöser Fall. Wenn wir uns im Moment zu Recht damit herumschlagen und darüber aufregen, daß das MfS kurz vor Ende der DDR versucht hat, Datenbestände
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Gerd Wartenberg
in großem Maße zu vernichten, dann darf bei uns auch nicht im kleinsten Fall bei einem Geheimdienst solch ein Versuch gemacht werden. Das ist unerträglich.Ich will damit überhaupt nicht BND und MfS gleichstellen. Aber es ist in der jetzigen Situation außerordentlich gefährlich, über die eigentliche Aufgabe hinaus so etwas zu machen. Es ist vom Grundsatz her problematisch; aber eben auch aus den Erfahrungen, die wir in den letzten zwei Jahren machen konnten, wird diese Problematik verstärkt. Ich hoffe, daß gerade beim Bundesnachrichtendienst, der sowieso von uns de facto unkontrolliert agiert, solche Dinge nicht mehr geschehen.Was vielleicht im Zusammenhang mit den Datenschutzberichten auch noch wieder angesprochen werden muß, ist, daß durch die Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes zwar im öffentlichen Bereich viele Verbesserungen vorgesehen sind, daß aber im nichtöffentlichen Bereich noch viele Mängel sind. Es ist nach wie vor notwendig, ergänzende spezialgesetzliche Regelungen für das Kreditgewerbe, das Versicherungswesen, die Auskunfteien und Detekteien zu schaffen.Seit drei Legislaturperioden verspricht die Bundesregierung im Arbeitnehmerdatenschutz etwas zu machen, genauso wie eine Novellierung des Personalaktenrechtes überfällig ist. Die Regierung ist hier seit Jahren im Verzug. Ich finde es eigentlich ziemlich unerträglich, daß trotz der Versprechungen, die gemacht worden sind, hier wieder nichts geschieht.Meine Damen und Herren, der 13. Datenschutzbericht ist nicht spektakulär, aber er hat ganz wichtige Punkte. Daß er nicht spektakulär ist, liegt vielleicht auch daran, daß sich der Datenschutzgedanke im weitesten Sinne doch durchgesetzt hat, d. h. daß sich die Monita, von Einzelfällen abgesehen, im Rahmen dessen, was in einem Rechtsstaat kontrolliert und moniert werden muß, halten. Das ist einerseits erfreulich, andererseits gibt es genug Punkte — so beim Postminister oder in anderen Bereichen — , die weiterhin kritisch von uns begleitet werden müssen. Dabei müssen wir uns selbst nochmal an die Brust klopfen. Es hat keinen Sinn, die Monita zur Kenntnis zu nehmen, wenn wir im Detail im zuständigen Innenausschuß — damit sind wir alle betroffen — das nicht nachkontrollieren, denn nur dann ist der Datenschutzbeauftragte wirksam, wenn das Parlament und der zuständige Ausschuß auch bereit sind, zu kontrollieren, ob das, was moniert worden ist, auch abgestellt und geändert worden ist. Dies ist von uns für mindestens vier Datenschutzberichte nicht mehr geleistet worden.Zum Schluß möchte ich dem Datenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeitern für ihre wichtige und wertvolle Arbeit danken.
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den beiden Reden, die wir gehört haben, kann ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken.Der Bericht ist lang und lesenswert. Ich teile die 1 Beurteilung, daß der Postminister sich in der Tat einmal persönlich um die Fragen des Datenschutzes in seinem Hause kümmern sollte. Die Fragen des Datenschutzes im Bereich des Fernmeldewesens und des Fernsprechwesens berühren viele Bürger in ihrer Privatsphäre. Es ist schwer einzusehen, daß gerade in diesem Bereich wirtschaftlichen und technischen Interessen fast durchweg der Vorrang vor Privatinteressen, vor dem Schutz der Privatheit gegeben wird. Es ist immer ein mühsames Geschäft, hier zu einigermaßen akzeptablen Regelungen zu kommen.Ich begrüße es — das ist hier eben lang ausgeführt worden —, daß der Bericht mit dem Schlagwort, daß Datenschutz Täterschutz sei, einmal wirklich abrechnet und überzeugend darstellt und belegt, daß das in vielen Fällen nicht mehr als eine Formel, eine Ausrede ist. Früher hat man gesagt: Das geht aus steuerlichen Gründen nicht. Und heute sagt man, das geht aus Gründen des Datenschutzes nicht. Man muß mit dieser Pauschalformel endlich einmal aufhören; die ist langweilig.Der Bericht stellt in eindrucksvoller Weise die besonderen Schwierigkeiten dar, die sich aus dem ganz anderen Datenschutzverständnis in der früheren DDR ergeben, wo Datenschutz nicht Schutz der Privatsphäre bedeutete, sondern Datensicherheit, Perfektionismus der Datenverarbeitung. Jeder, der den Datenschutz für eine übertriebene Marotte von Abgeordneten hält, die sonst nicht viel zu tun hätten, der sollte sich mit diesem System der Datenverarbeitung in der DDR einmal vertraut machen.
— Ich meine damit nicht nur Journalisten, sondern auch eine Reihe von Kollegen dieses Hauses, die sich nicht genug über Fragen des Datenschutzes blähen können, ohne sich allerdings ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen.
Also, wer das als Marotte abtun will, der sollte sich mit diesem System, mit der Datenverarbeitung in der früheren DDR, beschäftigen, um zu sehen, daß wir uns darum bemühen, ein altes traditionelles Rechtsgut, eben den Schutz der Privatheit, zu schützen, nicht vor der technischen Entwicklung, aber um das Gleichgewicht zu erhalten, das durch die technische Entwicklung verändert wird, weil sie die Kontrolle des einzelnen in einer vorher nicht gekannten Weise ermöglicht, ohne daß er es selber bemerkt.Der Bericht setzt sich mit der Novellierung des Bundesdatenschutzgesetzes auseinander. Es ist richtig, daß wesentliche Fortschritte im Datenschutz in diesem Gesetz erzielt worden sind. Aber man kann und sollte nicht verschweigen, daß wir eine wesentliche Ungleichbehandlung des Datenschutzes im öffentlichen und im privaten Bereich in Kauf genommen haben, was mit den besonderen Schwierigkeiten im privaten Bereich zusammenhängt. Trotzdem ist das eine Aufgabe, der wir uns intensiv widmen müssen, nicht nur im Bereich des Arbeitnehmerdatenschutzes. Ich bin ganz sicher, daß wir wesentlich weiter wären,
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Dr. Burkhard Hirschwenn es über die Kontrolle im privaten Bereich und über die Datenverarbeitung im privaten Bereich ebenso intensive Berichte geben würde wie über die öffentliche Datenverarbeitung.Schließlich müssen wir uns mit besonderer Sorgfalt der Europäisierung der Datenverarbeitung zuwenden. Die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen führen zu intensiven grenzüberschreitenden Datensystemen, eben nicht nur im privaten Bereich, sondern auch im öffentlichen. Da besteht die Gefahr, daß die Harmonisierung im europäischen Bereich sich nicht auf dem hohen Standard entwickelt, wie wir ihn im öffentlichen Bereich erreicht haben. Das ist eine ganz wesentliche und schwierige Aufgabe, der wir in dieser Legislaturperiode den Vorrang einräumen müßten, gerade im Zusammenhang mit den vielen und notwendigen grenzüberschreitenden Datensystemen, auch im Bereich der Polizei, im Ausländerwesen, überhaupt in der informellen Zusammenarbeit der Schengener Staaten.Letzte Bemerkung: Auch wir möchten dem Datenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeitern für die wirklich umfrangreiche, wichtige und erfolgreiche Arbeit danken. Ich hoffe, daß wir bei den Haushaltsberatungen Lösungen finden, die — wie man in Bonn zu sagen pflegt — es ihnen ermöglichen, damit zu leben.Vielen Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile nun das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesinnenminister, Dr. Horst Waffenschmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mit einem doppelten Dank beginnen. Auch ich möchte zunächst gerne unserem Datenschutzbeauftragten ein ganz herzliches Wort des Dankes sagen, insbesondere für die intensive Arbeit in den neuen Bundesländern.
Ich meine, es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den neuen Ländern nahezubringen, daß Datenschutz auch ein Stück der wichtigen Sicherung der person-lichen Lebenssphäre ist, wie wir das in einer freiheitlichen Demokratie verstehen. Ich finde, in dem Geist, wie heute Ihnen hier gedankt wurde, Herr Einwag, sollten wir gemeinsam die Aufgaben angehen, die noch anstehen. Hier ist in den letzten Monaten mit viel Intensität gearbeitet worden. Mehrere Kollegen haben deutlich gemacht, im Hinblick auf die Aktenberge, die zu bearbeiten sind, im Hinblick auf Datensammlungen, die noch große Anstrengungen von uns erfordern, wird unsere gemeinsame Anstrengung besonders notwendig sein.
Ich will aber auch einen zweiten Dank sagen. Er sollte — und ich finde, das steht der Regierung gut an — hier ausgesprochen werden. Es war durch die Bewilligung des Parlaments möglich, Ihrer Behörde 13 zusätzliche Stellen zu geben, und Initiativen für weitere Stellen sind in Arbeit. Denn wenn wir hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, fordern, daß manches im Hinblick auf den Datenschutz noch besser wird, dann müssen wir unserem Datenschutzbeauftragten natürlich dazu auch die Möglichkeiten geben. Im vergangenen Jahr ist dies in einem guten Schritt nach vorn mit 13 zusätzlichen Stellen gelungen und sollte im Etat 1992 fortgesetzt werden. Herr Einwag, wir haben eben darüber gesprochen.
Meine Damen und Herren, noch zwei Anmerkungen zu den wesentlichen Schwerpunkten des Berichts: Ich nehme gerne mit, was hier an notwendigen Verbesserungen gefordert worden ist, und sage zu, daß wir uns darum bemühen werden. Ich habe die große Hoffnung, daß diese Bemühungen erfolgreich sind; denn durch diesen Bericht geht es wie durch einen Leitfaden, daß der Datenschutz immer mehr im Bewußtsein der Mitarbeiter verankert ist. Wer sich den Ablauf im Alltag der Behörden ansieht, kann mit einer guten Befriedigung feststellen, daß Datenschutz im Alltag der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat, und zwar in der notwendigen sachgerechten Weise, die wir alle miteinander wollen, und nicht in einer überspitzten Weise.
Das kommt auch darin zum Ausdruck, Herr Einwag, daß Sie als Datenschutzbeauftragter erstmalig in dieser Art und Weise einige Behörden in der Anwendung des Datenschutzes hervorheben und sie dafür in besonderer Weise mit Lob bedenken, daß der Datenschutz in einer modellhaften und beispielhaften Weise gelungen ist.
Ich will meine kurzen Ausführungen damit schließen: So ein Hinweis ist besonders günstig, besonders sachgerecht und besonders zu unterstreichen. Ich möchte mich mit den Kolleginnen und Kollegen in der Regierung dafür einsetzen, daß im nächsten Bericht weitere Behörden als modellhaft in ihrem Tun für den Datenschutz herausgestellt werden können.
Herzlich Dank.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wissen, daß heute abend parallel zu unserer Sitzung noch eine Vielzahl von Veranstaltungen stattfinden, bei denen viele Kolleginnen und Kollegen anwesend sein müssen. Ich bitte daher, damit einverstanden zu sein, daß die Kolleginnen Frau Köppe und Frau Jelpke, ihre Redebeiträge zu Tagesordnungspunkt 12 zu Protokoll geben.
Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das mit erforderlicher Mehrheit so beschlossen. *)*) Anlage 2
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3971
Vizepräsident Helmuth BeckerDer Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage, Drucksache 12/553 — das ist der jetzt behandelte Datenschutzbericht — , an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zum letzten Punkt der heutigen Tagesordnung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der am 29. Juni 1990 beschlossenen Änderung und den am 29. Juni 1990 beschlossenen Anpassungen zum Montrealer Protokoll vom 16. September 1987 über Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen— Drucksache 12/1232 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Forschung, Technologie und TechnikfolgenabschätzungNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Klaus Harries das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Montrealer Protokoll und die nachfolgenden Ergänzungen sind ein Beweis dafür, daß auch auf internationaler Ebene verbindliche Absprachen möglich und Erfolge für den Schutz der Umwelt und damit für die Menschen dieser Erde zu erzielen sind. Der Ausstieg aus FCKW und Halogenen ist ein Beispiel dafür, daß man international nicht nur redet, sondern auch handelt. Diese hervorragende Entwicklung läßt uns hoffen. Ich erwarte insbesondere für die Konferenz in Rio im nächsten Jahr trotz aller Schwierigkeiten eine positive Wirkung aus dem Ausstieg aus FCKW und Halogenen. Inzwischen ist dieser Ausstieg terminlich fixiert und weltweit eingeleitet.
An dieser Stelle möchte ich gleich dem Vorwurf, daß das zu spät komme und wieder zu wenig sei, was man getan und abgesprochen habe, entschieden widersprechen. Ich meine, daß Politik und internationale Verträge und Abmachungen nicht auf Wunschdenken beruhen können, sich nicht einmal an objektiven Notwendigkeiten orientieren, sondern auf Realitäten und nüchternen Interessen beruhen. Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann handelt es sich in der Tat um einen Erfolg.
Anfang der 80er Jahre wurde die Zerstörung der Ozonschicht über der Antarktis wissenschaftlich nachgewiesen, die Ursachen wurden festgestellt. Gegenmaßnahmen wurden relativ schnell eingeleitet und führten zum ersten Protokoll von Montreal im Jahre 1987. Die Ergänzung, um die es heute in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf geht, ist im Juni 1990, also vor über einem Jahr, geändert und präzisiert worden.
Dieses Protokoll, diese Abmachung der Vereinten Nationen tritt in Kraft, wenn 20 Staaten ratifiziert haben. Ich kann hier nur hoffen — ich glaube, darüber sind wir uns einig — , daß diese Zahl 20 baldmöglichst erreicht wird. Ich mache diese Bemerkung deswegen, weil bisher nur die USA und ein zweiter Staat — ich glaube, Frankreich — ratifiziert haben. Wir haben das Ratifikationsverfahren als dritter Staat eingeleitet.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß es nicht nur diese internationale Absprache auf UN-Ebene gibt, sondern daß es auch eine weitere Richtlinie innerhalb der EG gibt und daß wir in der Bundesrepublik Deutschland eine noch stringentere Regelung erfolgreich auf den Weg gebracht haben.
Diese drei Ebenen, von denen ich soeben sprach, Vereinte Nationen, EG und Europa, bedeuten inhaltlich, kurz gesagt, folgendes: Das Montrealer Abkommen sieht eine Reduzierung von FCKW und Halogenen bis zum Jahre 2000 auf etwa 5 % vor. Die EG hat die Frist zur praktischen Nullverwendung einvernehmlich auf 1997 verkürzt. Wir in der Bundesrepublik wollen und werden dieses Ziel bereits 1995 erreichen. Es gibt nach allem, was man hört und bewerten kann, Anzeichen dafür, daß diese Frist verkürzt werden kann.
Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle auch der vielgescholtenen chemischen Industrie ausdrücklich Dank, die hier nicht nur auf staatlichen Befehl hin gehandelt, sondern auch durch Selbstverpflichtung, durch Selbstbindung ganz wesentlich dazu beigetragen hat, daß dieser Ausstieg eingeleitet werden konnte.
Ich sage auch Dank dafür, daß Ersatzstoffe entwikkelt wurden. Denn — das wissen wir alle — FCKW ist ein ganz wichtiger Stoff für vielerlei Zwecke. Erst die Ersatzstoffe haben den Einstieg in eine schnelle Reduzierung ermöglicht und ermöglichen den vollständigen Ausstieg in den nächsten Jahren.
Ich finde es im übrigen auch hervorragend, daß der Bundesumweltminister, Herr Staatssekretär, im nächsten Jahr zu einer internationalen Konferenz eingeladen hat, um sich mit dem Problem der Ersatzstoffe weltweit zu beschäftigen. Denn Ersatzstoffe, meine Damen und Herren, sind die Voraussetzung für den Ausstieg.
Noch einige Zahlen, die von Interesse sind und die wir begrüßen: Der Ausstieg aus FCKW bei der berühmten Spraydose ist heute praktisch bereits vollzogen. Die Anwendung von FCKW bei der Druckgasverpackung, bei Verpackungsmaterial aus Schaumstoff, bei Schaumstoffgeschirr und bei Montageschäumen ist um 36 % reduziert worden. Diesen Weg gehen wir weiter.
Wir erwarten, Herr Staatssekretär, daß dieser Gesetzentwurf in den Ausschüssen sehr schnell beraten, diskutiert wird, so daß wir hier weltweit mit ein Zeichen setzen, daß die Bundesrepublik ratifiziert.
Vielen Dank.
Der nächste Redner ist Dr. Klaus Kübler.
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3972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einer dpa-Meldung von gestern:
Noch nie war die schützende Ozonschicht über der Antarktis so dünn wie jetzt: ,Die neuen Messungen liegen etwa fünf bis zehn Prozent unter dem alten Rekord', berichtet Raumfahrtzentrum der NASA ... Die niedrigsten Werte hatten Forscher zuvor im Oktober 1987 ermittelt.
Und dies — höre und schreibe — auf einem Gebiet, das so groß wie die Sowjetunion ist, also rund 22 Millionen km2.
Die neuesten Messungen stammen von Satelliten und sind — ich zitiere die NASA hier ausdrücklich — zu 98 % sicher. Die Ozonwerte fielen — lassen Sie mich dieses technische Detail bringen — von fast 200 Dobson-Einheiten Mitte August dieses Jahres auf unter 121 Dobson-Einheiten, das ist der bisher niedrigste Wert, Anfang Oktober dieses Jahres. Die Dobson-Einheiten geben die Menge des Ozons in einer Luftsäule an.
Wir wissen, daß sich die Ozonschicht wie ein Schild schützend vor die ultravioletten Strahlen stellt. Diese können bei Menschen Hautkrebs auslösen, bei Tieren Gesundheitsschädigungen herbeiführen und das Pflanzenwachstum zu Land und zu Wasser beeinträchtigen — sprich: im Grunde genommen den gesamten Nahrungsmittelkreislauf gefährden. Zwar nimmt das Ozon über der ganzen Erdkugel ab, doch ist der Rückgang über der Antarktis am ausgeprägtesten.
Der Begriff der riesigen Zukunftsgefahren ist trotz der Reduktionsraten, die jetzt gesetzlich festgelegt worden sind, nicht fehl am Platze. Lassen Sie mich, Herr Harries, einmal eine kurze Übersicht der verwirrenden Vielfalt der Zeiträume, in denen die Produktion und die Anwendung dieser Stoffe eingestellt werden soll, aufführen. Montrealer Protokoll: stufenweiser Ausstieg bis zum Jahre 2000; Enquete-Kommission: weltweiter Ausstieg bis 1997; entsprechende Verordnung der Bundesregierung: Ausstieg bis 1995 — für Ausnahmefälle längerfristig —; EG-Verordnung vom März dieses Jahres: stufenweiser Ausstieg bis Mitte 1997.
Es ist eine verwirrende Vielfalt.
Wir von der SPD stehen nach wie vor zu dem, was wir schon seit mindestens zwei Jahren sehr, sehr deutlich sagen. Dabei, Herr Harries, sagen wir nicht immer nur, daß Sie das schneller durchführen müssen, sondern dem liegt die Frage nach der Philosophie zugrunde, ob es richtiger ist, auf das Freiwilligkeitsprinzip zu setzen, oder ob es richtiger ist, auf gesetzliche Vorschriften, auf das Ordnungsprinzip zu setzen. Wir haben uns für letzteres entschieden. Hätten Sie sich früher auch dazu entschieden, wäre das klüger gewesen. Insofern haben Sie in der Tat zwei Jahre verstreichen lassen.
Lassen Sie mich hier noch einmal kurz unsere Standpunkte ansprechen — ich kann dies wegen der Kürze der Zeit nur in Stichworten anführen — : Sofort-ausstieg dort, wo Ersatzstoffe möglich sind; endgültiger Ausstieg ohne Ausnahmeregelungen bis 1995; Durchsetzung nicht nur eines Anwendungsverbots, sondern auch eines Produktionsverbots — dies ist ein sehr wichtiger Punkt —; Schaffung von Regelungen für die Entsorgungs- und Recycling-Problematik — auch dies ist ein zentraler Punkt —; Aufstellung einer Chlorbilanz der Atmosphäre; Durchsetzung einer Kennzeichnungspflicht.
Nun zu den Aufgaben der Bundesregierung. Ich gebe zu, daß wir in gewissen Punkten übereinstimmen
— das sage ich ohne Wenn und Aber —, mehr als in vielen anderen Bereichen der Empfehlungen der Enquete-Kommission.
Dies ändert nichts daran, daß die Bundesregierung versuchen muß, eine Angleichung des Montrealer Abkommens zu erzielen. Wir können uns nicht mit einem Ausstieg bis zum Jahre 2000 zufriedengeben, auch im Hinblick auf die neuesten Katastrophenmeldungen. Und dies sind in der Tat Katastrophenmeldungen.
Der zweite Punkt. Wir fordern erneut, daß neben dem Anwendungsverbot auch ein Produktionsverbot eingeführt wird.
Ich hoffe, Sie beharren nicht weiter auf dem Freiwilligkeitsgebot bei der Frage der Produktion.
Der dritte Punkt. Ich sage das jetzt ganz bewußt, auch wenn der eine oder andere vielleicht meint, dies sei überzogen. Auch die EG-Regelung, die bislang einen Ausstieg bis 1997 vorsieht, muß auf Grund der neuesten Erkenntnisse erneut revidiert werden. Ich wäre sehr dankbar, wenn wir da Übereinstimmung erzielten.
Vierter Punkt. Es muß in der Tat auch die Frage nach nationalen und internationalen Kontrollinstrumenten gestellt werden, wie Ge- und Verbote in diesem Zusammenhang auch tatsächlich ausgeführt werden.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang abschließend sagen, daß ich dem Umweltminister im internationalen Bereich mehr Bereitschaft zum Konflikt wünschen möchte; ich hatte dies heute schon an anderer Stelle angesprochen. Wenn wir auf internationalem Sektor etwas erreichen und dort Vorbild sein wollen, kommen wir — ich sage dies ganz deutlich — nicht umhin, eine Konfliktstrategie zu fahren. Ich wünsche mir das — ich fordere das auch vom Bundesumweltminister — auch in dieser Frage, wo wir im übrigen in einer gewissen Weise übereinstimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Kollegin Marita Sehn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Antarktis am südlichen Pol unseres Planeten Erde war für die Menschheit über Jahrhunderte hinweg ein Symbol für unberührte, ursprüngliche Natur. Der Eispanzer, der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3973
Marita Sehndiesen Kontinent umgibt, hat ihn vor dem extensiven Raubbau des Menschen bislang weitgehend bewahrt. Der Abbau der natürlichen Ressourcen der Antarktis war und ist einfach zu teuer.Unsere Vorstellungen von einer sauberen und un- berührten Natur in der Antarktis haben sich jedoch als trügerisch erwiesen. Gerade dort, wo für uns die Natur noch unbelastet erschien, zeigten sich die Folgen unseres umweltschädigenden Verhaltens sehr früh und sehr drastisch:Bereits vor 35 Jahren, im Jahre 1956, wurde das Ozonloch, ein Leck in der sensiblen Schutzschicht, die unseren Planeten umgibt, entdeckt. 1974 alarmierten amerikanische Wissenschaftler die Weltöffentlichkeit über die Folgen einer Schädigung der Ozonschicht durch die Verwendung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe. Seitdem ist ein ständiger Rückgang des Ozongehalts in der Stratosphäre zu beobachten, der nicht nur auf die Antarktis-Region beschränkt ist. Er setzt sich inzwischen über den mittleren Breitengrad hinaus fort.Jüngste Satellitenuntersuchungen unter Beteiligung der NASA im Rahmen des Unternehmens „Mission Planet Erde" haben ergeben, daß die Zerstörung der Ozonschicht über der Antarktis weitaus größer ist, als wir bislang angenommen haben. So weist das Ozonloch über der Antarktis nach heutigem Kenntnisstand eine Größe von 20 Millionen Quadratkilometern auf. Dies entspricht etwa der Größe des Territoriums der Sowjetunion oder siebenundfünfzigmal der Größe der Bundesrepublik Deutschland.Angesichts der Bedrohung der Ozonschicht, die für das Leben auf der Erde von existentieller Bedeutung ist, ist die Weltgemeinschaft nicht untätig geblieben. Die Zerstörung der Ozonschicht ist ein globales Problem, das die gesamte Menschheit in ihren Auswirkungen trifft, wenn ihm nicht rechtzeitig in notwendigem Umfang entgegengesteuert wird.Das Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht vom 22. März 1985 und die erste Teilkonkretisierung des Abkommens in Form des Montrealer Protokolls vom 16. September 1987 haben gezeigt, daß die Staatengemeinschaft durchaus willens ist, ein Problem vorauszusehen und abzuwenden, d. h. nach dem Vorsorgeprinzip zu handeln. Das Ziel des Montrealer Abkommens, eine schrittweise Einschränkung der Produktion und des Verbrauchs ozonschichtschädigender FCKW mit dem Reduktionsziel von 50 %, bezogen auf das Basisjahr 1986, ist angesichts der jüngsten Erkenntnisse über den fortgeschrittenen Abbau der Ozonschicht unzureichend.Um so mehr ist die beschlossene Anpassung und Änderung zum Montrealer Protokoll zu begrüßen, die eine Erweiterung der geregelten Stoffe um zehn weitere FCKW-Stoffe sowie die jedes Jahr in hunderttausenden von Tonnen produzierten Substanzen Tetrachlorkohlenstoff und Methylchloroform vorsieht. Die verschärfte Regelung für den Reduzierungsplan der FCKW und Halone ist zwar eine Verbesserung, aber immer noch unzureichend.Da die wichtigsten ozonzerstörenden Stoffe eine Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten haben, würde sich auch bei einem sofortigen Produktionsstopp die stratosphärische FCKW-Altlast noch zehnJahre lang aufbauen. Angesichts solch kaum vorstellbarer Zeiträume ist schnelles und wirkungsvolles Handeln weltweit unabdingbar.
Die Bundesrepublik Deutschland nimmt mit ihrer selbst auferlegten Verpflichtung, den Verbrauch und die Produktion voll halogenierter FCKW bis 1995 einzustellen, weltweit eine Vorreiterrolle ein.
Die Einrichtung eines multilateralen Fonds, der vor allem Entwicklungsländern bei ihrem Ausstieg aus der Produktion und dem Verbrauch ozonschichtschädigender Stoffe helfen soll, wird die Bereitschaft, sich an wirkungsvollen FCKW-Reduktionsmaßnahmen zu beteiligen, sicherlich erhöhen.Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich noch kurz an die Bedeutung des in Madrid beschlossenen Bergbauverbots in der Antarktis bis zum Jahr 2041 eingehen, das von vielen Umweltorganisationen zumindest als Teilerfolg angesehen wird. Dem ist sicherlich zuzustimmen. Die Antarktis ist ein unschätzbarer Seismograph für alle längst vergangenen und zukünftigen Klimaveränderungen. Wir sollten uns davor hüten, durch menschliche Aktivitäten in diesem hochsensiblen Kontinent dieses so wirkungsvolle Frühwarnsystem zu stören oder sogar unwiederbringlich zu vernichten.
Auf dieser Grundlage sollten wir weiterdebattieren.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich erteile nun das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn Bernd Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Ozonabbau in der Stratosphäre geht weiter. Die Gefahr wird größer. Die Realität übertrifft alle Prognosen. Eben wurde darauf eingegangen, und dies war auch Maßstab für unser politisches Handeln. Grundlage war der Beschluß des Deutschen Bundestages vom 9. März 1989 mit dem Ziel, national 1995, europaweit 1997 und weltweit im Jahre 2000 aus diesen Stoffen auszusteigen. Es war — das will ich hinzufügen — ein gemeinsamer Beschluß des Deutschen Bundestages, der — wenn Sie eine erste Zwischenbilanz heute ziehen — zu einem erfreulichen Ergebnis geführt hat. Natürlich ist in der Zwischenzeit nicht alles erreicht worden. Aber in wenigen Monaten ist auf diesem Wege im Interesse der Menschen auf dieser Erde sehr viel geschehen.
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3974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991
Pari. Staatssekretär Bernd SchmidbauerDas Bundeskabinett hat am 14. August 1991 den Entwurf eines Gesetzes zu der am 29. Juni 1990 beschlossenen Änderung und den am 29. Juni 1990 beschlossenen Anpassungen zum Montrealer Protokoll vom 16. September 1987 über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, verabschiedet.Das in der Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar 1989 in Kraft getretene Montrealer Protokoll ist inzwischen von 71 Staaten und der EG ratifiziert; darunter 13 Entwicklungsländer. Indien und China sind inzwischen ebenfalls Vertragsstaaten dieser internationalen Vereinbarung. Die bisherigen Vertragsstaaten repräsentieren insgesamt über 90 % des Verbrauchs der geregelten Stoffe. Auf internationaler Ebene — ich möchte das ausdrücklich betonen — ist das Montrealer Protokoll sicherlich eines der wichtigsten Regelungsinstrumente zur Reduzierung von ozonschichtschädigenden Stoffen geworden. Es kann mit seinen Bausteinen — das scheint mir ebenfalls wichtig — der Integration von Umweltschutz und Entwicklungspolitik und der Einführung internationaler Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten auch als Modell einer Weltklimakonvention dienen.Hier wird realisiert, was der Club of Rome in seinem jüngsten Bericht ausgeführt hat: Denke global, handle lokal.
— Herr Kollege Schäfer, ich wollte an sich nicht die Zeit verlängern, weil ich hörte, daß es der letzte Tagesordnungspunkt ist. Aber wenn Sie mich reizen, wird es eben länger dauern, bis Sie zum Essen kommen.Ende Juni 1990 sind in London von der Zweiten Vertragsstaatenkonferenz zum Montrealer Protokoll im Hinblick auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse Verschärfungen des ursprünglichen Protokolls beschlossen worden. Meine Damen und Herren, das ging relativ rasch. Sah das ursprüngliche Protokoll im internationalen Bereich bis zum Jahre 2000 eine Verbrauchs- und Produktionsreduzierung um 50 % vor, so ist heute eine Reduzierung um 100 % vorgegeben, die bis zu diesem Zeitpunkt erreicht werden muß.Als weitere Verschärfung sind zehn weitere vollhalogenierte FCKW sowie Tetrachlorkohlenstoff und Methylchloroform in dieses Protokoll mit aufgenommen worden. Bis auf Methylchloroform, dessen Produktion und Verwendung erst im Jahre 2005 ausläuft, sind auch alle anderen Stoffe jetzt mit dem „phase out" bis zum Jahre 2000 geregelt. Ebenfalls ist wichtig, daß teilhalogenierte Flurchlorkohlenwasserstoffe von den Berichtspflichten zu diesem Protokoll erfaßt werden. Dies ist ein wichtiger Punkt; denn genau dies muß weiterentwickelt werden.Wir haben jetzt die Chance, über die Bilanzierung dieser teilweise als Ersatzstoffe benutzten Stoffe auch einmal zu sehen, wie sich die Mengensituation entwickelt, und damit in der Fortschreibung dieses Protokolls spätestens im Jahre 1992 auch diese Stoffe einer Regelung zu unterwerfen. Dies ist wichtig im Hinblick auf das, was ich eingangs sagte, daß nämlich die Gefahr nicht abnimmt, sondern zunimmt.Als weiteres wichtiges Instrument ist es zum erstenmal gelungen, einen multilateralen Fonds auf den Weg zu bringen. Es ist nicht nur darüber gesprochen worden, daß wir den Entwicklungsländern helfen müssen, daß im Hinblick auf Technologietransfer Hilfe gewährt werden muß. Dieser Fonds arbeitet bereits. Dieser Fonds ist einer der Bausteine, der dazu geführt hat, daß wir zu diesem internationalen Konsens, zu dem Konsens zwischen Entwicklungs- und Industrieländern, gekommen sind.Ich sagte bereits: Dies ist einer der Gründe, warum China und Indien dem Protokoll beigetreten sind. Ohne solche Länder wäre an eine Abnahme dieser Stoffe überhaupt nicht zu denken.
Die inhaltliche Umsetzung der Verschärfungen des Montrealer Protokolls in national unmittelbar geltendes Recht ist bei uns bereits erfolgt, und zwar EG-einheitlich durch die entsprechende Verordnung. Diese EG-Verordnung legt, bezogen auf die vollhalogenierten Fluorchlorkohlenwasserstoffe, für die EGitgliedstaaten mit dem 30. Juni 1997 einen wesentlich kurzfristigeren Ausstiegstermin fest. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben auf diesem Ausstiegstermin bestanden. Wir gehen jedoch weiter, weil wir denken, daß die bisherigen Regelungen noch nicht ausreichen.Wir wollen bei der Fortschreibung der Londoner Vereinbarungen erreichen, daß nicht nur weitere Stoffe aufgenommen werden. Wir wollen nicht nur erreichen, daß wir schneller aussteigen. Wir wollen damit Beispiel geben, daß die internationale Staatengemeinschaft in der Lage ist, in kurzer Zeit, den wissenschaftlichen Erkenntnissen angepaßt, neue Strategien zu entwickeln. Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland auf der Vorkonferenz für die zur Vierten Vertragsstaatenkonferenz im Jahre 1992 in Kopenhagen diese Punkte bereits eingebracht.Ich will zum Schluß, weil hier über freiwillige Vereinbarungen gesprochen wurde, obwohl wir gerade mit unserer nationalen FCKW-Halon-Verbots-Verordnung ordnungsrechtlich letztendlich einiges auf den Weg gebracht haben, darauf hinweisen, wie schnell es gehen kann, über freiwillige Vereinbarungen zusätzlich Reduktionsquoten zu erreichen. In der Bundesrepublik Deutschland ist, bezogen auf das Basisjahr 1986, die Produktion der Fluorchlorkohlenwasserstoffe und Halone um 35,3 To bzw. um 10,8 % zurückgeführt worden. Ich finde, dies ist in der Kürze der Zeit eine hervorragende Bilanz.Lassen Sie mich zum Schluß Sie alle bitten, den vorliegenden Entwurf möglichst rasch zu beraten.
Herr Kollege Harries hat vorhin darauf hingewiesen, daß es wichtig ist, daß möglichst rasch sehr viele Vertragsstaaten die Änderung und die Anpassungen zum Protokoll zeichnen, damit wir in der Lage sind, die
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 47. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 10. Oktober 1991 3975
Parl. Staatssekretär Bernd SchmidbauerFortentwicklung am 1. Januar 1992 völkerrechtlich in Kraft treten zu lassen.
Deutlich will ich auch machen, daß dieser Schritt zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem wir bereits gründlich daran arbeiten, diese Konzeption bei der Folgekonferenz in Kopenhagen im nächsten Jahr, im Jahre 1992, fortzuentwickeln.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich möchte auch bei diesem Tagesordnungspunkt um Zustimmung bitten, daß die Rede der Frau Kollegin Jutta Braband zu Tagesordnungspunkt 13 zu Protokoll gegeben wird.
Sind Sie mit der Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden? — Ich stelle fest, daß ist der Fall. Das ist damit mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen. *)
*) Anlage 3
Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, gestatten Sie mir noch eine Schlußbemerkung. Im Gegensatz zu Auffassungen, die heute insbesondere in der „Bild"-Zeitung zum Ausdruck gekommen sind, möchte ich hier doch einmal deutlich machen: Es ist durch die Redebeiträge all derer, die heute abend hier waren, eines deutlich geworden: In den Arbeitskreisen, in den Fraktionen, in den Ausschüssen und im zuständigen Ministerium ist sehr sorgfältig und eingehend gearbeitet worden. Das haben, glaube ich, die Redner mit ihren Beiträgen, die ja eine Zusammenfassung der Debatten darstellten, deutlich gemacht. Nicht zuletzt möchte ich noch darauf hinweisen, daß der Bericht unserer Enquete-Kommission zur Frage Ozonschicht weltweit eines der begehrtesten Druckstücke zu diesem Thema war.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/1232 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Oktober, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.